Demokratieprinzip und Europäische Union: Staatsverfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung [1 ed.] 9783428531707, 9783428131709

Wer ist das Volk? Wie lassen sich - zumal in Großgesellschaften - soziale Machtakte dem Volk zurechnen? Was verbindet Vo

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Demokratieprinzip und Europäische Union: Staatsverfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung [1 ed.]
 9783428531707, 9783428131709

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Schriften zum Europäischen Recht Band 148

Demokratieprinzip und Europäische Union Staatsverfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Von Alexis von Komorowski

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ALEXIS VON KOMOROWSKI

Demokratieprinzip und Europäische Union

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 148

Demokratieprinzip und Europäische Union Staatsverfassungsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Von Alexis von Komorowski

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Wintersemester 2008/2009 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 25 Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-13170-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Wer sich dem Thema „Demokratieprinzip und Europäische Union“ zuwendet, sieht sich unweigerlich mit Grundproblemen der Staatsphilosophie wie auch des positiven Verfassungsrechts konfrontiert: Wer ist das Volk? Wie lassen sich – zumal in Großgesellschaften – soziale Machtakte dem Volk zurechnen? Was verbindet Volks- und Staatssouveränität? Die Fallhöhe, in die eine Auseinandersetzung mit derartigen Fragen führt, ist enorm. Noch größer war für mich freilich der Reiz, in öffentlich-rechtlicher Perspektive eine Thematik aufzugreifen, in die unserer Tage so gut wie jede intensivere politische Debatte, ob nun im öffentlichen Raum oder im privaten Bereich, zwangsläufig einmündet. Mein akademischer Lehrer, Herr Professor Dr. Dietrich Murswiek, hat mich ermuntert, das Wagnis einer demokratierechtlichen Studie einzugehen. Er hat sie in der Folge auch betreut und durch kritische Rückfragen gefördert. Hierfür wie auch für die lehrreichen Jahre an seinem Lehrstuhl, während derer die nachstehenden Seiten großteils entstanden sind, danke ich ihm herzlich. Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/2009 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Das Zweitgutachten besorgte Herr Professor Dr. Thomas Würtenberger, dem ich ebenfalls danke. Dank schulde ich des Weiteren der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mich über lange Jahre ideell und materiell gefördert hat. Durch die großzügige Unterstützung des Bundesministeriums des Innern wurde die Drucklegung in der vorliegenden Fassung ermöglicht. Etliche Diskussionspartnerinnen und -partner haben mir geholfen, Gedankengänge klarer zu fassen und Argumente zu verfeinern. Stellvertretend nenne ich Werner Finger, Dominik Kupfer und Steffen Wirth. Den Mühen des Korrekturlesens haben sich meine Frau und mein Vater unterzogen. Mein besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern, die das Entstehen dieser Arbeit in vielfältiger Weise unterstützt haben. Ihnen widme ich diese Schrift. Ostfildern, im Juni 2009

Alexis v. Komorowski

Inhaltsübersicht

Einleitung

51

I.

Die demokratische Legitimation der EU als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II.

Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

III. Eingrenzung des Themas und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Teil I

1



Relevanz des Themas und Vorverständnis

88

Kapitel 1

2



Die aktuelle Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

I.

Das Maastricht-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

II.

Die Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

88

III. Die (immer wieder) aktuelle Debatte um die Zukunft der EU . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Kapitel 2

3



Hermann Hellers Rechts-, Demokratieund Souveränitätskonzeption als Vorverständnis 115

I.

Hermann Heller im Maastricht-Urteil des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

II.

Der (mögliche) Beitrag Hermann Hellers zur juristischen Auseinandersetzung um die demokratische Legitimation der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Teil II

4



Die juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

155

Kapitel 3

5



Die rechtswissenschaftliche Debatte in historischer Retrospektion

155

I.

Die bundesdeutsche Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

II.

Die verfassungsrechtliche Debatte in anderen EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . 162

III. Von der „querelle allemande“ zum europäischen Verfassungsrechtsdiskurs . . . . . 166

8

Inhaltsübersicht Kapitel 4

6



Drei EU-spezifische Legitimationsmodelle

168

I.

Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

II.

Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

III. Das Modell der doppelten Legitimationsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Teil III

7



Volkssouveränität und EU – eine Rekonstruktion aus dem Geist der Allgemeinen Staatslehre



Vorbemerkung: Bedeutung und Methode der Allgemeinen Staatslehre 179

179

Kapitel 5

8



Der Volksbegriff 182

I.

Volkssouveränität und Volksbegriff im Schlaglicht divergierender Demokratie­ paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

II.

Volkssouveränität und Volksbegriff in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Ergebnisse und ergänzende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Kapitel 6

9



Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur 249

I.

Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

II.

Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation . . . . . . . . 316

III. Staats- und gesellschaftsorganisatorische Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 IV. Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 V.

Volkssouveränität als Erzeugung eines definiten Niveaus demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

VI. Volkssouveränität als Erzeugung eines hinreichend hohen Niveaus demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 VII. Die Volkssouveränität als mehrdimensionale Zurechnungsstruktur: Das Ergebnis der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 10

Inhaltsübersicht

9

Kapitel 7

11



Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

512

I.

Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität aus der vereinseitigenden Perspektive der verbandsorientierten beziehungsweise individuumszentrierten Demokratieparadigmen: Bestandsaufnahme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512

II.

Zur dialektischen Vermittlung von Staats- und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . 520

III. Das gemischt formell-materielle Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats: Das Ergebnis der dialektischen Vermittlung von Staats- und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542

Teil IV

12





Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung als grundgesetzliche Verpflichtung

544

Vorbemerkung: Vom wirklichkeitswissenschaftlichen zum normwissenschaftlichen Begriff der Volkssouveränität 544 Kapitel 8

13



Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes 546

I.

Die EU-spezifische Demokratienorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . 546

II.

Die EU-spezifische Demokratienorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

III. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Kapitel 9

14



Das Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie 562

I.

Interpretationsansätze in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

II.

Art. 23 Abs. 1 GG und das Subjekt der europäischen Demokratie: Ein erster interpretatorischer Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

III. Der Schutzumfang des Art. 79 Abs. 3 GG als Vorfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 IV. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Sitz der grundgesetzlichen Subjektsproblematik . . . 584 V.

Das Volksverständnis des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in grundgesetzsystematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594

VI. Das Volksverständnis des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in entstehungsgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640

10

Inhaltsübersicht

VII. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungsgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 VIII. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungstheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 IX. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in der Perspektive der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 X.

Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Kapitel 10

15



Anforderungen des Grundgesetzes an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung 688

I.

Die Zurechnungsnorm des Art. 20 Abs. 2 GG als vollumfänglich verbindliche und zugleich inhaltlich abschließende Vorgabe an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690

II.

Das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG niedergelegte Konzept demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

III. Das im Hinblick auf die EG-Normsetzung gebotene Niveau demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723

Teil V

16





Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

862

Vorbemerkung: Vom Nutzen einer modellorientierten Diskussion der grundgesetzlichen Demokratieanforderungen 862 Kapitel 11

17



Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits 864

I.

Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . 865

II.

Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917

III. Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967 IV. Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation . . . . . . . . . 977 V.

Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004

VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005

Inhaltsübersicht

11

Kapitel 12

18



Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits 1008

I.

Die demokratierechtliche Rekonstruktion des Zweckverbands-Modells . . . . . . . . 1009

II.

Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung im Licht des Zweckverbands-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011

III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 Kapitel 13

19



Das Modell der doppelten Legitimationsbasis und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits 1014

I.

Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . 1015

II.

Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020

III. Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 IV. Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation . . . . . . . . . 1170 V.

Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203

VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1210

Teil VI

20



Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

1214



Vorbemerkung: Zu den Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union

1214

Kapitel 14

21



Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität als ‚äußere Schranke‘ einer Beteiligung Deutschlands an der sich fortentwickelnden EU 1219

I.

Die Staatssouveränität als Regelungsinhalt der grundgesetzlich verbürgten Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1220

II.

Inhaltliche Präzisierung der von der grundgesetzlichen Volkssouveränität mit­ normierten Staatssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239

III. Die grundgesetzliche Volkssouveränität als ‚äußere Schranke‘ einer Mitwirkung Deutschlands an der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1247 22

12

Inhaltsübersicht Kapitel 15

23



Der Gestaltwandel der EU im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes 1287

I.

Die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands . . . . . . . . 1288

II.

Die Entwicklungshypothese der bundesstaatlichen Integration . . . . . . . . . . . . . . . 1294

III. Der Reformvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1310 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1367

Inhaltsverzeichnis I.

Einleitung

51

Die demokratische Legitimation der EU als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

1. Das Erfordernis demokratischer Legitimation im Rahmen der EU . . . . . . . . . .

51

2. Die Vielgestaltigkeit demokratischer Legitimationskonzepte . . . . . . . . . . . . . .

53

3. Die juristischen Konturen eines EU-spezifischen Legitimationsmodells als Forschungsdesiderat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

4. Das Prinzip der Volkssouveränität als Kernidee eines EU-spezifischen Modells demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

5. Das Prinzip der Volkssouveränität und die drei Hauptprobleme eines EU-spezifischen Legitimationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

a) Das Volksverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

b) Die Volkssouveränität als genuin juristisches Zurechnungsprinzip . . . . . . . .

63

c) Das Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

III. Eingrenzung des Themas und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

1. Eingrenzung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

a) Konkretisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

b) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

II.

aa) Rechtfertigung der Beschränkung auf die Legitimationsanforderungen speziell des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

bb) Rechtfertigung der Fokussierung auf die Normsetzung . . . . . . . . . . . . .

80

cc) Rechtfertigung des zugrundegelegten Rechtsnormbegriffs . . . . . . . . . . .

82

dd) Rechtfertigung der Konzentration auf die Normsetzungstätigkeit gerade der EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

ee) Rechtfertigung der Nichtberücksichtigung der Normsetzung der EZB .

86

2. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

1

14

Inhaltsverzeichnis Teil I

2



Relevanz des Themas und Vorverständnis

88

Kapitel 1

3

I.

II.

Die aktuelle Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen 88 Das Maastricht-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

1. Das Nadelöhr des Art. 38 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

2. Der staatssouveränistische Unterton des Maastricht-Urteils . . . . . . . . . . . . . . .

92

3. Die indirekte Konturierung eines EU-spezifischen Legitimationsmodells . . . .

94

4. Die Vagheit des Maastricht-Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Die Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

1. Die Ambivalenz der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Soziale Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Kommunikative Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Politische Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Begriffsstürmereien, Begriffskonservativismus und evolutionärer Begriffswandel 107 a) Begriffsstürmereien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Begriffskonservativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Evolutionärer Begriffswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Die (immer wieder) aktuelle Debatte um die Zukunft der EU . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Kapitel 2

4

I.

Hermann Hellers Rechts-, Demokratieund Souveränitätskonzeption als Vorverständnis 115 Hermann Heller im Maastricht-Urteil des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Die offensichtliche und unüberbrückte Distanz der bundesverfassungsgerichtlichen Demokratiekonzeption zur Hellerschen Homogenitäts-Schrift . . . . . . . . . 119 2. Carl Schmitt als eigentlicher Gewährsmann des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

II.

Der (mögliche) Beitrag Hermann Hellers zur juristischen Auseinandersetzung um die demokratische Legitimation der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Hermann Hellers Konzeption von Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Hellers grundlegende Differenzierung zwischen Recht im wirklichkeitswissenschaftlichen und Recht im rechtsdogmatischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Der positivistisch-legalistische Grundzug in Hellers rechtswissenschaftlicher Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 aa) Positives Recht und außerrechtliche Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 bb) Positives Recht und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Inhaltsverzeichnis

15

2. Hermann Heller und die drei Hauptprobleme eines EU-spezifischen Legitimationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Das Volksverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 aa) Die Dialektik von verbandsorientiertem und individuumszentrierten Demokratieverständnis bei Hermann Heller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 bb) Fazit und Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Die Volkssouveränität als Zurechnungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Das Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 aa) Hellers wirklichkeitswissenschaftliches Verständnis der Staatssouveränität und ihres Verhältnisses zur Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Staatssouveränität, Volkssouveränität und europäische Integration bei Heller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 cc) Hellers Überlegungen zum Verhältnis von Souveränität und völkerrechtlicher Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 d) Die vielfache Bedingtheit von Hellers Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Teil II

5



Die juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

155

Kapitel 3

6



Die rechtswissenschaftliche Debatte in historischer Retrospektion 155

I.

Die bundesdeutsche Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

II.

Die verfassungsrechtliche Debatte in anderen EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . 162

III. Von der „querelle allemande“ zum europäischen Verfassungsrechtsdiskurs . . . . . 166 Kapitel 4

7



Drei EU-spezifische Legitimationsmodelle 168

I.

Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

II.

Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

III. Das Modell der doppelten Legitimationsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

8

16

Inhaltsverzeichnis Teil III

9



Volkssouveränität und EU – eine Rekonstruktion aus dem Geist der Allgemeinen Staatslehre



Vorbemerkung: Bedeutung und Methode der Allgemeinen Staatslehre 179

179

Kapitel 5

10

I.

Der Volksbegriff 182 Volkssouveränität und Volksbegriff im Schlaglicht divergierender Demokratieparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als Volksherrschaft oder freiheitliche Selbstgesetzgebung: Das Herrschaftsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Volkssouveränität als Volksherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Volkssouveränität als freiheitliche Selbstgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . 192 d) Konsequenzen für den Volksbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver oder individueller Selbstbestimmung: Das Subjektsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . 197 b) Volkssouveränität als Ausdruck individueller Selbstbestimmung . . . . . . . . . 198 c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . 201 d) Konsequenzen für den Volksbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale oder gesamtgesellschaftlich-materiale Ordnungsstruktur: Das Problem von Geltungserstreckung und Geltungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur . . . . 205 b) Volkssouveränität als gesellschaftlich materiale Ordnungsstruktur . . . . . . . . 208 c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . 209 aa) Die Selbstwidersprüchlichkeit des staatsorganisatorisch-formalen Demokratieparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 bb) Die Selbstwidersprüchlichkeit des gesamtgesellschaftlich-materialen Demokratieparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 cc) Zur dialektischen Vermittlung von staatsorganisatorisch-formalem und gesamtgesellschaftlich-materialem Demokratieparadigma . . . . . . . . . . . 212 d) Konsequenzen für den Volksbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ oder inklusive ‚Bevölkerungssouveränität‘: Das Problem der externen Geltungsdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Volkssouveränität als inklusive ‚Bevölkerungssouveränität‘ . . . . . . . . . . . . . 217

Inhaltsverzeichnis

17

c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . 218 aa) Die lediglich relative Berechtigung der gegenläufigen Demokratiepara­ digmen: Die historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 bb) Die lediglich relative Berechtigung der gegenläufigen Demokratiepara­ digmen: Die staatstheoretische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 (1) Zur Volkssouveränität als exklusiver Nationalsouveränität . . . . . . 223 (2) Zur Volkssouveränität als inklusiver Bevölkerungssouveränität . . 225 cc) Das Verhältnis von Staatsangehörigkeit und demokratischer Teilhabe in dialektisch vermittelnder Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 d) Konsequenzen für den Volksbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 II.

Volkssouveränität und Volksbegriff in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Ergebnisse und ergänzende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Volkssouveränität in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion . . . . 233 a) Rekapitulation der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Volkssouveränität als polyvalent-variable und daher (entwicklungs-)offene Struktur . 233 b) Der Doppelcharakter von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur und sozialorganisatorische Freiheitsstruktur . . . . . . . . . . 236 c) Der Doppelcharakter von Volkssouveränität als Realstruktur und Strukturziel 238 2. Der Volksbegriff in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion . . . . . 242 a) Das Ergebnis der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Der polyvalent-variable und damit (entwicklungs-)offene Begriff von Volk im demokratischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 b) Wirklichkeitswissenschaftlicher Volksbegriff und demokratischer Staatsvolksverband: Eine verifizierende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 aa) Lässt sich der Staatsvolksverband als Gesamtheit der von seiner Machtausübung in vergleichbar nachhaltiger Weise individuell Betroffenen begreifen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 bb) Verträgt es sich mit den Autonomieansprüchen der Staatsgebietsangehörigen ohne Staatsangehörigkeit, wenn sie keinen Anteil an der staatlichen Machtausübung haben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Kapitel 6

11

I.

Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur 249 Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 1. Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation . . . . 253 a) Zurechenbarkeit durch exklusive dezisionäre Legitimation im Besonderen . 254 b) Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 c) Vertiefende Überlegungen zu dezisionärer und revisionärer demokratischer Legitimation: Unterschiede und Wechselbezüglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

18

Inhaltsverzeichnis d) Exklusive demokratische Legitimation trotz demoi-kratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 aa) Konzeption einer zwar dezentrierten, aber dennoch staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 bb) Dezentrierte, aber staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität und demoikratische Kondominien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (1) Organisationsentscheidung des Staatsvolksverbands . . . . . . . . . . . 265 (2) Betroffenheitsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 (3) Autonomieansprüche der Partizipationsberufenen . . . . . . . . . . . . . 267 (4) Demokratische Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 cc) Eine Rekapitulation anhand praktischer Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (1) Kondominium des Staatsvolksverbands und eines seiner Unter­ völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 (2) Kondominium mehrerer Untervölker beziehungsweise Staatsverbandsvölker allein oder gemeinsam mit einem Obervolk . . . . . . . 274 dd) Dogmatische Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2. Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Dezisionäre Legitimation und spezifische Legitimationsformen . . . . . . . . . 283 aa) Dezisionäre Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen aufgrund personeller demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 (1) Worauf bezieht sich die demokratische Legitimation, auf den Entscheider oder dessen Entscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 (2) Wie ist die Wirkweise personeller demokratischer Legitimation? . 285 (3) Weshalb vermag personelle demokratische Legitimation gerade bei der dezisionären Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen zu verfangen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 bb) Dezisionäre Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen aufgrund materieller demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 cc) Vertiefende Überlegungen zum Verhältnis von personeller und materieller Legitimation im Rahmen dezisionärer demokratischer Legitimation 295 b) Revisionäre Legitimation und spezifische Legitimationsformen . . . . . . . . . . 297 aa) Revisionäre Rückkoppelung an den Volkswillen aufgrund personeller demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bb) Revisionäre Rückkoppelung an den Volkswillen aufgrund materieller demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 cc) Vertiefende Überlegungen zum Verhältnis von personeller und materieller Legitimation im Rahmen revisionärer demokratischer Legitimation 300 c) Volkssouveränität und funktionell-institutionelle Legitimation . . . . . . . . . . . 303 d) Zurechenbarkeit durch personelle und materielle Legitimation, wenn mehrere demoi als Legitimationssubjekt oder eine Organmehrheit respektive ein Kollegialorgan als institutioneller Träger demokratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht fungiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

Inhaltsverzeichnis

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3. Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation im Verhältnis zur Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen . . . . . . 307 a) Das Verhältnis der beiden Zurechnungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Keine Festlegung auf einen spezifischen Legitimationsmodus . . . . . . . . . . . 309 c) Personelle und materielle demokratische Legitimation bei Verteilung der demokratischen Entscheidungs- und Revisionsgewalt auf verschiedene Völker 312 4. Mittelbare Legitimation und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 II.

Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation . . . . . . . . 316 1. Das Parlament im System magistratischer Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . 318 2. Das System demokratischer Administration als Fortsetzung des Systems magistratischer Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Gegenläufige Demokratieparadigmen im System magistratischer Repräsentation 323 4. Zum Korrelationsverhältnis zwischen dem Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation und dem Legitimationsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

III. Staats- und gesellschaftsorganisatorische Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 1. Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 a) Grundsätzliches zu Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger als Bedingung demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 b) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger und demoi-kratisches Kondominium 332 aa) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger bei einem vom Staatsvolksverband und einem seiner Untervölker ausgeübten Kondominium . . . . . . . 333 bb) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger bei einem von mehreren Staatsverbandsvölkern allein oder zusammen mit einem überstaatlichen Obervolksverband ausgeübten Kondominium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im politischen Willensbildungsprozess als gesellschaftsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung . . 337 a) Keine demokratietheoretische Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 b) Institutionalisierung einer gleichen Meinungs- und Assoziationsfreiheit aller als gesellschaftsorganisatorische conditio sine qua non demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3. Das Prinzip der Öffentlichkeit als staats- und gesellschaftsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Das Prinzip der Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 aa) Abgrenzung gegen alternative Konzepte staatsorganisationsbezogener demokratischer Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 bb) Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung, Legitimationsmodus und Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Inhaltsverzeichnis cc) Das Prinzip der Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung bei völkermehrheitlich bewirkter Hoheits­ tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 b) Das Prinzip der Öffentlichkeit als gesellschaftsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 c) Konkretisierungen des demokratischen Öffentlichkeitsgebots . . . . . . . . . . . 350 aa) Regel-Ausnahme-Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 bb) Verwirklichungsformen demokratischer Öffentlichkeit: Eine Typologie 351 cc) Vertiefende Überlegungen zu den Typen demokratischer Öffentlichkeit 352

IV. Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1. Die Diskussion um die ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie . . . . 355 a) Die verbandsorientierte Rekonstruktion der ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 b) Die individuumszentrierte Rekonstruktion der ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 c) Das einheitliche Ergebnis der heterogenen Diskussion: Kollektive Identität und demokratische Öffentlichkeit als ‚vorrechtliche Voraussetzungen‘ von Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 2. Kritik der nationalstaatlich verkürzten Sicht demokratischer Normalität . . . . . 363 a) Die These vom nationalstaatlichen Rahmen als Verwirklichungsbedingung der vorrechtlichen Demokratievoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 b) Die unbewältigte Ambivalenz der Globalisierung als Anstoß zur Kritik . . . . 366 c) Der kommunikationstheoretische Ansatz der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 d) Kommunikationstheoretische Kritik an der nationalstaatlich verkürzten Sicht demokratischer Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 aa) Kommunikationstheoretische Rekonstruktion demokratischer Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 bb) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom verbandsorientierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokra­ tischer Öffentlichkeit vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen . 372 cc) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom individuumszentrierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Öffentlichkeit vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen 375 e) Kommunikationstheoretische Kritik an der nationalstaatlich verkürzten Sicht kollektiver Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 aa) Kommunikationstheoretische Rekonstruktion kollektiver Identität . . . . 378 bb) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom verbandsorientierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Kollektividentität vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen 379 cc) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom individuumszentrierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Kollektividentität vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382

Inhaltsverzeichnis

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3. Ergebnis: Die kommunikationstheoretisch rekonstruierte Normalität demokra­ tischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 a) Zusammenfassende Analyse der Normalität demokratischer Volkswerdung 384 aa) Normalität demokratischer Volkswerdung und demokratische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 bb) Normalität demokratischer Volkswerdung und kollektive Identität . . . . 386 b) Zusammenfassende Analyse der möglichen Störungen demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 c) Zusammenfassende Überlegung zur Normalität demokratischer Volkswerdung auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 V.

Volkssouveränität als Erzeugung eines definiten Niveaus demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 1. Die Dimension des fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 a) Legitimationsniveau und Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 aa) Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . 392 bb) Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation . . 393 (1) Kontrafaktisch vereinfachte Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation . . . . . . . . . . 394 (2) Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation, wenn die Revisionsmacht dem Volk nicht allein zusteht . . . . 397 (3) Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation, wenn sich die dem Volk nicht allein zustehende Revisionsmacht über mehr als einen revisionären Legitimationszusammenhang Bahn bricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 b) Legitimationsniveau und Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . 405 aa) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit und das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 bb) Die Komplexität des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 (1) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, die exklusiv-perpetuelle Legitimation und die spezifischen Legitimationsformen . . . . . . . . 408 (2) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit und die unterschiedliche Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge . . . . . . . . . . . . 408 (3) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit personeller beziehungsweise materieller Legitimationsbeiträge sowie bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker, eine Organmehrheit beziehungsweise durch ein Kollegialorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 cc) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit: Grundzüge des dogmatischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

22

Inhaltsverzeichnis dd) Der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 (1) Die Stufe demokratischer Vermitteltheit: Konkretisierungen . . . . . 413 (2) Die Stufe demokratischer Vermitteltheit: Dogmatische Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 (3) Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge: Der legitimatorische Mehrwert der materiell-direktiven Legitimation . . . . . . . . . . 416 (4) Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge: Die uneinheitliche Wirkkraft von personeller und materiell-kontrollativer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 (5) Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge: Resümee und Präzisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 (6) Die dogmatische Rekonstruktion des für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit: Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 (7) Die dogmatische Rekonstruktion des für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit: Grenzen . . . 430 ee) Der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 (1) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit und die unterschiedliche Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 (2) Kontrafaktisch vereinfachte Rekonstruktion des in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . 439 (3) Der Vorrang der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 (4) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit und der Charakter der Legitimationsmittler . . . . . . . . . . . . 445 ff) Die Bestimmung des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit in besonderen Problemkonstellationen . . . 449 (1) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit personeller beziehungsweise materieller Legitimationsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 (2) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker, die nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 (3) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

Inhaltsverzeichnis

23

(4) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 (5) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch ein Kollegialorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 (6) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung demokratischer Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht durch Organmehrheiten . . . . . . . . . . . . . 468 c) Legitimationsniveau und Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit 470 aa) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit statt Ausmaß realer Gestörtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 bb) Bestimmungsgrößen für die Prägung eines Hoheitsakts durch die verschiedenen mehr oder minder störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 cc) Bestimmungsgrößen für die Störungsanfälligkeit der verschiedenen revisionären Legitimationsstränge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 dd) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit in bestimmten Pro­ blemkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 (1) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 (2) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei Ausübung der Revisionsmacht durch eine Organmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . 478 (3) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei Ausübung demokratischer Korevisionsmacht durch Organmehrheiten . . . . . . 478 d) Zusammenfassendes zur Erzeugung demokratischer Legitimation in der Dimension des fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 2. Die Vertikaldimension des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation 481 3. Die Horizontaldimension der staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvollen Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 4. Die Normalität demokratischer Volkswerdung als Tiefendimension . . . . . . . . . 485 5. Die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus in der Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 a) Begriffsklärung: Kompensation und Substitution in Hinblick auf demokratisch defizitäre Legitimationsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 b) Weitgehender Kompensations- und Substitutionsausschluss . . . . . . . . . . . . . 489 c) Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit nur im Verhältnis der spezifischen Legitimationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 aa) Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit im Verhältnis von materiell-direktiver Legitimation einerseits sowie personeller und materiell-kontrollativer Legitimation andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

24

Inhaltsverzeichnis bb) Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit im Verhältnis von materiell-kontrollativer und personeller Legitimation . . . . . . . . . . . . . . 494 d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

VI. Volkssouveränität als Erzeugung eines hinreichend hohen Niveaus demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 1. Das von der Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur vorausgesetzte Niveau demokratischer Legitimation: Die institutionelle Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 2. Das von der Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur vor­ ausgesetzte Niveau demokratischer Legitimation: Die freiheitsrechtliche Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 a) Kein unübersteigbarer Gegensatz zwischen institutionellem und freiheitsrechtlichem Rekonstruktionsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 b) Die freiheitsrechtliche Rekonstruktion im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 3. Das von der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität konstitutiv vorausgesetzte Legitimationsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 VII. Die Volkssouveränität als mehrdimensionale Zurechnungsstruktur: Das Ergebnis der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Kapitel 7

12

I.

Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität 512 Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität aus der vereinseitigenden Perspektive der verbandsorientierten beziehungsweise individuumszentrierten Demokratieparadigmen: Bestandsaufnahme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 1. Kritik der Trennungs- und Agoniethese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 2. Kritik der vollumfänglichen Gleichsetzung von Volks- und Staatsouveränität . 517

II.

Zur dialektischen Vermittlung von Staats- und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . 520 1. Das Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats . . . . . . . . . . . . 521 a) Die dialektische Verschränkung von Staats- und Volkssouveränität . . . . . . . 522 b) Die dialektische Verschränkung von Staats- und Volkssouveränität in Hinblick auf völkerrechtsvertragliche Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 2. Formeller und materieller Souveränitätsbegriff: Ein altes Dilemma . . . . . . . . . 527 a) Formelles und materielles Souveränitätsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 b) Dialektische Vermittlung von formellem und materiellem Souveränitätsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 3. Staatssouveränität, Volkssouveränität und pouvoir constituant des Volks . . . . . 534 a) Souveränitätsverlust und Souveränitätsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 b) Dispositionsbefugnis des Volks über seinen politischen Status . . . . . . . . . . . 536 aa) Verfügungsgewalt des demos über sich selbst – allgemeine Erwägungen 536 bb) Der pouvoir constituant des Volks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

Inhaltsverzeichnis

25

c) Der pouvoir constituant des Volks als missing link zwischen Staats- und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 4. Innere und äußere Staatssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 III. Das gemischt formell-materielle Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats: Das Ergebnis der dialektischen Vermittlung von Staats- und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Teil IV

13





Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung als grundgesetzliche Verpflichtung

544

Vorbemerkung: Vom wirklichkeitswissenschaftlichen zum normwissenschaftlichen Begriff der Volkssouveränität 544 Kapitel 8

14

I.

Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes 546 Die EU-spezifische Demokratienorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . 546 1. Normtextbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 2. Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549

II.

Die EU-spezifische Demokratienorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 2. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 3. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 4. Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

III. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Kapitel 9

15



Das Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie 562

I.

Interpretationsansätze in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563

II.

Art. 23 Abs. 1 GG und das Subjekt der europäischen Demokratie: Ein erster interpretatorischer Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 1. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 2. Art.  23 Abs.  1 Satz  3  GG in Verbindung mit Art.  79 Abs.  3, 20 Abs.  1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 3. Der Regelungsgehalt von Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG als normativer Kern des Subjektsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570

26

Inhaltsverzeichnis

III. Der Schutzumfang des Art. 79 Abs. 3 GG als Vorfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 1. Die Umstrittenheit des Schutzumfangs von Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . 572 2. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 3. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 4. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 5. Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 6. Weitere Interpretationselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 7. Abschließende Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 IV. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Sitz der grundgesetzlichen Subjektsproblematik . . . 584 1. Die normtextuelle Offenheit von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . 584 2. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als eigentlicher Sitz des Subjektsproblems . . . . . . . . 586 a) Die Demokratieverbürgung des Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 b) Die Demokratieverbürgung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 im Vergleich . . . . . . . 588 c) Art. 20 Abs. 2 Satz 1 als sedes materiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 3. Konsequenzen für die weitere normwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Subjektsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 V.

Das Volksverständnis des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in grundgesetzsystematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 1. Das Herrschaftsproblem in grundgesetzsystematischer Perspektive . . . . . . . . . 594 a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Volksherrschaft . . . . . . . . . . . . . 594 b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als freiheitliche Selbstgesetzgebung 597 c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 2. Das Subjektsproblem in grundgesetzsystematischer Perspektive . . . . . . . . . . . 602 a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver Selbst­ bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Ausdruck individueller Selbst­ bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 3. Das Problem von Geltungserstreckung und Geltungsgehalt in grundgesetzsystematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als gesellschaftlich materiale Ordnungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 aa) Normtextuelle Rückversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 bb) Der Topos von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung . . . . . . . 616 cc) Die grundgesetzlichen Konkretionen der Sozialstaatsidee . . . . . . . . . . . 618

Inhaltsverzeichnis

27

(1) Die Sozialstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 (2) Die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . 623 (3) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 dd) Die Grund- und Menschenrechtsfunktionalität der Demokratie . . . . . . . 627 c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 4. Das Problem der externen Geltungsdimension in grundgesetzsystematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ 630 b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als inklusive ‚Bevölkerungssouveränität‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 5. Volkssouveränität und Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als poly­ valent-variable Strukturbegriffe: Das Ergebnis der grundgesetzsystematischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 VI. Das Volksverständnis des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in entstehungsgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 1. Eine rein verbandsorientierte Konzeption von Volkssouveränität im Parlamentarischen Rat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 2. Der Parlamentarische Rat und die Schaffung originärer Demokratiestrukturen auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 3. Parlamentarischer Rat und polyvalent-variabler Volksbegriff . . . . . . . . . . . . . . 647 VII. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungsgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 1. Die nationalstaatliche Demokratie als verfassungsgeschichtliches Erbe des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 2. Zur Relativierbarkeit der an das verfassungsgeschichtliche Erbe des demokra­ tischen Nationalstaats anknüpfenden Grundgesetzinterpretation . . . . . . . . . . . . 657 3. Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Ergebnis von Freiheits- und Verfassungskämpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 4. Das demokratische Erbe der Jakobiner-Verfassungen im Besonderen . . . . . . . . 662 VIII. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungstheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 1. Notwendige Identität von Volk als Träger des pouvoir constituant und als Träger der pouvoirs constitués? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 2. Die drohende Entwertung der verfassungsschöpfenden Gewalt als zwingender Grund für die Identifizierung von Volk als Träger des pouvoir constituant und als Träger der pouvoirs constitués? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670 3. Rechtfertigende Gründe für eine Dissoziierung des Volks als Träger des pouvoir constituant vom Volk als Träger der pouvoirs constitués . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672

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Inhaltsverzeichnis

IX. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in der Perspektive der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 1. Die Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . 675 2. Das Maastricht-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 3. Das individuumszentrierte Demokratieverständnis in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 4. Der Beitrag der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik zur Interpretation des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG: Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 X.

Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 Kapitel 10

16

I.

Anforderungen des Grundgesetzes an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung 688 Die Zurechnungsnorm des Art. 20 Abs. 2 GG als vollumfänglich verbindliche und zugleich inhaltlich abschließende Vorgabe an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 1. Art. 20 Abs. 2 GG als im Hinblick auf die EG-Normsetzung vollumfänglich bindende Zurechnungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 2. Art. 20 Abs. 2 GG als im Hinblick auf die EG-Normsetzung inhaltlich abschließende Zurechnungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692

II.

Das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG niedergelegte Konzept demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 1. Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 a) Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation . . 696 aa) Art. 20 Abs. 2 GG und die demoi-kratische Erzeugung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 bb) Exklusive demokratische Legitimation trotz demoi-kratischer Dezisionsbeziehungsweise Revisionsbefugnis im Geltungsbereich des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 b) Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen . . . . . . . . . . . . . . . 703 2. Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation . . . . . . 704 3. Staats- und gesellschaftsorganisatorische Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 4. Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 a) Die Normalität demokratischer Volkswerdung als Regelungsgehalt der Staatsstrukturnorm des Art. 20 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 b) Die Normalität demokratischer Volkswerdung als Regelungsgehalt der Staatszielnorm des Art. 20 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 5. Volkssouveränität als Erzeugung eines hinreichend hohen Legitimations­ niveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711

Inhaltsverzeichnis

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a) Die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus . . . . . . . . . . . . . 712 b) Anforderungen der in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgten Strukturnorm der Volkssouveränität an das Niveau demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . 715 c) Konkretisierung des durch Art. 20 Abs. 2 GG als Strukturnorm geforderten hinreichend hohen Legitimationsniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 d) Rekonstruktion des grundgesetzlichen Normalniveaus demokratischer Legitimation ohne Rücksicht auf die unmittelbar an Geltung und Revisibilität des Grundgesetzes anknüpfenden Legitimationszusammenhänge . . . . . . . . . . . . 721 III. Das im Hinblick auf die EG-Normsetzung gebotene Niveau demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 1. Das bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gebotene Niveau demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 a) Das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 b) Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730 aa) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei formellen Gesetzen, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen . . . . . . . . . . . . 731 bb) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei formellen Gesetzen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen . . . . . . . . . . . . . . . . 733 (1) Vorüberlegungen zu dem in dezisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 (2) Vorüberlegungen zu dem in revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 (3) Vertiefende Überlegungen zu dem in dezisionärer sowie revisionä­ rer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit 736 cc) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Verordnungen, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Normierung unterfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 (1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 (2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 dd) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Verordnungen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Normierung unterfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 (1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 (2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 c) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 d) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation . . . . . 760 aa) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 bb) Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im politischen Willensbildungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762

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Inhaltsverzeichnis cc) Das staatsorganisatorische Prinzip demokratischer Öffentlichkeit . . . . . 763 dd) Das gesellschaftsorganisatorische Prinzip demokratischer Publizität . . . 765 e) Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 f) Die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung . 766 aa) Grundrechtliche Vorbehalte parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . 766 bb) Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 cc) Art. 80 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 g) Die Reichweite des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . 773 h) Kein allgemeiner Vorenthalt parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . . 778 i) Der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 2. Das bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts gebotene Niveau demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 a) Maßgeblichkeit des in Art. 59 GG normierten Verfahrens für das bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts gebotene Legitimationsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 b) Das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 c) Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 aa) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, nicht aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 (1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 (2) Die an die Dezisionsbefugnis der Exekutive anschließende personelle Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 (3) Die an die Dezisionsbefugnis des Bundestags anschließende personelle Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 (4) Die in dezisionärer Hinsicht erzeugte materielle demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 (5) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 (6) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 (7) Die innerstaatlichen Befugnisse zur Revision völkerrechtlicher Verträge als Vorfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 (8) Die personelle und materielle Legitimation der Nichtrevisonsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 (9) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 bb) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die sowohl dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als auch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

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(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 (2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 cc) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die weder dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung noch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 (1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810 (2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814 dd) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die zwar nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, wohl aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 (1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 (2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 ee) Die abgeschwächte Wirkkraft der in dezisionärer wie revisionärer Hinsicht greifenden materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge im Besonderen 822 d) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 e) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation . . . . . 825 3. Rückschluss auf das bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotene Legitimationsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 a) Erforderlichkeit einer synthetisierenden Betrachtung der verschiedenen Legitimationsniveaus auch in Ansehung der EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . 828 b) Synthetisierung der für die unterschiedlichen innerstaatlichen Normsetzungstypen maßgeblichen Legitimationsniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 c) Übertragung der Ergebnisse auf die EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 aa) Die Aufsplittung des grundgesetzlichen Normalmaßes . . . . . . . . . . . . . 833 bb) EG-Normsetzungsakte nach Kapitel IV des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 cc) Wesensmäßig marktkonstituierende und potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 (1) Wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte . . . . . 837 (2) Potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte . . . . . 838 (3) Tragfähigkeit der Unterscheidung in wesensmäßig marktkonstituierende und potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte 839 4. Kein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 24 beziehungsweise 23 GG bei der Rekonstruktion des bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotenen Niveaus demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841

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Inhaltsverzeichnis a) Mögliche Argumente für einen Rekurs auf Art. 24 und 23 GG und deren Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 b) Überprüfung von Normsetzungsakten überstaatlicher Hoheitsträger an dem für die anderen innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakte maßgeblichen Legitimationsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 5. Zur Absenkbarkeit des für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgeblichen Legitimationsniveaus bei EG-Normen . . . . . . . . . . . . . 845 a) Rechtfertigung einer Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation durch die in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgte Demokratienorm selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 aa) Notwendigkeit einer national entgrenzten Demokratie bei gewissen grenzüberschreitenden Sachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 bb) Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 b) Rechtfertigung einer Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation durch das Staatsziel der europäischen Einigung . . . 850 c) Rechtfertigung einer Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation durch die in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Bundesstaatsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854 aa) Der dogmatische Rekurs auf die an sich nur binnenverfassungsrechtlich relevante Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . 854 bb) Abgrenzung der Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG gegen die föderative Fundamentalnorm des Art. 23 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 cc) Statthaftigkeit und Bedingung eines dogmatischen Rekurses auf die an sich nur binnenverfassungsrechtlich geltende Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857 dd) Rechtfertigungspotenzial der Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG 858

Teil V

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Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

862

Vorbemerkung: Vom Nutzen einer modellorientierten Diskussion der grundgesetzlichen Demokratieanforderungen 862 Kapitel 11

18

I.

Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits 864 Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . 865 1. Nationaldemokratische Rückbindung durch das Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . 866 2. Nationaldemokratische Rückbindung durch EG-Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870

Inhaltsverzeichnis

33

a) Nationaldemokratische Rückbindung durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 aa) Nationaldemokratische Rückbindung durch den Rat in den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872 bb) Nationaldemokratische Rückbindung durch den Rat in den Fällen des Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874 b) Nationaldemokratische Rückbindung durch das Europäische Parlament . . . 879 c) Nationaldemokratische Rückbindung durch die Kommission . . . . . . . . . . . . 881 d) Nationaldemokratische Rückbindung durch die verschiedenen Ausschüsse von Staatenvertretern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884 3. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 a) Dezisionäre Legitimation und Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 aa) Wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . . 886 bb) Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 888 cc) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 b) Revisionäre Legitimation und Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 c) Dezisionäre demokratische Legitimation und EG-Organe . . . . . . . . . . . . . . 890 aa) Dezisionäre Legitimation und EG-Organe im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 (1) Partizipative statt exklusive dezisionäre Legitimation . . . . . . . . . . 891 (2) Die Kodezisionsmacht des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . 892 (3) Wegfall der über den Rat beziehungsweise Verdünnung der über die Kommission vermittelten dezisionären Legitimation . . . . . . . . 892 (4) Massive Einschränkung beziehungsweise Wegfall der über die Kommission vermittelten dezisionären Legitimation . . . . . . . . . . . 893 (5) Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898 bb) Dezisionäre Legitimation und EG-Organe in den sonstigen Rechtsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899 cc) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 d) Revisionäre demokratische Legitimation und EG-Organe . . . . . . . . . . . . . . 903 4. Das im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 a) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . 905 aa) Rechtfertigung der Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß anhand der grundgesetzlichen Demokratienorm des Art.  20 Abs.  2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906 bb) Rechtfertigung der Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß aufgrund der strukturellen Besonderheiten historisch gewachsener überstaatlicher Hoheitsverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908

34

Inhaltsverzeichnis cc) Keine Rechtfertigung der Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß aus Sicht der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm aus Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909 dd) Vertiefende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910 b) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . 912 c) Das bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914 d) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . 917

II.

Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918 a) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation . . . 918 b) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-direktiver Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 923 c) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925 d) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation . . . 929 e) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . 932 a) Die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung und die EG-Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933 aa) Die Subsumierbarkeit von EG-Normsetzungsakten (ohne Durchführungsrecht) unter den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 bb) Die Subsumierbarkeit von sekundärrechtlich determiniertem Durchführungsrecht unter den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938 b) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 939 bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . 942 cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944

Inhaltsverzeichnis

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c) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946 aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 947 bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . 950 cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 d) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954 e) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 f) Hinreichende demokratische Legitimation trotz Mitentscheidungsmacht der Bundesländer an der EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 960 aa) Absenkung des Legitimationsniveaus von EG-Normsetzungsakten bei Mitentscheidungsmacht der Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961 bb) Die Absenkung des Legitimationsniveaus als grundgesetzliches Demokratieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 cc) Rechtfertigung der aufgrund der Mitentscheidungsmacht der Bundesländer zu verzeichnenden Einbußen an personeller und materieller Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 III. Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 967 2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 a) Der bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971 b) Der bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 IV. Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation . . . . . . . . . 977 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978 a) Die grundsätzliche Identität der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Demokratievoraussetzungen bei innerstaatlich wirksamen Rechtsakten . . . . 978

36

Inhaltsverzeichnis b) Die ausnahmsweise Heterogenität der staats- und gesellschaftsorganisa­ torischen Demokratievoraussetzungen bei innerstaatlich wirksamen Rechtsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979 aa) Demokratische Wahlrechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979 bb) Staatsorganisatorische Publizität der EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . . 980 (1) Umfang staatsorganisatorischer Verfahrensöffentlichkeit bei im Mit­entscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten . . 981 (2) Umfang staatsorganisatorischer Ergebnisöffentlichkeit bei im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten . . . . . 986 (3) Umfang staatsorganisatorischer Verfahrensöffentlichkeit bei EGNormsetzungsakten, die in anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung erlassen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988 (4) Umfang staatsorganisatorischer Ergebnisöffentlichkeit bei EGNormsetzungsakten, die in anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung erlassen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990 (5) Relevanz nationalrechtlicher Bestimmungen für die staatsorganisatorische Publizität der EG-Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992 2. Die im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993 a) Wahlrechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994 b) Staatsorganisatorisches Publizitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999 aa) Die bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der demokratie­ spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 999 bb) Die bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der demokratie­ spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002

V.

Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004

VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005 Kapitel 12

19



Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits 1008

I.

Die demokratierechtliche Rekonstruktion des Zweckverbands-Modells . . . . . . . . 1009

II.

Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung im Licht des Zweckverbands-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011

III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 20

Inhaltsverzeichnis

37

Kapitel 13

21

I.

Das Modell der doppelten Legitimationsbasis und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits 1014 Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation . . . . . . . 1015 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016 2. Das im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019

II.

Grad demokratischer Abgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020 a) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation . . . 1022 b) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-direktiver Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1026 c) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1028 aa) Die im Mitentscheidungsverfahren vom Rat vermittelte materiell-kon­ trollative Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1028 bb) Die im Mitentscheidungsverfahren vom Europäischen Parlament ver­ mittelte materiell-kontrollative Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032 cc) Die im Mitentscheidungsverfahren von der Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033 dd) Die in den übrigen Rechtsetzungsverfahren von den EG-Organen ver­ mittelte materiell-kontrollative Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 d) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation . . . 1036 e) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037 2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Grad demokratischer Ab­ geleitetheit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundge­ setzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038 a) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1040 aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 1041 (1) Das Niveau personeller demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . 1041 (2) Das Niveau materiell-kontrollativer demokratischer Legitimation 1042 (3) Das Niveau materiell-direktiver demokratischer Legitimation . . . 1043 bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . 1044 (1) Das Niveau personeller demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . 1045

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Inhaltsverzeichnis (2) Das Niveau materiell-kontrollativer demokratischer Legitimation 1046 (3) Das Niveau materiell-direktiver demokratischer Legitimation . . . 1048 cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1052 (1) Der unterschiedliche Rechtfertigungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053 (2) Die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse als zentrale Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite . . 1054 (3) Die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission als weitere Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . 1057 (4) Die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments als Ursache von Legitimationsdefiziten . . . . . . . . . . . . 1059 (5) Die zumindest vorrangige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1062 (6) Die anteilige oder alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis bei der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1066 (7) Die materiell-direktive Legitimation der vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 1066 (8) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf rein primärrechtlicher Basis durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 (9) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf rein primärrechtlicher Grundlage allein durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1070 (10) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf Basis einer sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071 (11) Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1076 (12) Die Erstreckung der (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung, ihr weitreichendes Initiativmonopol sowie ihre Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung als Ursache von Legitimationsdefiziten . . . 1078 (13) Das Initiativmonopol der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 (14) Die alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 (15) Das Initiativmonopol der Kommission außerhalb des Bereichs des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . 1084 (16) Die Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung . . . . . . . . . . 1085

Inhaltsverzeichnis

39

(17) Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 (18) Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 1088 b) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1092 aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 1092 (1) Im Mitentscheidungsverfahren erlassene Normsetzungsakte . . . . . 1094 (2) Im Anhörungsverfahren erlassene Normsetzungsakte . . . . . . . . . . 1095 (3) Normsetzungsakte, die auf originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnissen der Kommission beruhen . . . . . . . . . . . . . . . 1096 (4) Als Durchführungsrecht erlassene Normsetzungsakte . . . . . . . . . . 1096 bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte . . . . . . 1098 (1) Im Mitentscheidungsverfahren erlassene Normsetzungsakte . . . . . 1099 (2) Im Zusammenarbeitsverfahren erlassene Normsetzungsakte . . . . . 1101 (3) Im Anhörungsverfahren erlassene Normsetzungsakte sowie Normsetzungsakte, die auf originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnissen der Kommission beruhen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102 (4) Als Durchführungsrecht erlassene Normsetzungsakte . . . . . . . . . . 1104 cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106 (1) Rechtfertigung der durch die unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite . . . 1109 (2) Rechtfertigung der durch die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission bedingten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1110 (3) Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigung und Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitglied­ staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111 c) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113 aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 1113 bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte . . . . . . 1116 cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119

40

Inhaltsverzeichnis (1) Der unterschiedliche Rechtfertigungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121 (2) Die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse als zentrale Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite . . 1121 (3) Die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission als weitere Ur­ sache für die konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . 1124 (4) Die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments als Ursache von Legitimationsdefiziten . . . . . . . . . . . . 1124 (5) Die im Wesentlichen alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126 (6) Die Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130 (7) Die Kodezisionsbefugnis des Rats auch jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 (8) Die partielle, vorrangige oder alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis bei der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1132 (9) Die materiell-direktive Legitimation der vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakte . . . . . . . 1132 (10) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf rein primärrechtlicher Grundlage durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133 (11) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf Basis einer sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135 (12) Rechtfertigung unter Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137 (13) Die Erstreckung der (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung, ihr weitreichendes Initiativmonopol sowie ihre Zwit­ terstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung als Ursache von Legitimationsde­ fiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139 (14) Das Initiativmonopol der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1140 (15) Die alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 (16) Das Initiativmonopol der Kommission außerhalb des Bereichs des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung . . . . . . . . . . . 1144 (17) Die Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung . . . . . . . . . . 1144 (18) Rechtfertigung unter Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1145 (19) Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 1145

Inhaltsverzeichnis

41

d) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1148 aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte . . . . . . . . . . . . 1148 bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte . . . . . . 1150 cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1154 (1) Rechtfertigung der durch die unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite . . . 1156 (2) Rechtfertigung der durch die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission bedingten Legitimationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1159 (3) Rechtfertigung unter Vorbehalt und Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160 e) Staatsverfassungsrechtliche Besonderheiten bei der demokratischen Rückbindung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts über die nationalen Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 III. Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167 IV. Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation . . . . . . . . . 1170 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1171 a) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation hinsichtlich der auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker zurückführenden Legitimationszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1172 aa) Der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Gleichheit im Besonderen 1173 bb) Der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Publizität im Besonderen 1175 b) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation hinsichtlich der auf den zentrierten Unions-demos zurückführenden Legitima­ tionszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177 aa) Weitgehende Übereinstimmung mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Legitimationsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177 bb) Der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Gleichheit im Besonderen 1178 cc) Das Ausmaß staatsorganisatorischer Publizität im Besonderen . . . . . . . 1181 2. Die im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183

42

Inhaltsverzeichnis a) Wahlrechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1184 aa) Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß . . . . . . . . . . . . . . . 1184 bb) Rechtfertigung der Gleichheitseinbußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1188 (1) Gleichheitseinbußen im Bereich der auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staatsvölker zurückführenden Legitimationszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1188 (2) Gleichheitseinbußen im Bereich der auf das zentrierte Unionsvolk zurückführenden Legitimationszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . 1191 cc) Rechtfertigung unter Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1194 b) Staatsorganisatorisches Publizitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195 aa) Die bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1195 bb) Die bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199

V.

Die Normalität demokratischer Volkswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 2. Die auf EU-Ebene realisierte Normalität demokratischer Volkswerdung im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes . . . . . . . . . . 1208

VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1210

Teil VI

22





Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

1214

Vorbemerkung: Zu den Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union 1214 Kapitel 14

23

I.

Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität als ‚äußere Schranke‘ einer Beteiligung Deutschlands an der sich fortentwickelnden EU 1219 Die Staatssouveränität als Regelungsinhalt der grundgesetzlich verbürgten Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1220 1. Normtextbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221 a) Kein Rückschluss aus der normtextuell vorausgesetzten Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland auf deren Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221 b) Kein Rückschluss aus dem normtextuell verbürgten pouvoir constituant auf eine immerhin teilweise Verbürgung der Souveränität Deutschlands . . . . . . 1222

Inhaltsverzeichnis

43

2. Die Staatssouveränität als conditio sine qua non der grundgesetzlich in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1224 a) Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als normative Verbürgung von Staatssouveränität 1225 b) Die Staatssouveränität der Bundesrepublik Deutschland als zumindest gegenwärtiger Regelungsinhalt von Art. 20 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1226 3. Grundgesetzsystematische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1228 a) Art. 59 Abs. 1 sowie Art. 32 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1228 b) Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1231 c) Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1235 d) Zusammenfassende Überlegungen zum grundgesetzsystematischen Inter­ pretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1237 4. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1238 II.

Inhaltliche Präzisierung der von der grundgesetzlichen Volkssouveränität mit­ normierten Staatssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239 1. Das traditionale Staatssouveränitätsverständnis als starting point . . . . . . . . . . . 1240 2. Das gemischt formell-materielle Souveränitätsverständnis des Grundgesetzes . 1242 a) Die Herleitung des gemischt formell-materiellen Souveränitätsverständnisses aus der Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1243 b) Das gemischt formell-materielle Souveränitätsverständnis in grundgesetzsystematischer und entstehungsgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . 1245

III. Die grundgesetzliche Volkssouveränität als ‚äußere Schranke‘ einer Mitwirkung Deutschlands an der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1247 1. ‚Äußere Schranke‘ und Souveränitätsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1248 a) ‚Äußere Schranke‘ und Souveränitätsverlust aus der Perspektive des formellen Souveränitätsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249 b) ‚Äußere Schranke‘ und Souveränitätsverlust in der Blickrichtung des mate­ riellen Souveränitätsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1251 aa) Souveränitätsverlust wegen Nichtdurchsetzbarkeit der staatlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1252 bb) Souveränitätsverlust wegen Wegfalls der Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . 1254 cc) Souveränitätsverlust und europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1256 2. ‚Äußere Schranken‘ und Souveränitätsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1257 a) Souveränitätsverzicht nur durch das deutsche Staatsvolk in seiner Eigenschaft als Träger des pouvoir constituant originaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1258 b) Grundgesetzlegale Aktivierung des pouvoir constituant in den Fällen eines von ihm zu entscheidenden Souveränitätsverzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1262 aa) Erlass eines den pouvoir constituant konkret aktivierenden Verfahrens­ arrangements in formell-rechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1264 (1) Kompetenzrechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1265 (2) Die These: Kein Erlass eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements im einfachen Gesetzgebungsverfahren . . 1266

44

Inhaltsverzeichnis (3) Zur Statthaftigkeit des teleologischen Rückgriffs auf Art.  79 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1268 (4) Zum teleologischen Rückgriff auf Art. 79 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . 1268 (5) Zur möglichen Kritik am teleologischen Rückgriff auf Art.  79 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1270 (6) Zwischenresümee: Kein Erlass eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements im einfachen Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271 (7) Die These: Erlass eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements analog Art. 79 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . 1272 (8) Zum argumentum a fortiori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1272 (9) Zum argumentum a simile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1274 bb) Grundgesetzliche Anforderungen an das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrensarrangement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1276 (1) Das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrensarrangement nach Maßgabe von Art. 146 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1276 (2) Das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrensarrangement nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG . . . . . . . . . . 1281 cc) Verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant zum Zweck eines von ihm zu entscheidenden Souveränitätsverzichts . . . . . . . . . . . . 1283 (1) Verfassungsrechtswidriger Aktivierungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . 1284 (2) Verfassungsgemäßer Aktivierungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1286 Kapitel 15

24

I.

Der Gestaltwandel der EU im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes 1287 Die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands . . . . . . . . 1288 1. Die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1289 a) Maßgeblichkeit des Modells doppelter Legitimationsbasis . . . . . . . . . . . . . . 1289 b) Maßgeblichkeit des Modells mittelbarer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . 1291 2. Die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1293

II.

Die Entwicklungshypothese der bundesstaatlichen Integration . . . . . . . . . . . . . . . 1294 1. Die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1294 2. Die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1296

III. Der Reformvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298 1. Die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1298

Inhaltsverzeichnis

45

a) Der demokratische Mehrwert des Reformvertrags: Die Vertikal- und Horizontaldimension von Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 b) Der demokratische Mehrwert des Reformvertrags: Die Tiefendimension von Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1304 2. Die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1307 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1310 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1367

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abg. ABl. Abs. AEUV AJIL All E. R. amerik. Anm. Ann. dr. lux. AnwBl. AöR APuZ ARSP Art. Aufl. AVR BayVBl. BBG Bd. Bde. Bearb. Begr. BGB BPersVG BRRG BT-Drs. BT-Prot. Buchst.  BullBreg BVerfG BVerfGE B-VG BW BYIL CDU CMLRev

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48

Abkürzungsverzeichnis

CSU Christlich-Soziale Union Consolidated Treaty Series CTS ders. derselbe dies. dieselbe(n) Document Doc. DÖV Die öffentliche Verwaltung DuR Demokratie und Recht Deutsches Verwaltungsblatt DVBl. EA Europa-Archiv Europäische Atomgemeinschaft (= EURATOM) EAG Einheitliche Europäische Akte EEA EG Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS EGV Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft EJIL European Journal of International Law European Law Review ELR EMRK Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union EU Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften EuGH Europäische Grundrechtezeitschrift EuGRZ EuR Europarecht s. EAG EURATOM EUV Vertrag über die Europäische Union EUZBLG Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWGV f. / ff. folgende Seite(n) FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Deutschlands F. D. P. Fn. Fußnote französisch(e) frz. FusV Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften FVG Gesetz über die Finanzverwaltung GATT General Agreement on Tariffs and Trade Geschäftsordnung des Ausschusses der Regionen GeschOAdR GeschOBRat Geschäftsordnung des Bundesrates GeschOBReg Geschäftsordnung der Bundesregierung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags GeschOBT

Abkürzungsverzeichnis GeschOEP GeschOKom GeschORat GeschOWSA GG GMH HanseLR HChE Hervorh. Hrsg. ILM JA JöR Jura JuS JZ KJ KPD KritV KSZE LBO LV MPIfG n. F. NG NJ NJW Nr. NVwZ NZZ OER ÖJZ OSZE ParlStG port. PVS RdC Res. Rev. Fr. Droit adm. RFDC RGBl. Riv. dir. eur.

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50 Rn. Rs. RTDE RuP S. Slg. span. SPD Staat StWiss u. a. UAbs. US v. verb. Verf. Verw. VerwArch. vgl. VVDStRL VVE WRV WVRK Z. ZAR ZaöRV ZfP ZfPol Ziff. ZP ZRP ZRPh ZSchwR ZUR

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I. Die demokratische Legitimation der EU als Problem 1. Das Erfordernis demokratischer Legitimation im Rahmen der EU Die durch den Vertrag von Maastricht gegründete EU1 ist eine internationale Organisation mit supranationalen und intergouvernementalen Bestandteilen2. In den Bereichen der EU, die supranationalen Charakter3 haben, ist nach herrschender Meinung eine selbstständige und unabhängige öffentliche Gewalt begründet wor-



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Zum Unionsvertrag vom 07.02.1992 siehe nur Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 60 ff. Grundlage der Union sind die Europäischen Gemeinschaften (EG und EAG [am 23.07.2002 trat der Vertrag zur EGKS durch Ablauf seiner zeitlichen Geltungsdauer außer Kraft; Art.  97 EGKSV  – zum Übergang der Bereiche Kohle und Stahl in die Zuständigkeit der EG Obwexer, Das Ende der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: EuZW 2002, 517 ff.]), ergänzt durch die mit dem Unionsvertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit, nämlich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS); vgl. Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 86; Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 4 Rn. 1; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 56 I 3.  2 In diesem Sinn auch Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art.  1  EUV Rn. 6 ff.; gegen die Einordnung des europäischen Hoheitsverbands als besondere Form der internationalen Organisation v. Welck, Die Bundesländer und die Einheitliche Europäische Akte, 1991, S. 7. 3 Wesentliches Kriterium der Supranationalität ist, dass die staatlichen Mitglieder einer internationalen Organisation auch gegen ihren Willen zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet werden können (vgl. etwa Streinz [Fn. 1], Rn.  126, Geiger,  EUV / EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 1 EGV Rn. 15, Nugent [Fn. 1], S. 475 sowie Magiera, Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, in: Jura 1994, S. 1 [5]; in diese Richtung wohl auch Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 40 V 1 und 2 sowie Kirchhof, Die Erneuerung des Staates – eine lösbare Aufgabe, 2006, S. 112; anders hingegen Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 4 Rn.12 und Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, Rn.  182 f.). Insofern dürfte es sich freilich nur um eine notwendige, nicht aber bereits um eine hinreichende Voraussetzung der Supranationalität handeln (Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 75 mit Fn. 74). Um als supranational gelten zu können, muss eine internationale Organisation darüber hinaus auch eine vergleichsweise hohe Integrationsdichte aufweisen, mithin also über einen relativ umfangreichen Organisationszweck und – damit korrelierend – über relativ weitreichende Regelungskompetenzen verfügen (vgl. dazu etwa Seidl-Hohenveldern / Loibl, Das Recht der internationalen Organisationen, 7. Aufl. 2000, Rn. 0113 f.; siehe auch Breitenmoser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, in: ZaöRV 1995, S. 951 [981 f.]).

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den4. Diese muss wie jede hoheitliche Herrschaft um Legitimation bemüht sein5. Aber auch hinsichtlich derjenigen Politikfelder, für die der EUV lediglich Verfahren der Regierungszusammenarbeit vorsieht, stellt sich die Frage nach der Legitimation der zwischenstaatlich beschlossenen Aktionen und Maßnahmen6. Denn auch diese begründen Herrschaftszusammenhänge. Die insofern eingeforderte Legitimation kann dabei lediglich eine demokratische sein. Mit Hermann Heller lässt sich formulieren, „daß es eine andre als die – allerdings sehr verschieden benannte – demokratische Legitimation der politischen Herrschaft in der öffentlichen Meinung der zivilisierten Völker der Gegenwart nicht gibt“7. In dem Legitimationsproblem liegt somit der im Titel dieser Studie angesprochene Konnex zwischen Demokratie und EU. 4 BVerfGE 22, 293 (296): „Die Gemeinschaft ist (…) eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, eine ‚zwischenstaatliche Einrichtung‘ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG, auf die die Bundesrepublik Deutschland – wie die übrigen Mitgliedstaaten  – bestimmte Hoheitsrechte ‚übertragen‘ hat. Damit ist eine neue öffentliche Gewalt entstanden, die gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbständig und unabhängig ist (…).“ Vgl. bereits Erler, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, in: VVDStRL 1960, S. 7 (13); ferner Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359; Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 181 Rn. 8; Schneider, Artikel ‚Gewalt, öffentliche‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd.  1, 3. Aufl. 1987, Sp.  1123 (1125 f.); Heyde, 50 Jahre deutsche Gesetzgebung im Lichte des europäischen Einigungsprozesses, in: ders. / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 13 (16); Grimm, Vertrag oder Verfassung, in: ders. u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S.  9; Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 45; Badura, Das Staatsziel „Europäische Integration“ im Grundgesetz, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 887 (888). 5 Denn „Autorität hat überhaupt nur eine Staatsgewalt, der man die Berechtigung ihrer Macht zuerkennt“ (so zutreffend Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 [355]). Vgl. auch Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat Nation Europa, 1999, S. 68 (89); Thürer, Daniel: Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 97 (129); Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 23; Emde, Herrschaftslegitimation ohne Volk, in: Enders / Masing (Hrsg.), Freiheit des Subjekts und Organisation von Herrschaft, 2006, S. 65 (76); Epping, Die demokratische Legitmation der Dritten Gewalt der Europäischen Gemeinschaften, in: Staat 1997, S. 349 (352); Hrbek, Der Vertrag von Maastricht und das Demokratie-Defizit der Europäischen Union, in: Randelzhofer / Scholz / Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Grabitz, 1995, S. 171 (172). 6 Dazu etwa Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der EU, in: EuR 1999, S. 133 (153 ff.). 7 Heller (Fn. 5), S. 280; ähnlich ders., Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 267 (329); ders., Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 411 (414); ders., Rechtsstaat oder Diktatur, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 443 (457). Ebenso Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 1; Abendroth, Staatsverfassung und Betriebsverfassung, in: Sultan / ders., Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie, 1955, S. 103; auch Murswiek, Maast-

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2. Die Vielgestaltigkeit demokratischer Legitimationskonzepte Die zitierte Passage aus Hermann Hellers ‚Staatslehre‘ wirft auch bereits ein erhellendes Schlaglicht auf jene besondere Schwierigkeit, die sich bei der Beschäftigung mit dem Thema ‚Demokratie und Europäische Union‘ auftut. So stellt Heller zwar klar, dass andere als demokratische Herrschaftsordnungen heute nicht mehr toleriert würden; er fügt aber einschränkend hinzu, dass das Ideal demokratischer Legitimation auf teilweise sehr verschiedene Begriffe gebracht und infolgedessen auch denkbar unterschiedlich gedeutet werde8. Da die Demokratietheorien infolgedessen Legion sind9 und kein allgemeinverbindlicher Demokratiebegriff exisricht und der Pouvoir Constituant, in: Staat 1993, S. 161; Storost, „… dem Frieden der Welt zu dienen“, in: Murswiek / ders. / Wolff (Hrsg.), Festschrift für Quaritsch, 2000, S. 31 (44); Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 329 f.; Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: Müller u. a. (Hrsg.), Festschrift für Eichenberger, 1982, S. 301; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 588; Oeter, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, S. 69; Raufer, Die legitime Demokratie, 2005, S. 12; Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, in: Grawert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 109 (115); Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, 2002, S. 11 ff.; Held, Rethinking Democracy: Globalization and Democratic Theory, in: Streek (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, S. 59; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 25; James, The Practice of Sovereign Statehood in Contemporary International Society, in: Jackson (Hrsg.), Sovereignty at the Millenium, 1999, S. 35 (39). 8 Heller (Fn. 5), S. 280; vgl. dazu auch schon Constant, Principes de politique, in: ders., Écrits politiques (Gauchet [Hrsg.]), 1997, S.  303 (311) (Chapitre Premier): „En un mot, il n’existe au monde que deux pouvoirs, l’un illégitime, c’est la force; l’autre légitime, c’est la volonté générale. Mais en même temps que l’on reconnaît les droits de cette volonté, c’est-àdire la souveraineté du peuple, il est nécessaire, il est urgent d’en concevoir la nature et d’en bien déterminer l’étendue. Sans une définition exacte et précise, le triomphe de la théorie pourrait devenir la calamité dans l’application.“ Ferner Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, S. 72; ders., Wer ist das Volk?, 1997, S. 57; Hättich, Artikel ‚Demokratie‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 1182 ff.; Conze, ‚Demokratie‘ in der modernen Bewegung, in: Brunner / ders. / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 5. Aufl. 1997, S. 873 f. und 898; Bauer, Demokratie in Europa, in: ders. / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 1; Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 3; Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, § 70; Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991, S. 31; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 127; Kaufmann (Fn. 5), S. 22 f.; Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, 1996, S. 14 f.; Stückrath, Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 272 f.; Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie, 1997, S. 23; Willems, Aktuelle Probleme der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, S. 21 (22): „Die Rede von der Demokratie im Singular ist höchst irreführend.“ 9 Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 9 f.: unerschöpfliche Vielfalt. Vgl. speziell im Kontext der europäischen Legitimitätsdebatte Wessels, Das politische System der Europäischen Union, in: Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl. 2003, S. 779 (811 f.).

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tiert10, lassen sich diverseste Legitimationskonzepte mit mehr oder minder großem argumentativen Aufwand als demokratisch bezeichnen11. Dies gilt auch und gerade für die verschiedenen vorgeblich demokratischen Legitimationsmodelle, die mit Blick auf die EU vertreten werden. So berichtet ein ehemaliges Kommissionsmitglied12 davon, dass es sich während seiner Brüsseler Zeit Anfang der siebziger Jahre bisweilen am Kommissionstisch umgesehen und sich gefragt habe, an welche Legitimitätsbasis seine Kollegen bei ihren Redebeiträgen wohl dächten. Tief beunruhigt habe er damals feststellen müssen, dass die einzelnen Kommissionsmitglieder, die doch allesamt aus demokratischen Verfassungsstaaten stammten und sicherlich keiner undemokratischen Legitimation der Gemeinschaftsrechtsordnung das Wort reden wollten, gänzlich unvereinbaren Legitimationsvorstellungen anhingen: „Einer dachte eindeutig an die Union der europäischen Föderalisten, ein anderer an seine eigene Staatsregierung und ein dritter hatte sich mit Leib und Seele bestimmten streng rationalen Normen verschrieben, also im besten Sinne der Technokratie.“13 An dieser Unsicherheit in Hinblick auf die Legitimationsgrundlage des europäischen Einigungsprozesses hat sich bis heute nicht viel geändert14. Die drei in dem Zitat angedeuteten Legitimationsvorstellungen werden, wie noch eingehend darzulegen sein wird15, auch heutzutage noch vertreten und für mit dem Demokratieprinzip vereinbar erklärt. Das konstatierbare Fehlen eines einheitlichen und allgemein anerkannten Legitimationskonzepts, das doch nur ein demokratisches sein kann, trägt entscheidend zu der demokratiepolitischen Malaise innerhalb der EU

10 Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, 1986, S. 103; Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 55; Beierwaltes, Demokratie und Medien, 2. Aufl. 2002, S. 11; Heusser, Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, 2001, S. 19 ff. – Ähnlich vieldeutig wie der Demokratiebegriff ist der – damit verknüpfte – Begriff der Freiheit; dazu nur Montesquieu, De l’esprit des lois (Goldschmidt [Hrsg.]), Bd. 1, 1979, S. 291 (Livre IX / Chapitre II) : „Il n’y a point de mot qui ait reçu plus de differentes significations, et qui ait frappé les esprits de tant de manières, que celui de liberté.“ 11 Vgl. auch Kirchheimer, Weimar – und was dann?, in: ders., Politik und Verfassung, 1964, S. 9 (14 f.); Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 225; Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie?, 1978, S. 10; Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 241 (242); Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 53; Thedieck, Demokratietheorien und Grundgesetz, in: JA 1991, S. 345; Doehring, Demokratie und Völkerrecht, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 127 (128); Saage, Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht, in: ders., Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie, 2007, S. 232; Buchstein / Jörke, Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 2003, S. 470: „Die Demokratie findet in den modernen Demokratien zwar viele Kritiker, aber keine grundsätzlichen Gegner mehr.“ 12 Nämlich Ralf Gustav Dahrendorf. Er war von 1970 bis 1974 EG-Kommissar. 13 Dahrendorf, in: ders. / Furet / Geremek, Wohin steuert Europa?, 1993, S. 79. 14 Vgl. etwa Zepter, Legitimation und demokratische Kontrolle aus der Sicht der Europäischen Kommission, in: Willems (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, S. 117 (119). 15 Siehe unten Kapitel 4 = S. 168.

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bei16. Die durch das fehlende Legitimationskonzept bedingten politischen, aber auch juristischen Probleme verschärfen sich in dem Maße, in dem das rechtlich verfasste Europa von einer in kompetenzieller Hinsicht noch recht beschränkten Wirtschaftsgemeinschaft zur umfassend tätigen Politischen Union mutiert17 und eine immer größere Zahl seiner hoheitlichen Entscheidungen auch gegen den erklärten Willen einzelner Mitgliedstaaten ergehen kann18. Je nachhaltiger die EU unmittelbar und mittelbar das Leben der Menschen in Europa reguliert, desto akzentuierter stellt sich die Frage nach ihrer demokratischen Legitimität19 und umso fataler muss sich das Fehlen eines klaren Legitimationskonzepts auswirken.

3. Die juristischen Konturen eines EU-spezifischen Legitimationsmodells als Forschungsdesiderat Mit Blick auf den geschilderten Missstand kann der hier zu leistende Beitrag somit nur darin liegen, die Anforderungen von Demokratie in Hinblick auf die EU zu konkretisieren und daran anknüpfend ein EU-spezifisches Modell demokratischer Legitimation zu entwerfen. Geboten ist insofern eine Rückbesinnung auf die Demokratienorm selbst. Von politikwissenschaftlicher Seite ist dies in verwandtem Zusammenhang schon vor Jahrzehnten gefordert worden20. Und erst in jüngerer Zeit ist der politikwissenschaftliche Versuch unternommen worden, die Anforderungen an eine europäische Demokratie normativ zu rekonstruieren21. Im Folgenden soll die Rekapitulation der EU-spezifischen Demokratienorm freilich aus spezifisch rechtswissenschaftlicher Perspektive erfolgen22. Im Untertitel dieser Abhandlung wird diese dezidiert juristische Herangehensweise denn auch nachdrücklich betont. Die Rekonstruktion der europäischen Demokratieanforderungen dürfte dem Juristen dabei sogar leichter fallen als dem Politikwissenschaftler. Während dieser dazu nämlich im Trüben unzähliger Demokratietheorien23 fischen muss24,

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In diese Richtung etwa auch Furet, in: Dahrendorf / ders. / Geremek (Fn. 13), S. 77 f. Insofern zutreffend Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 893 (926). 18 Dazu nur Papier, Wohin steuert Europa?, in: FAZ vom 08.06.2004, S. 5. 19 Vgl. etwa Kirchhof (Fn. 17), S. 927. 20 Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 9 ff. 21 Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999. 22 So auch der Ansatz von Kaufmann (Fn. 5), 1997, vgl. dort S. 24 und 29, sowie – in einem anderen Kontext – von Tschentscher (Fn. 9), S. 9 f. Zur genuin juristischen Annäherung an das Demokratieproblem vgl. auch die einleitende Überlegung bei Rousseau, La démocratie et le droit?, in: Damamme (Hrsg.), La démocratie en Europe, 2004, S. 111. 23 Dazu nur das Überblickswerk von Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl. 2000. 24 Raufer (Fn. 7), S. 16: „Der Begriff der Demokratie ist in der Wissenschaft äußerst umstritten und ebenso sind es die Lösungsvorschläge und unterschiedlichen Demokratiemodelle, die erarbeitet werden. Demokratie entzog und entzieht sich noch immer einer wissenschaftlichen Vereindeutigung, was mit ein Grund sein dürfte, dass sie sich zu der Generallegitimation der Moderne entwickeln konnte.“ Vgl. auch Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S. 25.

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kann und muss jener auf die relevanten positivrechtlichen Ausformungen der Demokratienorm zurückgreifen25. Mit dem bewusst rechtswissenschaftlichen Ansatz verengt sich zwangsläufig auch das hier zugrunde gelegte Verständnis von Legitimation26. Weder wird sie spezifisch soziologisch verstanden27, etwa als Gehorsamschance28. Noch soll Legitimation  –  ideologiekritisch gebrochen29  –  als bloße Machtfrage dekuvriert werden. Auch eine rein staatsphilosophische Rekonstruktion legitimer Herrschaftsausübung kann und soll nicht geleistet werden30. Stattdessen geht es um ein juridisches Konzept demokratischer Legitimation31. In dieser Perspektive fordert Legitimation die Konvergenz von tatsächlicher Machtausübung mit den obersten machtorganisatorischen Rechtssätzen des Gemeinwesens32, im Fall demokratischer Legitimation also die demokratische Legalität sozialer Machtent­ faltung33.



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Vertiefend dazu Jestaedt (Fn. 7), S. 138 ff.; auch Epping (Fn. 5), S. 372. Überblick zu den Begriffen der ‚Legitimität‘ und ‚Legitimation‘ bei Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 149 ff.; vgl. auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2002, S. 505 ff. sowie Voßkuhle / Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, in: JZ 2002, S.  673 (674). Zur Legitimationsdebatte aus politikwissenschaftlicher Sicht: Wiesner / Schneider / Nullmeier / Krell-Laluhová / Hurrelmann, Legalität und Legitimität  – erneut betrachtet, in: Becker / Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2005, S. 164 ff.; Richter, Demokratietheorie und europäische Integration, in: Thiemeyer / Ullrich (Hrsg.), Europäische Perspektiven der Demokratie, 2005, S. 67 (82 ff.); Peters, Öffentlicher Diskurs, Identität und das Problem demokratischer Legitimität, in: ders., Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, S. 322 (340 ff.). 27 Zum empirisch-soziologischen Legitimitätsverständnis vgl. nur Raufer (Fn. 7), S. 24 ff. Zu Legitimation und Legitimität in den Sozialwissenschaften auch den knappen Überblick bei Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 26 ff. 28 Vgl. Heller (Fn. 5), S. 297. In diese Richtung offensichtlich auch Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 200; ferner Glaesner, Die Legitimität der Europäischen Gemeinschaft, in: Bieber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Sasse, 1981, S. 73. 29 Dazu etwa Graf Kielmansegg (Fn. 20), S. 330. 30 Vgl. Heller (Fn. 5), S. 334. 31 Skeptisch Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002, S. 323 ff. 32 Hierzu auch Müller, Demokratie (Fn. 8), S. 61 f.; Würtenberger, Artikel ‚Legalität, Legitimität‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 874 (877). Anders, nämlich im Sinne eines Gleichlaufs von staatsphilosophischem und juristischem Legitimitätsbegriff, Spieß, Sozialer Dialog und Demokratieprinzip, 2005, S. 37. 33 In diesem Sinne auch das BVerfG (E 62, 1 [43]): „Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität.“ Auch Preuß, Transformation des europäischen Nationalstaates – Chance für die Herausbildung einer Europäischen Öffentlichkeit, in: Franzius / ders. (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, 2004, S. 44 (52): „… es gibt keine legitime und keine legale Hoheitsgewalt außer der, die durch und in Verfahren demokratischer Willensbildung autorisiert worden sind.“ Ferner Emde (Fn. 5), S. 32; Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 144; Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (253). Anders etwa Fisahn (Fn. 32), S. 32 und Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 143 ff.

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Die Relativierung der Legitimationsproblematik auf die Legalitätsfrage34 bedeutet nun freilich nicht, dass der juristische Legitimationsdiskurs gegen die soziologischen, ideologiekritischen und staatsphilosophischen Legitimationsdiskurse abgeschottet wäre35. Vielmehr bedarf es zur juristischen Klärung des Begriffs demokratischer Legitimation notwendig des Rückgriffs auf die außerjuristischen Legitimationsvorstellungen36. Die für die positivrechtlichen Demokratienormen konstitutiven Rechtsbestimmungen sind inhaltlich vielfach zu vage, als dass die Anforderungen demokratischer Legitimation allein aus ihnen heraus konkretisiert werden könnten37. Dabei kommt für die Übersetzung außerjuristischer Legitimationsvorstellungen in die juristische Begriffswelt der Allgemeinen Staatslehre eine entscheidende Vermittlerrolle zu38. Denn sie greift Erkenntnisse der Soziologie, der Ideologiekritik und der Staatsphilosophie auf39, um diese in Begriffe umzugießen, die für die rechtswissenschaftliche Dogmatik handhabbar sind40. Durch die Allgemeine Staatslehre werden überdies die soziologischen und sozialethischen Bezüge apparent, auf die bei der rechtsdogmatischen Konkretisierung speziell von Struktur- und Zielnormen wie der der Demokratie stets zu achten ist41. Dies erklärt auch, weshalb im Folgenden der Allgemeinen Staatslehre ein hoher Stellenwert eingeräumt und große Beachtung geschenkt wird: Die Rekonstruktion der europa­

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Kritisch vgl. auch Schliesky (Fn. 26), S. 248 ff. So aber offenbar Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, der sich dem Dialog zwischen Rechts- und Sozial­ wissenschaften erklärtermaßen entzieht (S.  25) und meint, dass „durch das dichte Gestrüpp politologischer, soziologischer oder anderer Erklärungsstränge (…) kein Pfad geschlagen zu werden“ brauche (S. 44). 36 Insoweit kann denn auch die etwas starre Unterscheidung, die Emde (Fn. 5), S. 26 ff. zwischen dem sozialwissenschaftlichen, rechtlichen und verfassungsrechtlichen Begriff der Legitimation trifft, nur in bedingtem Maße überzeugen. 37 Vgl. auch Hesse (Fn.  8), Rn.  133: „Die Bedeutung der Begründung staatlicher Gewalt durch die Demokratie des Grundgesetzes und mit ihr die Eigenarten dieser Demokratie erschließen sich (…) nur in einem Denken, das sowohl den normativen Charakter als auch die realen Bedingungen und Vorgänge jener Begründung in das Verständnis der Demokratie einbezieht.“ Zustimmend Hermes, Gemeinschaftsrecht, „neutrale“ Entscheidungsträger und Demokratieprinzip, in: Gaitanides / Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 410 (422 mit Fn. 65). Ferner Denninger, Demokratieprinzip und Verfassung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 129 (130): „Das Thema ‚Demokratie‘ ist par excellence auf ‚interdisziplinäre‘ Behandlung angelegt. Eine ‚rein juristische‘, auf die Anwendung der klassischen Auslegungscanones beschränkte Interpretation des Art. 20 I 1 GG fördert entweder Trivialitäten oder unabweisbare apodiktische Sätze zutage.“ 38 Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, in: JuS 2004, S.  2 (3 f.). Skeptisch im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der Allgemeinen Staatslehre allerdings Möllers, Der Staat als Argument, 2000, S. 418 ff. 39 Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 3 (28 f.). Vgl. auch v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 5. 40 Vgl. Heller (Fn. 5), S. 155 ff. 41 Vgl. Heller (Fn. 40), S. 22.

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spezifischen Legitimationsproblematik aus dem Geist der Allgemeinen Staatslehre erweist sich als Voraussetzung dafür, dass sie auch juristisch befriedigend be­ handelt und einer rechtlichen Lösung zugeführt werden kann, die den vielfältigen Bezügen der juridischen Demokratievorgaben zu ihren außerrechtlichen Bedingungen gerecht wird. 4. Das Prinzip der Volkssouveränität als Kernidee eines EU-spezifischen Modells demokratischer Legitimation In unmittelbarem Anschluss an das eingangs wiedergegebene Zitat heißt es in Hellers ‚Staatslehre‘42: „Unter demokratischer Legitimität verstehen wir die imma­ nente Rechtfertigung der staatlichen Herrschaft durch das Volk …“ Damit stellt Heller das Prinzip der Volkssouveränität43 in den Mittelpunkt des demokratischen Legitimationskonzepts44. Wie die vertiefende staatstheoretische und rechtswissenschaftliche Analyse zeigen wird, gilt Entsprechendes für die EU. Auch insofern figuriert das Prinzip der Volkssouveränität als Kernbegriff demokratischer Legi­ timation45. Unumstritten ist die am Prinzip der Volkssouveränität ansetzende Konkretisierung des demokratischen Legitimationskonzepts allerdings nicht. So ist in der Literatur verschiedentlich behauptet worden, dass die Prinzipien von Volkssouveränität und Demokratie gerade nicht identisch seien46. Denn erstens müsse ein auf das Prinzip der Volkssouveränität gegründetes Machtsystem nicht notwendig demokratisch ausgestaltet sein47; zweitens lasse sich Demokratie auch außerhalb eines Volks verwirklichen48. Eine solche Dissoziierung von Volkssouveränität und Demokratie geht indes am zeitgenössischen Verständnis dieser Struktur- und Zielbegriffe vorbei49.

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Heller (Fn. 5), S. 280. Überblicksartig zur Volkssouveränität Frevel, Demokratie, 2004, S. 58 ff. 44 In diesem Sinne auch Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 1; ferner Raufer (Fn. 7), S. 12 f. 45 Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 116 ff.; Spieß (Fn. 33), S. 113 ff.; eindrücklich zur „Entdämonisierung“ der Volkssouveränität auch Maus, Nationalstaatliche Grenzen und das Prinzip der Volkssouveränität, in: Gräser / Lammert / Schreyer (Hrsg.), Festschrift für Puhle, 2001, S. 11 (22 ff.). 46 Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S.  34; Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Gusy (Hrsg.), Demokra­ tisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 366 (367 ff.); Schliesky (Fn. 26), S. 270 f.; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 387. 47 Jestaedt (Fn.  7), S.  161; Post, Democracy and Equality, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wildhaber, 2007, S. 1043 (1044). 48 Kluth (Fn. 47), S. 34. 49 In diesem Sinne inbesondere Böckenförde (Fn. 45), Rn. 8: „Die Demokratie erscheint als Konsequenz und Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität, knüpft an dieses an und findet in ihm ihre Grundlage und Rechtfertigung.“ Vgl. auch Dederer (Fn. 34), 2004, S. 178 f.

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So steht zwar außer Frage, dass sich selbst absolutistische Fürsten wie etwa Friedrich II. von Preußen50 bemüßigt sahen, ihr monarchisches Herrschaftsregiment unter Hinweis auf die naturrechtliche Staatsvertragslehre als vom Volkswillen legitimiert und mithin als Ausfluss von Volkssouveränität darzustellen51; in der nun schon mehrfach erwähnten Passage seiner ‚Staatslehre‘ weist Hermann Heller auf diesen Umstand ausdrücklich hin52. Wer indes auch heutzutage noch in höchst artifizieller Manier zwischen dem Legitimationsgrund der Volkssouveränität einerseits und dem demokratischen Herrschaftsmodus andererseits differenzieren möchte, muss sich vorwerfen lassen, einem jedenfalls mittlerweile völlig anachronistischen Begriffsverständnis anzuhängen53. Denn seit den Tagen der Französischen Revolution ist unter Berufung auf das Prinzip der Volkssouveränität die demokratische Teilhabe immer breiterer Bevölkerungskreise durchgesetzt worden54. (Ideen-)Geschichtlich ist Volkssouveränität folglich schon längst zum Inbegriff von Demokratie avanciert55.

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Zu ihm nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2000, S. 107 ff. Die Schriften Friedrichs II. von Preußen spiegeln dieses Herrschaftsverständnis an vielen Stellen wider. Es findet sich bereits in den 1738 vom jungen Kronprinzen verfassten ‚Betrachtungen über den gegenwärtigen politischen Zustand Europas‘. Dort heißt es (zitiert nach Volz [Hrsg.], Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 1, 1913, S. 242 f.): „Legten die Fürsten diese falschen Ideen ab und gingen auf den Ursprung ihres Amtes zurück, sie sähen, daß ihre Würde, auf die sie so eifersüchtig sind, daß ihre Erhebung nur das Werk der Völker ist, daß die Aber­ tausenden, die ihnen anvertraut, sich nicht einem Einzigen sklavisch unterwarfen, um ihn mächtiger und furchtgebietender zu machen, daß sie sich von einem Mitbürger nicht beugten, um Märtyrer seiner Launen und Spielball seiner Einfälle zu sein, sondern daß sie Den unter sich erwählten, den sie für den Gerechtesten hielten, um sie zu regieren, den Besten, um ihnen ein Vater zu sein, den Menschlichsten, um Mitleid mit ihrem Mißgeschick zu haben und es zu lindern, den Tapfersten, um sie gegen ihre Feinde zu beschirmen, den Weisesten, um sie nicht zur Unzeit in verderbliche, zerstörerische Kriege zu verwickeln, kurz, den rechten Mann, um den Staat zu repräsentieren, den, dessen souveräne Macht eine Stütze für Recht und Gesetz ist und nicht ein Mittel, um ungestraft Verbrechen zu begehen und Tyrannei auszuüben.“ Selbst in dem an sich machtpolitisch ausgerichteten ‚Politischen Testament von 1752‘ hat der Gedanke einer Rückbindung des Fürsten an das Volk Niederschlag gefunden (zitiert nach Friedrich der Große, Die Politischen Testamente, 1922, S. 42): „Der Herrscher ist nicht zu seinem hohen Rang erhoben, man hat ihm nicht die höchste Macht anvertraut, damit er in Verweichlichung dahinlebe, sich vom Mark des Volkes mäste und glücklich sei, während alles darbt. Der Herrscher ist der erste Diener des Staates.“ Vgl. zum Ganzen auch die instruktive Darstellung von Mittenzwei, Die philosophischen Ansichten Friedrichs II., in: Friedrich II. von Preußen, Schriften und Briefe, 1986, S. 7 (39 ff.). 52 Heller (Fn. 5), S. 280. 53 Vgl. dazu auch Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 166. 54 In diesem Sinn Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 281 (289). 55 Hättich (Fn.  8), Sp.  1182; vgl. dazu unmissverständlich auch Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 945: „Demokratie bedeutet Volkssouveränität, also die Rückführbarkeit aller Ausübungen von Hoheitsgewalt auf das Volk.“ Ein frühes und sozusagen avantgardistisches Beispiel für die Identifizierung von Demokratie und Volkssouveränität findet sich bei Montesquieu (Fn. 10), S. 131 (Livre II / Chapitre II): „Lorsque, dans la république, le peuple en corps a la souveraine puissance, c’est une démocratie.“

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Und ebenso wenig wie sich das Prinzip der Volkssouveränität zum vom demokratischen Herrschaftsmodus dissoziierbaren bloßen Legitimationsgrund entschärfen lässt, darf Demokratie aus dem Bezug zum herrschaftsberufenen Volk heraus- und vom Postulat der Volkssouveränität abgelöst werden. Insbesondere trägt die Schaffung individueller Partizipationsmöglichkeiten nur dann zur Verwirklichung von Demokratie bei, wenn dadurch zur Rückkoppelung hoheitlicher oder sonstiger sozialer Macht an den Volkswillen, mithin also zur Realisierung von Volkssouveränität beigetragen wird56. Andernfalls hat die Teilhabe Einzelner an gesellschaftlichen Machtprozessen allenfalls eine rechtsstaatliche oder eine grundrechtliche Bedeutungsdimension57. Wer meint, dass Demokratie auch ohne Volkssouveränität möglich ist, verwischt und verharmlost den (ideen-)geschichtlich gewordenen und nach wie vor wirksamen Struktur- und Zielgehalt von Demokratie, nämlich dem einer konsequenten (Um-)Verteilung sozialer Macht von wenigen (auch) an Einfluss Reichen auf die Gesamtheit der vielen Volksange­ hörigen58. Für die im Rahmen dieser Abhandlung vertretene und im Weiteren noch vertiefend diskutierte Synonymie von Demokratie und Volkssouveränität streitet nicht zuletzt auch die unmittelbare Wortbedeutung dieser Begriffe. Semantisch betrachtet, bedeutet Demokratie nämlich Volksherrschaft59, also Volkssouveränität60. Demokratie und Volkssouveränität besagen gleichermaßen, dass das Volk, der demos, Adressant der innerhalb eines Gemeinwesens maßgeblichen sozialen Macht ist, genauer: sein soll61. Sie postulieren damit beide eine effektive, legitimierende Rückbindung von Herrschaftsmacht an das demokratische Subjekt62. Auch in dieser Perspektive erweist sich der Regelungsgehalt von Demokratie- und Volkssouveränitätsprinzip als kongruent63.

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Lübbe-Wolff (Fn. 34), S. 279 ff. Unklar Spieß (Fn. 33), S. 120 ff. Ähnlich wie hier Denninger (Fn. 38), S. 140. Eine grundsätzlich andere Auffassung hat freilich zuletzt Fisahn (Fn. 32), S. 292 ff. entwickelt. Anders auch Müller, Demokratie (Fn. 8), S. 16, nach dessen Urteil das Volk auch durch die Durchsetzung von Grundrechten und Ver­ fahrensgarantien sowie die verwirklichte Gleichheit vor dem Gesetz im demokratischen Sinn zum Subjekt von Herrschaft avanciert. In diese Richtung ferner Kotzur, Die Demokratiedebatte in der deutschen Verfassungsrechtslehre, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 351 (367 ff.) sowie – in politikwissenschaftlicher Perspektive – Hurrelmann, Europäische Demokratie ohne europäischen Demos?, in: ZfPol 2003, S. 661 (680 f.). 58 Lübbe-Wolff (Fn. 34), S. 252 f.; vgl. ferner Maus (Fn. 46), S. 22 f. 59 Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 8 II 1.  60 So auch Llompart, Proklamation der Volkssouveränität in den modernen Verfassungen, in: Krawietz (Hrsg.), Politische Herrschaftsstrukturen und Neuer Konstitutionalismus, 2000, 143 (146). 61 In diesem Sinne auch Leibholz, Freiheitliche demokratische Grundordnung und das Bonner Grundgesetz, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 132 (134). 62 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (D) Rn. 87. 63 Dazu auch Leibholz, Zum Begriff und Wesen der Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 142 (143); zurückhaltender zum Beispiel Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 184.

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Eine solche Sichtweise entspricht wohl auch dem europäischen ius commune64. Durchaus bezeichnend ist insofern, wenn es in einem der zahlreichen Dokumente der Verfassungsgeschichte der EU, nämlich in Art. 17 der Grundrechtserklärung des Europäischen Parlaments vom 12. April 1989 unter dem Titel ‚Grundsatz der Demokratie‘, heißt: „Alle öffentliche Gewalt geht vom Volke aus …“65. Im Übrigen weisen die Verfassungsrechte sämtlicher EU-Mitgliedstaaten66, aber auch Dokumente sowohl des bereits verbindlichen als auch des noch im Stadium des soft law verharrenden europäischen Regionalvölkerrechts das Prinzip der Volkssouveränität als demokratiezentral aus67. 5. Das Prinzip der Volkssouveränität und die drei Hauptprobleme eines EU-spezifischen Legitimationsmodells Das Thema ‚Demokratieprinzip und Europäische Union‘ muss also vom Prinzip der Volkssouveränität her erschlossen werden68. Die Volkssouveränität ist der ideelle Kern des zu entwerfenden EU-spezifischen Legitimationsmodells. Dem

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Vgl. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, 2002, S.  75: „Im demokratischen Staat artikuliert sich die Souveränität in dem Prinzip, dass ‚alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht‘. Dieses Prinzip gehört zum festen Bestand europäischer Verfassungskultur.“ In diesem Sinne auch schon Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Fiedler / ders. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Geck, 1989, S.  625 (641); ferner Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 78; Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union, in: DVBl. 1997, S. 1133 ff.; Britz / Schmidt, Die institutionalisierte Mitwirkung der Sozialpartner an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1999, S. 467 (484); Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S.  126; Haverkate, Diskussionsbeitrag, in: Hommelhoff / Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 155 (156). 65 Der Text der Erklärung findet sich abgedruckt in: EuGRZ 1989, S. 204 ff. 66 Vgl. dazu den Überblick bei Veil, Volksouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S. 58 f.; auch Kluth (Fn. 47), S. 33 mit Fn. 21 und 22.  67 Als für die Vertragsstaaten völkerrechtlich verbindliche Verbürgung des Prinzips der Volkssouveränität kann Art. 3 1. ZP EMRK gewertet werden: „Die Hohen Vertragsschließenden Teile verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaft gewährleisten.“  – Mit Brühl-Moser, Recht auf Demokratie im Völkerrecht, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wildhaber, 2007, S. 969 (987) ist des Weiteren davon auszugehen, dass sich in Europa ein aus dem inneren Selbsbestimmungsrecht herrührender völkergewohnheitsrechtlicher Anspruch auf Demokratie durchgesetzt hat. – Für den Bereich des soft law ist auf die mittlerweile berühmte ‚Charta von Paris‘ vom 21.11.1990 zu verweisen, die im KSZE / OSZE-Kontext verabschiedet wurde und in der es heißt: „Demokratische Regierung gründet sich auf den Volkswillen, der seinen Ausdruck in regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen findet.“ Dokumentiert wird der Chartatext in: EuGRZ 1990, 517 ff.; dazu auch Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 76. 68 So offensichtlich auch Kirchner / Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760 (764). Generell skeptisch gegenüber einer an staatstheoretischen Grundfiguren anknüpfenden verfassungsrechtlichen Analyse des europäischen Integrationsprozesses Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, in: ZaöRV 1995, 659 (701 f.).

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entsprechend lassen sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität auch die drei zentralen Probleme entwickeln, die sich in Hinblick auf ein solches für die EU geltendes Demokratiekonzept stellen. Die fraglichen Problemstellungen sind im Struktur- und Zielbegriff der Volkssouveränität sprachlich unmittelbar angelegt. Denn wer Volkssouveränität sagt, muss sich gerade im Hinblick auf die demokratische Legitimation der EU dreierlei fragen lassen: Wer ist eigentlich das Volk? Wie kann dieses Volk – zumal in Großgesellschaften – überhaupt souverän sein? Was hat es mit der begrifflichen Teilidentität von Volks- und Staatssouveränität auf sich?

a) Das Volksverständnis Seine oben zitierten Überlegungen zum heute axiomatisch gewordenen Legitimationsprinzip der Volkssouveränität und Demokratie schließt Heller mit dem Halbsatz ab, dass „sich die verschiedenen politischen Richtungen heute lediglich dadurch unterscheiden, dass sie dem Volksbegriff einen verschiedenen Inhalt geben“69. Anders als es das verharmlosende Adverb ‚lediglich‘ vermuten lässt, stellt das unterschiedliche Verständnis von Volk selbstverständlich keine zu vernachlässigende Marginalie dar70. Vielmehr liegt hierin der Ansatzpunkt für gänzlich divergierende Interpretationen von Volks-Souveränität und Demos-kratie71. Dies gilt insbesondere, wenn auch gewiss nicht ausschließlich in Hinblick auf die EU-spezifische Dimension dieser Legitimationskonzepte72. Insofern erweist sich das Volksverständnis nämlich als ausschlaggebend dafür, ob Volkssouveränität und Demokratie auch durch das Zusammenwirken der Unionsbürger begründet werden kann73 oder aber ob nur die geschichtlich gewachsenen nationalen Staatsvölker als Quell demokratischer Legitimation zu fungieren vermögen74. Nur wenn dies feststeht, lassen sich im Weiteren die demokratierechtlichen Anforderungen an die innere Ausgestaltung eines EU-spezifischen Legitimationsmodells konkretisieren75. Anders formuliert: Der mit dem Prinzip der Volkssouveränität unmittel

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Heller (Fn. 5), S. 280. Dazu auch Kelsen (Fn. 7), S. 26. 71 Vgl. dazu etwa die prototypische Auseinandersetzung zwischen einem früheren und einem aktuellen Bundesverfassungsrichter darüber, wie der Begriff des Volkes in Art. 20 Abs. 2 GG richtigerweise zu verstehen ist: Böckenförde (Fn. 45), Rn. 27 mit Fn. 46 und Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWissStPr 1994, S. 305 ff. 72 Vgl. etwa Höreth (Fn. 21), S. 53 ff. 73 In diesem Sinne etwa Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 55. 74 So zum Beispiel Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 16 und 123. 75 Diesem Ansatz steht beispielsweise Nettesheim, Demokratisierung der EU und Europäisierung der Demokratietheorie, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 143 (178) kritisch gegenüber.

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bar angesprochene Volksbegriff ist deshalb zwingend klärungsbedürftig, weil die im Folgenden sogenannten internen Vorgaben, die ein EU-spezifisches Legitima­ tionsmodell wahren muss, ein oder auch mehrere hinreichend bestimmte Legitimationssubjekte voraussetzen.

b) Die Volkssouveränität als genuin juristisches Zurechnungsprinzip Allgemein ist Volkssouveränität zu begreifen als juristische Abhängigkeit der in einem bestimmten sozialen Kontext ausgeübten Herrschaftsmacht vom Volk76. Zu berücksichtigen ist freilich, dass sich das Volkssouveränitätsprinzip traditionell – und so auch im hiesigen Zusammenhang, in dem es um die demokratische Legitimation speziell der EG-Normsetzung geht – auf die Ausübung speziell von hoheitlicher Macht bezieht77. In dieser im Folgenden vorrangig verfolgten Perspektive begreift sich Volkssouveränität demnach als juristische Abhängigkeit gebietsgesellschaftlich wirksamer Hoheitsmacht vom Volk. Dieses Verständnis von Volkssouveränität als genuin juristischem Zurechnungsprinzip beruht dabei auf der Einsicht, dass allein eine rechtsförmige und nicht bloß sozialethische Rück­ bindung hoheitlicher Betätigung an den demos den Unterschied der Volks- zur Fürstensouveränität zu markieren vermag78. Nun wird die juristische Abhängigkeit gebietsgesellschaftlich wirksamer Hoheitsmacht in den modernen Großgesellschaften im Wesentlichen mittels einer mehr oder minder repräsentativen Demokratie erreicht79. Es wird mit anderen Worten ein differenziertes System von Wahlen, Verantwortlichkeiten und normativen Direktiven instituiert, um das Ausgehen der Herrschaftsgewalt vom Volk juristisch zu garantieren80. Dieses von Heller plastisch als ‚Fuchsbau‘ apostrophierte Legitimationssystem81 erweist sich auf EU-Ebene wegen des dort vorhandenen kom­plexen institutionellen Regimes als besonders verflochten82. Darin liegt nach verbreiteter Ansicht auch der Kern des vielbeschworenen Demokratiedefizits83: Schon in den Nationalstaaten sind die politisch entscheidenden Reprä

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Vgl. Heller, Die Souveränität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 31 (99). 77 Vertiefend dazu Volkmann, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 20 (2. Teil), Rn. 40. 78 Heller (Fn. 77), S. 96 f. 79 Dazu etwa Kelsen, Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, 115 (121); Zippelius (Fn. 3), § 23 II. 80 Heller (Fn. 77), S. 98. 81 Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 463 (468). 82 Landfried, Wo bleiben die Bürger in der Europäischen Union?, in: Bruha / Nowak (Hrsg.), Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 89 (90). 83 Dazu in eindrücklicher Polemik Lamprecht, Untertan in Europa, in: NJW 1997, S. 505 f. (allerdings auch die Erwiderung von Bandilla / Hix, Demokratie, Transparenz und Bürgerrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: NJW 1997, S. 1217 ff.); ferner Schröder, Volkssouve-

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sentanten mit den einzelnen Bürgern nur auf sehr weiten Wegen verbunden84. Im Rahmen des europäischen Institutionengefüges sind sie ihnen noch weiter entrückt85. Die in Massendemokratien ohnehin vorhandene Gefahr, dass Bürokratie86, Lobby-Gruppen87 und andere soziale Mächte die eigentlich beim Volk lokalisierte Herrschaftsgewalt absorbieren88, erscheint innerhalb der EU besonders akut89. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die demokratische Rückbindung der Gemeinschaftsgewalt zwar noch verwickelter ist als in den Nationalstaaten, dafür aber womöglich durch eine Verdoppelung der Legitimationsstränge gekennzeichnet ist. Geht man nämlich davon aus, dass auch die Unionsbürgerschaft demokratische Legitimationszusammenhänge zu begründen vermag90, kann der Einzelne sowohl als Angehöriger eines Nationalstaats wie auch als Unionsbürger, also gleich zweifach auf die Gemeinschaftsgewalt Einfluss nehmen und diese mithin legitimieren. Des Weiteren und vor allem darf nicht übersehen werden, dass es im Rahmen überstaatlicher Zusammenschlüsse wie der EU gelingen kann, die auf nationalstaatlicher Ebene verloren gegangene demokratische Kontrolle über

ränität zwischen demokratischem und republikanischem Prinzip, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S.  17 (56 ff.); Melchior, Perspektiven und Probleme der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Antalovsky / ders. / Puntscher Riekmann (Hrsg.), Integration durch Demokratie, 1997, S. 11 (23 ff.); Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch, Europäische Integration, 1996, S. 47 (53 f.); Lübbe-Wolff (Fn. 34), S. 248 f.; Bauer (Fn. 8), S. 9; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 14 f.; Goodman, Die Europäische Union: Neue Demokratieformen jenseits des Nationalstaats, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 331; Steffani, Das Demokratie-Dilemma der Europäischen Union, in: ders. / Thaysen (Hrsg.), Demokratie in Europa, 1995, S. 33 (34 ff.). Vgl. allerdings auch Schockweiler, Le prétendu déficit démocratique de la communauté, in: Journal des tribunaux / Droit Européen 1994, S. 25 (26) sowie Nass, Eine beliebtes Phantom: das Demokratiedefizit der EU, in: FAZ vom 29.03.1999, S. 15, die den Vorwurf eines europäischen Demokratiedefizits weitgehend zurückweisen (zu dieser Auffassung näher Epping [Fn. 5], S. 356 ff.). 84 Hierzu bereits Heller (Fn. 82), S. 468. 85 Zutreffend weist Zuleeg darauf hin, dass sich die Zustimmung der Beherrschten ausdünnt, wenn die Entscheidungen weit entfernt von der Basis getroffen werden (Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S. 1069 [1071]). 86 Vgl. Mayntz, Artikel ‚Bürokratie‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp.  1065 (1067 f.); auch Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 109 f. 87 Vgl. Glotz, Integration und Eigensinn, in: Stiftung Mitarbeit (Hrsg.), Wieviel Demokratie verträgt Europa? Wieviel Europa verträgt Demokratie?, 1994, S. 47 (51); Blümle, Artikel ‚Lobby‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd.  3, 7. Aufl. 1987, Sp.  929 (931). 88 Dazu bereits Heller (Fn. 5), S. 359 f. 89 Hinsichtlich der Lobby-Gruppen im EU-Kontext vgl. etwa Giebenrath, Das Mitentscheidungsverfahren des Artikels 251 (ex-189b) EG-Vertrag zwischen Maastricht und Amsterdam, 2000, S. 85 ff. sowie Epiney u. a. (Fn. 46), S. 202. 90 Dazu nur Zuleeg (Fn. 86), S. 1071.

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das transnational operierende Kapital zu restituieren91. Auch ein solcher Zugewinn an demokratischer Macht und damit an Volksherrschaft mag grundsätzlich geeignet erscheinen, mögliche demokratische Defizite innerhalb der EU zu kompensieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich eines zumindest festhalten: So einfach es ist, die Volkssouveränität als juristische Abhängigkeit hoheitlicher Machtentscheidungen vom Volk zu proklamieren, so anspruchsvoll erscheint es, diese juristische Zurechnungsregel92 auf hochkomplexe Herrschaftssysteme wie etwa das der EU anzuwenden. Dies gilt erst recht dann, wenn man berücksichtigt, dass sich unter den Bedingungen repräsentativer Demokratie eine Rückbindung hoheitlicher Gewalt an den Volkswillen realiter überhaupt nur dann und insoweit vollziehen kann, als die betreffende Gebietsgesellschaft in der Lage ist, einen für die demokratischen Repräsentanten wegweisenden demokratischen Willen immer wieder von Neuem aus sich heraus zu bilden. Insbesondere die freie und gleichberechtigte Diskussion zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen muss daher um der Volkssouveränität willen juristisch gewährleistet sein93. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann das politische System demokratischer Willensvereinheitlichungen von unten nach oben Platz greifen und sich der einzelne Repräsentant in der Folge dauerhaft am Volkswillen orientieren94. In der Demokratie kann und darf Repräsentation nicht in dem Sinne absorptiv95 beziehungsweise symbolisch96 verstanden werden, dass eine Magistratenelite aristokratisch zum Besten des Volkes wirkt97. Vielmehr soll sich dem Prinzip der Volkssouveränität gemäß eine veritable Volksrepräsentation Bahn brechen. Dies ist ohne zivilgesellschaftliche Diskussionen nicht denkbar,

91 Dazu gleichsam prophetisch auch schon Heller, Sozialismus und Nation, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 437 (517). Kritisch wird diese Schrift Hellers freilich von Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie, 2006, S. 93 ff. beurteilt. 92 Heller (Fn. 5), S. 360. 93 Zu Recht werden daher die Grundrechte als zur Demokratie gehörig beschrieben, „und zwar nicht als von außen an sie herangetragenes Korrektiv, sondern als wesentliche Konstitu­ tionsbedingungen der Demokratie“  – so Bäumlin, Artikel ‚Demokratie‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 458 (467). 94 Heller (Fn. 82), S. 467 ff. 95 Zum Begriff der absorptiven Repräsentation Heller, Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 3 (6); auch Müller, Das imperative und das freie Mandat, 1966, S. 223 ff.; Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, 2001, S.  80 ff.; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2.  Aufl. 1996, § 58 c); v. Komorowski, Äußerungsrecht der kommunalen Volksvertretungen und gemeindliche Verbandskompetenz, in: Staat 1998, S. 122 (138); zu den oligarchisch-elitären Elementen repräsentativer Demokratie auch Zippelius (Fn. 3), § 23 II 3. 96 Zur symbolischen Repräsentation aufschlussreich Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 174 ff. 97 In diesem Sinn auch so unterschiedliche Autoren wie Abendroth, Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, 1953, S. 5 ff. und Meier, Die parlamentarische Demokratie, 1999, S. 259. Vgl. ferner v. Komorowski (Fn. 96), S. 138.

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durch die der demokratische Wille vorgeformt wird98 und daher um der Demokratie willen auch gegen Vermachtungstendenzen99 geschützt werden muss. Mithin normiert das juristische Zurechnungsprinzip der Volkssouveränität, auch soweit es sich wie im Regelfall auf die Ausübung von Hoheitsmacht bezieht, immer auch den gesellschaftlichen Bereich mit100. Und wiederum gilt, dass dieses Zurechnungsprinzip auch in seiner gesellschaftsbezogenen Geltungsdimension an sich einfach strukturiert ist. Doch je größer und komplexer die Gesellschaften werden, desto schwerer fällt die Anwendung des an sich so simpel anmutenden Zurechnungsprinzips auch in dieser Hinsicht. Insbesondere im Falle einer sozial, national und sprachlich derart fragmentierten Großgesellschaft wie der europäischen lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, welche Voraussetzungen in Hinblick auf den demokratiekonstitutiven Prozess gesellschaftlicher Willensvereinheitlichung von Rechts wegen gegeben sein müssen. Klärungsbedürftig ist vor allem, ob, inwieweit und mit welchen juristischen Konsequenzen die den nationalstaatlichen Legitimationszusammenhängen zugrundeliegenden zivilgesellschaftlichen Realitäten auch hinsichtlich des europäische Legitimationssystems Rechtsgeltung beanspruchen101. Trotz dieser Anwendungsschwierigkeiten muss die dem Prinzip der Volks­ souveränität inhärente juristische Zurechnungsregel auch in Hinblick auf die EU konkretisiert werden. Denn allein dadurch lassen sich die hier sogenannten internen Vorgaben präzisieren, denen ein EU-spezifisches Legitimationsmodell um der Volkssouveränität willen Rechnung tragen muss.

c) Das Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität In Anlehnung an Heller lässt sich schließlich feststellen, dass immer, wenn von Volkssouveränität die Rede ist, der Gedanke der Staatssouveränität irgendwie mitgedacht wird102. Dies folgt aus folgenden Erwägungen: Schon seinem Wortlaut nach bedeutet Volkssouveränität souveräne Herrschaft des Volkes. Dies kommt nicht von ungefähr. Schließlich beruht Volkssouveränität auf der Vorstellung, dass die gebietsgesellschaftlichen Zusammenhänge durch die Ausübung wirksamer hoheitlicher Gewalt geprägt werden und jedenfalls diese Form sozialer Machtaus 98 Heller (Fn. 82), S. 469. Vgl. zur gesellschaftlichen Kommunikation als konstitutiver Bedingung von Demokratie auch Kupfer, Die Verteilung knapper Ressourcen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2005, S. 148 f. 99 Dazu etwa Heller (Fn. 5), S. 285 und 283; ferner v. Arnim (Fn. 40), S. 9 sowie Fetscher, Wie ist demokratischer Sozialismus möglich? Warum ist demokratischer Sozialismus nötig?, in: ders., Für eine bessere Gesellschaft, 2007, S. 12 (16). 100 Dazu etwa Bäumlin (Fn. 11), S. 13. 101 Lübbe-Wolff (Fn. 34), S. 249 ff.; Ipsen, Die europäische Integration in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Baur / Müller-Graff / Zuleeg (Hrsg.), Festschrift für Börner, 1992, S. 163 (174). 102 Heller (Fn.  77), S.  96. So auch Oeter, Föderalismus, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 59 (89): „siamesische Zwillinge“; ders. (Fn. 69), S. 688. Dagegen vehement Schliesky (Fn. 26), S. 511 f.

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übung von den hiervon betroffenen Gebietsvolksangehörigen legitimiert werden muss103. Diese demokratische Leitvorstellung kann in der sozialen Wirklichkeit freilich nur dann eingelöst werden, wenn ein ganz bestimmtes Volk Träger der Souveränität ist, mithin also über die nach innen und außen oberste Gebietsordnungsgewalt verfügt104. Denn ohne eine solche bei einem definiten Volk lokalisierte oberste Gebietsordnungsgewalt bestünde die Gefahr, dass die öffentliche Befehlsgewalt und damit auch die demokratische Macht zerfällt105. Es gäbe dann nämlich keine Möglichkeit, durch unilaterale Gebietsordnungsentscheidungen des demos effektiv zu verhindern, dass die – für die Volkssouveränität weithin konstitutive – öffentliche Befehlsgewalt von nichtdemokratischen sozialen Machtgruppen unterminiert oder gar usurpiert wird; genau dies aber stellt speziell unter kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialverhältnissen eine permanente Bedrohung von Volkssouveränität und Demokratie dar106. Mit der vom Volkssouveränitätsprinzip geforderten Verortung der obersten Gebietsordnungsgewalt beim Volk ist wohlgemerkt nicht gesagt, dass neben dem Volk, das Träger der Souveränität ist, nicht auch Teil- oder auch Obervölker zur demokratischen Legitimation hoheitlicher Macht beitragen können107. Allerdings lässt sich Stabilität und Fortbestand eines demokratischen Staats- und Gesellschaftssystems auf einem bestimmten Territorium nur durch die letztinstanzliche Rückbindung der hoheitlichen Machtentfaltung an ein mit Souveränität ausgestattetes Volk erreichen108. Werden die gebiets 103

Heller, Ideenkreise (Fn. 7), S. 329; auch Schmidtke, Globalisierung, Demokratie und die Heiligsprechung des Nationalen, in: Scharenberg / ders. (Hrsg.), Das Ende der Politik?, 2003, S.  160 (162); Zuleeg, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland, in: JZ 1980, S.  425 (430). 104 So auch Leibholz, Gestaltwandel der modernen Demokratie, in: ders., Demokratie und Rechtsstaat 1957, S. 5 (12). Zu diesen historischen Verbindungslinien zwischen Demokratie und Staat Volkmann, Setzt Demokratie den Staat voraus?, AöR 2002, S. 575 (579 ff.). 105 Ähnlich, wenn auch aus spezifisch völkerrechtlicher Perspektive, Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 2002, S. 1072 (1077): ein Abschied von der Staatensouveränität wäre zugleich ein Abschied von der Volkssouveränität. 106 Vgl. etwa Offe, Bewährungsproben, in: ders., Herausforderungen der Demokratie, 2003, S. 136 (139). 107 Für den am Grundgesetz geschulten Juristen ist es ganz selbstverständlich, dass außer vom Bundesvolk auch von dessen Gliedvölkern demokratische Legitimation ausgehen kann (vgl. nur Dreier [Fn. 63], Rn. 95). Darüber hinaus lassen sich mit den kommunalen Gebietskörperschaften sowie mit den verschiedenen Trägern funktionaler Selbstverwaltung noch weitere Teilvölker benennen, die Volkssouveränität zu generieren in der Lage sind (hierzu überzeugend Herzog, in: Maunz / Dürig [Begr.], Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 20 II, Rn. 56 ff.). Wenn und soweit eine Gesamtheit souveräner Völker als einheitliches Subjekt demokratischer Legitimation zu fungieren vermag (in diesem Sinne etwa Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 23 Rn. 26 ff. im Hinblick auf die Gesamtheit der Völker der EU-Mitgliedstaaten), so trägt diese als Obervolk zur demokratischen Legitimation bei. 108 Insofern gilt auch heute noch, was Hennis, Das Problem der Souveränität, 2003, S. 77 vor bald sechzig Jahren feststellte: „So ist die Frage nach der Lokalisierung der Souveränität von der politischen Wirklichkeit aufgegeben wie kaum eine andere und damit allen anderen Fragen voranzustellen.“

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gesellschaftlich vorhandenen demokratischen Arrangements nämlich nicht à la longue durch einen demokratischen Souverän miteinander koordiniert, sachgerecht fortentwickelt und effektiv garantiert, drohen Paralyse und Verfall demokratischer Hoheitsmacht und damit einhergehend die Stärkung nichtdemokratischer Einflussgruppen. Just diese Zusammenhänge sind angesprochen, wenn es heißt, dass auch in der Demokratie ein ‚Herr‘, eine wirksame Entscheidungseinheit vorhanden sein muss109. Nun ist auch in der Welt von heute noch regelmäßig der Staat die nach innen und außen mächtigste Gebietsentscheidungseinheit110. Nach innen verfügt er über die Machtfülle, die die Behauptung gegen jede andere Gewalt innerhalb des Gebietes ermöglicht111. Insbesondere ist das Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt, die ultima ratio jeder Macht, noch weitgehend beim Staat monopolisiert112. Nach außen begegnet der souveräne Staat anderen Staaten im Status grundsätzlicher Unabhängigkeit und Gleichheit113. Die Lokalisierung der Souveränität im Staat114 legt den Schluss nahe, dass sich Volkssouveränität, soll sie effektiv wer 109 Heller (Fn. 77), S. 62. Vgl. auch – nüchterner – Leibfried, Untertanenfabrik? Ach wo!, in: Die Zeit vom 16.05.2007, S. 12: „Ohne Staat gibt es keine Demokratie, jedenfalls nicht in der Fläche.“ 110 Diese von Heller (Fn.  5), S.  326  für die Welt der zwanziger Jahre getroffene Feststellung trifft im Kern auch heutzutage noch zu (so etwa auch Lucas, Nationalism, Sovereignty and Supranational Organisations, 1999, S. 7 und 57). Denn dass gegenwärtig etwa bestimmte trans­nationale Konzerne die nach innen und außen mächtigsten Gebietsentscheidungseinheiten wären, wird man selbst dann nicht ernsthaft behaupten können, wenn man die demokratiepolitischen Gefahren, die von konzentrierter wirtschaftlicher Macht ausgehen, als besonders schwerwiegend einstuft. Wenn dem transnational operierenden Kapital gegenwärtig eine große Einflussmacht zukommt, dann ist dies zunächst und zuvörderst die Konsequenz der von den Staaten kraft ihrer Hoheitsmacht etablierten und von dieser getragenen Wirtschaftsordnung. Aktuell wird die nach wie vor zentrale Rolle des Staates etwa von Leibfried, (Fn. 110), S. 12, Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVBl. 2000, S. 1 (11 f.), Held, Soziale Demokratie im globalen Zeitalter, 2007, S. 26 f., James (Fn. 7), S. 47, Grande, Vom Nationalstaat zum transnationalen Politikregime, in: ders. / Prätorius (Hrsg.), Politische Steuerung und neue Staatlichkeit, 2003, S. 283 ff., Dehnhard, Dimensionen staatlichen Handelns, 1996, S. 11 f. und – freilich aus Sicht der (staats-) kritischen Theorie – von Hirsch, Die neue Weltordnung: Internationalisierung des Staates, in: Atzert / Müller (Hrsg.), Kritik der Weltordnung, 2003, S. 31 (37 f.) betont. Vgl. aber auch Nuscheler, Globalisierung und Global Governance, in: Lutz (Hrsg.), Festschrift für Röhrich, 2000, S. 301 (314). 111 Heller (Fn. 5), S. 356. 112 Klassisch Heller (Fn. 5), S. 358; dafür, dass sich dies selbst durch die Integration in die supranationale Europäische Union nicht geändert hat, vgl. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 149 (200): „Ein Großteil des europäischen Rechts, nämlich sämtliche Rechtsnormen, die sich im Kern als Kommunikation zwischen Trägern hoheitlicher Macht darstellen, sind noch nicht einmal symbolisch zwangs­ bewehrt.“ 113 Dreier, Artikel ‚Souveränität‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd.  4, 7. Aufl. 1988, Sp. 1203; Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, § 15. 114 Dazu auch Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 125 (136).

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den, zwingend immer auch als Herrschaft des im und als Staat organisierten Volkes Bahn brechen muss. Staats- und Volkssouveränität erscheinen in dieser Perspektive als teilidentisch115. Für das Thema ‚Demokratie und Europäische Union‘ ist diese teilweise Identi­ fizierung von Staats- und Volkssouveränität116 eminent bedeutsam117. Denn hierdurch wird das im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses viel diskutierte Problem des drohenden oder bereits eingetretenen Verlusts staatlicher Souveränität118 zu einem auch demokratierechtlichen119. Durch die Übertragung staatlicher Hoheitsrechte auf die EU relativiert sich die Souveränität des Staates zunehmend120. Der Integrationsprozess kann in dieser Perspektive theoretisch dazu führen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt die staatliche Souveränität vollends entfällt. Hat sich die EU zu diesem Zeitpunkt nicht schon zu einem souveränen (Bundes-)Staat gewandelt, entsteht ein Souveränitätsdefizit121, das zugleich ein Demokratiedefizit beinhaltet122: Mangels oberster Gebietsordnungsgewalt lässt sich die Volkssouveränität nicht mehr gewährleisten. Stattdessen kommt es in diesem souveränitätsfreien Raum zu einem Nebeneinander diverser öffentlich-rechtlicher Machteinheiten. Diese dürften es schwer haben, sich gegen aufstrebende private (Wirtschafts-)Machtgruppen durchzusetzen, die das Fehlen einer gebietsuniversalen Entscheidungsgewalt geschickt zur Stärkung der eigenen Position nutzen können. Im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses hängen Staatssouveränität und Volkssouveränität somit deshalb und insofern zusammen, als das integrationsbedingte Ende der für die Volksherrschaft konstitutiven Staatssouveränität den Beginn eines demokratiewidrigen Feudalkapitalismus123 markieren kann124. 115

Heller (Fn. 77), S. 99. Dagegen dezidiert Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, in: Leviathan 2003, S.  362 (367): „Staatssouveränität ist letztlich mit Volkssouveränität unver­ einbar.“ 117 Diesen Zusammenhang vernachlässigt Siedentop, Demokratie in Europa, 2000, S.  48, wenn er kritisiert, dass in der integrationspolitischen Debatte der Nach-Maastricht-Zeit die Aspekte der Demokratie und Souveränität in gefährlicher Weise konfundiert worden seien. 118 Dazu schlaglichtartig Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, in: VVDStRL 2004, S. 7 (9 f.); dies., Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, in: ZaöRV 2004, S. 517 (521 ff.); Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 259 ff.; aber auch Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 52 ff. 119 Dreier (Fn. 114), Sp. 1208. 120 Dazu etwa Maurer (Fn. 3), § 4 Rn. 12. 121 So auch Puntscher-Riekmann, Demokratie im supranationalen Raum, in: Antalovsky /  Melchior / dies. (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, S. 69 (73). 122 Habermas, Der europäische Nationalstaat unter dem Druck der Globalisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg.), Der Sound des Sachzwangs, 2. Aufl. 2006, S. 148 (150). 123 Vgl. hierzu bereits Heller (Fn. 77), S. 65. 124 Gegen diesen Argumentationsgang entschieden Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, insbesondere S. 10 f., 66 und 86 ff. 116

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Wegen der teilweisen Identifizierung von Volks- und Staatsouveränität steht das EU-spezifische Modell demokratischer Legitimation folglich unter einem demokratierechtlichen Souveränitätsvorbehalt: Aus demokratierechtlichen Gründen dürfen die nationalen Staatssouveränitäten im Zuge des europäischen Integrationsprozesses erst dann überwunden werden, wenn sie durch die Souveränität eines europäischen Bundesstaats substituiert werden125. Dieser Souveränitätsvorbehalt ist die aus dem Demokratieprinzip erwachsende externe Schranke, nach der sich das EU-spezifische Legitimationsmodell richten muss. Diese externe Schranke ergänzt die vom EU-spezifischen Legitimationsmodell ebenfalls zu wahrenden internen Vorgaben, die sich ihrerseits aus der Geltungsdimension von Volkssouveränität als juristischer Zurechnungsregel ergeben126 und insofern ein hinreichend klar definiertes Volk als Zurechnungssubjekt voraussetzen127. Überaus fraglich ist nun allerdings, wo genau diese externe Schranke verläuft. Worin besteht im Einzelnen die Staatssouveränität, die nicht ersatzlos untergehen darf, weil andernfalls ein Demokratiedefizit zu entstehen droht? Kann man sich insofern am überkommenen Bild staatlicher Souveränität orientieren? In diesem Fall wäre Souveränität, wie bereits skizziert, geprägt durch reale Machtfülle, das Gewaltmonopol und Unabhängigkeit nach außen. Von dieser Vorstellung indes entfernt sich die staatliche Realität immer mehr128. Die innere und äußere Machtposition der Staaten ist im anbrechenden 21.  Jahrhundert deutlich beschränkter als in den vergangen Jahrhunderten129. Dennoch geht man ganz überwiegend davon aus, dass die real existierenden Staaten weiterhin souverän sind. Die Rechtsidee der Staatssouveränität wird mehrheitlich nicht aufgegeben130. Stattdessen wird sie durch diverse Theorien modifiziert131 und dadurch auf sehr unterschied­ liche Weise an die Realität adaptiert132. Die divergierenden Souveränitätsverständnisse machen es freilich schwer, den Begriff der Souveränität juristisch zu prä­

125

Insoweit zutreffend Isensee (Fn. 75), Rn. 16. Siehe oben Einleitung I. 5. b) = S. 63. 127 Siehe oben Einleitung I. 5. a) = S. 62. 128 Fleiner / Fleiner, Allgemeine Staatslehre, 2004, S. 669 f. machen sogar einen Wandel „von der tatsächlichen zur symbolischen Souveränität“ aus; vgl. auch Eppler, Auslaufmodell Staat?, 2005, S. 211. 129 Darüber „herrscht Einigkeit: Staatlichkeit ist faktisch und rechtlich relativiert“ (Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 147 [160 f.]). 130 Vgl. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 17 Rn. 12; Steinberger, Artikel ‚Sovereignty‘, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, 2000, S. 500 (517); Schliesky (Fn. 26), S. 507 f. 131 Vgl. zum Beispiel Slaugther, International Law in  a World of Liberal States, in: EJIL 1995, S. 503 (534 ff.). 132 Dazu Ghani, Artikel ‚Sovereignty‘, in: Krieger (Hrsg.), The Oxford Companion to Politics of the World, 1993, S. 851 (852 f.); Di Fabio (Fn. 125), S. 90; auch Epiney u. a. (Fn. 46), S. 126 ff.; Nuscheler (Fn. 111), S. 311. Vgl. beispielsweise das Konzept einer ‚gemeinsamen Souveränität‘ bei Schliesky (Fn. 26), S. 529 ff. 126

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zisieren133. Entsprechend diffizil ist es denn auch, die externen Schranken, die einem EU-spezifischen Legitimationsmodell aufgrund des besonderen Verhältnisses von Staats- und Volkssouveränität demokratierechtlich auferlegt sind, zu konkretisieren134. Ausgangspunkt der Überlegungen muss der funktionale Charakter von Souveränität sein. Diese hat nämlich nicht an sich werthaften Charakter. Vielmehr dient sie allgemein der Aufrechterhaltung der staatlichen Rechts- und Friedensordnung135. Speziell im Fall demokratischer Staaten tritt, wie dargelegt, hinzu, dass aufgrund der Souveränität und ihrer Verortung beim Staatsvolk die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens dauerhaft gewährleistet werden kann136. Im Lichte dieser allgemeinen und besonderen Zwecksetzungen muss das Souveränitätsprinzip denn auch ausgelegt und seine Relativierbarkeit beurteilt werden. Der Tatbestand der Souveränität darf daher durch Interpretation nicht derart modifiziert werden, dass er im Endeffekt seinen Rechts- und Friedenszweck verfehlt137. Speziell für den demokratischen Verfassungsstaat drängt sich überdies der Schluss auf, dass Souveränitätsbeschränkungen nur insoweit hingenommen werden können, als dies mit dem demokratiezentralen Prinzip der Volkssouveränität vereinbar ist138. Denn in diesem Fall muss die externe Schranke, die einer Vertiefung der europäischen Einigung souveränitätshalber entgegensteht, unter besonderer Berücksichtigung der Mittel-Zweck-Relation präzisiert werden, in der im demokratischen Verfassungsstaat Staats- und Volkssouveränität zueinander stehen. Diese externe Schranke genau zu fassen, darin liegt das dritte große Problem, das aus dem demokratiezentralen Prinzip der Volkssouveränität für ein EU-spezifisches Legitimationsmodell erwächst.

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Hierzu auch Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 44 ff. sowie Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2007, § 28 Rn. 1 ff. Dies ist allerdings kein neues Problem, vgl. etwa für die Zwischenkriegszeit Abendroth, Die völkerrechtliche Stellung der B- und CMandate, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2006, S. 181 (275 ff.). Griffig zu den Schwierigkeiten souveränitätsrechtlicher Begriffsbildung Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2.  Aufl. 1996, S. 364: „Die Souveränität ist ein Begriff, dessen Vergangenheit noch nicht bewältigt ist und dessen Gegenwart und Zukunft nur wenig erschlossen sind.“ 134 Möllers, Artikel ‚Souveränität‘, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2174 (2176 f.). 135 Zippelius / Würtenberger (Fn. 1), § 1 III 4 c); Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004, S. 50. Vgl. auch Schliesky (Fn. 26), S. 511: „Von dieser historischen Funktion der Souveränität, einer Herrschaftsgewalt bei der Erfüllung bestimmter Eigenschaften das Attribut der Souveränität zuzusprechen und sie so als rechtlich in der Lage anzusehen, das friedliche Zusammenleben der Menschen und die Abwesenheit innerer und äußerer Bedrohungen zu garantieren, ist bei der Neubestimmung des Souveränitätsbegriffs auszugehen.“ 136 Zur ‚demokratisierten‘ Souveränität vgl. Dreier (Fn. 114), Sp. 1206. 137 Vgl. dazu auch v. Arnim (Fn. 40), S. 22. 138 Vgl. Dreier (Fn. 114), Sp. 1208.

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II. Methodik Wie im Untertitel angedeutet und oben bereits angesprochen139, versteht sich dieser Beitrag als juristischer. Ihm liegt daher auch die spezifisch rechtswissenschaftliche Methode zugrunde, die in Anknüpfung an Hermann Heller als normwissenschaftliche verstanden wird140. Dieser normwissenschaftlichen Vorgehensweise steht es nicht entgegen, dass die juristische Auseinandersetzung mit der europaspezifischen Legitimations­ problematik im Rahmen dieser Studie durch eine Problemrekonstruktion aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre eingeleitet wird141. Denn die juridischen Demokratievorgaben lassen sich, wie ebenfalls schon erwähnt142, allein aus sich heraus, also rein normtextbezogen, nur bedingt konkretisieren143. Schließlich werden ihre Regelungsgehalte in hohem Maße durch außerrechtliche Normativitäten und Normalitäten mit geprägt. Diese müssen daher bei der Interpretation der positiven Demokratienormen besonders berücksichtigt werden. Insoweit freilich führen die klassischen Auslegungsmethoden144 ersichtlich nicht weiter. Stattdessen ist bei diesen nicht normtextbezogenen Interpretationselementen ein interdisziplinäres Vorgehen geboten145. Die nicht normtextbezogenen Interpretationselemente sind mangels anderer Anhaltspunkte auf Beiträge namentlich der Geistes- und Sozialwissenschaften unmittelbar angewiesen. Insofern kommt der Allgemeinen Staatslehre denn auch die schon angedeutete zentrale Vermittlerrolle zu: Sie greift die Erkenntnisse der Geistes- und Sozialwissenschaften auf, um sie in eine mit dem juristischen Begriffssystem kompatible Terminologie umzugießen und normwissenschaftlich handhabbar zu machen146. Die in den Normtexten verwandten demokratierechtlichen Begriffe gewinnen vielfach erst dann Kontur, wenn sie im Licht der Allgemeinen Staatslehre rekonstruiert worden sind. Dies rechtfertigt es auch, die spezifisch normwissenschaftliche Diskussion der euro­ 139

Oben Einleitung I. 3. = S. 55. Grundlegend Heller (Fn. 5), S. 377 ff. Näher zu Hellers Rechtsverständnis unten Kapitel 2 II. 1. = S. 93. 141 Siehe unten Teil III = S. 179. 142 Oben Einleitung I. 3. = S. 55. 143 Vgl. auch Oeter, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluß von der Wahlberechtigung, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 30 (38). 144 Dazu nur Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, § 8; Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rn. 696 ff.; Alexy, Juristische Interpretation, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 71 (83 ff.). 145 Dazu etwa Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1984, S.  308 ff.; auch Rüthers (Fn.  145), Rn.  302 ff.; speziell zur Kommunikation zwischen Rechts- und Politikwissenschaft engagiert Ridder, Das Bundesverfassungsgericht, in: Abendroth u. a., Der Kampf um das Grundgesetz 1977, S. 70 sowie Bull, Hierarchie als Verfassungsgebot?, in: Greven / Münkler / Schmalz-Bruns (Hrsg.), Festschrift für Bermbach, 1998, S. 241. 146 Dies sieht auch Möllers, Artikel ‚Staatslehre, allgemeine‘, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2318 (2321), der die Aussichten für eine Renaissance der allgemeinen Staatslehre ansonsten aber eher skeptisch beurteilt. 140

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päischen Demokratieprobleme durch einen Beitrag zur Allgemeinen Staatslehre zu eröffnen. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegungen kann dann mit dem notwendigen Problembewusstsein das Normprogramm147 der relevanten Demokratienormen im Einzelnen erschlossen werden148. Auch wenn er sich nur als bedingt ergiebig erweist149, stellt dabei der jeweilige Normtext den Ausgangspunkt und die äußerste Grenze für die juristische Normkonkretisierung dar150. Denn neben der Einsicht in die von Heller so genannte ‚relative Eigenständigkeit‘ des positiven Rechts151 gebietet auch das Demokratieprinzip selbst erstens den Primat der grammatischen Auslegung vor jedem anderen Ansatz und zweitens den Vorrang der grammatischen, systematischen sowie genetischen Interpretationselemente vor sonstigen Elementen der Normkonkretisierung anzuerkennen152. Allerdings vermag der methodische Vorrang der klassischen Auslegungsregeln153 vor den sonstigen Interpretationselementen154 nichts daran zu ändern, dass, wie eben schon angeklungen, den sonstigen Interpretationselementen bei der Konkretisierung der positiven Demokratienormen eine herausragende Rolle zukommt. Als sonstiges Interpretationselement sind dabei insbesondere philosophisch-ideengeschichtliche Deutungsmuster zu reflektieren155. Denn zum einen muss der dialektische Charakter des stets auch ideell bedingten Rechts bei der Normkonkretisierung gegenwärtig bleiben156. Zum anderen verweist das Demokratieprinzip als rechtlich verfasster Legitimationsgrund gleichsam von selbst in die Sphäre des Ethisch-Philosophischen157. Neben der außerrechtlichen Normativität kommt auch der Normalität für die Normauslegung eine erhebliche Bedeutung zu158. Bei der Konkretisierung spe 147

Hesse (Fn. 8), Rn. 68. In diesem Sinne auch Beutler (Fn. 7), S. 111. 149 Vgl. dazu auch Tschentscher (Fn. 9), S. 10 ff. 150 BVerfGE 87, 209 (224); Zippelius (Fn. 3), § 9 II; auch Lege, Das Verfassungsrecht zwischen Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: DVBl. 2007, S. 1053 (1058). 151 Heller (Fn. 5), S. 374 ff. und ders. (Fn. 77), S. 201. 152 Dazu Alexy (Fn. 145), S. 90; siehe auch Wegge (Fn. 8), S. 22. Kritisch gegenüber einer solchen Rangfolge der Auslegungselemente Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, in: ZRP 2007, S. 213 (216 f.). 153 Zu diesen auch Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 184 ff. 154 In diesem Sinne auch Wegge (Fn. 8), S. 178. 155 Zurückhaltender Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 215. Vgl. auch v. Arnim (Fn. 40), S. 223 f. 156 Vgl. etwa Leibholz, Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 262 (273) sowie Lege (Fn. 151), S. 1057 f. 157 Vgl. hierzu Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. 1992, S. 124. 158 Dazu auch Leibholz (Fn. 157), S. 269; ferner Depenheuer, Setzt Demokratie Wohlstand voraus?, in: Staat 1994, S. 329 (333). Zum dialektischen Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zum Beispiel Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 49. 148

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ziell der Demokratienorm erweist sich dabei als besonderes Problem, ob beziehungsweise inwiefern bestimmte gesellschaftliche, politische oder ökonomische Normalitäten, die das Funktionieren von Demokratie erfahrungsgemäß befördern, auch demokratierechtlich einzufordern sind. So lässt sich die Erfahrungsregel aufstellen, dass wirtschaftliche Prosperität ganz wesentlich zum Gelingen von Demokratie beiträgt159. Ebenso wird man, ohne auf größeren Widerspruch zu stoßen, behaupten können, dass sich Demokratie ohne funktionierende Zivilgesellschaft und ohne deren Debatten schwerlich verwirklichen lässt160. Fraglich ist freilich, inwieweit es sich insofern um ‚positive Normalität‘ handelt, also um eine solche Normalität, die sich als integrierender Bestandteil der Demokratienorm darstellt und an deren positivrechtlicher Geltung teilhat, oder ob dies lediglich solche Seinsregeln sind, die zwar den Norminhalt faktisch wesentlich mitbestimmen, jedoch nicht selbst positivrechtlichen Gehalt besitzen161. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bestimmte dieser Seinsregeln – etwa die, dass Demokratie soziale Wohlfahrt voraussetzt162 – als normatives Postulat ohnehin nur bedingt Sinn machen und daher der Normierung von vornherein nur in sehr eingeschränktem Maße zugänglich sind163. Im Ausgangspunkt wird man festhalten können, dass der Einbau der Normalität in das positiv geltende Recht und damit auch in die dort normierten Demokratievorgaben wegen der relativen Eigengesetzlichkeit des Rechts164 nicht methodisch unvermittelt erfolgen darf165. Daher ist stets in Anschauung der diversen Interpretationselemente zu prüfen, ob und inwieweit eine bestimmte Normalität durch das positive Recht normativ vorausgesetzt wird166. Nur diese positive Normalität167 kann als rechtlich gefordert angesehen werden168. Bei der Bestimmung dessen, was als positive Normalität qualifiziert werden kann, sind dabei Hilfestellungen 159

Hierzu etwa Offe (Fn. 107), S. 146. Hierzu etwa Hesse (Fn.  8), Rn.  149 ff. sowie Gellner / Glatzmeier, Die Suche nach der europäischen Zivilgesellschaft, in: APuZ 2005, 36, S. 8 ff. 161 Vgl. dazu Heller (Fn. 5), S. 368 f. 162 Dazu etwa Eppler (Fn.  129), S.  84 f.; aus konservativer Perspektive dazu Depenheuer (Fn. 159), S. 329 ff. 163 Vgl. Heller (Fn. 5), 369. 164 Vgl. dazu etwa Heller, Krisis der Staatslehre (Fn. 40), S. 28. 165 Dazu auch Penski, Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 III GG, in: ZRP 1994, S. 192: „Funktionale Notwendigkeit ersetzt nicht Normati­ vität.“ 166 Entsprechend verfährt Müller, Juristische Methodik I, 9. Aufl. 2004, Rn. 325 ff. im Rahmen seiner Normbereichsanalyse. Vgl. auch Heller (Fn. 5), S. 141: „Ihre Autonomie bewahrt sich die Sinneswissenschaft durch das nur ihr eigentümliche Erkenntnisziel, nämlich dadurch, dass sie die wirklichkeitswissenschaftlichen Anleihen ausschließlich als Mittel zum Zweck der nur ihr eigenartigen Interpretation und zur vollen Erfassung des Sinngebildes verwendet.“ 167 Dazu auch Lochak, Artikel ‚Normalité‘, in: Arnaud (Hrsg.), Dictionnaire encyclopédique de théorie et de sociologie du droit, 1993, S. 392 (394). 168 In Auseinandersetzung mit der Methodenlehre Hellers (dazu näher unten Kapitel  2 II. 1. b] = S. 130) begegnet Maus, Hermann Heller und die Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S.  194 (211 ff.) diesem Ansatz mit unverhohlener Skepsis. 160

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nichtjuristischer Disziplinen naheliegenderweise unverzichtbar. Soweit beispielsweise das Vorhandensein einer Zivilgesellschaft juristisch vorausgesetzt ist, kann diese positive Normalität nur mit Hilfe soziologischer, insbesondere kommunikationstheoretischer Ansätze bestimmt werden169. Als  –  wohlgemerkt nachrangiges  –  Interpretationselement verdient selbstverständlich auch die Dogmatik Beachtung, zumal dann, wenn sie vom BVerfG entwickelt beziehungsweise rezipiert wurde170. Gleiches gilt für die im hiesigen Kontext besonders erwähnenswerte Rechtsvergleichung171: Bei der Ermittlung ihrer Anforderungen an die demokratische Legitimation der EU kann die staatliche Verfassungsordnung schon deswegen nicht als gänzlich von anderen Rechtsordnungen abgeschottetes Rechtssystem qualifiziert werden, weil sie ‚Öffnungsklauseln‘ enthält, durch die andere Rechtsordnungen auf sie einzuwirken vermögen. Lässt eine Staatsverfassungsordnung die europäische Integration zu172, so würde sie sich tendenziell selbst widersprechen, verlangte sie, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung exklusiv nach ihrem Vorbild und ohne Rücksicht auf die Staatsverfassungsordnung anderer Mitgliedstaaten gestaltet wird173; erlaubt, ja postuliert das Verfassungsrecht eine Durchwirkung der nationalen Rechtsordnung durch das sich selbst wesensnotwendig als vorrangig begreifende Völker- oder Europarecht, so muss sogar das Verfassungsrecht als Teil der nationalen Rechtsordnung gegenüber Wertungen der übernationalen Rechtsordnungen ein Mindestmaß an Flexibilität und Adaptibilität aufweisen174. Doch auch unabhängig hiervon kann die Rechtsvergleichung dadurch zur Konkretisierung staatsverfassungsrechtlicher Normen beitragen, dass sie den Blick für bislang möglicherweise übersehene Auslegungsvarianten schärft und insofern zu im Endeffekt plausibleren Auslegungsergebnissen führt175. 169

Dazu eingehend unten Kapitel 6 IV. 2. c) = S. 368. Einer Selbstauslieferung des juristischen Diskurses an die „h. M.“ („herrschende Meinung“) wird damit aber selbstverständlich nicht das Wort geredet (dazu näher Müller [Fn. 156], S. 235 f.). 171 Vgl. Häberle, Wechselwirkungen zwischen Verfassungen, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd.  1, 2004, § 7 Rn.  26 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, in: EuGRZ 1992, 429 ff.; Bauer (Fn. 8), S. 16; auch Hesse (Fn. 8), Rn. 71. 172 Überblick über die verfassungsrechtlichen Integrationsnormen anderer EU-Mitgliedstaaten: Hatje, Artikel ‚Europäische Union, Europäische Gemeinschaften‘, in: Heun, Werner u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 486 (488) sowie Huber, Recht der Euro­ päischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 4 Rn. 9 ff. 173 Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  2, 4./5. Auflage, 2001, Art.  23 Rn.  21. Vgl. auch Heyde, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, 2002, Art. 23 Rn. 67. 174 Dazu dezidiert Pernice (Fn. 130), S. 160 f. 175 Allgemein hierzu Neumayer, Grundriß der Rechtsvergleichung, in: David / Grassmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 1988, S. 1 (35 f.); ferner v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 11 f.; Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 32; Giegerich (Fn. 56), S. 908. 170

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III. Eingrenzung des Themas und Gang der Darstellung 1. Eingrenzung des Themas Dass das Thema ‚Demokratie und Europäische Union‘ nicht unter allen insofern in Betracht kommenden Gesichtspunkten erörtert werden kann, liegt angesichts der andernfalls drohenden Uferlosigkeit des Sujets auf der Hand. Der Untertitel dieser Abhandlung lässt denn auch bereits erkennen, in welcher – notwendig beschränkten – Perspektive die europäische Legitimationsproblematik im Weiteren verhandelt werden soll: Es soll nur um staatsverfassungsrechtliche Legitimationsanforderungen gehen, und dies auch nur insoweit, als sie die Normsetzungstätigkeit speziell der EG in Bezug nehmen. Diese weitgehende Eingrenzung des Themas ist gleichermaßen konkretisierungs- wie rechtfertigungsbedürftig.

a) Konkretisierungen Dass die europäische Demokratiefrage aus einem dezidiert juristischen Blickwinkel diskutiert werden soll, wurde bereits an früherer Stelle erwähnt176. Dies schließt Seitenblicke auf Nachbardisziplinen zwar nicht aus, doch stehen etwaige staatstheoretische oder auch soziologische Erwägungen in einem dienenden Verhältnis zur genuin normwissenschaftlichen Herangehensweise. Indes wird ausweislich des Untertitels der Abhandlung selbst der rein juristische Blickwinkel nochmals weiter eingeschränkt. Die europäischen Legitimationsprobleme sollen nämlich unter ausschließlich staatsverfassungsrechtlichem Blickwinkel erörtert werden. Und da sich staatsverfassungsrechtliche Anforderungen in juristisch ergiebiger Weise letztlich nur in Bezug auf konkrete Verfassungsordnungen diskutieren lassen, werden im Folgenden speziell die grundgesetzlichen Legitimationsanforderungen diskutiert. Die Demokratieanforderungen anderer mitgliedstaatlicher Staatsverfassungen, des Gemeinschaftsrechts sowie des (Regional-)Völkerrechts177 finden folglich allenfalls im Rahmen des rechtsvergleichenden Interpretations­ elements Berücksichtigung178. Anhand der normwissenschaftlich speziell aus dem Grundgesetz herzuleitenden Legitimationsanforderungen ist nun nicht etwa die demokratische Legitimität der EU schlechthin zu überprüfen. Prüfungsgegenstand ist ausschließlich die Normsetzungstätigkeit der EG179. Unter EG-Normsetzung fällt nachfolgend zum einen 176

Siehe oben Einleitung I. 3. = S. 55. Vgl. nur Dreier (Fn. 63), Rn. 25 ff.; auch Kokott (Fn. 119), S. 29. 178 Zu diesem bereits oben Text zu Fn. 172. 179 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, was Badura hinsichtlich der vom euro­ päischen Integrationsverband ausgeübten Hoheitsgewalt schon früh festgehalten hat (Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S.  34 [93]): „Die vor dem Hintergrund 177

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der Gemeinschaftsorganen zurechenbare Erlass von generell-abstrakten Regelun­ gen, welche Privatrechtssubjekten gegenüber Geltung beanspruchen und nicht gemeinschaftsorganisatorischer Natur sind. Zum anderen wird die von Gemeinschaftsorganen ausgesprochene und an die Adresse der Mitgliedstaaten gerichtete Verpflichtung zum Erlass solcher Regelungen unter den Begriff der EG-Normsetzung subsumiert. Es geht also lediglich um den  –  unmittelbaren oder mittel­ baren –  Erlass von Rechtsnormen im engeren, nämlich im Sinn des materiellen Gesetzesbegriffs des konstitutionellen Staatsrechts180. Damit werden nachstehend zum Beispiel Einzelfallentscheidungen der Kommission, etwa im Bereich des Kartellrechts181, nicht berücksichtigt. Auch der Haushaltsplan bleibt außen vor182, denn weder enthält er abstrakt-generelle Regelungen183, noch entfaltet seine Feststellung Außenrechtswirkung gegenüber privaten Dritten184. Ausgeblendet bleiben des Weiteren sämtliche gemeinschaftsorganisatorischen Regelungsakte185, selbst wenn diese abstrakt-generell gefasst sind und zumindest partiell auch Privatrechtssubjekte unmittelbar berechtigen oder verpflichten186. Unter EG, deren Normsetzung auf den demokratierechtlichen Prüfstand gestellt werden soll, wird weiters nicht etwa die Gesamtheit der Europäischen Gemeinschaften verstanden, wie dies landläufig häufig der Fall ist. Im Blickfeld steht allein die durch den  EGV konstituierte187 EG als die weitaus bedeutsamste der früher drei, nunmehr noch zwei rechtlich selbstständigen Europäischen Gemeinschaften188. Für die Normsetzung im hier verstandenen Sinne verfügt die EG ausweislich Art. 249 EGV im Wesentlichen über zwei Instrumente189. Sie erlässt Verherkömmlicher internationaler Zusammenarbeit auffälligste und für die nationalen Rechts- und Verfassungssysteme einschneidenste Fähigkeit dieser öffentlichen Gewalt ist ihre Fähigkeit zur Rechtsetzung.“ 180 Zum Gesetzesbegriff des Spätkonstitutionalismus siehe nur Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S. 51 ff.; zum Gesetzesbegriff generell auch Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, 1993, S. 32 ff. 181 Vgl. dazu nur Oppermann (Fn. 1), § 15 Rn. 54 f. 182 Zu der von der spätkonstitutionellen Rechtsdogmatik betriebenen Ausklammerung des Haushaltsplans aus dem Rechtssatzbegriff siehe lediglich Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 256 ff. 183 Dazu nur Maurer (Fn. 3), § 17 Rn. 10 f. 184 Vgl. Waldhoff, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 268 EGV Rn. 5. 185 Zu der von der spätkonstitutionellen Verwaltungsrechtsdogmatik vertretenen Ausklammerung der Organisationsregeln aus dem Rechtssatzbegriff siehe etwa Groß (Fn. 97), S. 13 ff. 186 Ein Beispiel für solche Regelungsakte sind die Geschäftsordnungen von Europäischem Parlament, Rat und Kommission, die allein schon im Hinblick auf Art. 255 Abs. 3 EGV rechtlich durchsetzbare Ansprüche von Privaten zu begründen vermögen (Wegener, in: Calliess /  Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 255 EGV Rn. 6 ff.). 187 Vgl. dazu Art. 1 EGV. 188 Dazu auch schon oben Fn. 1. 189 Zu den ungekennzeichneten Rechtsakten, die gleichfalls Rechtsnormen enthalten können, näher Ruffert, in: Calliess / ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 EGV Rn. 129 ff.

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ordnungen, die generell-abstrakt in allen EU-Mitgliedsländern unmittelbar gelten und Unionsbürger direkt berechtigen beziehungsweise verpflichten können; daneben setzt die EG Richtlinien in Geltung, durch die EU-Mitgliedstaaten zum Erlass innerstaatlicher Rechtsnormen verpflichtet werden können, in denen unter bestimmten Umständen aber auch unmittelbar anwendbare Rechtsnormen enthalten sind190. Unerörtert bleiben vor diesem Hintergrund Normsetzungsakte der Europäischen Zentralbank191. Zwar kann die Europäische Zentralbank gemäß Art.  110  EGV Verordnungen und damit auch Rechtsnormen im hier zugrundegelegten Sinn erlassen192. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Europäische Zentralbank nach Art.  107 Abs.  2  EGV eigene Rechtspersönlichkeit besitzt und daher, streng genommen, nicht als Organ der Rechtsperson EG qualifiziert werden kann193. Da Normsetzungsakte der Europäischen Zentralbank somit jedenfalls nicht zum Bereich unmittelbarer EG-Normsetzung rechnen, können und sollen sie im Folgenden außer Acht gelassen werden194.

b) Rechtfertigung Selbstverständlich ist die hier vorgeschlagene und so eben näher konkretisierte Eingrenzung des Themas ‚Demokratie und Europäische Union‘ allerdings nicht. Sie bedarf vielmehr der näheren Begründung.

190 Zu diesen beiden zentralen Rechtsquellen des sekundären Gemeinschaftsrechts vgl. nur Haag, in: Bieber / Epiney / ders., Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 6 Rn. 30 ff.; Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn. 472 ff.; Oppermann (Fn. 1), § 6 Rn. 73 ff.; König, Gesetzgebung, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 2 Rn.  25 ff.; Bleckmann, Die Rechtsquellen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1999, S.  824 (825). Anders als im – gescheiterten – Verfassungsvertrag intendiert (vgl. I-33 VVE sowie Rüger, Aus der Traum? Der lange Weg zur EU-Verfassung, 2006, S. 72) wird unter dem Reformvertrag die Nomenklatur der gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformen im Wesentlichen unverändert beibehalten (vgl. Art. 249 Abs. 1 AEUV; dazu Rabe, Zur Metamorphose des Euro­päischen Verfassungsvertrags, in: NJW 2007, S. 3153 [3156]). 191 Hierzu Gaitanides, Geld- und Währungsrecht, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 31 Rn. 61. 192 Dazu etwa Häde, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 110 EGV Rn. 1 ff. 193 Dies erschließt sich ex negativo auch aus Art. 7 Abs. 1 EGV. Wie hier Streinz, in: ders. (Hrsg.),  EUV / EGV, 2003, Art.  7  EGV Rn.  11; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 8 EGV Rn. 2; anderer Ansicht ist Bleckmann, Der Vertrag über die Europäische Union, in: DVBl. 1992, S. 335 (341). 194 Zum Problem der demokratischen Legitimation der Europäischen Zentralbank vgl. beispielsweise Dernedde, Autonomie der Europäischen Zentralbank, 2001 und Bredt, Die demokratische Legitimation unabhängiger Institutionen, 2006, S.  399 ff.; aus politikwissenschaft­ licher Perspektive Höreth (Fn. 21), 1999, S. 225 ff.

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aa) Rechtfertigung der Beschränkung auf die Legitimationsanforderungen speziell des Grundgesetzes Fragen wirft bereits die thematische Beschränkung auf die Legitimations­ anforderungen speziell des Grundgesetzes auf. Schließlich soll mit dieser Abhandlung dazu beigetragen werden, die juristischen Konturen eines EU-spezifischen Legitimationsmodells zu präzisieren. Diesem Forschungsdesiderat wird indes nur unvollkommen entsprochen, wenn lediglich den grundgesetzlichen Determinanten dieses Legitimationsmodells nachgespürt wird. Schließlich lassen sich aus den Staatsverfassungsrechten der übrigen EU-Mitgliedstaaten195, aus dem Gemeinschaftsrecht196 sowie aus dem (Regional-)Völkerrecht197 ebenfalls juridische Anforderungen an die demokratische Legitimation der EU ableiten. Wenn im Folgenden dennoch eine letztlich rein grundgesetzliche Perspektive beibehalten wird, so rechtfertigt sich dies daraus, dass in diesem Fall weniger mehr bedeutet. Denn die Alternative zur intensiven Auseinandersetzung mit nur einer der das europäische Legitimationsmodell rechtlich bestimmenden (Teil-)Rechtsordnungen wäre eine zwar umfängliche, aber eben allenfalls oberflächliche und daher nicht weiterführende Diskussion zahlloser Demokratienormen unterschiedlichster Provenienz. Hinzu tritt, dass eine intensive Aufarbeitung allein der grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung indirekt auch schon zur Konkretisierung der entsprechenden Vorgaben der übrigen Rechtsordnungen beiträgt. Denn erstens stehen die verschiedenen, das europaspezifische Legitimationsmodell juridisch konturierenden (Teil-)Rechtsordnungen keineswegs isoliert nebeneinander198. Vielmehr sind sie aufgrund von ‚Öffnungsklauseln‘ in gewisser Hinsicht permeabel füreinander. Die völker- und gemeinschaftsrechtliche Rechtsquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze199 etwa beginnt erst durch 195

Dazu etwa Kluth, Demokratie, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, § 5 Rn. 4. Vgl. insbesondere Art. 6 Abs. 1 EUV; zu der in dieser Bestimmung enthaltenen Demokratieverbürgung Calliess, in: ders. / Ruffert (Hrsg.),  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art.  6  EUV Rn. 13 ff., Britz / Schmidt (Fn. 65), S. 479 ff. sowie Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 273 f.; Überblick zur demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsgewalt aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive: Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 62 ff., Augustin (Fn. 47), S. 320 ff.; Diehr, Die Bewahrung der demokratischen und föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Integrationsprozeß, 1998, S. 53 ff.; Erberich, Ein Parlament ohne Stimme, in: Scherzberg / Pieper (Hrsg.), Deutschland im Binnenmarkt, 1994, S. 207 (212 ff.). 197 Vgl. insbesondere Art. 3 1. ZP EMRK; dazu eingehend Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, § 23 IV. Überblick zur demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsgewalt aus völkerrechtlicher Perspektive Tiedtke (Fn. 197), S. 56 ff. 198 Siehe oben Text bei Fn. 172. 199 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Völkerrechts beispielsweise Schweitzer, Staatsrecht III, 8.  Aufl. 2004, Rn.  258 ff.; zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des primären Gemeinschaftsrechts vgl. nur Oppermann (Fn.  1), § 6 Rn.  20 ff. und Bleckmann (Fn.  191), S.  825 ff. Siehe auch v. Komorowski, Europarechtskonforme Beiladungspraxis im Normen­ kontrollverfahren, in: BayVBl. 2003, S. 360 (365). 196

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einen Vergleich der verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen zu sprudeln200. Mit der sorgsamen Konkretisierung der europaspezifischen Volkssouveränitätsnorm des Grundgesetzes wird demnach immer auch schon zur Konkretisierung der europaspezifischen Demokratienormen anderer (Teil-)Rechtsordnungen beigetragen201. Dies ist zweitens auch insofern der Fall, als die grundgesetzlichen Demo­ kratieanforderungen aufgrund der Vagheit des Normtexts nur unter Rückgriff auf die dem positiven Recht vorausliegenden Normativitäten und Normalitäten erschlossen werden können202. Diese staatsphilosophischen und soziologischen Determinanten von Demokratie freilich bestimmen nicht nur die Demokratienormen der bundesdeutschen Verfassungsrechtsordnung, sondern auch die anderer (Teil-) Rechtsordnungen. Auch unter diesem Gesichtspunkt trägt diese an sich auf die grundgesetzlichen Demokratieanforderungen beschränkte Abhandlung bereits zur Durchdringung der Demokratievorgaben der übrigen relevanten Rechtsverordnungen bei. Die thematische Beschränkung auf die Demokratievorgaben speziell des Grundgesetzes erweist sich somit als legitim203.

bb) Rechtfertigung der Fokussierung auf die Normsetzung Dass die hier unternommene Demokratienanalyse des Weiteren allein den Bereich der Normsetzung fokussiert, lässt sich ebenfalls rechtfertigen, und zwar zunächst und zuvörderst in Hinblick auf die demokratiezentrale Volkssouveränität. Denn zum einen gilt die Befugnis, Gesetze zu erlassen, als das erste und vornehmste Recht des Volkes204; das volksbeschlossene Gesetz erweist sich insofern als ein zentrales Bauelement demokratischer Verfassungsstruktur205. Zum anderen lässt sich die gesetzgebende Gewalt in der Tradition Bodins als das eigentliche Kennzeichen der Souveränität bezeichnen, das alle anderen Merkmale mit um-

200

Dazu etwa Giegerich (Fn. 56), S. 906 ff. Dazu auch Häberle (Fn. 172), Rn. 54 ff. 202 Siehe oben Einleitung I. 3. = S. 55 und Einleitung II.= S. 72. 203 Dafür spricht auch, „daß das Staatsrecht auf absehbare Zeit das wesentliche Rechtsregime für unser staatliches Gemeinwesen bleiben und auch nicht zu nennenswerten Teilen vom europäischen Gemeinschaftsrecht aufgesogen werden wird“ (so Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 [591]). 204 Kratzmann, Die Erscheinungsformen der Volkssouveränität und die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Methodenlehre (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG), 1981, S. 4. 205 So Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 381; ähnlich Preuß (Fn.  34), S.  52 f.: „Gesetz als die essentielle institutionelle Gestalt eines demokratischen Herrschaftswillens“; siehe auch Di Fabio (Fn. 125), S. 91 sowie Kruse, Strukturelle Kongruenz und Homogenität, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Festschrift für Kraus, 1954, S. 112 (119). 201

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fasst206. Die demokratiezentrale Volkssouveränität rechtfertigt es daher schon vom Grundsätzlichen her, sich dem Legitimationsproblem von der Normsetzung her zu nähern207. Hinzu tritt, dass gerade die atypische Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse, und zwar insonderheit die prädominante Stellung der Exekutive im legislativen Prozess, als Geburtsfehler208 des europäischen Integrationsverbands und als wesentlicher, zumindest aber augenfälligster Aspekt des europäischen Demokratiedefizits diagnostiziert worden ist209. Auch unter diesem europaspezifischen Aspekt erscheint es als legitim, sich der Frage nach dem europäischen Demokratie­problem von der Normsetzung her zu nähern210.

206 Vgl. Bodin, Les six Livres de la République, 1583, S. 223 (Livre Premier / Chapitre X). Dazu eingehend Quaritsch, Souveränität, 1986, S. 46 ff. Vgl. auch Mittermaier / Mair, Demokratie, 1995, S.  82; ferner Schliesky (Fn.  26), S.  77 f.; Behre, Volkssouveränität und Demokratie, 2004, S. 26; Siedentop (Fn. 118), S. 130; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 42 f.; Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S.1121 (1124); Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, in: Staat 2002, S. 331 (343). 207 Dazu auch Grams (Fn. 65), S. 1. 208 Ress (Fn. 65), S. 625; auch Ströbele, Beschwerdeschrift der GRÜNEN vom 17./22. Dezember 1992, in: Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 77 (90). 209 Hölscheidt / Schotten, Demokratie in Europa nach der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: VR 1994, S. 183 f.; v. Arnim, Wohin treibt Europa?, in: NJW 2007, S. 2531(2532 f.); Bieber, Gefährdet eine Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft die Identität der Mitgliedstaaten, in: Weibel / Feller (Hrsg.), Schweizerische Identität und Europäische Integration, 1992, S. 79 (83); Dreier, Das Europa der Administrationen, in: FAZ vom 04.06.2002, S.  7; Häberle, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, in: EuGRZ 1992, 429 (432); Hummer / Obwexer, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 202 Rn. 6; Stein / Frank (Fn. 60), § 8 VII; Schröder (Fn. 84), S. 63; Ress (Fn. 65), S. 625; Hrbek (Fn. 5), S. 172; Wesel, Geschichte des Rechts, 1997, Rn. 343; Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 f.; dazu auch Lepsius, Zwischen Nationalstaatlichkeit und westeuropäischer Integration, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, 1992, S. 180 (182); Pieper, Quo vadis Grundgesetz – Gedanken zur Lage der Verfassung im europäischen Integrationsprozeß, in: Coen (Hrsg.), Festschrift für Bleckmann, 1993, S. 197 (201); v. Beyme, Europa in Forschung und Lehre, in: Chrysos / Schultheiß, EuropaPerspektiven, 2007, S. 105 (114); Kutscha, Demokratischer Zentralismus, in: KJ 1990, S. 425 (427 ff.); Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, in: EuR 2001, S.  809 (817 f.); Epping (Fn. 5), S. 349 f. 210 Vgl. auch Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: Goydke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Remmers, 1995, S. 195 (197): „Auf die Gesetzgebungsfunktion konzentriert sich der viel erörterte Vorwurf eines ‚demokratischen Defizits‘ …“ Ferner – bezogen auf die Aporien der europäischen Integration – Kadelbach, Autonomie und Bindung der Recht­ setzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 2007, S. 7 (37): „Als strukturell problematisch gilt nach wie vor die Rechtsetzung.“

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cc) Rechtfertigung des zugrundegelegten Rechtsnormbegriffs Als besonders problematisch mag man – zumindest auf den ersten Blick – den zugrundegelegten Rechtsnormbegriff211 empfinden, der sachliche und personelle Allgemeinheit postuliert212, auf das Außenverhältnis beschränkt ist213 und ausschließlich Regelungen nicht-gemeinschaftsorganisatorischer Art umfasst. Denn zum einen verdankt sich dieser Rechtsnormbegriff einer historisch überwundenen politischen Konstellation und sieht sich daher heute dem Ideologieverdacht ausgesetzt214. Zum anderen ist er rechtstheoretisch schwerlich haltbar215. Und in der 211

Zum Normbegriff vgl. etwa Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 35 ff. 212 Zur Kritik an diesem Kriterium auch Schneller, Objektbezogene Legalplanung, 1999, S. 71 f. 213 Dazu kritisch Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 36 ff. 214 Der enge Rechtsnormbegriff ist in der Tat gerade in Deutschland historisch-politisch determiniert (vgl. Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 273 [284], der den sogenannten materiellen Gesetzesbegriff als eine besondere Eigentümlichkeit des deutschen Staatsrechts bezeichnet). Die Allgemeinheit von Rechtssätzen sowie ihre Beschränkung auf das ‚unpolitische‘ Außenverhältnis waren in der Epoche des deutschen konstitutionellen Dualismus zeitweise Kriterien für die Aufteilung der Kompetenzen zwischen den beiden Souveränitätsprätendenten, also zwischen monarchischer Exekutive und Volkslegislative (hierzu die differenzierenden Ausführungen bei Hofman, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 260 [277 ff.]). Nun hat Heller eindrücklich nachgewiesen, wie dieser eigentlich historisch-konventionell bestimmte Rechtsnormbegriff in der deutschen Staatsrechtslehre  – aus unterschiedlichen politischen Motiven  – „zu einem theoretischen Rechtssatzbegriff logisch verabsolutiert wurde“ (Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 203 [219]). Der entsprechende Traditionsstrang reicht vom Frühliberalismus bis zu Carl Schmitt und seinen Adepten. Auch nach dem Übergang zur Demokratie diente der überkommene Rechtsnormbegriff partiell noch dazu, „das ‚Wesen‘, die ‚Natur‘, die ‚Substanz‘ der Rechtsetzung“ (Heller, ebd., S. 224) und damit das Verhältnis von Legislative und Exekutive zu bestimmen. Dabei ist mit der Durchsetzung der Demokratie und der für sie zentralen Volkssouveränität jener Souveränitätskonflikt eigentlich beigelegt worden, der den engen Rechtsnormbegriff seinerzeit hervorgebracht hat. Ein Fest­ halten an dem überkommenen Rechtsnormbegriff kann daher heutzutage leicht ideologische Züge annehmen. Weiterführend hierzu beispielsweise Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 1990, S. 179 ff. 215 So kann zwischen der ‚Rechtsnorm‘ als einer angeblich generell-abstrakten Regelung und dem ‚Einzelbefehl‘ als einer vermeintlich individuell-konkreten Regelung schon deshalb keine logisch zwingende Grenzziehung erfolgen (anderer Ansicht offensichtlich Schmitt [Fn. 11], S. 142; wie hier Dreier, in: ders. [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 I Rn. 15), weil es neben diesen Idealtypen noch generell-konkrete und individuell-abstrakte Hoheitsakte gibt, die eine solche Grenzziehung per se in Frage stellen (vgl. hierzu auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, S.  339 f.; Hofmann [Fn. 215], S.  289; vgl. in diesem Zu­sammenhang ferner Obermayer, Das Dilemma der Regelung eines Einzelfalles nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz, in: NJW 1980, S. 2386 ff.). – Die Ausgrenzung von internen Regelungen aus dem Rechtsnormbegriff erscheint ihrerseits deshalb als fragwürdig, weil es sich bei den Regelungen im Innenverhältnis nicht anders als bei solchen im Außenverhältnis struk-

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Tat ergibt eine ideologiekritische und zugleich rechtstheoretisch informierte Rekonstruktion des Rechtsnormbegriffs, dass jedenfalls in der rechtsstaatlichen Demokratie, in der alle öffentliche Gewalt rechtsförmig vom Volke ausgeht, grundsätzlich jeder imperative Akt eines zuständigen demokratischen Magistraten oder Kollegiums eine Form demokratischer Normsetzung darstellt216. Wenn im Folgenden dennoch an dem engen Rechtsnormbegriff festgehalten wird, so geschieht dies allein aus heuristischen Erwägungen. Durch den engen Rechtsnormbegriff nämlich wird die Komplexität der Materie reduziert, ohne dass proportional hierzu auch die Aussagekraft des Untersuchungsergebnisses abnimmt. Dass der enge Rechtsnormbegriff nur generell-abstrakte Regelungen erfasst, korreliert mit dem Anliegen dieser Studie, grundsätzliche Fragen der demokratischen Legitimation von Gemeinschaftsaktivitäten zu klären. Diesem prinzipiellen Ansatz entspricht es, nicht jede, sondern nur zentrale, wesentliche gemeinschaftliche Tätigkeiten zu überprüfen. In einem mehrere hundert Millionen Menschen umfassenden Verband stellt die Setzung abstrakt-genereller Normen ein notwendiges und daher zentrales Gestaltungsmittel dar217. In solchen Verbänden ergibt sich überdies das, so Heller, rechtlich keineswegs zwingende, sondern organisationstechnisch zufällige Phänomen, „daß die obersten Normen in einer Gemeinschaft in der Regel auch die allgemeinsten sind …“218. Vor diesem Hintergrund trifft eine Analyse gerade der europäischen Normsetzung im hier verstandenen Sinne ins Zentrum der Legitimationsproblematik und damit auch den Wesenskern der hier interessierenden Thematik ‚Demokratie und Europäische Union‘. Hinzu kommt, dass die Gemeinschaftstätigkeit stärker noch als die der nationalen Staaten durch abstrakt-generelle Regelungen erfolgt219. Denn die konkret-individuelle Handlungsform der EG, die Entscheidung220, kommt typischerweise nur beim gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht221 zum Tragen222. Entscheidungen, namentlich kartellrechtliche, können zwar bisweilen überaus bedeutsam sein223. Allerdings ist der gemeinschaftsunmittelbare

turell um intersubjektive Verhaltenbestimmungen handelt. – Rechtstheoretisch betrachtet, wird man daher unter Rechtsnorm jede imperative „den Handlungswillen intersubjektiv bindende Norm verstehen“ müssen (Heller [Fn. 215], S. 227). 216 Vgl. Heller (Fn. 215), S. 227. 217 Vgl. Hofmann (Fn. 215), S. 291; zu den Effizienzvorteilen abstrakt-genereller Regelungen etwa Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, 2005, S. 410. 218 Heller (Fn. 215), S. 215. 219 Vgl. auch Rath, Die „unionswärtige Gewalt“ des Deutschen Bundestags, in: Steffani /  Thaysen, Demokratie in Europa, 1995, S. 114 (129). 220 Dazu nur Oppermann (Fn. 1), § 6 Rn. 95 ff. 221 Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 10 EGV Rn. 24. 222 Gundel, Verwaltung, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 3 Rn. 71. 223 Vgl. dazu den Überblick über das kartellrechtliche Kommissionsverfahren bei Mäger, Kartellrecht, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 16 Rn. 291 ff.

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Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch Entscheidungen die Ausnahme224. Die Setzung abstrakt-genereller Normen ist innerhalb der EG die Regel225. Auch insofern macht es Sinn, die Frage nach der demokratischen Legitimität der EU ausgehend von der gemeinschaftlichen Setzung abstrakt-genereller Normen zu entwickeln226. Als gerechtfertigt ist des Weiteren auch die Beschränkung des Rechtsnorm­ begriffs auf das Hoheitsverband-Bürger-Verhältnis anzusehen227. Gewiss: Die demokratische Relevanz etwa eines Haushaltsplans lässt sich kaum unterschätzen228. Gleichwohl ist es unter heuristischen Gesichtspunkten vertretbar, die Analyse auf eine zentrale Gemeinschaftsaufgabe, nämlich die der Setzung bürgerrechtsverbindlicher abstrakt-genereller Regelungen, zu reduzieren229. In dieser Perspektive lässt sich schließlich auch rechtfertigen, weshalb im Folgenden gemeinschaftsorganisatorische Regelungen selbst dann außer Betracht bleiben, wenn sie das Hoheitsverband-Bürger-Verhältnis betreffen230. Dies gilt umso mehr, als solche rules of order oder rules of procedure als eine Art ‚Gemeinschaftsverfassungssatzung‘231 zu qualifizieren sind. Sie lassen sich demnach nicht ohne Weiteres über denselben demokratierechtlichen Leisten schlagen wie Rechtsnormen im hier zugrundegelegten Sinn232.

224 Kahl, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 10 EGV Rn. 29; Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 5 und 47. 225 Oppermann (Fn. 1), § 7 Rn. 35; Gundel (Fn. 223), Rn. 1 ff. 226 Allerdings muss man sich stets dessen bewusst bleiben, dass es sich bei der derart konturierten EG-Normgebung lediglich um die behelfsmäßig-pragmatische Umschreibung einer zentralen Gemeinschaftsaufgabe handelt. Auf keinen Fall ist dieser auf dem Allgemeinheitspostulat aufbauende Rechtsnormbegriff geeignet,  a priori den funktionalen Bereich der Legislative rechtlich zu umschreiben, um anschließend hieraus juristische Schlüsse auf die organisatorische Funktionentrennung in der gewaltenteilenden Demokratie zu ziehen. Dagegen sprechen durchgreifende ideologiekritische und rechtstheoretische Erwägungen (siehe oben Fn. 215 und Fn. 216). 227 Immer vorausgesetzt, man begreift diese Form nicht als rechtliche Umschreibung der Legislativ- beziehungsweise Parlamentsfunktion. 228 Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 30 Rn. 36. Für den EG-Kontext vgl. zum Beispiel Glaesner, Die Legitimität der Europäischen Gemeinschaft, in: Bieber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Sasse, 1981, S. 73 (76 ff.). 229 Zur europäischen Haushaltspolitik vgl. nur Nugent (Fn. 1), S. 366 ff. 230 Zur Bindungswirkung von Funktionsrecht gegenüber Privatpersonen vgl. zusammenfassend auch Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 134 f. und 197 ff. 231 Zum Begriff der Verfassungssatzung vgl. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 122 f. und Klein, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 4, Stand: Juni 2007, Art. 40 Rn. 61. 232 Vgl. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 40 Rn. 9.

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dd) Rechtfertigung der Konzentration auf die Normsetzungstätigkeit gerade der EG Sich auf die Normgebung gerade der EG zu konzentrieren, ist gleichfalls gerechtfertigt: Im Rahmen des bis auf Weiteres noch geltenden Drei-Säulen Konzepts233 rechnen die beiden nach Auslaufen des EGKS-Vertrags verbleibenden Europäischen Gemeinschaften – EAG und eben EG – zum ersten durch das Merkmal der Supranationalität gekennzeichneten Pfeiler234. Den eher politologisch-deskriptiven als juristisch-normativen Begriff der Supranationalität235 allgemein gültig zu definieren, ist zwar bis heute nicht gelungen236. Richtigerweise wird man die Europäischen Gemeinschaften indes deshalb als supranationale Organisationen qualifizieren können, weil dort erstens das Mehrheitsprinzip237 Anwendung findet238 und zweitens eine ungleich höhere Integrationsdichte erreicht worden ist als in anderen internationalen Organisationen239. Mit wachsender Integrationsdichte verschärft sich nun freilich auch das Problem demokratischer Legitimation, sodass es als sinnvoll erscheint, bei der demokratischen Analyse der EU gerade auf deren supranationalen Bereich abzuheben. Dies ist auch deswegen gerechtfertigt, weil ein zumindest partielles Hinüberwachsen der bislang zwischenstaatlich organisierten zweiten und dritten Säule in die supranationalen Gemeinschaften durchaus beabsichtigt ist240. Dass die Politikbereiche des zweiten und vor allem des dritten Pfeilers durch ein intergouvernementales Regime geprägt sind, stellt sich in dieser Perspektive mithin als bloßes Zwischenstadium im Integrationsprozess dar241.

233 Zur Drei-Säulen-Konstruktion etwa Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 100; Schweitzer (Fn. 200), Rn. 16 sowie Wessels (Fn. 9), S. 782; kritisch Schmitz (Fn. 3), S. 149 ff. 234 Hatje (Fn. 173), Sp. 492. 235 Dazu etwa Epping, Völkerrechtssubjekte, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 6 Rn. 15 ff. 236 Vgl. dazu nur Öhlinger, Europäische Integration und Bundesverfassung, in: ders., Ver­ fassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union, 1999, 1 (5): „Worin das Wesen der Supranationalität besteht, darüber herrscht keine Einigkeit.“ 237 Dazu Jäger, Artikel ‚Mehrheit, Mehrheitsprinzip‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 1082 ff. 238 Zur Mehrheitsregel als Wesensmerkmal der Supranationalität vgl. etwa Krugmann, Das Recht der Minderheiten, 2004, S. 12; siehe auch oben Fn. 3. 239 Dazu etwa Oppermann (Fn. 1), § 12 Rn. 6 und oben Fn. 3. 240 Paradigmatisch ist insofern die Entwicklung im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik, der nach dem Vertrag von Maastricht noch der dritten, intergouvernemental geprägten ‚Säule‘ der ‚EU-Tempel-Konstruktion‘ zuzurechnen war (vgl. Art. K Nr. 1 bis 9 EUV alter Fassung), mit dem Vertrag von Amsterdam indes der ersten, supranationalen ‚GemeinschaftsSäule‘ zugewachsen ist (vgl. Art. 61 ff. EGV). Dazu etwa Epiney, in: Bieber / dies. / Haag, Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 14 Rn. 42. 241 In diese Richtung weist auch der Reformvertrag, durch den die Pfeilerstruktur der EU aufgelöst wird.

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Vor diesem doppelten Hintergrund macht es Sinn, sich bei der Analyse der demokratischen Legitimität der EU speziell auf deren supranationale Komponente, also auf die beiden Gemeinschaften, zu konzentrieren. Dabei stellt die EG, wie gesagt, die bei Weitem bedeutsamste und von ihrer Sachkompetenz umfassendste Gemeinschaft dar. Insofern ist denn auch angängig, die Analyse auf die EG zu beschränken und die EAG dementsprechend zu vernachlässigen.

ee) Rechtfertigung der Nichtberücksichtigung der Normsetzung der EZB Dass schließlich die Normsetzung der EZB unerörtert bleibt, lässt sich nicht nur formalistisch mit deren juristischer Verselbstständigung begründen. Inhaltlich spricht hierfür, dass die EZB – in ihrer sowohl grundgesetzlich242 als auch gemeinschaftsrechtlich243 postulierten Weisungsunabhängigkeit  –  ein besonders zu behandelndes Demokratieproblem darstellt244. Inwiefern es angeht, dass die für die politischen und sozialen Verhältnisse eminent wichtige Geldpolitik parlamenta­ rischer Kontrolle entzogen ist, stellt mit anderen Worten eine Sonderfrage dar, die im Rahmen der allgemeinen Erörterung der europäischen Legitimationsproblematik nicht adäquat diskutiert werden kann und daher im Folgenden auch nicht behandelt werden soll245.

2. Gang der Darstellung Nach diesen Präliminarien soll das Thema ‚Demokratieprinzip und Europäische Union‘ nunmehr in sechs Schritten erörtert werden. Der erste Teil  nimmt Stellung zu den aktuellen Bezügen der Thematik, also zu ihrer Relevanz246, sowie zu den einschlägigen Konzeptionen Hermann Hellers, die das dieser Studie zugrunde liegende Vorverständnis prägen247. Der zweite, deskriptiv angelegte Teil ist der geschichtlichen Rückschau auf die rechtswissenschaftliche Debatte um das europaspezifische Demokratieproblem gewidmet248; des Weiteren sollen die verschiedenen, für die EU diskutierten demokratischen Legitimationsmodelle be 242

Art. 88 Satz 2 GG. Art. 108 EGV. 244 Hierzu näher Dutzler, Der Status des ESZB aus demokratietheoretischer Sicht, in: Staat 2002, S. 495 ff.; auch Petersson / Ullrich, Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank im historischen und ökonomischen Kontext, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 197 ff. 245 Vgl. allgemein zu dieser Problematik auch Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986, S. 170 ff. und Hoffmann, Zur Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank, in: Stein / Faber (Hrsg.), Festschrift für Ridder, 1989, S. 53 ff. 246 Unten Kapitel 1 = S. 88. 247 Unten Kapitel 2 = S. 115. 248 Unten Kapitel 3 = S. 155. 243

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schrieben werden249. Im dritten Teil wird der Versuch unternommen, das Prinzip der Volkssouveränität, das bereits in der Einleitung als Kern des hier in Rede stehenden Sujets diagnostiziert worden ist, im Licht der Allgemeinen Staatslehre inhaltlich sowohl zu problematisieren als auch systematisierend aufzubereiten250. Aufbauend auf der staatstheoretischen Analyse des Prinzips der Volkssouveränität konkretisiert der vierte Teil die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes insoweit, als die EU danach bestimmte interne Vorgaben erfüllen muss, wenn die Bundesrepublik Deutschland weiter an ihr teilhaben können soll251; im vierten Teil werden mit anderen Worten die Prüfungsmaßstäbe herausgearbeitet, anhand derer sich die Frage nach der demokratischen Legitimation der EG-Normsetzung aus grundgesetzlicher Sicht beantworten lässt. Im fünften Teil wird dann – ausgehend von den zuvor bereits beschriebenen gängigen Legitimationsmodellen und unter Zugrundelegung des ermittelten Prüfungsmaßstabs – analysiert, ob die EG-Normsetzung aus grundgesetzlicher Sicht demokratisch legitim ist252. Der abschließende sechste Teil formuliert Hypothesen hinsichtlich denkbarer Weiterentwicklungen der EU und untersucht, inwieweit diese Entwicklungshypothesen mit der EU-spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes kollidieren253; dabei wird nicht zuletzt auch der Frage nachgegangen, ob das grundgesetzliche Demokratieprinzip dem Integrationsvorgang insofern externe Schranken setzt, als es eine weitere Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an dem Prozess der europäischen Einigung souveränitätshalber ausschließt.

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Unten Kapitel 4 = S. 168. Unten Teil III = S. 179. 251 Unten Teil IV = S. 544. 252 Unten Teil V = S. 862. 253 Unten Teil VI = S. 1214.

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Teil I

Relevanz des Themas und Vorverständnis Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis Kapitel 1

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Die aktuelle Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

Überlegungen zur Relevanz der eigenen Themenstellung sind in juristischen Arbeiten selten1. Dies mag zum einen damit zu tun haben, dass der hauptsächliche Gegenstand juristischer Erörterungen, nämlich das positive Recht, seine Relevanz bereits aus dem bloßen Umstand seiner Setzung als aktuelle verbindliche Norm zu beziehen scheint. Zum anderen und vor allem dürfte die diesbezügliche Enthaltsamkeit der Rechtswissenschaft darauf zurückzuführen sein, dass Jurisprudenz auf die dogmatische Erschließung relativ eigengesetzlicher Normkontexte hin angelegt ist und insofern eine gewisse Isolierung von den Wirklichkeitszusammenhängen wesensmäßig voraussetzt2. Die Abstrahierung des Rechts von der Wirklichkeit ist freilich nur ein methodischer Kunstgriff3. Natürlich stehen Rechtswissenschaften und damit auch ihre Forschungsgegenstände in einem unablösbaren Gegenwartsbezug4. Diesen gilt es zu reflektieren – nicht nur um das erkenntnisleitende Interesse5 offenzulegen, sondern auch um sich über die realen Bedingungen und Implikationen der juristischen Erörterungen zu verständigen6. Einen Aktualitätsbezug weist die juristische Auseinandersetzung mit den rechtlichen Anforderungen an die demokratische Legitimität der EU zunächst insoweit auf, als das für die deutsche und infolgedessen mittelbar wohl auch für die europäische Politik so gewichtige BVerfG mit seinem nach wie vor grundlegenden Maastricht-Urteil neue Akzente gesetzt hat, die es schon aus Rücksicht auf die besondere Stellung des Karlsruher Gerichts zu diskutieren gilt7. Relevanz wächst

1 Ganz anders in der Geschichtswissenschaft, vgl. dazu nur Borowsky / Vogel / Wunder, Einführung in die Geschichtswissenschaft, 5. Aufl. 1989, S. 13 ff. 2 Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 (377 f.). 3 Heller (Fn. 2), S. 140. 4 Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 249 (276 f.). 5 Dazu Habermas, Nachwort, in: ders., Erkenntnis und Interesse, 9. Aufl. 1988, S.  367 (401 f.). 6 Hierzu eingehend Stein, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Einl. II Rn. 12 ff. 7 Siehe dazu den unmittelbar folgenden Gliederungsabschnitt.

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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der hier aufgeworfenen Fragestellung des Weiteren insofern zu, als sich die recht­ liche Auseinandersetzung mit dem europäischen Projekt in den größeren Kontext der Globalisierungsdiskussion8 einordnen lässt. Schließlich stellt sich die Frage nach den rechtlichen Bedingungen einer europäischen Demokratie gerade auch in Hinblick auf die immer wieder von Neuem entflammende Debatte um die Zukunft der EU9.

I. Das Maastricht-Urteil Das politische System in Deutschland ist in hohem Maße auf das Verfassungsgericht fixiert10. Weit über ihre rechtliche Bindungswirkung hinaus bestimmen Urteile des Verfassungsgerichts das politische Klima und beeinflussen dadurch die staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse11. Selbst lediglich für die Zukunft erwartete und in diesem Sinne virtuelle Urteile des BVerfG prägen nachhaltig die politische Debatte. Dass und wie sich das BVerfG in seinem MaastrichtUrteil12 mit dem Problemkreis ‚Demokratieprinzip und Europäische Union‘ auseinandergesetzt hat, trägt vor diesem Hintergrund ganz wesentlich zur Relevanz des Themas bei. 1. Das Nadelöhr des Art. 38 GG Das Maastricht-Urteil geht auf Verfassungsbeschwerden zurück, die seinerzeit unter anderem gegen das Zustimmungsgesetz zum EUV eingelegt worden sind13. Das BVerfG hat indes nur eine dieser Verfassungsbeschwerden für zulässig er

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Siehe unten Kapitel 1 II. = S. 99. Siehe unten Kapitel 1 III. = S. 114. 10 Bryde, Wandlungen des Rechtssystems in der Einwanderungsgesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Das Recht und die Fremden, 1994, S. 7 (12); Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 20 Rn. 2. 11 Vgl. die ausgewogene Bilanz ‚Ein halbes Jahrhundert Bundesverfassungsgericht‘ in: Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 359 ff. Dass das BVerfG „mit seiner hohen Autorität“ sogar die Gerichtsbarkeiten anderer Mitgliedstaaten zu beeinflussen vermag, hebt Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ZaöRV 1994, S. 1 (15) hervor. 12 BVerfGE 89, 155 ff. Dazu auch Wesel (Fn. 11), S. 296 ff. Instruktiv: Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, in: EuR 1994, S. 1 ff. Vgl. ferner Gündisch, Europa und das Grundgesetz, in: AnwBl. 1993, S.  590 ff., Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S.  98 ff., Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene im Lichte des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in: EuR 1995, S.  21 ff. sowie Hanf, Le jugement de la Cour constitutionelle fédérale sur la constitutionalité du Traité de Maastricht, in: RTDE 1994, S. 391 ff. 13 Eine gute Zusammenfassung der Entscheidung bieten Hölscheidt / Schotten, Demokratie in Europa nach der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: VR 1994, S. 183 ff. Ausführlich zum Urteil und seiner Vorgeschichte Winkelmann, Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.  Oktober 1993, 1994, S. 15 ff.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

klärt  – und dies auch nur unter dem eher ungewöhnlichen Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung von Art. 38 GG14. Infolgedessen hat das BVerfG auch nur durch das Nadelöhr15 dieses grundrechtsgleichen Rechts auf die EU-spezifische Legitimationsproblematik zugreifen können16. Diese verfassungsprozessuale Einkleidung ist ein, wenn auch gewiss nicht der einzige Grund dafür, dass das Problem der demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsgewalt im Maastricht-Urteil teilweise anders diskutiert wird, als dies bis dahin üblich war. Dass das BVerfG im Maastricht-Urteil demokratierechtliche Problemaspekte betont, die bislang nur schwach akzentuiert waren, unterstreicht freilich die Relevanz einer eingehenden Auseinandersetzung mit den durch den europäischen Einigungs­prozess aufgeworfenen Legitimationsfragen. Als grundrechtsgleiches Recht wurde Art. 38 GG bis zum Maastricht-Urteil dahin verstanden, dass es den wahlberechtigten Deutschen ein subjektives Recht verleiht, an den regelmäßig durchzuführenden Bundestagswahlen teilzunehmen und insofern auch die Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze einfordern zu können17. Nach diesem herkömmlichen Verständnis wäre Art.  38  GG denkbar ungeeignet gewesen, um im Wege der Verfassungsbeschwerde überhaupt Fragen der demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsgewalt zu problematisieren18. Indes hat das BVerfG im Maastricht-Urteil den traditionellen Gewährleistungsgehalt des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 GG deutlich erweitert19. Seiner Auf

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Dazu eingehend Soppe, Parlamentarische Selbstentmachtung als faktische Wahlrechtsbeeinträchtigung, 2002; ferner König, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht – ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, in: ZaöRV 1994, S.  17 (26 ff.) und Hilf, Ein europäisches Grundrecht auf Demokratie?, in: Frowein, Jochen Abr. u. a. (Hrsg.), Liber amicorum für Eitel, 2003, S. 745 (747 ff.). 15 So Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S.  1081 (1082). 16 Kritisch König (Fn. 14), S. 27 f.; Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration, in: DVBl. 1994, S. 316 (319). 17 Dazu etwa Cremer, Rügbarkeit demokratiewidriger Kompetenzverschiebungen im Wege der Verfassungsbeschwerde, in: NJ 1995, S. 5 ff.; Winkelmann (Fn. 13), S. 36 f.; Bieber, Beschwerden über die Verfassung als Verfassungsbeschwerde, in: NJ 1993, S. 241 (242); eingehend Soppe (Fn. 14), S. 55 ff. 18 Vgl. auch Wesel (Fn. 11), S. 298; Möllers, Der Staat als Argument, 2000, S. 412 f.; vgl. allerdings auch Schachtschneider, Beschwerdeschrift B. vom 18. Dezember 1992, in: Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 102 (115 ff.). 19 Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 11 (13) kritisiert diese Vorgehensweise des BVerfG als ‚­dubios‘, Wiegandt, Methodische Bedenken zur Entscheidungsfindung des BVerfG im Bereich der Außenpolitik, in: NJ 1996, S.  113 als ‚fragwürdig‘. Inescu, Zwischen Europaoffenheit und Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes, in: RuP 1994, S.  70 (72) spricht zurückhaltender von einem „juristischen Kunstgriff“ (ebenso König [Fn. 14], S.  29), Ipsen (Fn.  12), S.  2 davon, dass die Zulassung der Verfassungsbeschwerde „kaum als zwingend geboten erachtet werden“ könne. Auf die Implikationen dieser neuen Judikatur, mit der eine actio popularis (vgl. auch Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, S. 489; Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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fassung nach soll das Recht aus Art. 38 GG auch ausschließen, dass die Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeiten des Deutschen Bundestages durch Übertragung von Aufgaben und Befugnissen auf Organe der EU sowie der Europäischen Gemeinschaften so entleert werden, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird20. Zu dem gemäß Art. 79 Abs. 3 GG veränderungsfesten Gehalt des Demokratieprinzips gehört nach Meinung des BVerfG, dass die dem Bürger gegenübertretende Hoheitsgewalt Mindestanforderungen demokratischer Legitimation erfüllt21. Doch auch bei Zugrundelegung des in dieser Weise extensivierten Prüfungsmaßstabs aus Art. 38 GG hat das BVerfG – zumindest zunächst – keine Möglichkeit gesehen, diejenige Fragestellung zu thematisieren, die bis zum MaastrichtUrteil im Vordergrund nicht nur der rechtswissenschaftlichen, sondern auch der allgemein politischen Auseinandersetzung um die demokratische Legitimation der europäischen Gemeinschaftsgewalt gestanden hatte. Gemeint ist das so genannte Demokratiedefizit, also das Problem, inwieweit das auf EU-Ebene vorfindliche, überaus vertrackte institutionelle Regime in der Lage ist, demokratisch hinreichend legitimierte Entscheidungen hervorzubringen22. Ganz apodiktisch haben die Karlsruher Richter insoweit festgestellt, dass sich aus Art. 38 GG nicht ableiten lasse, wie der institutionelle Rahmen der EU auszugestalten ist23. Den Versuch einer der Beschwerdeführer, die These vom EU-spezifischen Demokratiedefizit über Art. 38 GG in das Maastricht-Verfahren einzuführen24, hat das BVerfG kurzerhand scheitern lassen. Denn auch nach dem vom BVerfG vertretenen weiten Verständnis bezieht sich Art. 38 GG nur auf die vom Bundestag vermittelte Legitimation der Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland und die daraus erwachsenden Einflusschancen des deutschen Wahlbürgers25. Insofern scheint Art. 38 GG in der Tat keine Rück-

Bundesverfassungsgerichts vom 12.  Oktober 1993, in: Beyerlin u. a. [Hrsg.], Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 1313 [1320]; ders., Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungs­gericht, in: Hommelhoff / Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11 [26 f.]; auch Autexier / Genius-Devime, La Cour Constitutionnelle fédérale, l’ordre constitutionnel allemand et le traité de Maastricht, in: RFDC 1994, S.  425; Winkelmann [Fn. 13], S.  37 f.) gegen künftige Hoheitsübertragungen eingeführt wird, geht etwa Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union – zum Vertrag von Maastricht, in: AöR 1994, S. 207 (210 ff.) ein. 20 BVerfGE 89, 155 (172, 181 und 182). Cremer (Fn. 17), S. 7 will zur Begründung der Zulässigkeitsentscheidung zusätzlich Art. 19 Abs. 2 GG heranziehen. 21 BVerfGE 89, 155 (172 und 182). Vgl. Meessen, Maastricht nach Karlsruhe, in: NJW 1994, S. 549 (550 f.). 22 Götz (Fn. 15), S. 1082; Neunreither, The Democratic Deficit of the European Union, in: Government and Opposition 1994, S. 299 ff. 23 BVerfGE 85, 155 (179). 24 BVerfGE 89, 155 (164). 25 BVerfGE 89, 155 (171).

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

schlüsse auf die hier sogenannten internen Vorgaben zuzulassen, denen ein EUspezifisches Legitimationsmodell gerecht werden muss, um das demokratiezen­ trale Prinzip der Volkssouveränität ins Werk zu setzen.

2. Der staatssouveränistische Unterton des Maastricht-Urteils Nachdem das BVerfG somit erst durch das Nadelöhr des Aktivbürgerrechts zur Begründetheitsprüfung gefunden hatte, haben sich die Karlsruher Richter konsequenterweise auch im Folgenden aus der recht ungewöhnlichen Perspektive des Art.  38  GG den demokratischen Anforderungen an den europäischen Inte­ grationsprozess genähert. Da sich diese Verfassungsbestimmung, wie gesagt, allein auf die demokratische Legitimation der deutschen Staatsgewalt und nicht un­mittelbar auch auf die der europäischen Hoheitsgewalt bezieht, hat die Auseinandersetzung des BVerfG mit dem europaspezifischen Demokratiepro­blem eine ganz eigentümliche Wendung genommen. So hat das Verfassungsgericht geprüft, inwieweit der europäischen Integration dadurch demokratierechtliche Grenzen gesetzt sind, dass die Wahrnehmung bestimmter staatlicher Aufgaben und die Ausübung bestimmter staatlicher Befugnisse Ausfluss der vom deutschen Staatsvolk über den Bundestag legitimierten bundesdeutschen Staatsgewalt bleiben müssen und daher nicht auf die europäische Ebene hochgezont werden dürfen26. Denn nach Auffassung des BVerfG fordert Art.  38  GG, wie bereits angesprochen27, kein bestimmtes demokratisches Arrangement auf EU-Ebene ein; vielmehr wird dann gegen diese Verfassungsbestimmung verstoßen, wenn das darin verbürgte Recht der Staatsvolksangehörigen, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen, durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestags auf die europäische Ebene so stark ausgedünnt wird, dass infolgedessen die in Art.  79 Abs.  3  GG in Verbindung mit Art.  20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten Mindestanforderungen an die demokratische Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden28. Im Ergebnis ist das BVerfG zu folgendem Ergebnis gelangt: Zumindest solange die europäische Hoheitsmacht im Wesentlichen von den nationalen Staatsvölkern über die nationalen Parlamente legitimiert wird, lassen sich nach Meinung des Gerichts zwei Konstellationen unterscheiden, in denen die Übertragung von staatlichen Aufgaben und staatlichen Befugnissen auf die EU mit Art. 38 GG unvereinbar ist. Erstens müssten dem Bundestag Aufgaben und Befugnisse von subs­tantiellem Gewicht bleiben29. Denn darin, also im Vorhandensein hinreichend 26 Dazu im Einzelnen Penski, Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 III GG, in: ZRP 1994, S. 192 (194 f.). 27 Siehe oben Kapitel 1 I. 1. = S. 89. 28 BVerfGE 89, 155 (182). 29 Schachtschneider, Das Maastricht-Urteil, in: RuP 1994, S. 1 (2).

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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bedeutsamer staatlicher Aufgabenfelder, erblickt das BVerfG eine zentrale Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Demokratie, von der nach seiner Konzeption jedenfalls bis auf Weiteres auch die europäische Hoheitsgewalt ihre Legitimation bezieht30. Zweitens soll die Entäußerung staatlicher Aufgaben und Befugnisse nach Meinung des BVerfG dann gegen Art.  38 verstoßen, wenn das Zustimmungsgesetz zum völkerrechtlichen Übertragungsvertrag Inhalt, Zweck und Ausmaß der dem überstaatlichen Hoheitsträger konzedierten Rechte nicht hinreichend bestimmt. Denn weil der wahlberechtigte Deutsche wesentlich über die Wahl des deutschen Bundestags an der demokratischen Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt teilhabe, müsse der das deutsche Staatsvolk repräsentierende Bundestag auch über die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU deren Fortbestand und insbesondere ihre Entwicklung bestimmen31. Mit diesen wenig orthodoxen Überlegungen schlägt das BVerfG unausge­ sprochen den Bogen zu einer in Deutschland lange Zeit nur zurückhaltend diskutierten Fragestellung. Die Rede ist von dem Verhältnis zwischen Volks- und Staatssouveränität und dessen Bedeutung für den europäischen Integrationsprozess. Denn bedingt durch den verfassungsprozessualen Einstieg über Art. 38 GG, aber sicherlich nicht contre coeur32 stellt das BVerfG jene Gefährdungen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, die für die Demokratie daraus erwachsen, dass zahlreiche bislang beim souveränen Staatsverbandsvolk verortete Hoheitsbefugnisse auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden und sich infolgedessen die staatliche Souveränität relativiert33. Zwar thematisiert das BVerfG das Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität insofern nicht ausdrücklich, es scheint im Argumentationsgang des BVerfG aber erkennbar durch. Pointierter formuliert: Wenn das BVerfG die demokratierechtliche Problematik der europäischen Integration zu der Frage zuspitzt, inwieweit die Wahrnehmung bestimmter staatlicher Aufgaben und die Ausübung bestimmter hoheitlicher Befugnisse der vom deutschen Staatsvolk über den Bundestag legitimierten bundesdeutschen Staatsgewalt vorbehalten bleiben müssen und daher nicht auf die europäische Ebene hochgezont werden dürfen, so kann es nicht verwundern, dass seine Überlegun-



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BVerfGE 89, 155 (186). BVerfGE 89, 155 (187). 32 Zu berücksichtigen ist, dass „Entscheidungen von solch rechtlicher Komplexität und solch hohem politischen Gewicht wie das Maastricht-Urteil gewiß nicht von leichter Hand gefällt“ werden (so zutreffend Cremer, Europäische Hoheitsgewalt und deutsche Grundrechte, in: Staat 1995, S. 268 [285]). Vgl. auch Hanf, Le jugement de la Cour constitutionelle fédérale sur la constitutionalité du Traité de Maastricht, in: RTDE 1994, S. 391 (393). 33 Anders offenbar Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, in: Grawert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 29, der meint, dass dieser Zusammenhang im Maastricht-Urteil an den Rand gedrängt und nur nachrangig berücksichtigt worden wäre. Wie hier Götz (Fn. 15), S. 1082 und Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ZaöRV 1994, S. 1 ( 5 ff.).

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

gen und Lösungsvorschläge von einem staatssouveränistischen Unterton getragen werden34. Dieser lässt sich auch an den einzelnen Feststellungen des Gerichts belegen. Wenn die Karlsruher Richter im Einzelnen fordern, dass dem Bundestag ein hinreichend großer und gewichtiger Aufgabenbereich verbleiben müsse35, so korreliert dies unverkennbar mit der dem Souveränitätsdogma entspringenden Vorstellung, dass das Souveränitätssubjekt über eine hinreichende Machtfülle verfügen muss36. Dass die nationalen Parlamente nach Auffassung des BVerfG darüber bestimmen können sollen, ob ihr Staat in der EU verbleibt und welche Entwicklung die EU nehmen soll37, deckt sich mit der Idee von Staatssouveränität als dem Unabhängigsein des Staates38. Somit kommt das BVerfG an zentraler Stelle seines Maastricht-Urteils auf die hier so genannte externe Schranke des europäischen Einigungsprozesses zu sprechen. Es deutet an, dass diesem insoweit Grenzen gesetzt sind, als und soweit die EU an souveräne Mitgliedstaaten rückgebunden ist. Diese Zusammenhänge wurden bereits als eines der drei Hauptprobleme eines EU-spezifischen Legitima­ tionsmodells diagnostiziert39. Durch das Maastricht-Urteil wächst ihnen zusätz­ liche Relevanz zu.

3. Die indirekte Konturierung eines EU-spezifischen Legitimationsmodells Zwar musste sich das BVerfG seines verfassungsprozessual bedingten Ansatzes wegen auf die demokratische Rückkoppelung der Staatsgewalt an nationales Parlament und Staatsvolk konzentrieren. Es war daher daran gehindert, das institu­ tionelle Regime der EU unmittelbar einer Überprüfung am Maßstab der Demokratienorm zu unterziehen. Jedoch haben die Karlsruher Richter der Frage nach den internen Vorgaben an ein EU-spezifisches Legitimationsmodell nicht vollständig ausweichen können und wollen40. Vielmehr kommt das Maastricht-Urteil auch auf die beiden anderen Hauptprobleme zu sprechen, die neben der Frage nach dem Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität das Thema ‚Demokratie und Euro 34 Vgl. dazu auch Joerges, Das Recht im Prozeß der europäischen Integration, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch, Europäische Integration, 1996, S.  73 (84); ferner Kahl, Europäische Union: Bundesstaat – Staatenbund – Staatenverbund, in: Staat 1994, 241 (254): Souveränität als „Dreh- und Angelpunkt der Entscheidung“; auch König (Fn. 14), S. 47. Sehr kritisch Hanf (Fn. 12), S. 423, der das Maastricht-Urteil als Symptom für einen zurückkehrenden Nationalismus wertet; zurückhaltender Autexier / Genius-Devime (Fn. 19), S, 423. 35 BVerfGE 89, 155 (186). 36 Dazu bereits oben Einleitung I. 5. c) = S. 66. 37 BVerfGE 89, 155 (187). 38 Dazu bereits oben Einleitung I. 5. c) = S. 66. 39 Ebd. 40 So zutreffend Götz (Fn. 15), S. 1082; auch Steinberger, Maastricht-Urteil (Fn. 19), S. 28.

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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päische Union‘ prägen. Gemeint ist zum einen das Problem, ob nur die nationalen Staatsvölker oder auch ein europäischer demos als Legitimationssubjekt demokratischer Legitimation auf EU-Ebene in Betracht kommt, zum anderen die Frage, wie das System demokratischer Zurechnung auf EU-Ebene beschaffen sein muss, um demokratischen Anforderungen zu genügen41. So legt das Gericht eingangs des Begründetheitsteils zunächst dar, weshalb nicht schon jede Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die EU gegen das Demokratieprinzip verstoße, auch wenn dadurch das vom Staatsvolk gewählte nationale Repräsentationsorgan und mit ihm der wahlberechtigte Staatsbürger notwendig an Einfluss verlieren müsse42. Sodann macht das Gericht aber geltend, dass auch die von der EU ausgeübte Hoheitsgewalt stets hinreichend demokratisch legitimiert bleiben müsse43. Dies ist in sich konsequent. Denn nach Auffassung des BVerfG schützt Art. 38 GG insoweit gegen die Entäußerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestags, als andernfalls die nach Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen an die dem Bürger gegenüber tretende Hoheitsgewalt – hier also das Mindestmaß an demokratischer Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt – unerfüllt bleiben. Hieraus erklärt sich denn auch, weshalb das BVerfG zumindest am Rand auch auf das EU-spezifische Legitimationsmodell zu sprechen kommt, obwohl Art. 38 GG eigentlich nur die nationalen Legitimationszusammenhänge thematisiert: Diese Verfassungsbestimmung formuliert zwar nicht unmittelbar die internen Vorgaben an ein EU-spezifisches Legitimationsmodell; sie lässt jedoch nach dem Norm­ verständnis des BVerfG Rückschlüsse darauf zu, unter welchen Bedingungen nationalstaatlichen Aufgabe und Hoheitsbefugnisse nicht auf die EU übertragen werden dürfen. Insofern sollen sich aus Art. 38 GG mittelbar doch bestimmte Anforderungen an ein EU-spezifisches Legitimationsmodell ableiten lassen. Hinsichtlich des Subjekts demokratischer Legitimation erweckt das MaastrichtUrteil zumindest zunächst den Anschein, als ob nach Auffassung des BVerfG nur Staatsvölker die europäische Hoheitsgewalt legitimieren könnten, ein europäischer demos mithin überhaupt erst dann als Legitimationssubjekt in Betracht komme, wenn er sich als Staatsvolk präsentiere44. So geht das BVerfG für die gegenwärtige Sach- und Rechtslage davon aus, dass europäische Hoheitsakte zuvörderst von den nationalen Staatsvölkern über die nationalen Parlamente legitimiert werden. Dies könne sich in Zukunft zwar ändern. Denn mit dem Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft wachse die Notwendigkeit, zu der über die nationalen Parlamente vermittelten demokratischen Legitimation einen über das Europäische Parlament verlaufenden Legitimationsstrang hinzutreten zu lassen. Freilich begreift das BVerfG das Europäische Parlament nicht etwa als Ver

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Dazu auch Joerges (Fn. 34), S. 84 f. BVerfGE 89, 155 (182 ff.). 43 BVerfGE 89, 155 (184 ff.). 44 BVerfGE 89, 155 (184 f.).

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

tretung eines europäischen demos, sondern als Repräsentation der Staatsvölker. Ausschlaggebend hierfür scheint zu sein, dass die Unionsbürger nicht das „Maß existentieller Gemeinsamkeit“ aufweisen, das für die Angehörigen der Nationalstaaten charakteristisch ist. Dieser sich jedenfalls zu Beginn aufdrängenden Lesart zufolge vertritt das BVerfG im Maastricht-Urteil einen auf das Staatsvolk relativierten Volksbegriff45. In dieser Perspektive nimmt auch das im Maastricht-Urteil beiläufig entworfene System demokratischer Zurechnung ein ganz eigenes Gepräge an. Denn hiernach streitet alles dafür, dass das BVerfG ein Modell mittelbarer Legitimation46 verficht: Unabhängig davon, ob die europäische Hoheitsgewalt über die nationalen Parlamente oder zunehmend über das Europäische Parlament vermittelt wird, fungieren auf unabsehbare Zeit  – nämlich bis zur Staatsvolkswerdung der Unions­ bürgerschaft – die nationalen Staatsvölker als Legitimationssubjekt. Die internen Vorgaben an ein EU-spezifisches Legitimationsmodell präzisiert das BVerfG in seiner Entscheidung indes nicht nur insoweit, als es Auskunft über das Legitimationssubjekt europäischer Hoheitsakte und die für deren Legitimation konstitutiven Zurechnungszusammenhänge zwischen dem betreffenden Legitimationssubjekt zum einen, den zu legitimierenden Hoheitsakten zum anderen näher beleuchtet. Darüber hinaus verdeutlicht das Gericht auch, dass die mit der demokratiezentralen Volkssouveränität vorgegebene Zurechnungsstruktur nicht nur den hoheitlichen Bereich erfasst, sondern auch Anforderungen an die Gesellschaftsverfassung stellt. Demokratie sei, so das BVerfG in Hinblick auf die EU, vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln könnten und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorforme47. Insofern haben die Karlsruher Richter letztlich doch und sogar relativ umfänglich zu den internen Vorgaben an ein EU-spezifisches Legitimationsmodell Stellung genommen. Auch insofern trägt das Maastricht-Urteil zur Relevanz der vorliegenden Abhandlung bei.

4. Die Vagheit des Maastricht-Urteils Seine Relevanz verdankt diese Studie freilich nicht bloß dem Umstand, dass das BVerfG im Maastricht-Urteil überhaupt auf die auch einleitend schon aufgeworfenen Fragestellungen zu sprechen kommt. Noch wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie sich das BVerfG mit diesen drei zentralen

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Kritisch Hilf (Fn. 14), S. 746. Siehe unten Kapitel 4 I. = S. 170 und Kapitel 12 = S. 1008. 47 BVerfGE 85, 155 (185).

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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Problemen auseinandersetzt. Die Entscheidung erweist sich nämlich in Hinblick auf alle drei Problemkonstellationen als eigentümlich vage48. Teils scheut das Gericht davor zurück, seine Ansätze näher zu präzisieren und dogmatisch nachvollziehbar zu machen. Teils lassen sich die Ausführungen des BVerfG in gänzlich gegen­läufiger Richtung interpretieren49. Hinsichtlich der externen Schranken des europäischen Demokratiemodells beispielsweise lassen die Karlsruher Richter im Ungewissen, ab welchem Umfang Hoheitsübertragungen auf die EU demokratierechtlich nicht mehr hinnehmbar sind. Welches sind die Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht, die dem Bundestag verbleiben müssen? Muss der Bundestag auch dann noch über eine hinreichende Fülle von Kompetenzen verfügen, wenn die demokra­ tische Legitimation zunehmend originär über das Europäische Parlament und damit unmittelbar von der Unionsbürgerschaft vermittelt wird?50 Immerhin scheint das vom BVerfG aufgestellte Rechtserfordernis einer ausreichenden Kompetenzausstattung des Bundestags unter der aufschiebenden Bedingung zu stehen, dass es  – wie gegenwärtig  – die Staatsvölker sind, die die demokratische Legitimation ver­mitteln51. Anders könnte sich die Rechtslage daher darstellen, sobald die Unionsbürger wesentlich zur Legitimation der Gemeinschaftsgewalt beitragen. Hinsichtlich der internen Vorgaben an ein EU-spezifisches Legitimationsmodell ist zunächst und vor allem zu berücksichtigen, dass die Lesart, wonach das BVerfG im Maastricht-Urteil einem staatsvolkszentrierten Demokratieverständnis huldige52, keineswegs alternativlos ist. Denn die Ausführungen des BVerfG zu dem über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationsstrang lassen sich auch dahin interpretieren, dass das Gericht insofern ein anderes Legitimationssubjekt am Werke sieht als im Fall der über die nationalen Parlamente vermittelten Legitimation53. Denn bezeichnenderweise heißt es im Urteil, dass die „von den 48 Joerges (Fn. 34), S. 85: „… schwer zu dechiffrieren …“ Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass sich die an der Entscheidung beteiligten Verfassungsrichter selbst über die zutreffende Interpretation des Maastricht-Urteils uneins sind, vgl. Kahl (Fn. 34), S. 241 f. 49 Hölscheidt / Schotten (Fn. 13), S. 184. 50 In diesem Sinne etwa Storost, „… dem Frieden der Welt zu dienen“, in: Festschrift für Quaritsch, 2000, S. 31 (41); dagegen Inescu (Fn. 19), S. 73. 51 BVerfGE 89, 155, (186); anders deutet Hanf (Fn. 12), S. 417 die Entscheidung. 52 So etwa Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 135 ff.; auch Schachtschneider (Fn. 29), S. 4. 53 Dies konstatieren auch Gusy / Ziegler, Der Volksbegriff des Grundgesetzes, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S.  222  (238), bezeichnen diesen Aspekt der Entscheidung aber zugleich als im Hinblick auf die übrigen Ausführungen des Gerichts „erstaunlich“. Siehe auch Schneider, EU als Staatenverbund oder als multinationale ‚Civitas Europae‘, in: Randelzhofer / Scholz / Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Grabitz, 1995, S. 171 (682), der die Aussagen des BVerfG im Maastricht Urteil folgendermaßen interpretiert: „Trotzdem läßt es die Möglichkeit der Europäisierung der Demokratie und damit der gemeinschaftlichen Willensbildung offen …“

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

Unionsbürgern ausgehende Einflussnahme“ demokratische Legitimation zu erzeugen vermag54. Insofern präsentieren sich nicht die nationalen Staatsvölker, sondern stellt sich die Unionsbürgerschaft als Legitimationssubjekt dar. Dass das BVerfG davor zurückscheut, die Unionsbürgerschaft als europäisches Unionsvolk anzusprechen, mag insofern damit zusammenhängen, dass es die verbleibenden Unterschiede zu den vergleichsweise stärker integrierten Staatsvölkern kenntlich machen möchte. Die grundsätzliche Befähigung der Unionsbürgerschaft, auch dann als demokratisches Legitimationssubjekt und mithin  – demokratierechtlich betrachtet – als demos zu fungieren, wenn es (noch) nicht zum Staatsvolk avanciert ist, scheint das BVerfG in dieser Perspektive gerade nicht in Abrede stellen zu wollen55. Dieser Lesart zufolge macht sich das BVerfG im Maastricht-Urteil einen erweiterten, polyvalenten Volksbegriff56 zu eigen57. Die Ambiguität des im Maastricht-Urteil aufscheinenden Volksbegriffs hat zur Konsequenz, dass die Ausführungen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung auch dort doppeldeutig bleiben, wo die Verfassungsrichter das für die EU-Ebene aus ihrer Sicht maßgebliche System demokratischer Zurechnung konkretisieren. Denn insofern lässt sich dem Maastricht-Urteil gerade kein klares und eindeutiges Votum zugunsten des Modells mittelbarer Legitimation entnehmen58. Interpretiert man das Maastricht-Urteil nämlich dahingehend, dass die Unions­ bürgerschaft, auch ohne Staatsvolk zu sein, originäre Legitimationsbeiträge zu leisten vermag, stellt sich das BVerfG als Vertreter des Modells der doppelten Legitimationsbasis dar. Denn in dieser Perspektive trägt das Europäische Parlament anders als die nationalen Parlamente nicht zur demokratischen Rückbindung europäischer Hoheitsmacht an die nationalen Staatsvölker bei, sondern setzt einen Legitimationszusammenhang ins Werk, der unmittelbar von der demokratierechtlich als demos zu qualifizierenden Unionsbürgerschaft ausgeht und auf diese zurückführt. Nach allem zeigt sich, dass das BVerfG der Wissenschaft für die Auseinandersetzung mit der EU-spezifischen Legitimationsproblematik eine grobe Richtung gewiesen hat; die dabei einzuschlagenden und zu verfolgenden Pfade aber hat es nicht abschließend festgelegt59. Umso relevanter wird die dogmatische Pfad­ finderarbeit, zu der mit dieser Abhandlung beigetragen werden soll.



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BVerfGE 89, 155 (184 f.). Zu dem im Maastricht-Urteil aufscheinenden dynamischen Verständnis der europa­ bezogenen Demokratieanforderungen vgl. etwa Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union, in: DÖV 2003, S. 1009 (1011). 56 Zu diesem Volksbegriff eingehend unten Kapitel 5 = S. 182 und Kapitel 9 = S. 562. 57 Zweifelnd im Hinblick auf die Möglichkeit einer solchen alternativen Lesart des Maas­ tricht-Urteils Weiler, The State „über alles“, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 2, 1995, S. 1651 (1656). 58 Zu diesem unten Kapitel 4 I. = S. 170 und Kapitel 12 = S. 1008. 59 In diese Richtung auch Schröder (Fn. 16), S. 316.

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II. Die Globalisierung In den vergangenen anderthalb Dekaden waren Ökonomie und Politik weltweit einem tiefgreifenden Wandel unterworfen60. Und es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass dieser geradezu revolutionäre Wandlungsprozess in den nächsten Jahren an Dynamik verlieren könnte. Diese für gewöhnlich unter dem schillernden61 Schlagwort der Globalisierung62 angesprochene Entwicklung trägt nun ihrerseits gleich in doppelter Hinsicht zur Relevanz des Themas bei: Erstens prägen die für den Globalisierungsprozess charakteristischen Ambivalenzen ein gutes Stück weit auch das Projekt einer europäischen Demokratie. Mit besonderem Nachdruck stellt sich daher die Frage, wie diese Ambivalenzen von den europaspezifischen Demokratienormen aufgegriffen und verarbeitet werden. Schließlich hängt davon, wie die europaspezifischen Demokratieanforderungen mit diesen Ambivalenzen – buchstäblich – zu Recht kommen, in nicht unerheblichem Maße ab, ob die Demokratie in einer globalisierten Welt als normative Vorgabe zukunftsfähig ist63. Hinzu tritt zweitens, dass der Globalisierungsprozess Begriffsstürmereien stark befördert. Denn er scheint den – naturgemäß auf die bisherigen Verhältnisse abstellenden  – herkömmlichen Begriffskonzepten, wie sie in Allgemeiner Staatslehre und Rechtswissenschaft entwickelt worden sind, die tatsächliche Grundlage zu entziehen. Mit dem Globalisierungsprozess könnte daher auch das in demokratietheoretischen und -rechtlichen Zusammenhängen bisher verwandte Begriffsinstrumentarium obsolet geworden sein64. Schließlich ist dieses ganz wesentlich von der Realität des neuzeitlichen Staates geprägt. Dieser indes sieht sich durch den Globalisierungsprozess seiner ursprünglichen Gestalt zunehmend beraubt65. Der Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Demokratieprinzip und Europäische Union‘ verleiht die Globalisierung somit deshalb unmittelbare Relevanz, weil sie den ihr eigenen Zwiespalt auch dem demokratischen Legitimationskonzept ein 60 Dazu nur Scharpf, Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: ­Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 81 ff. 61 Wiesenthal, Globalisierung, in: Brunkhorst / Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000, S.  21; vgl. auch Birnbaum, Einige Probleme mit der Demokratie, in: Münkler / Llanque / Stepina (Hrsg.), Festschrift für Fetscher, 2002, S. 151 (154): „Selbstverständlich verdunkelt der Ausdruck Globalisierung mehr als er erhellt.“ 62 Vgl. zum Beispiel Hengsbach, Die andern im Blick, 2001, S. 142 ff.; Nuscheler, Globa­ lisierung und Global Governance, in: Lutz (Hrsg.), Festschrift für Röhrich, 2000, S.  301 (304 ff.); Held, Rethinking Democracy: Globalization and Democratic Theory, in: Streek (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, S. 59 (61 ff.); Mahnkopf, Probleme der Demokratie unter den Bedingungen ökonomischer Globalisierung und ökologischer Restriktionen, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 55 (58 ff.); Calliess, Auswärtige Gewalt, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 4; Volkmann, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 20 (2. Teil), Rn. 64. 63 Dazu sogleich unten im folgenden Gliederungsabschnitt. 64 Vgl. hierzu auch Volkmann, Setzt Demokratie den Staat voraus?, in: AöR 2002, S. 575 ff. 65 Dazu unten Kapitel 1 II. 2. = S. 107.

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pflanzt und mit den durch sie hervorgerufenen Veränderungen das traditionelle demokratische Begriffsarsenal erschüttert.

1. Die Ambivalenz der Globalisierung Der Globalisierungsprozess erweist sich als zutiefst ambivalent66. Das demokratische Prinzip wird von den sozialen, kommunikativen und politischen Ambivalenzen der Globalisierung in voller Schärfe erfasst.

a) Soziale Ambivalenz Der Globalisierungsprozess trägt zum einen weltweit zu einer schrittweisen Annäherung bestehender Wertvorstellungen bei, die die Basis immer umfassenderer Verständigungs- und Vergemeinschaftungsprozesse bilden können67. Zum anderen führt er aber auch dazu, dass sich einzelne Gruppen von Menschen zunehmend ihrer regionalen, nationalen, ethnischen Identität besinnen und gegen andere Gruppen bewusst abgrenzen68, um so in der zunehmend unübersichtlicher werdenden, eben globalisierten Welt ihren Eigenstand bewahren zu können69. Diese soziale Ambivalenz der Globalisierung hat nicht von ungefähr gerade auch das hier interessierende Demokratieprinzip erfasst, handelt es sich bei diesem doch sowohl um einen universelle Verbindlichkeit beanspruchenden Wert wie auch um ein gemeinschaftsbezogenes und in diesem Sinne kommunitäres Programm. So hat die universalistische Demokratieidee nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes Eingang in zahllose Dokumente des völkerrechtlichen soft law70 gefunden. Neben den regelmäßig wiederkehrenden Resolutionen der UN-Generalversamm 66 So auch Meyer, in: ders., Theorie der Sozialen Demokratie, 2005, S. 386; Parekh, Integrating Minorities in a Multicultural Society, in: Preuß / Requejo (Hrsg.), European Citizenship, Multiculturalism, and the State, 1998, S. 67 (69): „Globalization is a paradoxical phenomenon.“ 67 Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung, Eine faire Globalisierung, 2004, Rn. 221. 68 Zum Phänomen des Separatismus auch Dietrich, Das Sezessionsrecht im demokratischen Verfassungsstaat, in: Leviathan 2007, S. 62 f. 69 Zu dieser „Gegenbewegung“ vgl. auch Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2002, S. 20 f.; Held (Fn. 62), S. 73; Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994, S. 57 ff.; Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 114 ff.; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 159; Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWiss 1994, S. 305 (311 f.). 70 Zum Konzept des soft law vgl. Perrin, Droit international public, 1999, S.  488 ff. und Heintschel-v. Heinegg, Die weiteren Quellen des Völkerrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5.  Aufl. 2004, § 20 Rn.  20 ff.; auch Fastenrath, Rechtliche Bedeutung der KSZE / OSZEDokumente, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 1996, S.  447 ff.; in völkerrechtsgeschichtlicher Perspektive Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 774 ff.

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lung71 zum Prinzip regelmäßiger und unverfälschter Wahlen72 sind insbesondere die verschiedenen Entschließungen im Rahmen des KSZE-/OSZE-Prozesses73 zu nennen74. Angesichts des überwältigenden Zuspruchs, den das demokratische Prinzip nach dem Epochenbruch Ende der achtziger Jahre erfahren hat, sah sich mancher Völkerrechtler veranlasst, dem Demokratieprinzip sogar (fast) schon völkergewohnheitsrechtliche Weihen zuzuerkennen75. Auch das jahrzehntelang auf seinen antikolonialistischen und antirassistischen Bedeutungsgehalt reduzierte Selbst­bestimmungsrecht der Völker76 wurde zunehmend als ‚Recht auf Demokratie‘ gedeutet77. Gerade an der Universalisierung der demokratischen Idee lässt sich insofern ablesen, wie sehr und vor allem auch wie rasant sich unter dem mächtigen Eindruck und Einfluss des Globalisierungsprozesses (sozial-)ethische Grundüberzeugungen einander angleichen. Zugleich zeigt sich, dass die Universalisierung des demokratischen Credos Vergemeinschaftungsprozesse angeschoben hat. Dies belegt beispielsweise der trotz aller Rückschläge konstatierbare Bedeutungs­ 71 Vgl. beispielsweise Res. 50/185 vom 22.12.1995; Res. 49/190 vom 23.12.1994; Res. 48/ 131 vom 20.12.1993; Res. 47/138 vom 18.12.1992; Res. 46/137 vom 17.12.1991; Res. 45/150 vom 18.12.1990; Res. 44/146 vom 15.12.1989; Res. 43/157 vom 08.12.1988. 72 Dazu etwa Theuermann, Legitimizing Governments through International Verification, in: Austrian Journal of Public and International Law 1995, S. 129 ff.; ferner Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, 1994, S. 221 ff.; auch Heintze, Völker im Völkerrecht, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 30 Rn. 8 f. 73 Dazu etwa Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 76. 74 Vgl. insbesondere die Charta von Paris vom 21.11.1990 (in: EuGRZ 1990, 517 ff.), aber auch schon das Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom 29.06.1990 (in: EuGRZ 1990, S. 239 ff.) oder das Dokument des Moskauer Treffens über die Menschliche Dimension der KSZE vom 03.10.1991 (in: EA 1991, S. D 579 ff.). Dazu auch Brühl-Moser, Recht auf Demokratie im Völkerrecht, in: Breiten­moser u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wildhaber, 2007, S.  969 (975 f.); zur juridischen Wirkung der KSZE / OSZE-Dokumente vgl. Fastenrath (Fn. 70), S. 447 ff. 75 In diese Richtung vor allem Franck, The Emerging Right to Democratic Governance, in: AJIL 1992, S. 46 ff.; ders., Fairness in the International Legal and Institutional System, in: RdC 1993-III, S. 9 (99 ff.); aber auch Theuermann (Fn. 72), S. 149; Gottlieb, Nation against State, 1993, S. 20 ff. und Kokott, Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, in: ZaöRV 2004, S. 517 (525 ff.); zurückhaltender zu Recht Crawford, Democracy and International Law, in: BYIL 1993, S. 113 ff.; überkritisch Doehring, Demokratie und Völkerrecht, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 127 (128). 76 Dazu etwa Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1990, S. 37 f. und 46 f.; auch Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S.  776 (793 f.); eingehender Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Staat 1984, S.  523 (541 ff.) sowie Brühl-Moser (Fn. 72), S. 39 ff. 77 Vgl. dazu ausführlich Brühl-Moser (Fn. 74). S. 972 ff. und dies. (Fn. 72), S. 219 ff.; ferner Thürer, Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 1993, Sonderheft 6, S. 30 (32): Selbstbestimmungsrecht als demokratische Grundnorm der Staatenordnung; Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 1993, Sonderheft 6, S. 11 (18); Gusy, Selbstbestimmung im Wandel, in: AVR 1992, S. 385 (409); allgemein zur Renaissance des Selbstbestimmungsrechts aus kulturkonservativer Perspektive Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994, S. 69 ff.; einen guten Überblick bietet Heintze (Fn. 71), § 30 Rn. 6 ff.

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zuwachs der Vereinten Nationen, der nicht zuletzt auf UN-Aktionen zurückzuführen ist, die der Etablierung auch demokratischer Standards dienen78. Das Paradebeispiel für die gemeinschaftsbildende Kraft gemeinsamer demokratischer Grundüberzeugungen bleibt freilich die EU. Die eben beiläufig schon erwähnte Revitalisierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker79 markiert indes gleichzeitig die Hinwendung zu einem Demokratiekonzept, das gewissermaßen als Kontrapunkt zu der eben beschriebenen Facette der Globalisierung verstanden werden kann. Denn Träger des völkergewohnheitsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts sind zum einen und unbestritten die nationalen Staatsvölker80, zum anderen aber wohl auch die auf einem bestimmten Gebiet ansässigen Völker im ethnisch-kulturellen Sinne81, Kollektive also, die seit jeher in hohem Maße identitätsstiftend wirken. Die Renaissance des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts82 lässt sich insofern als Reaktion auf den durch die Globalisierung permanent drohenden Verlust beziehungsweise Zerfall kollektiver Identität deuten. Dies gilt umso mehr, als das Selbstbestimmungsrecht nach einer deutlich wachsenden Meinung mit einem Sezessionsrecht bewehrt ist83. Nationale und ethnische Identitäten erscheinen in dieser Perspektive als demos-kratisch besonders schutzwürdig. Dem entspricht, dass etwa die Demokratisierungsprozesse in Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit einer unübersehbaren Renationalisierung verbunden sind84. Demokratie ist dort als kommunitäres Konzept in Normativität und Normalität erwachsen. Die der Globalisierung inhärente Ambivalenz zwischen der zunehmende Homogenisierung vorhandener Wertvorstellungen und den dadurch ausgelösten Vergemeinschaftungsprozessen einerseits sowie der gleichzeitigen Stärkung kommunitären Denkens und Handelns andererseits, diese soziale Ambivalenz des Globalisierungsprozesses hat sich insofern ersichtlich auch dem Demokratieprinzip eingeschrieben. Vor diesem Hintergrund gewinnt eines der Hauptprobleme 78 Zu den UN-Wahlbeobachtungen vgl. auch Theuermann (Fn.  72), S.  141 ff.; Crawford (Fn. 75), S. 124. 79 Gornig (Fn. 77), S. 11. 80 Gusy (Fn. 77), S. 390 ff.; Murswiek, Das Verhältnis des Minderheitenschutzes zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Blumenwitz / Gornig / ders. (Hrsg.), Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz, 2001, S. 83 (87). 81 Klein (Fn. 76), S. 37; hierzu auch Murswiek, The Issue of a Rigtht of Secession – Re­ considered, in: Tomuschat (Hrsg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, S. 21 (27 und 37), ders. (Fn. 80), S. 87 ff.; Brühl-Moser (Fn. 74), S. 978 f. sowie Heintze (Fn. 71), § 28 Rn. 8 ff. 82 Für eine Begrenzung des völkerrechtlichen Sezessionsrechts auf den – heutzutage kaum noch relevanten – Dekolonisationskontext indes Perrin (Fn. 70), S. 613 ff. 83 Zu dieser völkerrechtswissenschaftlichen Entwicklung vgl. nur Heintze (Fn.  71), § 29 Rn.  12 f.; aus staatstheoretischer Sicht wird ein Sezessionsrecht etwa von Dietrich (Fn.  68), S. 64 befürwortet; vgl. auch Murswiek (Fn. 76), S. 540 f. sowie ders. (Fn. 81), S. 21 ff. 84 Marko, Autonomie und Integration, 1995, S. 10 ff.; Münkler, Die Nation als Modell poli­ tischer Ordnung, in: StWiss 1994, S. 367 f.; Lucas, Nationalism, Sovereignty and Supra­national Organisations, 1999, S. 19 ff.

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eines EU-spezifischen Demokratiemodells nochmals deutlich an Relevanz: Kann Demokratie nur in solchen Gebietsgesellschaften errichtet werden, in denen sich die Menschen durch eine gemeinsame nationale oder gar ethnische Identität verbunden fühlen, oder vermag auch eine vornehmlich durch gemeinsame Werte und Grundsätze vergemeinschaftete Gesamtheit der Unionsbürger als demokratisches Legitimationssubjekt zu fungieren?

b) Kommunikative Ambivalenz Eine weitere, der Globalisierung geschuldete Ambivalenz ist die kommunikative85. Die kommunikative Ambivalenz des Globalisierungsprozesses beruht darauf, dass der Einzelne heutzutage zwar aufgrund weltweit verdichteter Beziehungen über sehr viel mehr Kontakte und Informationen verfügt als früher86. Jedoch entspricht dieser Erweiterung des (durchaus auch politischen) Bewusstseins der Einzelnen nicht notwendig eine ebenso erweiterte politische Öffentlichkeit87. Denn die einzelnen Kommunikationsbeiträge verteilen sich räumlich und sachlich in eine unüberschaubare Vielzahl von Teil-Öffentlichkeiten. Zu einer diskursiven Verknüpfung dieser stark segmentierten Öffentlichkeiten kommt es dabei nicht ohne Weiteres. Vielfach fehlt es in der globalisierten Welt an der Rückkoppelung der Kommunikationsbeiträge an eine gemeinsame Lebenswelt88. Ohne diese Verständigungsbasis aber kann es nicht zu jenem unorganisiert-anonymen Ineinandergreifen von (Teil-)Diskursen und (Teil-)Öffentlichkeiten kommen, auf dem eine gebietsuniversale politische Öffentlichkeit beruht89. Stattdessen kann es zu scharfen Konflikten zwischen den segmentierten Öffentlichkeiten kommen, wie dies zuletzt im Fall des Karikaturenstreits zu beobachten war90. Auch diese kommunikative Ambivalenz des Globalisierungsprozesses hat nun Auswirkungen auf das Projekt einer europäischen Demokratie und muss daher von der europaspezifischen Demokratienorm verarbeitet werden. Denn wie jede funktionierende Demokratie setzt auch die europäische normativ eine politische Öffentlichkeit voraus: Dem Demokratiepostulat zufolge muss eine freie und gleich

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Dazu auch Held, Soziale Demokratie im globalen Zeitalter, 2007, S. 27 f. Wiesenthal (Fn. 61), S. 23 f.; Held (Fn. 62), S. 67 f.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 130.  87 Dazu etwa Habermas, Der europäische Nationalstaat – Zur Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 128 (146). 88 Zum Konzept der Lebenswelt Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1997, S. 182 ff.; siehe zusammenfassend auch Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, 2007, S. 13 f. 89 Zu diesem differenzierten Konzept von (demokratischer) Öffentlichkeit vgl. grundlegend Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 399 ff. 90 Stoll, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, DVBl. 2007, S. 1064 (1065).

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berechtigte Auseinandersetzung der diversen gesellschaftlichen Akteure faktisch möglich sein und tatsächlich Platz greifen, weil nur dann die im Prinzip der Volkssouveränität implizierte Zurechnungsregel reale Gestalt annehmen kann91. Ob eine solche politische Öffentlichkeit auf europäischer Ebene bereits vorhanden ist, wird freilich vielfach in Zweifel gezogen92. Es wird geltend gemacht, dass es jenseits des Nationalstaats an der für eine politische Öffentlichkeit konstitutiven Rückbindung an die Lebenswelt fehle. Dies mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Unleugbar ist jedenfalls, dass die ungeheuer rasche und vitale Expansion europaweiter Kommunikationen, wie sie sich spätestens seit der Einführung des Binnenmarkts beobachten lässt, noch längst nicht zu einer auch nur annähernd so dynamischen europäischen politischen Öffentlichkeit geführt hat93. Auch in dieser Hinsicht steht das Projekt einer europäischen Demokratie im Zeichen der für den Globalisierungsprozess symptomatischen Ambivalenzen und ist die Frage auf­ geworfen, wie diese demokratierechtlich zu handhaben sind.

c) Politische Ambivalenz Als ambivalent erweist sich der Globalisierungsprozess schließlich auch insoweit, als die Sphäre des Politischen berührt ist. Denn zum einen nimmt die Politik, die bislang maßgeblich den Staat fokussierte und infolgedessen auch durch die territorial sowie personal begrenzte Reichweite staatlicher Macht beschränkt war, selbst globalere Züge an und erschließt sich durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit neue Handlungsspielräume. Mittels zwischenstaatlicher Vereinbarungen oder auch supranationaler Einrichtungen werden Angelegenheiten, die bislang außerhalb der Gestaltungsmöglichkeiten eines einzelnen Staates lagen, politisch regelbar94. Zum anderen führt die Globalisierung aber auch vielfach und vielerorts zu einer Abdankung der Politik95. Denn die globalisierte Wirtschaft lässt sich mit den überkommenen Instrumenten nationalstaatlicher Politik nur noch sehr bedingt 91 Insofern durchaus zutreffend das Maastricht-Urteil des BVerfG (E 89, 155 [185]). „Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln (…) und aus dem heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt.“ 92 Paradigmatisch Grimm, Der Mangel an europäischer Demokratie, in: Der Spiegel vom 19.10.1992, S. 57 f. 93 Dazu etwa Augustin (Fn. 69), S. 142 ff. 94 Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 125 (142). 95 Dazu im Einzelnen v. Weizsäcker, Globalisierung, in: Hager (Hrsg.), Im Namen der Demokratie, 1997, S. 129 ff.; Hirsch, Die neue Weltordnung: Internationalisierung des Staates, in: Atzert / Müller (Hrsg.), Kritik der Weltordnung, 2003, S. 31 (34 ff.); Brunkhorst, Globale Solidarität, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S. 605 (621); Volkmann (Fn. 64), S. 576.

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in Zaum halten96. Zugleich folgen die internationalen Institutionen statt dem Primat des Politischen vielfach ökonomisch-technokratischen Vorgaben97 und sind daher nicht geeignet, den globalisierten Wirtschaftsraum für die Politik zurückzuerobern98. Diese politische Ambivalenz der Globalisierung lässt sich besonders deutlich an der europäischen Demokratieproblematik nachvollziehen99. Im Zuge des Globalisierungsprozesses machen nunmehr auch die größeren EU-Mitgliedstaaten eine Erfahrung, die kleinere Mitgliedstaaten schon längst gemacht haben, nämlich dass zwischenstaatliche Vereinbarungen und supranationale Einrichtungen den staat­ lichen Einfluss und mithin auch den des eigenen demos durchaus vergrößern können100. Die offenen Grenzen des Binnenmarkts etwa, an denen die Exportnation Deutschland ein vitales Interesse hat101, waren nur im Wege internationaler Politik erreichbar. Andererseits ist auch im europäischen Raum der tendenzielle Rückzug von Politik und mithin von Volks-Herrschaft unverkennbar102. Die nationalen Mitgliedstaaten können mit ihren Mitteln vielfach nicht mehr adäquat auf die in ständigem Wandel begriffenen Investitionsstrategien der globalisierten Wirtschaft reagieren103. Das auf europäischer Ebene errichtete institutionelle Regime erweist 96 Dazu etwa Hirsch (Fn.  95), S.  32; Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S.  75; Puntscher-Riekmann, Demokratie im supranationalen Raum, in: Antalovsky / Melchior / dies. (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, 69 (95 ff.); Callinicos, Socialism and Democracy, in: Held (Hrsg.), Prospects for Democracy, 1993, S.  200 (209 ff.); Buchstein / Jörke, Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 2003, S. 470 (479); auch Kupfer, Die Verteilung knapper Ressourcen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2005, S. 124; Scholz, Sozialstaat und Globalisierung, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 611 ff.; Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan 1996, S.339 (340); ders., Vom Nationalstaat zum transnationalen Politikregime, in: ders. / Prätorius (Hrsg.), Politische Steuerung und neue Staatlichkeit, 2003, S. 283 ff.; Scharpf, Die Problemlösungs­fähigkeit der Mehrebenenpolitik in Europa, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 121 (122 ff.); ders., Regieren in Europa, 1999, S. 43 ff. 97 Zu den ideologischen Prämissen dieses Rückzugs der Politik und des Staatlichen überblicksartig v. Weizsäcker / Young / Finger (Hrsg.), Grenzen der Privatisierung, 2006, S. 17 f. 98 Konturen einer repolitisierten transnationalen Zusammenarbeit zeichnet Hengsbach (Fn. 62), S. 149 ff. unter der ambitionierten Abschnittsüberschift „Demokratische Weltgesellschaft“. 99 Dazu auch Offe, Bewährungsproben, in: ders., Herausforderungen der Demokratie, 2003, S. 136 (147); ferner Dahl, A Democratic Dilemma, in: Political Science Quarterly 1994, S. 23 f. 100 Vgl. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 47 f.; Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, in: EuR 2003, S. 535 (570); dazu vertiefend auch Eppler, Auslaufmodell Staat?, 2005, S. 68 f. 101 Vgl. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (592); ders., Ist das Grundgesetz ein Hindernis auf dem Weg nach Europa?, in: JZ 1999, S. 637 (638); Albrecht, Kurswechsel für Europa, in: einblick vom 13.11.2006, S. 7. 102 Aufschlussreich Meyer, Soziale Demokratie und Globalisierung, 2002, S. 153 ff. 103 Vgl. Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 79 ff.; Müller (Fn. 96), S. 68; Grimm, Ohne Volk keine Verfassung, in: Die Zeit vom 18.03.1999, S. 4 (5); Schmidtke, Globalisierung, Demokratie und die Heiligsprechung des Nationalen, in: Scharenberg / ders. (Hrsg.), Das Ende der Politik?, 2003, S. 160 (162); Wahl, Internationalisierung des Staates, in: Bohnert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 193 (217).

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sich seinerseits als zu schwerfällig, um hierauf mit derselben Effektivität reagieren zu können, wie dies den demokratischen Nationalstaaten vor den großen Globalisierungsschüben etwa mittels keynesianischer Konjunkturpolitik zumindest ansatzweise gelungen war104. Zudem sind die europäischen Institutionen nicht immer in der Lage, politische Fragen auch politisch zu beantworten, weil sie den Vor­gaben der Gemeinschaftsverträge verpflichtet sind und im Übrigen auch schon funktionell-rechtlich gar kein genuin politisches Mandat besitzen. Die drohende Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die Globalisierung zu einer immer weitergehenden Aushöhlung der staatlichen Souveränität und damit auch der im Rahmen des nationalen Verfassungsstaats ausgeübten Volkssouveränität führt105, ohne dass dieser gravierende Verlust an staatlicher Steuerungs- und damit auch Demokratiefähigkeit auf europäischer Ebene hinreichend kompensiert würde106. Es besteht mit anderen Worten folgendes Dilemma: Einerseits büßen die politischen Zugriffsmöglichkeiten, die durch die von den souveränen Staatsvölkern in Geltung gehaltenen demokratischen Arrangements vermittelt werden, allmählich an Wirkungskraft ein; andererseits ist nicht absehbar, dass die gesamteuropäische Gesellschaft durch einen machtvollen Souveränitätsakt des europäischen demos in dem Sinne neu verfasst würde, dass die demokratische Allgemeinheit wieder zum wahrhaften Herrscher über sich selbst avanciert, folglich also (re-) politisiert wird107. Dies mag nun zwar diejenigen erfreuen, die mit dem Ende des (Volks-)Souveränitätsdogmas die Utopie eines Reichs ohne Herrscher verbinden und Europa prospektiv als Teil  einer Gesamtheit konkurrierender Institutionen teils öffentlich-rechtlicher, teils privatrechtlicher Provenienz begreifen, die den Einzelnen  – jeweils für bestimmte Bereiche  – einem in sich klaren und vorhersehbaren, bereichsadäquaten Regelwerk unterwerfen108. Mit dem demokra­tischen 104 Scharpf, Demokratische Politik in Europa, in: Grimm u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S. 65 (69 ff.); ders., Demokratie in der transnationalen Politik, in: Streek (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, S. 59; Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, in: Preuß / ders., Probleme einer Verfassung für Europa, 1995, S. 1 (8 ff.); vgl. auch Birnbaum (Fn. 61), S. 154 f. 105 Wie v. Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, in: Bauer / Huber / ders. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S.  225 (233 f.) eindrücklich schildert, lässt sich die Diagnose, dass die Globalisierung die bislang nationalstaatlich radizierte Demokratie bedroht, unter sehr unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln entwickeln – je nachdem, ob man die Globalisierung als hegemonialen Siegeszug des US-amerikanischen neo-liberalen Wirtschaftsmodells, als Folge einer kapitalistische Vereinnahmung der Nationalstaaten oder als sich eher spontan vollziehende Schwächung nationalstaatlicher Institutionen durch transnational operierende Akteure deutet. 106 Dazu etwa – mit den notwendigen Relativierungen – Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (265). 107 Vgl. Habermas, Der europäische Nationalstaat unter dem Druck der Globalisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg.), Der Sound des Sachzwangs, 2. Aufl. 2006, S. 148 (153). 108 In diese Richtung etwa auch Kokott (Fn. 75), S. 522 in ihrer Apologie des ‚neomedievalen Modells‘. Zur berechtigten Kritik an dieser Entwicklung Brunkhorst, Heterarchie und Demokratie, in: ders. / Niesen (Hrsg.), Festschrift für Maus, 1999, S. 373 (381 ff.).

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Konzept, das aus den bereits dargelegten Gründen auf der Volkssouveränität und mithin auch auf dem Souveränitätsdogma gründet109, lässt sich diese, vom Römischen Kaiserreich inspirierte110 und im Übrigen auch dem Alten Reich nahe stehende111, Vision indes nicht vereinbaren. Demokratierechtlich muss daher die dem Globalisierungsprozess inhärente Ambivalenz bewältigt werden, die darin besteht, dass eine globalisierte Politik ein Mehr an Handlungsspielräumen und mithin auch Volks-Souveränität bedeuten kann, dass der Globalisierung aber auch die Tendenz eignet, das Politische und damit die Demos-kratie massiv zurückzudrängen.

2. Begriffsstürmereien, Begriffskonservativismus und evolutionärer Begriffswandel Dem überaus dynamischen Globalisierungsprozess eignet die Tendenz, historisch gewachsene soziale Strukturen aufzusprengen. Insbesondere die soziale Institution Staat, wie sie sich in der Neuzeit herausgebildet hat, ist einem starken Wandel unterworfen112. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die traditionell sehr weitgehende Zentrierung des Soziallebens auf den Staat im Zuge des Globalisierungsprozesses immer stärker zurückgeht. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass es zunehmend schwerer fällt, die Realität des zeitgenössischen Staates auf den (ideen-)geschichtlich überkommenen Staatsbegriff zu bringen113. Für die Allgemeine Staatslehre wie für die Rechtswissenschaft erweist sich dies als überaus folgenreich. Denn in dem Maße, in dem der reale Staat seine ursprünglichen Konturen einbüßt und nicht mehr im ursprünglichen Sinne begriffen werden kann, müssen auch die traditionell an den Staatsbegriff anschließenden Begrifflichkeiten wie etwa Demokratie, Volkssouveränität und Souveränität zunehmend suspekt werden. Auf die Erosion der für sie zentralen Begriffe können Allgemeine Staatslehre und Rechtswissenschaft, idealtypisch betrachtet, auf dreierlei Art und Weise reagieren. Sie können erstens das bisherige begriffliche Instrumentarium seiner Obsoleszenz wegen aufgeben. Statt als Begriffsstürmerinnen können sie zweitens auch die Rolle von Konservatorinnen einnehmen, die die blass gewordenen Begriffskonturen durch einen frischen Farbanstrich zu altem Glanz erwecken. Schließlich besteht drittens die Möglichkeit, den Staat begrifflich als ‚offene‘ Gestalt, „durch die die Zeit hindurchgeht“114, als im Wandel der Geschichte stehende 109

Siehe oben Einleitung I. 5. c) = S. 66. Vgl. Guhénno, Das Ende der Demokratie, 1994, S. 86 f. 111 Dazu Evers, Supranationale Staatlichkeit am Beispiel der Europäischen Union, in: Leviathan 1994, S. 115 (121 ff.). 112 Eingehend dazu etwa Hirsch (Fn.  95), S.  33 ff.; auch Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 97 (122 ff.). 113 Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 10. 114 Heller (Fn. 2), S. 195. 110

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

Struktur115 zu fassen116 und in der Folge auch die daran traditionell anknüpfenden Termini wie etwa Gewaltenteilung, Sozialstaat oder eben Demokratie schöpferisch als sowohl auf die Wirklichkeit verweisende, als auch auf das Ideelle abzielende (entwicklungs-)offene Strukturbegriffe zu denken117. Die durch den Globalisierungsprozess wenn nicht ausgelöste, so doch zumindest erheblich beschleunigte Dekomposition des herkömmlichen Staatsbegriffs und der hieran anknüpfenden Begriffswelt lässt sich am Beispiel der europäischen Demokratie wie unter einem Brennglas beobachten. Denn nirgendwo auf der Welt ist der Auflösungsprozess des überkommenen neuzeitlichen Staates durch Supranationalisierung und Binnenmarkt so weit vorangetrieben worden wie im Rahmen der EU und speziell der EG118. Die Relevanz des hier in Angriff genommenen Themas ergibt sich daher nicht nur daraus, dass eine Beschäftigung hiermit Aufschluss darüber geben kann, inwieweit die Ambivalenzen des Globalisierungsprozesses demokratierechtlich zu bewältigen sind. Des Weiteren verspricht eine Auseinandersetzung mit den europaspezifischen Demokratieproblemen Hinweise darauf, ob das überkommene, am neuzeitlichen Staat orientierte Begriffsinstrumentarium von Allgemeiner Staatslehre und Rechtswissenschaft auch in Hinblick auf die von der Globalisierung erfassten zeitgenössischen Gemeinwesen verwendbar bleibt. Anhand der im Rahmen der EU / EG aufgeworfenen demokratierechtlichen Fragen lässt sich substanziiert darüber streiten, welche der drei eben beschriebenen idealtypischen Haltungen die Vertreter von Allgemeiner Staatslehre und Rechtswissenschaften einnehmen sollten, um adäquat auf die durch die Globalisierung bedingte Korrosion der traditionellen Begrifflichkeiten zu reagieren.

a) Begriffsstürmereien So ist speziell in Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess verschiedentlich die weitere Verwendbarkeit des überkommenen staatstheoretischen und rechtswissenschaftlichen Begriffsinstrumentariums in Zweifel gezogen worden119. 115

Heller (Fn. 2), S. 161. So der Tendenz nach etwa Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 446 ff. 117 In diese Richtung Heller (Fn.  4), S.  257, der zwar insofern noch von Typenbegriffen spricht, aber damit der Sache nach schon dem vorgreift, was er wenige Zeit später – in Auseinandersetzung mit dem Typenbegriff (vgl. Heller [Fn. 2], S. 157 f.) – dem Gestalt- und Strukturbegriff subsumieren wird (Heller [Fn. 2], S. 159 ff.). Ähnlich der Ansatz von Leibholz in seiner grundlegenden Schrift vom Strukturwandel der modernen Demokratie, in: ders., Struktur­ probleme der modernen Demokratie, 1974, S. 78 ff. Ferner v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, in: Staat 2001, S. 3 (9 ff.). 118 Siehe in diesem Zusammenhang auch Merkel, Legitimitätsüberlegungen zu einem unionsspezifischen Demokratiemodell, in: Giering u. a., Demokratie und Interessenausgleich in der Europäischen Union, 1999, S. 27. 119 Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung, in: Staat 1997, S. 189 (210); Schuppert, Anforderungen an eine europäische Verfassung, in: Klingemann / Neidhardt (Hrsg.), Zur Zukunft 116

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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In dieser Perspektive läge es nahe, die drei demokratierechtlichen Fragestellungen, die als Hauptprobleme des europäischen Demokratieprojekts diagnostiziert worden sind, ohne Rücksicht auf die von der Idee des modernen Staates geprägten Begrifflichkeiten anzugehen: Das bei der Konkretisierung der europäischen Demos-kratie zugrunde zu legende Volksverständnis müsste nicht mehr in Auseinandersetzung mit dem überkommenen Staatsvolk-Begriff gewonnen werden. Die Anforderungen an das Legitimationssystem der EU könnten frei vom staat­ lichen Vorbild entwickelt werden. Die Souveränitätsproblematik wäre schlichtweg obsolet. Dieser Ansatz krankt freilich daran, dass er zwar womöglich die Allgemeine Staatslehre von ihrem zunehmend bedeutungsloser werdenden Erkenntnisobjekt abzulösen und sie in eine allgemeine politikwissenschaftliche Theorie zu verwandeln hilft, die den sozialen Strukturen der globalisierten Welt mitunter gerechter werden mag als die altehrwürdige Staatslehre. Die Rechtswissenschaft freilich könnte nicht mit derselben Leichtigkeit aus dem Bezug zum Staat und seiner Begriffswelt herausgelöst werden. Denn soweit es sich bei den staatszentrierten Begriffen zugleich um normative Setzungen des Verfassungs-, Europa- oder Völkerrechts handelt, sind diese der Rechtswissenschaft voraus-gesetzt. Es hieße daher, auf die bereits mehrfach erwähnten, für die juristische Begriffsbildung so fruchtbaren Zubringerdienste der Allgemeinen Staatslehre zu verzichten, würde man ihre bislang staatsorientierte Begriffswelt grundlegend verändern und sie damit von der rechtswissenschaftlich vorauszusetzenden, nach wie vor staatsgeprägten Terminologie dissoziieren. Eine Allgemeine Staatslehre aber, die nicht mehr als Hilfswissenschaft gerade der juristischen Wissenschaft zu fungieren vermag120, wird zur Theorie um der Theorie willen121. Doch nicht nur diese Zusammenhänge streiten gegen die auf den ersten Blick so verheißungsvolle Generalrevision der staatstheoretischen und rechtswissenschaftlichen Begriffswelt. Hinzu kommt, dass das Unbehagen an den überkommenen, staatsbezogenen Begrifflichkeiten zwar groß ist, eine alternative Terminologie, die Relativität und Multidependenz zeitgenössischer Gemeinwesen reflektiert, aber noch längst nicht zu Gebote steht. Insofern spricht gleich zweierlei gegen den allzu schneidigen Ansatz, die überkommene staatstheoretischen und rechtswissenschaftlichen Begrifflichkeiten einfach hinter sich lassen zu wollen. Und daher knüpft auch diese Studie, wie bereits angedeutet, an die herkömmlichen Begriffskonzepte an und vertraut in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Hilfsfunktion der Allgemeinen Staatslehre.

der Demokratie, 2000, S. 237 (249); ders., Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 65 (76 f.). 120 Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 3 (25). 121 Heller (Fn. 2), S. 118.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

b) Begriffskonservativismus Ein solches Festhalten an den staatszentrierten Begrifflichkeiten trotz fortschreitender Globalisierung zeichnet auch die Rechtsprechung nicht nur des deutschen, sondern auch die anderer europäischer Verfassungsgerichte aus122. Dies ist an sich nicht weiter verwunderlich. Denn wenn, wie dies vielfach der Fall ist, bereits der Verfassungstext an Begriffe wie Staat, Nation und Souveränität anknüpft, so sind die Gerichte hieran rechtlich gebunden und können daher nicht einfach einen alternativen Begriffskosmos entwerfen, auch wenn dieser angesichts gewandelter Realitäten zweckmäßiger erscheinen mag. Bemerkenswert ist freilich, dass die Gerichte den genetischen Bezug, in dem die einschlägigen Begriffe zu der überkommenen Form und den ideellen Inhalten neuzeitlicher Staatlichkeit stehen, nicht bloß interpretativ berücksichtigen, sondern in der Begründung wie auch im Ergebnis ihrer Entscheidungen mit besonderem Nachdruck hervorkehren. In einer Epoche, in der die Globalisierung staatliche Strukturen vielfach durch- und zerbricht, bekennen sich die Verfassungsgerichte in einem für Rechtswahrer durchaus erwartbaren strukturkonservativen Reflex zu einem staatszentrierten, manche sagen auch etatistischen Verständnis zentraler Verfassungsbegriffe. Symptomatisch ist insofern nicht zuletzt der für das hiesige Thema so folgenreiche Ansatz der Gerichte, das demokratiezentrale Prinzip der Volkssouveränität auch in seiner europaspezifischen Dimension stärker als bisher von den bewährten Kollektiven ‚Nation‘ und ‚Staatsvolk‘ her zu deuten und dadurch interpretativ verstärkt an den historisch als erfolgreich qualifizierten Nationalstaat rückzukoppeln. So lassen sich dem Maastricht-Urteil des BVerfG beispielsweise starke, wenn auch keineswegs eindeutige Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Volk im Sinne des grundgesetzlichen Prinzips der Volkssouveränität nur das Staatsvolk sei123. Zum grundgesetzlichen Staatsvolk wiederum rechnet das BVerfG diejenigen, die zum exklusiven Kreis der ‚wahlberechtigten Deutschen‘ gehören124. Das sich bereits in den Urteilen zum Ausländerwahlrecht125 andeutende nationalstaatliche Demokratieverständnis scheint sich damit zumindest prima facie in der bundes­ verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verfestigt zu haben126. 122 Vgl. dazu inbesondere die Maastricht-Rechtsprechung des französischen Conseil Constitutionnel und des spanischen Tribunal Constitucional, hierzu überblicksweise Hofmann, Der Vertrag von Maastricht vor den Verfassungsgerichten Frankreichs und Spaniens, in: DäublerGmelin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mahrenholz, 1994, S. 943 (946 ff.); siehe auch unten Kapitel 3 II. = S. 162. 123 Siehe oben Kapitel 1 I. 4. = S. 96. 124 BVerfGE 89, 155 (187). 125 BVerfGE 83, 37 ff.; zustimmend etwa Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 221 ff.; ablehnend zum Beispiel Seibert, Kommunales Wahlrecht für Ausländer grundgesetzwidrig?, in: Däubler-Gmelin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mahrenholz, 1994, S. 657 ff. 126 Dagegen freilich Bryde, Demokratisches Europa und Europäische Demokratie, in: Gaitanides / Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S.  131 (132): „Schon das Maastricht-Urteil hütete sich, einem Teil der Lehre in das Verbot europäischer Demokratie als logischer Konsequenz der Ausländerwahlrechtsentscheidung zu folgen.“

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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Damit setzt das Gericht freilich einen deutlichen Kontrapunkt zur Demokratiekonzeption älterer Judikate. Dort nämlich wird die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes aus historisch naheliegenden Gründen nicht vom staatlich verfassten Volk, sondern von der Würde des Menschen127 und von der autonomen Selbstbestimmung der Gesellschaftsglieder her verstanden128. Auch in den älteren BVerfG-Entscheidungen zu den Europäischen Gemeinschaften sucht man vergebens nach Passagen, die das grundgesetzliche Demokratieprinzip auf das nationale Volk relativieren. Vielmehr zeichnet sich beispielsweise der SolangeI-Beschluss gerade dadurch aus, dass er die Verwirklichung von parlamentarischer Demokratie auf europäischer Ebene als potentiellen Beitrag zum Grundrechtsschutz würdigt und damit den unmittelbaren rechtlichen sowie funktionalen Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten herausstreicht129. Dieses lange Zeit unumstrittene menschenwürdefunktionale Grundverständnis von Demokratie ist auch nicht etwa durch die Demokratisierungsdebatte der siebziger Jahre erschüttert worden. Damals wurde von der herrschenden Meinung nicht der Zusammenhang zwischen Menschenwürde, individueller Autonomie und Demokratie schlechthin negiert; es wurde lediglich geltend gemacht, dass sich aus diesem Zusammenhang kein Anspruch auf eine umfängliche Demokratisierung der gesamten Gesellschaft herleiten lasse130. Erst seit der Diskussion um das kommunale Ausländerwahlrecht und dann vor allem in der Maastricht-Debatte ist das nationalstaatlich verfasste Volk zum Dreh- und Angelpunkt des gewendeten höchstrichterlichen Demokratieverständnisses131 geworden132. Diese tiefgreifende und folgenreiche Akzentverschiebung in der bundesver­ fassungsgerichtlichen Judikatur kann in den größeren Rahmen europäischer Verfassungsrechtsprechung eingeordnet werden, denn sie findet – zumindest vom Ansatz her – ihr Pendant in den Entscheidungen des Madrider Tribunal Constitucional und vor allem des Pariser Conseil Constitutionnel. Auch diese Verfassungsgerichte haben sich in jüngerer Zeit dem Zusammenhang von demokratiezentraler Volkssouveränität und Nationalitätsprinzip befasst133. In seiner Maastricht-Entscheidung 127

BVerfGE 5, 85 (204). BVerfGE 65, 1 (41). 129 Dagegen bezeichnenderweise die abweichende Meinung in BVerfGE 37, 271 (298). 130 Prototypisch insofern Hennis, Demokratisierung, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, 1973, 26 ff., der Demokratie als „durch ihre bei aller sonstigen Rangabstufung der Menschen tunlichste Gleichheit der freien Bürger in bezug auf ihre politischen Rechte“ definiert sieht (S.  38), die Demokratisierungsforderung der Achtundsechziger aber gleichwohl in der ihm eigenen polemischen Art zurückweist. 131 Zusammenfassend zu diesem Blanke, Antidemokratische Effekte der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie, in: KJ 1998, S. 452 (460). 132 So zutreffend Bryde, Wandlungen des Rechtssystems in der Einwanderungsgesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Das Recht und die Fremden, 1994, S. 7 (11). 133 Vgl. auch Jiménez-Blanco Carillo de Albornoz, Die verfassungsrechtlichen Auswirkungen des Vertrags über die Europäische Union in Spanien und Frankreich, in: Verw. 1995, S.  223 f. Dabei ist allerdings einzuräumen, dass dort insofern eine etwas andere Ausgangslage bestand, als sowohl die spanische als auch die französische Verfassung das Prinzip der 128

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

warf der Tribunal Constitucional die letztlich offen gelassene Frage auf, ob NichtSpanier an der Ausübung souveräner Staatsgewalt beteiligt werden dürfen134. Vor der entsprechenden Frage in Bezug auf die Beteiligung von Nicht-Franzosen an der souveraineté nationale stand auch der Conseil Constitutionnel in seinen beiden Maastricht-Entscheidungen. Er hat sie in der Maastricht-I-Entscheidung de consti­ tutione lata verneint135, in der Maastricht-II-Entscheidung Ausnahmen vom Prinzip der Nationalsouveränität indes für verfassungsmäßig erklärt, sofern sie vom verfassungsändernden Gesetzgeber vorgenommen werden136. Bereits zwei Jahre zuvor war der Conseil Constitutionnel mit dem Verfassungsproblem der Nationalsouveränität befasst gewesen. Auf die Normenkontrollklage von sechzig Abgeordneten hin hatte er damals Art. 1 des Korsika-Statuts der sozialistischen Regierung für verfassungswidrig erklärt, weil in diesem vom „peuple corse, composante du peuple français“ die Rede war und der Conseil darin unter anderem einen Verstoß gegen das Prinzip der Volks- und Nationalsouveränität erblickt hatte137.

c) Evolutionärer Begriffswandel Die skizzierte, bewusst und betont am herkömmlichen Staatsverständnis ansetzende Rekonstruktion des Begriffs der Volkssouveränität steht paradigmatisch für den in Allgemeiner Staatslehre und Rechtswissenschaft durchaus verbreiteten Ansatz, die durch den Globalisierungsprozess fragwürdig gewordene Begriffswelt des Nationalstaats wieder zu stabilisieren und zu konsolidieren138. Davon zu unterscheiden sind die dogmatischen Bemühungen derjenigen, die angesichts der realen Veränderungen einen allmählichen Begriffswandel für unvermeidbar halten, sich diesen aber nicht von einem regelrechten Umsturz des bestehenden Begriffssystems erwarten, sondern von begriffsimmanenten Neubestimmungen erhoffen139. Dass ein solcher evolutionärer Begriffswandel nicht ausgeschlossen ist, lässt sich

Nationalsouveränität ausdrücklich normieren (vgl. Art. 1 Abs. 2 span. Verf. und Art. 3 Abs. 1 frz. Verf.). 134 Tribunal Constitucional, EuGRZ 1993, S. 285 (288). 135 Conseil Constitutionnel, EuGRZ 1993, S. 189 (190). 136 Conseil Constitutionnel, EuGRZ 1993, S. 193 (194). 137 Vgl. hierzu auch vertiefend Marko, Autonomie und Integration, S. 243 ff. 138 Paradigmatisch Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, in: Schwab u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mikat, 1989, S. 705 ff. Treffend beschrieben wird diese Position von Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, in: AöR 2003, S. 512 (517 ff.). Kritisch Hummer, Vom Postulat „struktureller Kongruenz und Homogenität“ zum (vertikalen) Homogenitätsgebot des Art. 6 Abs. 1 EUV, in: Reinalter (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2002, S. 151 (152) sowie Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung, in: Staat 1997, S. 189 (197 f.). 139 In diesem Sinne etwa v. Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 1033 ff.; ders., Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 10; ders., Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, in: Staat 2001, S. 3 (10).

Kap. 1: Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratienormen

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wiederum an dem für diesen Beitrag so zentralen Volksverständnis veranschau­ lichen140. Denn die eben geschilderte Relativierung von Volk, Volkssouveränität und Demokratie auf das staatlich verfasste Volk stellt nur eine, wenn auch die derzeit sicherlich vorherrschende Tendenz innerhalb der demokratierechtlichen Debatte dar. Daneben gibt es auch verhaltene Anzeichen für alternative, weniger nationalstaatszentrierte Konzeptionen. So lassen etwa, um nochmals auf die völkerrechtliche Ebene zurückzukehren, die bereits erwähnten Resolutionen der Generalversammlung zum Prinzip regelmäßiger und unverfälschter Wahlen ein durch und durch menschenrechtsfunktionales Demokratiekonzept erkennen. In der Resolution 46/137 vom 17. Dezember 1991 zeigt sich die Generalversammlung überzeugt, „that periodic and genuine elections are a necessary and indispensable element of sustained efforts to protect the rights and interests of the governed and that, as a matter of practical experience, the right of everyone to take part in the government of his or her country is a crucial factor in the effective enjoyment by all of a range of human rights and fundamental freedoms …“141. Ein die holistische Einheit von Staat, Volk und Nation aufsprengendes Demokratieparadigma findet sich mitunter auch in der Judikatur der EU-Mitgliedstaaten. So hat der allerdings nur konsultativ wirkende Raad van State in Den Haag festgehalten, dass der Zusammenhang zwischen nationaler Staatsangehörigkeit, Unionsbürgerschaft sowie Bürgerrechten alles andere als selbstverständlich sei und im Übrigen im EGV auch gar nicht durchgehalten werde142. Der niederlän­ dische Staatsrat zeigt sich damit offen für eine evolutionäre Fortentwicklung der für Allgemeine Staatslehre und Rechtswissenschaften maßgeblichen, bislang ganz auf den neuzeitlichen Staat abstellenden Begriffswelt. Gerade am Beispiel der europäischen Integration als dem Paradefall der Globalisierung lässt sich insofern belegen, dass aus staatstheoretischer und rechtswissenschaftlicher Perspektive nicht nur die Alternative zwischen einer Totalrevision des überkommenen Begriffsarsenals und dem konservativen Bewahrenwollen existiert, wenn in Zeiten der Globalisierung politische Sachverhalte auf den (Struktur-) Begriff gebracht werden sollen. Vielmehr eignet dem in Allgemeiner Staatslehre und Rechtswissenschaft überkommenen Begriffsapparat ein nicht unbeachtliches Innovationspotential143. Insofern gibt es in der Tat jene dritte Möglichkeit, die darin besteht, das, was sich über Jahrhunderte an staatszentrierenden Begrifflichkeiten ausgebildet hat, an die neuen Herausforderungen anzupassen, ohne dabei die begriffsinhärenten Strukturgehalte beiseite zu schieben. Es ist daher nicht als Reminiszenz an die vergangene Wirklichkeit omnipotenter Staatlichkeit, sondern 140 Vgl. dazu – methodisch vergleichbar, im inhaltlichen Argumentationsgang aber verschieden – v. Bogdandy (Fn. 139), S. 1045 f. 141 Res. 46/137 vom 17.12.1991. 142 Raad van State, in: EuGRZ 1993, S. 512 (516). 143 v. Bogdandy (Fn. 139), S. 1042 f.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

als durchaus perspektivisches und folglich gegenwartsrelevantes Unterfangen gemeint, wenn im Folgenden die europäische Demokratieproblematik anhand von (Struktur-)Begriffen wie Volk, Hoheitslegitimation, Souveränität erörtert wird, deren Gehalt durch die überkommene Staatswirklichkeit geprägt ist144, und wenn zu diesem Zweck bewusst auf die Allgemeine Staatslehre als Hilfsmittel zur be­ grifflichen Rekonstruktion zurückgegriffen wird145.

III. Die (immer wieder) aktuelle Debatte um die Zukunft der EU Die Debatten um die Erneuerung, Reform und Fortentwicklung der EU ist so alt wie diese selbst146. Dabei tritt zunehmend die Frage nach der demokratischen Legitimität in den Vordergrund147. Dies kann nicht wirklich verwundern, ist gegenwärtig doch über ein Drittel der Unionsbürger mit der Funktionsweise der Demokratie auf Gemeinschaftsebene unzufrieden148. Zwar werden Umfrageergebnisse, die der europäischen Demokratie ein schlechtes Zeugnis ausstellen, bis zu einem gewissen Grade dadurch relativiert, dass die EU-Bürger mit ihren jeweiligen nationalen Demokratien mindestens ebenso unzufrieden sind149. Die Nationalstaaten indes sind allein schon ihrer geschichtlichen Verwurzelung wegen sehr viel konsolidierter als die EU150. Bei dieser wiegt die mangelnde demokratische Akzeptanz daher ungleich schwerer als bei ihren Mitgliedstaaten. Die grundlegende Frage nach einer demokratischen Organisation des europäischen Institutionengefüges stellt daher eine, wenn nicht die aktuelle Herausforderung an die EU dar. Daraus erwächst denn auch unmittelbar die Relevanz einer spezifisch rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den EU-spezifischen Demokratieanforderungen. Die Rechtswissenschaften benennen die juristisch unverzichtbaren Mindestanforderungen an ein demokratisches Europa und zeigen zugleich die demokratierechtlichen Grenzen des europäischen Projekts auf. Der Beitrag der Rechtswissenschaften zur unabdingbaren Debatte um die demokratische Gestalt Europas ist insofern ein notwendiger, wenn auch ganz gewiss kein hinreichender. 144

Vgl. v. Bogdandy (Fn. 117), S. 10. Dazu in staatswissenschaftlicher Perspektive auch Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit, in: VerwArch. 2007, 30 (44); vgl. des Weiteren Leibfried, Untertanenfabrik? Ach wo!, in: Die Zeit vom 16.05.2007, S. 12. 146 Vgl. dazu etwa den Abriss über die historische Entwicklung der EG bei Lemmens, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und die Integration der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 47 ff. 147 Zu der vor allem seit dem Maastrichter Vertrag einsetzenden Diskussion um die demokratische Legitimation der Europäischen Union vgl. nur Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 38 ff. 148 Vgl. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 65, 2007, S. 47. 149 Vgl. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 65, 2007, S. 44. 150 Vgl. auch Abromeit / Schmidt, Grenzprobleme der Demokratie, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 293 (315 f.). 145

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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Kapitel 2

B

Hermann Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption als Vorverständnis Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

Bei der juristischen Diskussion um die demokratische Qualität und Zukunftsfähigkeit der EU erweist es sich als ein kaum zu überschätzendes Problem, dass diese Debatte die Leidenschaften hochschlagen lässt. So ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass bei den ausgesprochenen Europabefürwortern, die die demokratische Legitimität der EU selbstverständlich bejahen, häufig die emotio die Oberhand über die ratio gewinne1. Dasselbe kann freilich auch von den EU-Skeptikern behauptet werden, die die Gemeinschaftsordnung als „Verfassung eines Europas der Führer“2 und die Gemeinschaften als „Einrichtungen des parteienstaatlichen Despotismus“3 verunglimpfen4. Dass das Thema „Demokratieprinzip und Europäische Union“ auch in juristischen Fachkreisen derart leidenschaftlich5 erörtert wird, hat eine zentrale Ursache: Die mit diesem Thema aufgeworfenen Probleme lassen sich durchweg nur unter Rückgriff auf juristische und politische Grundüberzeugungen beantworten. Im Mittelpunkt der Debatte steht das Prinzip der Volkssouveränität; daran knüpfen sich, wie dargelegt, Fragen nach dem Volksbegriff, nach der institutionellen Konturierung eines demokratischen Gemeinwesens, nach der Souveränität an. Wer hierzu Stellung nimmt, investiert notwendig sein juristisches und politisches Credo6. Es nimmt daher nicht wirklich Wunder, wenn juridische Stellungnahmen zur europäischen Demokratie von Passionen be-

1 Vgl. Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, in: ZRP 1993, S. 98 (103); Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden ?, in: NJW 1993, S. 38. 2 So ausdrücklich Schachtschneider / Fritsche-Emmerich / Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: JZ 1993, S. 751; ferner Schachtschneider, Die Euro­ päische Union und die Verfassung der Deutschen, in: APuZ 1993, B 28, S.  3 (7). In diese Richtung auch Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz, in: DVBl. 1993, 629 (635). Zum Ganzen Hölscheidt / Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, 1993, S.  99 sowie Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Verw. 1993, S. 449 (450 f.). 3 So ausdrücklich Schachtschneider (Fn. 2), S. 10. 4 Vgl. dazu auch Inescu, Zwischen Europaoffenheit und Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes, in: RuP 1994, S. 70 (71). 5 Siehe ferner Erberich, Ein Parlament ohne Stimme, in: Scherzberg / Pieper (Hrsg.), Deutschland im Binnenmarkt, 1994, S. 207 (208 f.) und Ipsen, Die europäische Integration in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Baur / Müller-Graff / Zuleeg (Hrsg.), Festschrift für Börner, 1992, S. 163 (171). 6 Dazu eindrücklich Rinken, Demokratie und Hierarchie, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 125 (140 ff.). Auch Oeter, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluß von der Wahlberechtigung, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 30 (31) sowie Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991, S. 30.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

stimmt werden. Denn diese entzünden sich immer dann, wenn es um persönliche Grundüberzeugungen geht7. Stehen juristische Auseinandersetzungen mit dem europäischen Demokratieprojekt somit ersichtlich unter dem machtvollen Eindruck und Einfluss vorrechtlicher Prämissen8, droht allenthalben der hermeneutische Zirkel des Vorverständnisses9. Dieser kann allenfalls durch Reflexion durchbrochen werden10. „Die wahre Objektivität kann der Jurist nur dadurch erreichen, dass er sich seine eigenen Wertungen bewusst macht, niemals aber damit, dass er sich und andere glauben macht, seine Forschungen seien völlig voraussetzungslos“11, schreibt Hermann Heller in seiner umstrittenen12 Schrift über die Souveränität13. Überlegungen zum Vorverständnis eines juristischen Beitrags sind nun freilich ebenso unüblich wie solche zu seiner Relevanz14. Unüblich heißt aber auch in diesem Fall nicht unerheblich 7 Eine enge Verwebung von rechtlicher und politischer Argumentation im Rahmen der Diskussion um die europäische Integration konstatiert auch Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht, in: DÖV 1993, 412 (415). 8 In diesem Sinne auch Oeter, Föderalismus, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S.  59 (93 f.): „Die Antwort auf die Frage nach der Vermittlung demokratischer Legitimation hängt (…) vom Vorverständnis (…) ab.“ Haverkate, Diskussionsbeitrag, in: Hommelhoff / Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 155 f. kritisiert am Maastricht-Urteil, dass es seine Vorüberlegungen zur – auch aus demokratischer Sicht – richtigen Gestalt des europäischen Integrationsverbundes nicht offengelegt habe. 9 Vgl. Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie?, 1978, S. 13 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 62 f.; auch Keßler, Die Koalitionsfreiheit als Funktionselement der Eigentumsgarantie, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 182 (184 ff.). 10 Zum hermeneutischen Zirkel des Vorverständnisses und dem damit korrespondierenden Postulat der Reflexion vgl. nur Alexy, Juristische Interpretation, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1990, S. 71 (75 f.). Dazu auch Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 178 f. sowie v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 9. 11 Heller, Die Souveränität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  2, 2. Aufl. 1992, S.  31 (199). In diesem Sinne auch ders., Rechtsstaat oder Diktatur, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 443 (450). 12 Dazu nur Schneider, Positivismus, Nation und Souveränität, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, S. 176 (190 ff.). 13 Wenn Hermann Heller, wiewohl er in bestimmten theoretischen Fragen Carl Schmitt durchaus nahe stand, letztlich doch auch wissenschaftliche Distanz zum nachmaligen „Kronjuristen des Dritten Reichs“ (Wesel, Geschichte des Rechts, 1997, Rn. 299) gehalten hat, so ist dies nach Auffassung von Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, in: AöR 1977, S. 161 (206) nicht nur auf die grundverschiedene politische Verortung der beiden Staatsrechtslehrer zurückzuführen. Ursächlich hierfür sei ferner, dass Schmitt sein speziell der ‚Verfassungslehre‘ zu Grunde liegendes Vorverständnis nicht offengelgt habe, was auch zu Weimarer Zeiten schon als argumentative Unredlichkeit angesehen wurde. 14 Dazu Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, 1996, S.  5: „Juristen neigen dazu, solche über- und außerpositiven Zusatzkriterien zu verbergen. Sie gestehen sich die Bedeutung dieser Faktoren nicht gerne ein, sondern ziehen es vor, den Anschein zu erwecken, es gäbe nur eine ‚richtige‘ Entscheidung oder eine dem Recht immanente ‚Wahrheit‘“. Vgl. allerdings  – als vereinzelte Gegenbeispiele  – auch Isensee, Staat und Verfassung, in: Kirchhof

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und schon gar nicht überflüssig. Denn mit der Offenlegung des Vorverständnisses wird nicht nur das maßgebliche Erkenntnisinteresse15 apparent, sondern kann wiederum eine Verständigung insbesondere über die außerjuristischen Wertungsvoraussetzungen des zwingend hieran anknüpfenden juristischen Diskurses initiiert werden16. Zu den vorrechtlichen, wertungsmäßigen Voraussetzungen dieser Studie gehört nun zweifelsohne das Werk Hermann Hellers. In der Tat sind die der Studie vorausliegenden Grundpositionen in deutlicher Anlehnung und Auseinandersetzung mit den Ideen dieses herausragenden17, frühvollendeten18 Weimarer Staatsrechtslehrers19 entwickelt worden. Dies war und ist alles andere als fernliegend. Denn zum einen hat das aus den erwähnten Gründen20 für den Integrationsfortgang so bedeutsame BVerfG in seinem Maastricht-Urteil selbst auf Hermann Heller als Gewährsmann zurückgegriffen21. Schon aus diesem Grund drängte es sich auf, die Problematik einer europäischen Demokratie auch anhand von Hellers Konzep­ tionen auszuleuchten. Zum anderen und vor allem aber greift Hellers Werk in bewundernswerter Klarheit all jene Fragestellungen auf, die sich in der juristischen (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  2, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn.  30, Menzel, Legitimation staatlicher Herrschaft durch Partizipation Dritter?, 1980, S.  216 sowie Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, S.  145 f. Zur Offenlegung des demokratietheoretischen Konzepts im Rahmen der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Europäischen Union vgl. Greven, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 249 (254). 15 Dazu etwa Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 25 I; aber auch Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 1 II. 2.  16 In diesem Sinne fordert v. Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, in: Bauer / Huber / ders. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 225 (226) in verwandtem Zusammenhang, dass „weitere Forschungen … um Transparenz und Ausformulierung hinsichtlich der jeweiligen argumentativen Prämissen bemüht sein“ sollten. Vgl. hierzu auch Schnapp, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 5. 17 Fiedler, Materieller Rechtsstaat und soziale Homogenität, in: JZ 1984, S. 201 zufolge ist Hermann Heller „in einem Atemzug mit Hans Kelsen, Rudolf Smend und Carl Schmitt zu nennen“. 18 So Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 19. 19 Zu seiner Biographie vgl. Schluchter, Hermann Heller, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, S. 24 ff.; Dehnhard, Dimensionen staatlichen Handelns, 1996, S. 22 ff.; Meyer, Hermann Heller, in: PVS 1967, S. 293 ff.; Fiedler, Die Wirklichkeit des Staates als menschliche Wirksamkeit, in: Abermeier u. a. (Hrsg.), Oberschlesisches Jahrbuch, Band 2, 1995, S. 149 ff.; Kühne, Rechts- und Staatslehre als Wirklichkeitswissenschaft, in: ÖJZ 1977, S.  253 ff.; Müller, Hermann Heller, in: Heller, Gesammelte Schriftem, Bd.  3, 2. Aufl. 1992, S. 429 ff.; Maste, Hermann Heller und seine Staatslehre, in: NG 1972, S. 533 ff.; Robbers, Hermann Heller, 1983, S.  11 ff. Vgl. auch das Zeugnis von Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, S.  158 f. (zur Freundschaft zwischen Heller und Schmid siehe Weber, Carlo Schmid, 1998, S. 60 f., 68, 75, 260 und 272). 20 Siehe oben Kapitel 1 = S. 88. 21 BVerfGE 89, 155 (186).

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Auseinandersetzung mit der demokratischen Legitimität der EU auftun22. Insbesondere aus diesem zweiten Grund haben die Schriften Hellers hier starke Berücksichtigung gefunden23. Es wird sich freilich zeigen, dass Heller in ganz unterschiedlicher Weise rezipiert worden ist. Dadurch gerät die eigene Heller-Lektüre zwangsläufig unter erheblichen Rechtfertigungsdruck. Sowohl die Kritik alterna­ tiver Lesarten wie auch die Darlegung der eigenen Interpretation bedürfen in­sofern sorgsamer Begründung.

I. Hermann Heller im Maastricht-Urteil des BVerfG Die Inanspruchnahme Hellers durch das BVerfG erweist sich bei näherer Betrachtung als überaus problematisch24. Das BVerfG beruft sich auf den Weimarer Staatsrechtslehrer in Zusammenhang mit seiner bereits erwähnten These, dass dem Deutschen Bundestag – zumindest gegenwärtig – Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben müssten. Diese These begründen die Karls­ ruher Richter im Einzelnen damit, dass „jedes der Staatsvölker (…) Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt“ sei und dass die Staaten „hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder“ bedürften, „auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es – relativ homogen – geistig, sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck zu geben“25. Speziell für die Passage, in der es um den relativ homogenen Verbund des Staatsvolks geht, verweist das BVerfG nun auf Hermann Hellers berühmte Ab-



22 Zur grundsätzlichen Aktualität von Hellers Ansätzen vgl. Maus, Hermann Heller und die Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S. 194 ff.; López Pina, Wiederbegegnung mit Hermann Heller, in: Müller / Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, S.  153 (182); Fiedler (Fn.  19), S.  167; ders. (Fn.  17) S.  202. Vgl. auch Buchstein, Von Max Adler zu Ernst Fraenkel, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 534 (567): „Von den sozialdemokratischen Autoren der Weimarer Republik hat Hermann Heller den wichtigsten Beitrag zur Ausformulierung einer pluralistischen Staats- und Demokratietheorie geleistet.“; ferner Penski, Staat als soziale Demokratie, in: Heimann / Meyer, Reformsozialismus und Sozialdemokratie, 1982, S.  167 (184 f.); Maste (Fn.  19), S.  536; Müller (Fn.  19), S. 475 f. 23 Demgegenüber bleibt Kotzur, Die Demokratiedebatte in der deutschen Verfassungsrechtslehre, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 351 (354) skeptisch, ob es tatsächlich zielführend ist, sich der Demokratiedebatte über die Klassiker der Weimarer Staatsrechtslehre zu nähern. 24 So auch Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, in: EuR 1994, S. 1 (17); Wallrabenstein (Fn.  14), S.  135: „irreführend“; Steinberger, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgericht, in: Hommelhoff / Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11 (28): „ambivalent“. 25 BVerfGE 89, 155 (186).  – Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (368) kritisiert diese Sichtweise als „Zerrbild der Demokratie“.

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handlung über ‚Politische Demokratie und soziale Homogenität‘26. Dieses Zitat erweist sich nicht nur in der Sache als verfehlt27. Es ist auch zutiefst anstößig. Denn Hermann Heller wird dadurch in die Nähe einer demokratierechtlichen Konzeption gerückt, die nicht nur nicht die seine ist, sondern die seines – erst nur wissenschaftlichen28, dann politischen und schließlich existenziellen29 – Gegners.

1. Die offensichtliche und unüberbrückte Distanz der bundesverfassungsgerichtlichen Demokratiekonzeption zur Hellerschen Homogenitäts-Schrift Die vom BVerfG angeführte Abhandlung fußt auf einem Vortrag, den Hermann Heller 1927 an der Hochschule für Politik in Berlin gehalten hat30. Dieser Beitrag erweist sich im historischen Rückblick als geradezu prophetisch. Heller entlarvt den in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre kurzfristig eingetretenen Zustand „der augenblicklichen politischen Beruhigung“31 ahnungsvoll als trügerischen Schein der Normalität, hinter dem sich der Weg in die Katastrophe auftut32. Aber auch in anderer Hinsicht stellt Heller seine Klarsicht unter Beweis, wenn er sich in seinem demokratietheoretischen Beitrag kritisch und im Ergebnis ablehnend mit dem nachmaligen ‚Staatsdenker‘33 und ‚Kronjuristen‘34 des Hitlerreichs, mit Carl Schmitt auseinandersetzt. Schon gleich zu Beginn seines Vortrags kommt Heller auf Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung zu sprechen35, die im Schmittschen Œuvre als Grundkategorie des Politischen fungiert und mithin auch

26 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 421 ff. Zu Hellers Homogenitätstheorie – deskriptiv – zum Beispiel ­Dyzenhaus, Legality und Legitimacy, 1997, S. 186 ff. oder Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Demokratie, 1968, S. 412 ff. sowie – kritisch – Blau, Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Republik, 1980, S. 97 ff. 27 Einen Überblick über die Schrifttumskritik an dem Heller-Zitat des BVerfG bietet Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 114. 28 Müller (Fn. 19), S. 439 zufolge ist Heller im Kontext der Weimarer Staatslehre der „eigentliche Antipode Carl Schmitts“. 29 Zu Schmitts Antisemitismus: Müller, Furchtbare Juristen, 1989, S. 51 f.; auch Mehring, Carl Schmitt, 1992, S. 62 f.; Graf Ballestrem, Carl Schmitt und der Nationalsozialismus, in: Gabriel u. a. (Hrsg.), Festschrift für Buchheim, 1992, S. 115 (126 f.); ferner Dyzenhaus (Fn. 26), S. 98 ff. 30 Vgl. zu diesem Vortrag auch Pasquino, Politische Einheit, Demokratie und Pluralismus, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S. 114 (120 ff.). 31 Heller (Fn. 26), S. 429. 32 Vgl. dazu die gleichnamigen Grundlagenwerke von Winkler, Der Schein der Normalität, 2. Aufl. 1988 und ders., Der Weg in die Katastrophe, 1987. 33 Müller (Fn. 29), S. 20 und 50 ff. 34 Mehring (Fn.  29), S.  103 und 143; gegen diese Titulierung Graf Ballestrem (Fn.  29), S. 115. 35 Heller (Fn. 26), S. 424 f.; dazu auch Fiedler (Fn. 17), S. 206.

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dessen identitäres Demokratieverständnis prägt36. Carl Schmitt zufolge setzt Demokratie „im Ganzen und in jeder Einzelheit ihrer politischen Existenz ein in sich gleichartiges Volk voraus, das den Willen zur politischen Existenz hat“37; nach außen äußert sich Demokratie nach insoweit nur folgerichtiger Ansicht Schmitts in der „Ablehnung aller politischen Einflüsse und Einwirkungen, die nicht der substanziellen Homogenität des eigenen Volkes entspringen“38. Heller freilich weist scharfsinnig auf das Hauptproblem dieser Auffassung hin39: „Gar nicht gesehen ist von Carl Schmitt die Sphäre der innerstaatlichen Einheitsbildung als Politik“40. Denselben Vorwurf könnte Heller an die Adresse des BVerfG richten. Schließlich behauptet das BVerfG in der hier in Rede stehenden Passage ebenfalls, dass das Staatsvolk eine hinreichende Fülle von Staatsgewalt gerade deshalb be­nötige, um das, was seine relative Homogenität ausmache, manifestieren zu können. Obzwar sich das BVerfG auf Heller beruft, liegt das statisch-identitäre Demokratieverständnis des Gerichts quer zu dessen Auffassung von einem dynamisch-pluralistischen Prozess demokratischer Einheitsbildung41. Diesen charakterisiert Heller bezeichnenderweise unter Rückgriff auf Ernest Renans berühmte Formulierung42 als „un plébiscite de tous les jours“43. Im Prozess der politischen Willensbildung wird Heller zufolge nicht das von vornherein geistig, sozial und politisch Verbindende lediglich rechtlich zum Ausdruck gebracht, wie das BVerfG es formuliert. Vielmehr bildet sich das durch konfligierende Interessen und gesellschaftliche Antagonismen44 geprägte Volk als eine Vielheit

36 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S.  227; vgl. dazu auch Rüthers, Carl Schmitt als politischer Denker des 20. Jahrhunderts, in: ZRPh 2002, 63 (65 f.), Mehring (Fn. 29), S. 80 sowie Bäumlin, Artikel ‚Demokratie‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 458 (462). 37 Schmitt (Fn. 36), S. 235. 38 Schmitt (Fn. 36), S. 238. Zu Schmitts Verständnis von der Demokratie als Ausdruck substanzieller Homogenität vgl. eingehend Vesting, Politische Einheitsbildung und technische Realisation, 1990, S. 47 ff. sowie Graf Ballestrem (Fn. 29), S. 121 ff. 39 Eine vertiefte Kritik des Schmitschen Freund-Feind-Schemas liefert Heller später noch in seiner Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 314. 40 Heller (Fn. 26), 425. Dazu auch Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, in: Leviathan 2003, S. 362 (379), Mori, Die staatliche Willensbildung in der differenzierten Gesellschaft, in: ARSP 2000, S. 185 (188), Fiedler (Fn. 19), S. 161 sowie Pasquino (Fn. 30), S. 121. 41 Siehe dazu auch in Hellerscher Tradition und Nachfolge Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, 1954, S. 23. 42 Renan, Qu’est-ce qu’une Nation?, in: Forest, Qu’est-ce qu’une Nation?, 1991, S. 31 (41); dazu Euchner, Vom Recht der Nation, in: Die Zeit vom 15.04.1994, S. 82. 43 Heller (Fn.  26), S.  426. Dazu auch Murswiek, Parlament, Kunst und Demokratie, in: Dörr u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schiedermair, 2001, S. 211 (229); Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 125 (133 f.); Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1991, S. 9. 44 Dazu auch Fiedler (Fn. 19), S. 162.

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erst im Verlauf des politischen Prozesses zur politischen „Wirkungs- und Ent­ scheidungseinheit“45 um46. Schon insoweit erweist sich der Rekurs der Karlsruher Richter auf Hermann Hellers Homogenitätsschrift als im Kern verfehlt47. Diese Einschätzung bestätigt sich, wenn man in der Lektüre von Hellers Vortrag fortfährt48. Demokratie und Volkssouveränität begreift Heller im Unterschied zu Carl Schmitt und dem BVerfG nicht als politisch existenzielle Reproduktion der (relativ) homogenen Volkseinheit, sondern – sehr viel nüchterner – als eine wesentlich juristische Rückbindung der Herrschenden an das gewaltunterworfene Volk als dem Legitimationssubjekt49. Wer zum legitimierenden Volk gehört steht dabei nicht a priori fest; denn die Frage, „wer zum herrschenden Volke gehören soll (…), ist historischen Wandlungen unterworfen“50. Vor diesem spezifischen demokratietheoretischen Hintergrund entfaltet Heller in der Folge seine Konzeption sozialer Homogenität51, auf die sich das BVerfG explizit bezieht. Soziale Homogenität ist bei Heller „immer ein sozialpsychologischer Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen durch ein Wirbewußtsein und -gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen“52. Heller hütet sich in diesem Zusammenhang zwar davor, die Fundamente dieses we-feeling monokausal zu erklären53. So würdigt er beispielsweise auch die „nationale Kulturgemeinschaft in ihrer staatsbildenden Kraft“54. Doch macht er zugleich deutlich, dass der vom BVerfG an erster Stelle genannte Aspekt geistiger Homogenität eher das einheitsstiftende Bindemittel vergangener Epochen gewesen ist, heutzutage stattdessen

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Heller (Fn. 26), S. 427. Vgl. in diesem Sinne auch Fraenkels Konzept der ‚dialektischen Demokratie‘ (Um die Verfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1999, S. 496 [501 ff.]). 47 Ebenfalls kritisch, wenn auch zurückhaltender in der Formulierung Schneider, EU als Staaten­verbund oder als multinationale ‚Civitas Europae‘, in: Randelzhofer / Scholz / Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Grabitz, 1995, S.  171 (712 f.). Ferner Bryde, Die bundes­ republikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWiss 1994, S. 305 (311) sowie ders., Demokratisches Europa und Europäische Demokratie, in: Gaitanides /  Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 131 (136 mit Fn. 22). Siehe auch Joerges, Das Recht im Prozeß der europäischen Integration, in: Jachtenfuchs /  Kohler-Koch, Europäische Integration, 1996, S. 73 (86): „Der Homogenitätsappell des BVerfG ist nicht durch die Krisenlage der Weimarer Republik motiviert und weckt deshalb andere Konnotationen.“ 48 Dazu auch v. Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, in: JZ 2004, S. 53, dort. Fn. 5. 49 Heller (Fn. 26), S. 426 50 Heller (Fn. 26), S. 426 f.; vgl. hierzu auch Stein / Frank (Fn. 15), § 8 I. 51 Dazu etwa Buchstein (Fn.  22), S.  568 ff.; Penski (Fn.  22), S, 175 ff.; Mori (Fn.  230), S. 192 ff.; auch Vesting (Fn. 38), S. 78 ff. 52 Vgl. Heller (Fn. 26), S. 428 53 Heller (Fn. 26), S. 428. 54 Heller (Fn. 26), S. 432.

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die Überwindung sozialer Disparitäten im Vordergrund des Homogenitätspostulats steht55: Die soziale Homogenität im Sinne relativer ökonomischer Gleichheit56 ist nach Auffassung Hellers in der Welt von heute die primäre Voraussetzung einer funktionierenden politischen Demokratie57. Demgegenüber erweist sich nach Hellers Auffassung gerade die nationale Idee zunehmend als unzureichend, „die demo­kratische Einheitsbildung zu legitimieren“58. Er wirft sogar die Frage auf59, „ob der heutige Nationalstaat der Selbsterhaltung der Nation besser dient, als ein europäischer Bundesstaat“60.



55 Heller (Fn.  26), S.  429 ff. Vgl. hierzu allerdings auch die Kritik von Hennig, Nationalismus, Sozialismus und ‚Form aus Leben‘, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S.  100 ff. am Homogenitätsbegriff Hermann Hellers. Hennig ist der Ansicht, dass Hellers Homogenitätsverständnis unklar erscheine (ebd., S.  107), es dem immateriellen Aspekt der politischen Einheitsbildung zu großes Gewicht beimesse (ebd., S. 108) und insgesamt von Hellers „Wunschvorstellung des Klassenkompromisses“ (ebd., S. 109) geprägt sei. Diese Kritik ist indes nicht stichhaltig. Heller macht an zahlreichen Stellen seines Vortrags unzweideutig klar, dass der Ursprung sozialer Heterogenität „die unsere Demokratie gefährdende soziale Disparität“ ist (Heller [Fn. 26], S. 432; vgl. in diesem Sinne auch Meyer, in: ders., Theorie der Sozialen Demokratie, 2005, S. 54). Ferner übersieht Hennig in seiner insofern unkritischen Kritik, an wen sich Heller in diesem Vortrag wendet. Adressaten sind die ‚Herrschenden und ihr Anhang‘ (vgl. Heller [Fn. 26], S. 431), also das Bürgertum, das ­Heller von der Notwendigkeit eines Klassenkompromisses überzeugen will, um so die Weimarer Demokratie zu retten (hierzu auch Luthardt, Sozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, 1986, S. 42). Dass dieser Versuch 1927 von vornherein vergebens war, wird man angesichts der politischen, ökonomischen und sozialen Lage während der „goldenen Jahre“ der Republik kaum behaupten können (dazu auch Winkler, Schein der Normalität [Fn. 55], S. 821 f.) 56 Heller (Fn.  26), S.  429 ff.; vgl. vertiefend auch Waser, Nationaler Kultursozialismus oder Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, in: Müller / Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, S. 521 (536 ff.); ferner Albrecht Das Treffen auf Newfoundland, in: ders. / Goldschmidt / Stuby (Hrsg.), Die Welt zwischen Recht und Gewalt, 2003, S. 279 (285 ff.). 57 In diesem Sinne auch Kirchheimer, Weimar – und was dann?, in: ders., Politik und Verfassung, 1964, S. 9 (17 f.); Fraenkel (Fn. 46), S. 501 ff. Treffende Würdigungen von Hellers Homogenitätsbegriff finden sich bei Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, 2005, S. 112 ff., Meyer, in: ders., Theorie der Sozialen Demokratie, 2005, S. 53 ff. und Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, in: AöR 1995, S. 100 (104 f.). 58 Heller (Fn. 26), S. 433. Pasquino (Fn. 30), S. 123 hebt diesen Aspekt hervor und sieht hierin eine klare Stellungnahme gegen Carl Schmitt. Zur Einordnung dieses gedanklichen Ansatzes in den sozialdemokratischen Intellektuellendiskurs der Weimarer Zeit: Winkler, Schein der Normalität (Fn. 32), S. 821 f. 59 Dies betont auch Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S.1121 (1125). 60 Heller (Fn. 26), S. 433. Darauf weisen auch Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 11 (18), Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995. S. 1313 (1325) sowie Schefold, Gesellschaftliche und staatliche Demokratietheorie, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S.  256 (284 f.) hin. Zur Europaidee ­Hellers eingehend Robbers (Fn.  19), S.  97 ff. und  – das Europabekenntnis Hellers relativierend – F ­ iedler (Fn. 19), S. 164 f.

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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Schon früher hat Heller in seiner Schrift ‚Sozialismus und Nation‘, auf die er sich in seinem Homogenitäts-Beitrag ausdrücklich bezieht, dargelegt, dass die Diskrepanz zwischen den nationalstaatlich fragmentierten Wirtschaftspolitiken und dem transnational operierenden Kapital eine Machtlosigkeit des Staates erzeugt, die die Herstellung sozialer Gerechtigkeit hindert und durch eine über­nationale Staatsorganisation überwunden werden sollte61. Es zeigt sich, dass ­Heller nicht nur den Homogenitätsgedanken tendenziell anders akzentuiert, als das BVerfG es ihm zu unterstellen scheint62. Darüber hinaus zieht er auch ersichtlich andere Folgerungen aus dem Homogenitätspostulat. Während nämlich das BVerfG eine Fülle von Staatsgewalt verlangt, damit das Volk seiner relativ homogenen Identität rechtlich Ausdruck verleihen kann, geht Heller offensichtlich davon aus, dass die für die politische Demokratie konstitutive soziale, aber auch die nationale Homogenität wohl nur noch im europäischen Rahmen gewahrt werden kann63.

2. Carl Schmitt als eigentlicher Gewährsmann des BVerfG Nicht auf Hermann Heller, sondern auf Carl Schmitt hätte das BVerfG seine Vorstellung stützen sollen64, wonach Demokratie in der vom Volk rechtsförmig artikulierten Selbstbestätigung der eigenen Homogenität besteht65. In seiner Verfassungslehre hat Carl Schmitt bekanntlich die These vertreten, dass „alles demokratische Denken (…) sich mit klarer Notwendigkeit in Immanenzvorstellungen“ bewege66. Dabei meint Immanenzvorstellung bei Carl Schmitt anders als bei Hermann Heller67 nicht die Ablösung des mittelalterlichen durch das säkulare 61 Heller, Sozialismus und Nation, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, 437 (517 f.). 62 Vgl. dazu auch Pernice (Fn. 2), S. 103 ff. 63 Robbers (Fn. 19), S. 97 erklärt Heller nicht zu Unrecht „zu einem frühen Verfechter der europäischen Idee“. Siehe hierzu auch Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 310 mit Fn. 40. 64 Vgl. Zuleeg (Fn.  60), S.  17 f.; ders., in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.),  EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 1 EGV Rn. 8; Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung, in: Staat 1997, S. 189 (206); van Ooyen, Demokratische Partizipation statt „Integration“, in: ZfPol 2003, S 601 (617). Demgegenüber sieht sich Steinberger (Fn. 24), S. 29 an „Hegel’sche Philosophismen vom Staat“ erinnert. 65 Erhellend zum Homogenitätsbegriff Carl Schmitts auch Fisahn, Demokratie in Europa – ein Volk oder das Volk, in: Bovenschulte u. a. (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 2001, S. 131 (138 f.). Zum Unterschied zwischen Hellers und Schmitts Homogenitätsverständnis vgl. auch Pasquino (Fn. 30), S. 114 ff. und Kotzur (Fn. 23), S. 359. Zutreffend weist Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982, S. 133 darauf hin, dass die Nähe von Hellers Homogenitätskonzeption zu Carl Schmitt „rein terminologisch“ ist. 66 Schmitt (Fn.  36), S.  237; zur Demokratielehre Schmitts erhellend Rödel / Frankenberg /  Dubiel, Die demokratische Frage,1989, S. 138 ff. sowie Schluchter, Entscheidung für den so­ zialen Rechtsstaat, 2. Aufl. 1983, S. 237 ff. 67 Vgl. zum Beispiel Heller (Fn. 39), S. 393 f.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

Weltbild. Sie bedeutet in erster Linie Selbstrefentialität, Autopoiese des demos68: Als demokratisch anerkennt Schmitt lediglich Emanationen „aus dem homogenen Sein eines Volkes“69, als Quell demokratischer Legitimation kann er nur die „substanzielle Homogenität des eigenen Volkes“70 begreifen71. Diese Schmittsche Vorstellung liegt, wie bereits angedeutet72, auch der Argumentation des BVerfG zugrunde, wonach es der material-substanzialistisch aufgeladenen Staatsouveränität bedarf, damit sich das Kollektiv ‚Volk‘ selbstbezüglich reproduzieren und damit den demokratischen Gedanken verwirklicht kann73. Das BVerfG geht davon aus, dass im demokratischen Prozess dem rechtlich Ausdruck verliehen werde, was das Volk verbindet74, und setzt damit implizit voraus, „daß kraft der gleichen Zugehörigkeit zum gleichen Volk alle in gleicher Weise im Wesentlichen dasselbe wollen“75. Dass das BVerfG lediglich von relativer Homogenität des Volks spricht, stellt sich vor diesem Hintergrund als eher halb­ herziger Versuch dar, sich von Diktion und Denken Carl Schmitts abzusetzen76. Die geistige Verbundenheit des BVerfG-Judikats mit Carl Schmitts Demokratietheorie wird dadurch eher bestätigt als widerlegt. Dass das BVerfG seinen der Sache nach an Carl Schmitt anknüpfenden Ansatz77 mit einem Heller-Zitat zu belegen sucht, lässt sich aus dem angestrengten Bemühen des Gerichts, einen politisch unkorrekten Verweis tunlichst zu vermeiden und zugleich den eigenen Überlegungen besonderes Gewicht zu verleihen, rational sicherlich erklären78. Verzeihlich ist dieses Quiproquo allerdings kaum, bedenkt

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Auf die Nähe Carl Schmitts zur Systemtheorie weist auch Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, 2000, S. 454 hin. 69 Schmitt (Fn. 36), S. 235. 70 Schmitt (Fn. 36), S. 238; dazu etwa Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 366 (378 ff.). 71 Zur Kritik des holistischen Volksbegriffs von Carl Schmitt vgl. nur Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 393 f. 72 Siehe oben Kapitel 2 I. = S. 118. 73 Vgl. dazu auch Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 137 ff. 74 Zutreffend spricht Sterzel, Die Einheit von Grundrechtsidee und Demokratieprinzip des Grundgesetzes, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 156 von der „systemtheoretischen Abstraktheit“, die das Demokratiemodell des (2. Senats) des BVerfG charakterisiere. 75 Schmitt, Legalität und Legitimität, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 263 (284); zur Kritik an der Schmittschen Demokratiekonzeption vgl.  – früh schon  – Fraenkel (Fn. 46), S. 499, 501 und 508 f. sowie aus neuer Zeit beispielsweise Denninger, Staatsrecht 2, 1979, S. 21. 76 Vgl. Habermas, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 154 (181 ff.). 77 So auch die Einschätzung von Brunkhorst, Globale Solidarität, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S. 605 (621 mit Fn. 48). 78 Dazu auch die harsche Stellungnahme von Zuleeg (Fn. 60), S. 18: „Offensichtlich dient das Fehlzitat dazu, den Rückgriff auf Schmitt zu verschleiern.“ In diesem Sinne auch Weiler,

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

125

man, wofür Heller in den Bewährungsstunden der ersten deutschen Demokratie stritt, und wo Schmitt, „der einflußreiche Advokat des deutschen Fascismus“79 und „Propagandist der Diktatur“80, damals stand81.

II. Der (mögliche) Beitrag Hermann Hellers zur juristischen Auseinandersetzung um die demokratische Legitimation der EU Das BVerfG hat sich zu Unrecht auf Heller und seine Homogenitätslehre berufen82. Dass der Weimarer Staatsrechtslehrer für rechtliche Positionen reklamiert wird, die nicht die seinen sind, ist dabei keineswegs neu83. Umso legitimer erscheint daher aber – auch unter apologetischen Gesichtspunkten – die Frage, worin eigentlich der genuine Beitrag Hermann Hellers zum Thema ‚Demokratieprinzip und Europäische Union‘ liegt oder, vorsichtiger formuliert, liegen könnte84. Wegen der im Maastricht-Urteil des BVerfG deutlich werdenden Gefahr, dass eine allzu oberflächliche Heller-Lektüre zu Fehlinterpretationen verleitet85 und dem flüchtigen Leser statt Hellers nur die eigenen Vorstellungen offenbart, muss die eigene Heller-Rezeption nicht nur en détail entwickelt86, sondern zugleich gegen allfällige Kritik verteidigt werden87.

The State „über alles“, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 2, 1995, S. 1651 (1654). 79 So Heller (Fn. 39), S. 314. 80 So Heller (Fn. 39), S. 331. 81 Zu Hellers Beteiligung am Arbeiterwiderstand gegen den Kapp-Putsch vgl. Meyer (Fn. 19), S.  299 f.; zum Preußenschlag-Prozess, bei dem sich Schmitt und Heller gegenüberstanden, vgl. Kaiser, Preußen contra Reich, in: Müller / Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, S. 287 ff.; Müller (Fn. 19), S. 439 f. sowie Dyzenhaus (Fn. 26), S. S. 28 ff. sowie 207 ff. Fiedler (Fn. 19), S. 156 würdigt Heller als einen der „mutigsten und schonungslosesten Verteidiger der Weimarer Republik gegenüber der immer stärker werdenden nationalsozialistischen Bedrohung“. 82 So auch Bryde (Fn. 47), S. 311. 83 Vgl. hierzu beispielsweise López Pina (Fn. 22), S. 158 ff. zur Heller-Rezeption sowohl durch die franquistische als auch durch die republikanische Staatsrechtslehre. 84 Zutreffend weist Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, S. 42 ff. darauf hin, dass sich die Demokratietheorie Hermann Hellers – im Unterschied zu der Carl Schmitts – im Hinblick auf das westliche Staats- und Verfassungsverständnis anschlussfähig erweist. 85 Zu dieser Gefahr auch Maus (Fn. 22), S. 194 f. 86 Schließlich ist die Interpretation Hellers bis heute durchaus kontrovers geblieben ist, wie etwa Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 178 zutreffend her­ vorhebt. 87 Dies gilt umso mehr, als der juristisch-praktische Ertrag von Hellers Arbeiten in der staatsrechtlichen Literatur der Bundesrepublik immer wieder bezweifelt wird, vgl. dazu nur Möllers, Der Methodenstreit als politischer Generationenkonflikt, in: Staat 2004, S. 399 (422).

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

1. Hermann Hellers Konzeption von Recht Für die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem europaspezifischen Demokratieproblem lässt sich insbesondere Hermann Hellers Rechtskonzeption fruchtbar machen.88 Dies jedenfalls legt die bisherige Auseinandersetzung mit dem Maastricht-Urteil des BVerfG nahe. Denn das BVerfG hat, wie eben dargelegt89, zumindest implizit bestimmte staatstheoretische Grundpositionen in die Konkretisierung des demokratischen Legitimationsprinzips einfließen lassen. Es hat die positivrechtliche Demokratienorm insofern mit Wertungen und Wertmaßstäben in Zusammenhang gebracht, die an sich im vorrechtlichen Raum angesiedelt sind. Zugleich hat das BVerfG, wie ebenfalls schon erwähnt90, explizit darauf hingewiesen, dass Demokratie in tatsächlicher Hinsicht vom Vorhandensein einer bestimmten politischen Ambiance abhängig sei91. Diesen tatsächlichen Demokratievoraussetzungen bescheinigt das BVerfG selbst vorrechtliche Qualität92. Das Maastricht-Urteil des BVerfG verdeutlicht insofern, dass mit der juristischen Analyse der EU-spezifischen Demokratieprobleme in besonderem Maße das Verhältnis von positivrechtlichem Sollen, überpositiver Idealität und gesellschaftlichem Sein angesprochen ist. Wie dieses spannungsreiche Verhältnis konkret und im Einzelnen ausschaut, lässt sich dem BVerfG-Judikat freilich nicht entnehmen. Hermann Heller nun hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk durchgängig mit dieser speziell für Verfassungsjuristen zentralen Problemstellung93 beschäftigt und in Auseinandersetzung damit seine Konzeption vom Recht entwickelt. Er geht davon aus, dass „ausnahmslos jedes juristische Problem (…) nach unten in der Soziologie und nach oben in der ethisch-politischen Sphäre verwurzelt“ ist94. So gründet die Positivität des Rechts nach Auffassung von Heller „einerseits in der Idealität von Rechtsgrundsätzen, andererseits in der gesellschaftlichen Faktizität einer letztlich entscheidenden Willenseinheit“95. Positivierte Rechtssätze lassen sich ihrerseits nach Einschätzung Hellers „grundsätzlich erst aus der Totalität der politischen Gesamtverfassung voll“ begreifen96. Sie sind nämlich außer durch die Idealität von Rechtsgrundsätzen, die Heller auch unter dem allgemeinen Topos der – außerrechtlichen – ‚Normativität‘ anspricht, zugleich durch „das gesamte Natur- und Kulturmilieu, die anthropologischen, geographischen, volklichen, wirtschaftlichen und sozialen Normalitäten, sowie die außerrechtlichen Normativitäten“ geprägt97.

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Zu dieser auch Blau, Hermann Heller, in: DuR 1976, S. 120 (133 f.). Siehe oben Kapitel 2 I. = S. 118. 90 Siehe oben Kapitel 1 I. 3. = S. 94. 91 BVerfGE 89, 155 (185); hierzu auch Heller (Fn. 39), S. 369. 92 BVerfGE 89, 155 (185): „Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig …“ 93 Vgl. hierzu nur Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 83 ff. 94 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 57. 95 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 72. 96 Heller (Fn. 39), S. 369. 97 Heller (Fn. 39), S. 369.

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

127

Damit geht Heller von einem Rechtsbegriff aus, der die im Maastricht-Urteil aufleuchtende Unzulänglichkeit eines positivistisch verkürzten Rechtsverständnisses reflektiert und daher als prinzipiell geeignet erscheint, die in der BVerfG-Entscheidung aufgeworfenen Vermittlungsschwierigkeiten zwischen positivem Recht einerseits sowie außerrechtlicher Normativität und Normalität andererseits zu bewältigen.

a) Hellers grundlegende Differenzierung zwischen Recht im wirklichkeitswissenschaftlichen und Recht im rechtsdogmatischen Sinn Im Ausgangspunkt muss indes festgehalten werden, dass Heller die eben knapp skizzierte Rechtskonzeption im Rahmen seiner wirklichkeitswissenschaftlich98 angelegten Allgemeinen Staatslehre entwickelt hat. Es handelt sich mithin um ein – wie er es formulieren würde  – wirklichkeitswissenschaftliches Rechtsverständnis, das daher auch nicht eins zu eins in die juristische Dogmatik übertragen werden kann99. Denn bei dieser handelt es sich, wie Heller hervorhebt, gerade nicht um eine Wirklichkeits-, sondern um eine Sinnwissenschaft: Während die Wirklichkeitswissenschaft aktuelle Wirklichkeitszusammenhänge wie etwa das faktisch existente Recht zum Gegenstand hat, untersucht eine Sinnwissenschaft einen kontrafaktischen Sinnzusammenhang, also beispielsweise ein positiv gesetztes Rechtssystem100. Recht im Sinne juristischer Dogmatik ist daher nicht das in die gesellschaftliche Totalität wirklich eingebettete Recht, sondern ein für sich stehendes Sinngebilde101. Dem entspricht, dass bei der Erforschung von Recht im wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne einerseits und Recht im dogmatischen Sinne andererseits auch unterschiedliche Methoden zugrunde zu legen sind102. Um Recht wirklichkeitswissenschaftlich zu begreifen, ist auf das von Hermann Heller so genannte ‚dia­ lektische Denkverfahren‘103 zurückzugreifen104. Dieses dient der Beschreibung

98 Zum wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatz vgl. insbesondere Heller (Fn. 39), S. 156 ff.; dazu einerseits Dehnhard (Fn. 19), S. 50 ff., andererseits Vesting (Fn. 38), S. 67 ff. 99 Zu Hellers insbesondere auch methodologischer Differenzierung zwischen Staatslehre und Rechtswissenschaft vgl. Möllers, Der Staat als Argument, 2000, S.  85 f. sowie Bauer (Fn. 26), S. 366 f. 100 Heller (Fn. 39), S. 137 f. 101 Heller (Fn. 39), S. 140. 102 Heller (Fn. 39), S. 140: „Sinneswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft, dogmatische Jurisprudenz und Staatslehre sind also nach Gegenständen und Methoden klar voneinander geschieden.“ 103 Und zwar auf das linkshegelianisch gewendete (vgl. Heller [Fn. 39], 124: „Die für die Staatslehre wichtigsten Anregungen gehen heute von Hegel und seiner Methode aus. Allerdings dürfte von der vielberufenen Hegelrenaissance methodologisch nicht viel mehr übrig bleiben, als das, was auf der Hegelschen Linken Marx und Engel bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts grundsätzlich geleistet haben.“). Zu Hellers Dialektikverständnis eingehend Dehnhard (Fn. 19), S. 52 ff. 104 Heller (Fn. 39), S. 161.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

und Erklärung komplexer Wirklichkeitszusammenhänge, die für gewöhnlich nicht auf eine gemeinsame logische Wurzel zurückführbar sind, aber gleichwohl einen wirk-lichen Erkenntnisgegenstand darstellen105. Dementsprechend erlaubt es das dialektische Denkverfahren, das dem ersten Anschein nach so widerspruchsvolle Phänomen Recht, das durch Idealität und Faktizität, durch Normalität und Normativität geprägt ist, zu erfassen. Demgegenüber hat die dogmatische Juris­prudenz keine komplexen Wirklichkeitszusammenhänge zu erklären, sondern muss einen für sich stehenden Sinnzusammenhang erschließen. Dieser Zusammenhang ist normativer Natur, sodass die darauf bezogene Methode von Heller als normwissenschaftliche106 apostrophiert wird. Sie besteht darin, den eigensinnigen Norm­ zusammenhang dogmatisch aus sich selbst heraus zu erschließen. Trotz dieser Unterschiede hinsichtlich Inhalt und Methodik stehen wirklichkeitswissenschaftlich gedeutetes Recht und Recht im Sinne dogmatischer Jurisprudenz bei Hermann Heller nicht unvermittelt nebeneinander. So lässt sich die eigentliche Funktion und – in Abhängigkeit davon – auch die Methodik von Recht im rechtswissenschaftlich-dogmatischen Sinn nur unter Berücksichtigung des wirklichkeitswissenschaftlich verstandenen Rechts und der diesbezüglichen Methodik bestimmen107. Denn aus der wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung von Recht108 erklärt sich zum einen der – relative  – Eigen-Sinn von Recht im rechtsdogmatischen Sinn und der ihm eigenen Methode, zum anderen deren – gleichfalls relative  – Rückbezogenheit auf den wirklichkeitswissenschaftlichen Rechtsbegriff und die damit korrelierende Methodik. Wirklichkeitswissenschaftlich betrachtet, bezweckt Recht die historische und systematische Kontinuität der wirklichen Rechtsverfassung eines Gemeinwesens. Erreicht wird dies durch eine Verobjektivierung und Entzeitlichung von Recht als relativ eigengesetzlichem Sinnzusammenhang109. In methodischer Hinsicht folgt für die dogmatische Jurisprudenz daraus die bereits mehrfach erwähnte norm­ wissenschaftliche Herangehensweise, die „keinen Wirklichkeitszusammenhang zu erklären, sondern in uns aus dem relativ eigengesetzlichen Normenzusammenhang dogmatisch zu schließen hat“110. Zugleich offenbart sich in dieser wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektive, dass die Verselbstständigung des positiven Rechts und seiner Methode keine absolute sein kann. Vielmehr bleibt sie relativiert durch seine Zwecksetzung „einer

105 Heller (Fn. 39), S. 161; vgl. zur dialektischen Methode auch v. Oertzen, Dialektik – Allüre oder Methode?, in: ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, 2004, S. 53 ff. 106 Heller (Fn. 39), S. 377 f. 107 Heller (Fn. 39), S. 378; ders., Die Krisis der Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 3 (25). 108 Heller (Fn. 39), S. 142 und 373 ff. 109 Heller (Fn. 39), S. 378. Dazu auch Friedrich (Fn. 13), S. 195. 110 Heller (Fn. 39), S. 377 f.

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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zukünftigen wirksamen Willensbildung entsprechend dem Norminhalt“111. Diese kann aber ohne eine „gewisse Normalität“112 einerseits und ohne die Rück­ anbindung an „den Staat und sein Recht transzendierende und sie eben damit fundierende, ethisch verpflichtende Rechtsgrundsätze“113 andererseits nicht gelingen. Die positiven, für die dogmatische Jurisprudenz maßgeblichen Rechtsnormen dürfen daher nicht dezisionistisch als normativ ex nihilo verstanden und in eine voraussetzungslose Realität hineingestellt begriffen werden. Vielmehr müssen sie immer auch als Ausdruck intersubjektiver Gerechtigkeitsvorstellungen verstanden werden, die sich im wirklichen Rechtsleben behaupten sollen114. Eine positive historische Setzung kann daher nur dann in befriedigender Weise interpretiert werden, wenn das dahinter liegende ideelle Verständnis rekonstruiert und den sich wandelnden realen Verhältnissen Rechnung getragen ist115. Dazu aber bedarf es aus den dargelegten Gründen einer wirklichkeitswissenschaftlichen Methode: Durch das dialektische Denkverfahren wird die spannungsreiche außerrechtliche Normativität eines positiven Rechtssatzes und seine nicht minder vertrackte außerrechtliche Normalität begreifbar und die Voraussetzung für eine überzeugende Interpretation des positiven Rechts geschaffen. Durch das dialektische Denkverfahren wird die eigentlich einschlägige normwissenschaftliche Methode zwar nicht ersetzt, wohl aber ergänzt. Just diese Zusammenhänge sind angesprochen, wenn Heller die Allgemeine Staatslehre zur juristischen Hilfs­ wissenschaft erklärt116 und sich in bewusster Provokation zu einem Methoden­ synkretismus bekennt117. Und dies lässt es auch sinnvoll erscheinen, wenn die spezifisch normwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den europaspezifischen Demokratieanforderungen durch eine der Allgemeinen Staatslehre verpflichteten Begriffsrekonstruktion eingeleitet wird. Nach allem bietet die differenzierend-vermittelnde Rechtskonzeption Hermann Hellers einen sehr brauchbaren Ansatz, um die im Maastricht-Urteil des BVerfG aufscheinende Problematik adäquat zu bewältigen. Denn sie zeigt methodische Mittel und Wege auf, um die bei den europaspezifischen Demokratienormen besonders deutlichen Bezüge zur außerrechtlichen Normativität und Normalität juristisch überzeugend zu verarbeiten.

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Heller (Fn. 39), S. 378. Heller (Fn. 39), S. 368. 113 Heller (Fn. 39), S. 297. 114 Vgl. Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. S. 249 (277). 115 Vgl. Heller (Fn. 114), S. 278. 116 Heller, Krisis (Fn. 107), S. 25. 117 Heller (Fn. 114), S. 278. Dazu auch Friedrich (Fn. 19), S. 194 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stolleis’ auf Heinrich Triepel gemünztes Lob des methodischen Eklektizismus (Stolleis [Fn. 14], S. 20). 112

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

b) Der positivistisch-legalistische Grundzug in Hellers rechtswissenschaftlicher Methodenlehre Die hier vorgeschlagene Lektüre von Hellers Rechtskonzeption beruht auf einer klaren Differenzierung zwischen wirklichkeitswissenschaftlichem und rechtsdogmatischem Rechtsbegriff. Die von Heller propagierte spezifisch juristische Methodik stellt sich in dieser Perspektive als zwar wirklichkeitswissenschaftlich informierte118, im Kern aber positivistisch-legalistische Auslegungslehre dar119. In der Literatur freilich ist Hellers grundlegende Differenzierung zwischen den beiden Rechtsbegriffen nicht immer hinreichend deutlich gesehen und in der Folge der positivistische Grundzug von Hellers juristischer Methodik in Zweifel gezogen worden120. Genährt werden diese Zweifel insbesondere durch die Attacken gegen Kelsen121, aber auch gegen Radbruch122, die das Werk Hermann Hellers wie ein roter Faden durchziehen. Gleichwohl sind die Zweifel an der positivistisch-legalistischen Grundtendenz von Hellers Methodenlehre letztlich ungerechtfertigt123. Belegen lässt sich dies nicht zuletzt daran, wie Heller das positive Recht zu den für das hiesige Thema so wesentlichen vorpositiven Normativitäten beziehungsweise Normalitäten und damit gegen das Recht im wirklichkeitswissenschaft­ lichen Sinne abgrenzt. Denn der relativen Abschottung des positiven Rechts gegen seine Ideal- und Realbedingungen entspricht notwendig eine im Kern positivistisch-legalistische Methodik.

aa) Positives Recht und außerrechtliche Normativität Im Verhältnis zur ethisch-politischen Sphäre der außerrechtlichen Normativitäten lässt sich Hellers rechtsdogmatischer Positivismus an seinen Überlegungen 118

Vgl. Heller (Fn. 39), S. 141. So auch Maus (Fn. 22), S. 200 ff. 120 Vgl. hierzu den knappen Literaturüberblick bei Vesting, Aporien des rechtwissenschaft­ lichen Formalismus, in: ARSP 1991, S. 348 (349). 121 Eine Art Kulminationspunkt bildet in diesem Zusammenhang der Schlusssatz aus dem Schlusswort Hellers anlässlich seines Vortrags bei der Münchner Staatslehrertagung 1927 (Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 203 [247]): „Mit Kelsens, übrigens nur angeblich, reinen Formen kann man zwar alle ihres Inhalts entleerten und sodann willkürlich konstruierten Begriffe zu einem System zusammenbiegen; man kann aber mit ihnen weder den Staats- noch den Rechtsbegriff fassen, am allerwenigsten aber den Rechtsstaatsbegriff – ist doch nach Kelsen jeder Staat ein Rechtsstaat  – und den konstitutionellen Gesetzesbegriff.“ Zu Hellers Vortrag vor der Staatsrechtslehrervereinigung vgl. Schluchter (Fn.  19), S.  34 ff.; zur Kritik Hellers an Kelsen allgemein ­Müller, Kritische Bemerkungen zur Auseinandersetzung Hermann Hellers mit Hans Kelsen, in: ders. / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S. 128 ff. 122 Vgl. zum Beispiel Heller, Krisis (Fn. 107), S. 9 f. oder ders. (Fn. 121), S. 227. Zum Verhältnis zwischen Radbruch und Heller vgl. eingehend Schneider (Fn. 12), S. 176 ff. 123 Dazu auch Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: dies., Rechstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 11 (37 f.). 119

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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zum Verhältnis von ethischen Rechtsgrundsätzen und positiven Rechtssätzen exemplifizieren124. So betont Heller zwar die in wirklichkeitswissenschaftlicher Hinsicht zentrale Bedeutung der ethischen Rechtsgrundsätze: Nur soweit er diese sichert, lässt sich der Staat als Institution rechtfertigen; dementsprechend empfangen auch die vom Staat positivierten Rechtssätze sittliche Verpflichtungskraft überhaupt nur aus den jeweils übergeordneten ethischen Rechtsgrundsätzen125. Dass sich ethische Rechtsgrundsätze insofern als conditio sine qua non positiven Rechts darstellen, macht sie freilich nicht eo ipso zu solchem126. Vielmehr kann ein Rechtsgrundsatz nach den insoweit unmissverständlichen Darlegungen Hellers lediglich dadurch unmittelbar in Rechtspositivität erwachsen, dass er aufgrund autoritativer Entscheidung in einen stets durch ein Konditionalprogramm geprägten127, hinreichend bestimmten und gewissen Rechtssatz umgemünzt wird128. Erst wenn ein Rechtsgrundsatz durch einen Machtakt der Gemeinschaftsautorität „aus dem Reich der nur durch jene Rechtsgrundsätze beschränkten, nichtsdestoweniger unzähligen Rechtsmöglichkeiten in das der einzigartigen Rechtswirklichkeit überführt“ ist129, kommt ihm Rechtspositivität zu. Dass Heller den ethischen Rechtsgrundsätzen nur insofern unmittelbare Rechtspositivität zuerkennen will, als sie durch das zuständige Organ zu hinreichend individualisierten Rechtssätzen umgeformt worden sind, macht ihn freilich nicht blind für die – aus seiner Sicht – mittelbaren Implikationen der ethischen Rechtsgrundsätze für das positive Recht. So geht er davon aus, dass insbesondere Rechtsprechungsorgane durch Generalklauseln gesetzlich ermächtigt werden können, Rechtsgrundsätze zu konkretisieren – und das bedeutet für Heller, sie rechtssatzförmig zu positivieren130. Des Weiteren betont er, dass den ethischen Rechtsgrundsätzen in Hinblick auf eine systematische, kohärente Interpretation der sie positivierenden Rechtssätze eine zentrale Bedeutung zukommt131. Freilich offenbart sich in dieser Perspektive auch, dass Heller eine mittelbare Relevanz ethischer Rechtsgrundsätze für das positive Recht ebenfalls nur dann anerkennt, wenn sie in diesem angelegt ist. Inwieweit ethische Rechtsgrundsätze das positive Recht beeinflussen, hängt nach Hellers Auffassung somit von diesem selbst, also allein von den darauf be-

124 Hierzu Vesting (Fn. 38), 1983, S. 52 ff.; Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt, 1995, S.  480 ff. sowie Meinck, Rechtsnorm und allgemeiner Rechtsgrundsatz, in: Müller / Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, S. 621 ff. 125 Heller (Fn. 39), S. 332. 126 Vgl. Heller, Souveränität (Fn. 11), 70 ff. 127 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 70 f.; ders. (Fn. 39), S. 371. 128 Heller (Fn. 39), S. 332. Dazu auch Penski (Fn. 22), S. 172. Siehe auch v. Komorowski, Der Beitrag der ESC zur europäischen Wertegemeinschaft, in: Blumenwitz / Gornig / Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 99 (109). 129 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 72 f. 130 Heller (Fn. 39), S. 370. 131 Heller (Fn. 39), S. 370.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

zogenen Setzungshandlungen ab132. Und nur soweit das positivierte Recht sich gegenüber ethischen Rechtsgrundsätzen öffnet, kann über diese der gesellschaftliche Wandel auf den Bedeutungsgehalt der sie positivierenden Rechtssätze zugreifen und ihn gegebenenfalls in begrenztem Maße modifizieren. Der Sache nach nichts anderes meint Heller, wenn er die Positivität von Recht „einerseits in der Idea­ lität von Rechtsgrundsätzen, andererseits in der gesellschaftlichen Faktizität einer letztlich entscheidenden Willenseinheit“ gegründet sieht133. Wegen des Vorbehalts positiver Setzung führt denn auch weder die unmittelbare oder mittelbare Anwendung von ethischen Rechtsgrundsätzen, noch der durch sie gegebenenfalls vermittelte Bedeutungswandel positiven Rechts zu dessen ‚unbegrenzter Auslegung‘, wie dies Heller teilweise vorgeworfen worden ist134. Vielmehr bleibt die relative Eigenständigkeit des positiven Rechts gewahrt und lässt sich das Überwirken ethischer Rechtsgrundsätze im Rahmen normwissenschaftlicher Methodik adäquat kanalisieren. Dass ethische Rechtsgrundsätze nur nach Maßgabe der von einer Gemeinschaftsautorität vorgenommenen Setzungshandlungen positivrechtliche Wirkungen zu zeitigen vermögen, ist dabei nicht nur ein Eckpfeiler der positivistisch-legalistischen Rechtsdogmatik Hermann Hellers, sondern zugleich deren demokratische Pointe. Denn unter den institutionellen Bedingungen der Demokratie wird hierdurch sichergestellt, dass sämtliche Staatsakte allein von der volonté générale determiniert werden und bleiben135.

bb) Positives Recht und Normalität In Bezug auf das gesellschaftliche Sein, auf die Normalität136 hält Heller seinen rechtsdogmatischen Positivismus ebenfalls durch. Dass er den normativen Eigensinn des gesetzten Rechts, mit dem die positivistische Methodik notwendig korreliert, auch gegenüber der Normalität behauptet, lässt sich unschwer aus seiner wirklichkeitswissenschaftlichen Apperzeption von Recht ableiten. So betont er, dass neben der „normativen Kraft des faktisch Normalen (…) der normalisierenden Kraft des Normativen eine durchaus eigene und sehr große Bedeutung“ zukommt137. Zugleich hebt er hervor, dass die „Verselbständigung der Normativität gegenüber der Normalität“ das historisch gewordene Charakteristikum moderner Staatlichkeit schlechthin ist138.

132

Im Bereich des Völkerrechts folgt dies aus dem Konsensprinzip – siehe Ipsen, Regelungsbereich, Geschichte und Funktion des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5.  Aufl. 2004, Rn. 4. 133 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 72. 134 In diese Richtung etwa Maus (Fn. 22), S. 214. 135 Heller (Fn. 121), S. 224 f. 136 Zum Folgenden vgl. auch die etwas andere Akzentsetzung bei Meinck (Fn. 124), S. 630 ff. 137 Heller (Fn. 39), S. 365. 138 Heller (Fn. 39), S. 366 f.

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

133

Insoweit trifft sich der abgeklärtere Heller der ‚Staatslehre‘ denn auch mit dem Verfasser der teilweise überschießenden139 Souveränitätsschrift. Dieser streitet für die „Begründung der Rechtspositivität in der Faktizität einer souveränen Willenseinheit“140. Die Rechtssetzungsakte einer solchen souveränen Willens­ einheit, „die bei der modernen Zentralisierung der Rechtssetzung Staat heißt“141, sind es, „die dem Rechtssatz innerhalb der grundsätzlichen Rechtsmöglichkeiten die ein normgemäßes Verhalten erst ermöglichende Rechtsbestimmtheit zu teil werden läßt“142. Der Zusammenhang von Positivität und Souveränität lässt Heller die für den positiven Juristen maßgebliche Eigengesetzlichkeit und relative Selbstständigkeit des Rechts betonen143. Freilich kann diese Dissoziierung des positiven Rechts von der Normalität für Heller keine absolute sein. In der ‚Staatslehre‘ macht er deutlich, dass das positive Recht in den Fällen an unübersteigbare Grenzen der Normalität stößt, in denen das mit einem Rechtsetzungsakt stets verbundene „Normsetzungsexperiment“ endgültig gescheitert, die normative Kraft des Faktischen über eine rechtliche Regelung hinweggegangen ist144. In der Souveränitätsschrift hebt Heller hervor, dass die von der Souveränität her erschlossene Positivität des Rechts nicht bloß Entschiedenheit, sondern auch Wirksamkeit des Rechts bedeute145, sodass ein Rechtssatz mangels nachhaltigen Widerhalls in der Rechtswirklichkeit seine Positivität verfehlen könne146. Heller zufolge entfällt die positive Rechtsgeltung zwar nicht schon durch „Willensauflehnungen einzelner“, sie ist aber nicht unabhängig „von normverneinenden Willensvorgängen, sei es aller, sei es des ausschlaggebenden Teiles der Rechtsunterworfenen“147. Dass es in wirklichkeitswissenschaftlicher Blickrichtung demnach keine normative Geltung ohne Normalität geben kann148, muss von dem im Ausgangspunkt eigenrationalen positiven Recht und der ihm eigenen Methodik verarbeitet, reflektiert werden. So wirft Heller in einem Rechtsgutachten zum preußischen Verhältniswahlrecht149 dem Reichsstaatsgerichtshof methodisches Versagen vor, weil 139

So zu Recht Schneider (Fn. 12), S. 192. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 74. 141 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 186. 142 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 144. 143 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 201. 144 Heller (Fn. 39), S. 372; dazu auch Hebeisen (Fn. 124), 1995, S. 442 f.; ferner McCormick, Das Maastricht-Urteil: Souveränität heute, in: JZ 1995, S. 797 (798) sowie Bull, Hierarchie als Verfassungsgebot?, in: Greven / Münkler / Schmalz-Bruns (Hrsg.), Festschrift für Bermbach, 1998, S. 241 (248). 145 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 186. 146 Dazu auch Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 136. 147 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 72; in diese Richtung auch Weinberger (Fn. 10), S. 132 sowie Römer, Geltung und Wirksamkeit verfassungsrechtlicher Normen, in: Z. 2004, Nr. 58, S. 8 (26). 148 Heller (Fn. 39), S. 365. 149 Heller, Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 319 ff. 140

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

er bei seiner Normkonkonkretisierung die realen Wirkungsvoraussetzungen der von ihm angewandten Entscheidungsnorm  – im buchstäblichen wie übertragenen Sinn  – willkürlich ausgeblendet hat. „Ein Recht aber“, schreibt Heller in dem seiner Bedeutsamkeit wegen kursiv gesetzten Kernsatz, „das nicht geeignet ist, das Lebensverhältnis, für das es gilt, zu ordnen, ist alles, nur kein positives Recht“150. Heller legt damit den Schluss nahe, dass bestimmte Realbedingungen einer Norm in den Regelungsgehalt dieser Norm selbst aufrücken können und müssen. Denn wenn positives Recht seinen Sinn und Zweck nur dadurch erfüllt, dass es in Normalität erwächst, so liegt es auf der Hand, dass es sich auch auf die normativ fassbaren Realvoraussetzungen seiner Normalisierung erstreckt. Für den Bereich der hier in Rede stehenden dogmatischen Jurisprudenz mag man insofern in Anlehnung an Heller von ‚positiver Normalität‘ sprechen151 – im Unterschied zu der von ihm sogenannten ‚normativen Normalität‘, mit der er wirklichkeitswissenschaftlich den Umstand beschreibt, dass es neben der nichtnormierten, rein empirischen Normalität des Verhaltens eben auch eine norm­ geforderte gibt152. Wenn Hellers Wirklichkeitswissenschaft zu der Erkenntnis führt, dass das positive Recht mitunter auch Normalitäten positiviert und in diesem Zusammenhang die positivistische notwendig durch die wirklichkeitswissenschaftliche Methode ergänzt werden muss, so stellt dies nun freilich keineswegs die positivistischlegalistische Grundausrichtung seiner genuin rechtsdogmatischen Methodenlehre in Frage. Denn ebenso wie die außerrechtliche Normativität kann sich auch die Normalität und mit ihr die wirklichkeitswissenschaftliche Methodik nur insofern auf das positiv geltende Recht auswirken, als dies dort angelegt ist, was jedenfalls primär nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden zu klären ist. Dass das positive Recht und seine Methodik durch den wirklichkeitswissenschaftlich angezeigten Normalitätsbezug überwältigt würde, kann daher schwerlich be­hauptet werden. Vor diesem Hintergrund fügt man Heller keinen Tort zu, wenn man seine juristische Methode als im Kern positivistisch-legalistisch charakterisiert153 und in diesem Sinne an sie anknüpft.

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Heller (Fn. 149), S. 337. Siehe dazu auch unten Kapitel 10 II. 4. = S. 706. 152 Heller (Fn. 39), S. 365. 153 So auch Vesting (Fn. 120), S. 365, Maus (Fn. 22), S. 202 sowie – allerdings mit kritischem Unterton – Brunkhorst (Fn. 117), S. 368 f. 151

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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2. Hermann Heller und die drei Hauptprobleme eines EU-spezifischen Legitimationsmodells Aber nicht nur das Rechtsverständnis Hermann Hellers erweist sich als wegweisend. Auch seine staatstheoretische Sicht der hier in Rede stehenden Demokratieprobleme führt weiter154. Denn erstens wird der für das Demokratieverständnis insgesamt maßgebliche Volksbegriff in Hellers Schriften – dem wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatz entsprechend  – dialektisch aufbereitet. Dadurch können die gerade bei Legitimationstheorien stets drohenden Vereinseitigungen vermieden werden und kann infolgedessen ein Volks- sowie Demokratiebegriff gewonnen werden, auf den nach Maßgabe des positiven Rechts bei der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den europaspezifischen Demokratieproblemen zurückgegriffen werden kann. Zweitens skizziert Heller, wie Volkssouveränität und Demokratie strukturell ins Werk gesetzt werden. Indem er beschreibt, auf welche Weise hoheitliche Entscheidungen der Allgemeinheit zurechenbar werden, liefert er zugleich das analytische Material, um später auch das demokratische System der EU untersuchen und in der Folge juristisch bewerten zu können. Drittens zeugt Hellers Werk von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Souveränitätsdogma einschließlich seines Verhältnisses zum Prinzip der Volkssouveränität. Auch wenn Heller einem zeit- und wohl auch persönlichkeitsbedingt überzogenen Souveränitätsbegriff anhängt, wirft er aufgrund seines überzeugenden wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatzes immerhin die richtigen Fragen auf und deutet im Kern auch schon den gebotenen Argumentationsgang an. Damit wird wichtige Vorarbeit für die spezifisch rechtswissenschaftliche Analyse der europäischen Souveränitätsproblematik geleistet.

a) Das Volksverständnis Bereits die Semantik legt es nahe: Am Volksbegriff entscheidet sich ganz wesentlich das Demokratieverständnis. Zugleich bestimmt das zugrundegelegte Konzept von Volkssouveränität das Volksverständnis. Dabei lassen sich, idealtypisch betrachtet, zwei gegensätzliche Ansätze unterscheiden, von denen her sich der Volksbegriff und das dementsprechende Demokratiekonzept konkretisieren lassen155. Der eine Ansatz ist als verbandsorientiert qualifizierbar, der andere fokussiert das Individuum. Hiernach liegt der Wesenskern des demokratischen Volksbegriffs und der demokratiezentralen Volkssouveränität entweder darin, dass ein national exklusives Kollektiv in die Lage versetzt wird (oder zumindest versetzt werden soll), sich durch spezifisch staatliche Herrschaft sowohl gegen gebietsgesellschaftliche wie auch gegen verbandsexterne Fremdbestimmung zur Wehr zu 154

Allgemein zu Hellers Demokratielehre Robbers (Fn.  19), 1983, S.  36 ff. sowie Fiedler (Fn. 17), S. 205 f. 155 Dazu vertiefend auch unten Kapitel 5 = S. 182.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

setzen. Oder aber das Volks- und Demokratieverständnis beruht wesentlich auf der regulativen Idee herrschaftsfreier Selbstgesetzgebung, wonach durch partizipative Strukturen in Staat und Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben für alle Glieder einer Gebietsgesellschaft erreicht werden soll. Die Frage nach dem richtigen Volksverständnis ist insofern eingebettet und unauflösbar verknüpft mit zentralen demokratierechtlichen Problemstellungen. Wer den demokratischen demos bestimmen will, muss sich zwangsläufig den Fragen stellen, ob Demokratie herrschaftszentriert oder vom Gedanken der Herrschaftsfreiheit geprägt ist, ob das demokratische Subjekt kollektivistisch oder individualistisch rekonstruiert werden soll, ob das Demokratieprinzip allein der Sphäre der Staatsorganisation angehört oder auch die Gesellschaftsverfassung prägt und von ihr geprägt wird, ob die demokratiezentrale Volkssouveränität auf dem Ausschluss verbandsfremder Elemente vom demokratischen Prozess beruht oder aber im Gegenteil deren demokratische Integration und Partizipation verlangt. Hermann Heller hat sich mit diesen, für das zutreffende Volksverständnis dezisiven, Demokratieproblemen eingehend auseinandergesetzt. Seine wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion von Demokratieprinzip und Volkssouveränität wirkt sowohl in der Argumentation als auch im Ergebnis bestechend. Die wirklichkeitswissenschaftliche Methode des dialektischen Denkverfahrens erlaubt es Heller, den demokratischen Verband und das zur Demokratie berufene Individuum einander korrelativ so zuzuordnen156, dass damit die Einseitigkeiten der beiden idealtypischen, einander widersprechenden Demokratiekonzeptionen mitsamt ihrer notwendig verkürzten Volksbegriffe überwunden werden.

aa) Die Dialektik von verbandsorientiertem und individuumszentrierten Demokratieverständnis bei Hermann Heller Getreu seinem nach der Normalität hin geöffneten Ansatz geht Heller bei seiner Auseinandersetzung mit dem demokratiezentralen Prinzip der Volkssouveränität von dem unleugbaren Faktum aus, dass „auch in der Demokratie das Gesetz der kleinen Zahl“ gilt157. Auch Demokratie baut seiner Ansicht nach auf Führerschaft auf158, wobei in der Demokratie magistratische Repräsentanten die Führerrolle übernehmen159. Demokratie stellt sich in dieser wirklichkeitsorientierten Perspek 156 Zum Korrelationsverhältnis von Verband und Individuum vgl. etwa Heller, Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 3 (14 f.). 157 Heller, Genie und Funktionär in der Politik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  2, 2. Aufl. 1992, S. 611 (618); vgl. auch Heller (Fn. 114), S. 359. Aufgegriffen bei Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 11. 158 In diesem Sinn etwa auch Neumann, Der demokratische Dekalog, in: Löwenthal (Hrsg.), Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, 1963, S. 11 (20). 159 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 98; vgl. auch Heller (Fn. 39), S. 360. Diese Sichtweise ist durchaus typisch für den sozusagen lassalleanischen Flügel der Weimarer Sozialdemokratie,

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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tive als spezifische Form einer von Menschen getragenen Herrschaft dar, „nämlich als Herrschaft des Volkswillens durch das Gesetz und als Herrschaft der gesetzlich bestellten Repräsentanten“160. Für sein aus der demokratischen Normalität hergeleitetes, herrschaftszentriertes Verständnis von Volkssouveränität beansprucht Heller allerdings keine Exklusivität161. Denn entsprechend seiner auch zum Ethischen, zur außerrechtlichen Normativität hin durchlässigen Konzeption will Heller „die Idee der Freiheit aller in einer Gemeinschaft, die Idee der Herrschaftslosigkeit“ als kritischen Maßstab durchaus zulassen162. Ein möglichst hohes Maß an Freiheit und Gleichheit im Staat zu erreichen, erscheint ihm als eine hochlegitime gesellschaftspolitische Leitvorstellung163. Freilich fordert er, dass diese Idee „auf das von ihr zu gestaltende Material“, auf die real existierenden Gemeinwesen rückbezogen wird; wer dies unterlasse, sei „ein politisch gefährlicher Utopist“164. Infolgedessen wendet er sich auch gegen diejenigen Vorstellungen, die nach seinem Dafürhalten Demokratie ausschließlich als herrschaftsfreie Selbstgesetzgebung fingieren und sie infolgedessen auf eine „entpersönlichte Nomokratie“ relativieren165. Dass die Normalität der zeitgenössischen Demokratie ganz wesentlich durch das Kollektiv ‚Nation‘ geprägt wird, hat Heller gerade auch gegenüber seinen der nationalen Idee wenig aufgeschlossenen linken Parteifreunden166 stets – und mit dem der Kriegsteilnehmergeneration eigenen Pathos167  – betont. In seiner prosiehe etwa auch Leber, Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie, in: ders., Schriften, Reden, Briefe, 1976, 179 (214). 160 Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 463 (525). Die von konkreten menschlichen Herrschaftsträgern abgelösten Demokratievorstellungen namhafter Europarechtler, wonach sich die europäischen Sekundärrechtsetzungen zweckrational und mithin politisch wertneutral aus dem Primärecht ableiten lassen (vgl. zuletzt Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz [Hrsg.], Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 ff.) und demokratische Legitimitätslücken tendenziell durch vorbildhafte Rechtsstaatlichkeit kompensierbar sein sollen (Pescatore, La constitution, son contenu, son utilité, in: ZSchwR 1992, S. 41 [61]), würde Heller daher insofern als „töricht“ zurückweisen, als sie der Illusion aufsitzen, „wir lebten nicht unter der Herrschaft der Menschen, sondern von Rechtsätzen“ (Heller, Souveränität [Fn. 11], S. 98). 161 Dehnhard (Fn. 19), S. 37 weist zutreffend darauf hin, dass eine Interpretation des Hellerschen Staatsdenkens, die dessen herrschaftliches Moment absolut setzt, seiner Vieldimensionalität nicht gerecht wird. 162 Heller (Fn. 61), S. 495 f. 163 Heller (Fn. 61), S. 495 f. 164 Heller (Fn. 61), S. 496. 165 Heller (Fn. 160), S. 477. 166 Auf der dritten Reichskonferenz der Jungsozialisten am 12./13.04.1925 wird es Heller nicht gelingen, deren Mehrheit „zu einer positiven Bewertung von Staat und Nation“ (vgl. dazu den letzten Satz seines Referats mit dem programmatischen Titel: Staat, Nation und Sozialdemokratie, in: Heller, Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 527 [542]) zu bewegen (siehe dazu auch Winkler [Fn. 32], S. 371 f.). 167 Diesen spürt man etwa auch bei seinem geistigen Bundesgenossen Leber (Fn.  159), S. 218.

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grammatischen Schrift über ‚Sozialismus und Nation‘ hebt er insbesondere hervor, dass es die politisch-vergesellschaftende Kraft der Nation ist, aufgrund derer sowohl das Majoritätsprinzip als auch die staatliche Herrschaft bis in die jüngste Zeit hinein als gerechtfertigt angesehen worden sind168. Die Nation erscheint in dieser Realperspektive als ein wesentlicher Faktor für das Funktionieren von Demokratie, die ohne Mehrheitsentscheidungen und deren herrschaftlicher Durchsetzung schwerlich zu verwirklichen ist. Aber auch in ideeller Hinsicht weist Heller immer wieder auf die, historisch bedingt, enge Verbindung zwischen nationalem und demokratischem Ideenkreis hin169. Unter den Bedingungen des historisch gewordenen Nationalstaats bedeutet Demokratie Selbstbestimmung und Selbstbewahrung des Volks als nationaler Kulturgemeinschaft, sind demokratisches und nationales Ideal folglich kongruent170. Freilich kennt und anerkennt Heller nicht nur die vom Kollektiv ‚Nation‘ ausgehende Demokratiekonzeption. Er macht deutlich, dass sich Realität und Idee der Demokratie den historischen Kämpfen um Freiheit und Gleichheit verdanken171. In dieser historischen Bedeutungsdimension fordert Demokratie „Freiheit über den Staat, Teilnahme der Regierten am Regiment“172 und wird insofern statt vom Kollektiv vom Individuum und seinen Autonomieansprüchen her konstruiert. Demokratie ist für Heller in erster Linie ein Prinzip staatlicher Herrschaftsorganisation. Da staatliche Herrschaft nach Hellers Auffassung als hierarchischer Befehlszusammenhang Gestalt annimmt, bedeutet Demokratie für ihn Rückführbarkeit der einzelnen Befehle auf den vereinheitlichten Willen der Herrschaftsunterworfenen173. Dieses die Staatsorganisation zentrierende Demokratieverständnis verteidigt Heller auch gegen die scheindemokratischen Alternativen des Sowjetsystems und ständestaatlicher Vertretungen; der Primat des staatlichen Parlaments erscheint bei ihm als Garantie und daher auch als zentrale Forderung des demokratischen Prinzips174. Indessen ist Heller weit davon entfernt, den demokratischen Gedanken aus dem gesellschaftlichen Bereich auszugrenzen und im Gegenzug die Staatsorganisation gegen die Wertungen und Prinzipien der Gesellschaft abzuschotten; vergeblich wird man bei Heller nach einer strikten Trennung zwischen einem staatlichen Funktionskreis der Demokratie und einem gesellschaftlichen Funktionskreis der Grundrechte suchen. Durch selbstverwaltende Korporationen175, insbesondere 168 Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. S. 267 (372). 169 Heller (Fn. 61), S. 447; ders. (Fn. 168), S. 350. 170 Vgl. Heller (Fn. 166), S. 538; ders. (Fn. 168), S. 350. 171 Heller (Fn. 39), S. 216 f.; ders., Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 281 (284 f.). 172 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 289. 173 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 62. 174 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 315. 175 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 296 ff.

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aber durch Wirtschaftsdemokratie176 verwirklicht sich der demokratische Gedanke nach Hellers Auffassung auch im gesellschaftlichen Bereich177. Der demokratische Gedanke bestimmt Inhalt und Verständnis der Grundrechte178; zugleich bleibt das Demokratieprinzip seinerseits inhaltlich auf den historischen und philosophischen Sinn der Grundrechte rückbezogen, denn das ihnen zugrunde liegende Autonomie-Ideal liegt, politisch gewendet, auch dem demokratischen Prinzip zugrunde179. Heller betont, dass der demokratiezentralen Idee der Volkssouveränität unter dem mächtigen Eindruck des Nationalgedankens auch eine sozusagen externe Geltungsdimension zugewachsen ist; gemeint ist die „Nationalsouveränität als politische Freiheit einer Kulturgemeinschaft nach außen“180. Innerstaatlich entspricht dem, wie Heller es darstellt, die demokratische Forderung, „den Staat als Ausdruck der nationalen Kulturgemeinschaft aufzubauen“181. Dieses historisch gewordene Paradigma der nationalstaatlichen Demokratie, das Heller seiner Wirkmacht entsprechend ernst nimmt, legt es nun nahe, dass nur diejenigen Glieder der Gebietsgesellschaft zum nicht bloß nach außen, sondern eben auch nach innen exklusiven demos des Nationalstaats gehören, die die entsprechende Nationalität aufweisen. Dass die Staatsangehörigkeit die Voraussetzung für demokratische Teilhabe sein soll, mag in der Perspektive des nationalstaatlichen Demokratie­ paradigmas auch deshalb plausibel erscheinen, weil mit der Betonung der externen Geltungsdimension von Demokratie als Nationalsouveränität die den Staatsangehörigen obliegende Wehrpflicht zur genuin demokratischen Grundpflicht avanciert182; in dem Gleichmaß von demokratischen Rechten und Pflichten indes liegt wohl nicht nur für Heller „das sittliche Pathos der Demokratie“183. Allerdings lässt Heller klar erkennen, dass das nationalstaatliche Demokratieparadigma historisch bedingt ist. Wer vom demokratischen demos ausgeschlossen ist und wer dazu gehört, „hängt von den gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen, genauer gesagt davon ab, welche Schichten und Klassen zum politischen Selbstbewusstsein erwacht und zur wirksamen Beteiligung am Staatsleben in der Lage sind“184. Heller beschreibt, wie diejenigen, die unter dem Banner von politischer Freiheit und Gleichheit an die Macht gelangt sind, nunmehr ihrerseits von den Machtlosen mit eben diesen Postulaten konfrontiert werden und sich der immanenten Logik der Freiheits- und Gleichheitsforderungen schließlich fügen 176

Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 291. Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 289. 178 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 287 ff. 179 Vgl. Heller (Fn. 160), S. 524. 180 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 290. 181 Heller (Fn. 166), S. 538. 182 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 302. 183 Heller, Grundrechte (Fn.  171), S.  302. Zu diesen Zusammenhängen auch Habermas (Fn. 43), S. 9 f. 184 Heller (Fn. 39), S. 267. 177

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müssen185. In dieser Perspektive erscheint die demokratisch exklusive Macht der Staatsangehörigen faktisch und normativ als prekär.

bb) Fazit und Würdigung In seiner wirklichkeitswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Demokratieprinzip bleibt Heller somit seinem dialektischen Denkverfahren ersichtlich treu. Er anerkennt und würdigt Inhalte und Konsequenzen der rein verbandsorientierten Demokratiekonzeption wie auch die des ausschließlich individualistischen Demokratieverständnisses, ohne sie jeweils absolut zu setzen. Für den demokratiezentralen Volksbegriff verbietet sich in dieser Perspektive jede Vereinseitigung. Weder darf er von einem herrschaftsideologischen Demokratieverständnis noch von der Ideologie der Herrschaftsfreiheit her konkretisiert werden. Das Volk im demokratischen Sinn darf nicht umstandslos auf das Kollektiv ‚Nation‘ relativiert werden; ebenso wenig lässt es sich ohne Weiteres auf seine einzelnen Glieder reduzieren. Außer Zweifel steht, dass in der Demokratie das staatlich verfasste Volk über die Gesellschaft herrscht; dies schließt es freilich nicht schon vom Grundsatz her aus, dass sich auch innerhalb der Gesellschaft Teil-Völker demokratische Strukturen schaffen und dass das staatlich verfasste Volk als Transmitter der Gesellschaft und seiner freiheitlichen Aspirationen begriffen wird. Das Volk als demos kann von der wirkmächtigen Idee der Nationalsouveränität nicht unvermittelt dissoziiert werden; ebenso verbietet es sich aber, den Volksbegriff von dem demokratischen Kampfziel der fortschreitenden gesellschaftlichen Integration der politisch Sprachlosen und Ohnmächtigen abzulösen. Aus Hellers Schriften lässt sich somit ein höchst differenziertes wirklichkeitswissenschaftliches Verständnis von Demokratie und Volk ableiten, das sich für die rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der demokratischen Legitimität der EU als ertragreich erweisen wird.

b) Die Volkssouveränität als Zurechnungsregel Heller zufolge liegt die normative Bedeutung von Demokratie und Volkssouveränität darin, dass sie die Bildung der Staatsgewalt dem Volk zurechnen186. In der Demokratie gibt es, wie Heller es an anderer Stelle formuliert, „keine von dem Willen der Volksgesamtheit unabhängige Rechtsgewalt“187. Dies bedeutet nichts anderes, als dass jede einzelne hoheitliche Entscheidung letztlich auf das Volk rückführbar sein muss188. 185

Heller (Fn. 39), S. 217. Heller (Fn. 39), S. 359. 187 Heller (Fn. 168), S. 309. 188 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 99.

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Dabei erhellt aus Hellers Schriften auch, dass sich das demokratisch postulierte Ausgehen aller Staatsgewalt vom Volk nicht im volksherrschaftlichen Erlass eines Hoheitsakts erschöpft, sondern sich in der dauerhaften Dispositions- und Revi­ sionsbefugnis über die einmal geschaffene Rechtslage fortsetzt. Dieser Aspekt von Volkssouveränität kommt bei Heller vor allem dort zum Ausdruck, wo er den Gestaltungsspielraum der Volkslegislative gegenüber den Übergriffen der konservativen Weimarer Rechtsprechung verteidigt189. Die Verlagerung der Macht vom Gesetzgeber auf den Richter wertet Heller nicht etwa als Renaissance, sondern als Degeneration des materiellen Rechtsstaatsideals190, dessen Kern er in der Idee der Volkssouveränität erblickt191. Wenn Heller sich daher mit Verve dagegen verwahrt, dass sich die Rechtsprechung zum Gesetzgeber aufwirft192, so beruht dies ersichtlich auf der Prämisse, dass Volkssouveränität immer auch demokratische Disponibilität und Revisibilitität der vorfindlichen Verhältnisse bedeutet, mithin also eine dauerhafte Zurechenbarkeit hoheitlicher Entscheidungen zum Volk fordert. In der modernen Massengesellschaft kann eine solche dauerhafte Rückbindung aller hoheitlichen Macht an das Volk nun freilich nicht mehr unmittelbar Platz greifen, sondern muss indirekt durch Repräsentativsysteme ins Werk gesetzt werden193. Heller spricht insofern von magistratischer Repräsentation194 und betont damit, dass keineswegs nur Parlamentarier, sondern eben auch andere demokratische Magistrate in das System demokratischer Repräsentation und damit in die Rückbindung staatlicher Gewalt an das Volk eingebunden sind195. Wenn Heller im Weiteren Demokratie „als Herrschaft des Volkswillens durch das Gesetz und als Herrschaft der gesetzlich bestellten Repräsentanten“ umschreibt196, verweist er auch schon auf die beiden grundsätzlichen Formen, durch die staatliche Entscheidungen im Rahmen magistratischer Repräsentation an das Volk rückgebunden werden: Eine solche Rückkoppelung lässt sich zum einen dadurch erzielen, dass die Repräsentanten ihre Entscheidungsbefugnisse zwar nicht unmittelbar, wohl aber über eine ununterbrochene Kette gesetzmäßiger Berufungsakte mittelbar vom Volk herleiten. Insofern lässt sich von einer personellen Legitimation hoheitlicher Entscheidungen sprechen197. Zum anderen kann eine legitimierende Rückbindung dadurch erreicht werden, dass der Entscheidungsakt sachlich-inhaltliche Wertungen nachvollziehen muss, die entweder das Volk selbst getroffen hat oder aber – und dies ist der Regelfall – den Willen demokratisch be-

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Heller, Rechtsstaat (Fn. 11), S. 450; ders. (Fn. 149), S. 363 ff. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 40. 191 Heller (Fn. 121), S. 210 f. 192 Heller, Rechtsstaat (Fn. 11), S. 450; Heller (Fn. 149), S. 364. 193 Heller (Fn. 160), S. 467 f. 194 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 97 ff. Dazu eingehend auch Mori (Fn. 40), S. 188 ff. 195 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 98 f. 196 Heller (Fn. 160), S. 525. 197 Dazu im Einzelnen unten Kapitel 6 I. 2. a) aa) (1) = S. 284 und Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

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stellter Repräsentanten wiedergeben. Dies lässt sich als materielle Legitimation von Hoheitsentscheidungen charakterisieren198. Freilich ist sich Heller im Klaren darüber, dass durch die bloß theoretischabstrakte Zurechenbarkeit hoheitlicher Entscheidungen zum Volk die Volks­ souveränität noch nicht ins Werk gesetzt ist. Die These, dass Hoheitsakte vom Volk herrühren, weil sie von magistratischen Repräsentanten getroffen werden und gegebenenfalls die Interessenwertungen anderer magistratischer Repräsentanten nachvollziehen, ist in der Tat nur dann schlüssig, wenn „die Ausübung jeder magistratischen Repräsentation, nicht nur die des Parlamentariers, als dauernd, auch in den selbständigen Entscheidungen vom Volk abhängig gedacht werden“ kann199. Von personeller und materieller Legitimation hoheitlicher Entscheidungen kann, anders formuliert, lediglich dann die Rede sein, wenn die Entscheider sowie die Entscheidungsvorgaben den Volkswillen transportieren. Die damit verbundene Fiktion, dass durch die magistratischen Repräsentanten das Volk entscheidet, ist im Rahmen demokratischer Repräsentativsysteme nun insoweit gerechtfertigt und nicht bloße Ideologie, als das Volk in regelmäßigen Abständen durch Wahlen unmittelbar oder mittelbar über die magistratischen Repräsentanten entscheidet200. Diese (Aus-)Wahlmöglichkeit nämlich wirkt auch über den Wahltag hinaus: Die magistratischen Repräsentanten orientieren sich dauerhaft an den öffentlichen Meinungsbildungsprozessen, weil sie sich durch den Wählerwillen verpflichtet fühlen beziehungsweise wiedergewählt werden möchten. Die demokratische Vorstellung einer magistratischen Repräsentation der volonté générale entspricht daher nach Hellers Auffassung durchaus einer realen politischen Machtlage und kann aus diesem Grund auch zur juristischen Grundlage des demokratischen Repräsentationssystems erklärt werden201. In Hinblick auf die dauerhafte Rückbindung hoheitlicher Gewalt an das Volk kommt dabei dem Parlament und den dort versammelten magistratischen Re­ präsentanten besondere Bedeutung zu. Denn nach Hellers Auffassung ist dieses „der Idee nach nur das Abbild und die Krönung, zugleich auch das Vorbild aller jener zahllosen politischen Verständigungen, die in gewaltlosen Diskussionen innerhalb der einzelnen Parteien, Vereinigungen und Versammlungen sowie in der Presse sich vollziehen“202. Das Parlament ist somit der Ort, an dem der gesellschaftliche Diskurs am authentischsten in den staatlichen Entscheidungsprozess einfließen kann: Die Zusammensetzung sowie die deliberativen Verfahrensweisen eines Parlaments ermöglichen es, den gesellschaftlichen Diskurs adäquat aufzugreifen. Darin liegt der tiefere Grund dafür, dass, wie Heller in Hinblick auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung zutreffend bemerkt, „im Staate der Volks 198

Dazu im Einzelnen unten Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290 und Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 99. 200 Vgl. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 98; ders. (Fn. 26), S. 426. 201 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 97 f. 202 Heller (Fn. 160), S. 469.

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souveränität die Vermutung ebenso sicher zugunsten der Volkslegislative, wie im Staate des monarchischen Prinzips zugunsten des Monarchen“ spricht203. Die permanente Rückkoppelung der Hoheitsgewalt an das Volk beruht bei ­ eller nun aber nicht nur auf dem System magistratischer und insbesondere parH lamentarischer Repräsentation. Hinzu tritt ergänzend das seinerseits mittelbar legitimationsvermittelnde System der behördlichen Bürokratie. Dies hängt damit zusammen, dass Heller deutlich zwischen der demokratischen Rückbindung staatlicher Hoheitsgewalt, wie sie durch magistratische Repräsentanten vermittelt wird, und der demokratischen Rückkoppelung bei Entscheidungen sonstiger Amts­träger unterscheidet204. Und selbst wenn sie von der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft bislang noch nicht aufgegriffen wurde205, erweist sich die von Heller getroffene Differenzierung zwischen diesen beiden Erscheinungsformen personeller demokratischer Legitimation als durchaus konsequent: Wie bereits skizziert, lassen sich Hellers Auffassung zufolge die Entscheidungen eines magistratischen Repräsentanten dem Volk deshalb zurechnen, weil magistratische Repräsentanten infolge der periodisch wiederkehrenden Volkswahlen dauerhaft an den aktuellen Volkswillen juristisch rückgebunden sind und in ihren Handlungen daher die volonté générale vergegenwärtigen. Ein sonstiger Magistrat hingegen ist als Lebenszeitbeamter206 nicht in dieser Weise an den Volkswillen rückgebunden. Ihm kommt, wie Heller zutreffend betont, keine demokratische Repräsentationsfunktion zu207. Er kann daher auch nicht in derselben Weise wie demokratische Repräsentanten zur personellen Legitimation staatlicher Akte beitragen. Stattdessen ist darauf abzustellen, dass Beamte von demokratischen Repräsentanten in ihre Funktion eingesetzt und von diesen kontrolliert werden. Wegen des hierdurch begründeten hierarchischen Unterordnungsverhältnisses ist nämlich davon auszugehen, dass die Beamten ungeachtet ihrer eigenen parteipolitischen Präferenzen die jeweils aktuellen Zielsetzungen der ihnen vorgesetzten demokratischen Repräsentanten loyal ausführen208. Dem Volk sind Beamtenentscheidungen also deshalb zurechenbar, weil die Beamten gewissermaßen qua Amt dazu angehalten werden, den in der Politik ihrer höchsten Vorgesetzten repräsentierten Volkswillen umzu 203

Heller (Fn. 121), S. 231. Heller, Das Berufsbeamtentum in der deutschen Demokratie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 379 (385 ff.). 205 In der Literatur wird in Ansehung der personell-demokratischen Legitimation differenzierungslos vom Amtswalter, staatlichem Funktionsträger oder Organwalter gesprochen, der über eine ununterbrochene Kette von Berufungsakten an das legitimationstiftende Volk rückgebunden sein muss – vgl. nur Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 381 und Emde (Fn. 71), S. 43. 206 Zu diesem Aspekt des Beamtentums vgl. nur Isensee, Artikel ‚Beamte‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 584 (585 und 589). 207 Vgl. Heller (Fn. 204), S. 380. 208 Heller (Fn. 204), S. 380; auch Isensee (Fn. 206), Sp. 585; skeptisch Grottian / Narr, Abschaffung des Berufsbeamtentums?, in: Grottian (Hrsg.), Wozu noch Beamte, 1996, S.  123 (132 ff.). 204

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setzen. Allein wegen dieser beamtenrechtlichen Subordinationsverhältnisse vermögen Beamte den Entscheidungen personale Legitimation zu vermitteln. Hinzu kommt natürlich, dass die von Beamten getroffenen Entscheidungen vielfach die Vorgaben demokratischer Repräsentanten nachvollziehen und sich auch wegen dieses materiellen Legitimationszusammenhangs auf das Volk zurückführen lassen. Nun vermag das durch die Bürokratie flankierte System magistratischer Repräsentation ein dauerhaft-authentisches Ausgehen der Herrschaftsgewalt vom Volk selbstverständlich nur dann ins Werk zu setzen, wenn sich der Volkswille nicht nur bei Wahlen und Abstimmungen, sondern auch dazwischen artikuliert. Es bedarf mit anderen Worten einer wirkkräftigen öffentlichen Meinung. Die bereits zitierte Passage über das Parlament als Abbild und Krönung der gesellschaftlichen Diskussionen209 illustriert überaus plastisch den Zusammenhang zwischen magistratischer Repräsentation und zivilgesellschaftlicher Debattenkultur. Die Verwiesenheit der repräsentativen Demokratie auf ihre zivilgesellschaftliche Basis hat sich insoweit sichtbar auch in Hellers demokratierechtlicher Konzeption niedergeschlagen. Dem entspricht, dass Heller auch die Bedeutung der politischen Parteien für die repräsentative Demokratie hervorhebt. Seiner Auffassung nach tragen diese in erheblichem Maße dazu bei, dass sich nicht nur in dem für die repräsentative Demokratie zentralen Moment der Repräsentationsbestellung, sondern auch im Zuge der gebietsgesellschaftlichen Willensbildungs- und -vereinheitlichungsprozesse der Volkswille Bahn brechen kann210.

c) Das Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität Wer Demokratie sagt und damit im Kern Volks-Herrschaft sowie Volks-Souveränität meint211, dem stellt sich in Bezug auf die EU rasch das facettenreiche Souveränitätsproblem. Hermann Heller hat sich mit den grundlegenden Fragen der Souveränität eingehend beschäftigt212 und ihnen sogar eine Monographie ge­ widmet. Seine Schrift über die Souveränität freilich hat nicht nur viele seiner politischen Weggefährten geradezu schockiert213, sondern löst auch heute noch bis 209

Siehe oben Fn. 202. Heller (Fn. 26), S. 426 f. Dementsprechend wird Hellers Staatsvorstellung von Gusy, Einleitung: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik  – Entstehungsbedingungen und Vorfragen, in: ders. (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 11 (35) auch als kommunikationstheoretische angesprochen. Dies wiederum belegt die Aktua­ lität von Hellers Denken. Denn der kommunikationstheoretische Ansatz erweist sich, worauf an späterer Stelle ausführlich einzugehen sein wird – siehe unten Kapitel 6 IV. 2. c) = S. 368 –, als im hiesigen Zusammenhang von ‚Demokratieprinzip und Europäischer Union‘ durchaus zentral. 211 Siehe oben Einleitung I. 4. = S. 58. 212 Einen kurzen Abriss von Hellers Souveränitätsverständnis bietet Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 114 ff. 213 Schneider (Fn. 12), S. 193; Schluchter (Fn. 66), S. 191. 210

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weilen Befremden aus214. Und in der Tat erweisen sich einige von Hellers Thesen zumindest aus heutiger Sicht als ziemlich unverdaulich und letztlich als verfehlt. Dies gilt vor allem für das überpointierte Resultat der Souveränitätsschrift215, wonach Souveränität die Eigenschaft einer universalen Gebietsentscheidungs- und Wirkungseinheit sein soll, „kraft welcher sie um des Rechtes willen sich gegebenenfalls auch gegen das Recht absolut behauptet“216. Dass eine Auseinandersetzung mit Hellers Überlegungen zur Souveränität217 trotz zahlreicher Überspitzungen gleichwohl Sinn macht218, hängt mit seiner scharfsinnigen Durchdringung der Problematik zusammen219. Einmal mehr erweist sich dabei der wirklichkeitswissenschaftliche Ansatz mitsamt seines dialektischen Denkverfahrens als geeignet, einen hochkomplexen Begriff wie eben den der Souveränität zu zähmen220.

aa) Hellers wirklichkeitswissenschaftliches Verständnis der Staatssouveränität und ihres Verhältnisses zur Volkssouveränität Im Ausgangspunkt erblickt Heller das Wesen der Souveränität in der Fähigkeit, Rechtsgrundsätze zu obersten, die Gemeinschaft determinierenden Rechtssätze zu positivieren221, das heißt sie zu entscheiden und auf Dauer in Geltung zu erhalten222. Subjekt der Staatssouveränität ist folglich diejenige Entscheidungsund Wirkungseinheit, die auf einem bestimmten Gebiet als oberste Normsetzerin, 214

Dies konstatiert auch Denhard (Fn. 19), 1996, S. 86. Zustimmung erfährt der Souveränitätsbegriff Hellers indes aus dem nationalkonservativen Lager – siehe Mäder, Vom Wesen der Souveränität, 2007, S. 135 ff. 215 Hebeisen (Fn. 124), S. 432: „Quintessenz der begrifflichen Vorstellung von Souveränität bei Heller“. 216 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 185. Vgl. allerdings auch Di Fabio (Fn. 84), S. 21, der in der „‚Entbundenheit des Souveräns‘ von den positiven Gesetzen und moralischen Geboten (…) das entscheidende Kennzeichen von Modernität“ erblickt. 217 Zu diesen auch Hennis, Das Problem der Souveränität, 2003, S. 49 ff. 218 So offensichtlich auch Vesting (Fn. 38), S. 193 ff. 219 Hennis (Fn.  217), S.  57 f.: „Kein Zweifel, daß Heller mit dieser Lehre dem Souverä­ nitätsbegriff wieder einen sinnvollen Platz im System des Staatsrechts eingeräumt, die norm­ logischen wie die normlosen Auffassungen Kelsens und Schmitts zurück- und Existenz und Notwendigkeit einer souveränen Willenseinheit nachgewiesen hat.“ 220 Penski (Fn. 22), S. 184: „Die Aussagen Hellers über die Souveränität des Staates und über die Nation sind sicher in ihrem Akzent stark zeitbezogen; dennoch sollten sie auch für die heutige Staatlichkeit nicht unterschätzt werden.“ Auch Hebeisen (Fn. 124), S. 28 konstatiert im Vergleich der Souveränitätskonzeptionen Hans Kelsens, Carl Schmitts und Hermann Hellers, das nur die „Letzte ein differenzierte Antwort auf die Frage nach den Bedingungen von Souveränität“ eröffne. 221 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 74 und 79. Heller erweist sich hier als gelehriger Schüler Bodins (so auch Denninger [Fn. 59], S. 1124); vertiefend zu Hellers Bodin-Rezeption Schluchter (Fn. 66), S. 182 ff. 222 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 127 und 186. Dazu eingehend Penski (Fn. 22), S. 169 ff.

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mithin also als verfassunggebende Gewalt223 fungiert und im Übrigen das gebietsuniversale Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt besitzt224. Mit diesem im Ansatz so nüchternen Souveränitätsverständnis gelingt es Heller, das Normative der Souveränität mit ihrer unleugbaren Normalität, die Idealität ihres Anspruchs mit der Faktizität der für sie konstitutiven Dezisionen zu vermitteln und sie damit wirklichkeitswissenschaftlich auf den Begriff zu bringen. Dieser wirklichkeitswissenschaftliche Souveränitätsbegriff bewährt sich auch insoweit, als er das Verhältnis der Staats- zur Volkssouveränität zu klären hilft. Denn mit seinem Souveränitätsbegriff vermeidet es Heller zum einen, dass die Souveränitätsfrage begrifflich auf den politischen Streit um die Souveränität im Staat verkürzt wird, Staats- und Volkssouveränität methodisch unvermittelt miteinander vermengt werden225. Subjekt der Staatssouveränität ist demnach allein diejenige Wirkungs- und Entscheidungseinheit, die exklusiv die oberste Gebietsordnungsgewalt besitzt226. Als Träger der Staatssouveränität bezeichnet Heller demgegenüber den- oder diejenigen, welche innerhalb der souveränen Organisation über deren Sein und Sosein entscheiden227. Der oder die Träger der Staatsouveränität können darüber hinaus zugleich Organ der souveränen Staatsgewalt sein. Der Begriff der Volkssouveränität bezieht sich Heller zufolge begrifflich allein auf die Frage, wer Träger beziehungsweise – höchstes – Organ der souveränen Staatsorganisation ist, nicht aber auf das Subjekt der Staatssouveränität228. Deren Wirklichkeit entfällt daher auch nicht etwa dann, wenn sie sich nicht in einem einzigen Träger – sei es das Volk, sei es der Fürst – lokalisieren lässt. Souveränität zeichnet sich für Heller nicht durch die Unabhängigkeit einer Repräsentationsinstanz, sondern durch die Unwiderstehlichkeit souveräner Entscheidungsgewalt aus229. Zum anderen schlägt sich in Hellers Souveränitätsbegriff aber auch seine Kritik daran nieder, dass es namentlich dem in Deutschland entwickelten Verständnis von Staatssouveränität nicht gelungen sei, in deren Subjekt, nämlich dem Staat, anderes zu sehen als ein Abstraktum oder eine Fiktion230. Die Souveränität eines Abstraktums oder einer Fiktion aber ist, wie Heller in der ihm eigenen pointierten Sprache formuliert, nicht zu denken231. Die historisch-soziologische Ursache für den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildeten inhaltsleeren Begriff der Staatssouveränität sieht Heller darin, dass damit das eigentliche Problem, nämlich das uralte Problem der Volks- und Fürstensouveränität umgangen und verdun 223

Heller (Fn. 39), S. 356. Heller (Fn. 39), S. 358; dazu auch Zippelius (Fn. 15), § 9 I 1. 225 Heller (Fn. 39), S. 358; siehe hierzu Vesting (Fn. 38), S. 196. 226 Heller (Fn. 39), S. 358. Dazu auch Penski (Fn. 22), S. 176. 227 Heller (Fn. 39), S. 357 f. 228 Heller (Fn. 39), S. 358. 229 Heller (Fn. 39), S. 358. 230 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 81 ff. 231 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 84.

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kelt werden sollte232. Nun versteht es Heller zwar, wie gezeigt, begrifflich zwischen Staats- und Volkssouveränität zu differenzieren. Zugleich weiß er aber auch, dass sich in unserem demokratischen Zeitalter die Wirkweise souveräner Staatlichkeit ohne Rücksicht auf das ideelle Prinzip der Volkssouveränität nicht angemessen erklären lässt. Denn Erklärungs- und Rechtfertigungsprinzipien wachsen, so Heller, in jeder Epoche aus derselben Wurzel233; wo von Staatssouveränität die Rede ist, wird daher der Gedanke der Volkssouveränität immer irgendwie mitgedacht234. Für das aktuelle Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität kommt er vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, dass in der zeitgenössischen Demokratie die Abhängigkeit von Regierenden und Regierten einen so hohen Grad erreicht habe, dass man gezwungen sei, von einer Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit zu sprechen235. Dies heißt nichts anderes, als dass die souveräne Wirkungs- und Entscheidungseinheit des Staates tendenziell mit dem im souveränen Staat zu oberst herrschenden Volk zusammenfällt. Subjekt, Träger und höchstes Organ souveräner Staatsgewalt erweisen sich als faktisch weithin identisch236. Heller gelingt es mithin, Staats- und Volkssouveränität begrifflich auseinanderzuhalten, ohne die Zusammenhänge zu ignorieren, die sich unter den historisch gewordenen Bedingungen demokratischer Staatlichkeit hierzwischen ergeben. Diesem differenzierten Verständnis entspricht es, dass Heller die für die moderne Demokratie kennzeichnende Identifizierung von Volks- und Staatssouveränität nun keineswegs dahingehend übertreibt, dass Demokratie nur vom und durch das souveräne Staatsvolk bewirkt werden könnte. Stattdessen geht er beispielsweise davon aus, dass die „formale“ bürgerliche Demokratie unter dem Einfluss des sozialistischen Ideenkreises bereits heute um wirtschaftsdemokratische Regelungsgehalte erweitert worden ist237. Die Betriebsverfassung sowie wirtschaftliche Selbstverwaltungskörperschaften wertet er infolgedessen ebenfalls als Ausfluss des demokratischen Prinzips238. Mithin sind die althergebrachte Staatssouveränität sowie die demokratiezentrale Volkssouveränität auch in Hellers Demokratiekonzeption nicht völlig kongruent. Vielmehr erscheinen sie als lediglich teil-identifiziert. Als identitätsstiftendes missing link zwischen Staat- und Volkssouveränität fungiert dabei unter den Voraussetzungen demokratischer Verfassungsstaatlichkeit das Staatsvolk als Träger der souveränen Staatsgewalt. Damit ist die Instanz benannt, der nach der demokratierechtlichen „Orientierungs- und Berechnungsregel“239 die höchste Rechtssetzungsgewalt auf einem Gebiet und insonderheit der pouvoir constituant zukommt240. 232

Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 92 ff. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 95. 234 So ausdrücklich Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 96. 235 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 99. 236 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 99. 237 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 315 f.; Heller (Fn. 168), S. 403 und 406. 238 Heller, Grundrechte (Fn. 171), S. 315 f. 239 Heller (Fn. 39), S. 359. 240 Vgl. Heller (Fn. 39), S. 356 und 393 f.

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Die wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion der Souveränität verdeutlicht allerdings nicht nur die strukturellen Zusammenhänge zwischen Staats- und Volkssouveränität, sondern auch die Strukturunterschiede. So warnt Heller eindringlich davor, die Realität des heutigen Nationalstaats und seiner Souveränität zur Idee zu verabsolutieren241. Stattdessen streicht er schon in der Souveränitätsschrift den funktionalen Charakter von Souveränität deutlich heraus, wenn er beschreibt, dass und wie das Souveränitätsdogma der Rechts- und Friedensordnung dient242. In der ‚Staatslehre‘ heißt es dann sogar ganz lapidar, dass die Souveränität des Staates „nichts anderes als die notwendige Konsequenz seiner gesellschaftlichen Funktion“ sei243. Die Volkssouveränität ist für Heller hingegen seit jeher ein ideelles Legitimationsprinzip gewesen, und zwar das einzig heute noch gültige244. Mit Souveränität wird somit nach Hellers Auffassung lediglich der Tatbestand umschrieben, dass und wie eine gesellschaftliche Entscheidungseinheit gebietsbezogen als oberste Rechtsmacht wirkt. Welche Autorität freilich zur Ausübung dieser Rechtsmacht berufen ist, darüber entscheidet die in einer Rechtsgemeinschaft sozial wirksam gewordene Legitimationsidee. bb) Staatssouveränität, Volkssouveränität und europäische Integration bei Heller Sein wirklichkeitswissenschaftliches Verständnis von Staats- und Volkssouveränität hat nun nahe liegender Weise auch Hellers differenzierte Sicht der europäischen Integration geprägt. Grundsätzlich befürwortet Heller diese245, und zwar gerade aus demokratierechtlichen Gründen, also in Hinblick auf die zu wahrende Volkssouveränität: Da das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen durch das internationale Kapital in Frage gestellt sei, bedürfe es einer übernationalen Staatsorganisation246. Materielle Rechtsstaatlichkeit, das heißt für Heller eine umfassende, ins international verflochtene Wirtschaftsleben ausgreifende Demokratie kann sich Heller nur mehr im europäischen Rahmen vorstellen247. Allerdings bleibt auch im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses die Souveränitätsproblematik präsent. Eine Auflösung nationalstaatlicher Souveränität ist seiner Auffassung zufolge allein durch bewusste Einordnung in einen umfassenderen souveränen Staat möglich248. Die These von einem grundsätzlichen Wandel be 241

Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 200. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 125 f. und passim. 243 Heller (Fn. 39), S. 359. 244 Heller, Souveränität (Fn.  11), S.  95; ders., Ziele und Grenzen einer deutschen Ver­ fassungsreform, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 411 (414). 245 Heller (Fn. 168), S. 409; ders., Souveränität (Fn. 11), S. 201. 246 Heller (Fn. 61), S. 518. 247 Heller (Fn. 168), S. 407 ff. und 373 f.; ders. (Fn. 26), S. 432 f.; ders. (Fn. 168), S. 517 f.; dazu auch Vesting (Fn. 120), S. 366 f. 248 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 201. Hierauf weist auch Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 81 hin. 242

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ziehungsweise der Auflösung des Souveränitätsdogmas weist Heller in diesem Zusammenhang entschieden zurück249. An dem Konzept von Souveränität hält Heller zum einen deshalb fest, weil er die gesellschaftliche Funktion souveräner Staatlichkeit für unverzichtbar hält250. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass Heller Staats- und Volkssouveränität teilweise miteinander identifiziert. In dieser Perspektive kann die Übertragung von Souveränität überhaupt nur ein bewusster Akt des rechtlich verfassten Staatsvolks sein. Denn nur dieses ist als Träger und Legitimationssubjekt des pouvoir constituant251 befugt, über den durch die souveräne Staatlichkeit wesentlich mitkonstituierten politischen Status zu entscheiden.

cc) Hellers Überlegungen zum Verhältnis von Souveränität und völkerrechtlicher Bindung Speziell in Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess, der auf völkerrechtlichen Verträgen basiert, ist abschließend noch auf Hellers Überlegungen zum Verhältnis von Souveränität und völkerrechtlicher Bindung einzugehen252. Insoweit kann Heller freilich nur begrenzt gefolgt werden253. Denn hier kommt sein oben bereits erwähnter, absolutistisch anmutender Souveränitätsbegriff254 voll zum Tragen. Zwar geht Heller nicht so weit, den Rechtscharakter völkerrechtlicher Bindungen pauschal zu leugnen, weil dies mit dem Konzept souveräner Macht nicht vereinbar wäre255. Vielmehr betont er, dass das nach den anerkannten Entstehungsgründen in Geltung gesetzte Völkerrecht, wie alles Recht, echtes Sub­ ordinationsrecht sei256. Gleichwohl „hegelt“ es bei Heller gewaltig, wenn er aus dem Souveränitätsdogma geradewegs auf die grundsätzliche Kündbarkeit eines jeden völkerechtlichen Vertrags schließt257. Ebenso wenig überzeugt die ohne nähere Begründung vorgetragene These, dass ein Staat niemals durch Vertrag begründet werden könne258. 249

Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 201. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 125; zurückhaltend Stein / Frank (Fn. 15), § 3 I 3.  251 Vgl. Heller (Fn. 39), 393 f. 252 Dazu auch schon Fiedler (Fn. 17), S. 209 f. 253 So auch Hennis (Fn. 217), S. 62. 254 Vgl. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 177: „Souveränität ist (…) die unentbehrliche Bezeichnung jener Eigenschaften einer gebietsuniversal entscheidenden Willenseinheit, kraft welcher sie sich auch gegen das positive Recht behauptet.“ 255 In diesem Sinne vor allem Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (Lakebrink [Hrsg.]), 1981, § 333; dazu Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 21 (153). 256 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 147. 257 Heller, Souveränität (Fn.  11), S.  147. Hierzu auch Cremer, Europäische Hoheitsgewalt und deutsche Grundrechte, in: Staat 1995, S. 268 (274). 258 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 191. 250

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Doch sieht man von diesen souveränitätsideologischen „Hegeleien“ einmal ab und legt den Kernbestand von Hellers Überlegungen zu Souveränität und Völkerrecht frei, so erweisen sich diese als durchaus überzeugend. So ist es zweifelsohne richtig, dass das Völkerrecht die Existenz souveräner Staaten zwingend voraussetzt259. Ohne souveräne Staaten ist Völkerrecht  – zumindest jenseits des Weltstaats, der civitas maxima – weder begründbar noch durchsetzbar260. In wirklichkeitswissenschaftlich informierter Perspektive liegt es dabei auf der Hand, dass souveräne Staatlichkeit notwendig mehr bedeutet als bloße Völkerrechtssubjektivität. Sie hat zugleich einen ausgesprochenen Machtaspekt261. Denn ohne reale (Staats-)Macht bleibt Souveränität fiktiv und kann ihre reale gesellschaftliche Funktion nicht mehr erfüllen. Auch völkerrechtliche Bindungen werden obsolet, wenn der adressierte Staat nicht länger die Macht hat, ihnen Rechnung zu tragen. In dieser enthegelten Lesart hat das machtbewusste Souveränitätsverständnis Hermann Hellers denn auch seine Berechtigung und vermag ein erhellendes Licht auf das spannungsreiche Verhältnis von Souveränität und völkerrechtlicher Bindung zu werfen. So können Verträge keinen Bestand haben, die – von den Parteien unbeabsichtigt – dazu führen, dass ein Staat seine Souveränität einbüßt262. Ein solcher zufällig-beiläufiger Verlust der Souveränität auf dem Vertragswege scheidet aus, denn in ihrem unverrückbaren Kern ist die Souveränität ein ius necessarium263. Eine gewillkürte Übertragung der Souveränität wird insofern – entgegen Heller – allerdings nicht ausgeschlossen264. Der Souveränitätsfall liegt vor, wenn aufgrund der aktuellen Rechts- oder Machtlage ein anderer Staat den vormals souveränen Staat durch staatsrechtliche Mittel veranlassen kann, völkerrechtliche Pflichten zu erfüllen265. Dies ist dann zu bejahen, wenn ihm rechtlich die – etwas unglücklich auch als Kompetenz-Kompetenz266 bezeichnete – souveräne Gebietsentscheidungsgewalt267 übertragen worden ist oder wenn der vormals souveräne Staat über keine effektive Staatsgewalt mehr verfügt. d) Die vielfache Bedingtheit von Hellers Schriften Im Werk Hermann Hellers werden sich immer wieder Passagen finden, die der einen oder anderen Facette der vorstehend vorgeschlagenen Heller-Lektüre zu wider­sprechen scheinen oder zumindest für eine andere Akzentuierung streiten. 259

Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 141 ff. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 142. 261 Dazu etwa Heller (Fn. 39), S. 300 f. 262 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 191. 263 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 191. 264 Anders freilich Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 191. 265 Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 170. 266 So etwa schon Erler, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staaten­ gemeinschaften, in: VVDStRL 1960, S. 7 (18 und 21). Zu dieser Denkfigur eingehend Schliesky (Fn. 212), S. 368 ff.; vgl. auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, § 18. 267 Vgl. Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 183 260

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Insofern ist freilich zu berücksichtigen, dass vorstehend der Versuch unternommen wurde, Hermann Hellers Grundpositionen, wie er sie im Verlauf seines zu kurzen, aber gleichwohl überaus ertragreichen Forscherlebens eingenommen und fortentwickelt hat, in ihrer Essenz zu erfassen und sie mithin also vom Akzidentiellen zu trennen. Als akzidentiell lassen sich dabei diejenigen Äußerungen und Stellungnahmen qualifizieren, die aufgrund bestimmter äußerer Umstände, aber auch wegen der charakterlichen Disposition Hellers268 die eigentliche Position vereinseitigen, überzeichnen oder übertreiben. Gerade bei der Lektüre von Hellers Werk und der Rekonstruktion seiner Kernthesen ist es unerlässlich, diese äußere Bedingtheit vieler seiner Äußerungen zu reflektieren, weil andernfalls ein schiefes, Miss­ verständnisse provozierendes Bild entstehen muss269. Zunächst fällt auf, dass Hellers Beiträge in hohem Maße adressatenbedingt sind. So zeugen diejenigen Schriften, die vornehmlich an sozialdemokratisch gesinnte Kreise gerichtet sind, von einem klaren Bekehrungseifer. Heller möchte die skeptische Grundhaltung gegenüber Staat und Nation, die seiner Ansicht nach zwar nicht unbedingt die politische Praxis, wohl aber die marxistische Parteitheorie der Sozial­demokratie zur Weimarer Zeit beherrscht, in Lassallescher Tradition überwinden helfen270. Infolgedessen setzt er bei seinem Volksverständnis, aber auch bei seiner Souveränitätskonzeption, denen im vorliegenden Zusammenhang besonderes Gewicht beigemessen wird, mitunter doch recht nationalistisch und etatistisch anmutende Akzente. Berücksichtigt man freilich den Adressatenkreis dieser Schriften, zeigt sich, dass in diesen heute eher Ratlosigkeit erzeugenden Passagen keine Anpassung an die nationalistische Rechte liegt, sondern ein Versuch konkreter Ideologiekritik und Vorwärtsverteidigung271. Hellers eher an ein wissenschaftliches Publikum gerichteten Beiträge zeichnen sich ihrerseits durch herbe Polemiken an die Adresse der herrschenden Staatsund Rechtslehre aus272. Man gewinnt den Eindruck, dass Heller vielfach der für einen jungen Wissenschaftler immer wieder verlockenden Versuchung erliegt, der eigenen Position Kontur und publicity dadurch zu verschaffen, dass er sie schneidig von den eigentlich gar nicht so unterschiedlichen Positionen der Altvorderen 268 Müller (Fn. 19), S. 429 ff. tituliert Heller zutreffend als ‚Feuerkopf‘. Dies ist von ihm freilich hochachtungsvoll gemeint. Denn das Engagement und die Energie Hellers, vor allem aber die für ihn charakteristische Einheit von Denken und Handeln hält Müller für schlicht vorbildlich und nacheifernswert. 269 In diesem Sinn auch Albrecht, Hermann Hellers Staats- und Demokratieauffassung, 1983, S. 10, der der frühen Heller-Forschung vorwirft, die Zeitbedingtheit von Hellers Auffassungen unzureichend berücksichtigt zu haben. 270 Vgl. Heller, Nationaler Sozialismus und Nation, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 571 (574); ders., Hegel und die deutsche Politik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 241 (254). 271 So ausdrücklich Winkler (Fn. 32), S. 370. Diesen Aspekt vernachlässigt Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie, 2006 bei seiner streckenweise anachronistischen Lektüre von Hellers einschlägigen Schriften. Ähnlich wie hier hingegen Dehnhard (Fn. 19), S. 11 f. 272 Vgl. etwa Schluchter (Fn. 19), S. 37.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

zu demarkieren sucht273. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass die inhaltlich nicht durchweg ertragreichen274 und überdies (rechts-)politisch nicht eben sinn­ vollen Attacken275 gegen die (sozialdemokratisch gesinnten276) Rechtspositivisten Radbruch und vor allem Kelsen277 nicht darüber hinwegtäuschen können, dass Hellers rechtswissenschaftliche Methodenlehre im Kern eine positivistisch-legalistische ist278. Während der Abgrenzungsversuch in dieser Frage als untauglich zu werten ist, hat er bei einer anderen hier relevanten Thematik zu im Ergebnis maßlosen Übertreibungen geführt. Die Kritik an der Wiener Schule mündet in der Souveränitätsschrift in eine stellenweise geradezu machtberauschte Souveränitätsdoktrin und damit verbunden in eine eminente Völkerrechtsskepsis ein, die beide nur in sehr beschränktem Maße nachzuvollziehen sind279. Zeitbedingt sind Hellers Ideen und Vorstellungen selbstverständlich auch280. Dass die Darlegungen zu Nation und Volk in der Diktion stellenweise noch von der kollektiven ‚Weltkriegserfahrung‘281 geprägt sind und das dort erlebte Gemeinschaftsgefühl transportieren282, wurde bereits erwähnt283. Sie klingen daher bisweilen nationalistischer, als sie es der Sache nach tatsächlich sind284. In Zusammenhang damit steht wohl auch Hellers scharfe Ablehnung des als „Diktat“285 empfundenen Versailler Friedensvertrages286. Dies wiederum dürfte ein Motiv für seine streckenweise doch recht unausgewogene Souveränitätsschrift sein287.

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Dazu andeutungsweise auch Friedrich (Fn. 13), S. 168. Dass die inhaltlichen Unterschiede zwischen Kelsen und Heller geringer sind, als namentlich vom jüngeren der beiden Staatsrechtslehrer unablässig unterstellt, hat überzeugend Müller (Fn. 121), S. 128 ff. herausgearbeitet und betont zu Recht auch Maus (Fn. 22), S. 202. 275 Möllers (Fn. 87), S. 422 beschreibt diese mit einigem Recht als „geradezu haßerfüllt“. 276 Zu Radbruchs Engagement als Sozialdemokrat vgl. zum Beispiel Schneider (Fn.  12), S. 178 ff. 277 Dazu auch Hebeisen (Fn.  124), S.  424 ff.; Kühne (Fn.  19), S.  254; Vesting (Fn.  120), S. 348; Robbers (Fn. 19), S. 14; Fiedler (Fn. 19), S. 163. 278 Vgl. nochmals Hebeisen (Fn. 124), S. 428: „Nachdem (…) das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis Hellers lange Zeit die Grundlage abgab für die Einschätzung seiner Theorie als einer Positivismuskritik, werden heute vermehrt Gemeinsamkeiten zwischen den Positionen Hellers und Kelsens herausgearbeitet und als wichtig hervorgehoben.“ 279 Vgl. dazu die – freilich ihrerseits überschießende – Kritik von Kriele (Fn. 266), § 31 (am Ende). 280 Dazu etwa auch Schluchter (Fn. 66), S. 279 f. 281 Heller (Fn. 61), S. 524; dazu auch Fiedler (Fn. 19) S. 159. 282 Zur Bedeutung des Kriegserlebnisses für die jüngere Generation der Weimarer Staatsrechtslehrer vgl. Möllers (Fn. 87), S. 416 f. 283 Unzureichend gewürdigt werden diese lebensgeschichtlichen Umstände von Blau (Fn. 26), S. 187 ff. 284 Dazu die wohltuend differenzierte Darstellung bei Vesting (Fn. 38), S. 133 ff. 285 Heller (Fn. 168), S. 359, 369 und 403. 286 Siehe vor allem Heller (Fn. 61), S. 519 ff.; dazu auch Hennis (Fn. 217), S. 62. 287 Zum Beispiel Heller, Souveränität (Fn. 11), S. 195. Zu diesem Erklärungsansatz siehe auch Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: ­VVDStRL 1978, S. 7 (15). 274

Kap. 2: Hellers Rechts-, Demokratie- und Souveränitätskonzeption

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Klar durch die seinerzeitigen politischen Verhältnisse bedingt ist schließlich auch Hellers bisweilen exekutivlastige Deutung der repräsentativen Demokratie288. So postuliert er beispielsweise den demokratischen Gleichrang von Parlament und Reichsregierung289. Freilich drängte sich angesichts der Instabilität der Weimarer Republik290 eine Stärkung der Reichsregierung geradezu auf291. Eine antidemokratische Option lässt sich hieraus indes nicht begründen – zumal dies der Biographie Hellers hohnsprechen würde292. Selbst dort, wo der am politischen Geschehen schier verzweifelnde Heller den exekutivischen Gesetzesbruch zu rechtfertigen scheint, lässt er keinen Zweifel daran, dass dies nur zum Erhalt der demokra­ tischen Verfassung zulässig sein kann293. Abschließend bleibt noch darauf hinzuweisen, dass Hellers Äußerungen und Stellungnahmen in hohem Maße auch temperamentsbedingt sind294. Seine Leidenschaftlichkeit295 führt immer wieder zu unausgewogenen Stellungnahmen296, die im Lichte seiner Gesamttheorie ausgelegt werden müssen, um einordenbar zu werden. 288 Vgl. hierzu auch Möllers (Fn.  87), S.  419 f.: „… ist Hellers Verhältnis zum Parlament nicht so eindeutig positiv, wie es die Heller freundlich gesonnene Sekundärliteratur gerne unterstellt hat.“ Ferner ders. (Fn. 99), S. 97; Robbers (Fn. 19), 1983, S. 91 und – nuanciert – Meyn (Fn. 65), S. 131 ff. 289 Heller, Ziele (Fn. 244), S. 415. Ausführlich hierzu Blau (Fn. 26), S. 173 ff.; Ridder, Das Bundesverfassungsgericht. Bemerkungen über Aufstieg und Fall einer antirevolutionären Einrichtung, in: Abendroth u. a., Der Kampf um das Grundgesetz 1977, S. 70 (79) spricht im weiteren Zusammenhang sozialdemokratischer Verfassungspolitik am Ende der Weimarer Republik von „antiparlamentarischen Abstrusitäten“. 290 Dazu etwa Schneider, Historisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Krise von Weimar, in: Luthardt / Söllner (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus, 1989, S. 28 ff. 291 Vgl. Heller (Fn. 204), S. 388; ders., Ziele (Fn. 244), 415. Siehe hierzu auch Mommsen, Die verspielte Freiheit, 1989, S. 500 f. 292 So auch Meinck (Fn. 124), S. 642; vgl. ferner Winkler, Der Weg in die Katastrophe, 1987, S. 802 ff., der die Beiträge der ‚jungen Rechten‘ (einschließlich Hellers) zur Verfassungsdebatte in der SPD nuanciert würdigt. 293 Heller (Fn. 160), S. 525 f. 294 Schefold (Fn. 60), S. 257 beschreibt ihn als „kämpferisch gerade auch im wissenschaftlichen Bereich und oft feuriger, die Auseinandersetzung suchender Debattenredner“. Schluchter (Fn. 66), S. 243 spricht von „seinem polemischen Temperament“. Vgl. auch die Beschreibung seines Verhaltens während des „Preußenschlag“-Prozesses durch Kaiser (Fn.  81), S.  303 f.: „Er argumentierte temperamentvoll und stieß daher besonders häufig auf Widerspruch der anderen Seite. Er verwandte treffende Bilder, ironische Zuspitzungen und sarkastische Schlussfolgerungen. Häufig griff er mit Zwischenrufen ein. (…) Die Gelegenheit Carl Schmitt scharf und spöttisch zu kritisieren, nahm er häufig wahr.“ Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass ihm bereits von seinen militärischen Vorgesetzten gegen Ende des Krieges ein lebhafter Charakter zugeschrieben wurde – und vielleicht gerade deswegen als „wenig militärisch“ eingestuft wurde (vgl. dazu das bei Fiedler [Fn. 19], S.  152 abgedruckte ‚Vormerkblatt für die Qualifikationsbeschreibung‘ des kaiserlich und königlichen Gerichts des GouvernementInspizierenden in Kielce). 295 Meyer (Fn. 19), S. 309 zufolge soll Hans Freyer Heller als Person beschrieben haben, die „vor Temperament geradezu barst“. 296 Vgl. Schluchter (Fn. 66), S. 58 f.

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Teil I: Relevanz des Themas und Vorverständnis

Bei der Rekonstruktion von Hellers Theorien muss deren vielfache Bedingtheit reflektiert werden297. Einmal rekonstruiert indes bieten diese, wie gesehen, wichtige und wegweisende Anregungen für die Auseinandersetzung mit der europaspezifischen Demokratieproblematik298. Angesichts der an demokratischen ‚Klassikern‘299 nicht gerade reichen deutschen Rechtstradition300 erweist sich eine Rückbesinnung gerade auf Hermann Heller insofern als gleichermaßen gerecht­ fertigt wie gewinnbringend301.

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Vgl. auch Hennis (Fn. 217), S. 65. Auch Mori (Fn.  230), S.  195 attestiert Heller „ein der heutigen differenzierten Gesellschaft angepaßtes Modell der Demokratietheorie“ entwickelt zu haben. Dies gilt im Übrigen auch dann, wenn man die „Demokratietheorie für Hermann Hellers Denken trotz dessen ganz unzweifelhaft demokratischer Haltung, die auch in seinen staatsrechtlichen Schriften zum Ausdruck kommt, als nicht zentral“ ansieht (so Schefold [Fn. 60], S. 283). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Penski (Fn.  22), S.  179: „Mag manches, was Heller zu Nation in Bezug auf Staatlichkeit sagt, auch zeitbedingt sein, so trifft es doch ein allgemeines Problem des demokratischen Staates, das Problem seiner vor-staatlichen Grundlagen.“ 299 Volkmann, Relativität des Staates, in: JuS 1996, S. 1058 (1062): „einer der entschiedenen Demokraten unter den deutschen Staatsrechtslehrern“. 300 Vgl. Müller (Fn. 19), S. 476. 301 Häberle Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 19; auch ders., Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 68. Dies mag im Übrigen auch ein Grund für die Renaissance der Heller-Rezeption sein, die Stolleis (Fn. 14), S.15 konstatiert. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass Hermann Hellers Denken auch heute noch anschlussfähig bleibt, bietet der fiktive Dialog, den ein intimer Kenner des Hellerschen Œuvres, Stephan Albrecht, im Jahr 2003 (unter anderem) mit ihm geführt hat – siehe Fn. 56, S. 279 ff. 298

Teil II

Die juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU Kapitel 3

C

Die rechtswissenschaftliche Debatte in historischer Retrospektion Kap. 3: Rechtswissenschaftliche Debatte

Der hier unternommenen Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Demokratieprinzip und Europäische Union‘ liegt nun selbstverständlich nicht nur ein bestimmtes Vorverständnis zu Grunde. Sie knüpft zugleich unweigerlich an einen Debattenzusammenhang an. In Hinblick darauf, dass im Folgenden in erster Linie der grundgesetzlichen Perspektive nachgegangen werden soll1, macht es daher Sinn, wenn im Folgenden zunächst die innerhalb der bundesdeutschen Rechtsprechung und Lehre geführte Auseinandersetzung um die demokratische Legitimation der EU skizziert wird. Darüber hinaus ist aber auch noch ein kurzer (Seiten-)Blick auf die Verfassungsrechtsdiskurse anderer EU-Mitgliedstaaten geboten. Denn in Hinblick auf die hier in Rede stehende Thematik kann und darf, wie schon bemerkt wurde2, die nationale Verfassungsrechtsordnung nicht als gegenüber anderen Rechtsordnungen abgeschottetes Rechtssystem begriffen werden. Im Übrigen zeigt sich, was nicht wirklich überraschen kann, nämlich dass die nationalen Verfassungsrechtsdiskurse zunehmend konvergieren.

I. Die bundesdeutsche Rechtswissenschaft Zwar war der Grundrechtsschutz das jahrzehntelang in der deutschen Rechtsprechung und Lehre klar dominierende Integrationsthema3. Gleichwohl haben sich gerade deutsche Staatsrechtslehrer seit jeher auch eingehend mit der Frage der demokratischen Legitimation der Europäischen Gemeinschaften beziehungsweise der EU beschäftigt. Begonnen hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit



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Siehe zu dieser thematischen Beschränkung oben Einleitung III. 1. = S. 76. Siehe oben Einleitung III. 1. b) = S. 78. 3 Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: ZfP 1998, S. 267; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 406.

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Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

dem sogenannten „Kampf um den Wehrbeitrag“4, also anlässlich des Verfassungsstreits5 um die späterhin an der französischen Nationalversammlung gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft6. Sie wurde fortgeführt im Umfeld mehrerer Staatsrechtslehrertagungen7, ist schließlich in der Maastricht-Debatte neu entflammt8 und seitdem nicht wieder erloschen9. Dabei wurde das ‚Ob‘ einer demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsverbunds nie ernsthaft in Zweifel gezogen, wohl aber das grundgesetzlich gebotene ‚Wie‘. Dies entspricht der eingangs mitgeteilten Beobachtung, dass eine andere Legitimation politischer Herrschaft als die demokratische heute nicht mehr vertreten wird, freilich die Umsetzung dieses legitimatorischen Prinzips zu den unterschiedlichsten Legitimationskonzepten führen kann10. Insofern kreisten die Debatten der bundesdeutschen Rechtswissenschaft denn auch vor allem um eine Frage: Muss sich das im Grundgesetz für die innerstaatliche Willensbildung konkretisierte Demokratieprinzip von Verfassungs wegen auf der Ebene der europäischen Institutionen spiegeln oder entbindet das Grundgesetz für die europäischen Herrschaftszusammenhänge eine eigenständige Demokratienorm? Die Diskussion um dieses Kernproblem hat sich gleichsam wellenförmig ent­ wickelt11. In den fünfziger Jahren wurde „strukturelle Kongruenz“12 beziehungs­

4 So der Titel der zwischen 1952 und 1958 von Freiherr v. d. Heydte herausgegebenen Dokumentation über den Verfassungsstreit in Sachen EVG-Vertrag. 5 Zu diesem Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 54 ff. sowie v. Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 4 Rn. 54 ff. 6 Vgl. hierzu bei Loth, Weg nach Europa, 1992, S. 91 ff., dort das fünfte Kapitel mit dem Titel ‚Das Drama der EVG‘. 7 Erlangen 1959, Kiel 1964, Basel 1977 und Zürich 1990. Dazu Ipsen, Die europäische Integration in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Baur / Müller-Graff / Zuleeg (Hrsg.), Festschrift für Börner, 1992, S. 163 ff. 8 Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Verw. 1993, S. 449: „Debatte von bisher ungekannter Breite“. 9 Repräsentativ hierfür sind insbesondere die Staatsrechtslehrertagungen in Leipzig 2000 und St. Gallen 2002. 10 Siehe oben Einleitung I. 2. = S. 53. 11 Vgl. dazu auch Hummer, Vom Postulat „struktureller Kongruenz und Homogenität“ zum (vertikalen) Homogenitätsgebot des Art. 6 Abs. 1 EUV, in: Reinalter (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2002, S. 151. 12 Kraus, Das Erfordernis struktureller Kongruenz zwischen der Verfassung in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und dem Grundgesetz, in: Freiherr v. d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2 / Halbbd. 2, 1953, S. 545 (550 ff.); so auch noch Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 7 f., der allerdings darauf aufmerksam macht, dass dieser – zumal ungeschriebene – Verfassungsvorbehalt etwaige völkerrechtsvertragliche Verpflichtungen unberührt lasse; kritisch zur Lehre von der strukturellen Kongruenz Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S. 34 (39); Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Grundgesetz, in: Hailbronner / Ress / Stein (Hrsg.), Festschrift für Doehring, 1989, S. 63 (67 f.) sowie Kirchner / Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760 (763).

Kap. 3: Rechtswissenschaftliche Debatte

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weise „strukturelle Homogenität“13 zwischen grundgesetzlichem und europäischem Demokratiemodell gefordert14. Insbesondere verlangte man die Verankerung des parlamentarischen Prinzips auf europäischer Ebene. Mit zeitlicher Verzögerung hat diese Auffassung auch in der Rechtsprechung Anklang gefunden. So gelangte das Finanzgericht Neustadt 1963 zu dem Ergebnis, dass das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag wegen Verstoßes gegen das grundgesetzliche Demokratieprinzip verfassungswidrig sei15. Begründet wurde dieses strenge Verdikt mit der exekutivisch geprägten Gesetzgebung auf EWG-Ebene, das heißt mit dem Fehlen einer echten parlamentarischen Institution. Deutliche Spuren dieser Kongruenz- und Homogenitätsvorstellungen lassen sich auch noch in der Solange-I-Entscheidung des BVerfG16 nachweisen17. Dort heißt es über die Gemeinschaft, dass sie noch eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments entbehre, das Gesetzgebungsbefugnisse besitze und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gesetzgebungsorgane politisch voll verantwortlich seien18. Das Leitbild der parlamentarischen Demokratie, dessen Funktionsvoraussetzungen das BVerfG hier ebenso knapp wie präzise umreißt, fungiert im Solange-I-Urteil als rechtlich relevanter Prüfungsmaßstab für das Institutionengefüge der Europäischen Gemeinschaften19: Das Karlsruher Gericht macht deutlich, dass es sich die Prüfung von europäischen Verordnungen auf Grundrechtsverletzungen unter anderem deshalb vorbehält, weil das Institutionengefüge der Europäischen Gemeinschaften noch nicht in hinreichendem Maße das rechtlich relevante Leitbild der parlamenta­ rischen Demokratie widerspiegelt und insofern der prozedurale Grundrechtsschutz fehlt, der durch die parlamentarische Demokratie gewährt wird20. 13 Dazu eingehend Kruse, Strukturelle Kongruenz und Homogenität, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Festschrift für Kraus, 1954, S. 112 ff.; vgl. aus dem heutigen Schrifttum nach wie vor Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 5 Rn. 8: „Für Deutschland setzt Art. 23 Abs. 1 die strukturelle Homogenität zwischen nationaler und Gemeinschaftsordnung voraus.“ Tendenziell zurückhaltender Erler, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, in: VVDStRL 1960, S. 7 (38 ff.). 14 Retrospektive Würdigung bei Hummer (Fn. 11), S. 21. 15 Finanzgericht Rheinland-Pfalz, DÖV 1964, S. 306 ff. Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 19 sieht Parallelen zwischen dieser Entscheidung und dem Maastricht-Urteil des BVerfG (E 89, 155 ff.). 16 BVerfGE 37, 271. 17 So auch die Einschätzung von Hilf, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, in: EuR 1984, S.  9 (11). In seiner Periodisierung der außenpolitischen Entscheidungen des BVerfG ordnet Bothe, Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 755 (761 ff.) den Solange-I-Beschluss – ebenso wie das Urteil zum Grundlagenvertrag (BVerfGE 36, 1) – der aktivistisch-nationalistischen Phase zu. 18 BVerfGE 37, 271 (280). 19 Hierzu auch Hecker, Die europäische Integration vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Conseil Constitutionnel, in: AöR 1998, S. 577 (596 f.). 20 Dies zeigt sich auch deutlich am Leitsatz der Entscheidung, der den Prüfungsvorbehalt des BVerfG nicht allein mit dem Fehlen eines „in Geltung stehenden formulierten Ka-

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Allerdings erging das noch der Kongruenz- beziehungsweise Homogenitätsthese verpflichtete Solange-I-Urteil zu einem Zeitpunkt, als sich schon längst die berühmte „Kieler Welle“21 über die deutsche Rechtswissenschaft ergossen22 und die als zu grundgesetzintrovertiert bezeichneten Ansätze der fünfziger Jahre – vorerst  – unter sich begraben hatte23. Die von der Kieler Staatsrechtslehrertagung 1964 ausgehende Gegenbewegung führte teilweise sogar dazu, die Europäischen Gemeinschaften überhaupt nicht mehr am Maßstab des Grundgesetzes zu messen24, sondern einen gemeinschaftsspezifischen, tendenziell outputorientierten Demokratiebegriff zu entwickeln25: Als demokratisch wurden die Europäischen Gemeinschaften schon deshalb angesehen, weil sie effektiv und zweckrational zu wirtschaftlichem Wachstum und allgemeiner Wohlfahrt beitragen26. Insbesondere wurde die These verfochten, dass es (noch) nicht an der Zeit sei, eine parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene zu errichten27. In den siebziger und vor allem achtziger Jahren hat sich dann unter maß­ geblicher Beteiligung des BVerfG und im Schatten der Grundrechtsdiskussion28 eine mittlere Position durchgesetzt29. Wie schließlich auch im Solange-IItalogs von Grundrechten“ begründet. Vielmehr wird das Fehlen eines „von einem Parlament beschlossenen“ Grundrechtskatalogs als Begründung angeführt. Da vom Parlament im Singular die Rede ist, kann hiermit nur das Europäische Parlament und können nicht etwa die nationalstaatlichen Parlamente gemeint sein. Die unzureichende Ausrichtung des europäischen Institutionengefüges am Leitbild der parlamentarischen Demokratie gehört damit zu den tragenden Gründen des Urteils. Dass sich die abweichende Meinung mit dem Argument auseinandersetzt, dass die mangelnde parlamentarische Legitimation des Gemeinschaftsrechts einen Prüfungsvorbehalt des BVerfG rechtfertige (vgl. BVerfGE 37, 271 [298]), bestätigt diese Einschätzung. 21 Ipsen, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 1966, S. 128; ders. (Fn. 7), S. 171 f.; ders., Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, in: EuR 1994, S. 1 (18); ders., Staatsrechtslehrer unter dem Grundgesetz, 1993, S. 21 ff. 22 Zur damit verbundenen Abkehr von der Vorstellung struktureller Kongruenz Zuleeg, Die Anwendbarkeit des parlamentarischen Systems auf die europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1972, S. 1 (13 f.). 23 Vgl. Ipsen, Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969, S. 26 f.; auch Kutscha, Demokratischer Zentralismus, in: KJ 1990, S. 425 (433). 24 Dazu auch Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Fiedler / ders. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Geck, 1989, S.  625 (666) sowie Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, in: Staat 1978, S. 27 (28 f.). 25 Prototypisch Ipsen (Fn. 23), S. 58 ff. In diese Richtung neuerdings wieder Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 656 ff. 26 Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S. 1 (23 ff.). 27 Kaiser (Fn. 26), S. 33 (Leitsatz III.2.): „Es ist nicht der Beruf unserer Zeit, eine parlamentarische Demokratie in den Europäischen Gemeinschaften zu errichten.“ 28 Vgl. Bleckmann (Fn. 12), S. 69. 29 Zur Rechtsprechungsgenese Rideau, Constitution et droit international dans les Etats membres des Communautés européennes. Situation dans les Etats membres autres que la France, in: RFDC 1990, S. 425 ff.

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Beschluss30 wurde das an sich auf die innerstaatlichen Legitimationszusammenhänge ausgerichtete grundgesetzliche Demokratieprinzip (nur) insofern als Prüfungsmaßstab für zwischenstaatliche Einrichtungen angesehen, als es zum unaufgebbaren Essential, zum identitätsstiftenden Kernbereich des Grundgesetzes gehört31. Mit dieser vermittelnden Sichtweise sollte ein Doppeltes erreicht werden. Einerseits wollte man dem Umstand Rechnung tragen, dass im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften wegen des besonderen Charakters zwischenstaatlicher Einrichtungen die demokratische Legitimation offenbar nicht in derselben Weise erzeugt werden kann wie in dem nationalen Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland32. Bezeichnend hierfür ist, dass sich der 2. Senat im wegweisenden Solange-II-Beschluss von der Solange-I-Rechtsprechung distanzierte, in der der bundesverfassungsgerichtliche Prüfungsvorbehalt vom Grad der Parlamentarisierung der Gemeinschaften abhängig gemacht worden war33. Andererseits sollte aber auch die zwischenstaatliche Einrichtung dem Grundgefüge des Grundgesetzes Rechnung tragen und verhindert werden, dass mit Hoheitsübertragungen auf die Europäischen Gemeinschaften identitätsstiftende Prinzipien des Grundgesetzes wie der Demokratiegrundsatz zur Disposition gestellt werden. Gefordert wurde daher nunmehr eine ‚strukturangepasste Grundsatzkongruenz‘34. Diese Auffassung liegt entstehungsgeschichtlich auch dem nach der Wiedervereinigung neu formulierten Art. 23 Abs. 1 GG zu Grunde35. Damit hat sich die Diskussion um die grundgesetzlichen Anforderungen an die europäische Demokratie aber keineswegs erledigt. Denn auch wenn die herrschende mittlere Position, mithin also die These von der grundgesetzlich geforderten ‚strukturangepassten Grundsatzkongruenz‘ durch die neue Integrationsnorm des Grundgesetzes eine gewisse Bestätigung erfahren hat, so werden davon ausgehend doch immer noch gänzlich unterschiedliche Antworten auf die Frage gegeben, wie die vom Grundgesetz geforderte demokratische Legitimation der europäischen öffentlichen Ge 30 BVerfGE 73, 339 (377 f.). Hierzu Bothe (Fn. 17), S. 767 und 776; Streinz, Verfassungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht – eine deutsche Besonderheit?, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 1437 ff. 31 Vgl. nur Bleckmann (Fn. 12), S. 67 f. 32 Dazu Badura, Das Staatsziel „Europäische Integration“ im Grundgesetz, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 887 (889 f.). 33 BVerfGE 72, 330 (385). Freilich hat der zweite Senat seine Kehrtwende  – anders als etwa in der Maastricht-Entscheidung (89, 155 [175]) – nicht offengelegt (zur generellen Kritik daran, dass das BVerfG Abweichungen von früheren Judikaten häufig nicht ausflaggt, siehe Lege, Das Verfassungsrecht zwischen Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: DVBl. 2007, S. 1053 [1055]). Vielmehr hat er die Konzeption der Solange-I-Entscheidung sinnverstellend verharmlost: Die Feststellungen dieses Urteils zum parlamentarischen Defizit hat es als „ein Element der Beschreibung des Integrationszustandes, wie er sich seinerzeit darstellte“, abgetan. Wie dargelegt, widerspricht dies dem bemerkenswerten Ansatz der Solange-I-Entscheidung. 34 So die griffige Formel von Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 323. 35 Vgl. etwa Streinz, Verfassungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht – eine deutsche Besonderheit?, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 1437 (1446).

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walt erzielt werden soll36. Während einige Autoren keine Alternative zur Stärkung des europäischen Parlaments sehen37, sind andere der Ansicht, dass das Rezept einer Kompetenzverstärkung des Europäischen Parlaments nicht geeignet sei, vorhandene Demokratiedefizite auszuräumen38. Es herrscht, wie zutreffend bemerkt wurde, eine rechtswissenschaftliche Verlegenheit in Hinblick darauf, wie der verfassungsrechtlich fixierte Kern jener Prinzipien, die in Art. 23 Abs. 1 GG neuer Fassung aufgeführt sind, in praktikabler Weise zu konkretisieren ist39. Hinzu tritt, dass eine stärker werdende Meinungsgruppe wieder unmittelbar an das im Grundgesetz konkret ausgestaltete Demokratieprinzip anknüpft40. Normativer Ansatzpunkt dieser Literaturstimmen, die sich gerade im Verlauf der Maastricht-Debatte41 Gehör verschaffen konnten, ist das grundgesetzliche Prinzip der Volkssouveränität42. Wie bereits dargetan43, fokussiert der demokratiezentrale Grundsatz der Volkssouveränität die entscheidenden Rechtsfragen des europäischen Einigungsprozesses, sodass der Rekurs auf die Volkssouveränität nicht wirklich überraschen kann. Allerdings legt die erwähnte Meinung in der Fachliteratur das grundgesetzliche Prinzip der Volkssouveränität im Gefolge der BVerfG-Urteile zum kommunalen Ausländerwahlrecht44 dahin aus45, dass Zurechnungssubjekt einer jeden in Deutschland wirksam werdenden Hoheitsgewalt das deutsche Volk sein müsse46. Überdies wird angenommen, dass das Legitimationsmonopol des deutschen Volkes gemäß Art. 79 Abs. 3 GG veränderungsfest sei47. Konsequenterweise geht diese Meinungsgruppe in Hinblick auf den euro­ päischen Einigungsprozess davon aus, dass es zumindest den pouvoirs constitués

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Vgl. dazu auch Ipsen, Staatsrechtslehrer unter dem Grundgesetz (Fn. 21), S. 112 f. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S.  585 (588); Lübbe-Wolff, Euro­ päisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (264); Häberle, Verfassungsrechtliche Fragen im Prozeß der europäischen Einigung, in: EuGRZ 1992, 429 (432); v. Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 4 Rn. 114. 38 Ossenbühl, in: Maastricht und das Grundgesetz DVBl. 1993, 629 (633). 39 Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, S. 417 (422). 40 Prototypisch Kaufmann (Fn. 3), 1997, S. 428 f. 41 Dazu Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung, in: Staat 1997, S. 189 (193 ff.). 42 Prototypisch Stöcker, Die Unvereinbarkeit der Währungsunion mit der Selbstbestimmungsgarantie in Art. 1 II GG, in: Staat 1992, S. 495 (515 f.): Da Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in einem deutschen Verfassungstext verbürgt sei, könne „dieser Satz natürlich nur besagen: In Deutschland muß alle Staatsgewalt vom deutschen Volk ausgehen. Eine ‚Volkssouveränität‘, die sich die Deutschen mit anderen EG-Völkern zu teilen hätten, wäre mit der nationalstaat­ lichen Volkssouveränität, die Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG fordert, unvereinbar.“ 43 Siehe oben Einleitung I. 5. = S. 61. 44 BVerfGE 83, 27 ff. und 83, 60 ff. 45 Vgl. zum Beispiel Huber, Recht der Europäischen Integration, 2002, 2. Aufl. § 4 Rn. 35. 46 Huber, Maastricht – ein Staatsstreich?, 1993, S. 21; Schachtschneider, Beschwerdeschrift B. vom 18. Dezember 1992, in: Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 102 (131 f.). 47 Huber (Fn. 46), S. 32.

Kap. 3: Rechtswissenschaftliche Debatte

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unter der Herrschaft des Grundgesetzes untersagt sei, die nationalstaatliche Demokratie auszuhöhlen, indem sie die Rechtsetzungshoheit auch für die wesentlichen Politiken derart auf Gemeinschaftsorgane übertrage, dass sich der gesetzgeberische Wille der Deutschen nicht uneingeschränkt behaupten könne48. Diese neue Argumentationslinie49 ist nur bedingt mit den Kongruenz- und Homogenitätsvorstellungen vergleichbar, wie sie seit den fünfziger Jahren vertreten wurden. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie sich eng an das im Grund­gesetz für die bundesrepublikanische Willensbildung konkretisierte Demokratieprinzip anlehnen. Doch während es der Kongruenz- beziehungsweise Homogenitätsthese auf die vom Grundgesetz vorgesehene demokratische Verfahrenstechnik, auf die grundgesetzlich normierte parlamentarische Form ankam, rekurrieren die heutigen Vertreter eines am grundgesetzlichen Demokratiemodell orientierten Ansatzes auf die im Grundgesetz konkret ausgeformte Volkssouveränität als einem substanziellen, materiellen Prinzip50. Dieser jüngere grundgesetzinterpretatorische Ansatz fordert nicht nur keine Hochzonung des grundgesetzlichen Demokratiemodells auf die europäische Ebene, sondern steht einem echten Gemeinschaftsparlamentarismus kritisch gegenüber, weil er eine effektive Rückbindung der Gemeinschaftsgewalt allein an das deutsche Volk51 und gerade nicht an einen durch das Europäischen Parlament repräsentierten transeuropäischen demos fordert52. Der sozusagen vollinhaltliche und nicht bloß strukturell-prozedurale Rekurs auf das im Grundgesetz konkretisierte Demokratieprinzip stellt insofern ein Novum dar53. Gerade an dieser neuen Rechtsansicht lässt sich belegen, dass die staatsrechtliche Diskussion um die demokratische Legitimität der Gemeinschaftsrechtsordnung mit dem Einfügen des Art. 23 neuer Fassung in das Grundgesetz noch längst nicht beendet ist. Mit der ‚Entdeckung‘ des demokratischen Prinzips der Volkssouveränität als zentralem Integrationsthema wird die Frage nach der demokratischen Legitimation der EU zu einer gerade auch aus der Sicht der deutschen Staatsrechtswissenschaft aktuellen Problematik.

48 Schachtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, in: APuZ 1993, B 28, S. 3 (8); ähnlich Huber (Fn. 46), S. 32 f. 49 Schmitz, Das europäische Volk und seine Rolle bei einer Verfassungsgebung in der Europäischen Union, in: EuR 2003, S. 217 (218) spricht zutreffend von einer „Renaissance nationalstaatlichen Denkens“. 50 Bedauert wird dieser Paradigmenwechsel etwa von Bracher, Europa zwischen Demokratie und Nationalstaat, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 243 (253). 51 Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, in: StWiss 1992, S. 349 (355). 52 Brunner, Europa und Nation, in: Schwilk / Schacht (Hrsg.), Die selbstbewusste Nation, 1994, S. 381 (387 f.). 53 Dazu eingehend Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWiss 1994, S. 305 ff.

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Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

II. Die verfassungsrechtliche Debatte in anderen EU-Mitgliedstaaten In der überwiegenden Zahl der anderen EU-Mitgliedstaaten hat sich die Rechtswissenschaft längst nicht so intensiv mit den jeweiligen staatsverfassungsrechtlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaften beziehungsweise der EU auseinandergesetzt wie in der Bundesrepublik. Die dortigen Verfassungsjuristinnen und -juristen haben sich – wenn überhaupt – eher mit der Souveränitätsproblematik beschäftigt54, der sich die deutsche Staatsrechtswissenschaft ihrerseits erst vergleichsweise spät näher zugewandt hat. Dieses Bild ergibt sich bereits dann, wenn man in einem ersten Schritt einen kursorischen Blick auf die Verfassungsrechtswissenschaft allein derjenigen Länder wirft, die mit der Bundesrepublik Deutschland den europäischen Vergemeinschaftungsprozess in Gang gesetzt haben. So standen in der traditionsreichsten Demokratie Kontinentaleuropas, in Frankreich, die Konsequenzen der europäischen Einigung für die ‚souveraineté nationale‘55 im Mittelpunkt der verfassungsjuristischen Debatte56. Etwaige rechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaften blieben dagegen weitgehend uner­örtert57. Neben dem souveränitätszentrierten französischen Verfassungsverständnis58 mag in diesem Zusammenhang auch die im innerfranzösischen politischen Diskurs noch

54 Vgl. etwa Griller / Maislinger / Reindl, Fundamentale Rechtsgrundlagen einer EG-Mitgliedschaft, 1991, S. 58. 55 Dazu etwa Hecker, Europäische Integration als Verfassungsproblem in Frankreich, 1998, S. 166 ff.; ders. ( Fn. 19), S. 591 ff. 56 Paradigmatisch hierfür die Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel: Scheffler, Das französische Verfassungsverständnis angesichts der Anforderungen des EG / EU-Rechts, in: ZaöRV 2007, S. 44 (63 ff.); Vogel, Verfassungsgericht in der europäischen Integration, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmannsegg, 2004, S. 197 (204 ff.); Hecker (Fn. 55), S. 178 ff.; ders. (Fn. 19), S. 577 ff.; Rideau, Constitution et droit international dans les Etats membres des Communautés européennes. Réflexions générales et situation française, in: RFDC 1990, S, 259 (280 ff.); Luchaire, L’Union Européenne et la Constitution. Première Partie: La Décision du Conseil Constitutionnel, in: RDP 1992, S. 589 ff.; Genevois, Le Traité sur l’Union européenne et la Constitution, in: Rev. fr. Droit adm. 1992, S. 373 (381 ff.). Speziell zu den drei Maastricht-Entscheidungen des Conseil Constitutionnel: Walter, Die drei Entscheidungen des französischen Verfassungsrats zum Vertrag von Maastricht über die Europäische Union, in: EuGRZ 1993, S. 183 ff.; Hofmann, Der Vertrag von Maastricht vor den Verfassungsgerichten Frankreichs und Spaniens, in: Däubler-Gmelin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mahrenholz, 1994, S. 943 (946 ff.); Jiménez-Blanco Carillo de Albornoz, Die verfassungsrechtlichen Auswirkungen des Vertrags über die Europäische Union in Spanien und Frankreich, in: Verw. 1995, S.  223 (239 ff.) und Fromont, Frankreich und die Europäische Union, in: DÖV 1995, S. 481 ff. 57 So bereits Goose, Anmerkung zur Entscheidung des Conseil Constitutionnel vom 19.06. 1970, in: EuR 1971, S. 62 (64). 58 Dazu etwa Scheffler (Fn. 56), S. 46 ff.

Kap. 3: Rechtswissenschaftliche Debatte

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sehr wirkmächtige Vergangenheit als Großmacht beziehungsweise die Vision von Frankreich als einem exzeptionellen zivilisatorischen Modell eine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund muss jede Übertragung von Hoheitsrechten nationale Debatten auslösen, die dann auch von rechtswissenschaftlichen Scharmützeln begleitet werden. Auch in der Verfassungsrechtswissenschaft der Beneluxstaaten hat die Frage nach der demokratischen Legitimation der Europäischen Gemeinschaften keine besondere Resonanz gefunden59. Dies mag – außer an dem dort vorherrschenden monistischen Verständnis60 des Verhältnisses von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht61  – daran liegen, dass in diesen Ländern die gemeinschaftskonstitutiven Völkerrechtsverträge nicht im Wege (verfassungs-)gerichtlicher Normenkontrolle kontrolliert werden können62. Diskutiert wurde auch in diesen Staaten allenfalls – und dies auch nur zurückhaltend – die Souveränitätsfrage63. Indes hat das Problem der demokratischen Legitimation europäischer Rechtsakte immerhin in Italien eine nicht unerhebliche Rolle gespielt64. Die Diskussion hierüber wurde wohl nicht zuletzt dadurch stimuliert, dass sich der italienische Corte Costituzionale die Überprüfung von Gemeinschaftsrecht am Maßstab zu-

59 Im Mittelpunkt der verfassungsjuristischen Maastricht-Diskussion etwa stand stattdessen das kommunale Ausländerwahlrecht für Unionsbürger: Delpérée, La Constitution belge, la Constitution luxembourgeoise et le Traité de l’Union Européenne, in: Ann. dr. lux. 1992, S.  15 ff.; Arendt, Le Traité de l’Union Européenne et la Constitution du Grand-Duché de Luxem­bourg, in: Ann. dr. lux. 1992, S. 35 ff.; Frieden, L’Union Européenne et la Constitution luxembougeoise: une cohabitation nécessaire, in: Ann. dr. lux. 1992, S. 53 ff.; Thewes, La Constitution luxembourgeoise et l’Europe, in: Ann. dr. lux. 1992, S. 65 (72 ff.). 60 Zu den Niederlanden: Préchal, La primauté du droit communautaire aux Pays-Bas, in: Rev. fr. Droit adm. 1990, S.  981; zu Belgien: Rieben, Belgique, in: Aronovitz u. a., Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 19 (21 und 25); zu Luxemburg: Thewes, La Constitution luxembourgeoise et l’Europe, in: Ann. dr. lux. 1992, S. 65 (66); Rideau, Constitution et droit international dans les Etats membres des Communautés européennes. Situation dans les Etats membres autres que la France, in: RFDC 1990, S., 425 (449); Streinz, Verfassungsvorbehalte gegenüber Gemeinschaftsrecht  – eine deutsche Besonderheit?, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 1437 (1458). 61 Zur Maßgeblichkeit auch dieses Faktors vgl. etwa Rideau (Fn.  56) S.  262; Schambeck, Rechtsfragen der Entwicklung der Europäischen Integration, in: ÖJZ 1993, S.  826 (830). 62 Vgl. dazu auch Schambeck (Fn. 61), S. 831. Speziell für die Niederlande Griller / Mais­ linger / Reindl (Fn. 54), S. 63. 63 Vgl. dazu etwa Wils, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Belgien, in: Battis / Tsatsos / Stefanou (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S. 13 (21) sowie Wivenes, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Luxemburg, in: Battis / Tsatsos / Stefanou (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S. 303 (312 ff.). 64 Vgl. etwa Feustel, Anmerkung zum Urteil des Corte Costituzionale vom 18.12.1973, in: EuR 1974, S. 264 (270) sowie Luciani, La constitution italienne et les obstacles à l’intégration européenne, in: RFDC 1992, S. 663 (666).

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Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

mindest der prinzipalen Verfassungsnormen vorbehält65, sodass die italienische Verfassungsjurisprudenz notgedrungen auch die Frage nach einer hinreichenden demokratischen Legitimation von Gemeinschaftsrechtsakten stellen musste66. Gleichwohl hat die verfassungsrechtliche Diskussion um die demokratische Legitimität der EU auch in Italien keine derart große Bedeutung gewonnen wie in der Bundesrepublik. Ähnliches wie für die Gründerstaaten lässt sich für die mit der Norderweiterung 1973 beigetretenen Länder konstatieren. Auch hier stand mehrheitlich das Souveränitätsproblem im Mittelpunkt des verfassungsjuristischen Interesses. In Großbritannien setzte man sich über das – mittlerweile geklärte67 – Verhältnis der Gemeinschaftsrechtssetzung zur ‚supremacy of parliament‘ auseinander68. In Irland wurde die Bedeutung der europäischen Integration für den Status der Republik als ‚sovereign, independent (…) state‘ debattiert69. Nachvollziehbar ist dies allemal. Im Fall des Vereinigten Königreichs widerstrebte es vielen, die jahrhundertealte, spezifisch britische Demokratietradition durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts70 durchbrechen zu lassen; verstärkt wurde dieses Widerstreben durch die sattsam bekannte insulare Europaskepsis. Im Hinblick auf Irland dürfte es der auch in der Verfassungspräambel beschworene „unermüdliche Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit“ und die bis heute andauernde Versehrtheit der irischen Nation sein, die das auch verfassungsjuristische Augenmerk auf die Souveränitätsfrage71 gelenkt haben dürfte. In Dänemark hingegen hat der verfassungsjuristische Diskurs die demokra­ tische Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt schon deshalb aufgegriffen72, 65 Dazu Gaja, New developments in  a continuing story, in: CMLRev 1990, S.  83 ff.; Rideau (Fn. 29), S. 440 ff.; Neri, Le droit communautaire et la Cour Constitutionelle italienne, in: Riv. dir. eur. 1989, S. 81 ff. 66 So auch Di Bucci, L’application du droit communautaire en Italie, in: Rev. fr. Droit adm. 1990, S. 976; ferner Griller / Maislinger / Reindl (Fn. 54), S. 36 ff. 67 In der Entscheidung ‚Factortame Ltd. and others v. Secretary of State for Transport (No. 2)‘, [1991] 1 All E. R. 70 erkannte das House of Lords den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor parlamentsbeschlossenem lex posterior an (dazu auch McCormick, Das MaastrichtUrteil: Souveränität heute, in: JZ 1995, S. 797 f.). 68 Dazu überblicksweise Arnull, La primauté du droit communautaire au Royaume-Uni, in: Rev. fr. Droit adm. 1990, S. 985 f.; ferner Rideau (Fn. 29), S. 452 ff. 69 Vgl. Sychold, Irland, in: Aronovitz u. a., Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 257 f.; Lucey, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Irland, in: Battis / Tsatsos / Stefanou (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S.  213 (234); Griller / Maislinger / Reindl (Fn. 54), S. 77. 70 Siehe nur Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 245. 71 Vgl. dazu Rideau (Fn. 29), in: RFDC 1990, S. 440. 72 Dazu etwa das vom 06.04.1998 stammende Maastricht-Urteil des dänischen Obersten Gerichtshofs (ZaöRV 1998, 901 [906]). Hierzu Hofmann, Der Oberste Gerichtshof Dänemarks und die europäische Integration, in: EuGRZ 1999, S. 1 (4).

Kap. 3: Rechtswissenschaftliche Debatte

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weil sich die dänische Gerichtsbarkeit für befugt hält, primäres wie auch sekundäres Gemeinschaftsrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen73. In­ sofern lässt sich die dänische Situation mit der italienischen vergleichen74. Die Rechtsdoktrin in den drei während der achtziger Jahre beigetretenen Mittelmeerländern vertritt der Sache nach die auch in der Bundesrepublik lange Jahre herrschende Auffassung75, dass im Rahmen der europäischen Einigung der identitätsstiftende Kern der Verfassungen erhalten bleiben müsse76. Dementsprechend wurden in den durch die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaften hinzugekommenen Mitgliedstaaten durchaus rechtliche Anforderungen an die demo­ kratische Legitimität der EU formuliert77. Diese wurden aber bislang als erfüllt angesehen und das Thema daher juristisch nicht weiter vertieft78. Unter den 1995 in die EU aufgenommenen Mitgliedstaaten ist Österreich hervorzuheben79, dessen Staatsrechtswissenschaft die deutsche Diskussion stark rezipiert hat. Dies dürfte in erster Linie daran liegen, dass deutsche und österreichische Staatsrechtslehre seit vielen Jahrzehnten einen intensiven Dialog pfle‑

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Thomas, Das Maastricht-Urteil des dänischen Obersten Gerichtshofs vom 6. April 1998, in: ZaöRV 1998, S. 879 (883); v. Holstein, Le droit communautaire dans le système juridique danois, in: Rev. fr. Droit adm. 1990, 962 (963 f.). Dazu auch Vogel (Fn. 56) S. 210; Rideau (Fn.  29), S.  432; Cottier, Danemark, in: Aronovitz u. a., Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 63. 74 Vgl. auch Streinz (Fn. 35), S. 1446. 75 Zur Vergleichbarkeit der Integrationsermächtigung der griechischen Verfassung mit der des Grundgesetzes Skouris, Die rechtliche Bewältigung von EG-Beitritt und EG-Mitgliedschaft, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 1028 (1029). Allgemein zur ‚offenen Verfassungsstaatlichkeit‘ der Mitte der siebziger Jahre von faschistischen Regimen befreiten südeuropäischen Staaten: Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: KritV 1998, S. 404 (410). 76 Zu Griechenland Antoniou, Europäische Integration und griechische Verfassung, 1985, S. 160 ff.; zu Portugal Aronovitz, Portugal, in: ders. u. a., Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den europäischen Gemeinschaften, 1991, S.  355 (362 ff.), Griller / Mais­ linger / Reindl (Fn. 54), S. 100 f. und de Quadros, Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Portugal, in: Battis / Tsatsos / Stefanou (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 1995, S. 375 (381 f.); zu Spanien vgl. López Castillo / Polakiewicz, Verfassung und Gemeinschaftsrecht in Spanien, in: EuGRZ 1993, S. 277 (281). 77 Zu Griechenland vgl. etwa Iliopoulos-Strangas, Rechtsfragen der Mitgliedschaft Griechenlands in einer Europäischen politischen Union, in: EuR 1985, S. 199 (207 und 210); zu Portugal zum Beispiel Schambeck (Fn. 61), S. 829; zu Spanien Aronovitz, Espagne, in: ders. u. a., Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 189 (194). 78 So hat sich beispielsweise das spanische Tribunal Constitucional in seiner Déclaración zum Maastrichter Vertrag ausschließlich mit der Frage beschäftigt, ob die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger mit der spanischen Verfassung vereinbar ist, vgl. Hofmann (Fn. 56), S. 952 ff.; López Castillo / Polakiewicz (Fn. 76), S. 281 ff.; Llorente, La constitution espagnole et le traité de Maastricht, in: RFDC 1992, S. 650 ff. 79 Vgl. dazu überblicksartig Öhlinger, Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft Österreichs, in: Hummer / Obwexer, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, 2006, S. 17 ff.

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Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

gen80. Dementsprechend hat sich die österreichische Verfassungsrechtswissenschaft denn auch recht eingehend mit der demokratischen Legitimation von Gemeinschaftsrechtsakten auseinandergesetzt81. Hinsichtlich der mit der ersten und zweiten Osterweiterung beigetretenen Mitgliedstaaten ist festzuhalten, dass hier allenfalls die Souveränitätsproblematik verfassungsrechtlich thematisiert wurde82. Dies ist im Hinblick auf die erst jüngst wieder in vollem Umfang zurückerlangte Souveränität wenig verwunderlich.

III. Von der „querelle allemande“ zum europäischen Verfassungsrechtsdiskurs Lange Zeit hieß es, die rechtswissenschaftliche Diskussion um die demokratische Legitimation der EU sei in erster Linie ein deutsches Phänomen83. Cum grano salis trifft dies auch zu. Gleichwohl gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass diese querelle allemande in zunehmendem Maße auch in den anderen Mitgliedstaaten registriert wird und nicht ohne Eindruck auf die dort geführten Debatten geblieben ist: Die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsgewalt beschäftigt Politik und Wissenschaft auch außerhalb Deutschlands in zunehmendem Maße84. Im Ge 80 Seit Gründung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehören auch Österreicher zu ihren Mitgliedern und waren – zuletzt mit Karl Korinek – auch verschiedentlich im Vorstand der Vereinigung vertreten. 81 Vgl. Öhlinger, Ein Verfassungsstaat an der Schwelle zur Europäischen Union, in: Due /  Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd.  2, 1995, S.  945 (1020); ders., Euro­ päische Integration und Bundesverfassung, in: ders., Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union, 1999, S.  1 (12 ff.); ders., Verfassungsfragen zwischen Brüssel und Wien, in: ders., Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union, 1999, S. 77 (94); Rack / Eisenberger / Hammerer / Rattinger / Riedler / Schwarzbauer / Urbantitsch, Demokratische Rechtserzeugung im gemeinsamen Europa, in: Haller u. a. (Hrsg.), Festschrift für Winkler, 1997, S. 855 (860). 82 Zu Polen Wyrzykowski, Europäische Klausel – Bedrohung der Souveränität?, in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, 2000, S. 103 ff.; Meintanopoulos, Le droit constitutionnel polonais face à l’adhésion à l’Union Européenne, in: OER 1999, S. 18 ff.; zu Tschechien Hošková, Die tschechische Perspektive, in: Stern (Hrsg.), Zukunftsprobleme der Europäischen Union, 1998, S. 115 (124); zu Bulgarien Evtimov, Die bulgarische Verfassung und das Europarecht: Spannungsfelder und Lösungsansätze, in: OER 2001, S. 394 (403 f.). 83 Vgl. auch Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, S. 60. 84 Dies konstatieren auch Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Dreier (Hrsg.) Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 113 (137) und Kraus, Europäische Öffentlichkeit und Sprachpolitik, 2004, S. 15 (39 und 41 ff.). Zutreffend weist Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, in: Preuß / ders., Probleme einer Verfassung für Europa, 1995, S. 1 (21) darauf hin, dass sich der europaweite Bewusstseinswandel spätestens mit der Ablehnung des Maastrichter Vertrags durch die dänische Bevölkerung vollzogen habe. Zu der Diskussion, die in den damaligen Mitgliedstaaten durch die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags ausgelöst wurde, vgl. den Überblick bei Hölscheidt / Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, 1993, S. 30 ff.

Kap. 3: Rechtswissenschaftliche Debatte

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genzug scheinen die in den anderen EU-Mitgliedsländern geführten Diskussionen ihrerseits auf die deutsche Staatsrechtslehre auszustrahlen. Die in der hiesigen Rechtswissenschaft neu entdeckte Frage der (Volks-)Souveränität85 steht in Zusammenhang mit der betont souveränitätszentrierten Sichtweise des europäischen Einigungsprozesses, die in den Verfassungsrechtsdiskuren der überwiegenden Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten vorherrscht86. Insofern offenbaren sich sichtbar Ansätze einer EU-weiten Vernetzung der jahrzehntelang weithin national parzellierten rechtswissenschaftlichen und -politischen Diskurse. Daraus erwachsen neue Möglichkeiten nicht nur für ein vertieftes Verständnis gemein­europäischer Grundprinzipien, sondern gerade auch für eine auf Rechtsvergleichung gründende Interpretation und Fortentwicklung des nationalen Verfassungsrechts87. Massiv befördert wird die zunehmende Konvergenz der nationalen Verfassungsrechtsdiskurse neuerdings durch das Ringen um eine europäische Verfassung88. Da eine solche nicht in Widerspruch zu den nationalen Verfassungsordnungen etabliert werden darf, es bei ihrer Erarbeitung zugleich zu einem – auch institutionalisierten89 – Austausch über die von den jeweiligen nationalen Verfassungen geprägten Erwartungen an die europäische Verfassungsordnung kommt, intensiviert sich der gemeineuropäische Verfassungsrechtsdiskurs merklich. Die Debatten darum, wer Rechtsträger der EU ist90, inwieweit die Rolle des Europäischen Parlaments aufgewertet werden soll91 und respektive welcher Einfluss den kleinen, mittleren und großen Staaten einzuräumen ist92, ob es einer Austrittsklausel93 bedarf  – diese Debatten verweisen durchweg auf die Frage nach dem für das 85 Zutreffend spricht Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Verw. 1993, S.  449 (472) von einer „der bisherigen Kommentarliteratur eher fremden Entdeckung“. 86 Vgl. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, in: ZaöRV 1995, 659 (660). Auf die Parallele zwischen der französischen Souveränitätsdoktrin und dem staatssouveränistisch gewendeten Demokratieverständnis des BVerfG im Maastricht-Urteil weisen etwa auch Fromont (Fn. 56), S. 481 f. und ­Hecker (Fn.  19), S.  597 hin. Etwas vernachlässigt werden diese Zusammenhänge von Arnold, Das französische Verfassungsrecht in der deutschen Rechtswissenschaft, in: Beaud / Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtwissenschaft?, 1999, S. 237 (249). 87 Zum Potenzial verfassungsrechtlicher Rechtsvergleichung siehe zum Beispiel Häberle, Wechselwirkungen zwischen Verfassungen, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 1, 2004, § 7 Rn. 26 ff. 88 Dazu etwa Rüger, Aus der Traum? Der lange Weg zur EU-Verfassung, 2006 sowie Hesse, Vom Werden Europas, 2007. 89 Zur Konventsmethode bei der Erarbeitung der – gescheiterten – Europäischen Verfassung siehe nur Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 633 f. 90 Siehe etwa Rüger (Fn.  88), S.  61 f. sowie  – in der Perspektive des Reformvertrags  – Art. 46 a EUV (neu) (= Art. 47 [konsolidierte Fassung]) (hierzu Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrags, in: NJW 2007, S. 3153 [3154]). 91 Dazu zum Beispiel – zurückhaltend – Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 8 Rn. 68. 92 Hierzu etwa Epping, in: Vedder / Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. I-25 Rn. 1 ff. 93 Dazu zum Beispiel Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, 5. Aufl, 2006, Rn. 42 f. sowie – mit Blick auf den Reformvertrag – Art. 49 a EUV (neu) (= Art. 50 [konsolidierte Fassung]).

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Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

Demokratieprinzip prägenden Volksverständnis, nach den von ihm vorausgesetzten Zurechnungszusammenhängen und nach der mit ihm verschwisterten Staats­ souveränität.

Kapitel 4

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Drei EU-spezifische Legitimationsmodelle Kap. 4: Drei EU-spezifische Legitimationsmodelle

Seinem juristisch-technischen Kerngehalt nach postuliert Volkssouveränität die ausnahmslose juristische Abhängigkeit eines jeden hoheitlichen Machtakts vom demos1. Diese verwirklicht sich durch die rechtsförmig ausgestaltete personelle sowie materielle Rückbindung der betreffenden Akte an das demokratische Legitimationssubjekt2. Ausgehend davon hat die Rechtswissenschaft in Hinblick auf die EU im Wesentlichen drei Legitimationsmodelle entwickelt, die für sich zumindest implizit in Anspruch nehmen, demokratischen Grundsätzen zu genügen. Diese drei Konzeptionen sind bereits in der Einleitung andeutungsweise zur Sprache gekommen, als von den unterschiedlichen Legitmitätsvorstellungen die Rede war, die ein ehemaliges Kommissionsmitglied bei seinen Kollegen diagnostiziert haben will3. So könnte die demokratische Legitimität von EU-Hoheitsakten in der Tat einzig und allein darauf beruhen, dass sie sich aufgrund personeller und materieller Vermittlung durchweg auf den Willen der nationalen Staatsvölker zurückführen lässt. Nicht von vornherein auszuschließen ist indessen, dass demokratische Legitimation  – zusätzlich und gegebenenfalls in immer stärkerem Maße  – auch auf europäischer Ebene originär erzeugt wird. Hinsichtlich dieser spezifisch europäischen Legitimationsbeiträge müssen indes zwei konzeptionelle Ansätze unterschieden werden. In Betracht kommt zum einen eine gewissermaßen technokratische Legitimation, die aus einer möglichst sachkundigen, zweckorientierten und effektiven Umsetzung des von den Staatsvölkern sanktionierten Primärrechts erwächst; insofern ließe sich von einer EU-spezifischen Sonderform materieller Legitimation sprechen. Zum anderen ist an eine sozusagen föderal-demokratische Legitimation zu denken, der zufolge die Machtakte der EU personell und mate­ riell – zusätzlich – auf den europäischen demos rückführbar sind. Diese drei – theoretisch denkbaren und in der europapolitischen Praxis offensichtlich wirksamen – Legitimationsmodelle sollen nun im Folgenden näher dargestellt werden. Bei ihrer Beschreibung wird insbesondere auch an das angeknüpft, was unter verschiedenen Gesichtspunkten bereits zu den Hauptproblemen eines EU-spezifischen Legitimationsmodells entwickelt wurde. So wird Legitimation vor dem Hintergrund der demokratiezentralen Volkssouveränität als das Produkt

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Siehe oben Einleitung I. 5. b) = S. 63. Ebd. 3 Siehe oben Einleitung I. 2. = S. 53.

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eines Zurechnungssystems begriffen, aufgrund dessen Hoheitsakte durch personelle und materielle Vermittlungen an den demos rückgebunden werden4. In Hinblick auf den hochproblematischen Volksbegriff findet bei der Erörterung der Legitimationsmodelle die Frage besondere Berücksichtigung, ob und gegebenenfalls welchen demokratischen Stellenwert das betreffende Modell dem europäischen demos und dem ihn zuvörderst repräsentierenden Europäischen Parlament einräumt5. Schließlich sollen die Schranken aufgezeigt werden, die dem Integrationsfortgang aus Sicht des jeweiligen Legitimationsmodells demokratierechtlich gesetzt sind. Dabei geht es wohlgemerkt um die internen Schranken, die sich aus den modellspezifischen Anforderungen an Art und Maß der demokratischen Legitimation ergeben, und nicht um die externen Integrationsschranken, die aus dem im Prinzip der Volkssouveränität teilidentischen Grundsatz der Staatssouveränität erwachsen6. Bevor allerdings im Einzelnen in die Darstellung der Modelle eingestiegen und auf die modellspezifische Verarbeitung der demokratischen Hauptprobleme der EU eingegangen wird, ist vorab noch auf eine allen drei Legitimationsmodellen gemeinsame Prämisse einzugehen, die sich möglicherweise nicht von selbst versteht und daher zumindest kurz zu begründen ist. Zu bedenken ist nämlich, dass sich die Legitimationsmodelle pauschal auf alle EG-Normsetzungsakte beziehen. Sie machen mithin keinen Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien7. Dies mag zumindest prima facie erstaunen. Schließlich bedürfen Richtlinien der innerstaatlichen Umsetzung8. Insofern liegt der Gedanke nicht fern, dass Richtlinien im Zuge des innerstaatlichen Umsetzungsverfahrens zusätzlich demokratische Legitimation zuwächst. In diesem Fall könnte es sich als verfehlt erweisen, Verordnungen und Richtlinien über denselben demokratierechtlichen Leisten zu schlagen, und wären die drei Legitimationsmodelle womöglich – weil wenig komplex – unbrauchbar. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es durchaus gerechtfertigt ist, wenn Verordnungen und Richtlinien im Rahmen der Legitimationsmodelle unterschiedslos behandelt werden. Zwar ist es keineswegs ausgeschlossen, dass eine Umsetzungsnorm ein höheres Legitimationsniveau aufweist als die ihr zugrundeliegende Richtlinie. Denn in dem Umfang, in dem die Richtlinie dem Umsetzungsgeber einen Konkretisierungsspielraum belässt, kann dem Umsetzungsakt eine völlig anders geartete demokratische Legitimation zuwachsen, als dies bei der Richtlinie der Fall ist; und gegebenenfalls trägt dieser andere Legitimationszusammenhang in stärkerem Maße zur demokratischen Rückkoppelung bei als der auf die Richtlinie zurückführende. Dies kann und darf jedoch nicht darüber hinweg

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Siehe oben Einleitung I. 5. b) = S. 63. Siehe oben Einleitung I. 5. a) = S. 62. 6 Dazu bereits oben Einleitung I. 5 c) = S. 66. 7 Zu diesen beiden Normsetzungstypen vgl. nur Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 73 ff. 8 Dazu nur Bleckmann, Die Rechtsquellen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1999, S. 824 (825) und Seidl-Hohenveldern / Loibl, Das Recht der internationalen Organisationen, 7. Aufl. 2000, Rn. 1560.

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täuschen, dass es vorliegend nicht um die Legitimation mitgliedstaatlicher Umsetzungsakte geht, sondern um die von EG-Normsetzungsakten9. Dazu zählen auch die sich typischerweise als Normsetzungsverpflichtungen präsentierenden Richtlinien. Diese bestimmen das Legitimationsniveau der sie umsetzenden mitgliedstaatlichen Normen mit – und nicht umgekehrt. Es ist daher nichts dagegen einzuwenden, wenn alle drei hier zu diskutierenden Legitimationsmodelle auf eine Differenzierung zwischen den beiden Grundtypen von EG-Normsetzungsakten verzichten und den Aspekt der innerstaatlichen Umsetzung von Richtlinien ausblenden. Im Gegenteil: In der hiermit verbundenen Reduzierung von Komplexität liegt gerade der Reiz und Nutzen einer modellorientierten Diskussion der europäischen Demokratieproblematik.

I. Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation Wird die demokratische Legitimität der EG-Normsetzung ausschließlich von den EU-Mitgliedstaaten hergeleitet, kommt es zu einer Art ‚Mosaiklegitima­tion‘10. Jeder Normgebungsakt muss, um demokratisch legitim zu sein, auf jedes einzelne der nationalen Staatsvölker rückführbar sein11. In Hinblick auf die Legitimationszusammenhänge ergibt sich für die Vertreter dieser Theorie das folgende modellhafte Bild12: Personelle demokratische Legitimität wächst den Gemeinschaftsnormen im Wesentlichen dadurch zu, dass die Regierungsmitglieder der einzelnen Mitgliedstaaten, die im Rat zusammen Recht setzen und es gegebenenfalls auch wieder revidieren können, durch die nationalen Parlamente beziehungsweise den Staatspräsidenten in ihr Amt berufen worden sind13. Materielle Legitimation erwächst dem Modell mittelbarer Legitimation zufolge insbesondere aus den Gründungsverträgen, an denen sich die EG-Organe bei der Normgebung orientieren müssen14. Diese Gründungsverträge wurden von den nationalen Volksvertretungen ratifiziert. Durch die parlamentarische beziehungsweise direktdemokratische Billigung der Änderungsverträge (Einheitliche Europäische Akte, Unionsvertrag, Amsterdamer Vertrag) ist diese ursprüngliche Legitimation späterhin verschiedentlich aktualisiert worden. Des Weiteren wächst den

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Siehe oben Einleitung III. 1. = S. 76. Klein, Entwicklungsperspektiven für das Europäische Parlament, in: EuR 1987, S. 97 (101). 11 So etwa Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 67 f.; Schachtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, in: APuZ 1993, B 28, S. 3 (6 f.). Vgl. auch Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: APuZ 2007, 10, S. 24 (25). 12 Dazu deskriptiv-kritisch auch Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 346 ff. 13 Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, in: StWiss 1992, S. 354 f. 14 Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 448 ff.

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EG-Normgebungsakten materielle Legitimation insofern zu, als die nationalen Parlamente die den Erlass und Fortbestand von Gemeinschaftsrecht mit bestimmenden Regierungsmitglieder zur Rechenschaft ziehen können und diese sich daher in ‚vorauseilendem Gehorsam‘ regelmäßig am für sie maßgeblichen Parlamentswillen orientieren werden. Materiell legitimierend wirkt fernerhin auch der Umstand, dass die Staatsvölker selbst die Regierung im Rahmen der regelmäßig wiederkehrenden Volkswahlen für ihren europapolitischen Kurs zur Verantwortung ziehen können und sich die Exekutive aus diesem Grund tendenziell am Volkswillen ausrichtet. Es zeigt sich, dass die nationalen Parlamente diesem Ansatz zufolge eine zentrale Rolle im Legitimationsgefüge der EU spielen. Welche legitimatorische Funktion aber kommt in diesem Modell dem Europäischen Parlament zu? Ist die demokratische Legitimation wesensmäßig eine mittelbar von den einzelnen nationalen Staatsvölkern abgeleitete, wie es das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation annimmt, so könnte das Europäische Parlament personelle und materielle demokratische Legitimation überhaupt nur dann vermitteln, wenn seine Beschlüsse von der Zustimmung der nationalen Abgeordnetenkontingente abhingen und diese national homogen wären. Doch ist gegenwärtig, wie an späterer Stelle noch zu vertiefen sein wird15, keine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt. Über das Europäische Parlament können EG-Hoheitsakte daher weder personell noch materiell an die nationalen Staatsvölker rückgebunden werden16. Dies bedeutet zwar nicht, dass dem Europäischen Parlament im Modell mittelbarer Legitimation überhaupt keine demokratische Funktion zukommt. Zu berücksichtigen ist insofern insbesondere, dass das Europäische Parlament dort, wo es an Normsetzungsverfahren beteiligt ist, durch seine Debatten zur Herstellung demokratischer Öffentlichkeit beizutragen vermag17. Zur unmittelbaren Rückkoppelung von Normsetzungsakten an die jeweiligen Staatsvölker tragen die dem Europäischen Parlament in Hinblick auf das Normsetzungs- und -revisionsverfahren eingeräumten Mitwirkungsmöglichkeiten indessen nicht bei18. Insofern deutet sich auch schon an, dass und inwiefern im Modell mittelbarer Legitimation die internen Demokratieanforderungen einer Intensivierung des europäischen Einigungsprozesses entgegenstehen. Lässt sich demokratische Legitimation nämlich allein als von den nationalen Staatsvölkern ausgehend denken, so verdünnt sich bei jeder Hochzonung von ehedem nationalstaatlichen Normsetzungsbefugnissen auf die europäische Ebene die demokratische Legitimation der aufgrund dieser Kompetenzen erlassenen Normsetzungsakte19. Dies ergibt sich

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Vgl. unten Kapitel 11 I. 2. b) = S. 879. So im Ergebnis auch Oeter, Föderalismus, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Ver­ fassungsrecht, 2003, S. 59 (89). 17 Grimm, Die größte Erfindung unserer Zeit, in: FAZ vom 16.06.2003, S. 35. 18 Auf diese Konsequenz weist auch Bryde, Wandlungen des Rechtssystems in der Ein­ wanderungsgesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Das Recht und die Fremden, 1994, S. 7 (12) hin. 19 Vgl. dazu auch Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (250).

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schon daraus, dass die EG-Normsetzungsakte über die nationalen Regierungen personell demokratisch legitimiert werden und diese exekutivisch vermittelte Legitimation nicht denselben demokratischen Wert hat wie die auf nationaler Ebene in diesen Fällen vielfach vorgeschriebene parlamentarische Legitimation. Als besonders problematisch erweisen sich für dieses Modell fernerhin diejenigen primärrechtlich vorgesehenen Normsetzungsverfahren, die für Ratsentscheidungen das Mehrheitsprinzip vorsehen. Denn in diesen Fällen kann sogar die exekutivische Rückbindung an das Staatsvolk entfallen, sodass im Wesentlichen nur mehr die durch die Gemeinschaftsverträge beziehungsweise durch die Zustimmungsgesetze hierzu vermittelte, reichlich unspezifische materiell-demokratische Legitimation übrig bleibt. Aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation hängt die demokratische Rückbindung der EG-Normsetzungsakte daher bei Mehrheitsentscheidungen vielfach nur noch am sprichwörtlichen seidenen Faden. Umso problematischer muss den Vertretern dieses Modells der Fortgang der europäischen Integration erscheinen, da in dessen Gefolge die primärrechtlich vorgesehenen Fälle von Mehrheitsentscheidungen zunehmen werden20. Sofern sie daher nicht schon jetzt erreicht sind, wird der europäische Einigungsprozess aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation daher schon bald an die Grenzen stoßen. Zwar mag die Verdünnung legitimatorischer Zusammenhänge bis zu einem gewissen Grad durch den im Rahmen überstaatlicher Zusammenhänge gewonnenen Einflusszuwachs oder die in diesem Zusammenhang etablierte Friedensordnung gerecht­fertigt sein21. Sie darf jedoch gewiss nicht zu einem wesentlichen Verlust an demokratischer Qualität führen22. Dem Integrationsfortgang sind daher im Modell mittelbarer Legitimation enge Grenzen gesetzt23. Eine echte Vertiefung der europäischen Einigung erscheint insofern nur in radikalföderalistischer Perspektive denkbar. Dazu müsste sich ein europäischer Staatsvolksverband zum Träger einer souveränen europäischen Staatsgewalt aufschwingen. Denn dann wären bei Hoheitsakten der EU die internen Legitimationsvorgaben ohne Weiteres gewahrt24. Aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation gibt es daher für die weitere Entwicklung der europäischen Einigung nur die eine Alternative: Integrationsstopp25 oder Bundesstaatswerdung. 20 So sieht etwa der Reformvertrag eine deutliche Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen vor – vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat, Europa für das 21. Jahrhundert reformieren, KOM(2007) 412 endgültig, S. 6. 21 In diesem Sinn und eher großzügig Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 (65). 22 Ähnlich streng Lübbe-Wolff (Fn. 19), S. 254 f. 23 Dies konstatiert auch Weiler, European Citizenship: The Selling of the European Union, in: Antalovsky / Melchior / Puntscher Riekmann (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, 266 (274). 24 Auch das in diesem Kontext nicht näher zu thematisierende Problem der externen Souveränitätsschranken würde sich dann selbstverständlich nicht mehr stellen. 25 In diese Richtung etwa Kirchhof, Die Einheit des Staates in seinen Verfassungsvoraussetzungen, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Die Einheit des Staates, 1998, S. 51 (59).

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II. Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration Im Ausgangspunkt knüpft das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration26 an das mittelbarer Legitimation an. Es leitet die Legitimität von EG-Normen folglich in personeller wie materieller Hinsicht von den verschiedenen nationalen Staatsvölkern her27. Dies erscheint ihm jedoch nicht als ausreichend. Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration geht vielmehr davon aus, dass mit dem Fortschreiten der Integration auch die Legitimationsgrundlage der Gemeinschaft über das Konzept der mittelbaren Legitimation hinaus ausgebaut werden kann28. Vor diesem Hintergrund wird zusätzlich zur vom Staatsvolk herrührenden Legitimation eine weitere, recht eigentümliche Sonderform materieller Legitimation ins Spiel gebracht, die spezifisch europäischen Ursprungs ist. Quell dieser originär europäischen materiellen Legitimation ist nicht etwa der namentlich durch das Europäische Parlament repräsentierte europäische demos, wie dies vor dem Hintergrund der europäischen Demokratietradition nahe läge. Das Zweckverbands-Modell geht vielmehr davon aus, dass sich derartige vom Nationalstaat her geprägte Anschauungen nicht auf die EG / EU übertragen lassen und auch nicht übertragen werden sollen29. Stattdessen will es mit der Charakterisierung der europäischen Integrationsgemeinschaft als Zweckverband funktionaler Integration die im Rahmen internationaler Organisationen erwünschten und gebotenen Formen materieller Legitimation erschließen: Die Umschreibung der EG als Zweckverband funktionaler Integration soll verdeutlichen, dass Machtakte dieser Institution in der Regel gar keine genuin politisch-konfliktäre Entscheidung mehr darstellen, sondern überwiegend aus „organisierter Wissensbildung“ resultieren30. 26 Zur Zweckverbandstheorie grundlegend Ipsen, Zur Verfassung der fusionierten Gemeinschaft, in: Integration 1969/2, S.  3 (14 ff.); ders., Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969, S. 53 ff. Überblicksartig Kohler-Koch / Conzelmann / Knodt, Europäische Integration – Europäisches Regieren, 2004, S. 196 f. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext dieser Theorie vgl. Joerges, Wurde Europa ein Großraum?, in: Jachtenfuchs / Knodt (Hrsg.), Regieren in internationalen Institutionen, 2002, S. 53 (64 f., 70); auch schon ders., Legitima­ tionsprobleme des europäischen Wirtschaftsrechts und der Vertrag von Maastricht, in: Brüggemeier (Hrsg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, S. 91 (103) sowie ders., European Economic Law, the Nation-State and the Maastricht-Treaty, in: Dehousse (Hrsg.), Europe ­after Maastricht, 1994, S. 29 (38 f.). Vgl. ferner Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 56 (60 f.); Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 50 f.; v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 22 f.; ders., Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, in: Staat 2001, S. 3 (28 f.). 27 Vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 6/47 und 54/102; ders., Zur Exe­ kutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 (430  f.). 28 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 27), 6/48. 29 Ebd. 30 Ipsen, Zur Verfassung der fusionierten Gemeinschaft (Fn. 26), S. 19 f.; ders., Fusionsverfassung (Fn. 26), S. 64 f.; etwas zurückhaltender ders. (Fn. 27), 54/109. Vertiefend dazu auch Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 157 ff.

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Das von den nationalen Parlamenten demokratisch legitimierte Primärrecht nennt abschließend Zwecksetzung und konkrete Aufgabenstellung der Europäischen Gemeinschaften31. Es muss, so die Zweckverbands-Theorie, nur mehr möglichst rational und wissenschaftlich fundiert umgesetzt werden32. Diese zweckrationale Rechtsetzung obliegt nach der EG-Funktionenordnung vornehmlich dem Rat und der Kommission, deren Mitglieder ihr Amt demokratischen Berufungsakten verdanken. Daraus wird insgesamt der Schluss gezogen, dass Machtakte der EG auch bei fortschreitender Integration demokratisch legitim bleiben können, weil die betreffenden Machtakte nicht mehr nur mittelbar von den Staatsvölkern her demokratisch legitimiert sind, sondern ihnen darüber hinaus unter dem primärrechtlich implementierten und intendierten Gesichtspunkt der Selbstkontrolle durch Zweckerfüllung und Sachgerechtigkeit eine autonome materielle Legitimität originär zuwächst33. Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration liegt weitgehend quer zu den in der Einleitung erstmals aufgeworfenen und auch eingangs dieses Abschnitts nochmals skizzierten Leitproblemen der vorliegenden Untersuchung34. Zwar wird das Verständnis von Volkssouveränität als einem juristischen Abhängigkeitsverhältnis insoweit stillschweigend aufgegriffen, als auf die Legitimations­

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Siehe Ipsen, Fusionsverfassung (Fn. 26), S. 58 und 62. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 27), 6/48; auch Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S. 1 (23 ff.). In diese Richtung neuerdings auch Schuppert, Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 65 (72), der – bezogen auf die europäischen Politikzusammenhänge – Sachverständigengremien ein legitimationsvermittelndes Potenzial zuspricht. Ablehnend hingegen zum Beispiel Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 97 (130). 33 Vgl. Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft (Fn.  27), S. 427. In eine verwandte Richtung weisen die output-orientierten Demokratietheorien – vgl. etwa Scharpf, Demokratische Politik in Europa, in: Grimm, u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S. 65 (67 ff.), ders., Regieren in Europa, 1999, S. 16 ff. und ders., Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 81 (93 ff.) sowie – aus rechtswissenschaftlicher Perspektive  – Hermes, Gemeinschaftsrecht, „neutrale“ Entscheidungsträger und Demokratieprinzip, in: Gaitanides / Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 410 (422 ff.). Dagegen zutreffend Brunkhorst, Globale Solidarität, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S. 605 (621 mit Fn. 48); Greven, OutputLegitimation, in: Buckmiller / Perels (Hrsg.), Festschrift für Seifert, 1998, S. 477 ff. (dazu auch die Anti-Kritik von Scharpf, Demokratieprobleme in der europäischen Mehrebenenpolitik, in: Merkel / Busch [Hrsg.], Festschrift für v. Beyme, 1999, S. 672 [682 ff.]); Stein, Demokratisierung der Marktwirtschaft, 1995, S. 24 mit Fn. 24: „Wofür hier das Wort ‚Demokratie‘ in Anspruch genommen wird, ist in Wahrheit eine Abschaffung der Demokratie.“ Zur ‚Unverrechenbarkeit‘ von input- und output-Legitimation auch Schröder, Volkssouveränität zwischen demokratischem und republikanischem Prinzip, in: Jochum u. a., Legitimationsgrund­lagen einer europäischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität, 2007, S. 17 (67 ff.). 34 Mit der Zweckverbandsformel wird die Frage nach der Legitimierung der Gemeinschaftsgewalt schlichtweg „abgeblockt“ (so zutreffend Everling, Vom Zweckverband zur Euro­ päischen Union, in: Stödter / Thieme [Hrsg.], Festschrift für Ipsen, 1977, S. 595 [610]).

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beiträge der nationalen Staatsvölker verwiesen wird. Nicht zu einem durch das Prinzip der Volkssouveränität angeleiteten Legitimationskonzept passt hingegen die Kernthese der Zweckverbands-Theorie, wonach den EG-Normsetzungsakten zusätzliche materielle Legitimation aufgrund des unpolitisch-zweckrationalen Erlassverfahrens zuwächst. Auch die brisante Frage nach der Legitimationskraft von europäischem demos und Europäischem Parlament lässt die Zweckverbands-Theorie unbeantwortet: Für die technokratische Apologie der europäischen Exekutivgesetzgebung, als die sich die Zweckverbands-Theorie der Sache nach präsentiert, stellt dies kein zu thematisierendes Problem dar35. Es macht sich bemerkbar, dass die Volkssouveränität kein prägendes Leitbild für dieses Legitimationsmodell ist36. Allerdings ergeben sich auch bei Zugrundelegung des Zweckverbands-Modells interne Schranken für eine Vertiefung der europäischen Integration. Wie dargelegt, wird die von den nationalen Staatsvölkern vermittelte Legitimation der Zweckverbands-Theorie zufolge durch eine Sonderform materieller Legitimation ergänzt. Diese beruht darauf, dass sich auf Gemeinschaftsebene die Normsetzungsakte vielfach nicht als genuin politische Entscheidung darstellen, sondern auf dem zweckrationalen Nachvollzug der primärrechtlich niedergelegten Gemeinschaftsaufgaben und -zwecke beruhen. Werden nun freilich im Zuge vertiefter Integration die Aufgaben der Gemeinschaft vielschichtiger und die Zwecksetzungen kontroverser, wird mit Normsetzungsakten in zunehmendem Maße in politische Konflikte eingegriffen und nicht mehr bloß ein in sich schlüssiges Integrationsprogramm abgespult, so kann von einer Legitimation durch Zweckmäßigkeit und Sachgerechtigkeit immer weniger die Rede sein37. So mag man insbesondere die für die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes notwendigen Normsetzungsakte noch bis zu einem bestimmten Grad als durch Zweckrationalität legitimiert ansehen können. Denn nachdem die politische Entscheidung für dessen Errichtung einmal getroffen war, ging es im Folgenden tatsächlich auch um die möglichst sachgerechte und zweckmäßige Umsetzung dieser Entscheidung durch einzelne Normgebungsakte. Seitdem aber spätestens mit der EEA38 die Marktausrichtung der EG durch genuin politische Zielsetzungen ergänzt worden ist39, lässt sich die EG-Hoheitstätigkeit keinesfalls mehr pauschal auf eine – zumindest der Tendenz nach – möglichst fachkundige Realisierung eines im Wesentlichen vorbestimmten Szenarios reduzieren; vielmehr werden hierdurch zunehmend rein politische Kon

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So auch Kaelble, Wege zur Demokratie, 2001, S. 105. Eine politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vorstellung, europäische Hoheitsmacht ließe sich im Wesentlichen durch Sachverstand und Expertise legitimieren, findet sich bei Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 285 ff. 37 Vgl. auch Oppermann, Europarecht, 3. Auflage, 2005, § 12 Rn. 24: „Die Kategorie des ‚Zweckverbands‘ greift heute zu kurz.“ Ebenso Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (589) sowie Kadelbach, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 2007, S. 7 (25). 38 Huber, Europäische Integration, 2. Aufl. 2002, § 3 Rn. 30: erster substanzieller Integra­ tionsfortschritt seit der Gründung der EG. 39 Siehe etwa Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht, 5. Aufl. 2006, Rn. 17.

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flikte entschieden40. Durch Zweckmäßigkeit und Sachgerechtigkeit lässt sich dies selbst dann nicht effektiv legitimieren, wenn man eine derartige Legitimation ansonsten für durchaus denkbar erachtet. Wie schon die Theorie mittelbarer Legitimation geht demnach auch die Zweckverbandstheorie im Ergebnis davon aus, dass die bisherigen legitimatorischen Grundlagen des europäischen Einigungsprozesses keine ausreichende Basis bieten für eine weitere Vertiefung der Integration41. Auch insoweit erscheint letztlich allein die völlige Reorganisation der Legitimationszusammenhänge im Rahmen eines europäischen Bundestaats, mithin also der radikal-föderalistische Lösungsweg als einzig gangbare Alternative.

III. Das Modell der doppelten Legitimationsbasis Im Ausgangspunkt stimmt das Modell der doppelten Legitimationsbasis42 mit dem Zweckverbands-Modell überein. Es sieht nämlich die allein von den nationalen Staatsvölkern herrührenden personellen und materiellen Legitimationszusammenhänge als unzureichend an, um die Normgebungsakte der EU im Prozess fortschreitender Integration in hinreichendem Maße demokratisch zu legitimieren. Und auch dieses Modell sieht daher ergänzend einen EU-spezifischen Legitimationsbeitrag vor. Damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem Zweckverbands-Modell und dem Modell der doppelten Legitimationsbasis aber auch schon erschöpft. Insbesondere wollen sich die Vertreter dieses Modells nicht auf die vermeintlich eigenlegitimierende Zweckrationalität europäischer Normgebung verlassen. Vielmehr soll die mittelbar von den nationalen Staatsvölkern ausgehende Legitimation durch die unmittelbar von einem europäischen demos ausgehende ergänzt werden43.

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Everling (Fn. 34), S. 610. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 320. 42 Dazu früh schon Klein, Entwicklungsperspektiven für das Europäische Parlament, in: EuR 1987, S.  97 (101 f.); mit weiteren Nachweisen Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 588 ff.; auch Everling, Überlegungen zur Struktur der Euro­ päischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: DVBl. 1993, S.  936 (944); Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: Goydke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Remmers, 1995, S. 195 (206); Bandilla / Hix, Demokratie, Transparenz und Bürgerrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: NJW 1997, S. 1217; Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 951; Neunreither, The Democratic Deficit of the European Union, in: Government and Opposition 1994, S. 299 (312); Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Verw. 1993, S. 449 (483 ff.); Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn.  326; Seeler, Die Legitimation des hoheit­ lichen Handelns der EG / EU, in: EuR 1998, S. 721 ff.; vgl. ferner Schwarze, Ein pragma­tischer Verfassungsentwurf, in: EuR 2003, S. 535 (556); Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union, in: DÖV 2003, S.  1009 (1010 ff.); ­Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S.  95 f.; Schönberger, Unions­ bürger, 2005, S. 490. 43 Vgl. zum Beispiel Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S.  145 ff.; v. Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union, in:

Kap. 4: Drei EU-spezifische Legitimationsmodelle

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Die kumulativ auf europäischer Ebene begründete demokratische Legitimation kann dabei die folgenden rechtlichen Formen annehmen: Zusätzliche personelle Legitimation kann namentlich von dem direkt gewählten Europäischen Parlament ausgehen44. Darüber hinaus kann den EG-Normen auch von Seiten der Kommission eine originär europäische demokratische Legitimation zuwachsen, da dieses Gemeinschaftsorgan seit dem Maastrichter Vertrag nicht mehr nur von den nationalen Regierungen, sondern auch vom Europäischen Parlament bestellt wird45. Eine ergänzende materielle Legitimation wächst solchen Gemeinschaftshandlungen zu, die Sekundärrecht nachvollziehen, das mit Billigung des Euro­ päischen Parlaments ergeht. Sofern Erlass und Revision von EG-Normen mitunter auch vom Willen der Kommission abhängen, wächst diesen auch insofern eine zusätzliche materielle Legitimation zu, als die Kommission dem Europäischen Parlament verantwortlich ist und sich daher tendenziell am Parlamentswillen orientieren wird. Indem die Theorie der doppelten Legitimationsbasis den europäischen demos zum echten demokratischen Legitimationsquell aufwertet, wächst zwangsläufig dem Europäischen Parlament eine wichtige Rolle im demokratischen Legitimationsgefüge der EU zu. Zwar sind sich die Vertreter dieser Theorie bewusst, dass das Europäische Parlament derzeit noch unterentwickelt ist und insofern ein „institutionelles Ungleichgewicht“ zu dem sehr viel machtvolleren Rat besteht46. Doch weisen sie zugleich darauf hin, dass die Stellung des Europäischen Parlaments in der Vergangenheit kontinuierlich gestärkt wurde47. Und eine Trendwende ist schwerlich abzusehen48. Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 1033 (1046 f.); ders., Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 149 (174). Teilweise wird auch von drei Legitimationssträngen gesprochen. Dies ist dort der Fall, wo die von den nationalen Mitgliedstaaten vermittelte Legitimation aufgespalten wird, und zwar in denjenigen Legitimationsstrang, der an die Zustimmung zu den Gemeinschaftsverträgen anknüpft, sowie denjenigen, der an die Mitwirkung nationaler Vertreter in den Rechtsetzungsorganen der Gemeinschaft anschließt (so etwa Kellerhals, Wirtschaftsrecht und Europäische Integration, 2006, S. 231). Dies vermag jedoch nicht zu überzeugen, weil beide Legitimationsstränge unstreitig auf denselben Legitimationsquell zurückführen. 44 Vgl. Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S.  182 f.; Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 48 ff.; Papier, Wohin steuert die Europäische Union, in: FAZ vom 08.06.2004, S. 4; Lepsius, Demokratie im neuen Europa: neun Thesen, in: Niedermayer / Westle (Hrsg.), Demokratie und Partizipation. Festschrift für Max Kaase, 2000, 332 (338); Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 99 f. 45 Ruffert, in: Calliess / ders., EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 214 EGV Rn. 1. 46 Zur These des fehlenden Gleichgewichts zwischen Rat und Parlament vgl. mit weiteren Nachweisen Tiedtke (Fn. 44), S. 31 f.; auch v. Arnim, Wohin treibt Europa?, in: NJW 2007, S. 2531 (2532 f.). 47 So etwa Pernice (Fn. 42), S. 468 ff.; siehe auch Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 197 ff. 48 Zur Stärkung des Europäischen Parlaments durch den Reformvertrag siehe Mitteilung der Kommission an den Rat (Fn. 20), S. 5 sowie unten Kapitel 15 III. 1. a) = S. 1299.

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Teil II: Juristische Diskussion um die demokratische Legitimation der EU

Eine Vertiefung der europäischen Integration wirft aus Sicht dieses Modells sehr viel geringere Probleme auf, als dies bei Zugrundelegung der Zweckverbands-Theorie oder des Modells mittelbarer Legitimation der Fall ist. Den Anforderungen an die demokratische Legitimation von Gemeinschaftshandlungen kann auch bei fortschreitender Integration dadurch Rechnung getragen werden, dass die in diesem Fall zwangsläufig eintretende Verringerung nationaldemokratischer Legitimation durch eine schrittweise Ausweitung der originär europäischen Legitimation kompensiert wird49. Nach der Theorie der doppelten Legitimationsbasis besteht im Unterschied zu den anderen beiden Legitimationskonzepten mithin keine Notwendigkeit, die EU bei fortschreitender Integration in einen souveränen Bundesstaat zu überführen. Auch als Konföderation – oder, wie es neuerdings heißt50, ohne dass damit juristisch etwas anderes ausgesagt wäre51: als Staatenverbund52 – erweist sich die EU aus Sicht dieser Theorie als demokratierechtlich zukunftsfähig.

49 Vgl. etwa Bieber, Beschwerden über die Verfassung als Verfassungsbeschwerde, in: NJ 1993, S. 241 (243 f.). 50 Vgl. BVerfGE 89, 155 (184 ff.). 51 Vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S.  1: Der „‚Staatenverbund‘ ähnelt (…) so sehr dem Staatenbund, dass der Wert dieser rechtsfortbildenden Schöpfung noch fragwürdiger erscheint.“. Dazu, dass man auch mit dem Begriff des Staatenverbundes der Alternative zwischen Staatenbund und Bundesstaat nicht zu entkommen vermag, zutreffend Kahl, Europäische Union: Bundesstaat – Staatenbund – Staatenverbund, in: Staat 1994, 241 (256 f.) und wohl auch Hesse, Vom Werden Europas, 2007, S. 183. 52 Der Begriff des Staatenverbunds (zu diesem auch Dorau [Fn. 42], S. 39 ff.) ist angetan, Verwirrung zu stiften. Zwar lässt sich den Umschreibungen seines Urhebers entnehmen, dass damit ein Staatenbund mit besonders hoher Integrationsdichte gemeint ist. Denn kennzeichnend für ihn soll sein, dass „die demokratische Allzuständigkeit und rechtliche Verantwortlichkeit bei den Mitgliedstaaten“ zu verorten ist; vgl. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Euro­ päischen Union als Staatenverbund, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 892 (904). Dies hat andere Literaturvertreter indes nicht davon abgehalten, den Begriff des Staatenverbunds mit der Vorstellung geteilter Souveränität in Verbindung zu bringen (vgl. etwa Calliess, in: ders. / Ruffert [Hrsg], EGV / EUV, 3. Aufl. 2007, Art. 1 EUV Rn. 30) und auf diese Weise die – richtiger Auffassung nach auch weiterhin zu unterstellende – strikte Alternativität von Staatenbund und Bundesstaat hinter sich zu lassen. Die skizzierte Ambiguität des Begriffs ‚Staatenverbund‘ spricht denn auch dafür, ihn möglichst rasch zu entsorgen und zu einer nachhaltigen Bewirtschaftung der überkommenen staatstheoretischen Begriffe zurückzukehren. Hierfür lässt sich des Weiteren ins Feld führen, dass sich der Begriff des Staatenverbundes nur sehr bedingt in andere europäische Sprachen übersetzen lässt (so auch v. Beyme, Europa in Forschung und Lehre, in: Chrysos / Schultheiß, EuropaPerspektiven, 2007, S.  105 [106]) und daher für eine gemeineuropäische Verständigung über die Strukturgestalt der EU ungeeignet ist. Zum Begriff des Staatenverbunds im Maastricht-Urteil vgl. nur Winkelmann, Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 15 (40 f.) und – kritisch – Zuleeg, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 1 EGV Rn. 7.

Teil III

Volkssouveränität und EU – eine Rekonstruktion aus dem Geist der Allgemeinen Staatslehre Teil III: Volkssouveränität und EU

Vorbemerkung: Bedeutung und Methode der Allgemeinen Staatslehre Vorbemerkung

Auch wer das Thema ‚Demokratie und Europäische Union‘ ausschließlich normwissenschaftlich erörtern möchte, bleibt auf die Allgemeine Staatslehre angewiesen1. Als Hilfswissenschaft der Rechtsdogmatik2 reflektiert sie die soziologischen sowie ideellen Voraussetzungen positiv gesetzten Rechts. Dies geschieht in einer Sprache und mit Begriffen, an die die Rechtsdogmatik nahtlos anknüpfen kann. Die aus Sicht der dogmatischen Rechtswissenschaft insofern unmittelbar anschlussfähige Allgemeine Staatslehre bleibt für die normwissenschaftliche Konkretisierung von Rechtssätzen daher von erheblicher Bedeutung3. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um inhaltlich reichlich unbestimmte Normen handelt, wie dies nicht zuletzt bei der hier in Rede stehenden Demo­ kratienorm der Fall ist. Hier nämlich können die normtextbezogenen Interpreta­ tionselemente, denen bei der rechtsdogmatischen Normkonkretisierung an sich Vorrang zukommt, zu keinem befriedigenden, abschließenden Ergebnis führen. Zwar sind der Wortlaut und daneben Systematik sowie Entstehungsgeschichte der Ausgangs- sowie maßgeblicher Bezugspunkt jeder normwissenschaftlichen Interpretation. Doch bleibt es dabei, dass sich hochgradig abstrakte, prinzipienhafte Normen und in besonderem Maße die Demokratienorm nur unter Rückgriff auf nicht normtextbezogene, also insbesondere philosophisch-ideengeschichtliche und soziologische Interpretationselemente erschließen lassen. Der Grund hierfür liegt nicht nur in ihrer tatbestandlichen Vagheit, sondern ist auch in ihrer – anders als bei eher rechtstechnischen Normen  – besonders starken Verwurzelung

1 Dies folgt aus den methodischen Prämissen (Einleitung II. = S. 72), den Überlegungen zur Relevanz der Thematik (Kapitel 1 II. 2. = S. 107) sowie der kritischen Reflexion des eigenen, durch Hermann Heller geprägten Vorverständnisses (Kapitel 2 II. 1. = S. 126). 2 Etwas respektvoller mag man auch von ‚Beratungswissenschaft‘ sprechen (vgl. v. Arnim, Ist Staatslehre möglich?, in: JZ 1984, S. 157 [159]). 3 Zu dieser Funktion von Staatstheorie  – konstatierend  – auch Lepsius, Braucht das Ver­ fassungsrecht eine Theorie des Staates?, in: EuGRZ 2004, S. 370 (374 f.), der im Weiteren dann freilich die Staatslehre zugunsten einer ‚Theorie der Herrschaftsformen und ihrer Legitima­ tionsbedürftigkeit‘ aufgeben will.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

in vorpositiver Normativität und gesellschaftlicher Normalität zu suchen. Dabei kommt der Allgemeinen Staatslehre die insoweit zentrale Funktion zu, philoso­ phische und soziologische Erkenntnisse in dogmatisch handhabbare interpretatorische Versatzstücke umzumünzen4. Diese Funktion muss die Allgemeine Staatslehre auch heute noch erfüllen, selbst wenn ihr herkömmlicher Erkenntnisgegenstand, der allgewaltige neuzeit­ liche Staat, in Auflösung5 begriffen ist6. Denn solange das positive Recht selbst mit Begriffen operiert, die aus der Welt eben dieses neuzeitlichen Staates stammen7, bedarf es einer Allgemeinen Staatslehre, die durch ihren Transmitterdienst dafür sorgt, dass die Rechtsdogmatik Anschluss halten kann an vorpositive Normativität und gesellschaftliche Normalität8. Eine solche Allgemeine Staatslehre ist indes nicht nur unverzichtbar9. Sie erweist sich trotz der unleugbaren Veränderungen von Staatlichkeit auch als möglich10. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Allgemeine Staatslehre nicht ideologisch an ideell und soziologisch längst überwundenen Vorstellungen festhält, sondern sich wirklichkeitswissenschaftlich dem



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Siehe oben Einleitung II. = S. 72. Dazu nur Volkmann, Relativität des Staates, in: JuS 1996, S. 1058 (1063 f.). 6 Anderer Auffassung Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, in: Dreier (Hrsg.) Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität  – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 113 (115), der zur Durchdringung speziell der europäischen Poli­ tikzusammenhänge eine Europalehre, eine Europatheorie, eine Europarechtswissenschaft oder eine europäische Verfassungslehre fordert. In diese Richtung auch  – allerdings bezogen auf die Staatsrechtslehre  – Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, in: VVDStRL 2004, S. 41 (67 f.). Ähnlich hat sich – früh – auch schon Ipsen, Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969, S. 20 dafür ausgesprochen, im europäischen Kontext die Allgemeine Staatslehre durch eine spezifische Gemeinschaftslehre zu substituieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Allgemeine Staatslehre in der Lage war, die Einbettung des Staates in die Gesellschaft zu verarbeiten und ihre angestammten Inhalte um die einer Gesellschaftslehre zu erweitern (vgl. v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S.  3 f.). Einer innovativen allgemeinen Staatslehre wird es daher auch gelingen, die Phänomene der überstaatlichen Integration zu erfassen und sich damit der Sache nach zur Staats-, Gesellschafts- und Europalehre fortzuentwickeln (vgl. auch v. Arnim [Fn. 2], S. 158). Für die Anwendung staatsrechtlicher Begrifflichkeiten auf supranationale Organisationen spricht sich daher beispielsweise auch Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 6 Rn. 8 aus. 7 Dazu auch v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, in: Staat 2001, S. 3 (9): „Bislang war der Staat die einzige Form politischer und rechtlicher Herrschaft. Sämtliche Begriffe und Institute, die Herrschaft ausbuchstabierten, fanden in der Staatlichkeit ihren Fluchtpunkt.“ 8 Zutreffend weist v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Euro­ päisches Verfassungsrecht, 2003, S. 149 (159) darauf hin, dass rechtswissenschaftliches Denken „auf dogmatische Traditionsbestände“ angewiesen sei, „die sich in lebenstüchtigen Institutionen ausdrücken.“ 9 Anderer Ansicht Lepsius [Fn. 3], S. 375 ff. 10 In diese Richtung auch v. Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 1033 (1034) sowie Hesse, Vom Werden Europas, 2007, S. 183.

Vorbemerkung

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historischen Wandel öffnet und daran anknüpfend den Inhalt der überkommenen Begriffe sukzessive neu bestimmt11. Damit ist auch bereits zum methodischen Ansatz übergeleitet, den eine Allgemeine Staatslehre heute verfolgen muss. Sie muss in dem Sinne wirklichkeitswissenschaftlich ausgerichtet sein12, dass sie von den aktuellen Wirklichkeitszusammenhängen, von der gesellschaftlichen Totalität ausgeht und um das „Verstehen der gesellschaftlichen Wirklichkeit“13 bemüht ist14. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die von der Allgemeinen Staatslehre zu erfassende gesellschaftliche Realität nicht auf Realien im engeren Sinne verkürzen lässt, sondern immer auch „durchgeistetes Leben“15 ist16. Da sie sich gerade auch unter diesem Gesichtspunkt als hochgradig komplex erweist, kann die gesellschaftliche Realität nur im Wege eines ‚dialektischen Denkverfahrens‘ begrifflich rekonstruiert werden17. Das dialektische Denkverfahren und mithin auch die auf diesem Wege generierten wirklichkeitswissenschaftlichen Strukturbegriffe respektieren die verschiedenen Teilwirklichkeiten und -wahrheiten, ohne sie endgültig voneinander zu isolieren18, sondern im Endeffekt immer wieder aufeinander rückzubeziehen19. Dieses ‚dialektische Denkverfahren‘ lässt sich speziell auch im Hinblick auf die Hauptprobleme eines EU-spezifischen Legitimationsmodells fruchtbar machen. So steht der in diesem Zusammenhang problematische Volksbegriff im Fadenkreuz divergierender Demokratiekonzeptionen20, denen im Rahmen des ‚dialektischen Denkverfahrens‘ in ihrer relativen Berechtigung Rechnung getragen werden kann. Darüber darf freilich das politische Ganze, die wirk-liche Demo­kratie 11 Siehe oben Kapitel 1 II. 2. c) = S. 112. In Anlehnung an Schwarze, Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, in: DVBl. 1999, S. 1677 (1684) lassen sich die staatstheoretischen Begriffe als ‚Archetypen‘ begreifen, die in ihrem allgemeinen Gehalt auch in neuen überstaatlichen Organisationsformen Verwendung finden können. 12 Ähnlich der Ansatz von Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt, 1995, S. 56 f. 13 Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 (138). 14 Zu diesem Ansatz überblicksartig Katz, Staatsrecht, 16. Aufl. 2005, Rn.  30; vertiefend Albrecht, Hermann Hellers Staats- und Demokratieauffassung, 1983, S. 134 ff. 15 Heller (Fn. 13), S. 137. 16 Dazu eingehend auch Leibholz, Zur Begriffsbildung im Öffentlichen Recht, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 262 ff. 17 Kritisch aus Sicht einer materialistischen Staatstheorie Blau, Hermann Heller, in: DuR 1976, S. 120 (127). 18 Eine vom dialektischen Denkverfahren geprägte Staatslehre begeht insofern gerade nicht den Fehler, den Lepsius (Fn. 3), S. 377 den Staatstheorien generell vorwirft, nämlich zu Dichotomien zu tendieren und graduierungs- beziehungsweise differenzierungsfeindlich zu sein. 19 Siehe oben Kapitel 2 II. 1. a) = S. 127. Diesen die dialektische Methode schlechthin prägenden Vorzug (dazu v. Oertzen, Dialektik – Allüre oder Methode, in: ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, 2004, S. 53 ff.) verkennen auch die Kritiker Hellers nicht, vgl. zum Beispiel Blau, Hermann Heller, in: DuR 1976, S. 120 (126). 20 Vgl. dazu auch Marti, Demokratie, 2006, S. 239: „Die moderne Demokratie ist, was ihre geistigen Wurzeln betrifft, kein einheitlicher Entwurf. Sie ist ein Ort eines mehr oder weniger offenen Wettbewerbs von Ideen und Konkurrenzen.“

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Teil III: Volkssouveränität und EU

nicht aus den Augen verloren werden und muss daher ein (entwicklungs-)offener Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinn freigelegt werden, durch den sich die widerspruchsvollen Demokratieparadigmen dialektisch vermittelt sehen21. Ferner schärft das ‚dialektische Denkverfahren‘ den Blick dafür, dass sich die für die Volkssouveränität charakteristische Zurechnungsstruktur wirklichkeitswissenschaftlich nur als zugleich hierarchisch von oben nach unten, als auch partizipativ von unten nach oben ins Werk zu setzender Legitimationszusammenhang begreift. Zugleich ergibt sich bei Zugrundelegung des ‚dialektischen Denkverfahrens‘, dass sich Volkssouveränität beziehungsweise die ihr inhärente Zurechnung im demokratischen Sinne nur dann auf den wirklichkeitswissenschaftlichen Strukturbegriff bringen lässt, wenn die normativ geforderte Rückbindung aller Hoheitsgewalt an das Volk als notwendig durch die Normalität funktionierender Vermittlungszusammenhänge flankiert gedacht wird22. Schließlich vermag das ‚dialektische Denkverfahren‘ den Weg zu einem nüchtern-wirklichkeitswissenschaftlichen Strukturbegriff von Souveränität zu ebnen, der sowohl deren Normativität als auch ihre Normalität, ihre Idealität wie auch ihre Faktizität verarbeitet23.

Kapitel 5

E

Der Volksbegriff Kap. 5: Der Volksbegriff

Was unter dem in einem demokratischen Sinnzusammenhang verwandten Terminus ‚Volk‘ aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre genau zu verstehen ist, wird von dem zugrundegelegten Konzept der Volkssouveränität präjudiziert1. Wer den Strukturbegriff ‚Volk‘ wirklichkeitswissenschaftlich adäquat konkretisieren möchte, muss daher bei der Volkssouveränität ansetzen2. Dabei muss insbesondere der Schlüsselfrage nach der Bedeutung und den Implikationen von Nation3, Volk und Staat für die demokratiezentrale Volkssouveränität nachgegangen werden. Insofern können idealtypisch4 zwei diametral entgegengesetzte Grundkonzeptionen unterschieden werden5. Nach der hier sogenannten verbandsorientierten Konzep

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Siehe oben Kapitel 2 II. 2. a) = S. 135 und sogleich Kapitel 5 = S. 182. Siehe oben Kapitel 2 II. 2. b) = S. S. 140 und sogleich Kapitel 6 = S. 249. 23 Siehe oben Kapitel 2 II. 2. c) = S. 144 und sogleich Kapitel 7= S. 512. 1 Siehe oben Kapitel 2 II. 2. a) = S. S. 135. 2 So auch Beaud, Le droit de vote des étrangers, in: Rev. fr. Droit adm. 1992, S. 409 (412). 3 Zur Begriffsgeschichte von ‚Nation‘ lehrreich Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation, 1994, S. 43 ff. 4 Siehe auch schon oben Kapitel 2 II. 2. a) aa) = S. 136. 5 Zu vergleichbaren Konzeptualisierungen vgl. Dellavalle, Für einen normativen Begriff von Europa, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S.  237 (238 ff.) sowie Schneider, EU als Staatenverbund oder als multinationale ‚Civitas Europae‘, in: Randelzhofer / Scholz / Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Grabitz, 1995, S. 171 (698 f.).

Kap. 5: Der Volksbegriff

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tion lässt sich Volkssouveränität nur holistisch im Rahmen von Nation, Volk und Staat verwirklichen6. In dieser Perspektive ist Volk ausschließlich als nationalstaatlicher Verband begrifflich fassbar und Demokratie auf europäischer Ebene jedenfalls gegenwärtig nur als eine von den nationalstaatlichen Verbänden abgeleitete vorstellbar7. Nach der im Weiteren als individuumszentriert bezeichneten These wurzelt Volkssouveränität demgegenüber im Autonomieanspruch der herrschaftsbetroffenen Einzelmenschen und hängt folglich nicht notwendig mit Nation, Volk und Staat zusammen, sondern kann auch die Organisation von Macht innerhalb anderer sozialer Entitäten betreffen. In dieser Perspektive vermag Volkssouveränität den nationalstaatlichen Bezugsrahmen zu transzendieren und ist es infolge­ dessen begrifflich nicht ausgeschlossen, dass mit Volk etwa auch die Unionsangehörigen gemeint sind. Dieser Dualismus zwischen einerseits verbandsorientiertem und andererseits individuumszentriertem Verständnis von Volkssouveränität8 sowie die daran anschließende Polarität der Volksbegriffe kehren auch in den verschiedenen, Volkssouveränität und Volksbegriff gegenläufig ausdifferenzierenden Demokratiepara­ digmen wieder9. So wird Volkssouveränität einerseits als Volksherrschaft und Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung beschrieben, andererseits als freiheitliche Selbstgesetzgebung und politischer Ausdruck individueller Selbstbestimmung verstanden. Teils wird die Volkssouveränität ausschließlich auf den staatlichen

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In diese Richtung etwa Kirchhof, Die Staatenvielfalt  – ein Wesensgehalt Europas, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 947 (949 f.); Meier, Die parlamentarische Demokratie, 1999, S.  46 ff.; Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, in: Schwab u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mikat, 1989, S. 705 ff.; Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie ohne Völker?, in: Drexl (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S.  27 ff.; Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 49 f.; Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004, S. 47 ff.; Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Staat 1993, S. 191 (200 f.). Dagegen – nuanciert – Melchior, Perspektiven und Probleme der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Antalovsky / ders. / Puntscher Riekmann u. a. (Hrsg.), Integration durch Demokratie, 1997, S. 11 (36 ff.); auch Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 201 ff. und Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung, in: Staat 1997, S. 189 (205 ff.). 7 In diesem Sinn etwa Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, 2005, S. 423 (435); ders., Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, in: ders. (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S.  253 (258 ff.); Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, in: DÖV 1988, S.  437 (440 f.); Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 1974, S. 49 (92). Skeptisch demgegenüber zum Beispiel Grewe, Demokratie ohne Volk oder Demokratie ohne Völker?, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 59 (61). 8 Vgl. auch v. Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, in: Bauer / Huber / ders. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 225 (231), der – ebenfalls idealtypisch – zwischen holistischem und menschenrechtlichem Demokratieverständnis differenziert (ferner ders., Demokratisch, demokratischer, am demokratischsten, in: Bohnert [Hrsg.], Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 363 [369]), sowie Groß, Das Kolle­ gialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 163 ff., der – bezogen auf die Verwaltungslegitimation – zwischen monistischem und pluralistischem Ansatz unterscheidet. 9 Siehe dazu auch schon oben Kapitel 2 II. 2. a) aa) = S. 136.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Personenverband, teils undifferenziert auf alle Machtträger bezogen, die in der einen oder anderen Weise über Individuen herrschen. Der Unterschied zwischen Nationalsouveränität und Volkssouveränität wird von den einen gänzlich ignoriert, von den anderen hypertrophiert. Diese denkbar gegensätzlichen Demokratieparadigmen wiederum entbinden ihrerseits nicht minder gegensätzliche Volksbegriffe: Das demokratische Volk nimmt begrifflich entweder als Staatsnation Gestalt an, das als exklusives Kollektiv herrschaftlich Staatsgewalt ausübt. Oder es begreift sich als ubiquitäre Organisationsform, in der und durch die sich gesamtgesellschaftlich freiheitliche Selbstgesetzgebung und individuelle Selbstbestimmung möglichst aller von sozialen Machtakten Betroffenen realisieren lassen10. Nun erweisen sich verbandsorientiertes und individuumszentriertes Verständnis von Volkssouveränität, die hieran anknüpfenden gegenläufigen Demokratie­ paradigmen wie auch die daraus ableitbaren divergierenden Volksbegriffe  – jeweils für sich betrachtet – als in ihrer Klarheit und Kohärenz durchaus faszinierend. Es hat gerade für Juristen einen unleugbaren Reiz, wenn sich ein bestimmter Kerngedanke deduktiv bis in kleinste Detail durchdeklinieren lässt11. Allerdings nährt schon die im zweiten Teil unternommene Rückbesinnung auf Hermann Hellers differenzierte Sicht von Volkssouveränität und demokratischem Volk Zweifel an der Stichhaltigkeit und Tragfähigkeit derart einseitiger, systemischer Betrachtungsweisen. Die Zweifel werden erhärtet durch die in diesem Kapitel vorgeschlagene, an Hermann Heller anknüpfende wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion von demokratiezentraler Volkssouveränität und demokratischem Volksbegriff. Methodisch basiert diese Rekonstruktion auf dem nun schon mehrfach erwähnten dialektischen Denkverfahren12. Den Ausgangspunkt bilden dabei jene gegenläufigen Demokratieparadigmen, in denen das verbandsorientierte und das individuumszentrierte Verständnis von Volkssouveränität sowie die darin anschließenden gegensätzlichen Volksbegriffe näherhin entfaltet werden. Diesen Paradigmen kommt jeweils ein – relativer – Erkenntniswert zu. Sie werfen nämlich ein erhellendes Licht auf die verschiedenen fundamentalen Fragen, die sich bei einer wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion von Volkssouveränität und mithin auch bei der wirklichkeitswissenschaftlichen Konkretisierung des demokratischen Volksbegriffs stellen: Wie verhalten sich Herrschaft und Demokratie zueinander? Wer ist das demokratische Subjekt? Für welche Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit beansprucht Demokratie Geltung? Gilt Demokratie nach außen hin als Exklusionsprinzip? 10 Vgl. auch Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 10 II 2  b): „Die Idee des sich selbst bestimmenden Menschen fordert eine Beteiligung der sachnah Betroffenen an sie berührenden Entscheidungen.“ 11 Zur grundlegenden Kritik an dieser methodischen Haltung: Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 249 ff. 12 Siehe insbesondere oben Teil III Vorbemerkung = S. 179.

Kap. 5: Der Volksbegriff

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Allerdings lassen sich diese Problemstellungen nicht abschließend aus der Perspektive nur des einen oder des anderen Demokratieparadigmas ausleuchten. Denn diese spiegeln nur Teilwirklichkeiten, Teilwahrheiten dessen wider, was Volks­ souveränität und in der Folge auch der Strukturbegriff des Volks aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre aussagen. Es bedarf daher der dialektischen Vermittlung zwischen den gegenläufigen Demokratieparadigmen, will man die für die wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion von Volkssouveränität und Volksbegriff maßgeblichen Fragen adäquat beantworten. Erst eine dialektische Betrachtung lässt die verschiedenen Facetten von Volkssouveränität und Volksbegriff, auf die die divergierenden Demokratieparadigmen ein Schlaglicht werfen, vollends apparent werden. In dieser wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktionsperspektive wird sich zeigen, dass Volkssouveränität als eine polyvalent-variable und damit (entwicklungs-)offene politische Struktur zu verstehen ist. Volkssouveränität kann demnach sowohl im Sinne der verbandsorientierten Demokratieparadigmen als auch in Richtung der individuumszentrierten Demokratieparadigmen konkretisiert werden, sofern dabei nur die  – äußerst weit gezogenen  – demokratietheoretischen Grenzen reflektiert und berücksichtigt werden, die sich im Zuge einer dialektischen Kontrastierung mit dem insoweit nicht verwirklichten, gegenläufigen Demokratieverständnis erschließen lassen. Volkssouveränität lässt sich mit anderen Worten gleichermaßen als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur gestalten, solange die konkrete Strukturgestalt von Volkssouveränität den großzügigen Rahmen wahrt, der durch die dialektische Vermittlung von verbandsorientiertem und individuumszentriertem Ansatz gesetzt wird. Dieses nach allem ersichtlich weite Verständnis von Volkssouveränität bleibt selbstverständlich nicht ohne Konsequenz für den Volksbegriff. Vielmehr sieht es sich in einer entsprechend breiten begrifflichen Definition von Volk im demokratischen Sinn reflektiert.

I. Volkssouveränität und Volksbegriff im Schlaglicht divergierender Demokratieparadigmen Die wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion von Volkssouveränität und Volksbegriff hat, wie dargelegt, bei den verschiedenen, einander widerstreitenden Demokratieparadigmen anzusetzen. Freilich darf eine wirklichkeitswissenschaftlich ausgerichtete Allgemeine Staatslehre nicht bei der bloßen Deskription dieser diametral verschiedenen Demokratieparadigmen stehen bleiben, da diese in ihrer Einseitigkeit dem Strukturgehalt der Demokratie in der politischen Wirklichkeit gerade nicht gerecht werden und daher eine bloß unvollkommene, mithin also letztlich unbefriedigende Antwort auf die realen demokratischen Problemstellungen liefern. Stattdessen muss der sterile Dualismus zwischen den Demokratieparadigmen im Zuge dialektischer Betrachtung überwunden werden. Die

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Teil III: Volkssouveränität und EU

zum Zwecke des besseren Verständnisses diskursiv vorgenommene Entzweiung in gegenläufige Demokratieparadigmen ist folglich keine endgültige, sondern dient allein einer wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion dessen, was aus pro­ blemorientierter Sicht der Allgemeinen Staatslehre unter Volkssouveränität und demokratischem Volksbegriff zu verstehen ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der in gegenläufige Demokratieparadigmen ausdifferenzierte Gegensatz zwischen Verband und Individuum13 nicht die einzige dialektische Herausforderung ist, die sich bei der Rekonstruktion des demokratischen Volksbegriffs stellt. Denn dieser inhaltlich zentrale Gegensatz wird seinerseits durch andere Gegensatzpaare überlagert  – etwa, wie schon angedeutet, durch den Gegensatz zwischen Normalität und Normativität14, aber auch beispielsweise durch den Gegensatz zwischen Statik und Dynamik15. Diese ineinander ver­ wobenen dialektischen Verhältnisse bergen in darstellerischer Hinsicht unleugbare Schwierigkeiten16. Mangels Alternative zum dialektischen Denkverfahren sind diese aber hinzunehmen. Im Folgenden werden daher die aus dem verbandsorientierten beziehungsweise dem individuumszentrierten Ansatz ableitbaren Demokratieparadigmen in der geschilderten Art und Weise dialektisch diskutiert und im Rahmen dieser Schilderungen, soweit erforderlich, auch sonstige Gegensätze wie insbesondere zwischen Normalität und Normativität thematisiert. Wenn infolgedessen auch durch die darstellerische Komplexität ein gewisser Kontrapunkt zu den vielfach sehr viel schneidigeren Ausführungen von Vertretern einer undialektischen Staatslehre gesetzt wird, so ist dies nicht zu vermeiden, sondern liegt in der Natur der Sache17.

1. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als Volksherrschaft oder freiheitliche Selbstgesetzgebung: Das Herrschaftsproblem Nicht nur die Etymologie, sondern auch die Empirie streiten dafür, Volkssouveränität im Demokratieparadigma der Volksherrschaft zu entfalten18. Demgegenüber ist Volkssouveränität ideengeschichtlich vor allem im Paradigma freiheit­licher

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Siehe oben Kapitel 2 II. 2. a) aa) = S. 136. Siehe oben Kapitel 2 II. 1. a) = S. 127. 15 Vgl. Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  3, 2.  Aufl. 1992, S.  79 (363). 16 So auch Heller (Fn. 15), S. 161. 17 Dazu v. Oertzen, Dialektik – Allüre oder Methode, in: ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, 2004, S. 53 (56). 18 Paradigmatisch Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 145 (146): „Man kann den Staat demokratisch verfassen, die Staatsgewalt auf den Volkswillen basieren: die Staatsgewalt bleibt Herrschaft, nur die Art ihres Zustandekommens und ihrer Ausübung unterliegt dem demokratischen Prinzip.“

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Selbstgesetzgebung wirksam geworden. Eine dialektische Betrachtungsweise legt die diesen gegenläufigen Demokratieparadigmen jeweils innewohnenden Vereinseitigungen offen und bietet in der Folge erste Anhaltspunkte für eine wirklichkeitswissenschaftliche Definition von Volk im demokratischen Sinn.

a) Volkssouveränität als Volksherrschaft Die Etymologie19 legt es nahe, das herrschaftliche Element der Demokratie und der für sie zentralen Volkssouveränität in den Vordergrund zu stellen. Denn Demokratie bedeutet Volksherrschaft20 und Volkssouveränität verortet die souveräne Herrschaftsgewalt beim Volk21. In dieselbe Richtung weist die empirisch erfassbare Realität22. Die Demokratie ist realiter eine Organisationsform des mit dem Monopol physischer Gewaltsamkeit versehenen modernen Staates und damit notwendig Herrschaftsorganisation23. Volkssouveränität erweist sich in der Wirklichkeit als Mehrheitsherrschaft24. In den modernen Flächen- und Industriestaaten wird Demokratie überdies in der besonders herrschaftsintensiven Form mittelbarer Demokratie ins Werk gesetzt25. Dort ist das von Heller so genannte ‚Gesetz der kleinen Zahl‘ besonders ausgeprägt, wonach „diejenigen, welche die or

19 Vgl. vor allem Delannoi, Démocracie, le mot et le critère, in: Esprit, No 240 (2/1998), S. 60 (62 f.) und Sartori, Demokratietheorie, 1992, S. 29 ff.; ferner Stückrath, Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S. 278 ff.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, § 70 sowie Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 241 (243). 20 Frevel, Demokratie, 2004, S. 9; Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 8 I und II 1; Thedieck, Demokratietheorien und Grundgesetz, in: JA 1991, S. 345 (349); Schwartländer, Demokratie – Verwirklichung oder Gefährdung der Menschenrechte, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S.  189 (207); Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie, 1997, S. 26. 21 Vgl. Heller, Die Souveränität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 31 (99). 22 Kelsen, Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S.  115 (131): „Das Freiheitsideal der Demokratie, Herrschaftslosigkeit und sohin Führerlosigkeit ist nicht einmal annäherungsweise realisierbar. Denn soziale Realität ist Herrschaft und Führerschaft.“ 23 In diese Richtung auch Llompart, Proklamation der Volkssouveränität in den modernen Verfassungen, in: Krawietz (Hrsg.), Politische Herrschaftsstrukturen und Neuer Konstitutionalismus, 2000, 143 (152) und Höffe (Fn. 19), S. 243. 24 Hierauf weisen auch Murswiek, Demokratie und Freiheit im multiethnischen Staat, in: Blumenwitz / Gornig / ders. (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, S. 41 (42), Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 117 und Abromeit, Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften, in: Brunkhorst / Niesen (Hrsg.), Festschrift für Maus, 1999, S. 17 (25) hin. 25 Kelsen, Staatslehre, 1925, S. 344; Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, S. 359 (361); Dietrich, Das Sezessionsrecht im demokratischen Verfassungsstaat, in: Leviathan 2007, S. 62 (64); Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2004, Rn. 220; Breer, Die Mitwirkung von Ausländern an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch Gewährung des Wahlrechts, 1982, S. 58.

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ganisatorisch vereinigten Machtleistungen aktualisieren, über ein gewisses Maß von Entscheidungsfreiheit und damit von demokratisch nicht gebundener Macht verfügen“26. Etymologie und Empirie geben insofern Bodin Recht, der „l’Estat populaire“, mithin also die Demokratie nüchtern als die „forme de la République“ definiert, „où la pluspart du peuple ensemble commande en souveraineté au surplus en nom collectif, & à chacun de tout le peuple en particulier“27. Dieses herrschaftszentrierte Verständnis von Demokratie und Volkssouveränität28 bleibt nicht ohne Konsequenz für die hier interessierende Thematik. Die Idee demokratiekonstitutiver Identität von Herrschenden und Beherrschten29 wird als Ideologie gebrandmarkt30 und ins Land der Träume verwiesen31. Stattdessen erweist es sich als naheliegend, nur denjenigen Herrschaftsunterworfenen den demokratischen Status zuzubilligen, die in einem besonderen Treueverhältnis zu dem Herrschaftsverband stehen32. Denn die Herrschaft gründet auf der besonderen Loyalität der Mitglieder des Herrschaftsverbands33. Erst diese ermöglicht es, dass die monopolisierte Herrschaft sich wirksam entfalten kann. Was liegt daher näher, als dass der Herrschaftsverband auch nur denjenigen Teilhaberechte gewährt, denen er seine Herrschaft auf Dauer verdankt: Teilhaberechte als Korrelat, aber auch als Stimulus des herrschaftsbegründenden staatsbürgerlichen Gehorsams. Auf diese Zusammenhänge hat – in einem freilich vordemokratischen Kontext –

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Heller (Fn. 15), S. 359. Bodin, Les six livres de la République, 1538, S. 332 (Livre Second / Chapitre VII). Zu Bodin als ‚Klassiker‘ der europäischen Verfassungslehre Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 69 f. sowie ders., Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 20 f. – Eine ähnlich herrschaftsbewusste Demokratiedefinition wie die Bodins findet sich bei Montesquieu, De l’esprit des lois (Goldschmidt [Hrsg.]), Bd.  1, 1979, S.  132 (Livre II / Chapitre II):  „Le peuple, dans la démocratie, est, à certains égards, le monarque; à certains d’autres, il est le sujet.“ 28 In diesem Sinne beispielsweise Isensee (Fn. 6), S. 705 ff.; ders., Grundrechte und Demokratie, in: Staat 1981, S. 161 (165); Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?, in: ders.: Staat Nation Europa, 1999, S. 246 (249); Klein, Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Grundgesetzes, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S.  78. Überblick zu den konservativen Demokratievorstellungen und ihren Hintergründen überblicksweise Frevel (Fn.  20), 2004, S.  69 ff. Eine eigenwillige Kritik an den herrschaftszentrierten Demokratiekonzeptionen bietet Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit (Fn. 7) S. 308 ff. 29 In diesem Sinne etwa Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, in: NG 1954, 34 (38); vgl. auch Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 26: „Kongruenz von Herrschenden und Beherrschten“. 30 Isensee, Kommunalwahlrecht für Ausländer aus der Sicht der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen und der Bundesverfassung, in: KritV 1987, S. 300 (304 f.). 31 Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 26. 32 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Müller, Wer ist das Volk, 1997, S. 60 sowie Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000. S. 51. 33 In diese Sinne etwa Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, in: NJW 1990, S. 1397 (1399).

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schon der Herold moderner Staatlichkeit, Jean Bodin34, hingewiesen35: “… il faut bien dire que les privilèges ne font pas le citoyen, mais l’obligation mutuelle du souverain au subject, aucquel, pour la foy et obeissance qu’il reçoit, il doit justice, confort, aide, & protection: ce qui n’est point deu aux estrangers“36. Der herrschaftszentrierte Ansatz suggeriert daher ein Verständnis von Volkssouveränität, das die staatliche Herrschaft des durch Staatsangehörigkeit konturierten Staatsvolks zum Inhalt hat. Eine unmittelbar auf europäischer Ebene generierte und nicht bloß vom nationalen Mitgliedstaat derivierte demokratische Legitimation der EU-Herrschaftsakte erscheint nach diesem Ansatz erst dann denkbar, wenn der europäische Integrationsverband zum souveränen (Bundes-)Staat mit eigenem europäischen Staatsvolk mutiert und dessen Loyalität Grundlage der herrschaft­ lichen Machtentfaltung ist.

b) Volkssouveränität als freiheitliche Selbstgesetzgebung Nun lässt sich das demokratiezentrale Prinzip der Volkssouveränität aber nicht nur vom souveränen Herrschaftsverband, sondern auch von dem zu freiheitlicher Selbstgesetzgebung fähigen und berufenen Individuum her entwickeln37. Volkssouveränität erscheint in dieser Perspektive als probates Mittel zur Absicherung beziehungsweise zur Verwirklichung von individueller Autonomie38. Dies jedenfalls ist die Botschaft, die den kontraktualistischen beziehungsweise davon beeinflussten Theorien des Aufklärungszeitalters39 und der aufgeklärten Moderne 34 Zu ihm etwa Schnur, Artikel ‚Bodin‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 861 f.; Mittermaier / Mair, Demokratie, 1995, S. 81 ff.; Singer, Nationalstaat und Souveränität, 1993, S. 18 ff.; Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 18 ff. 35 Bodin (Fn. 27), S. 85. 36 Vgl. hierzu Beaud, La Puissance de l’État, 1994, S. 112 ff.; auch v. Komorowski, Rückübertragungsansprüche bei zweckverfehlten DDR-Enteignungen?, in: AöR 2001, S. 507 (526). 37 Dazu auch Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 7. Aufl. 1977, S. 177: Demokratie als höchstmöglicher Grad an Freiheit; Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S.  14; Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1991, S. 10 f.; ferner Bleckmann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, in: JZ 1990, 301 (302); Jochum / Petersson, Vom „Mitregieren“ zu demokratischer Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 151 (182). 38 Dazu eingehend Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 1 (2 ff.) – zu Kelsens Ansatz erhellend Saage, Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht, in: ders., Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie, 2007, S. 232 (236 ff.); ferner Held, Models of Democracy, 1987, S. 267 ff.; Blanke, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 34 (40 f.); Augustin (Fn. 7), S. 389. 39 Dazu in systematisierender Zusammenfassung Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 15 ff.; auch Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 180.

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entnommen werden kann40. Dabei lassen sich verschiedene Grundvarianten unterscheiden. Die liberal-pragmatische Denkweise findet sich in Lockes ‚Second Treatise‘41. Dort heißt es in § 131: „But though Men when they enter into Society, give up the Equality, Liberty, and Executive Power they had in the State of Nature, into the hands of the Society, to be so far disposed of by the Legislative, as the good of the Society shall require; yet it being only with an intention in every one the better to preserve himself his Liberty and Property; (For no rational Creature can be supposed to change his condition with an intention to be worse) the power of the Society, or Legislative constituted by them, can never be suppos’d to extend farther than the common good; but is obliged to secure every ones Property by providing against those (…) defects (…), that made the State of Nature so unsafe and uneasie.“42 Während Locke insofern tendenziell eher die Siche­rung vorstaatlicher Individualfreiheit durch Gesellschaftsvertrag und Volkslegislative43 im Sinn führt, steht in Rousseaus ‚Contrat social‘44 die Erzeugung bürgerlicher Freiheit und damit das republikanische Denken im Vordergrund45. Im 8. Kapitel des ersten Buchs schildert Rousseau, wie die durch die Macht des Stärkeren bestimmte natürliche Freiheit durch Gesellschaftsvertrag und Selbstgesetzgebung zur neuartigen bürgerlichen Freiheit wird, die allein durch den Gemeinwillen beschränkt und konturiert wird46. In Kants ‚Metaphysik der Sitten‘ hat das letztlich nur durch Volkssouveränität, also prozedural umsetzbare Rechtsprinzip47

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Vgl. Graf Kielmansegg, Demokratiebegründung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 98 (100 ff.); auch Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.  Oktober 1993, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 1313 (1325). 41 Zu Locke vgl. etwa Mittermaier / Mair (Fn. 34), S. 87 ff. 42 Locke, The Second Treatise of Government, in: Laslett (Hrsg.), Locke’s Two Treatises of Government, 1960, § 131. 43 Vgl. hierzu Locke (Fn. 42), § 134. Zu Locke als ‚Klassiker‘ der europäischen Verfassungslehre vgl. Häberle (Fn. 27), S. 65 und 69. 44 Zu Rousseau Mittermaier / Mair (Fn. 34), S. 98 ff.; Frevel (Fn. 20), S. 33 ff.; Held (Fn. 38), S. 73 ff.; v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 25 ff.; Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, 1996, S. 86 ff. 45 Bei Locke und Rousseau sind insofern paradigmatisch die beiden Lesarten des demokratischen Gedankens freiheitlicher Selbstgesetzgebung grundgelegt: der liberal-pragmatische und der emanzipatorisch-emphatische (zu diesen beiden Lesarten grundsätzlich auch v. Bogdandy, Demokratisch, demokratischer, am demokratischsten [Fn. 8], S. 371). 46 Rousseau, Du Contrat Social (Burgelin [Hrsg.]), 1992, S. 43 ff. (Livre I / Chapitre VIII). Ihm nachfolgend Kant, Metaphysik der Sitten (Ebeling [Hrsg.]), 1990, S. 172 f. (Der Rechtslehre Zweiter Teil / Das öffentliche Recht / § 47). Zu Rousseau als ‚Klassiker‘ der europäischen Verfassungslehre vgl. Häberle (27), S. 65 und 70. Zur Kritik an Rousseaus Konstruktion des contrat social vgl. etwa Constant, Principes de politique, in: ders., Écrits politiques (Gauchet [Hrsg.]), 1997, S. 303 (313 f.) (Chapitre Premier). 47 Zum allgemeinen Rechtsprinzip Kant (Fn. 46), S. 67 f. (Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre / Einleitung in die Rechtslehre / §  C). Zum Zusammenhang von Rechtsgesetz und demokratischem Rechtsstaat vgl. Maus, Zur Aufklärung über Demokratietheorie, 1992, S. 271 ff.

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nicht allein die Funktion, die äußere, allgemeine Handlungsfreiheit des Einzelmenschen qua Selbstgesetzgebung zu sichern48; vielmehr hat das demokratische Rechtsparadigma auch, vielleicht sogar primär den Sinn und Zweck, das allein der sittlichen Freiheit, das heißt der ethischen Selbstgesetzgebung zugängliche moralische Gesetz wirksam zu entfalten49. Schließlich setzt auch Habermas’ diskurstheoretische Rekonstruktion des Demokratieprinzips letztlich am selbstgesetzgebenden Individuum an50: Denn zum einen stellt die Autonomie diskurs­ theoretisch ein transzendentalpragmatisches Argument, also eine theoretische conditio sine qua non dieses Rekonstruktionsversuchs dar51; zum anderen steht auch das diskurs­theoretisch rekonstruierte Demokratieprinzip im Dienste selbstständiger Rechtssubjekte und soll deren freiheitliche Selbstgesetzgebung sichern und ermöglichen52. Es zeigt sich, dass in den klassischen beziehungsweise fast schon klassischen Theorien Demokratie als Form freiheitlicher Selbstgesetz­ gebung angesehen wird, durch die private, politische und ethische Autonomie des Individuums gewährleistet und verwirklicht wird. Ausgangspunkt dieser demokratietheoretischen Überlegung ist die Freiheit53, die als das zentrale Menschheitsrecht54, das heißt als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“55 angesehen wird56. Hiernach findet die Volkssouveränität also letztlich in der Menschenwürde, nämlich der „gleichen Freiheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“57, ihren ersten 48 Zu dieser gleichwohl nicht gering zu schätzenden Funktion etwa Kant, Streit der Fakultäten, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel [Hrsg.]), Bd. 6, 1964, S. 261 (364) oder ders., Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel [Hrsg.]), Bd. 6, 1964, S. 191 (204). 49 Kant (Fn. 46), S. 149 ff. (Der Rechtslehre Zweiter Teil. Das öffentliche Recht / § 49). Zum Zusammenhang zwischen Rechtsgesetz und Moralprinzip vgl. grundlegend Kersting, Wohl­ geordnete Freiheit, 3. Aufl. 2007, S. 91 ff.; auch Schwartländer (Fn. 20), S. 611. 50 Zu diesem Ansatz etwa Wiesner / Schneider / Nullmeier / Krell-Laluhová / Hurrelmann, Legalität und Legitimität – erneut betrachtet, in: Becker / Zimmerling, Politik und Recht, 2005, S. 164 (169 f.). 51 Vgl. Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 127 (148 ff. und 153 ff.); auch Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 136 f. 52 Vgl. etwa Habermas, Inklusion  – Einbeziehen oder Einschließen, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S.  154 (163 f.); ders., Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtstaat, in: Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1993, S.  147 ff. Zum Ganzen eingehend Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, 2007. 53 In diesem Sinne auch Böttcher, Identität und Demokratisierung, in: Carstens / SchlüterKnauer (Hrsg.), Festschrift für Röhrich, 1998, S. 315 (325 f.). 54 Vgl. Rousseau (Fn. 46), S. 43 ff. (Livre I / Chapitre IV). 55 Kant (Fn.  46), S.  76 (Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre / Ein­ teilung der Rechtslehre / B. [Das angeborene Recht ist nur ein einziges.]). 56 Zur menschenrechtlichen Basis von Demokratie bei Rousseau und seinem Schüler Kant vgl. Müller (Fn. 37), S. 75. 57 Vgl. Heller (Fn. 15), S. 215.

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und letzten Grund58. Insofern führt dieser zweite Ansatz zu einem ‚menschenrechtlich-universellen‘ Verständnis von Volkssouveränität59. Dieses sieht nicht exklusiv die Mitglieder eines bestimmten Staatsverbandes als demokratisch teilhabeberechtigt an60. Vielmehr postuliert die ‚menschenrechtlich-universelle‘ Volkssouveränität die politische Emanzipation aller einer territorialen Herrschaft Unterworfenen und in letzter theoretisch-logischer Konsequenz die Weltrepublik61. Von diesem am Ideal der Herrschaftslosigkeit62 orientierten Ansatz her betrachtet, widerstreitet das Prinzip der Volkssouveränität einer originär europäischen Legitimation des Herrschaftsverbands EU nicht schon dann prinzipiell, wenn es an einem europäischen Staatsvolk, einer europäischen Nation oder einem europäischen Staat fehlt.

c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen Die soeben von der Idee freiheitlicher Selbstbestimmung hergeleitete Konzeption einer ‚menschenrechtlich-universellen‘ Volkssouveränität ist nun freilich  – für sich allein gesehen  – im Rahmen einer genuin wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion von Volkssouveränität und Volksbegriff wenig hilfreich. Zu groß ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt und auf absehbare Zeit der Graben zwischen diesem normativen Konzept und der vorfindlichen Normalität, als dass sich allein daran anknüpfend gesellschaftliche Wirklichkeit rekonstruieren ließe63. So nährt die bereits dargelegte reale Angewiesenheit moderner Demokratie auf Herrschaft64 Zweifel daran, ob das demokratische Paradigma der Selbstge 58 So ausdrücklich Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.  2, 3. Aufl. 2004, § 22 Rdnr. 65; nüchterner, aber im Ergebnis gleich Greven, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 249 (256); Arndt, Schreiben vom 22. August 1953, in: Freiherr v. d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2 / Ergänzungsbd., 1958, S. 371 (422) sowie Bryde, Demokratisches Europa und Europäische Demokratie, in: Gaitanides / Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 131 (132); vgl. auch – zu Kant und Rousseau – Ryffel, Menschenrechte und Demokratie, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 83 (85). 59 Dazu auch Müller (Fn. 37), S. 75. 60 Vgl. Balibar, Was ist eine Politik der Menschenrechte?, in: ders., Die Grenzen der Demokratie, 1993, S. 195 (204). 61 Dazu etwa Brunkhorst, Globale Solidarität, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S. 605 (613). 62 Vgl. dazu auch Kelsen (Fn. 38), S. 25: „Demokratie ist das Ideal der Führerlosigkeit.“ 63 Vgl. Müller (Fn. 32), S. 58: „Es wäre auch Ideologie, und nicht demokratisch strukturierter Diskurs über Demokratie, zuzudecken, daß es genügend demographische, technisch-organisatorische, gruppendynamische Gründe, bürgerlich ‚Sachzwänge‘ genannt, gibt, aus denen sich das ‚Volk‘ nicht selbst regieren kann.“ 64 So auch Volkmann, Setzt Demokratie den Staat voraus?, in: AöR 2002, S.  575 (577), ­Jochum (Fn. 20), S. 29 f. und Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: DÖV 1975, S. 437 (441).

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setzgebung sowie das mit ihr verschwisterte Paradigma der Herrschaftslosigkeit jemals in Normalität erwachsen können65. Des Weiteren sieht sich das Paradigma der Selbstgesetzgebung sozialpsychologischen Bedenken ausgesetzt. Zutreffend, wenn auch mit allzu emanzipationspessimistischem Zungenschlag66 ist darauf hingewiesen worden, dass die Menschen nicht ohne Weiteres das Maß an politischer Aktivität und Initiative entfalten, das erforderlich ist, um Demokratie glaubhaft und wirksam nach der Leitidee der Selbstgesetzgebung zu institutionalisieren67. Es besteht daher die Gefahr politischer Majorisierung durch aktive, oligarchische Minderheiten68. Jedenfalls aber bleibt Demokratie durch das soeben erwähnte ‚Gesetz der kleinen Zahl‘ geprägt, das dem Ideal der Selbstgesetzgebung tendenziell zu­wider läuft. Es ist in diesem Zusammenhang gewiss symptomatisch, wenn derjenige Staatsphilosoph, der in seiner Theorie das demokratische Ideal der Selbstgesetzgebung am Konsequentesten entfaltet hat, skeptisch festhält: „S’il y avait un peuple de dieux, il se gouvernerait démocratiquement. Un gouvernement si parfait ne convient pas à des hommes.“69 Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob hieraus der Schluss zu ziehen ist, dass das realiter niemals erfüllbare Postulat der Selbstgesetzgebung für die Gewinnung eines wirklichkeitswissenschaftlichen Demokratiebegriffs schlechthin sinnlos ist70. Dagegen streitet schon, dass das herrschaftszentrierte Demokratieparadigma, das dem Ideal der Selbstgesetzgebung aus den dargelegten Gründen widerstreitet, seinerseits ebenfalls auf ethische Postulate rekurrieren muss, die sich an der Realität stoßen und niemals ganz in Normalität erwachsen werden. Die demokratische Alternative zum Ideal der Selbstgesetzgebung ist die Repräsentations­

65 Maus (Fn. 47), S. 221 weist zutreffend darauf hin, dass „die Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit ein Problem auch der radikalen Demokratie“ bildet. Dazu ferner Groß, Grundlinien einer pluralistischen Interpretation des Demokratieprinzips, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 93 (95). 66 Nicht verkannt werden darf, worauf ein deutscher Bundeskanzler schon früh hingewiesen hat, nämlich dass das Desinteresse am Staatlichen und Gesellschaftlichen keine feste Größe ist. „Hier kommt es entscheidend auf die politische Führung an. Regieren heißt nicht zuletzt erziehen, und keine politische Bildung ist erfolgreich, die den Bürger nicht befähigt sich kritisch mit seiner Lage auseinanderzusetzen. Wenn die Führung keine überzeugenden Ziele hat, wenn sie den Bürger nicht ins Vertrauen zieht, wird sie schwerlich ein lebhaftes Interesse an poli­tischen Entscheidungen wecken können.“ (Brandt, Die zweite Bewährungsprobe, in: ders., Berliner Ausgabe, Bd. 7, 2001, S. 94 [103]). 67 Vgl. Böckenförde (Fn. 31), Rn. 6; ferner Herzog, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 20 II, Rn. 68. Hierzu auch Böttcher (Fn. 53), S. 325; Groß (Fn. 8), S. 199 sowie Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 57. 68 So Böckenförde (Fn. 31), Rn. 7; ders., Mittelbare / repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: Müller u. a. (Hrsg.), Festschrift für Eichenberger, 1982, S. 301 (309). 69 So Rousseau (Fn. 46), S. 97 (Livre III / Chapitre IV). Dazu auch Kirchheimer, Weimar – und was dann?, in: ders., Politik und Verfassung, 1964, S. 9 (15) und Denninger, Demokratieprinzip und Verfassung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 129 (135). 70 Diese Frage verneinend Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: Benda / ders. /  Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 12 Rn. 19.

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idee71. Repräsentation muss, um demokratisch zu sein, eine nicht bloß formale, sondern auch inhaltliche Repräsentation des Volkswillens realisieren72. Voraussetzung dafür ist, dass die Repräsentanten den Amtscharakter ihrer Herrschaftsbefugnisse respektieren, mithin ein bestimmte „portion of virtue and honour“ aufweisen73, damit nicht bloß der eigene Wille der Herrschaftsträger, sondern ein übergreifendes Gesamtinteresse verwirklicht werden kann74. Die Annahme aber, dass das Heil der Republik den Repräsentanten oberstes Gesetz wäre und demzufolge stets Priorität vor ihren spezifischen Sonderinteressen hätte, erweist sich bei empirischer Analyse als tendenziell genauso utopisch75 wie der Glaube an universelle Emanzipation durch partizipative Selbstgesetzgebung. Denn die Herrschaft demokratischer Repräsentanten ist, historisch gesehen, aus der ständischen Inter­ essenvertretung erwachsen und hat sich niemals ganz von diesen Wurzeln lösen können76. Sie sieht sich ferner, sozialtheoretisch betrachtet, beständig dem ehernen Gesetz der Oligarchie77 ausgesetzt78. Insofern steht auch eine herrschaftszentrierte Konzeption von Volkssouveränität, die sich selbst beim Wort nimmt und nicht zum personellen Herrschaftsregiment einiger weniger degenerieren will, in einem niemals vollends auflösbaren Spannungsverhältnis zum eigenen Anspruch, die ­volonté générale herrschaftlich durchzusetzen79. Vor diesem dialektisch entfalteten Hintergrund gewinnt die wirklichkeitswissenschaftliche Struktur von Volkssouveränität Kontur: Volkssouveränität möchte 71 Kritisch gegenüber dieser Alternativenbildung Hofmann, Repräsentation, Mehrheitsprin­ zip und Minderheitenschutz, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S.  161 (172 f.). 72 So mit Recht Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, 1954, S. 25 sowie Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie (Fn. 68), S. 318 f.; vgl. auch Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 203 (225 f.). Überblick zur Lehre von der inhaltlichen Repräsentation bei Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, 2001, S. 82 f. 73 Dazu grundlegend Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, 1973, S.  9  ff, insbesondere S.  13 (kritisch hierzu etwa Velten, Transparenz staatlichen Handelns und Demokratie, 1996, S.  125 f.). Auch Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie (Fn.  68), S.  320 sowie  – speziell für die grundgesetzliche Demokratie – Hofmann, Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 129 (145). Zum Ganzen auch schon Montesquieu (Fn. 27), 1979, S. 144 (Livre III / Chapitre III) : „Il ne faut pas beaucoup de probité, pour qu’un gouvernement monarchique ou un gouvernement despotique se maintiennent ou se soutiennent. (…) Mais dans un Etat populaire, il faut un ressort de plus, qui est la VERTU.“ 74 Vgl. Böckenförde (Fn. 53), Rdnr. 19. Auch Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, 2005, S. 473 (474 f.). 75 Dazu auch Dreier, Artikel ‚Amt, öffentlich-rechtlich‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 127 (131). 76 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 1964, S. 71 f. 77 Dazu Sartori (Fn. 19), S. 156 ff. 78 Fraenkel (Fn. 76), S. 75. 79 Dazu auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, § 74.

Kap. 5: Der Volksbegriff

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der Herrschaft eines Einzelnen oder weniger Privilegierter ein Ende bereiten80 und der volonté générale zum Durchbruch verhelfen81. Dabei wird es immer zu einer niemals ganz überbrückbaren Diskrepanz zwischen der empirisch, verfahrens­ mäßig ermittelbaren volonté de tous und der allgemeingültigen, universalisier­ baren volonté générale kommen82. Das Verdienst des herrschaftszentrierten Demokratieparadigmas ist es, aufzuzeigen, dass Demokratie in modernen Gemeinwesen herrschaftlich vermittelt werden muss, wenn sie nicht blanke Illusion bleiben soll83. Am herrschaftszentrierten Demokratieparadigma zeigt sich aber auch, dass das Prinzip der Volkssouveränität stets rückbezogen bleibt auf eine bestimmte Normativität, die immer nur bis zu einem bestimmten Grade in der Normalität eingelöst werden kann. Insofern gibt es dann aber auch keinen Grund, das ebenfalls immer nur ansatzweise umsetzbare demokratische Paradigma der Selbstgesetzgebung bei der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion von Volkssouveränität und Volksbegriff auszusparen. Die Demokratie als heutzutage vorwiegende Form der Herrschaftsorganisation ist das Ergebnis einer jahrhundertealten Ideenentwicklung84, die durch das demokratische Paradigma der Herrschaftsfreiheit durch Selbstgesetzgebung wesentlich und wirksam mitgeprägt worden ist85.

d) Konsequenzen für den Volksbegriff Für die wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion des demokratischen Volksbegriffs ergibt sich in Anbetracht des Herrschaftsproblems, dass ein Volk zweifelsohne herrschaftlicher Organisation bedarf, um zum Subjekt demokratischer Legitimation avancieren zu können86. Jedoch darf die herrschaftliche Dimension von Demokratie nicht absolut gesetzt und der demokratische Volksbegriff infolgedessen auch nicht allein unter dem Eindruck der herrschaftskonstitutiven Loya­ litätsbeziehungen zwischen staatlichem Herrschaftsverband und seinen Mitglie

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Bernstein (Fn. 37), S. 176: Demokratie als Abwesenheit von Klassenherrschaft. Rousseau (Fn. 46), S. 51 ff. (Livre II / Chapitre I und II). 82 Vgl. hierzu Rousseau (Fn. 46), S. 43 ff. (Livre II / Chapitre III). 83 Dazu auch Hofmann (Fn. 71), S. 173; Jahn, Demokratievorstellungen in der Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, 101 (107). 84 So Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 267 (309). 85 Heller, Sozialismus und Nation, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  2, 2. Aufl. 1992, S.  437 (495): „Die Idee der Freiheit aller in einer Gemeinschaft, die Idee der Herrschafts­ losigkeit ist als kritischer Maßstab, als kulturkritische Idee durchaus berechtigt …“ Vgl. auch Blanke, Antidemokratische Effekte der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie, in: KJ 1998, S. 452 (457), der die „Intuition einer hypothetischen, als regulative Idee oder ‚Prüfstein der Vernunft‘ fungierenden Identität von Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden, Adressaten und Autoren der Gesetzgebung“ als „Gemeingut nahezu aller Demokratietheorien“ ansieht. 86 Siehe Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 421 (423).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

dern konkretisiert werden87. Vielmehr ist die herrschaftszentrierte Verengung des demokratischen Volks auf die Staatsangehörigen im Lichte des gegenläufigen Paradigmas freiheitlicher Selbstgesetzgebung zu relativieren88. In dieser wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektive bezeichnet Volk im demokratischen Sinne einen Personenverband, der alle in relevanter Weise von einer real etablierten Herrschaftsorganisation betroffenen Individuen umfasst89 und sich im Übrigen dadurch auszeichnet, dass jedes seiner Glieder als tatsächlich selbst an der Herrschafts­ ausübung beteiligt angesehen werden kann90.

2. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver oder individueller Selbstbestimmung: Das Subjektsproblem Nicht zuletzt die Entwicklungen in Osteuropa, die durch die Implosion der Sowjetunion91 ausgelöst wurden, haben jenem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Demokratieparadigma Auftrieb verliehen, das Volkssouveränität von dem durch die Einheit von Staat, Volk und Nation geprägten Kollektiv her entwirft. Älter ist freilich dasjenige Demokratieparadigma, das Volkssouveränität als Ausfluss individueller Selbstbestimmung begreift. Ein wirklichkeitswissenschaftlich informierter Volksbegriff muss die berechtigten Annahmen und Folgerungen beider Paradigmen verarbeiten92.

87 Auch Bernstein (Fn.  37), S.  176 betont zutreffend, dass „fast alle, die heute das Wort Demo­kratie gebrauchen, darunter mehr als eine bloße Herrschaftsform verstehen“. 88 Vgl. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S.  385: „Versöhnung des Prinzips der Selbstbestimmung mit der Notwendigkeit von Herrschaft“; auch Morlok, Demokratie und Wahlen, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 559 (578). 89 Die Identität von Herrschaftsobjekten und Herrschaftssubjekten bezeichnet Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, in: Preuß / ders., Probleme einer Verfassung für Europa, 1995, S. 1 (15) als die ‚Kongruenzbedingung‘ demokratischer Legitimation. In diesem Sinn auch: Stein, Demokratisierung der Marktwirtschaft, 1995, S. 119 f.; Frank, Ausländerwahlrecht und Rechtsstellung der Kommune, in: KJ 1990, 290 (298) und 164; Zuleeg, Juristische Streitpunkte zum Kommunalwahlrecht für Ausländer, in: Sieveking u. a. (Hrsg.), Das Kommunalwahlrecht für Ausländer, 1989, S. 113 (116). Gegen diese Sichtweise entschieden Isensee (Fn. 6), S. 728 ff. Nuancierte Kritik am Betroffenheitskriterium übt Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2002, S. 660 f. 90 In diese Richtung auch Melchior (Fn. 6), S. 37; Maus, Sinn und Bedeutung von Volks­ souveränität in der modernen Gesellschaft, in: KJ 1991, S. 137 (150). 91 Dazu nur Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, S. 234 f. 92 Zu diesen beiden Paradigmen auch Llompart (Fn.  23), S.  152; Nettesheim, Demokratisierung der EU und Europäisierung der Demokratietheorie, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 143 (152 ff.).

Kap. 5: Der Volksbegriff

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a) Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung Wendet man sich zunächst wiederum der Etymologie zu, so scheint sich die Frage nach dem Subjekt der demokratiezentralen Volkssouveränität von selbst zu beantworten93. Subjekt ist demnach das Kollektiv Volk, der demos94. In diese Richtung weisen auch die jüngeren geschichtlichen Entwicklungen. Wie bereits angesprochen95, steht der sich seit der Zeitenwende von 1989 namentlich in Osteuropa durchsetzende Begriff der Demokratie96 schon genetisch in engem Zusammenhang mit zwei völkerrechtlichen Prinzipien, nämlich dem des Selbstbestimmungsrechts der Völker97 und dem souveräner Staatlichkeit. Deutlich wird dieser Konnex etwa in der im Rahmen des KSZE / OSZE-Prozesses abgegebenen ‚Helsinki Summit Declaration‘ vom Juli 1992, in der es heißt: „The aspirations of peoples freely to determine their internal and external political status have led to the spread of democracy and have recently found expression in the emergence of sovereign states“98. Es hat den Anschein, als ob sich nach Ende des Ost-West-Gegensatzes Demokratie nur mehr unter Berücksichtigung des realiter vorhandenen Anspruchs der Völker auf Selbstbestimmung und souveräne Staatlichkeit formulieren ließe99. Volkssouveränität und Demokratie stellen sich unter diesem Gesichtspunkt als Ausdruck primär kollektiver Selbstbestimmung dar. Diese spezifische Demokratiekonzeption, die mit ungeahnter Wucht Zeitgeschichte macht, wurzelt historisch im Nationalstaatsprinzip, das sich im 19. Jahrhundert Bahn gebrochen hat100. Es postuliert die Identität von souveränem Staat und kulturell homogener Nation101. Unter dem mächtigen Eindruck dieses Natio­ nalstaatsprinzips wurde das demokratiezentrale Prinzip der Volkssouveränität, historisch bedingt, mit den Vorstellungen nationaler Selbstbestimmung und souveräner Staatlichkeit amalgamiert102. In dieser Verbindung sind Demokratie und 93 Vgl. auch Franck, Fairness in the International Legal and Institutional System, in: RdC 1993-III, S. 9 (99). 94 Dieser Argumentationsgang wird auch bei v. Bogdandy, Demokratisch, demokratischer, am demokratischsten (Fn. 8), S. 369 beschrieben. Vertreter dieser Sichtweise sind etwa ­Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 507, Seiler (Fn. 34), S. 124 f., Murswiek, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 2001, S. 401 f. und Veil, Volksouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S. 94, aber auch Stückrath (Fn. 19), S. 280. 95 Siehe oben Kapitel 1 II. 1. = S. 100. 96 Dazu auch Dellavalle (Fn. 5), S. 237 ff.; ferner Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, 1994, S. 167 ff. 97 Zum völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrecht als Verbürgung kollektiver statt individueller Selbstbestimmung Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Staat 1984, S. 523 (530 f.). 98 Text der Helsinki Summit Declaration, in: ILM 1992, S. 1390. 99 Dazu auch Bracher, Europa zwischen Demokratie und Nationalstaat, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 243 f. 100 Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 47. 101 Vgl. Brühl-Moser (Fn. 96), S. 8. 102 Siehe auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 101 ff.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Volkssouveränität als Prinzipien kollektiver Selbstbestimmung im Rahmen der staatlichen und politischen Neuordnung Osteuropas erneut wirkmächtig geworden103. Damit könnte der Schluss nahe liegen, dass auch das Thema ‚Demokratie und Europäische Union‘ lediglich noch im trinitarischen Bezugsrahmen der Kollektive Volk, Nation und Staat gedacht werden kann104.

b) Volkssouveränität als Ausdruck individueller Selbstbestimmung Die geschilderten historischen Zusammenhänge vermögen allerdings nicht zu kaschieren, dass Volkssouveränität immer zugleich vom Individuum her konzipiert wurde und dieses Konzept sogar das ursprünglichere ist105. So ist bemerkenswert, dass eines der faszinierendsten Konzepte von Volkssouveränität zu einer Zeit entwickelt wurde, als man sich von souveräner Staatlichkeit oder gar vom Nationalitätsprinzip106 noch längst keinen Begriff gemacht hatte107. Schon weil die Kollektive Staat, Nation, Volk in der heute bekannten Form seinerzeit gar nicht existierten, entwarf Marsilius von Padua108 im ‚Defensor Pacis‘ eine ganz wesentlich an der individuellen Selbstbestimmung der Herrschaftsbetroffenen orientierte Idee von Volkssouveränität109. Dass seine gedanklichen Vorstellungen auch heute noch als wegweisend erscheinen, hängt dabei insbesondere damit zusammen, dass Marsilius sein politisches Organisationsmodell im Kern säkular begründet110. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Marsilius’ Denken im Be 103

Dazu auch Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 125 f. 104 Kritisch hierzu Weiler, The State „über alles“, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 2, 1995, S. 1651 (1654): „unholy trinity“. Auch Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats, 1990, S. 31: „zwanghafte Idee der Dreieinigkeit“. Nach Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 2003, S. 117 (136) geht dieser „Dreischritt von Volk, Nation und Staat (…) auf Carl Schmitt zurück.“ 105 Siehe auch Oeter, Föderalismus, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S.  59 (89); Thienel, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht im sich einigenden Europa, in: Hammer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Öhlinger, 2004, S.  234 (362); Steinberger, Das ­Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Hommelhoff / Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 11 (29 f.). 106 Zu diesem etwa Brühl-Moser (Fn. 96), S. 6 ff. 107 Dazu etwa Mittermaier / Mair (Fn. 34), S. 69 ff. 108 Zu seiner Biographie Sternberger, Die Stadt und das Reich in der Verfassungslehre des Marsilius von Padua, in: ders., Die Stadt als Urbild, 1985, S. 76 ff.; Löffelberger, Marsilius von Padua, 1992, S. 13 ff.; Runge, Marsilius von Padua, 1996, S. 19 ff. 109 Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, in: ders., Demokratie und Sozialismus, 1967, S. 40 (56) bezeichnet den ‚Defensor Pacis‘ als „dasjenige Werke, daß im Mittelalter den Gedanken der Volkssouveränität zuerst und doch am deutlichsten entwickelt …“ 110 Vgl. dazu auch Schliesky (Fn. 102), S. 64; ferner Struve, Die Rolle des Gesetzes im ‚Defensor Pacis‘ des Marsilius von Padua, in: Medioevo 1980, S.  355 (365); Runge (Fn.  108), S.  183 sowie Sternberger (Fn.  108), S.  82 ff. Der säkulare Ansatz kommt speziell auch in ­Marsilius’ hier besonders interessierender Gesetzeslehre zum Ausdruck, vgl. dazu Löffelberger (Fn. 108), S. 93 ff.

Kap. 5: Der Volksbegriff

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grifflich-Konstruktiven dem mittelalterlichen Denken noch stark verbunden ist, er beispielsweise seine Konzeption von Volkssouveränität in Analogie zur päpstlichen plenitudo potestas entwickelt und insofern noch ganz im Bann des für das Mittelalter prägenden Konflikts zwischen sacerdotium und imperium111 zu stehen scheint. In einem ersten Schritt sucht Marsilius die Volksgesetzgebung und mithin  – avant la lettre – auch die Volkssouveränität112 inhaltlich dahingehend zu begründen, dass er den Staat in aristotelischer Tradition113 als eine Gemeinschaft freier Männer definiert und daher jede andere Entscheidungsform als die Selbstgesetzgebung für Tyrannei beziehungsweise Knechtschaft erklärt114. Ferner macht Marsilius geltend, dass die Menschen zur staatlichen Gemeinschaft zusammengetreten seien, um Vorteile und ein befriedigendes Dasein zu erlangen und das Gegenteil abzuwenden115. In Hinblick auf diesen Entstehungskontext hält es Marsilius in Anknüpfung an die kanonische quod-omnes-tangit­-Formel116 für unabdingbar, dass Sachfragen, die den Vor- und Nachteil aller berühren, auch von allen mit entschieden werden117. Schließlich führt er aus, dass Volksgesetze Unrecht verhinderten, weil niemand sich wissentlich selbst schade118. Jeder dieser die individualistischpartizipatorische Betroffenendemokratie rechtfertigenden Begründungsansätze119 führt konstruktiv auf den Selbststand eines jeden einzelnen Individuums zurück und bekräftigt insofern das an die individuelle Selbstbestimmung anschließende Demokratieparadigma. Dass sich Volkssouveränität und demokratischer Volksbegriff vom individuellen Freiheitsanspruch ableiten und insofern als politische Form individueller Selbstbestimmung zu werten sind, haben dann späterhin, wie schon erwähnt120, vor allem die Sozialphilosophen der Aufklärung mit unterschiedlicher Akzentsetzung 111

Dazu auch Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 26, der hervorhebt, dass das im Spätmittelalter anhebende Denken über den modernen Staat durch den Konflikt zwischen sacerdotium und imperium angeschoben und wesentlich geprägt worden sei. 112 Wie hier Beierwaltes, Demokratie und Medien, 2. Aufl. 2002, S. 35. 113 Dazu Graf Kielmansegg (Fn. 111), S. 59 ff. 114 Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Rausch [Hrsg.]),1985, S. 56 (Teil I /  Kap. XII / § 6). 115 Marsilius von Padua (Fn. 114), S. 57 (Teil I / Kap. XII / § 7); dazu auch Koch, Zur DisKontinuität mittelalterlichen und politischen Denkens in der neuzeitlichen politischen Theorie, 2005, S. 60 f.; Runge (Fn. 108), S. 156 f.; Struve (Fn. 110), S. 356 f. 116 Vgl. Graf Kielmansegg (Fn. 111), 1977, S. 61. 117 Marsilius von Padua (Fn. 114), S. 57 (Teil I / Kap. XII / § 7); auch Struve (Fn. 110), S. 360 f. sowie Runge (Fn. 108), S. 150 f. 118 Marsilius von Padua (Fn.  114), S.  567 (Teil  I / Kap.  XII / § 8); dazu zum Beispiel Koch (Fn. 115), S. 188 sowie Syros, The Sovereignty of the Multitude, in: Moreno-Riaño (Hrsg.), The World of Marsilius of Padua, 2006, S. 227 (240). 119 Dafür v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 31; dagegen etwa Klein (Fn. 28), S. 80 oder Papier, Kommunalwahlrecht für Ausländer unter dem Grundgesetz, in: StWiss 1990, S. 202 (203 f.). 120 Siehe oben Kapitel 5 I. 1. b) = S. 189.

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hervorgehoben und im Einzelnen vertieft121. Ihre Konzeptionen wiederum haben während der beiden großen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts unmittelbare historische Wirkkraft erlangt122. Die individuellen Grundrechte wie „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ sind der zentrale Bezugspunkt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776123. Allein um ihres Schutzes willen werden Regierungen eingesetzt, die deswegen auch auf den „consent of the governed“ angewiesen sind und bei Verstößen hiergegen abgelöst werden können124. Auch der erste, epochemachende Verfassungstext der Französischen Revolution, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, statuiert in Art. 3 das Prinzip der Volks- beziehungsweise Nationalsouveränität125. Die Konzeption der Volkssouveränität als Menschen- und Bürgerrecht resultiert hier logisch-konsequent aus der in Art. 1 verbürgten Freiheit und Gleichheit der Menschen sowie aus der in Art. 2 niedergelegten Zweckbestimmung eines jeden Gemeinwesens, die natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zu erhalten126. In den konstitutionellen Grundtexten der beiden großen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts wurde das aufklärerische Konzept ‚menschenrechtlich-universeller‘ Volkssouveränität geschichtsmächtig. Obsolet geworden ist dieser auf der individuellen, freiheitlichen Selbstbestimmung aufbauende Ansatz auch heutzutage nicht127. Denn mit der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes hat nicht nur das nationalstaatliche Demokratieparadigma 121

Wie Kotzur, Die Demokratiedebatte in der deutschen Verfassungsrechtslehre, in: Bauer /  Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 351 (358) zutreffend betont, gehört es „zu den epochalen Leistungen des Vernunftrechts der Aufklärung, das Volk als Subjekt des Staates ausgemacht und diese Idee mit dem Freiheitsgedanken verbunden zu haben“. Vgl. des Weiteren Schliesky (Fn. 102), S. 210 ff.; Pernthaler (Fn. 100), S. 172; Emde (Fn. 88), S. 384 f. Zu Kant siehe Maus (Fn. 47), S. 217 ff. 122 Dazu nur Graf Kielmansegg (Fn. 40), S. 100 ff. 123 „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ 124 „That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness.“ 125 „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité qui n’en émane expressément.“ 126 Dies räumt auch Böckenförde (Fn. 28), S. 247 ein. Vgl. ferner Graf Kielmansegg (Fn. 40), S. 102 sowie Seiler (Fn. 34), S. 33. 127 Vgl. beispielsweise Spieß, Sozialer Dialog und Demokratieprinzip, 2005, S. 118; Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, in: JZ 1993, S.  1069 ff.; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 334; Bieber, Gefährdet eine Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft die Identität der Mitgliedstaaten, in: Weibel / Feller (Hrsg.), Schweizerische Identität und Europäische Integration, 1992, S. 79; Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechts­ begriff, in: AöR 1991, S. 329 (335).

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Auftrieb bekommen, sondern zugleich auch das menschenrechtliche128. Dieses aber widerstreitet der im europäischen Zusammenhang so folgenreichen Relativierung demokratischen Denkens auf die Dreieinheit von Volk, Nation und souveränem Staat. Schutzgut und Zurechnungssubjekt menschenrechtlichen Denkens sind nämlich zunächst und zuvörderst Individuen und eben nicht Kollektive.

c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen In Hinblick auf das Subjektsproblem führen somit zwei nach wie vor aktuelle historisch-politische Entwicklungsstränge zur Volkssouveränität129. Sie und in­folgedessen auch den Volksbegriff lediglich aus einem einzigen dieser Bedeutungszusammenhänge heraus zu rekonstruieren, wäre daher ideologisch. Um zu einem wirklichkeitswissenschaftlichen Konzept von Volkssouveränität und Volk zu gelangen, bedarf es vielmehr eines abermaligen Rückgriffs auf das ‚dialek­ tische Denkverfahren‘. Auch wer die Volkssouveränität letzten Endes auf die Selbstbestimmung der Menschen zurückführt130, kommt nicht umhin, die – relativ – eigenständige kollektive Dimension dieses demokratischen Legitimationsprinzips anzuerkennen131. In den modernen Demokratien nämlich kann ein völliger Gleichklang von individueller und kollektiver Selbstbestimmung schon deswegen nicht erreicht werden, weil diese Gemeinwesen auf die rationalisierende, komplexitätsreduzierende Kraft des Majoritätsprinzips angewiesen sind132. Für die der unterlegenen Minder 128

Insofern kann ebenfalls auf Dokumente der KSZE / OSZE-Prozesse verwiesen werden. Diese lassen sich nämlich nicht nur als Beleg dafür anführen, dass mit dem Ende der OstWest-Spaltung das nationalstaatliche Demokratieparadigma Auftrieb erhalten hat – dazu oben Kapitel 1 II. 1. a) = S. 100. Ihnen kann auch entnommen werden, dass Demokratie immer auch als subjektives Recht und individuelle Freiheitsposition zu begreifen ist. So heißt es im Dokument des Moskauer Treffens über die Menschliche Dimension der KSZE vom Oktober 1991 (in: EA 1991, S. D 579 [580]): „Die Teilnehmerstaaten betonen, daß Fragen der Menschenrechte, Grundfreiheiten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein internationales Anliegen sind, da die Achtung dieser Rechte und Freiheiten eine der Grundlagen der internationalen Ordnung darstellt.“ 129 Etwas tendenziös ordnet Neumann, Volkssouveränität als Entmündigung des Volkes?, in: Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 88 (97) das Demokratieparadigma der individuellen Selbstbestimmung dem ‚liberalen Staat‘ zu, wohingegen er das der kollektiven Selbstbestimmung mit dem ‚nationalen Staat‘ in Verbindung bringt. Zum Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Demokratieparadigmen auch Graf Kielmansegg (Fn. 40), S. 105 f. 130 Zum Beispiel Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, S. 91 f.; Zuleeg (Fn. 89), S. 116; Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (23); Dernedde, Autonomie der Europäischen Zentralbank, 2001, S.  291; Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 147 (160 f.). 131 In diese Richtung auch Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 445. 132 Dazu auch Hofmann (Fn. 71), S. 197 f. sowie Heusser, Stimm- und Wahlrecht für Aus­ länderinnen und Ausländer, 2001, S. 22 f.

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heit angehörenden Personen indes kann die Mehrheitsentscheidung eine schwerwiegende Beeinträchtigung individueller Selbstbestimmung darstellen133. Die­ jenigen Theorien, die Volkssouveränität von der individuellen Selbstbestimmung herleiten, müssen daher erklären, weshalb Mehrheitsentscheidungen auch dann als Ausdruck der Selbstbestimmung eines jeden Herrschaftsunterworfenen aufgefasst werden, wenn einzelne überstimmt wurden. Die in der Tradition des Aufklärungsnaturrechts stehenden individuumszentrierten Theorien rechtfertigen das Majoritätsprinzip nun nicht etwa mit der lapidaren, apodiktischen Begründung, es handle sich hierbei um ein letztlich apriorisches, unhintergehbares Verfahrensprinzip. Vielmehr sehen sie einen Verfahrenskonsens als Voraussetzung des Mehrheitsprinzips an134. Dieser Verfahrenskonsens hat eine räumliche und personelle Dimension, denn es muss klar sein, welche Personen auf welchem Gebiet Herrschaftsentscheidungen auch dann zu akzeptieren bereit sind, wenn sie bei der Beschlussfassung hierüber unterlegen sind. Mehrheitsentscheidungen lassen sich demnach auch den individualistischen Ansätzen zufolge nur begreifen, wenn sie als auf anerkannten Herrschaftskollektiven basierend und somit als (relativ) eigenständige Emanationen dieser kollektiven Entitäten verstanden werden135. Plastisch wird dieser Zusammenhang bei den Vertragstheoretikern des 17.  und 18.  Jahrhunderts. Ihrer Meinung nach können Mehrheitsentscheidungen nur dann legitim sein, wenn sich die Individuen zuvor durch einstimmigen Grundvertrag zu einem „politischen Körper“ vereinigt haben136. Dass diese in demokratietheoretischer Perspektive zentrale politische Körperschaft zunehmend mit der Realität des im Werden begriffenen Nationalstaatsvolks konfundiert wurde, lag und liegt durchaus nahe137. Es zeigt sich vor diesem Hintergrund, dass auch von den an der Idee individueller Selbstbestimmung ausgerichteten Konzepten von Volkssouveränität ein Weg zu den auf der Einheit von Volk, Nation und Staat aufbauenden Konzepten kollektiver Selbstbestimmung führt. Die – relativ – eigenständige kollektive, ja sogar nationalstaatliche Dimension demokratischer Selbstbestimmung anzuerkennen, muss indes gerade in kontrak­ tualistischer Perspektive nicht denknotwendig dazu führen, die demokratiezentrale Volkssouveränität vollends auf das geschichtlich gewordene Herrschaftskollektiv des nationalen Staatsvolksverbands zu relativieren. Besteht das die individu 133 Fleiner, Verfassungsgrundsätze für einen multikulturellen Staat, in: Hammer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Öhlinger, 2004, S. 243. 134 Bredt, Die demokratische Legitimation unabhängiger Institutionen, 2006, S. 174; Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 121; nicht zuletzt Habermas (Fn. 37), S. 11. 135 Kritisch dazu Scharpf, Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 81 (85 ff.). 136 Vgl. v. Komorowski / Bechtel, Gesetzgebungs- oder Justizstaat, in: Becker / Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2006, S. 282 (283 f.); auch Krugmann, Das Recht der Minderheiten, S. 119 f. 137 Dazu auch Thienel (Fn. 105), S. 362 ff.

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elle Selbstbestimmung mediatisierende Kollektiv nämlich auf der vertraglichen Einung freier Individuen und nicht auf einer ein für allemal substanziell vorge­ gebenen Einheit, so steht es diesen Individuen grundsätzlich frei, den Grundvertrag zu ändern und damit auch die Gestalt des durch sie konstituierten Kollektivs. Für die vertragstheoretischen Konzeptionen der Neuzeit steht die kollektive Selbstbestimmung durch reale Herrschaftsverbände im Dienste individueller Freiheit138. Die Formen kollektiver Selbstbestimmung können sich daher wandeln, wenn die Mitglieder des betreffenden Kollektivs konsensuell zur der Einsicht gelangen, dass Modifikationen geboten sind, um so individuellen Autonomieansprüchen besser gerecht zu werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der neue Verfahrenskonsens auch hinreichend belastbar sein muss. Es genügt nicht, dass er normativ vereinbart ist; er muss auch in der Normalität Bestand haben und mithin eine realiter hinreichend stabile Grundlage dafür bieten, dass sich die vielfach gegensätzlichen Partikularwillen tatsächlich zu einem Gemeinschaftswillen umformen139. In dieser Hinsicht erweist sich das an die individuelle Selbstbestimmung anknüpfende Demokratieparadigma als tendenziell ergänzungsbedürftig. Es reflektiert nämlich nur unzureichend, dass der auch aus seiner Sicht für den demokratischen Willensbildungsprozess unerlässliche Verfahrenskonsens kein bloß vertragstheoretisches Abstraktum ist, sondern Ausdruck eines realen Solidarzusammenhangs sein muss, wenn auf seiner Grundlage die individuelle Selbstbestimmung der Vielen wirk-lich in die Herrschaft des Volkes als Einheit umschlagen soll. Die besondere Bedeutung, die namentlich dem Wir-Gefühl für die Akzeptanz demokratischer Mehrheitsentscheidungen zukommt140, wird erst im Paradigma von der Volkssouveränität als kollektiver Selbstbestimmung vollends klar. Denn dort wird unmittelbar das Vorhandensein eines sich seiner selbst bewussten Kollektivs vorausgesetzt. Das an die kollektive Selbstbestimmung anknüpfende Demokratieverständnis wird freilich dort ideologisch, wo es die Normalität demokratischer Willensvereinheitlichung a priori nur unter den Bedingungen eines kulturell homogenen Nationalstaats als gewahrt ansehen will141. 138

Bei Rousseau (Fn.  46), S.  39 (Livre I / Chapitre VI) kommt dieser Kern der vertrags­ theoretischen Konstruktionen besonders pointiert zum Ausdruck: „Trouver une forme d’association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui même et reste aussi libre qu’auparavant.“ Dazu auch Gröschner, Die Republik, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 25. 139 Vgl. Heller (Fn. 21), S. 109. 140 Eindrücklich Heller (Fn. 86), S. 428. Speziell im Hinblick auf die europäische Demokratie vgl. Willems, Aktuelle Probleme der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, S. 21 (36 f.). Grundsätzlich anderer Auffassung Fisahn, Demokratie in Europa – ein Volk oder das Volk, in: Bovenschulte u. a. (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 2001, S. 131 (135 und 141 ff.). 141 Dazu Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, in: ZaöRV 1995, 659 (691 ff.).

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d) Konsequenzen für den Volksbegriff Wer Subjekt der Volkssouveränität ist, ob es sich bei ihr um einen Ausdruck individueller oder aber kollektiver Selbstbestimmung handelt, lässt sich nach allem nur dialektisch beantworten. Für den demokratischen Volksbegriff ergibt sich in dieser dialektisch vermittelnden Perspektive Folgendes. Mit Volk ist danach zwar herkömmlich der nationale Staatsvolksverband gemeint142. Doch allein schon wegen des seinen Angehörigen zukommenden (Re-)Organisationsrechts kommt als Volk auch ein sonstiges Kollektiv in Betracht, sofern sich dessen Machtentfaltung nicht bloß normativ, sondern auch in der Normalität auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen seiner nach Maßgabe ihres individuellen Selbstbestimmungsanspruchs als grundsätzlich Freie und Gleiche partizipationsbefugten Angehörigen zurückführen lässt143.

3. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale oder gesamtgesellschaftlich-materiale Ordnungsstruktur: Das Problem von Geltungserstreckung und Geltungsgehalt Die Gegensätze zwischen verbandsorientiertem und individuumszentriertem Demokratieverständnis werden zusätzlich dadurch akzentuiert, dass sie an die in Staatstheorie und Staatsrechtswissenschaft mit einiger Heftigkeit geführte Kontroverse um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft anschließen144. In Reinkul 142 Wie selbstverständlich etwa auch Stein, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3 II Rn. 10. 143 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass im Englischen mit dem Terminus people zugleich das Staatsvolk als Kollektiv als auch eine Mehrheit von Individuen bezeichnet wird (vgl. dazu Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 202). 144 Dazu etwa Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (Lakebrink [Hrsg.]), 1981, § 258 einerseits sowie Marx, Zur Judenfrage, in: ders., Die Frühschriften (Landshut [Hrsg.]), 1971, S.  171 (199) andererseits; ferner Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 209 ff. gegen Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Bergstraesser, 1954, S. 279 (287 ff.); einen Überblick bietet Kahl, Die rechtliche Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Jura 2002, S. 721 ff.; ferner Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 31, Dederer (Fn. 24), S. 112 ff., Jestaedt (Fn. 94), S. 180 ff., Leisner, Demokratie, 1998, S. 15 ff., Möllers, Der Staat als Argument, 2000, S. 228 ff., Seiler (Fn. 34), S. 150 ff., Isensee, Grundrechte und Demokratie, in: Staat 1981, S. 161 (165 f.) beziehungsweise Leibholz, Gesellschaftsordnung, Verbände, Staatsordnung, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 326 ff., Ehmke, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 300 ff., Stein (Fn. 142), Rn. 44 ff.

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tur überzeugt freilich weder das verbandsorientierte Demokratieparadigma, das an der strikten Trennung von Staat und Gesellschaft festhält und Volkssouveränität als rein staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur denkt145, noch das indivi­ duumszentrierte, das Staat und Gesellschaft amalgamiert und Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich-materiale Ordnungsstruktur erstehen lässt146.

a) Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur Die Begriffsgeschichte belegt, dass Demokratie primär eine Staatsform147, Volkssouveränität in erster Linie ein staatsgerichtetes Legitimationsprinzip benennt148. Es liegt insofern nahe, die demokratiezentrale Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur zu begreifen. Hierfür spricht ferner die herrschaftlich-hoheitliche Bedeutungsdimension von Volkssouveränität149, die ebenfalls suggeriert, Demokratie werde durch einen gegenüber der Gebietsgesellschaft verselbstständigten staatlichen Herrschaftsverband verwirklicht150. Für ein staatsorganisatorisch-formales Konzept von Volkssouveränität lässt sich des Weiteren der im vorstehenden Abschnitt gerade auch unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten angesprochene Aspekt von Demokratie anführen, wonach die demokratiezentrale Volkssouveränität die politische Selbstbestimmung eines nationalstaatlich verfassten, souveränen Kollektivs gewährleistet. Auch dass das potenziell über die Staatsorganisation in die Sphäre des Gesellschaftlichen hinüberwirkende völkerrechtliche Prinzip wirtschaftlicher Selbstbestimmung der Völker und Nationen151 anders als ihr politisches Selbstbestimmungsrecht bislang noch nicht einmal ansatzweise aus seinem antikolonialistischen Deutungszusammenhang herausgelöst wurde und infolgedessen allenfalls als eine Anspruchsgrundlage der kapital 145

Es trägt insbesondere dem Umstand unzureichend Rechnung, dass sich in der Demokratie die bürgerliche Gesellschaft schon aufgrund der Allgemeinheit der Wahl im buchstäblichen Sinne politisiert. Vgl. hierzu – zugespitzt – Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: ders., Die Frühschriften (Landshut [Hrsg.]), 1971, S. 20 (143): „In der unbeschränkten, sowohl aktiven als passiven Wahl hat die bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben. Aber die Vollendung dieser Abstraktion ist zugleich die Aufhebung der Abstraktion. Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Anderes, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staates die Forderung seiner Auflösung als ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“ 146 In diese Richtung auch Böttcher (Fn. 53), S. 321 ff. 147 So dezidiert auch Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: ders., Verfassungspatriotismus, 1990, S. 17 (26 f.). 148 Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 37 f. 149 Vgl. Rupp (Fn. 144), Rn. 26. 150 Vgl. Nettesheim (Fn. 92), S. 150. 151 Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 1993, Sonderheft 6, S. 11 (16 f.).

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importierenden Drittweltstaaten gegenüber den Erstweltstaaten, nicht aber als ein binnenwirksamer Demokratisierungsanspruch der gesellschaftlich-ökonomischer Macht Unterworfenen verstanden wird152, bestätigt gleichsam ex negativo das rein staatsorganisatorische Verständnis von Demokratie. Als staatsorganisatorische Ordnungsstruktur charakterisieren strikte Staatsbezogenheit, der statisch-formale Charakter153 sowie eine primär objektivrechtliche Geltungsweise154 die demokratiezentrale Volkssouveränität. Auf den ersten Blick lässt sich die Volkssouveränität insofern von der staatsfreien Gesellschaft, den in ihr dynamisch wirksamen materialen Ordnungsideen sowie den für sie geltenden menschenrechtlich und damit primär subjektivrechtlich155 geprägten Ordnungsstrukturen trennscharf dissoziieren156. Die Trennlinie, die den Staat von der Gesellschaft scheidet, scheint zugleich die Grenze zu markieren, jenseits derer eine Sphäre beginnt, in der Volkssouveränität keine Geltung beansprucht und von woher ihm auch keine Geltungsinhalte zuwachsen können157. Für die hier interessierende Thematik ‚Demokratie und Europäische Union‘ erweist sich ein solches rein staatsorganisatorisches, von der gesellschaftlichen Sphäre strikt isoliertes Demokratieparadigma als unter mehreren Gesichtspunkten folgenreich. So gerät zunächst die bereits angesprochene158 Verwiesenheit von Demokratie auf einen der Volksherrschaft adäquaten realen Normbereich, auf eine demokratiegeneigte gesellschaftliche Substanz aus dem Blickfeld159. Den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Normalität und dem normativ erhobenen Anspruch auf Volksherrschaft ignoriert ein rein staatsbezogener Demokratiebegriff aber auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt. Durch die derzeit massiv voranschreitende Globalisierung und Konzentration ökonomischer und damit sozialer Macht, die allenfalls noch auf europäischer Ebene kontrolliert und ge­ 152

Vgl. Heintze, Völker im Völkerrecht, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 30 Rn. 23 ff. 153 Zur hochgradigen Formalisierung als Kennzeichen der rechtsstaatlichen Verfassung Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 165 (175). 154 So anerkennt zwar auch dieses Demokratieparadigma den Freiheitsbezug demokratischer Teilhabe; jedoch existiert diese  – im Unterschied zur liberalen Freiheit  – „nicht aus sich selbst heraus, sondern nur deshalb und insoweit wie das positive Recht dem einzelnen solche Rechte zuerkennt“ (so Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2. Aufl. 2000, § 112 Rn 14). 155 Bei den Menschen- und Grundrechten steht schon ihrer semantischen Gestalt nach ihre subjektivrechtliche Dimension im Vordergrund (vgl. hierzu allgemein Pieroth / Schlink, Grundrechte, 23. Aufl. 2007, Rn. 57 ff.). 156 Isensee (Fn.  6), S.  729: „Gesellschaft und Staat sind inkongruent und inkompatibel.“ Siehe auch Rupp (Fn. 144), Rn. 29 ff. 157 So etwa Hennis, Demokratisierung, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, 1973, S. 27 ff.; in diese Richtung auch Nettesheim (Fn. 92), S. 150. 158 Dazu oben Einleitung II. = S. 72. 159 Dazu etwa auch Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie?, 1978, S. 13 f.

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bändigt werden kann, verringert sich der vom Nationalstaat demokratisch gestaltbare Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit zusehends160. Indes muss ein strikt auf die Staatsorganisation relativiertes Demokratieverständnis auch einen derartigen fortschreitenden Verlust an demokratischer Substanz, wie er durch den Wandel der gesellschaftlichen Normalität hervorgerufen wird, für juristisch irrelevant halten. Denn infolge der Staatsbezogenheit wird Demokratie nicht nur gegenüber der auf das staatliche Territorium radizierten Gesellschaft abgeschottet, sondern gegen die außerstaatliche soziale Welt insgesamt. Der statisch-formale Charakter eines rein staatsorganisatorisch dimensionierten Prinzips der Volkssouveränität führt dazu, dass sich eine europäische Demokratie insofern nur in den überkommenen Formen nationalstaatlicher Demokratie denken lässt, weil es an einem dynamisierenden Rückbezug auf materiale Ordnungsideen gerade fehlt. Eine europäische Demokratie kann in dieser Perspektive nur radikalföderalistisch als europäischer Bundesstaat oder als lockere Konfö­ deration nationalstaatlicher Demokratien Gestalt annehmen. Während jener aber zum gegenwärtigen Integrationszeitpunkt noch längst nicht erreicht ist161, hat die politische Wirklichkeit diese schon längst hinter sich gelassen162. Ein von der materialen Vorstellung demokratischer Ordnung her konzipiertes eigenständiges Demokratiemodell, das den besonderen Strukturen der supranationalen EU dynamisch Rechnung trägt, lässt sich aus Sicht des staatsorganisatorisch beschränkten Demokratieverständnisses wegen seines statisch-formalen Charakters schwerlich entwickeln. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass das staatsorganisatorische Demokratieparadigma die demokratiezentrale Volkssouveränität als primär objektivrechtlich dimensionierte Ordnungsstruktur begreift und damit in Gegensatz zu der ganz wesentlich durch die subjektiven Menschenrechte geprägten gesellschaftlichen Ordnungsstruktur bringt163. Unter diesem Blickwinkel müssen alle Versuche suspekt erscheinen, die verbandsorientierten Demokratiemodelle radikalföderalistischer oder aber konföderalistischer Provenienz mit menschenrechtlicher Argumentation in Richtung auf ein individuumszentrierteres Demokratieverständnis zu modifizieren. Einem menschenrechtlich durchwirkten Demokratieparadigma, das die demokratiezentrale Volkssouveränität aus dem Beziehungsgefüge von (Kultur-) Nation, (Staats-)Volk und (National-)Staat lösen würde, wird eine klare Absage erteilt.

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Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 105 ff. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 5 Rn. 3 ff.; Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Isensee, 2007, S. 875 (880). 162 Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 12 Rn. 23. 163 Vgl. dazu auch Kotzur (Fn. 121), S. 351 (382): „Dass grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee zwei Quellen der Legitimation des Staates seien und auseinandergehalten werden müssten, ist eine jener Thesen, die als ein Ausweis der hohen Differenzierungskunst, Grund­ lagenorientierung und Theorie der deutschen Staatsrechtslehre gelten.“ 161

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b) Volkssouveränität als gesellschaftlich materiale Ordnungsstruktur Das die verbandsorientierte Demokratiethese ausprägende staatsorganisatorischformale Demokratieparadigma sieht sich nun freilich erheblicher Kritik ausgesetzt. Diese wird naheliegenderweise von jenen zwei bereits angesprochenen Demokratieparadigmen genährt, die den individuumszentrierten Demokratieansatz konkretisieren und den Weg zum demokratischen Paradigma von der Volks­ souveränität als gesamtgesellschaftlich-materialer Ordnungsstruktur weisen. Sobald man Demokratie nämlich vom materialen Ideal der Herrschaftslosigkeit und von der menschenrechtlich motivierten Leitvorstellung individueller Selbstbestimmung her entfaltet, drängt es sich auf, nicht nur die staatliche, sondern konsequenterweise auch die gesellschaftliche Fremdherrschaft beziehungsweise Fremdbestimmung vor dem Hintergrund eines subjektivrechtlich dimensio­nierten164, emanzipatorisch-partizipatorischen Demokratieparadigmas zu hinterfragen165. Die Trennung von Staat und Gesellschaft liefert in diesem Demokratieparadigma keine Bestimmungskriterien für Geltungsumfang und -inhalt von Volkssouveränität166. Vielmehr erstarkt die demokratiezentrale Volkssouveränität in dieser Perspektive zu einer gesamtgesellschaftlichen Ordnungsstruktur167 mit weitreichenden Folgen für die hier interessierende Thematik: Die Errichtung einer europäischen Demokratie mutiert zum Handlungsgebot der Stunde, um die nationalstaatlich nicht zu bändigende Macht der wenigen gesellschaftlich Mächtigen demokratisch beherrschbar(er) zu machen. Die europaspezifische Demokratienorm lässt sich bei Zugrundelegung dieses Deutungsmusters aus der historisch überkommenen und gesellschaftlich wirksamen materialen Ordnungsidee entwickeln, wonach „alle politische und gesellschaftliche Macht nur gerechtfertigt werden kann durch den Willen der Machtunterworfenen“168. Das auf die gesellschaftliche Sphäre ausgreifende und von ihr her material determinierte Demokratiemodell anverwandelt sich in der Folge menschenrechtsinhärente Bedeutungsgehalte und sprengt als ‚uni­verselle Volkssouveränität‘ den engen Rahmen des nationalstaatlichen Demo­ kratiemodells169.

164 Zur Volkssouveränität als Menschenrecht auch Fetscher, Volkssouveränität und Menschenrechte, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 113 (114). 165 In diese Richtung etwa Abendroth, Staatsverfassung und Betriebsverfassung, in: Sultan /  ders., Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie, 1955, S. 103 (105). 166 Peters (Fn. 89), S. 652. 167 Vgl. dazu auch Marx (Fn. 145), S. 48: „In der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip“. 168 Heller (Fn. 84), S. 329. 169 Dagegen vehement Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?, in: ders.; Staat Nation Europa, 1999, S. 246 (252).

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c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen Sowohl das staatsorganisatorisch-formale als auch dasjenige Demokratiepara­ digma, das die Volkssouveränität zur gesamtgesellschaftlich-materialen Ordnungsstruktur erklärt, erweist sich in seiner Einseitigkeit als unzureichend und unzuträglich. Beide Demokratieparadigmen führen bei isolierter Betrachtung zum tendenziellen Selbstwiderspruch und müssen daher ebenfalls dialektisch vermittelt werden.

aa) Die Selbstwidersprüchlichkeit des staatsorganisatorisch-formalen Demokratieparadigmas Aus dem Blickwinkel des staatsorganisatorisch-formalen Demokratieparadigmas entpuppt sich die Volkssouveränität als das rechtlich verfestigte Organisationsmodell eines bestimmten staatlichen Herrschaftsverbands, in dem sich die wohlgemerkt rein staatliche Demokratie von oben nach unten170 hoheitlich Bahn bricht und an dessen Spitze souverän die insoweit privilegierten Angehörigen des Verbandsvolks thronen. Das durch seine ausschließliche Staatsbezogenheit, den statisch-formalen Charakter und durch die primär objektivrechtliche Geltungs­ dimension gekennzeichnete staatsorganisatorische Demokratieverständnis171 verkehrt sich damit in letzter Konsequenz in sein Gegenteil: Aufgrund der statischformalen Festlegung desjenigen gebietsgesellschaftlichen Personenkreises, der zur demokratischen Teilhabe befugt ist, sowie durch die statisch-formale Exemtion nichtstaatlicher gesellschaftlicher Machtentfaltung vom Geltungsanspruch der Volkssouveränität stabilisiert das rein staatsorganisatorische Demokratiepara­ digma die in der Gesellschaft herrschenden Machtverhältnisse172 und erweist sich mithin als ein der gesellschaftlichen Sphäre keineswegs neutral gegenüber stehendes Ordnungsprinzip173. Da das staatsorganisatorisch-formale Demokratieparadigma, wie erwähnt174, fernerhin dazu führt, dass sich Volkssouveränität nur in den Kategorien demokratischer Nationalstaatlichkeit denken lässt, bleibt angesichts dieser Verwiesenheit auf einen materialen Inbegriff von Demokratie vom formalen Charakter des staats­ organisatorischen Paradigmas nur wenig übrig. Stattdessen entpuppt sich Demokratie im  – nach allem nur vermeintlich  – staatsorganisatorisch-formalen Paradigma als eine gesamtgesellschaftlich-material wirksame Ordnungsstruktur. 170

Vgl. Jestaedt (Fn. 94), S. 143 und 189 f. Prototypisch Jestaedt (Fn. 94); siehe auch Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, 1976, S. 77. 172 Zu dieser Problematik auch Hesse (Fn. 64), S. 442. 173 Vgl. dazu Abendroth, Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokra­ tie, in: GMH 1952, S. 641 f.; auch Bäumlin ( Fn. 159), S. 42 f. Ferner Böttcher (Fn. 53), S. 323. 174 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. a) = S. 205. 171

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Deren wesentliche Funktion liegt darin, den Staats- wie den Besitzbürger gegen die demokratischen Teilhabeforderungen der staatsangehörigkeits- und besitz­losen Bevölkerungsgruppen abzusichern175. Dementsprechend rücken die staatsbürgerlichen und besitzbürgerlichen Rechte, mittels derer ihre Absicherungsfunktion permanent aktiviert werden kann, in den Mittelpunkt der angeblich staatsorganisatorisch-formalen, tatsächlich aber gesellschaftlich-materialen Ordnungsstruktur176. Damit zeichnet sie denn auch eine primär subjektivrechtliche und nicht die behauptete primär objektivrechtliche Geltungsweise aus.

bb) Die Selbstwidersprüchlichkeit des gesamtgesellschaftlich-materialen Demokratieparadigmas In tendenziellem Selbstwiderspruch endet freilich auch die Fiktion einer umfänglichen Demokratisierung sozialer Machtstrukturen und mithin also auch jenes demokratische Paradigma, wonach die demokratiezentrale Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich-materiale, menschenrechtlich konturierte Ordnungsstruktur zu entfalten ist. Denn die in jeder Hinsicht schlichte Erstreckung des demokratischen Gedankens auf sämtliche sozialen Machtstrukturen führt nicht zwangsläufig zur Aufhebung von Fremdherrschaft und zu einem qualitativen Mehr an individueller Selbstbestimmung. Stattdessen besteht die reale und dringende Gefahr weitreichender Fremdbeherrschung und Entmündigung177. Denn auch wenn die verschiedenen Träger sozialer Macht dergestalt demokratisiert sind, dass die unmittelbar von ihren Entscheidungen Betroffenen an der Machtausübung beteiligt werden, so bleiben die zahlreichen nur mittelbar, aber häufig nicht weniger folgenschwer von den Machtentscheidungen Betroffenen von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen178. Für sie kann die Fremdherrschaft und Fremdbestimmung, 175 Vgl. dazu auch Ryffel (Fn.  58), S.  96: „Doch sind Freiheitsrechte dergestalt formuliert worden, dass sie, auf das Ganze gesehen, vor allem denen zugute kamen, die vermöge ihres Eigen­tums und ihrer Macht über die Voraussetzungen für eine konkrete Daseinsgestaltung schon verfügten.“ 176 Hierzu weiterführend auch Marx (Fn. 144), S. 197: „Allein die Vollendung des Idealismus des Staats war zugleich die Vollendung des Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft. Die Abschüttlung des politischen Jochs war zugleich die Abschüttlung der Bande, welche den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefesselt hielten. Die politische Emanzipation war zugleich die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der Politik, von dem Schein selbst eines allgemeinen Inhalts.“ Zu dieser wegweisenden Abhandlung Marx’ vgl. etwa ­Fetscher (Fn. 164), S. 118 ff. Siehe auch Velten (Fn. 73), S. 111 f. 177 Vgl. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S.  40; aber auch Bäumlin (Fn.  159), S.  42 f. sowie Haney, Staatsgewalt, Demokratie und Gesellschaft, in: KJ 1990, 209 ff. 178 Dazu auch Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S.  275: „Weil eine glückliche Koinzidenz von Teil  und Ganzem nun nicht umstandslos vorausgesetzt werden kann, sondern stets mit berufsständischer Privilegierung, quasi-ständischen Gruppenprivilegien, der Zerfaserung des demokratischen Gesamtzusammenhanges und der Gefährdung gesamtgesellschaftlicher Integration gerechnet werden muß, kann sich nicht jede

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die von den vordergründig demokratisierten Trägern sozialer Macht ausgeht, gegebenenfalls sogar noch drückender sein als diejenige, die der die gesellschaftlichen Verhältnisse stabilisierende Staats- und Besitzbürgerstaat ausübt179. Schließlich erfasst die Fremdherrschaft und Fremdbestimmung durch die Träger nichtstaat­ licher sozialer Macht im Regelfall noch direkter und noch umfassender als die des Staats- und Besitzbürgerstaats die gesamte individuelle Lebens­situation180. Hinzu tritt, dass selbst diejenigen, die an der Herrschaftsausübung durch bestimmte soziale Machtträger beteiligt sind, fremdbeherrscht und fremdbestimmt sind, weil sich ihr Machtverband gegenüber den Machtansprüchen gesellschaftlich mächtigerer und durchsetzungsfähigerer Machtträger nicht behaupten kann. Da die gesellschaftlichen Machtträger den zu einer Partei unter anderen Parteien herabgesunkenen Staat von gleich zu gleich begegnen181, ist auch dieser nicht mehr in der Lage, das Machtgefälle zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen auszugleichen. Die undifferenzierte Demokratisierung der Gesellschaft182 und damit die unkritische Umsetzung des Paradigmas von der Demokratie als gesamtgesellschaftlichmaterialer Ordnungsstruktur führen demnach nicht zur Apotheose herrschaftsfreier Selbstbestimmung, sondern zu tendenziell totaler Fremdherrschaft und Entmündigung. Dies wiegt umso schwerer, als den Herrschaftsunterworfenen in diesem Demokratieparadigma nicht einmal mehr die Menschenrechte als Verteidigungsinstrumente gegen die auf sie einwirkenden Mächte bleiben183. Denn ebenso wie das vorgeblich staatsorganisatorisch-formale Demokratieparadigma, das einen primär objektivrechtlichen Geltungsmodus für sich beansprucht, letzten Endes in eine primär subjektivrechtlich geltende gesellschaftlich-materiale Ordnungsvorstellung einmündet184, hebt das an sich von menschenrechtlichem Pathos erfüllte gesamtgesellschaftlich-materiale Demokratieparadigma die Freiheitsrechte in letzter Konsequenz wieder auf185. Nach diesem demokratischen Paradigma nämlich sollen durch die umfängliche Demokratisierung die Herrschaftszusammenhänge aufgebinnenorganistorisch in demokratischer Weise organisierte Teilkörperschaft des politischen Gemeinwesens auf das Demokratieprinzip als legitimatorischen Grund stützen.“ Ferner Bernstein (Fn. 37), S. 175: „Die Gewerkschaft als Herrin eines ganzen Gewerbezweiges (…) wäre faktisch nur eine monopolistische Produktivgenossenschaft, und sobald sie ihr Monopol ausspielte, wäre sie ein Widerspruch gegen den Sozialismus und die Demokratie, mag ihre innere Verfassung sein wie sie wolle.“ 179 Dazu etwa Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 3 (9). 180 Vgl. insofern auch Jestaedt (Fn. 94), S. 183. 181 Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. 1992, S. 216 f. 182 Dass „Demokratisierung nicht als einfaches Allerweltsrezept“ verstanden werden darf, haben freilich ihre klügeren Verfechter stets betont – vgl. etwa Bäumlin, Artikel ‚Demokratie‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 458 (467). 183 Darauf weist etwa Leisner (Fn. 144), S. 15. 184 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. c) aa) = S. 209. 185 Dieses Paradox hebt auch Leisner (Fn. 144), S. 143 hervor.

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brochen werden, sodass sich Abwehrrechte gegen Fremdherrschaft erledigen186. Infolgedessen verflachen die Grund- und Menschenrechte in diesem Paradigma zu bloßen Mitwirkungsrechten187, wobei auch dieser Terminus letztlich falsch ist: Wegen der Identifizierung von Staat und Gesellschaft, Herrschenden und Beherrschten geht es bei der demokratischen Teilhabe nicht länger um die Wahrnehmung von Rechten gegenüber einem verselbstständigten Verpflichtungsadressaten, sondern um die Wahrnehmung von Befugnissen oder Kompetenzen innerhalb eines organischen Ganzen. Die primär subjektivrechtliche Geltungsweise, die das gesamtgesellschaftlich-materiale Demokratieparadigma vermeintlich kennzeichnet, verkehrt sich in ihr Gegenteil.

cc) Zur dialektischen Vermittlung von staatsorganisatorisch-formalem und gesamtgesellschaftlich-materialem Demokratieparadigma Für die Frage nach dem Geltungsumfang und dem Geltungsinhalt der demo­ kratiezentralen Volkssouveränität188 kann die Trennung von herrschaftlich organisiertem Staatswesen und staatsfreier Gesellschaft somit weder als schlechthin unüberbrückbar angesehen, noch als überhaupt nicht existent abgetan werden189. Das staatsorganisatorisch-formale Demokratieparadigma hat insofern seine Berechtigung, als Demokratie auf ein staatliches Gemeinwesen, nämlich auf ein Subjekt der höchsten Gebietsgewalt190, wesensmäßig angewiesen ist. Denn nur ein staatliches Gemeinwesen kann als oberste, souveräne Entscheidungseinheit sicher­stellen, dass auf seinem Herrschaftsgebiet demokratisch legitime Entscheidungen gegen alle sozialen Machteinheiten durchgesetzt werden191. Ein staat­liches Gemeinwesen wiederum bedarf aber wie jede Organisation zu seiner Verstetigung einer auf Dauer angelegten objektiv-rechtlichen Ordnung192. Insofern eignet 186 Vgl. zu dieser Gefahr auch Schneider, Die Verfassung der Grundrechte, in: Schröder / ders. (Hrsg.), Soziale Demokratie, 1991, S. 13 (14). 187 Dazu auch Böckenförde (Fn. 144), S. 226 f.; Jestaedt (Fn. 94), S. 506 f. 188 Zum Zusammenhang von Geltungsgehalt und Geltungsbereich des Demokratieprinzips siehe ferner Emde (Fn. 88), S. 34. 189 Ehmke (Fn. 144), S. 301 f.: „Verwickelt uns die Gegenüberstellung von ‚Staat‘ und ‚Gesell­ schaft‘ einerseits in unlösbare Widersprüche, so ist es andererseits für die politische Freiheit offensichtlich eine lebensgefährliche Sache, den Dualismus von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ einfach zur ‚liberalen Ideologie‘ zu erklären.“ Vertiefend dazu Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002, S. 219 ff. Auch Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 277 (288 f.); ders. (Fn. 181), S. 62 f.; Groß (Fn. 65), S. 95; Hesse (Fn. 64), S. 439 ff.; Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 14 ff. Zu diesem Ansatz überblicksartig Katz, Staatsrecht, 16. Aufl. 2005, Rn. 49. 190 Heller (Fn. 15), S. 310. 191 Heller, Staat, Nation und Sozialdemokratie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  1, 2. Aufl. 1992, S. 527 (532 f.). 192 Heller (Fn. 15), S. 344 f.

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der Volkssouveränität als staatsorganisatorischer Ordnungsstruktur denn auch notwendig ein formal-statischer Charakter. Die vor diesem Hintergrund unleugbare Bedeutung des staatsorganisatorischformalen Demokratieparadigmas darf freilich nicht absolut gesetzt werden. Fällt es einem staatlichen Gemeinwesen zusehends schwerer, als oberste Gebietsgewalt den demokratischen Willen der Herrschaftsunterworfenen gegenüber anderen sozialen Mächten durchzusetzen, so entfällt der tragende Grund für das staatsorganisatorisch-formale Demokratieparadigma und muss dieses entsprechend relativiert werden. Denn nur im Hinblick auf einen als hinreichend effektive Entscheidungseinheit qualifizierbaren Staat kann das staatsorganisatorisch-formale Demokratieparadigma überhaupt Sinn machen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass sich der für das staatsorganisatorischformale Demokratieparadigma maßgebliche Staat bei wirklichkeitswissenschaft­ licher Betrachtung nicht nur als souveräne Entscheidungseinheit darstellt. Er ist zu gleichen Teilen Wirkungseinheit193. Dass der Staat immer auch als vielheitlich bewirkte Wirkungseinheit Gestalt annimmt, lenkt den Blick darauf, dass das staat­liche Gemeinwesen auf ein funktionierendes System der Willensvereinheitlichungen fundamental angewiesen ist194. Ein demokratischer Staat muss dabei wegen der für ihn charakteristischen politisch-partizipativen Verfahren der Willensvereinheitlichung mit einem viel geringeren Maß von Zwang auskommen und ist infolgedessen sehr viel stärker auf die Zustimmung der Staatsglieder angewiesen als der autokratische Staat195. Die Zustimmung der Staatsglieder zum staatlichen Gemeinwesen hängt unter anderem davon ab, ob das demokratische Gemeinwesen mit den in der Gebietsgesellschaft sozial geltenden Legitimationsvorstellungen übereinstimmt. Diese dürften zwar heutzutage durchweg demokratischer Natur sein. Jedoch können sich in der Gesellschaft Demokratievorstellungen Bahn brechen, die sich am staatsorganistorisch-formalen Demokratieparadigma stoßen. Auch vor diesem Hintergrund wird man um der Selbsterhaltung des demokratischen Gemeinwesens willen von der Relativierbarkeit des staatsorganisatorischformalen Demokratieparadigmas ausgehen müssen. Wo sich die Relativität des staatsorganisatorisch-formalen Demokratieparadigmas offenbart, ist Raum für das material-gesamtgesellschaftliche Demokratie­ paradigma196. 193

Dreier (Fn. 178), S. 26 unter Berufung auf Heller. Heller (Fn. 15), S. 345 f. 195 Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 463 (467). 196 Dazu auch das Fazit von Preuß, Chancen und Grenzen einer Verfassung in Europa, in: ders. / Zürn, Probleme einer Verfassung für Europa, 1995, S. 41 (57) zur Demokratisierungsdebatte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts: „Immerhin (…) hat sich der Gedanke, daß Demokratie nicht nur ein Ordnungs- und Legitimationsprinzip für den Staat und seine Organisation ist, durchgesetzt. Wir anerkennen, daß Demokratie eine Lebensform ist, deren Werte und, in vielfältigen Modifikationen, auch deren Institutionen auch für die Gesellschaft gelten.“ 194

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Ohnehin erscheint die strikte Trennung zwischen den beiden Demokratie­ paradigmen bei wirklichkeitswissenschaftlicher Betrachtung als wenig überzeugend197. Denn der demokratische Staat ist als organisierte Wirkungs- und Entscheidungseinheit kein Selbstzweck, sondern hat die gesellschaftliche Funktion, einen gemeinsamen status vivendi für alle Interessengegensätze auf einem sie alle umgreifenden Erdgebiet zu schaffen198. Schon insofern bleibt unverständlich, weshalb die staatsorganisatorischen Strukturen in striktem Gegensatz zu den Strukturen gesellschaftlicher Selbstorganisation entwickelt werden sollten. Nach allem erweisen sich das staatsorganisatorisch-formale sowie das gesamtgesellschaftlich-materiale Demokratieparadigma nicht als konträr, sondern als komplementär199. Werden daher etwa betriebsdemokratische Strukturen oder aber auch Selbstverwaltungskörperschaften200 geschaffen, so können diese Organisationsformen ge­sellschaftlicher Machtentfaltung als Ausdruck von Volkssouveränität gewertet werden201. Voraussetzung ist freilich, dass die insoweit ausgeübte soziale Macht als demokratisch legitim erscheint. Dies ist unter drei Voraussetzungen der Fall. Erstens muss die betreffende Machtausübung auf vom Staatsvolksverband legitimierten (Re-)Organisationsbestimmungen beruhen. Dies ergibt sich aus der demokratisch unabdingbaren Stellung des staatlichen Gemeinwesens als oberster, souveräner Entscheidungseinheit. Zweitens müssen an der fraglichen Machtentfaltung alle hiervon in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen zu partizipieren befugt sein. Andernfalls kann sie nicht als Ausfluss freiheitlicher Selbstgesetzgebung und individueller Selbstbestimmung gewertet werden. Drittens muss der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Machtausübung mit deren Autonomieansprüchen vereinbar sein202. Denn ansonsten kann das, was für die partizipationsbefugten Glieder der Gebietsgesellschaft freiheitliche Selbstgesetzgebung und individuelle Selbstbestimmung gewährleistet, für die von der Partizipation Ausgeschlossenen Fremdherrschaft und Heteronomie bedeuten. 197 So auch Grewe, Demokratie ohne Volk oder Demokratie ohne Völker?, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 59 (62 f.). 198 Heller (Fn. 15), S. 310; dazu auch Ehmke (Fn. 144), S. 319. 199 In diesem Sinne Marti, Demokratie, 2006, 191 ff. 200 Dazu beispielsweise Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, 1986, S. 118 f. sowie Pieper, Aufsicht, 2006, S. 361. 201 Vgl. auch Kelsen (Fn. 38), S. 13: „Daß aber im einzelnen Wirtschaftsbetrieb die Arbeiter an der Leitung beteiligt werden, oder die Leitung selbst übernehmen, das bedeutet nichts anderes als die Demokratisierung der Wirtschaft. Ihre Durchführbarkeit oder Zweckmäßigkeit steht hier nicht in Frage. Hervorgehoben werden soll nur, daß der Sozialismus mit dieser Forderung nur ein demokratisches Organisationsprinzip zur Anwendung bringt.“ Ferner Groß (Fn. 65), S. 100. Anderer Ansicht Scholz, Verfassungswidriges Ausländerwahlrecht, in: Maurer (Hrsg.), Festschrift für Dürig, 1990, S. 367 (382), der hier nicht das Demokratie-, sondern das Rechtstaats- beziehungsweise Sozialstaatsprinzip am Werk sieht. 202 Dazu Hendler, Das Prinzip der Selbstverwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, 1999, § 106 Rn. 49; ferner Emde (Fn. 88), S. 397.

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Und ebenso wie sich der Geltungsbereich der Volkssouveränität auf die gesellschaftliche Sphäre zu erstrecken vermag, kann sich die staatsorganisatorische Demokratie Geltungsinhalte anverwandeln, die ihr aus den eigentlich für den gesellschaftlichen Raum maßgeblichen Ordnungsvorstellungen zuwachsen203. Die Freiheit von Fremdherrschaft und eine weitest mögliche individuelle Selbst­ bestimmung können daher als taugliche Konkretisierungsgesichtspunkte auch für das staatsorganisationsrechtliche Demokratiekonzept herangezogen werden.

d) Konsequenzen für den Volksbegriff Wenn sich das Problem der Geltungserstreckung und des Geltungsinhalts von Volkssouveränität demnach weder einseitig im Sinn des staatsorganisatorischformalen, noch allein in dem des gesamtgesellschaftlich-materialen Demokratieverständnisses, sondern wiederum nur dialektisch vermittelnd angemessen lösen lässt, so hat auch dies selbstverständlich Konsequenzen für den Volksbegriff. Volk im demokratischen Sinn erfasst in dieser Perspektive nicht nur den demo­ kratischen Staatsvolksverband, sondern nach Maßgabe von ihm legitimierter (Re-)Organisationsbestimmungen204 auch jeden andere soziale Macht ausübenden Personenverband, sofern an dessen Machtausübung alle hiervon in vergleich­barer Weise nachhaltig betroffenen Individuen partizipieren und sich der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Machtteilhabe als mit ihren respektiven Selbstbestimmungsansprüchen kompatibel205 erweist.

4. Die demokratiezentrale Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ oder inklusive ‚Bevölkerungssouveränität‘: Das Problem der externen Geltungsdimension Inwieweit Volkssouveränität gleichsam ex negativo dadurch geprägt wird, dass die von außen auf den demokratischen Prozess einwirkenden volksfremden Einflüsse abgewehrt werden müssen, beantwortet sich in der Perspektive des ver 203

Hierzu etwa Stein / Frank (Fn. 20), § 8 IV. Vgl. dazu etwa auch Fetscher, Wie ist demokratischer Sozialismus möglich? Warum ist demokratischer Sozialismus nötig?, in: ders., Für eine bessere Gesellschaft, 2007, S. 12 (18): „Das Parlament soll durch solche Partizipationsmöglichkeiten nicht ersetzt, sondern lediglich ergänzt werden, wobei ihm noch immer die Aufgabe verbliebe, den legalen Rahmen für diese Möglichkeiten zu schaffen und zwischen den unterschiedlichen Organen Einheit stiftend zu vermitteln.“ 205 Zur grundsätzliche Rechtfertigungsbedürftigkeit des Ausschlusses von Herrschaftsbetroffenen von der Herrschaftsteilhabe Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S.  27. Vgl. auch die Zuspitzung bei Roellecke, Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: Murswiek / Storost / Wolff (Hrsg.), Festschrift für Quaritsch, 2000, S. 15 (28): „Das wahre Problem der Mitbestimmung ist (…) nicht die Zahl der Beteiligten, sondern die Fairness der Ausschlussverfahren.“ 204

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bandsorientierten Ansatzes anders als aus Sicht des individuumszentrierten. Während das verbandsorientierte Paradigma der exklusiven ‚Nationalsouveränität‘ der externen Geltungsdimension einen zentralen Stellenwert einräumt, wird es von dem individuumszentrierten Paradigma der inklusiven ‚Bevölkerungssouveränität‘ einfach ausgeblendet206. a) Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ Das verbandsorientierte Konzept von Volkssouveränität begreift diese als staatlich-herrschaftliche Organisationsform eines sich selbst bestimmenden nationalen Kollektivs207. Diese Sichtweise suggeriert, dass Volkssouveränität notwendig eine externe Geltungsdimension besitzt. Denn eine herrschaftliche Selbstbestimmung des nationalstaatlich verfassten Kollektivs erweist sich überhaupt nur dann als denkbar, wenn dieser Verband nicht nur nach innen allgewaltig ist, sondern auch die von außen auf den Verband einwirkenden Beherrschungs- und Bestimmungskräfte wirksam ausschließt208. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, lässt sich bei der Konkretisierung der demokratiezentralen Volkssouveränität nur schwerlich von dessen externer Bedeutungsdimension abstrahieren209. Zugleich erweist es sich als nahe liegend, das in der externen Bedeutungs­ dimension gültige Exklusionsprinzip auf die interne Geltungsdimension zu übertragen. Denn steht eine verbandsexterne Fremdbeeinflussung in Widerspruch zur Volkssouveränität, so liegt in der Tat der Schluss nahe, dass auch intern alle die­ jenigen gebietsgesellschaftlichen Einflussnahmen zurückgewiesen, also exkludiert werden müssen, die sich nicht originär auf den trinitarisch durch Volk, Nation und Staat konstituierten Verband zurückführen lassen210. Das in dieser Perspektive umfassend gültige, allerdings reichlich abstrakte Exklusionsprinzip nimmt durch das Institut der Staatsangehörigkeit konkret Gestalt an211. Die Staatsangehörigkeit vermittelt sowohl die außengerichtete Wehrpflicht als auch das Recht verbands­ interner Partizipation und schafft damit die rechtstatsächlichen Voraussetzungen für eine Ausschließung von Fremdherrschaft im Außen- und Binnenverhältnis212. Dass sich Volkssouveränität demnach nur im Rahmen des geschlossenen Nationalstaats verwirklichen lässt, hat für die hier interessierende Frage nach der demo 206

Zu dieser Gegensatzbildung siehe auch Marko, Autonomie und Integration, 1995, S. 215 ff. Vgl. etwa Isensee, Antragsschrift vom 9. Juni 1989 zu den Anträgen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 32 BVerfGG, in: ders. / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 3 (12 ff.). Dagegen entschieden Melchior (Fn. 6), S. 48. 208 Grawert (Fn. 103), S. 129. 209 Kritisch Volkmann (Fn. 64), S. 585. 210 In diesem Sinne etwa Isensee (Fn. 6), S. 705; ders. (Fn. 30), S. 303 f. 211 Prononciert in diesem Sinne Isensee (Fn. 207), S. 12 ff. 212 Vgl. zum Ganzen auch Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1982, S. 50 ff., der Gefahren der Desintegration beschwört, die seines Erachtens mit einem auch bloß kommunalen Passivwahlrecht der Ausländer einhergehen sollen. 207

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kratischen Legitimation der EU weitreichende Konsequenzen. Denn erneut hat es den Anschein, als ob demokratische Strukturen innerhalb der europäischen Integrationsgemeinschaft nur dergestalt denkbar seien, dass entweder die demokratische Legitimation von den nationalen Staatsvölkern her vermittelt wird oder aber dass ein nationalstaatlich verfasstes Unionsvolk zum originären Quell demokratischer Legitimation avanciert. Jeder Versuch, hoheitliche Entscheidungen an einen anderen Personenkreis rückzubinden als an eine Gesamtheit von Staatsangehörigen, entpuppt sich im Paradigma der exklusiven Nationalsouveränität als demokratiewidriges Unternehmen, weil Strukturen der Fremdherrschaft etabliert zu werden drohen213. Transnational-überstaatliche Volkssouveränität erweist sich diesem Ansatz zufolge als contradictio in adiecto, die äußerstenfalls sogar den casus belli begründen kann, falls die Staatsangehörigen sich dazu entschließen, wehrhaft ihren demokratischen Status zu verteidigen.

b) Volkssouveränität als inklusive ‚Bevölkerungssouveränität‘ Ganz anders stellt sich das Problem der externen Geltungsdimension von Volkssouveränität dann dar, wenn man diese statt von ihrem verbandsorientierten vom individuumszentrierten Idealtypus her entwickelt. Wird Volkssouveränität als herrschaftsfreie, gesamtgesellschaftliche Selbstgesetzgebung autonomer Individuen begriffen, fehlt es an einem überindividuellen Subjekt demokratischer Selbst­ bestimmung, von dem aus soziale Machtakte als extern oder intern wirkend beschrieben werden können. Zumindest ist das Paradigma der inklusiven214 ‚Bevölkerungssouveränität‘ blind für ein solches überindividuelles Subjekt. Mit der damit einhergehenden Aufhebung von Innen und Außen wird auch das Exklu­ sionsprinzip hinfällig und verliert die Staatsangehörigkeit als dessen Transmis­ sionsmechanismus ihre zentrale Funktion215. Stattdessen erweist sich die demokratische Rückbindung sozialer Macht an die machtunterworfenen Individuen als entscheidend, sodass nach der individuumszentriert ausgedeuteten Volkssouveränität die personelle und territoriale Reichweite sozialer Machtakte den Adressantenkreis demokratischer Regelungen bestimmt216. Entscheidend ist nicht die Verbandszugehörigkeit, sondern der Status der Machtunterworfenheit217. Damit aber gilt statt des Exklusionsprinzips das In 213 Vgl. Isensee (Fn.  6), S.  705: „Ein Wahlrecht für Ausländer wäre demokratiewidrige Fremdbestimmung.“ 214 Dazu auch Brunkhorst, Heterarchie und Demokratie, in: ders. / Niesen (Hrsg.), Festschrift für Maus, 1999, S. 373 (377 f.). 215 Vgl. hierzu etwa Preuß (Fn. 196), S. 63. 216 Dazu auch Müller (Fn.  37), S.  51 und 71 f.; Marko, Autonomie und Integration, 1995, S. 219 f. 217 Müller (Fn. 32), S. 24 f.; Brunkhorst (Fn. 61), S. 621; Zuleeg, Stetigkeit und Wandel der Europäischen Union, in: Epiney / Haag / Heinemann (Hrsg.), Festschrift für Bieber, 2007, S. 77 (81).

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klusionsprinzip218. Infolgedessen stellt auch die Staatsangehörigkeit, die das Exklusionsprinzip praktisch ins Werk setzt, keinen notwendigen Anknüpfungspunkt für demokratische Teilhaberechte dar. Die in der Regel durch Geburtserwerb originär erlangte Staatsangehörigkeit219 fügt sich nicht in das von diesem Ansatz her suggerierte demokratische Bürgerrecht, das gerade „kein angebornes Vorrecht eines Gliedes des gemeinen Wesens“ ist220, sondern potenzielle Teilhabe an der Selbstgesetzgebung der societas civilis vermitteln soll221. Für die Frage der demokratischen Legitimation der EU bedeutet dies, dass sich deren Legitimationsstrukturen nicht am nationalstaatlich-holistischen Modell orientieren müssen. Demokratische Legitimation durch andere gebietsgesellschaftliche Entitäten als Staatsverbandsvölker erweist sich aus der Perspektive inklusiver ‚Bevölkerungssouveränität‘ als ohne Weiteres möglich, wenn nicht gar als geboten.

c) Dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen Nach allem steht eine ihre externe Geltungsdimension betonende und infolgedessen auf dem Exklusionsprinzip aufbauende Konzeption von Volkssouveränität in idealtypischem Gegensatz zu demjenigen Demokratieparadigma, das die Volkssouveränität von der Inklusion aller machtunterworfenen Angehörigen einer Gebietsbevölkerung her deutet. Der wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung hält keine dieser polaren und polarisierenden Konzeptionen stand.

aa) Die lediglich relative Berechtigung der gegenläufigen Demokratieparadigmen: Die historische Perspektive Es wäre zutiefst ahistorisch, die externe Dimension von Volkssouveränität und ihre Bedeutung für den Binnenbereich schlichtweg zu leugnen. Immerhin ist die Geschichte des demokratischen Nationalstaats unübersehbar geprägt von der Wechselwirkung zwischen demokratischem Bürgerrecht einerseits und der allgemeiner Wehrpflicht andererseits222: Carnets ‚levée en masse‘ vom 17. August 1793 218

Vgl. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, 2002, S. 11 (21): „Demokratie hat alle einzuschließen, ohne Ausnahme. Folglich verträgt sich Demokratie nicht mit Verhältnissen, seien sie kulturell oder ökonomisch, die es den Menschen unmöglich machen, sich als Gleiche zu betrachten.“ Siehe auch Müller (Fn. 216), S. 49. 219 Epping / Gloria, Der Staat im Völkerrecht, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 24 Rn. 8. 220 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel [Hrsg.]), Bd. 6, 1964, S. 125 (148). 221 Kant (Fn. 46), S. 170 ff. (Der Rechtslehre Zweiter Teil / Das öffentliche Recht / § 46). 222 Dazu auch Habermas, Der europäische Nationalstaat unter dem Druck der Globalisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg.), Der Sound des Sachzwangs, 2. Aufl. 2006, S. (158).

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figuriert in der historischen Nachbetrachtung als Ausdruck und Katalysator des sich Bahn brechenden demokratischen Nationalbewusstseins223. Die in Deutschland während des Ersten Weltkriegs einsetzende Demokratisierung hat Heller zu Recht mit „den Pflichten der Volksheere im Schützengraben“ in Zusammenhang gebracht224. Abgesehen von diesem historischen Konnex zwischen allgemeinem Wahlrecht und allgemeiner Wehrpflicht lassen sich in der Geschichte darüber hinaus unzählige Beispiele dafür finden, dass demokratische Verbürgungen wertlos sind, wenn sie nicht auch nach außen verteidigt werden. Die schmerzlichen Erfahrungen der Ungarn sowie der Tschechen und Slowaken in den Jahren 1956 und 1968 belegen beispielhaft, dass die vollmundig versprochene Volksdemokratie unerfüllt bleiben muss, wenn sie sich nicht nach außen zu behaupten weiß225. Es hat daher durchaus seine gewisse historische Berechtigung, wenn der demokratische Verband als politische Schicksals- und Gefahrengemeinschaft226 be­ schrieben wird, deren Glieder die gemeinsame und in gewisser Hinsicht auch egalisierende Gefährdetheit durch äußere Mächte als identitätsstiftend erfahren – mit der Folge, dass ihre so erworbene kollektive Identität nach außen, aber auch nach innen zu behaupten gewillt sind. Dieser Sichtweise zufolge kommen auf die Verbandsmitglieder, die dieser besonderen Gemeinschaft grundsätzlich lebenslang und damit unentrinnbar227 angehören228, spezielle Pflichten zu, an erster Stelle der außengerichtete, schicksalhaft-existenzielle Pflicht des Waffendienstes229. In dieser konzeptionellen Perspektive erscheint es nicht nur als konsequent, sondern aus Gleichheits- und Gerechtigkeitsgründen als nachgerade ethisch geboten, die demokratische Teilhabe am Herrschaftsverband als notwendiges Korrelat dieser besonderen Pflichtenstellung zu deuten und demzufolge den status polticus activus an die exklusive Verbandsmitgliedschaft zu koppeln230. Allerdings wäre es ebenfalls ahistorisch und mithin ideologisch, den in der Geschichte der Nationalstaaten offen zu Tage tretenden Zusammenhang zwischen 223 Vgl. etwa Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 776 (780). 224 Heller (Fn. 85), S. 517. 225 Quaritsch, Souveränität, 1986, S. 64 f. 226 Dazu auch Augustin (Fn.  32), S.  134 f.; vgl. ferner Rittstieg, Wahlrecht für Ausländer, 1981, S. 32 sowie Voigt, Zwischen Leviathan und Res Publica, in: ZfP 2007, S. 259 (269). 227 Zur ‚Unentrinnbarkeitskeitslehre‘ vgl. auch Gusy / Ziegler, Der Volksbegriff des Grundgesetzes, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 222 (229 ff.); Rittstieg, Staatsangehörigkeit und Minderheiten in der transnationalen Industriegesellschaft, in: NJW 1991, S.1383 (1386); Schmidt-Jortzig, Stellungnahme der Landes­ regierung Schleswig-Holstein, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 196 (208). 228 Siehe Isensee (Fn. 7), S. 58 ff. 229 In diesem Sinn Schink, Kommunalwahlrecht für Ausländer?, in: DVBl. 1988, S.  417 (422 f.). 230 In diesem Sinn Isensee (Fn.  7), S.  90 ff.; dagegen Zuleeg, Einwanderungsland Bundes­ republik Deutschland, in; JZ 1980, S. 425 (430).

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der externen Dimension von Volkssouveränität und ihrer Binnengeltung zu verabsolutieren und staatstheoretisch zu kanonisieren. Schließlich hat sich die demokratiezentrale Volkssouveränität historisch nicht nur unter dem Eindruck exklusiver Nationalsouveränität ausgebildet. Vielmehr hat sich auch das demokratische Paradigma von der inklusiven ‚Bevölkerungssouveränität‘ als durchaus geschichtsmächtig erwiesen. Belegen lässt sich dies zunächst wiederum an jener mittelalterlichen Konzeption von Volkssouveränität, die Marsilius von Padua im ‚Defensor Pacis‘ entwickelt hat. Marsilius bricht mit der überlieferten theologischen Herleitung von Herrschaftsgewalt und gelangt in seiner im Grunde posttraditional-rationalistischen Denkungsart231 zu einem Konzept von Volkssouveränität, das, wie bereits angesprochen232, wesentlich auf dem Konzept der Selbstgesetzgebung, der Betroffenen-Demokratie und damit auf dem Inklusionsprinzip aufbaut. Denn ungeachtet der gelehrten Kontroverse, ob Marsilius sein Verfassungsmodell nach dem (Vor-)Bild der oberitalienischen Kommunalverfassungen233 oder aber nach dem der sich seinerzeit gemeineuropäisch Bahn brechenden Reichsversammlungen234 geformt hat, steht jedenfalls fest, dass Marsilius in seinem Werk die Herrschaftsansprüche von gebietsgesellschaftlichen Kräften theoretisch untermauert, die zuvor von der Herrschaftsteilhabe ausgeschlossen waren: Seien es die Partizipationsansprüche bürgerlicher Schichten gegenüber dem Herrschaftsregime der feudalen Stadt­herren, die in der genossenschaftlichen Stadtrepublik ihre Erfüllung finden235; seien es die gegen königliche Machtvollkommenheit gerichteten Mitspracheansprüche der höheren Stände, die in unterschiedlicher verfassungsorganisatorischer Ausprägung im deutschen Reichstag, den französischen Generalständen oder im englischen Parlament verwirklicht werden236. Marsilius Lehren von der Volks­souveränität sind insofern ideengeschichtlicher Ausdruck ihrer historischen Epoche, nämlich des Spätmittelalters, in der sich der Ständestaat formiert237. Die Volkssouveränität tritt in diesem Kontext ersichtlich als eine historisch wirksame Ordnungsvorstellung in Erscheinung, die auf die Inklusion bisher von der Machtteilhabe ausgeschlossener Bevölkerungsteile abzielt238. 231 Dazu Graf Kielmansegg (Fn. 111), S. 61 f.; auch Syros (Fn. 118), S. 212 ff.; Mertens, Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, in: Fenske u. a., Geschichte der politischen Ideen, 1992, S. 143 (223). 232 Siehe oben Kapitel 5 I. 2. b) = S. 198. 233 In diese Richtung etwa Mittermaier / Mair (Fn. 34), S. 70; auch Mertens (Fn. 231), S. 223. 234 So Sternberger (Fn. 108), S. 94. 235 Dazu etwa Wesel, Geschichte des Rechts, 1997, Rn. 211. 236 Siehe Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004, Rn. 956 ff. 237 Hierzu Laufs / Eichener, Artikel ‚Stände, Ständewesen‘, in: Erler / Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 1901 ff.; ferner Seibt, Von der Konsolidierung unserer Kultur zur Entfaltung Europas, in: Schieder (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 2, 1987, S. 1 (168 ff.); zum Ständestaat auch Schilling, Aufbruch und Krise, 1994, S. 344 ff. 238 Dazu etwa Koch (Fn. 115), S. 75 ff.

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Diese These sieht sich bestätigt, wenn man sich noch einmal den zentralen Konflikt vor Augen führt, der das Mittelalter selbst zu dessen Ende hin noch prägt, den Konflikt zwischen sacerdotium und regnum239. Die weltliche Königsmacht kann sich gegenüber den päpstlichen Machtansprüchen nur durchsetzen, indem die ständische Mitsprache gesichert und ausgebaut wird  – teilweise freilich nur vorübergehend. Deutlich wird der gemeineuropäische Zusammenhang zwischen der Eindämmung kirchlicher Macht und der gleichzeitigen Stärkung der Stände gleichermaßen bei Ludwig dem Bayer240, Philipp dem Schönen241 und Edward I.242, unter deren Regimentern die kirchliche Herrschaft zurückgedrängt und zugleich die ständische Partizipation konsolidiert wird. Marsilius, der in dieser Auseinandersetzung auf der Seite der weltlichen Partei steht243, entwickelt im ‚Defensor Pacis‘ das Prinzip der Volkssouveränität dem realgeschichtlichen Hintergrund entsprechend konsequent vom Gedanken ständischer Inklusion her. Als ein nicht bloß auf ständische Machtteilhabe, sondern auf individuelle Partizipation ausgerichtetes Inklusionsprinzip tritt das Prinzip der Volkssouveränität dann im Gefolge des Aufklärungsnaturrechts in Erscheinung. Denn hier wird die Freiheit der je autonomen Individuen zum Konstituens der Volkssouveränität. Das Verständnis von Volkssouveränität als umfassendem Inklusionsprinzip wird dadurch noch verstärkt, dass die der Volkssouveränität in dieser Perspektive zugrundeliegenden Freiheits- und Autonomiepostulate menschenrechtlich begründet werden und damit grenzenlos-universale Wirksamkeit beanspruchen. In den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts hat auf der Grundlage der als Inklusionsprinzip begriffenen Volkssouveränität zunächst das Bürgertum seine Teilhabe an der Macht eingefordert244. Doch die „immanente Logik der politisch-sozialen Freiheits- und Gleichheitsforderung“245, die seit der Aufklärung der Idee der Volkssouveränität konstitutiv zugrunde lag, brachte es mit sich, dass sich auch die anderen Glieder der Gesellschaft im Verlauf der historischen Entwicklung politische Teilhaberechte erkämpften246, insbesondere der vierte Stand247 239

Dazu beispielsweise Hattenhauer (Fn. 236), Rn. 946. Vgl. hierzu auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  5, 2000, S. 151 f. sowie Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 35. 241 Ferro, Histoire de France, 2003, S. 681. 242 Kluxen, Geschichte Englands, 4. Aufl. 1991, S. 88 f. 243 Koch (Fn. 115), S. 19. 244 Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 281 (284 f.). 245 Heller (Fn. 15), S. 217. Vgl. dazu auch Balibar (Fn. 60), S. 205; Stein (Fn. 89), S. 22. 246 Fisahn, Demokratie: Aufhebung der Besonderung des Staates, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 71 (88). Dazu auch Bernstein (Fn. 37), S. 181: „Das allgemeine Wahlrecht konnte in Deutschland vorübergehend Bismarck als Werkzeug dienen, aber schließlich zwang es Bismarck, ihm als Werkzeug zu dienen.“ 247 Hierzu etwa Kirchheimer (Fn. 69), S. 15 f. Klassisch die folgende Passage aus Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1946, S. 53: „Die Bourgeoisie hatte die richtige Einsicht, daß alle Waffen, die sie gegen den Feudalismus geschmiedet, ihre Spitze gegen sie selbst kehrten, daß alle Bildungsmittel, die sie erzeugt, gegen ihre eigene Zivilisation rebellierten, 240

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und die Frauen248. Das Prinzip der Volkssouveränität hat damit ersichtlich auch als Inklusionsprinzip Geschichte gemacht249, indem es die Partizipationsansprüche von sozialen Schichten und sonstigen Bevölkerungsteilen ideologisch untermauert hat, die bislang von der politischen Mitsprache ausgeschlossen waren250. In dem nach allem durchaus auch in historischer Perspektive begründbaren Paradigma von der inklusiven ‚Bevölkerungssouveränität‘ lässt sich soziale Herrschaft nur mehr durch deren demokratische Rückbindung an die hiervon betroffenen Angehörigen der Gebietsbevölkerung begründen. Die demokratische Teilhabe kann und darf hiernach nur solange von der Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden, als diese mit dem Betroffenenstatus übereinstimmt. Entscheidend nämlich ist das justinianische  – vor der Aufklärung ständisch, nach der Aufklärung individuumszentriert gedeutete – quod omnes tangit ab omnibus approbetur251.

bb) Die lediglich relative Berechtigung der gegenläufigen Demokratieparadigmen: Die staatstheoretische Perspektive Die historische Koexistenz der beiden Demokratieparadigmen ist ein deutliches Indiz dafür, dass sich das hier so genannte Problem der externen Geltungsdimension nicht einseitig nach der einen oder anderen Richtung auflösen lässt. Aber auch in mehr theoretischer Hinsicht lassen sich durchgreifende Einwände gegen eine solche vereinseitigende Sichtweise formulieren252.

daß alle Götter, die sie geschaffen, von ihr abgefallen waren. Sie begriff, daß alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten …“ Zu diesem Werk von Marx auch Held (Fn. 38), S. 117 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang des Weiteren Haverkate (Fn. 127), S. 339; v. Arnim (Fn. 44), S. 66; Rittstieg, Kommunales Wahlrecht für Ausländer, in: KritV 1987, S. 315 (318 f.). 248 Wallrabenstein (Fn. 130), S. 144 f.; Schliesky (Fn. 102), S. 681; Willems (Fn. 140), S. 24 f.; Jahn (Fn. 83), S. 107 f. 249 In diese Richtung auch Morlok (Fn. 88), S. 574. 250 In diese Richtung auch Brunkhorst (Fn.  61), S.  613. Siehe hierzu ferner Kirchheimer (Fn. 69), S. 15 f.: „Die Feinde der Arbeiterschaft begriffen gar bald die eigentliche Dialektik im Wesen der Demokratie, die zu dem führt, was der Bürger am meisten fürchtet: zu dem Verschwinden auch der bloßen Möglichkeit eines politischen Ruhezustandes. Denn dieser kann erst wiederkehren, wenn der ureigenste Grundgedanke jeder Demokratie erfüllt ist, wenn jeder kleinste Teil nominellen Einflusses auch reale Macht geworden ist.“ 251 Graf Kielmansegg (Fn. 111), S. 66 f. 252 Zum notwendigen nebeneinander von Inklusion und Exklusion in der Demokratie vgl. Taylor (Fn. 131), S. 30.

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(1) Zur Volkssouveränität als exklusiver Nationalsouveränität Das auf dem Exklusionsprinzip aufbauende Verständnis von Volkssouveränität als Nationalsouveränität knüpft die demokratischen Teilhabebefugnisse an die Verbandsmitgliedschaft253 und rechtfertigt dies staatstheoretisch und -ethisch mit der besonderen Pflichtenstellung der Verbandsangehörigen beziehungsweise der schicksalhaft-unentrinnbaren Zugehörigkeit zum demokratischen Verband254. Da die Abgabenlasten nicht nur von den Verbandsangehörigen, sondern von allen Gliedern der Gebietsgesellschaft solidarisch mitgetragen werden255, bleibt als einzige Pflicht, die regelmäßig den Verbandsangehörigen vorbehalten ist, die außengerichtete Wehrpflicht256. Allerdings ist es mehr als zweifelhaft, ob diese Sonderpflicht der Staatsangehörigen es nachgerade ethisch gebietet, die der verbandlichen Macht unterworfenen, aber verbandsfremden Glieder der Gebietsgesellschaft von der demokratische Partizipation an der Machtausübung fernzuhalten257. Die Argumentation, dass nach innen stets nur diejenigen mitbestimmen dürfen, die auch nach außen verteidigen müssen258, ist heutzutage deshalb letztlich nicht mehr haltbar, weil sich zahlreiche demokratische Staaten mittlerweile von der allgemeinen Wehrpflicht verabschiedet haben259 und diese deshalb als Anknüpfungspunkt für demokratische Rechte allmählich obsolet wird. Hinzu tritt, dass die Gleichung zwischen Wehrpflicht und Wahlrecht in den meisten Ländern dieser Welt über die Hälfte der Bevölkerung, nämlich die Frauen, von einem originären Anspruch auf Mitbestimmung ausschließt260. In dieser Perspektive nämlich können Frauen ihren Anspruch auf demokratische Partizipation nur derivativ vom Vater oder Gatten ableiten. Diese patriarchalische Vorstellung indes erscheint als antiquiert und reichlich lebensfremd261. 253 Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat  – wechselseitige Bedingtheit, in: Stober (Hrsg.), Festschrift für Roellecke, 1997, S. 137 (141 ff.). 254 Isensee (Fn. 30), S. 301 f.; Jestaedt (Fn. 94), S. 222 f.; Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, 1995, S. 304. Sehr kritisch hierzu Rittstieg, Stellungnahme der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Isensee / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 394 (402 ff.). 255 Vgl. schon Heller (Fn. 244), S. 302; ferner Zuleeg, Grundrechte für Ausländer: Bewährungsprobe des Verfassungsrechts, in: DVBl. 1974, S. 341 (348). 256 Barley, Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG, 1999, S. 30.; Rittstieg (Fn. 247), S. 319. 257 Dazu auch Habermas ( Fn. 160), S. 152 f. 258 Zu dieser Argumentation auch Heusser (Fn. 132), S. 119 ff. 259 Dies gilt namentlich für die drei klassischen Demokratien Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten. 260 „Daß dies in der Literatur häufig übersehen wird, hängt damit zusammen, daß als ‚richtiger Staatsbürger‘ immer noch nur der erwachsene Mann angesehen wird.“ (Sacksofsky, Mehrfache Staatsangehörigkeit – ein Irregulare?, in: ders. u. a. [Hrsg.], Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 317 [334]). Vgl. fernerhin Zuleeg (Fn. 255), S. 348; ders. (Fn. 89), S. 121; Rittstieg (Fn. 227), S. 1386. Siehe allerdings auch Birkenheier (Fn. 171), S. 65. 261 In diese Richtung auch Uerpmann, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht im demokratischen Staat, in: StWiss 1995, S. 3 (5).

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Der das Exklusionsprinzip stützende Ansatz wird auch dann nicht überzeugender, wenn statt auf die Äquation von Wehrpflicht und Wahlrecht auf die schicksalhaft-unentrinnbare Zugehörigkeit zum demokratischen Verband abgestellt wird262. Zwar besteht diese unabhängig vom Fortbestand der allgemeinen Wehrpflicht und betrifft originär auch den weiblichen Teil des Verbandsvolks. Jedoch vermag auch dieser gedankliche Ansatz nicht zu überzeugen. Denn er nähert sich dem Problem der externen Geltungsdimension zu Unrecht vom Ausnahmezustand und eben nicht von der gesellschaftlichen Normalität her263. Nur in Ausnahme-, in Notstandssituationen nämlich werden es verbandsfremde Bevölkerungsteile in Erwägung ziehen, in ihren Heimatstaat zurückzukehren, während die Verbandsangehörigen sich dem (Verbands-)Schicksal ausgesetzt sehen264. Nur im Ausnahme­zustand trägt der Unterschied zwischen verbandsangehörigen und verbandsfremden Gliedern der Gebietsgesellschaft folglich etwas aus265. Nun sind die vom Ausnahmezustand her geprägten Denkmuster freilich nicht nur (wissenschafts-)geschichtlich diskreditiert266. Sie verfehlen gerade im vor­ liegenden Kontext auch die staatstheoretischen wie -praktischen Herausforderungen der Gegenwart267. In der heutigen Welt herrscht das Bestreben vor, innere und äußere Konflikte etwa durch die Kodifikation von Minderheitenrechten oder durch internationales Konfliktmanagement schon im Vorfeld zu lösen268. Nicht der ‚europäische Bürgerkrieg‘, sondern die friedliche Normalität ist der Ernstfall und infolgedessen normative Leitidee269. Hiervon ausgehend ist es nicht nur 262

Zur „Unentrinnbarkeit als Gewähr demokratischer Verantwortung“: Isensee (Fn.  6), S. 709 ff.; auch ders. (Fn. 253), S. 141. 263 Für die staats- und verfassungstheoretische Maßgeblichkeit des Normalzustands plädiert gegen Carl Schmitt, Politische Theologie, 2. Aufl. 1934, S. 11 auch Hermann Heller (Fn. 21), S. 127 (vgl. Blau, Hermann Heller, in: DuR 1976, S. 120 [135], Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Demokratie, 1968, S.  370 f. und Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat, 2. Aufl. 1983, S. 249 f.). Auf diesem Unterschied zwischen Schmitt und Heller beharrt im Übrigen auch Denninger, Vom Ende nationalstaat­ licher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S.1121 (1124). Zu der für das politische Denken Carl Schmitts kennzeichnenden Neigung zu Ausnahme-, Grenz- und Notstandssituationen siehe nur Rüthers, Carl Schmitt als politischer Denker des 20. Jahrhunderts, in: ZRPh 2002, 63 (65 f.). 264 Vgl. Neumann (Fn. 129), S. 94. 265 In diesem Sinne auch Sacksofsky (Fn. 260), S. 330 f. 266 Frühe, aber nicht minder zutreffende Kritik an diesem Denkmuster hat Heller, Autoritärer Liberalismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 643 (645 f.) geübt. 267 Vgl. dazu auch Barbato, Souveränität im neuen Europa, S. 121 sowie Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 364 (376). Für ein Denken vom Ausnahmezustand her allerdings zuletzt wieder Mäder, Vom Wesen der Souveränität, 2007, S. 163 und passim. 268 In diesem Sinne Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, in: Müller u. a. (Hrsg.), Festschrift für Eichenberger, 1982, S. 131 (140 mit Fn. 40 sowie 143). 269 Vgl. hierzu Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel [Hrsg.]), Bd. 6, 1964, S. 191 (251); siehe auch Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: VVDStRL 1978, S. 7 (16).

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nicht unethisch, sondern kann es sogar pflichtgemäß sein, Verbandsfremde an der Machtausübung zu beteiligen. Denn dadurch wird verhindert, dass die Verbandsangehörigen in blinder Loyalität die Interessen ihres Verbandes wahren. Durch die Beteiligung Fremder kann erreicht werden, dass auch die Interessen anderer Verbände Berücksichtigung finden270. Auf diese Weise können innere und äußere Konflikte verhindert werden271. Die Überlappung der Loyalitäten führt nicht notwendig zu Loyalitätskonflikten, sondern kann im Gegenteil Grundlage konstruktiver Konfliktbewältigung sein272.

(2) Zur Volkssouveränität als inklusiver Bevölkerungssouveränität Das demokratische Paradigma der exklusiven Nationalsouveränität erweist sich insofern nicht nur historisch als relativ, sondern ist auch in staatstheoretischer Hinsicht keinesfalls zwingend. Allerdings ist das Demokratieparadigma der inklusiven ‚Bevölkerungssouveränität‘, allein für sich betrachtet, ebenfalls nicht tragfähig. Besonders deutlich wird dies, wenn man die kontraktualistischen Theorien zu Rate zieht. Diese verfolgen zwar einen individuumszentrierten Ansatz. Doch, wie bereits ausgeführt273, sind sie keineswegs blind für die auch kollektive Dimension von Volkssouveränität: Da sie konstruktiv die Existenz eines Herrschaftskollektivs voraussetzen, kommen sie nicht umhin, zu präzisieren, wer zu dem freiheitssichernden und freiheitsaktualisierenden Kollektiv gehört und infolgedessen politische Autonomie genießen soll. Dies ist zumindest solange unumgänglich, wie es eine „civitas gentium“274 noch nicht gibt. Die kontraktualistischen Theorien sehen daher ebenfalls den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Form von Verbandszugehörigkeit und der individuellen Befugnis zu politischer Teilhabe, anerkennen in dieser Hinsicht mithin auch eine externe Geltungsdimension von Volkssouveränität und ein daraus ableitbares Exklusionsprinzip. Eine ganz andere Frage ist freilich, ob die kontraktualistischen Theorien ebenfalls entscheidend auf das Merkmal der Staatsangehörigkeit abstellen, um die für die politische Teilhabe maßgebliche Verbandszugehörigkeit zu definieren. Bei John Locke kann man bei vordergründiger Betrachtung diesen Eindruck gewinnen. Denn er geht von einer lebenslangen, exklusiven Zugehörigkeit zu einem einzigen Gemeinwesen aus275; und allein in diesem einen Gemeinwesen partizipieren 270

Sacksofsky (Fn. 260), S. 333. In diese Richtung weist auch Oberndörfers Plädoyer für die „Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaft“ (Die offene Republik, 1991, S. 87). 272 Grundsätzlich anderer Auffassung Isensee, Am Ende der Demokratie – oder am Anfang?, 1995, S. 55 ff. 273 Siehe oben Kapitel 5 I. 1. c) = S. 192. 274 Vgl. Kant (Fn. 269), S. 212. 275 Locke (Fn. 42), § 121. 271

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dessen Angehörige am political body, wohingegen sie in anderen Gemeinwesen grundsätzlich den Status von Fremden innehaben276. Insofern scheint nach Lockescher Lesart die grundsätzlich dauerhafte, regelmäßig exklusive Staatsangehörigkeit Voraussetzung demokratischer Partizipation zu sein. Dass dieser erste Anschein trügt, zeigt sich indes, wenn man untersucht, wie ­ ocke seine politische Autonomie vermittelnde Verbandszugehörigkeit theoreL tisch konstruiert. Locke geht davon aus, dass jeder Mensch von Natur aus frei sei und nichts als seine eigene Zustimmung ihn einer irdischen Macht zu unterwerfen vermöge277. Deshalb stehen bei Locke Kinder unter der Vormundschaft des Vaters und entscheiden erst nach Erreichen des Erwachsenenalters frei, durch ausdrückliche Zustimmung endgültig darüber, welchem Gemeinwesen sie angehören, an welchem body politic sie bürgerschaftlich partizipieren wollen278. Dies geschieht unabhängig von den nationalitätsbegründenden Kriterien der Abstammung oder der Territorialität279. Die Verbandszugehörigkeit, die Locke als die für die demokratische Teilhabe maßgebliche ansieht, deckt sich folglich nicht mit dem Institut der Staatsangehörigkeit. Denn deren Erwerb liegt typischerweise gerade keine freie Entscheidung zu Grunde. Insofern stellt sich die Frage, welcher – wenn nicht der der Staatsangehörigkeit – der tragende Gedanke in Lockes Konzept von Verbandszugehörigkeit ist. Hierzu ist zu erinnern, dass nach Lockes idealistischer Geschichtsphilosophie politische Verbände seit alters her auf dem Konsens ihrer von Natur aus freien Glieder beruhen280. Dieser Konsens ist zunächst ein stillschweigender, wird späterhin zum ausdrücklichen, setzt also, wie gesagt, die explizite Zustimmung zum Herrschaftsverband voraus. Sinn und Zweck dieses durch Konsens begründeten Verbands ist die Erhaltung menschenrechtlicher property281. Als „the great instrument and means“ dazu fungiert das volksbeschlossene Gesetz282. Die frei wählbare Verbandszugehörigkeit dient folglich bei Locke allein der freiheitlichen Wahrung und Aktualisierung der individuellen Menschenrechte durch Demokratie. Vor diesem Hintergrund erhellt nun nicht nur, dass die für die demokratische Teilhabe konstitutive Verbandszugehörigkeit nach dem Konzept von Locke mitnichten als Ausdruck einer durch Geburtserwerb erlangten Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft begriffen werden kann. Zugleich zeigt sich, dass  – ent­ gegen Lockes ursprünglicher Konzeption – die demokratische Partizipationsrechte 276

Locke (Fn. 42), § 122. Locke (Fn. 42), § 111. 278 Locke (Fn. 42), § 118. 279 Ebd. 280 Darauf weist zutreffend auch Bauböck, Citizenship and National Identities, in: Anta­ lovsky / Melchior / Puntscher Riekmann (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, 297 (300) hin. 281 Locke (Fn. 42), § 85: „… the chief end of whereof (of Civil Society [Anm. AvK]) is the preservation of Property.“ 282 Locke (Fn. 42), § 134. 277

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begründende Verbandszugehörigkeit heutzutage nicht mehr als eine dauerhafte und exklusive konstruiert werden kann, wenn man den eigentlichen Kerngehalt der Lockeschen Theorie bewahren will. Dauerhaftigkeit und Exklusivität der Verbandszugehörigkeit konnte Locke nämlich nur deshalb fordern, weil er zum einen vertragstheoretisch davon ausging, dass es den Individuen freisteht, „to go and incorporate himself into any other Commonwealth …“283, und er zum anderen zeitbedingt eine weitestgehend immobile Gesellschaft unterstellte. Denn allein unter den Bedingungen frei wählbarer Verbandszugehörigkeit und faktischer Sesshaftigkeit mag es angemessen erscheinen, einen späteren Verbandswechsel und mithin die demokratische Partizipation an einem anderen body politic als dem ursprünglich erwählten auszuschließen; schließlich hätten unter diesen Bedingungen wohl nur die ihrerseits nicht schutzwürdigen free-rider284 ein Interesse daran, um persönlicher Annehmlichkeiten willen den ursprünglich gewählten Verband zu wechseln und sich den Solidarzusammenhängen dieses Verbands zu entziehen. Die Realität unserer Tage indes sieht anders aus285. Heute werden die Individuen in einen bestimmten Verband hineingeboren, den sie vielfach aus ökonomischen und sonstigen Zwängen, in der Regel aber nicht aufgrund vorsätzlich unsolidarischen Verhaltens wieder verlassen286. Wegen der Zufälligkeit dieser ursprünglichen Verbandszugehörigkeit und wegen der hochgradigen Mobilität der Individuen287 tritt die Rückbindung demokratischer Teilhaberechte an eine dauerhafte und exklusive Verbandszugehörigkeit daher zunehmend in ein Spannungsverhältnis zum geschichtsphilosophischen Ideal und menschenrechtlichen Postulat John Lockes, die aus den dargelegten Gründen zugleich die Basis seines Konzepts von Verbandszugehörigkeit bilden: Exklusivität und Dauerhaftigkeit der Verbandszugehörigkeit gefährden in der heutigen Wirklichkeit, dass infolge seiner Verbandszugehörigkeit „every single person“, und zwar „equally with other the meanest Men“, immer nur denjenigen Gesetzen untertan ist, die er selbst, ein Teil der Legislative, erlassen hat288. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich nur dergestalt im Sinne Lockes auflösen, dass die für die demokratische Partizipation maßgebliche Verbandszugehörigkeit von der Staatsangehörigkeit abgelöst und entsprechend dem Inklu­ sionsprinzip tendenziell allen Angehörigen der Gebietsbevölkerung zuerkannt wird. Insofern führt der kontraktualistische Ansatz Lockes, wiewohl er der externen Geltungsdimension von Volkssouveränität durchaus gewahr ist, letztlich doch wieder ins Paradigma der ‚Bevölkerungssouveränität‘. 283

Locke (Fn. 42), § 121. Schubert, Eintrag ‚Free rider‘, in: Nohlen / Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 1, 3. Aufl. 2005, S. 261 f. 285 Siehe dazu auch Tomuschat (Fn. 269), S. 54 f.: Die Erosion des Nationalstaates als eines geschlossenen Personalverbandes. 286 Zu den Ursachen von Migration etwa Winkler, Artikel ‚Migration‘, in: Honecker u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 1076 (1077 f.). 287 Siehe dazu auch Masing, Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, 2001, S. 20. 288 Locke (Fn. 42), § 94. 284

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Zu einem analogen Ergebnis gelangt man, wenn man sich dem Problem der externen Geltungsdimension von Volkssouveränität aus der Perspektive des anderen großen neuzeitlichen Vertragstheoretikers nähert. Zwar liegt wegen seines spezifischen Verständnisses von (Volks-)Souveränität die Anscheinsvermutung für einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen exklusiv-dauerhafter Staatsangehörigkeit und demokratischem Bürgerstatus bei Jean-Jacques Rousseau sogar noch näher als bei Locke. Denn schließlich entäußert sich das Verbandsmitglied „avec tous ses droits à toute la communauté“, um der souveränen Staatsmacht teilhaftig zu werden289. Die Eingliederung des Einzelnen in das Gemeinwesen, an dem er demokratisch teilhaben soll, geht bei Rousseau mithin deutlich weiter als bei ­Locke. Jedoch beruht diese Eingliederung wie bei Locke auf einem  – auch bei Rousseau stillschweigend möglichen – Zustimmungsakt290. Schon dies widerstreitet einer allzu schneidigen Relativierung der Verbandszugehörigkeit im kontrak­ tualistischen Sinne auf die regelmäßig durch Geburtserwerb erlangte völkerbeziehungsweise staatsrechtliche Staatsangehörigkeit. Hinzu kommt, dass die Rückbindung demokratischer Teilhabe an die Verbandszugehörigkeit, die Rousseau aufgrund seines spezifischen Verständnisses von Volkssouveränität propagiert, unter den Bedingungen einer mobilen Weltgesellschaft in zunehmendem Maße gegen die ideellen Voraussetzungen dieser Souveränitätsdoktrin selbst verstößt und insofern auch aus sozusagen Rousseauistischer Sicht nicht länger aufrechterhalten werden kann. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Rousseaus Vorstellung von (Volks-)Souveränität, auf der auch der exklusive Charakter der Verbandszugehörigkeit gründet, ihrerseits auf gleichheitsrechtlichen Erwägungen fußt291. Rousseau wendet sich damit gegen die Privilegien des Ancien Régime und die dadurch provozierten Ungleichheiten292: Die vollständige Entäußerung in den (volks-)souveränen Staat dient nicht der Entrechtung, sondern der Retablierung der gleichen Freiheit aller293. Axiomatischer Ausgangspunkt der gesamten Souveränitätsdoktrin ist also die den Menschen von Natur her eignende Gleichheit294, die als conditio sine qua non menschenrechtlicher Freiheit begriffen wird295. Da nun heutzutage immer mehr Menschen mit fremder Staatsangehörigkeit längerfristig in einem anderen Staat leben, bedeutet ein striktes Junktim zwischen Staatsangehörigkeit und demokratischer Teilhabe, dass diesen Menschen nicht nur die Teilhabe an der souveränen Staatsgewalt, sondern auch die Möglichkeit vorenthalten wird, sich in den menschenrechtlichen Status der freien Gleichheit aller zu begeben. Dies aber steht in eindeutigem Widerspruch zu der ega­ 289

Rousseau (Fn. 46), S. 39 (Livre I / Chapitre VI). Rousseau (Fn. 46), S. 136 (Livre IV / Chapitre II). 291 Rousseau (Fn. 46), S. 51 f. (Livre II / Chapitre Premier). 292 Rousseau (Fn. 46), S. 46 f. (Livre I / Chapitre IX). Zum Zusammenhang von Staatssouveränität und Privilegienabbau Gottlieb, Nation against State, 1993, S. 38 sowie zu dem zwischen Staatssouveränität und Gleichheit Siedentop, Demokratie in Europa, 2000, S. 129 ff. 293 Rousseau (Fn. 46), S. 43 f. (Livre I / Chapitre VIII). 294 Rousseau (Fn. 46), S. 46 f. (Livre I / Chapitre IX). 295 Rousseau (Fn. 46), S. 76 f. (Livre II / Chapitre XI). 290

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litär-menschenrechtlichen Konzeption von (Volks-)Souveränität, wie Rousseau sie entwickelt hat. Folglich muss Rousseau zeitgemäß so gelesen werden, dass das aus gleichheits- und freiheitsrechtlicher Sicht nur noch willkürlich anmutende Staatsangehörigenprivileg nicht länger über die demokratische Teilhabeberechtigung entscheiden darf. Vielmehr sind die demokratischen Teilhabemöglichkeiten im Sinne des Inklusionsprinzips auf tendenziell alle Glieder der Gebietsbevölkerung zu erstrecken, da diese gleichermaßen zu menschenrechtlicher Gleichheit und Freiheit berufen sind. Damit ist im Ergebnis auch Rousseaus Konzept letzten Endes dem demokratischen Paradigma von der ‚Bevölkerungssouveränität‘ einschreibbar296. Aus kontraktualistischer Perspektive ergibt sich insofern, dass demokratische Teilhabe zwar auf einer spezifischen Beziehung zu einem Herrschaftsverband beruht. Denn da Volkssouveränität eine auch kollektive Dimension hat, muss klar sein, aus welchem Kreis von Individuen sich das demokratische Kollektiv zusammensetzt. Jedoch ist die spezifische Beziehung zum Herrschaftsverband, an die das demokratische Teilhaberecht geknüpft ist, bei vertragstheoretischer Betrachtungsweise nicht identisch mit der regelmäßig durch Geburtserwerb vermittelten Staatsangehörigkeit. Vielmehr ist für die demokratische Teilhabe eine Verbandszugehörigkeit eigener Art konstitutiv. Diese Verbandszugehörigkeit sui generis wird vertragstheoretisch als Folge eines freien Zustimmungsakts konzipiert297, der entweder verbaliter erfolgt, sich aber auch durch bloße Wohnsitznahme manifestieren kann298. Der Kreis derjenigen, die eine solche Verbandsangehörigkeit eigener Art erlangen können, bestimmt sich in der à jour gebrachten kontraktualistischen Perspektive – und insofern durchaus in Einklang mit dem Paradigma von der ‚Bevölkerungssouveränität‘ – nach dem Inklusionsprinzip.

cc) Das Verhältnis von Staatsangehörigkeit und demokratischer Teilhabe in dialektisch vermittelnder Perspektive Als Zwischenbilanz lässt sich nach allem festhalten, dass sowohl das Demokratieparadigma der exklusiven Nationalsouveränität als auch das der inklusiven Bevölkerungssouveränität bei der Konkretisierung der demokratiezentralen Volkssouveränität zu beachten ist. Allerdings kann es sich hierbei nur um eine relative Beachtlichkeit handeln. Denn die betreffenden Paradigmen haben die Volkssouveränität weder in historischer Hinsicht absolut geprägt, noch können sie in theoretischer absolut gesetzt werden. Vielmehr bedarf es einmal mehr einer wirklichkeitswissenschaftlichen Vermittlung zwischen den gegenläufigen Demokratieparadigmen. 296

So offensichtlich auch die Interpretation Rousseaus durch Habermas (Fn. 52), S. 166. Habermas (Fn. 37), S. 12. 298 Vgl. dazu auch Sacksofsky (Fn. 260), S. 329: „Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk in der Demokratie kann nur auf Freiwilligkeit beruhen.“ 297

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Teil III: Volkssouveränität und EU

In diesem Kontext ist zunächst festzuhalten, dass das Junktim zwischen Staatsangehörigkeit und demokratischer Teilhabe, wie es für das Demokratieparadigma der exklusiven Nationalsouveränität charakteristisch ist, auf das Engste mit der Geschichte des geschlossenen Nationalstaats verbunden und schon wegen dieser historischen Bedingtheit keineswegs mehr apriorische Gültigkeit für sich beanspruchen kann299. Vielmehr erweist dieses Junktim sich als rechtfertigungsbedürftig. Eine Rechtfertigungslast löst dabei insbesondere die dem Demokratiepara­ digma der inklusiven Bevölkerungssouveränität zugrundeliegende Erwägung aus, dass es den allen Menschen zukommenden Autonomiestatus der gleichen Freiheit verletzen kann, wenn Gebietsansässige mit fremder oder ohne Staatsangehörigkeit von der demokratischen Partizipation exkludiert werden300. So kann es etwa gegen das demokratiezentrale Prinzip der Volkssouveränität verstoßen, wenn eine bestimmte dauerhaft gebietsansässige Bevölkerungsgruppe systematisch vom demokratischen Prozess ausgeschlossen wird301. Zu Recht hat die Kommission daher gleich zu Anfang der Osterweiterung gegenüber Lettland deutlich gemacht, dass der durch ein restriktives Staatsangehörigkeitsrecht bewirkte Ausschluss der russischsprachigen Bevölkerung vom demokratischen Prozess den EU-Beitritt des baltischen Staats gefährden würde302. Dies kann und soll freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Engführung von Staatsangehörigkeit und demokratischer Teilhabe, mithin also die Ausprägung von Volkssouveränität als exklusiver Nationalsouveränität demokratietheoretisch ohne Weiteres vertretbar ist, sofern das Staatsangehörigkeitsrecht hinreichend offen ist, um zu gewährleisten, dass sich dauerhaft Gebietsansässige mittelfristig für die politische Integration entscheiden können303. Denn unter diesen Voraussetzungen wird niemand autonomiewidrig von demokratischer Teilhabe ausgeschlossen und bleibt das demokratische Paradigma exklusiver Nationalsouveränität insofern mit dem konkurrierenden Demokratieparadigma der inklusiven Bevölkerungs­ souveränität dialektisch vermittelt. Da nun das Staatsangehörigkeitsrecht der allermeisten Länder den genannten Voraussetzungen genügt, ist es in Hinblick auf die demokratiezentrale Volkssouveränität nicht schon prinzipiell zu beanstanden, wenn die politische Teilhabe auch heutzutage noch ganz überwiegend an den Besitz der Staatsangehörigkeit gekoppelt wird.

299

In diesem Sinn auch Touraine, Qu’est-ce que la démocratie, 1994, S. 116 f. Vgl. dazu Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 54 f. sowie Masing (Fn. 287), S. 24. 301 Dazu Bryde, Stellungnahme des Landtags von Schleswig-Holstein, in: Isensee / SchmidtJortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S.  238 (248), der betont, dass eine Demokratie „nicht auf Dauer eine Teilung in Staatsvolk und Untertanenverband akzeptieren kann, wenn sie ihre eigenen Werte ernst nimmt …“ Ferner Wegge (Fn. 44), S. 164. 302 Vgl. Agenda 2000 – Stellungnahme der Kommission zum Antrag Lettlands auf Beitritt zur Europäischen Union, Doc./97/12 vom 15.07.1997. Siehe in diesem Zusammenhang auch ­Lucas, Nationalism, Sovereignty and Supranational Organisations, 1999, S. 23. 303 Bryde (Fn. 301), S. 246 ff. 300

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Zu bedenken bleibt freilich im Weiteren, dass die Ausübung politischer Partizipationsrechte im Normalfall vom Besitz der Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden kann, keinesfalls aber muss304. Nach Maßgabe des Inklusionsprinzips darf der Kreis der demokratisch Teilhabeberechtigten nämlich auch anders, insbesondere weiter als der Kreis der Staatsangehörigen gezogen werden305. Demnach können Machtunterworfene ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit dann und insoweit an der staatlichen Machtausübung beteiligt werden, als sie durch diese so nachhaltig tangiert werden, dass zur Wahrung ihres Autonomiestatus eine demokratische Machtbeteiligung als gerechtfertigt erscheint. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht jede noch so kurzfristige, passagere Machtunterworfenheit den Status der gleichen Freiheit bereits derart nachhaltig berührt, dass eine demokratische Beteiligung geboten oder auch nur gerechtfertigt wäre306. Zu beachten ist ferner, dass es legitim sein kann, den Kreis der zu demokratischer Teilhabe Berechtigten je nach Typus von Machtakt unterschiedlich zu ziehen. So erscheint folgende Differenzierung durchaus vertretbar: Das Recht zur Partizipation an administrativen Entscheidungen wird von der Staatsangehörigkeit entkoppelt, weil Staatsangehörige von diesem Entscheidungstypus letztlich nicht anders betroffen werden als dauerhaft gebietsansässige Personen mit fremder oder ohne Nationalität; hingegen dürfen über auf lange Sicht zu treffende Grundsatzentscheidungen nur die Staatsangehörigen befinden, weil sie stärker hiervon betroffen werden als die übrigen Gebietsansässigen, die – solange sie nicht für die umfängliche Integration optiert haben – in prinzipiell geringerem Maße vom Staat abhängen als der durchschnittliche Staatsangehörige. Es mag mit anderen Worten angezeigt erscheinen, demokratische Rechte im kommunalen Bereich großzügig zu verleihen, die demokratische Teilhabe zumindest an verfassunggebenden Prozessen aber den Staatsangehörigen vorzubehalten307. Die dialektische Vermittlung zwischen dem demokratischen Paradigma der exklusiven Nationalsouveränität und dem der inklusiven Bevölkerungssouveränität mündet somit in die Erkenntnis, dass Volkssouveränität bis auf Weiteres auch eine externe Dimension aufweist, weil gesagt werden muss, wer von der Volksherrschaft ausgeschlossen bleibt; indes lässt sich der wirklichkeitswissenschaftlich entfalteten Struktur von Volkssouveränität kein ganz bestimmtes Kriterium entnehmen, das über In- oder Exklusion entscheidet308. Die Bandbreite der mit der 304

So auch Zuleeg (Fn. 255), S. 347. So konnten in den meisten Bundesstaaten der Vereinigten Staaten Ausländer im 19. Jahrhundert wählen (Thränhardt, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluß von der Wahlberechtigung, in: Davy [Hrsg.], Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 15 [17]; auch Thienel [Fn. 105], S. 369, Neumann [Fn. 129], S. 93, Bryde [Fn. 301], S. 254 f. sowie Niedermeyer-Krauß, Kommunalwahlrecht für Ausländer und Erleichterung der Einbürgerung, 1989, S. 10). 306 Zuleeg (Fn. 89), S. 120; des Weiteren Möllers (Fn. 300), S. 54. 307 Eine ähnlich differenzierende Sichtweise findet sich auch bei Thränhardt (Fn. 305), S. 23 f. 308 So lässt sich etwa auch rechtshistorisch und rechtsvergleichend unschwer belegen, dass die Staatsangehörigkeit kein notwendiges Kriterium des Wahlrechts ist (Rittstieg [Fn. 226], S. 50 ff.). 305

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Volkssouveränität grundsätzlich kompatiblen Anknüpfungspunkte für eine demokratische Teilhabeberechtigung ist überaus weit: Sie reicht von der Staatsangehörigkeit bis zur nicht bloß passageren Machtbetroffenheit309. Die Entscheidung darüber, ob eher exklusive Nationalsouveränität oder aber inklusive Bevölkerungssouveränität herrschen soll, wird folglich in nur sehr bedingtem Maße durch die wirklichkeitswissenschaftlich konkretisierte Struktur von Volkssouveränität vorgezeichnet.

d) Konsequenzen für den Volksbegriff Dass bei wirklichkeitswissenschaftlicher Betrachtung ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen einerseits den demokratischen Teilhabebefugnissen und andererseits der typischerweise durch Geburtserwerb erlangten, im Regelfall exklusiv-lebenslänglichen Staatsangehörigkeit nicht existiert, erweist sich für den Volksbegriff als dezisiv. Denn damit gibt nicht schon er vor, sondern bleibt es den Gesetz- respektive Verfassunggebern überlassen, ob demokratische Teilhaberechte nur den Staatsangehörigen zuerkannt werden oder ob diese traditionelle Anbindung im Sinne des Inklusionsprinzips gelockert wird. Im Hinblick auf das Problem der externen Geltungsdimension beantwortet sich die Frage nach dem demokratischen Volksbegriff mithin dahin, dass darunter nicht notwendig nur die Summe der Staatsangehörigen zu fassen ist, sondern nach Maßgabe demokratisch legitimer (Re-)Organisationsbestimmungen auch sonstige Personen, sofern ihre nicht bloß passagere Machtbetroffenheit eine Beteiligung an der Machtausübung unter Autonomiegesichtspunkten als gerechtfertigt erscheinen lässt.

II. Volkssouveränität und Volksbegriff in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Ergebnisse und ergänzende Überlegungen Idealtypisch lässt sich die für den demokratischen Volksbegriff maßgebliche Volkssouveränität entweder verbandsorientiert oder aber individuumszentriert fassen. Diese beiden antithetischen Grundkonzeptionen kehren in einer Reihe ihrerseits gegenläufiger Demokratieparadigmen wieder310. Zwar halten die antithetischen Grundkonzeptionen, wie die Auseinandersetzung mit den sie ausdifferenzierenden Demokratieparadigmen gezeigt hat, in ihrer jeweiligen Ein­ seitigkeit der wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung nicht stand. In dialektischer Vermittlung der gegensätzlichen Ansätze nimmt jedoch problembezogen

309

Zuleeg (Fn. 255), S. 347 f. Siehe oben Kapitel 5 I. = S. 185.

310

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ein konzeptionelles Verständnis von Volkssouveränität Gestalt an, das der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerecht wird. Und in Ableitung daraus gewinnt auch ein wirklichkeitswissenschaftlicher Begriff von Volk im demokratischen Sinn Kontur. Hierauf soll im Folgenden – zusammenfassend und ergänzend – nochmals ein­ gegangen werden.

1. Volkssouveränität in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion In resümierender Rückschau entpuppt sich Volkssouveränität, wirklichkeitswissenschaftlich betrachtet, als eine polyvalent-variable und damit (entwicklungs-) offene politische Struktur. In dieser Perspektive tritt auch der doppelte Doppelcharakter klar und deutlich in Erscheinung, der die Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich charakterisiert: Erstens kann Volksouveränität  – jedenfalls im Prinzip – sowohl als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur Gestalt annehmen; zweitens beschreibt Volkssouveränität eine Realstruktur wie auch ein wirklichkeitsmächtiges Struktur­ ziel.

a) Rekapitulation der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Volkssouveränität als polyvalent-variable und daher (entwicklungs-)offene Struktur Die in dialektischer Vermittlung gegenläufiger Demokratieparadigmen rekonstruierte wirklichkeitswissenschaftliche Struktur von Volkssouveränität weist eine deutliche Nähe zu den Vorstellungen Hermann Hellers auf. Dies kann allerdings schon deswegen nicht wirklich verwundern, weil bereits der hier zugrundegelegte methodische Ansatz derjenige Hellers ist. Das zentrale Ergebnis der an Hermann Heller gemahnenden Rekonstruktion lautet, dass der Volkssouveränität insofern eine polyvalent-variable und infolgedessen (entwicklungs-)offene Struktur eignet, als die dialektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen nicht auf eine ganz bestimmte Strukturgestalt von Volkssouveränität hinausläuft, sondern eine ganze Bandbreite von teils stärker verbandsorientierten, teils eher in­ dividuumszentrierten Demokratiemodellen als mit der wirklichkeitswissenschaftlichen Struktur von Volkssouveränität kompatibel erscheinen lässt. So ist in Hinblick auf das Herrschaftsproblem zum einen festzuhalten, dass sich Volkssouveränität nur innerhalb konkreter Verbände „als eine Hierarchie von herrschaftlichen Willensakten“311 entfaltet und damit eine reale Volksherrschaft begründet. Daneben bleibt das Prinzip der Volkssouveränität zum anderen jedoch ge 311

Heller (Fn. 195), S. 525.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

prägt vom Ideal freiheitlicher und gleichberechtigter Selbstgesetzgebung: „Nicht durch gewaltsames Diktieren von oben nach unten, sondern durch Parlieren, die Verhandlung, Verständigung, Diskussion zwischen allen Gruppen soll das politische System von Willensvereinheitlichungen von unten nach oben hergestellt werden“312. Das wirklichkeitswissenschaftliche Verständnis von Volkssouveränität muss diesen jeder Demokratie immanenten „Widerspruch (…) von Autonomie und zwingender Autorität“313 reflektieren und dialektisch verarbeiten314. Die Volkssouveränität stellt sich vor diesem Hintergrund als eine Organisationsstruktur dar, die der Verwirklichung des Autonomieideals dient, deren Bestand aber zugleich davon abhängt, dass sich das Autonomieideal tatsächlich herrschaftlich Bahn bricht. Da man unter Demokraten über den opportunen Weg zur Verwirk­ lichung des Autonomieideals durchaus verschiedener Meinung sein kann und die herrschaftliche Ausgestaltung von Volkssouveränität infolgedessen denkbar unterschiedliche Formen annehmen kann, präsentiert sich der demokratiezentrale Begriff der Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich als polyvalent-variabel und insofern (entwicklungs-)offen. Von der geschichtsmächtigen „individualistisch-atomistischen Weltanschauung des Naturrechts“ ist Volkssouveränität aus den Freiheits- und Autonomieansprüchen des Einzelnen abgeleitet worden315. Mit dem organisationstechnisch unverzichtbaren, in seiner Geltungsweise freilich durch und durch archaischen316 Mehrheitsprinzip317 lässt sich eine solche unvermittelt-ausschließliche Rückkoppellung von Volkssouveränität an die einzelnen Individuen indes schwerlich in Einklang bringen. Denn „Mehrheit hat Verpflichtungskraft nur innerhalb einer Ganzheit“318. Das Subjektproblem ist insofern dahin aufzulösen, dass Volkssouveränität eine kollektive Einheit voraussetzt, um deren Existenz willen sich die unterlegene Minderheit mit den auf Mehrheitsbeschlüsse rückführbaren Machtakten abfindet. Gegenwärtig erweist sich dabei nach wie vor die Idee des Nationalstaats „als weitaus stärkste politisch-vergesellschaftende Kraft“319. Angesichts der

312

Heller (Fn. 195), S. 468. Heller (Fn. 84), S. 377. 314 Auch Leber, Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie, in: ders., Schriften, Reden, Briefe, 1976, 179 (214): „Aber wir können nicht von der Meinung abgehen, daß Freiheit und Gerechtigkeit, Autorität und Ordnung sich gegenseitig geradezu bedingen.“ 315 Heller (Fn. 244), S. 284 f. 316 Hierzu pointiert auch Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, in: ders., Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays, S. 7 (8): „Der praktische Grund, warum die Mehrheit regieren und für längere Zeit an der Regierung bleiben darf, wenn das Volk die Macht hat, ist (…) nicht, dass die Mehrheit das Recht auf ihrer Seite hat, auch nicht, dass es der Minderheit gegenüber fair ist, sondern ganz einfach, dass sie physisch am stärksten ist.“ 317 Dazu auch v. Komorowski / Bechtel (Fn. 136), S. 283 f. 318 Heller (Fn.  195), S.  469. In diesem Sinne auch Jäger, Artikel ‚Mehrheit, Mehrheits­ prinzip‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 1082. 319 Heller (Fn. 84), S. 372. 313

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„überaus engen gesellschaftlichen Verflechtung der europäischen Staaten“ stellt sich indes die Frage, „ob diese bis jetzt wirkende Gemeinschaft, in deren Namen sowohl das Majo­ritätsprinzip wie die staatliche Herrschaft überhaupt gerecht­ fertigt wird, auch in Zukunft diese staatsbauende Kraft besitzen wird“320 oder „ob nicht vielmehr die Nationalidee ergänzt werden muss durch ein umfassenderes Substrat Europa …“321. Auch darf nicht in Vergessenheit geraten, dass das für die gesellschaftliche Wirklichkeit von Volkssouveränität nach wie vor so bedeutsame nationalstaatliche Kollektiv immer auch in ideellem Zusammenhang zu den Freiheits- und Selbstbestimmungsansprüchen von Individuen steht. So steht der Natio­ nalgedanke nicht isoliert für sich, sondern – zumindest auch – in einer liberal-demokratischen Freiheitstradition322. Subjekt der Volkssouveränität ist insofern eine kollektive Einheit in der Vielheit, die nicht ein für allemal festgeschrieben ist, sondern sich unter dem Eindruck geschichtlicher Prozesse und / oder sozialethischer Neubewertungen wandeln kann. Auch insofern erweist sich der Begriff der Volkssouveränität als polyvalent-variabel und (entwicklungs-)offen. Politisch und staatstheoretisch überwunden wurde im nicht zu Unrecht als sozial­demokratisch apostrophierten 20.  Jahrhundert323 „die liberale Nachtwächteridee des Staates“, dessen Zweck bürgerliche Schichten allein in der Sicherung von Freiheit und Eigentum sahen324. Infolgedessen darf entgegen der in Deutschland so traditionsreichen Doktrin des klassisch-liberalen Rechtsstaats das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft heutzutage nicht mehr konkretisch verstanden werden325. Zu bedenken ist vielmehr, dass das gesellschaftliche Ordnungsprinzip der Freiheit dem Staat nicht nur vor-, sondern immer auch aufgegeben ist. Denn „in der gesellschaftlichen Wirklichkeit muss die menschliche Freiheit immer organisiert werden“326. Um die Freiheitsverbürgungen zu aktualisieren, muss der Staat gestaltend in die Gesellschaft übergreifen. Demokratische Entscheidungen realisieren dann die gesellschaftliche Ordnungsstruktur der Freiheit. Um reale Freiheit zu gewährleisten, kann sich der Staat aber auch gehalten sehen, gesellschaftliche Machtstrukturen namentlich im wirtschaftlichen Bereich zu demokratisieren. In diesem Fall wird die Volkssouveränität auch ganz unmittelbar zu einer die Gesellschaftsverfassung prägende Ordnungsstruktur327. Wegen ihrer Freiheitsfunktionalität und ihrer Erstreckbarkeit auch auf den gesellschaftlichen Bereich darf die Volkssouveränität nicht von einem strikten Dualismus zwischen 320

Heller (Fn. 84), S. 373. Heller (Fn. 84), S. 374. 322 Vgl. Heller (Fn.  84), S.  350 ff.; insofern auch Murswiek, Demokratie und Freiheit im multi­ethnischen Staat, in: Blumenwitz / Gornig / derS. (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, S. 41 (50 f.): „Die Nationalstaatsbewegungen des 19. Jahrhunderts waren zugleich Freiheitsbewegungen.“ 323 Dahrendorf, Die Chance der Krise, Stuttgart 1983, S. 17. 324 Heller (Fn. 244), 291. 325 Habermas (Fn. 181), S. 215. 326 Heller (Fn. 15), S. 389. 327 Vgl. Heller (Fn. 15), S. 310 ff. 321

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Staat und Gesellschaft her konkretisiert werden. Wie Staat und Gesellschaft sich reziprok beeinflussen, durchdringen sich auch ihre Ordnungsprinzipien wechselseitig. In Anbetracht des Problems von Geltungserstreckung und Geltungsgehalt erweist sich Volkssouveränität folglich ebenfalls als polyvalent-variabel und mithin als (entwicklungs-)offen. Unleugbar ist schließlich, dass die Idee der Nationalsouveränität, verstanden als „politische Freiheit einer Kulturgemeinschaft nach außen“328, eine ungeheure historische Wirkmacht entfalten konnte. Verfassungsgeschichtlich hat sich die nationale Idee in der Gleichsetzung von Volk, Nation und demokratischem Staat, von Volkszugehörigkeit, Nationalität und demokratischem Teilhabestatus niedergeschlagen329; mithin ist die Volkssouveränität verfassungshistorisch als Exklu­ sionsprinzip ausgeprägt worden. Der Blick in die Geschichte lehrt freilich auch, dass sich die zu politischem (Selbst-)Bewusstsein erwachten Klassen und Bevölkerungsteile immer wieder auf die Volkssouveränität berufen haben, um verbands­ intern Herrschaftsteilhabe einzuklagen oder zu legitimieren330. Seit der Aufklärung ist dieser aus dem Prinzip der Volkssouveränität abgeleitete Inklusionsanspruch sogar zum menschenrechtlichen Postulat fortentwickelt worden. Exklusive National- und inklusive Bevölkerungssouveränität stehen infolgedessen nicht in idealtypisch-diametralem Gegensatz, sondern in einem reziprok-ergänzenden Verhältnis zueinander. Auch in dieser Perspektive präsentiert sich Volkssouveränität als polyvalent-variabler, (entwicklungs-)offener331 Begriff.

b) Der Doppelcharakter von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur und sozialorganisatorische Freiheitsstruktur Aus wirklichkeitswissenschaftlicher Sicht dürfen die Demokratieparadigmen, durch die Volkssouveränität konturiert wird, nicht absolut gesetzt, sondern müssen dialektisch aufeinander rückbezogen werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Volkssouveränität nur im juste milieu zwischen den divergierenden Demokratieparadigmen Gestalt annehmen könnte. Vielmehr eignet der Volkssouveränität aus den dargelegten Gründen eine polyvalent-variable und damit (entwicklungs-) offene Struktur. Dies bedeutet, dass die Volkssouveränität grundsätzlich auch allein nach dem Vorbild der verbandsorientierten oder aber der individuumszentrierten Demokratieparadigmen gestaltbar ist. Die vereinseitigende Konkretisierung von Volkssouveränität nach der verbandsorientierten oder aber nach der individuumszentrierten Seite darf nur nicht den weiten demokratietheoretischen Rahmen 328

Heller (Fn. 244), S. 290. Vgl. hierzu Heller (Fn. 15), S. 264. 330 Heller (Fn. 15), S. 267. 331 Dazu auch das Bonmot im allerersten Satz  des Beitrags von Gusy / Ziegler (Fn.  227), S. 222 : „Der Begriff ‚Volk‘ besitzt nur ein Kontinuitätsmerkmal: das des Wandels.“ 329

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verlassen, der sich in dialektischer Vermittlung der gegenläufigen Demokratie­ paradigmen erschließt. Vor diesem Hintergrund kommt der Volkssouveränität insofern Doppelcharakter zu, als sie aus wirklichkeitswissenschaftlicher Sicht grundsätzlich sowohl als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur Gestalt annehmen kann. Denn just diese beiden Gestaltstrukturen brechen sich Bahn, wenn man Volkssouveränität konsequent im Sinne der verbandsorientierten beziehungsweise der individuumszentrierten Demokratie­ paradigmen konkretisiert. Dass Volkssouveränität, wirklichkeitswissenschaftlich betrachtet, sowohl den Charakter einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur wie auch den einer sozialorganisatorischen Freiheitsstruktur annehmen kann, gilt freilich nicht ausnahmslos. Denn auch die Realisierung von Volks­ souveränität als nationaldemokratischer Herrschaftsstruktur beziehungsweise sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur muss sich konsequenterweise in jenen demokratietheoretischen Grenzen halten, die sich in dialektischer Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen erschließen. Mithin entspricht eine nationaldemokratische Herrschaftsstruktur insbesondere dann nicht mehr dem wirklichkeitswissenschaftlichen Verständnis von Volks­ souveränität, wenn die gewählten Repräsentanten ihr mit Herrschaftsbefugnissen verbundenes Amt nur mehr als Pfründe zu begreifen in der Lage sind, aufgrund der Fokussierung auf die kulturell homogene Nation das Reorganisationsrecht des demos nicht mehr hinreichend Berücksichtigung findet, das politische System einseitig das Sekuritätsbedürfnis der besitzenden Klassen bedient oder das Staatsangehörigkeitsrecht systematisch zur autonomiewidrigen Exklusion einzelner Bevölkerungsteile instrumentalisiert wird. Eine sozialorganisatorische Freiheitsstruktur wiederum löst die in wirklichkeitswissenschaftlicher Hinsicht für die Volkssouveränität wesensprägenden Merkmale vor allem dann nicht ein, wenn sie demokratische Entscheidungen nicht herrschaftlich zu stabilisieren vermag, die voraussetzungsvolle Verankerung des demokratischen Verfahrenskonsenses in der Normalität funktionierender Solidarzusammenhänge ignoriert, die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft in ein neofeudales Nebeneinander mächtigerer und weniger mächtiger Personenverbände mit demokratischer Binnenorganisation einmünden lässt oder jede noch so passagere Machtbetroffenheit als hinreichenden Grund für die Einräumung demokratischer Partizipationsrechte ansieht. Diese beispielhaften Veranschaulichungen belegen nicht nur, welche Grenzen der Konkretisierung von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur beziehungsweise als sozialorgansatorischer Freiheitsstruktur gesetzt sein können; zugleich wird erkennbar, dass diese tatsächlich nur ausnahmsweise relevant werden dürften. Grundsätzlich bleibt es daher beim wirklichkeitswissenschaftlichen Doppelcharakter von Volkssouveränität, die sowohl als natio­ naldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur Gestalt annehmen kann.

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c) Der Doppelcharakter von Volkssouveränität als Realstruktur und Strukturziel Ein Doppelcharakter kommt der wirklichkeitswissenschaftlich rekonstruierten Volkssouveränität freilich noch in anderer Hinsicht zu. So beschreibt Volks­ souveränität zum einen eine Realstruktur332. Volkssouveränität bezeichnet mithin eine in der politischen Wirklichkeit tatsächlich vorkommende soziale Struktur333. Realstruktur kann die Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur und sozialorganisatorische Freiheitsstruktur, aber selbstverständlich auch als hierzwischen angesiedelte Mischstruktur annehmen334. Letzteres wird sogar der Regelfall sein. Eine tatsächlich vorfindliche sozial Struktur entspricht namentlich dann der Realstruktur von Volkssouveränität, wenn sich die von ihr etablierten Machtverhältnisse in den Rahmen einordnen lassen, der durch die dia­lektische Vermittlung der gegenläufigen Demokratieparadigmen gesetzt wurde. Neben einer Realstruktur entbindet die wirklichkeitswissenschaftlich konkretisierte Volkssouveränität zum anderen aber auch ein Strukturziel335. Der Charakter von Volkssouveränität als Strukturziel ist dabei in Zusammenhang mit seiner polyvalent-variablen und daher (entwicklungs-)offenen Struktur zu sehen. Hieraus ergibt sich, dass Volkssouveränität in der politischen Wirklichkeit in ganz unterschiedlicher Weise Strukturgestalt anzunehmen vermag und infolgedessen ein Sozialbereich morgen in völlig anderer Weise demokratisch verfasst sein kann als heute. In Hinblick darauf drängt sich die Frage auf, ob die Dynamik, die der Volkssouveränität insofern eignet336, eine zielgerichtete ist337. Dass diese Frage zu bejahen ist, lässt sich einmal mehr in Anschauung der gegenläufigen Demokratieparadigmen begründen. In diesen sieht sich Volkssouveränität nämlich immer auch mit Leitvorstellungen verknüpft, die in der Realität nur 332 Zur wirklichkeitswissenschaftlich geprägten Staatslehre als ‚Strukturwissenschaft‘ vgl. Heller (Fn. 15), S. 142 ff. 333 Zum Begriff der Struktur Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl. 2007, S. 867 f. 334 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Möllers, Artikel ‚Nationalstaat‘, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 1601 (1602), der die wohl immer noch vorherrschende Sichtweise, wonach das Nationalstaatsmodell das weltweit dominante Moder­ nisierungs- und Entwicklungsmodell politischer Ordnungen darstellt, als unrealistisch (dis-) qualifiziert. 335 Dieser Charakter der Volkssouveränität ist eine Folge der ‚Futurisierung‘ des Demokratiebegriffs, der im 19. Jahrhundert seinen Anfang nimmt und die Demokratie zu einem eschato­ logischen Projekt macht (dazu überzeugend Buchstein / Jörke, Das Unbehagen an der Demokratietheorie, in: Leviathan 2003, S. 470 [473]). 336 Vgl. Bäumlin (Fn. 182), Sp. 458 (466): „Demokratie bleibt also auf dem Wege, mit anderen Worten ist sie als nie abgeschlossener Prozeß zu verstehen …“ 337 Ungeachtet dessen, ob sie zielgerichtet ist, erweist sie sich jedenfalls als limitiert – und zwar insofern, als Volkssouveränität auch pro futuro die Grenzen wahren muss, die sich aus der dialektischen Betrachtung der gegenläufigen Demokratieparadigmen erschließen lassen.

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näherungsweise einlösbar sind338. Soweit dies der Fall ist, nimmt Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich nicht bloß als Realstruktur, sondern zugleich als Strukturziel Gestalt an339. So knüpft etwa das verbandsorientierte Demokratieparadigma der Volksherrschaft daran an, dass die zur Herrschaftsausübung Berufenen demokratisch integer handeln. Es bedarf keiner vertieften sozialanthropologischen Studien, um festhalten zu können, dass dies eine partiell kontrafaktische Annahme ist340. Mithin prägt das volksherrschaftliche Demokratieparadigma die demokratische Integrität der Amtswalter auch, wenn nicht sogar zuvörderst, als ein Strukturziel von Volkssouveränität aus341. Das Demokratieparadigma der kollektiven Selbstbestimmung geht seinerseits davon aus, dass sich die Volksangehörigen als handlungsfähiges Kollektivsubjekt begreifen. Ein solches Bewusstsein wird freilich immer nur bei einem größeren oder kleineren Teil der Volksangehörigen in mehr oder minder expliziter Form vorhanden sein342. Im Übrigen bleibt es ein um der Demokratie willen zu erstrebendes Strukturziel. Die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft, an die das Paradigma von der Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formaler Ordnungsstruktur anschließt, kann schon deshalb eine immer nur tendenzielle sein, weil in einer funktionierenden Demokratie Staat und Gesellschaft stets in mehr oder minder großem Umfang ineinander übergreifen343. Denn staatliches Handeln wird in der Demokratie notwendig und legitimerweise von Trägern gesellschaftlicher Interessen und Wertvorstellungen determiniert; in Wechselwirkung damit greift der Staat repressiv und präventiv, regulativ sowie distributiv in die Gesellschaftsordnung über344. Soweit demokratietheoretisch an die Trennung von Staat und Gesellschaft angeknüpft wird, betrifft dies daher nur zum Teil die Realstruktur von Volkssouveränität, zum anderen aber ein Strukturziel von Volkssouveränität345. Das demokratische Paradigma der exklusiven Nationalsouveränität wiederum basiert auf der Vorstellung, der national­ demokratische Willensbildungsprozess sei gegen die Beeinflussung durch der internationalen Sphäre zugehörige Machtträger abschottbar. Diese Vorstellung indes lässt sich in der gegenwärtigen internationalen Staaten- und Wirtschaftsordnung allenfalls ansatzweise verwirklichen. Folglich beschreibt sie auch und vor allem ein Leitbild, eine Zielsetzung von Volkssouveränität. Dass die Volkssouveränität immer auch als Strukturziel zu begreifen ist, lässt sich des Weiteren auch an den individuumszentrierten Demokratieparadigmen ver 338

Vgl. dazu auch Llompart (Fn. 23), S.158. In dieselbe Richtung weist die Deutung der Volkssouveränität als Optimierungsgebot – etwa bei Morlok (Fn. 88), S. 564. 340 Vgl. dazu nur die klassische Darstellung bei Rousseau (Fn.  46), S.  97 ff. (Livre III /  Chapitres X [De l’abus du gouvernement et de sa pente a dégénérer]). 341 Dazu etwa Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 1997, S. 116. 342 Frankenberg (Fn. 341), S. 147 f. 343 Dazu immer noch überzeugend Abendroth, Das Grundgesetz, 3. Aufl. 1972, S. 81 ff. 344 Stein (Fn. 142), Rn. 45. 345 Denn es geht darum, die „Vergesellschaftung des Staates“ beziehungsweise die „Verstaatlichung der Gesellschaft“ rückgängig zu machen – dazu Rupp (Fn. 144), Rn. 44. 339

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Teil III: Volkssouveränität und EU

anschaulichen346. Das Paradigma von Volkssouveränität als freiheitlicher Selbstgesetzgebung setzt politisch aktive und initiative Menschen voraus. Diese freilich werden sich in einer Gebietsgesellschaft immer nur in beschränktem Umfang finden lassen, sodass sich die politische Mobilisierung der Gebietsbevölkerung im Übrigen als ein der Volkssouveränität eingeschriebenes Strukturziel darstellt347. Dem Paradigma von der Volkssouveränität als Ausdruck individueller Selbst­ bestimmung liegt die Vorstellung zu Grunde, die Glieder des demos empfänden ihr durch Vorgaben und Regeln mitdeterminiertes Verhalten als selbstbestimmt, weil sie am Erlass der betreffenden Vorgaben und Regeln mitgewirkt haben oder zumindest hätten mitwirken können. Eine solche Einstellung indes wird – mehr oder minder ausgeprägt – immer nur bei einem größeren oder kleineren Teil der Volksangehörigen vorfindbar sein. Darüber hinaus freilich bleibt sie ein der Demokratie wegen erstrebenswertes und förderungswürdiges Ziel348. Die Demokratisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie im Paradigma von der Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich-materialer Ordnungsstruktur angelegt ist, lässt sich ihrerseits schon deshalb nur näherungsweise verwirklichen, weil Staat, Wirtschaft und Gesellschaft heutzutage unumkehrbar in die internationale Sphäre hinein verflochten sind349 und der Demokratisierung insofern faktisch Grenzen gesetzt sind. Deren Überwindung ist ein dem Demokratisierungsparadigma eingeschriebenes Strukturziel, nicht aber notwendige oder gar hinreichende Voraussetzung dafür, dass sich Volkssouveränität als Realstruktur etabliert350. Das demokratische Paradigma der inklusiven Bevölkerungssouveränität schließlich lässt sich ebenfalls nur approximativ verwirklichen: Immer wird es eine größere oder kleinere Zahl von nicht bloß vorübergehend Machtbetroffenen geben, die sich dem demokratischen, herrschaftslegitimierenden Diskurs verweigern351. Insofern kann Volkssouveränität nur als Strukturziel wirksam werden. Nach allem lässt sich unter Rekurs auf die diversen Demokratieparadigmen belegen, dass der Volkssouveränität auch insofern ein Doppelcharakter zukommt, als sie, wirklichkeitswissenschaftlich betrachtet, gleichermaßen eine Realstruktur und ein Strukturziel beschreibt. Der Charakterisierung der wirklichkeits­ 346 Paradigmatisch insofern Marcic, Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie, in: Ehmke / Schmid / Scharoun (Hrsg.), Festschrift für Arndt, 1969, S.  267 (271): „Der Umfang und Grad der Mitwirkung der Ordnungsbetroffenen an der Herstellung der Ordnung zeigen untrüglich die Marke an, bis zu der das in Frage stehende Gemeinwesen in der Demokratie fortgeschritten ist. (…) Die Höchstform der Mitwirkung ist Mitbestimmung als Selbstbe­ stimmung.“ 347 Vgl. dazu Frankenberg (Fn. 341), S. 133 ff. sowie Fetscher (Fn. 164), S. 131. 348 Insofern gilt also der Sache nach nichts anderes, als was in Zusammenhang mit dem verbandsorientierten Paradigma von der Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung festgehalten wurde. 349 Dazu nur Peters (Fn. 89), S. 130 ff. 350 In diese Richtung Katz (Fn. 189), Rn. 158. 351 Eine klassische Rechtfertigung für eine derartige Verweigerungshaltung findet sich bei Thoreau (Fn. 316), S. 7 ff.

Kap. 5: Der Volksbegriff

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wissenschaftlich konkretisierten Volkssouveränität als Strukturziel lässt sich dabei nicht etwa entgegenhalten, dass der telos von Demokratie je nach Demokratieparadigma ein anderer und bei gegenläufigen Demokratieparadigmen sogar ein konträrer sein kann. Vielmehr ist es nur konsequent, dass sich außer der Realstruktur von Volkssouveränität auch deren Strukturziel als polyvalent-variabel und damit (entwicklungs-)offen erweist. Hinzu tritt, dass dem Strukturziel der Volkssouveränität trotz seiner Offenheit auch durchaus Wirkmacht zukommt. In welcher konkreten Gestalt ein soziales Gemeinwesen Volkssouveränität ins Werk setzt, ist nämlich immer auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Strukturziel von Volkssouveränität, wie es in den letztlich maßgeblich berücksichtigten Demokratieparadigmen angelegt und konkretisiert ist. Denn das  – insofern nicht länger widersprüchliche – Strukturziel von Volkssouveränität begründet eine Rechtfertigungslast352. Es fordert eine Begründung dafür, weshalb bei der Realisierung von Volkssouveränität das konkrete Strukturziel nicht in höherem Maße realisiert wurde, warum also etwa ein pflichtgemäßes Verhalten der Amtswalter nicht besser abgesichert oder die politische Aktivität und Initiative der Bürgerschaft nicht stärker gefördert wird. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass Volkssouveränität auch als Strukturziel in die gesellschaftliche Totalität eingebettet ist, und erhellt infolgedessen, weshalb der Doppelcharakter von Volkssouveränität als Realstruktur und Strukturziel wirklichkeitswissenschaftlich eigens hervorzuheben ist. Damit bleibt abschließend darauf hinzuweisen, dass sich dieser Doppelcharakter von Volkssouveränität mit ihrem zuerst dargestellten Doppelcharakter353 mitunter verschränkt: Aus den dargelegten Gründen kann Volkssouveränität grundsätzlich sowohl als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur Gestalt annehmen. Diese Strukturgestalt ergibt sich, wenn man die einerseits verbandsorientierten, andererseits individuumszentrierten Demokratieparadigmen zu Ende denkt. Nun zeichnen sich die insofern maßgeblichen Demokratieparadigmen, wie zuletzt geschildert, dadurch aus, dass sie immer auch solche Strukturvorstellungen entbinden, die sich nur annäherungsweise verwirklichen lassen. Sie prägen Volkssouveränität folglich nicht nur als Realstruktur, sondern zugleich als Strukturziel aus. Hieraus folgt, dass mit den Termini nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur beziehungsweise sozial-organisatorische Freiheitsstruktur nicht nur eine konkrete Realstruktur, sondern zugleich auch ein konkretes Strukturziel von Volkssouveränität benannt ist.

352

Vgl. dazu auch Ryffel (Fn. 58), S. 94. Dies rechtfertigt es, vom „doppelten Doppelcharakter zu sprechen“, vgl. oben Kapitel 5 II. 1. b) = S. 236. 353

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Teil III: Volkssouveränität und EU

2. Der Volksbegriff in der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion Im Rahmen der dialektischen Auseinandersetzung mit den die Volkssouveränität ausprägenden Demokratieparadigmen wurden bereits die zentralen Merkmale des demokratischen Volksbegriffs zusammengetragen. Synthetisiert man diese nunmehr, so gewinnt man einen Volksbegriff, der sich nicht von ungefähr als polyvalent-variabel und damit als (entwicklungs-)offen darstellt. Ein gutes Stück weit verifizieren lässt sich der so gewonnene wirklichkeitswissenschaftliche Volksbegriff, indem man den wohl unumstrittensten Fall eines Volks im demokratischen Sinne354, nämlich den demokratischen Staatsvolksverband, unter ihn subsumiert.

a) Das Ergebnis der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion: Der polyvalent-variable und damit (entwicklungs-)offene Begriff von Volk im demokratischen Sinn Die den demokratischen Volksbegriff präjudizierende Volkssouveränität ist wirklichkeitswissenschaftlich ausgehend von vier zentralen Problemen als eine durch gegenläufige Demokratieparadigmen geprägte Struktur konkretisiert worden. Daran anschließend wurden auch schon – jeweils bezogen auf die in Rede stehende Demokratieproblematik  – wesentliche Merkmale des demokratischen Volksbegriffs identifiziert355. Diese problemorientierten (Teil-)Konkretisierungen des wirklichkeitswissenschaftlichen Volksbegriffs können nun an dieser Stelle zusammengeführt und komprimiert werden. Die wirklichkeitswissenschaftliche 354

Zur Staatsbezogenheit des Volksbegriffs vgl. etwa Augustin (Fn. 32), S. 37 f. Danach bezeichnet Volk im demokratischen Sinne einen Personenverband, der – alle in relevanter Weise von einer real etablierten Herrschaftsorganisation betroffenen Individuen umfasst und sich im Übrigen dadurch auszeichnet, dass jedes seiner Glieder als tatsächlich selbst an der Herrschaftsausübung beteiligt angesehen werden kann; – zwar herkömmlich, aber – schon wegen des den Angehörigen des Staatsvolksverbands zukommenden (Re-)Organisationsrechts – nicht notwendig nationalstaatlich verfasst ist, und dessen Machtentfaltung sich nicht nur normativ, sondern auch in der Normalität auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen seiner nach Maßgabe ihres individuellen Selbstbestimmungsanspruchs als grundsätzlich Freie und Gleiche partizipationsbefugten Angehörigen zurückführen lässt; – nach Maßgabe von aus Sicht des demokratischen Staatsvolksverbands legitimen Organisationsbestimmungen alle von der verbandlichen Machtentfaltung in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen hieran partizipieren lässt und sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der Machtteilhabe ausschließt, wie sich dies mit ihren respektiven Selbstbestimmungsansprüchen verträgt; – sich nicht notwendig aus der Summe der Staatsangehörigen zusammensetzt, sondern nach Maßgabe demokratisch legitimer (Re-)Organisationsbestimmungen auch sonstige Personen erfasst, sofern ihre nicht bloß passagere Machtbetroffenheit eine Beteiligung an der Machtausübung unter Autonomiegesichtspunkten als geboten oder doch zumindest als gerechtfertigt erscheinen lässt. 355

Kap. 5: Der Volksbegriff

243

Begriffsdefinition von Volk im demokratischen Sinn lautet demnach: Volk im demokratischen Sinn ist nicht nur der demokratische Staatsvolksverband als Herrschaftsorganisation der Staatsangehörigen, sondern nach Maßgabe von ihm legitimierter (Re-)Organisationsbestimmungen auch jeder andere in die Ausübung hoheitlicher oder sonstiger sozialer Herrschaft involvierte Personenverband, sofern gleichfalls unterstellt werden kann, dass an seiner – zumindest auch – staats­ gebietsrelativen Machtausübung alle von ihr in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen zu partizipieren befugt sind und sich der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Machtteilhabe in Hinblick auf deren Autonomieansprüche als vertretbar erweist, dass fernerhin die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten ebenfalls hinreichend gewahrt sind und dass sich die frag­ liche Machtentfaltung schließlich immer auch normaliter auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen der Partizipationsbefugten zurückführen lässt. Der wirklichkeitswissenschaftliche Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinn erfasst insofern eine Vielzahl unterschiedlicher Personenverbände356 und erscheint daher in besonderem Maße geeignet, den bisherigen und künftigen Gestaltwandel der demoi zu verarbeiten. Denn als demos kommt in dieser Perspektive nicht nur das Staatsangehörigenvolk eines souveränen Nationalstaats in Betracht, sondern beispielsweise auch ein Landesvolk357, eine Gemeindevolk, ein betriebliches oder überbetriebliches Arbeitnehmervolk, ein Volk der gesetzlich Versicherten sowie – nicht zuletzt – ein Staatenbundsvolk. Dass sich der wirklichkeitswissenschaftliche Volksbegriff demnach als polyvalent-variabel und von daher (entwicklungs-)offen erweist, ist nur konsequent. Denn der demokratische Volksbegriff wird, wie nun schon öfters betont, durch das zugrundeliegende Konzept von Volkssouveränität bestimmt; und dieses erweist sich in wirklichkeits­ wissenschaftlicher Perspektive seinerseits als polyvalent-variabel und füglich (entwicklungs-)offen. Für die hier interessierende Problematik hat der polyvalent-variable und (entwicklungs-)offene Volksbegriff nun eine doppelte Konsequenz. Zum einen erweist sich die von den verbandsorientierten Demokratieparadigmen suggerierte Vorstellung als verfehlt, außer den mitgliedstaatlichen Völkern könne von vornherein allenfalls ein zum Staatsvolk mutierter Unions-demos zur Legitimation von EU-Herrschaftsakten beitragen. Denn anders als es sich aus Sicht der verbands­ orientierten Demokratieparadigmen darstellt, lässt sich in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive Volk durchaus auch jenseits von Staat, Staatsvolk und Nation denken. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass sich die individuumszentrierten Demokratieparadigmen eine allzu oberflächliche, unterkomplexe Idee 356 Vgl. auch Emde (Fn. 88), S. 396: „Demokratie ist (…) eine Form der Herrschaftsorganisation bzw. -rechtfertigung, die sich – begrifflich gesehen – ebenso auf das Staatsvolk wie einen Fußballverein wie eine internationale Organisation beziehen lässt.“ 357 Lehrreich BVerfGE 1, 14 (50).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

davon machen, wie sich eine das nationalstaatliche Modell von Volkssouverä­nität transzendierende europäische Demokratie strukturell gestaltet. Das von den individuumszentrierten Demokratieparadigmen transportierte Volksverständnis er­ weist sich unter wirklichkeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten als unzulänglich, weil es nicht nur die demokratietheoretisch vorauszusetzende institutionelle Abhängigkeit sonstiger demoi vom souveränen Staatsvolksverband ausblendet, sondern auch die voraussetzungsvolle Normalität demokratischer Willensvereinheitlichung, wie sie im Rahmen nationaler Staatsvolksverbände typischerweise in nach wie vor beachtlichem Umfang gewährleistet ist, nur unzureichend reflektiert.

b) Wirklichkeitswissenschaftlicher Volksbegriff und demokratischer Staatsvolksverband: Eine verifizierende Betrachtung Der im Verlauf dieses Kapitels sukzessive entwickelte polyvalent-variable Volksbegriff will der Einsicht Rechnung tragen, dass sich Volk im demokratischen Sinne weder auf seine konkret-geschichtlichen Ausformungen reduzieren lässt, noch als kontrafaktische Kopfgeburt zu verstehen ist, sondern nur als eine gegenüber dem Wandel von Normalität und Normativität geöffnete Struktur der politischen Wirklichkeit wirklichkeitswissenschaftlich begreifbar wird358. Dass dieser Volksbegriff nun auch tatsächlich trägt, soll im Folgenden abschließend an dem wohl unumstrittensten Beispiel eines Volks im demokratischen Sinne, nämlich am demokratischen Staatsvolksverband, veranschaulicht und dadurch plausibilisiert werden. Denn ließe sich ein solcher Staatsvolksverband nicht unter den hier entwickelten Begriff von Volk im demokratischen Sinne subsumieren, so wäre nicht bloß die hier vorgeschlagene Definition selbstwidersprüchlich, die – wie selbstverständlich – davon ausgeht, dass die allgemeinen Strukturanforderungen an ein Volk im demokratischen Sinn ‚auch‘ durch einen demokratischen Staatsvolksverband erfüllt werden. Vor allem könnte in der hier verfolgten wirklichkeits­ wissenschaftlichen Perspektive schwerlich an einem Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinne festgehalten werden, der den geschichtlich gewordenen und allgemein konsentierten Hauptfall von Volk im demokratischen Sinn nicht zu erfassen vermag. Im Folgenden soll daher – gleichsam zur Rückversicherung – belegt werden, dass der demokratische Staatsvolksverband die Begriffsmerkmale erfüllt, die nach der hier entwickelten Konzeption für ein Volk im demokratischen Sinn kennzeichnend sind. Dabei werden die meisten dieser Begriffsmerkmale von einem demokratischen Staatsvolksverband problemlos erfüllt. So ist dieser – sogar an vorderster Stelle – mit Ausübung hoheitlicher Herrschaft betraut359. Ferner ist davon auszugehen, dass soweit ein demokratischer Staatsvolksverband individuelle Partizipationsbefug 358

Dazu nochmals Heller (Fn. 15), S. 161. Zur notwendigen Zentralfunktion von Staat und Staatsvolksverband in der gegliederten Demokratie Pernthaler (Fn. 100), § 60 b). 359

Kap. 5: Der Volksbegriff

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nisse einräumt, dies unter Beachtung der demokratischen Grundsätze von Freiheit und Gleichheit erfolgt, sodass die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten als erfüllt angesehen werden können360. Auch wird man jedenfalls für den gegenwärtigen Zeitpunkt unterstellen können, dass die zeitgenössischen Demokratien ganz überwiegend (noch) auf realiter vom Staatsvolk getragenen Willensbildungsprozessen beruhen361. Als vertiefungsbedürftig erscheint folglich nur, ob sich  – erstens – der demokratische Staatsvolksverband in personeller Hinsicht tatsächlich als Gesamtheit der von seiner Machtausübung in vergleichbar nachhaltiger Weise individuell Betroffenen begreifen lässt und ob – zweitens – der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Teilhabe an der staatsvolksverbandlichen Machtentfaltung nicht deren Autonomieansprüche verletzt.

aa) Lässt sich der Staatsvolksverband als Gesamtheit der von seiner Machtausübung in vergleichbar nachhaltiger Weise individuell Betroffenen begreifen? Diese Frage stellt sich deshalb, weil der Staatsvolksverband seine umfassende Macht in denkbar unterschiedliche Machtakte ummünzt362 und seine Angehörigen daher auch in denkbar unterschiedlicher Weise von diesen verschiedenen Machtakten individuell betroffen werden. Es erweist sich vor diesem Hintergrund tatsächlich als zweifelhaft, ob die Staatsvolksangehörigen als durch die staatliche Machtausübung vergleichbar nachhaltig betroffen angesehen werden können. Insofern ist nun freilich im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass staatliche Machtakte nicht isoliert für sich stehen, sondern zugleich immer auch integraler Bestandteil der staatlicherseits betriebenen Politik sind und sich als Ausfluss des vom Staatsvolksverband bezweckten gebietsuniversalen Interessenausgleichs präsentieren. Dies hat zur Konsequenz, dass ein staatlicher Machtakt, der auf den ersten Blick nur eine denkbar kleine Gruppe von Staatsangehörigen nachhaltig betrifft, letztlich zugleich auch immer diejenigen Staatsangehörigen nachhaltig tangiert, die von dem betreffenden Herrschaftsakt prima facie nicht berührt zu sein scheinen. Denn eben weil der dem weit überwiegenden Teil der Staatsangehörigen zunächst als unbedeutsam erscheinende staatliche Machtakt über den politischen Gesamtentwurf des Staatsvolksverbands, über den von ihm ins Werk gesetzten Interessenausgleich untrennbar mit anderen Machtakten verbunden ist, die ihrerseits wiederum von zweifelsfrei nachhaltiger Bedeutung für die Mehrheit der Staatsangehörigen sind, wächst dem für sie vordergründig belanglosen Machtakt letzt 360

Pernthaler (Fn. 100), § 62 a). Zur gleichwohl permanenten Gefährdung dieser Realität durch die Systeme Geld und Macht, durch die Entwicklung zur ‚geschlossenen Gesellschaft des Wirtschaftsliberalismus‘ und zur ‚bürokratischen Verwaltung der Gesellschaft‘ siehe Bäumlin (Fn. 159), S. 48 ff. 362 Zur Verschiedengestaltigkeit der Staatsgewalt unter den Bedingungen des modernen Sozial- und Umweltstaats Pernthaler (Fn. 100), § 42. 361

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Teil III: Volkssouveränität und EU

lich doch eine durchaus nachhaltige Bedeutung zu. Wird mit anderen Worten der eine, nur für kleine Teile des Staatsvolks bedeutsame staatliche Machtakt erlassen, aufgehoben oder modifiziert, so bricht sich darin immer auch Stück weit die vom Staat verfolgte gesamtpolitische Linie, der vom Staatsvolksverband anvisierte Interessenausgleich Bahn, was seinerseits alle Staatsangehörigen in vergleichbar nachhaltiger Weise tangiert. Dass mithin alle Staatsvolksangehörigen in vergleichbarer Weise nachhaltig von jedem beliebigen staatlichen Machtakt betroffen werden, bedeutet freilich noch nicht automatisch, dass sich die Gesamtheit der Staatsangehörigen, mithin also der Staatsvolksverband aus allen von jedem beliebigen staatlichen Machtakt in vergleichbaren Weise nachhaltig betroffenen Individuen zusammensetzt. Letzteres aber wäre Voraussetzung dafür, dass sich der demokratische Staatsvolks­verband unter den hier gebildeten Begriff von Volk im demokratischen Sinn subsumieren lässt363. Dafür, dass der Staatsvolksverband nicht alle von jedem beliebigen staatlichen Machtakt vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen erfasst, ließe sich insbesondere folgendermaßen argumentieren: Wenn Herrschaftsakte deshalb unterschiedslos eine nachhaltige Betroffenheit bei den Staatsangehörigen auslösen, weil sich darin mittelbar die sie alle erheblich tangierende politische Generallinie des Staates und der von ihm bezweckte Interessenausgleich niederschlägt, so wird man auch die übrigen, also nicht dem Staatsvolk zugehörigen Staatsgebietsangehörigen als hiervon nachhaltig betroffen ansehen müssen. Denn diese sind der staatlichen Gebietsmacht unterworfen und daher ebenfalls von Politik und Ausgleichsbestrebungen des Staates abhängig. Dieser Argumentation wird man freilich entgegenhalten können, dass die Staats­ gebietsangehörigen unter dem angeführten Gesichtspunkt zwar durchaus nachhaltig betroffen sind, dass es aber immerhin vertretbar ist, diese nachhaltige Betroffenheit von der der Staatsangehörigen qualitativ zu unterscheiden. In dieser Perspektive erfasst das Staatsverbandsvolk im Ergebnis doch alle von staatlichen Machtakten in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen. Für diese Sichtweise, mithin also für eine Differenzierung zwischen der nachhaltigen Betroffenheit der Staatsvolksangehörigen einerseits und der Staatsgebietsangehörigen andererseits streitet, dass zum Staatsvolk bekanntlich nur diejenigen Angehörigen des Staatsgebietsvolks rechnen, die in einem besonderen, rechtlich verfestigten Verhältnis zum Staat stehen364. Dieses beruht auf einer abstammungsmäßigen Verbindung zum Staat und / oder auf einem längerfristigen Aufenthalt dortselbst. In Hinblick auf dieses besondere Näheverhältnis zum Staat lässt sich in der Tat zumindest vertreten, dass die Staatsvolksangehörigen von einem beliebigen staatlichen Machtakt nachhaltiger betroffen werden als die nicht dem Staatsvolk angehörigen Staatsgebietsangehörigen. Denn wenn staatliche Machtakte, wie gesagt, deshalb a priori zur nachhaltigen Betroffenheit sowohl der Staatsvolks­angehörigen 363

Siehe zusammenfassend oben Kapitel 5 II. 2. a) = S. 242. Dazu auch Constant (Fn. 46), S. 366 (Chapitre VI).

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Kap. 5: Der Volksbegriff

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als auch der Staatsgebietsangehörigen führen, weil sie immer auch Ausfluss staatlicher Politik und eines staatsvolksverbandlichen Interessenausgleichs sind, so wird man die daran anknüpfende Betroffenheit bei den Staatsvolksangehörigen deshalb als nachhaltiger qualifizieren können, weil diese wegen ihres besonderen Näheverhältnisses zum Staat in relativ stärkerem Umfang durch dessen poli­tische Richtungsentscheidungen und umfassenden Konfliktlösungsversuche berührt werden als die übrigen Staatsgebietsangehörigen. Infolgedessen sprechen in der Tat durchgreifende Gründe dafür, dass der Staatsvolksverband alle von einem beliebigen staatlichen Machtakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffenen Individuen erfasst. Davon ist im Übrigen auch dann auszugehen, wenn der Staatsvolksverband seine Macht dahingehend ausübt, dass er mit einem oder mehreren anderen Staaten verbindliche Regelungen trifft. Allerdings bedarf dies der näheren Begründung. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die Regelung per se in diesem Fall die Angehörigen des betreffenden Staatsvolksverbands zumindest typischerweise nicht nachhaltiger, sondern in exakt demselben Umfang betrifft wie die Angehörigen der anderen kooperierenden Staaten. Denn die Regelung an sich kann nicht als Niederschlag der politischen Gesamtkonzeption eines bestimmten Staats­verbands und des von ihm angestrebten Interessenausgleichs gewertet werden. Dies aber wäre nach den vorstehend angestellten Erwägungen die grundsätzliche Voraussetzung dafür, dass das betreffende Staatsvolk alle von der Regelung vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen erfasst. Stattdessen wird die politische Generallinie des Staates und der von ihm bezweckte Interessenausgleich im Rahmen der gemeinschaftlich erlassenen Regelung überlagert von dem zwischen den beteiligten Staaten gefundenen Kompromiss. Vor diesem Hintergrund aber betrifft die Regelung die Angehörigen der beteiligten Staatsvolksverbände nicht unterschiedlich, sondern alle durchweg gleich. Denn die Regelung fügt sich ein in die Bemühungen zwischen allen für den Erlass der Regelung verantwortlichen Staaten, zu einer gemeinsamen politischen Verständigung und einen zwischenstaat­ lichen Inter­essenausgleich zu kommen. Davon aber werden zumindest im Regelfall die Angehörigen aller beteiligten Staatsvolksverbände durchweg vergleichbar nachhaltig tangiert. Doch auch wenn infolgedessen ein Staatsvolksverband mithin nicht alle von einer überstaatlichen Vereinbarung in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffenen Individuen erfasst, so lässt er sich gleichwohl unter den hier verwandten Volks­ begriff subsumieren. Schließlich knüpft der vorstehend entwickelte Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinn an die Machtausübung allein des Staatsvolksverbands an365 und nicht an das Produkt der zusammenlaufenden Machtausübung gleich zweier Staatsverbände. Betrachtet man indes nur den Machtbeitrag des einen Staatsverbandsvolks zur überstaatlichen Regelung, so bleibt es dabei, dass dieser immer auch als Ausfluss eines generellen Politikkonzepts des Staates und 365

Siehe zusammenfassend oben Kapitel 5 II. 1. a) = S. 233.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

des von ihm bezweckten staatsgebietsuniversalen Interessenausgleichs zu werten ist. Insofern aber werden die Angehörigen des betreffenden Staatsvolksverbands schon deshalb in relativ stärkerem Maße von der staatsvolksverbandlichen Machtausübung betroffen als die Angehörigen des anderen an der überstaatlichen Regelung beteiligten Staatsverbands, weil diese von dem generellen Politik­ konzept des Staates und dem staatsgebietsuniversalen Interessenausgleich erst gar nicht erfasst werden. Somit lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt staatsgebietstranszendierender Machtausübung daran festhalten, dass der Staatsvolksverband alle von einem beliebigen staatlichen Machtakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffenen Individuen erfasst.

bb) Verträgt es sich mit den Autonomieansprüchen der Staatsgebietsangehörigen ohne Staatsangehörigkeit, wenn sie keinen Anteil an der staatlichen Machtausübung haben? Zu dieser zweiten im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Frage haben bereits die vorstehenden Überlegungen zum demokratischen Volksbegriff ergeben, dass es keine demokratietheoretische Notwendigkeit gibt, staatliche Herrschaftsakte von anderen als den Staatsangehörigen legitimieren zu lassen. Denn der Autonomieanspruch der staatsvolksfremden Gebietsangehörigen darf nicht absolut gesetzt werden, sondern muss im Rahmen der wirklichkeitswissenschaftlich erschlossenen Real- und Zielstruktur von Volk im demokratischen Sinne präzisiert werden. Da Demokratie insofern immer auch im Sinne der verbandsorientierten Paradigmen, mithin also als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur begreifbar ist, kann es dem Autonomieanspruch der volksfremden Gebietsange­ hörigen nicht widersprechen, wenn es ins Belieben des Staatsvolks gelegt wird, ob und inwieweit diese an der staatlichen Herrschaftstätigkeit demokratisch partizipieren sollen366. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Staatsvolksverband tatsächlich als Personenverband charakterisieren, der an seiner – zumindest auch staatsgebietswirksamen – Machtausübung alle von dieser in vergleichbarer Weise nachhaltig tangierten Einzelmenschen partizipieren lässt und sonstige Individualbetroffene nur insofern von der Herrschaftsteilhabe ausschließt, als sich dies in Hinblick auf ihre Autonomieansprüche rechtfertigen lässt. Es zeigt sich somit, dass sich der demokratische Staatsvolksverband durchaus unter den hier entwickelten polyvalentvariablen Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinne subsumieren lässt.

366

In diesem Sinne eingehend auch Thienel (Fn. 105), S. 379 ff.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Kapitel 6

F

Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

Mit dem wirklichkeitswissenschaftlichen Strukturbegriff der Volkssouveränität ist eine politische Realität angesprochen, die wesentlich dadurch geprägt wird, dass sich Hoheitsakte zeit ihrer Existenz auf den aktuellen Willen eines Volks im demokratischen Sinn zurückführen lassen1. Die in diesem Sinne gewissermaßen demokratisierte Volkssouveränität unterscheidet sich ersichtlich von ihrem vordemokratischen Strukturverständnis. Danach wurde es der Sache nach als Ausdruck von Volkssouveränität gewertet, wenn das Volk vermöge der ihm zustehenden Herrschaftsmacht  – moderner: aufgrund seines pouvoir constituant  – die Hoheitsgewalt im Rahmen eines stillschweigenden Herrschaftsvertrags dauerhaft auf einen Fürsten übertrug2. Diese frühere Erscheinungsform reflektiert der (entwicklungs-)offene Strukturbegriff der Volkssouveränität heutzutage nur mehr, aber immerhin insofern, als natürlich auch die demokratisierte Volkssouveränität beinhaltet, dass der pouvoir constituant in der Trägerschaft des Volks liegt3. Auf diese Bedeutungsschicht der demokratiezentralen Volkssouveränität wird vertiefend freilich erst an späterer Stelle einzugehen sein4. Im Weiteren wird die Volkssouveränität ausschließlich als eine real wirksame Struktur fokussiert, die durch die Rückbindung von Hoheitsakten an den aktuellen Willen eines demokratischen Volks gekennzeichnet ist5. Insofern präsentiert sich die demokratiezentrale Volkssouveränität als eine in der Normalität verankerte Zurechnungsstruktur. Das prima facie so simpel anmutende Strukturmerkmal der realen demokratischen Zurechenbarkeit von Hoheitsakten zum aktuellen Volkswillen erweist sich freilich bei näherer Betrachtung und speziell im Kontext von Großorganisationen wie dem modernen Staat oder gar internationaler Staatenbünde als überaus komplex6. Die real wirksame Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität wird daher im Folgenden in nicht weniger als zwei Vertikal-, eine Horizontal- sowie eine Tiefendimension ausdifferenziert werden

1 Ähnlich Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 33; Dutzler, Der Status des ESZB aus demokratietheoretischer Sicht, in: Staat 2002, S. 495 (499). 2 Stein, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3 Rn. 1; ders. / Frank, Staatsrecht, 19. Aufl. 2004, § 8 I; Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie, 1997, S. 34 ff. 3 In diesem Sinne dezidiert Rupp, Europäische „Verfassung“ und demokratische Legitimation, in: AöR 1995, S. 269 (271). Siehe auch Murswiek, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Präambel Rn. 100: „Aus der Sicht einer konsequenten Theorie der Volkssouveränität ist die verfassunggebende Gewalt des Volkes notwendiger Bestandteil des demokratischen Legitimationssystems.“ 4 Dazu unten Kapitel 7 II. 3. = S. 534. 5 Vgl. auch Müller, Wer ist das Volk, 1997, S. 29. 6 Dazu nur Fleiner / Fleiner, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, S. 282 ff.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

müssen, um in wirklichkeitswissenschaftlich angemessener Weise rekonstruiert werden zu können7. Die insofern mehrdimensionale Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität verkörpert in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive zugleich auch das einzige heutzutage noch in Hinblick auf die hoheitliche Herrschaftsausübung akzeptierte Legitimationskonzept8. Sie ist mit anderen Worten der Inbegriff der in der gegenwärtigen Epoche allein legitimen Art und Weise hoheitlicher Betätigung9. Vor diesem Hintergrund ist denn auch der im Weiteren zugrundegelegte Begriff demokratischer Legitimation10 zu verstehen: Von demokratischer Legitimation ist wirklichkeitswissenschaftlich dann und insoweit zu sprechen, als die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität realisiert ist und insofern Hoheitsakte tatsächlich an den aktuellen Volkswillen rückgebunden werden11. Damit erweist sich der wirklichkeitswissenschaftliche Begriff demokratischer Legitimation als synonym zum bereits erwähnten Terminus demokratischer Zurechenbarkeit. Dies ist auch durchaus schlüssig, bezieht sich der Legitimationsbegriff doch auf die strukturellen Eigenheiten von Volkssouveränität, die mit dem Terminus demokratischer Zurechenbarkeit näherhin umschrieben werden. Diese wirklichkeitswissenschaftlichen Begriffsbildungen, die den terminologischen Ausgangspunkt des folgenden Kapitels bilden, erweisen sich dabei insbesondere auch insofern als weiterführend, als sie dem spezifischen Erkenntnisinteresse einer als juristische Hilfswissenschaft fungierenden Allgemeinen Staatslehre gerecht werden12. Denn an das Verständnis von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur sowie an dessen inhaltliche Verschränkung mit dem – wirklichkeitswissenschaftlichen – Konzept demokratischer Legitimation lässt sich im Rahmen positivrechtlicher Dogmatik unmittelbar anschließen. So kann die positivierte Volkssouveränität, die, wie bereits erwähnt13, im Mittelpunkt auch der im engeren Sinne juristischen Demokratiebestimmungen steht, schon rein semantisch überhaupt nicht anders als im Sinne einer normativ vor- und aufgegebenen Zurechnungsstruktur interpretiert werden14. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass sich, wie eben

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Zur Differenzierung zwischen der Horizontal- und Vertikaldimension von Demokratie vgl. auch Sartori, Demokratietheorie, 1992, S. 137 f. 8 Dazu nur Veil, Volksouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S. 27 ff. 9 In diesem Sinne etwa Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, in: NG 1954, S. 34. 10 Zu diesem auch Emde (Fn. 1), S. 32 f. 11 In diesem Sinn zum Beispiel Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, 1987, S. 154 und 155; vgl. ferner Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 148 f. sowie Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986, S. 76. 12 Zur Allgemeinen Staatslehre als juristischer Hilfswissenschaft siehe oben Teil III Vorbemerkung = S. 179. 13 Siehe oben Einleitung I. 4. = S. 58. 14 Soll alle soziale Macht vom Volk ausgehen, so muss sie ihm zurechenbar sein und bleiben (zur Volkssouveränität als juristischem Zurechnungsprinzip Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 [360]).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

251

falls schon angesprochen15, demokratische Legitimation in positivrechtlicher Perspektive mit demokratischer Legalität übersetzt. Wenn diese demokratische Legalität freilich entscheidend durch die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität geprägt wird, liegt es auf der Hand, dass demokratische Legitimation auch im posi­ tivrechtlichen Kontext mit der – generellen oder konkreten – Realisierung dieser Zurechnungsstruktur und füglich mit der demokratischen Rückanbindung von Herrschaftsakten gleichzusetzen ist. Wird daher im Folgenden Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich als Zurechnungsstruktur und demokratische Legitimation als deren allgemeine oder bereichsspezifische Realisierung beziehungsweise als demokratische Zurechenbarkeit von Herrschaftsakten beschrieben und im Einzelnen entfaltet, so bereitet dies  – entsprechend der Funktion von Allgemeiner Staatslehre als Hilfswissenschaft – unmittelbar die positivrechtliche Analyse vor16. Zu der folglich auch insofern gerechtfertigten wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion von Volksouveränität als Zurechnungsstruktur bleibt eingangs dieses Kapitels noch zweierlei anzumerken. Erstens ist zu berücksichtigen, dass sich die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur und mithin auch die daran anknüpfende demokratische Legitimations­ problematik zwar typischerweise auf hoheitlich-staatliche Machtorganisationen beziehen und aus diesem Grund die Rückbindung von Staatsgewalt beziehungsweise Hoheitsgewalt an den demos im Mittelpunkt des Interesses steht17. Dies gilt gerade auch im vorliegenden Kontext, denn in Hinblick auf die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung geht es gleichfalls um die Zurechnung spezifisch hoheitlicher Gewalt zum Volk18. Trotzdem bezieht sich Volkssouveränität nicht notwendig nur auf staatliche Machtträger19. Dies ist im vorstehenden Kapitel verschiedentlich deutlich gemacht worden20. Wenn daher im Folgenden von der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität lediglich in Hinblick auf Akte der Staatsoder sonstigen Hoheitsgewalt die Rede sein wird, so ist dies der generellen und speziellen Bedeutung just dieses Problemkreises geschuldet. Es bedeutet jedoch nicht, dass die Volkssouveränität nicht auch als Zurechnungsstruktur für sonstige soziale Machtakte wirken könnte21.

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Siehe oben Einleitung I. 3. = S. 55. Zur verfassungsrechtlichen Konzeption von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur und demokratischer Legitimation als ihrem Implementationsmodus vgl. nur Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 265 ff. 17 Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995, S. 37 f. 18 Dazu lediglich Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 23 Rn. 23. 19 Vgl. dazu auch die Differenzierung zwischen Demokratisierung im engeren und weiteren Sinne bei Denninger, Demokratisierung – Möglichkeiten und Grenzen, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 105 (108 ff.); aus philosophischer Sicht Ryffel, Menschenrechte und Demokratie, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 83 (93). 20 Siehe oben insbesondere Kapitel 5 I. 2. d) = S. 195. 21 Hierzu Bäumlin, Artikel ‚Demokratie (I. juristisch)‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evange­ lisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 458 (466 f.).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass bei der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur erneut dem dialektischen Denkverfahren22 eine tragende Rolle zukommt. Dies ist zunächst in Zusammenhang damit zu sehen, dass Volkssouveränität, wie im vorhergehenden Kapitel eingehend dargelegt, eine polyvalent-variable und mithin (entwicklungs-)offene Struktur darstellt. Realstruktur und Strukturziel von Volkssouveränität können danach prinzipiell sowohl in einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur wie auch in einer sozialorganisatorischen Freiheitsstruktur konkrete Gestalt annehmen. Vor diesem Hintergrund muss das wirklichkeitswissenschaftliche Konzept von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur konsequenterweise so gefasst werden, dass es auf denkbar unterschiedliche, ja gegenläufige Volksherrschaften Anwendung finden kann. Nur so kann es einlösen, was es semantisch verspricht, nämlich die Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität generell abzubilden und nicht nur diejenige, die für ein mehr oder minder einseitig nach bestimmten Demokratieparadigmen strukturiertes Demokratiemodell charakteristisch ist. Es verbietet sich denn auch, die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität einseitig nur von den verbandsorientierten oder aber den individuumszentrierten Demokratieparadigmen her zu entwickeln. Stattdessen ist der erwähnte Rekurs auf das dialektische Denkverfahren erlaubt. Denn dieses ermöglicht es, diejenigen Aspekte demokratischer Zurechnung, auf die das eine Demokratieparadigma ein erhellendes Schlaglicht wirft, zu denjenigen Aspekten in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen, die durch andere Demokratieparadigmen beleuchtet und plausibel gemacht werden. Kurzum: Das dialektische Denkverfahren verhindert, dass das wirklichkeitswissenschaftliche Verständnis von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur vereinseitigend von nur ganz bestimmten Demokratieparadigmen her konkretisiert wird und infolge­ dessen nur eine Teilwirklichkeit beziehungsweise Teilwahrheit widerspiegelt. Als geboten erweist sich der Rückgriff auf das dialektische Denkverfahren noch unter einem anderen Gesichtspunkt. Dadurch wird gewährleistet, dass bei Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur nicht nur einseitig deren normative Dimension beachtet wird, sondern auch die notwendige Verankerung in der Normalität hinreichend Berücksichtigung findet.

I. Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität nimmt insofern Gestalt an, als Hoheitsakte von ihrem Erlass bis zu ihrem Erlöschen vom jeweils aktuellen demo­kratischen Volkswillen getragen werden23. Soweit dies der Fall ist, sind

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23

Hierzu auch schon oben Kapitel 5 = S. 182. Dazu etwa Emde (Fn. 1), S. 42; v. Komorowski, Äußerungsrecht der kommunalen Volksvertretungen und gemeindliche Verbandskompetenz, in: Staat 1998, S. 122 (137 f.); Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, in: StWiss 1992, S. 349 (352).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Hoheitsakte dem Volkswillen demokratisch zurechenbar und erweisen sich insofern als legitimiert24. Volkssouveränität lässt sich insofern zunächst in einer vertikalen Dimension entfalten: Sie stellt sich als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang dar, der vom Kollektiv ‚Volk‘, das an der Spitze des Herrschaftssystems steht, zu den einzelnen Hoheitsakten hinabführt und diese auf Dauer von jenem abhängig macht25. Volkssouveränität realisiert sich insofern  – in Einklang mit den verbandsorientierten Demokratie­ paradigmen der Volksherrschaft und kollektiven Selbstbestimmung  – ‚von oben nach unten‘26.

1. Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation Bricht sich die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität dann Bahn, wenn Hoheitsakte dauerhaft vom Volkswillen getragen werden27, so erweist sie sich nur dann als vollständig realisiert, wenn die betreffenden Hoheitsakte als Ausdruck und Ausfluss exklusiv-perpetueller Hoheitsmacht des betreffenden demos ge­wertet werden können. Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität nimmt mithin in Hinblick auf Hoheitsakte nur dann vollumfänglich Gestalt an, wenn dem demos insofern zum einen eine ausschließliche Dezisionsmacht, zum anderen eine fortwährende und gleichfalls ausschließliche Revisionsmacht zusteht. Denn nur soweit allein der demos dauerhaft für den Regelungsgehalt eines Hoheitsakts verantwortlich zeichnet, ist dieser ihm ganz zurechenbar28: Wird der Regelungsgehalt eines zu erlassenden Hoheitsakts durch die Willensäußerungen eines vom Volk verschiedenen Herrschaftsträgers mitbestimmt, kann der Hoheitsakt dem Volk auch nur eingeschränkt zugerechnet werden. Und ist ein einmal erlassener Hoheitsakt späterhin überhaupt nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt durch das Volk korrigierbar, beeinträchtigt dies seine Zurechenbarkeit zum Volk ebenfalls.

24 In diese Richtung auch Franck, Fairness in the International Legal and Institutional System, in: RdC 1993-III, S.  9 (103). Der Sache nach wird damit  – entgegen dem Vorwurf des Legitimationskettenfetischismus (dazu grundlegend Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWiss 1994, S.  305 ff.)  – am Prinzip einer ununterbrochenen Legitimationskette festgehalten (wie hier: Brunkhorst, Heterarchie und Demokratie, in: ders. / Niesen [Hrsg.], Festschrift für Maus, 1999, S.  373 [385 mit Fn. 29]). 25 Die Zugehörigkeit dieser Legitimationstheorie zur Allgemeinen Staatslehre betont Epping, Die demokratische Legitmation der Dritten Gewalt der Europäischen Gemeinschaften, in: Staat 1997, S. 349 (356). 26 Vgl. Jestaedt (Fn. 16), S.  189 f.; Isensee, Grundrechte und Demokratie, in: Staat 1981, S. 161 (162 f.). 27 Stein / Frank (Fn. 2), § 8 II 1.  28 Dazu auch Veil (Fn. 8), S. 107 f.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Diese Einsichten lassen sich nun selbstverständlich auch in den Begrifflichkeiten des wirklichkeitswissenschaftlichen Legitimationskonzepts reformulieren: Nur soweit die Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt restlos realisiert ist, wächst diesem exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation zu. Dabei kann zwischen der exklusiven dezisionären Legitimation einerseits und der exklusiv-perpetuellen revisionären Legitimation andererseits differenziert werden.

a) Zurechenbarkeit durch exklusive dezisionäre Legitimation im Besonderen Dass die Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität überhaupt nur dort vollständig Strukturgestalt anzunehmen vermag, wo dem demos in Hinblick auf einen Hoheitsakt eine exklusive Dezisionsmacht zusteht, der Erlass des betreffenden Hoheitsakts infolgedessen allein dem Volkswillen zurechenbar ist und der betreffende Hoheitsakt daher als exklusiv dezisionär legitimiert qualifiziert werden kann  – diese Sequenz klingt nachgerade selbstverständlich. Und in der Tat besteht kein Zweifel daran, dass sich bei einem Hoheitsakt die Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität nur unvollkommen realisiert, wenn das Volk seine Herrschaftsmacht mit einem Mitentscheider teilen muss, der seinerseits keine demokratische Legitimation zu vermitteln vermag. Das Volk ist in diesem Fall nur teil-souverän. Davon ist insbesondere auszugehen, wenn ein Hoheitsakt nur nach Zustimmung durch eine oder mehrere Mitentscheidungsträger ergehen darf, deren Mit­entscheidungsmacht demokratisch nicht rückgebunden ist. Ein solcher Sachverhalt liegt aber etwa auch dann vor, wenn der demokratisch nicht rückgebundene Mit­entscheidungsträger einen Hoheitsakt vorzuschlagen befugt ist, den das Volk nur entweder annehmen oder ablehnen kann. Ist freilich ein anderer demos, also ein Volk im demokratischen Sinn, un­ mittelbar oder  – wie zumeist  – organschaftlich vermittelt Träger der Mitent­ scheidungsmacht, bedarf es einer eingehenderen, differenzierenden Betrachtung. Denn gerade auch für den an der föderalen Verfassung des Grundgesetzes geschulten Juristen erscheint die Annahme als keineswegs unsinnig, dass ein Hoheitsakt selbst dort, wo er gemeinsam von zwei oder mehreren unterschiedlichen Völkern legitimiert wird, mitunter als Ausfluss exklusiver demokratischer Dezisionsmacht qualifizierbar sein kann29. Schließlich führen im grundgesetzlichen Kontext gerade auch die hier besonders interessierenden Normgebungsakte vielfach sowohl auf die Dezisionsmacht des Bundesstaatsvolks als auch auf die der im Bundesrat zusammenwirkenden Landesstaatsvölker zurück, ohne dass darin ein Widerspruch 29 Vgl. auch Schroeder, Demokratie, Transparenz und die Regierungskonferenz, in: KritV 1998, S. 423 (437); Bryde, Integrationsverzicht als Verfassungsgebot?, in: StWiss 1990, S. 202 (219); Schmidt, Die demokratische Legitimationsfunktion der parlamentarischen Kontrolle, 2007, S. 269.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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zu der in Art. 20 Abs. 2 GG als einheitlich vorausgesetzten Volkssouveränität gesehen würde30. Das damit angesprochene Phänomen, dass auch ein von mehreren Völkern erlassener Hoheitsakt exklusiv dezisionär legitimiert sein kann, soll freilich erst zum Ende des Abschnitts über die Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation näherhin erörtert werden31. Denn auch für die nun gleich anzusprechende exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation stellt sich die Frage, inwieweit trotz Zusammenwirkens mehrerer Völker die Exklusivität der Legitimation gewahrt wird, in der Sache nach identischer Weise. Es erscheint daher als sinnvoll, sie zusammenhängend zu beantworten.

b) Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation im Besonderen Für die Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang genügt es nicht, wenn ein Hoheitsakt lediglich vom Volk ausgeht. Die Hoheitsakte müssen auch auf Dauer auf das eine Volk zurückführbar sein. Grundsätzlich muss dieses daher fortdauernd in der Lage sein, die durch den Hoheitsakt bedingte Rechtslage nach eigenem Gutdünken zu modifizieren32; es muss ihm mit anderen Worten jederzeit möglich sein, den ursprüng­ lichen Hoheitsakt aufzuheben beziehungsweise durch eine beliebige hoheitliche Regelung zu substituieren33. Steht dem Volk eine entsprechende Revisionsmacht nämlich nicht oder nur in beschränktem Maße zu, vermag sich die Zurechen­ barkeit des demokratisch erlassenen Hoheitsakts zum Volkswillen nicht oder eben nur ein­geschränkt in die Zeit hinein zu prolongieren. Neben die ausschließ­ liche demo­kratische Dezisionsmacht muss daher um der Volkssouveränität willen die gleichfalls ausschließliche und zudem fortdauernde Revisionsmacht des Volkes treten. Ein Hoheitsakt erweist sich mithin lediglich insoweit als vollumfänglich demokratisch legitimiert, als ihm nicht nur eine exklusiv vom Volk bewirkte dezisionäre Legitimation zuwächst, sondern er darüber hinaus auch von einer exklusiv-perpetuellen revisionären Legitimation erfasst wird. Nur unter dieser doppelten Voraussetzung kann in Hinblick auf einen legitimationsbedürftigen Hoheitsakt von exklusiv-perpetueller demokratischer Legitimation gesprochen werden.

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Vgl. etwa Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, in: AöR 1991, S. 329 (349 ff.). 31 Siehe unten Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. 32 Morlok, Demokratie und Wahlen, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 559 (574 f.). 33 Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, in: Preuß / ders., Probleme einer Verfassung für Europa, 1995, S. 1 (19) spricht insofern von der ‚Reversibilitätsbedingung‘ demokratischer Legitimation.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Die exklusiv-perpetuell revisionäre Legitimation ist typischerweise dann beschränkt, wenn hinsichtlich des in Rede stehenden Hoheitsakts schon keine exklusive demokratische Dezisionsmacht bestand. Sieht sich beispielsweise ein Staat aufgrund von ihm eingegangener völkerrechtsvertraglicher Verpflichtungen gezwungen, einen bestimmten Hoheitsakt zu erlassen34, so lässt sich dieser Hoheitsakt nicht vollumfänglich auf den Willen des Staatsverbandsvolks zurückführen, weil er inhaltlich durch den völkerrechtlichen Vertragspartner des Staates mitentschieden wurde. Die insofern nur beschränkte demokratische Dezisionsmacht korreliert nun regelmäßig mit einer ebenso beschränkten revisionären Legitimation des fraglichen Hoheitsakts. Denn von Völkerrechts wegen darf der Staat den von ihm erlassenen, aber völkerrechtsvertraglich gebotenen Hoheitsakt grundsätzlich nur dann revidieren, wenn sich die völkerrechtlichen Vertragspartner bereit erklären, den dem Hoheitsakt zugrundeliegenden Vertrag aufzuheben beziehungsweise zu modifizieren. Die demokratische Revisionsmacht ist insofern weder eine ausschließliche noch eine immerwährende. Denn die Revisionsmacht kann erstens nur gemeinsam mit anderen ausgeübt werden und vermag – infolgedessen – zweitens auch nur in den Zeitpunkten durchzugreifen, in denen eine diesbezügliche Einigkeit besteht. Dem fraglichen Hoheitsakt wächst folglich keine exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation zu, sondern eine lediglich partizipativ-okkasionelle. Dies bedeutet nun freilich nicht, dass die grundsätzlich als exklusiv-perpe­tuell vorausgesetzte Revisionsmacht des demos stets aber auch nur dann beschränkt wäre, wenn es hinsichtlich eines Hoheitsakts bereits an der vollumfänglichen demokratischen Dezisionsmacht mangelt. Sofern beispielsweise ein völkerrecht­ licher Vertrag, der einen Vertragsstaat zum Erlass eines bestimmten Hoheitsakts verpflichtet, eine unbedingte unilaterale Kündigungsmöglichkeit vorsieht35, so beruht zwar ein wegen der völkerrechtlichen Verpflichtung erlassener Hoheitsakt nicht auf der ausschließlichen Dezisionsmacht des betreffenden Staatsvolks. Jedoch steht diesem eine exklusiv-perpetuelle Revisionsmacht zu. Verzichtet ein demokratischer Staat vermöge seiner Personalhoheit auf Rechte seiner Angehörigen gegenüber einem anderen Staat36, so lässt sich der betreffende Hoheitsakt auf die exklusive Dezisionsmacht des betreffenden Staatsvolks zurückführen. Indes kann der Hoheitsakt niemals mehr volksherrschaftlich revidiert werden und entbehrt insofern vollends der revisionären Legitimation. Freilich können diese ohnehin eher randständigen Beispiele nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine eingeschränkte demokratische Dezisionsmacht zwar nicht immer, aber doch im Regelfall mit einer ebenso eingeschränkten demokratischen Revisionsmacht korrespondiert  – 34 Zum internationalen Vertragsrecht etwa Tomuschat, Artikel ‚Vertragsrecht, internationales‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl. 1987, Sp. 3805 ff. 35 Dazu allgemein Heintschel von Heinegg, Die völkerrechtlichen Verträge als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 15 Rn. 67. 36 Dazu etwa Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 4. Kap. / Rn. 149 unter Hinweis auf den Rapallo-Vertrag von 1922 und den Friedensvertrag mit Italien von 1947.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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und dass entsprechend die Exklusivität dezisionärer demokratischer Legitimation die Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation indiziert. Somit bleibt lediglich nochmals festzuhalten, was Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuell vom Volk bewirkte revisionäre Legitimation meint und verlangt, nämlich dass ein einmal vom Volk erlassener Hoheitsakt von diesem allein und zu jeder Zeit auch wieder aufgehoben, abgeändert oder natürlich auch bestätigt werden können muss.

c) Vertiefende Überlegungen zu dezisionärer und revisionärer demokratischer Legitimation: Unterschiede und Wechselbezüglichkeit In seiner Vertikaldimension als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang knüpft die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität aus den dargelegten Gründen daran an, dass Hoheitsakte dezisionär sowie revisionär vom Volk her legitimiert werden. Die Bewirkungsmodi von dezisionärer und re­ visionärer Legitimation unterscheiden sich dabei in nicht unerheblicher Weise: Für die dezisionäre Legitimation ist charakteristisch, dass sie mit dem Erlass eines Hoheitsakts ins Werk gesetzt wird. Schließlich knüpft sie an die Entscheidung über das Ob beziehungsweise Wie seiner Ingeltungsetzung an und wirkt durch deren Rückbindung an den Volkswillen. Folglich nimmt dezisionäre Legitimation durch positives Tun zu einem definiten Zeitpunkt Gestalt an. Der Bewirkungsmodus dezisionärer Legitimation lässt sich vor diesem Hintergrund als aktiv-punktuell beschreiben. Demgegenüber ist für die revisionäre Legitimation kennzeichnend, dass sie erst eine juristische Sekunde nach Erlass des demokratisch legitimationsbedürftigen Hoheitsakts, dafür aber zeit seines Bestehens immer wieder von neuem bewirkt werden kann, und zwar in Form des Untätigbleibens. Zu bedenken ist nämlich, dass sich einem in Geltung gesetzten Hoheitsakt der Volkswille nur dann und insoweit über die Revisionsmacht des Volks mitteilt, als das Volk – obwohl es den betreffenden Hoheitsakt derogieren oder modifizieren könnte – eine Revisionsentscheidung unterlässt. In Hinblick darauf kann der Bewirkungsmodus revisionärer Legitimation als omissiv-repetitiv qualifiziert werden. Daraus folgt zugleich, dass, wenn von der demokratischen Revisionsmacht Gebrauch gemacht wird, hierdurch keine revisionäre, sondern vielmehr dezisionäre Legitimation operationalisiert wird. Diese entsteht aktiv-punktuell in Hinblick auf die Abänderungsentscheidung. Die Unterschiede im Bewirkungsmodus führen konsequenterweise auch zu einem unterschiedlichen Wirkungsmodus. Die diesbezüglichen Unterschiede lassen sich mit dem Gegensatzpaar störungsfrei / störungsanfällig näherhin umschreiben. Die Eigenschaften der Störungsfreiheit beziehungsweise Störungsanfälligkeit beziehen sich dabei ausschließlich darauf, wie die durch dezisionäre respektive

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Teil III: Volkssouveränität und EU

revisionäre Legitimation in spezifischer Weise bewirkte Rückbindung an den demokratischen Willen funktioniert. Störungen demokratischer Willensvermittlung, die nicht auf der spezifischen Wirkweise dezisionärer und revisionärer Legitimation beruhen, sind insoweit nicht angesprochen. Auf diese wird erst an späterer Stelle eingegangen werden. Es geht im Folgenden mithin nicht um staats- und gesellschaftsorganisatorisch bedingte Störungen demokratischer Volkswerdung37. Ebenso wenig sind diejenigen Störungen thematisch, die sich im Rahmen der zeitgenössischen mittelbaren Demokratie bei der Vergegenwärtigung des Volkswillens durch magistratische Repräsentanten oder sonstige Amtswalter er­geben38. Auch bleiben jene Störungen unberücksichtigt, die einen materiell-direktiven Legitimationsbeitrag kennzeichnen, über den sich mitunter die dezisionäre demokratische Legitimation Bahn bricht39. Alle diese Störungen beziehen sich nämlich darauf, inwieweit es überhaupt in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt zur Herausbildung oder Vergegenwärtigung eines Volkswillens kommen kann. Sie sind somit der Wirkweise dezisionärer beziehungsweise revisionärer Legitimation strukturell vorgelagert. Denn dezisionäre und revisionäre Legitimation setzen ihrem Wirkungsmodus nach gerade voraus, dass ein Volkswille gebildet und repräsentiert werden kann. Dementsprechend fokussieren die Termini der Störungsfreiheit und Störungsanfälligkeit auch nicht die Formierung oder Repräsentation des Volkswillens, sondern ausschließlich die  – demokratisch durchaus belangvollen – Unterschiede, die in Hinblick auf die demokratische Willensvermittlung zwischen den Wirkungsmodi dezisionärer und revisionärer Legitimation auszumachen sind. Unter diesem Gesichtspunkt vermag die dezisionäre Legitimation deshalb störungsfrei zu funktionieren, weil sie, wie gezeigt, auf positivem Tun beruht. Ein solches indes ist – jedenfalls im hier interessierenden Kontext – stets willensgetragen. Denn ob beziehungsweise wie ein Hoheitsakt in Geltung gesetzt wird, ist stets Folge einer bewussten Entscheidung. Infolgedessen kann im Rahmen dezisionärer Legitimation die Rückbindung an den demokratischen Volkswillen insoweit auch nie gestört sein, weil sie wesensnotwendig an die Artikulation dieses Willens anknüpft. In diesem Sinne lässt sich der für die dezisionäre Legitimation charakte­ ristische Wirkungsmodus tatsächlich als störungsfrei qualifizieren. Anders verhält es sich bei der revisionären Legitimation eines Hoheitsakts. Sie beruht darauf, dass trotz demokratischer Revisionsbefugnis die Aufhebung oder Abänderung eines bestimmten Hoheitsakts fortdauernd unterlassen wird. Ein solches Unterlassen indes wird nicht immer willensgetragen sein, sondern vielfach auch unbedacht erfolgen. Insoweit kann es immer wieder dazu kommen, dass im Kontext revisionärer Legitimation die Rückkoppelung an den demokratischen Willen gestört ist. Hinzu tritt, dass vielfach kaum nachweisbar sein wird, wann ein

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Siehe unten Kapitel 6 V. 3. = S. 483. Siehe unten Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405. 39 Siehe unten Kapitel 6 V. 1. c)= S. 470.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Unterlassungswille gegeben ist und wann nicht. Ob die revisionäre Legitimation störungsfrei funktioniert oder nicht, erweist sich insofern als typischerweise ungewiss. In diesem Sinn kann der Wirkungsmodus revisionärer Legitimation in der Tat als störungsanfällig beschrieben werden. Freilich sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die allfälligen Störungen, die durch den spezifischen Wirkungsmodus revisionärer Legitimation hervorgerufen werden können, strikt von den angesprochenen Beschränkungen der Exklusivität beziehungsweise Perpetualität demokratischer Legitimation zu unterscheiden sind40. Letztere sind darauf zurückzuführen, dass es dem demos von vornherein versagt ist, einen Hoheitsakt vom Zeitpunkt seiner Ingeltung­setzung bis zu seinem Außerkrafttreten aus eigener Machtvollkommenheit zu beherrschen. Eine dadurch bedingte Verkürzung exklusiv-perpetueller Legitimation ist dem legitimationsstiftenden Volk insofern definitiv vorgegeben, als sie durch von ihm nicht zu beeinflussende Vorgaben bedingt ist. Aus diesem Grund beeinträchtigt sie die Rückkoppelung eines Hoheitsakts an den Volkswillen auch ungleich intensiver, als wenn es lediglich zu Störungen der skizzierten Art und Güte kommt. Denn diese mögen zwar aus Sicht des legitimationsstiftenden Volks mehr oder minder wahrscheinlich sein. Sie sind dem demos aber gerade nicht definitiv vorgegeben, sondern beruhen darauf, dass die Träger demokratischer Revisionsmacht selbst ihren Unterlassungswillen nur phasenweise artikulieren. Daraus folgt zum einen, dass, wenn eine Nichtrevisionsentscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade nicht vom Volkswillen getragen wird, immerhin davon ausgegangen werden kann, dass sie dies zu einem früheren Zeitpunkt noch war. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass das Volk in diesem Fall schon nicht durch von vornherein geltende, zwingende Vorgaben an der Artikulation eines Unterlassungs- oder Abänderungswillens gehindert wird. Insbesondere dann, wenn die Frage der Revision beziehungsweise Nichtrevision des betreffenden Hoheitsakts für das Volk von besonderer Bedeutung ist, wird die Nichtrevisionsentscheidung daher im Regelfall gerade nicht unbedacht erfolgen. Vor diesem Hintergrund wiegen die Demokratieeinbußen, die durch den spezifischen Wirkungsmodus revisionärer Legitimation bewirkt werden können, längst nicht so schwer, wie wenn ein Hoheitsakt dem Volk ab initio und unabhängig vom eigenen Zutun nur teilweise zurechenbar ist. Dass sich nach allem sowohl hinsichtlich des Bewirkungs- als auch bezüglich des Wirkungsmodus substanzielle Unterschiede zwischen dezisionärer und revisionärer Legitimation feststellen lassen, darf freilich Wesentliches nicht aus dem Blickfeld geraten lassen: Trotz ihrer unleugbaren Unterschiedlichkeit tragen dezisionäre und revisionäre Legitimation typischerweise in Wechselbezüglichkeit gemeinsam zur Rückbindung von Hoheitsakten an den Volkswillen bei: Ist ein Hoheitsakt wie im Regelfall dezisionär legitimiert, so beruht die revisionäre Legitimation auf der omissiv-repetitiven Inbezugnahme des dezisionär Legitimierten.

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Vertiefend dazu siehe unten Kapitel 6 I. 3. a) = S. 308.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Die aktiv-punktuell begründete dezisionäre Legitimation wiederum vermag sich nur vermöge des revisionären Legitimationszusammenhangs in die Zeit hinein zu erstrecken. Dezisionäre und revisionäre Legitimation zeichnen sich somit durch wechselbezügliche Wirkungsmodi aus.

d) Exklusive demokratische Legitimation trotz demoi-kratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht Wie bereits angesprochen41, liegt  – zumal mit Blick auf die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes  – der Schluss keineswegs fern, dass ein Hoheitsakt auch dann exklusiv demokratisch legitimiert sein kann, wenn die diesbezüg­ liche Dezisions- und Revisionsmacht statt bei einem bei mehreren Völkern ver­ ortet ist. Im Rahmen der hier unternommenen staatstheoretischen Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur genügt ein solches bloßes Indiz freilich nicht. Vielmehr soll im Folgenden mit der gebotenen Sorgfalt schrittweise entwickelt werden, dass – und weshalb – ein Hoheitsakt demoi-kratisch und dennoch exklusiv legitimiert sein kann. Den Ausgangspunkt bilden dabei die im vorhergehenden Kapitel angestellten Überlegungen zur polyvalent-variablen Struktur von Volkssouveränität sowie zum damit korrelierenden polyvalent-variablen Volksbegriff42. Sie bilden die Grundlage für die Konzeption einer zwar dezentrierten, aber dennoch staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität43. In Anknüpfung an diese Konzeption lassen sich dann im Weiteren die Voraussetzungen benennen, die erfüllt sein müssen, damit ein von mehreren demoi beherrschter Hoheitsakt als Ausfluss exklusiver Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht qualifiziert werden kann. An Kontur und Plausibilität gewinnen diese allgemeinen und daher notwendig abstrakt zu formulierenden Voraussetzungen, wenn man sie auf Beispielskonstellationen  – wie etwa auf die nun schon mehrfach erwähnte gemeinsame Normsetzung von Staatsvolk und Landesstaatsvölkern im Bundesstaat – konkret anwendet. Abgerundet werden die Überlegungen zur exklusiven demokratischen Legitimation trotz demoi-kratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine dogmatische Schlussbemerkung.



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Siehe zusammenfassend oben Kapitel 5 II. 2. a) = S. 242. Grundsätzlich anderer Auffassung Veil (Fn. 8), S. 99 ff. 43 Damit wird im Übrigen auch dem Petitum von Maus, Hermann Heller und die Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S.  194 (220) entsprochen, „Hellers empathische Ausarbeitung des frühbürgerlichen Begriffs der Volkssouveränität unter gegenwärtigen Bedingungen zu rekonstruieren“, indem „für relevante rechtliche Teilbereiche Formen dezentralisierter und autonomer Rechtsetzung“ beschrieben werden.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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aa) Konzeption einer zwar dezentrierten, aber dennoch staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität Zunächst ist das polyvalent-variable Strukturverständnis von Volkssouveränität und Volk im demokratischen Sinn in Erinnerung zu rufen. Danach gilt als Volk im demokratischen Sinn nicht nur der demokratische Staatsvolksverband als Herrschaftsorganisation der Staatsangehörigen, sondern nach Maßgabe von ihm legitimierter (Re-)Organisationsbestimmungen auch jeder andere in die Ausübung hoheitlicher oder sonstiger sozialer Herrschaft involvierte Personenverband, soweit insofern gleichfalls unterstellt werden kann, dass an seiner  – zumindest auch  – staatsgebietsrelevanten Machtausübung alle von dieser in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen zu partizipieren befugt sind und sich der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Machtteilhabe mit deren Autonomieansprüchen verträgt, dass fernerhin die Autonomieansprüche auch der Partizipationsbefugten hinreichend gewahrt sind und dass sich die fragliche Machtentfaltung schließlich immer auch normaliter auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen der Partizipationsbefugten zurückführen lässt44. Dieser Volksbegriff hat zur Konsequenz, dass innerhalb ein und derselben staatlich verfassten Gebietsgesellschaft neben dem Staatsvolks­ verband gegebenenfalls noch andere Personenverbände demokratisch legitime Hoheitsmacht ausüben können45. Die von diesen Unter- und Obervölkern verwirklichten Volkssouveränitäten46 stehen dabei nicht beziehungslos neben der vom Staatsvolksverband generierten. Denn abgesehen davon, dass diese Volkssouveränitäten im Rahmen von durch den Staatsvolksverband legitimierten Organisationsbestimmungen zueinander ins Verhältnis gesetzt sind, lassen sie auch und vor allem dasselbe territoriale und personelle Substrat erkennen, nämlich das Staatsgebiet und die Staatsgebietsangehörigen: Ganz gleich, ob sich Volkssouveränität über das Staatsvolk, über ein oder mehrere seiner Untervölker oder aber über einen Obervolksverband Bahn bricht  – es geht, wie sich aus dem polyvalent-variablen Volksbegriff erschließt, stets und immer darum, dass an der von diesen Personenverbänden ausgeübten und zumindest auch in der betreffenden Staatsgebietsgesellschaft Wirksamkeit beanspruchenden Hoheitsmacht alle hiervon vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen, mithin also auch alle in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Angehörigen der betreffenden Staatsgebietsgesellschaft partizipieren47 und nur

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Siehe oben Kapitel 5 II. 2. a) = S. 242. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die für das Grundgesetz entwickelte Lehre von den Teilvölkern, etwa bei Oebbecke (Fn. 11), S. 87 ff. 46 Dazu auch Schmitz, Das europäische Volk und seine Rolle bei einer Verfassungsgebung in der Europäischen Union, in: EuR 2003, S. 217 (221): „Eine zeitgemäße Allgemeine Staatslehre muss (…) von einer Pluralität der Völker ausgehen.“ 47 Siehe dazu auch Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (241).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

diejenigen Staatsgebietsangehörigen von der Herrschaftsteilhabe ausgeschlossen sein dürfen, bei denen sich ein solcher Ausschluss mit ihrem Autonomieanspruch verträgt. Wenn sich daher trotz einer solchen Übereinstimmung in Hinblick auf das territoriale und personelle Substrat Unterschiede beim demokratischen Subjekt beziehungsweise bei der gebietlichen Erstreckung der einzelnen Volkssouveränitäten ergeben, so beruht dies ersichtlich nicht auf ihrer wesensmäßigen Verschiedenheit, sondern resultiert überhaupt erst aus der Anwendung einheitlicher demokratischer Grundsätze auf das gemeinsame territorial-personelle Substrat. In dieser Perspektive wird denn auch deutlich, dass das Staatsvolk sowie seine Unter- und Obervolksverbände48 keine partikularen, gegeneinander abgeschotteten Volkssouveränitäten begründen, sondern zu einer zwar dezentrierten, aber trotzdem staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität beitragen. Dass sie auch dort eine einheitliche bleiben kann, wo sie an unterschiedliche Legitimations­subjekte anknüpft – darin liegt gerade die Konsequenz und Pointe des polyvalent-variablen Verständnisses von Volkssouveränität. Wird Volkssouveränität nämlich nicht mehr einseitig auf Staatsvolk, Nation und Staat, sondern als eine immer auch von den Autonomieansprüchen der Herrschaftsbetroffenen geprägte Zurechnungsstruktur begriffen, dann ist es nicht länger paradox, dass alle staatsgebietswirksame Hoheitsmacht auch dort vom Volk ausgehen kann, wo die einzelnen Hoheitsakte von unterschiedlichen Völkern gesetzt und revidiert werden. Solange nämlich die von den unterschiedlichen Völkern gesetzten Hoheitsakte die Staatsgebietsangehörigen nicht fremdbestimmen, sondern unter Beachtung ihres Autonomiestatus ergehen, fügen sich die diversen Volkssouveränitäten nahtlos in die dezentrierte, jedoch zugleich staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität. Die vorstehend skizzierte Konzeption einer zwar dezentrierten, aber gleichwohl staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität49 kann nun im Folgenden für die Beantwortung der Frage fruchtbar gemacht werden, inwieweit einem durch mehrere Völker gemeinsam erlassenen und in Geltung erhaltenen Hoheitsakt exklusive demokratische Legitimation zuwächst. Zuvor freilich soll die nach allem nur scheinbar paradoxe Vorstellung, dass alle Hoheitsmacht auch dann allein vom Volk auszugehen vermag, wenn die einzelnen Hoheitsakte von unterschiedlichen Völkern herrühren, unter zwei Gesichtspunkten kurz ausgeleuchtet werden. So könnte sich diese Vorstellung zum einen dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass sie einseitig den individuumszentrierten Demokratieparadigmen folgt, Volks­ souveränität also lediglich als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur begreift, wenn die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität danach statt an das nationaldemokratische Staatsherrschaftsvolk an die einzelnen Staatsgebietsangehörigen

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Zum territorial und funktional differenzierten Volksbegriff Kapitel 5 = S. 182. Vgl. den ähnlichen Ansatz von Maus, Basisdemokratische Aktivitäten und rechtsstaatliche Verfassung, in: Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 99 (110 ff.); auch Fetscher, Wie ist demokratischer Sozialismus möglich? Warum ist demokratischer Sozialismus nötig?, in: ders., Für eine bessere Gesellschaft, 2007, S. 12 (18).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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anknüpft50. Überzeugend wäre ein derartiger Vorwurf freilich nicht. Denn die Vorstellung einer dezentrierten, also gewissermaßen demoi-kratischen und dennoch einheitlichen, also demos-kratischen Volkssouveränität ist durchaus auch den verbandsorientierten Demokratieparadigmen und dem daran anknüpfenden Verständnis von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur verpflichtet. Insbesondere bleibt die historisch gewordene relative Verwiesenheit von Volkssouveränität auf den Bezugsrahmen von Staatsvolk, Staat und Nation im Konzept staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität klar erkennbar. So basiert die vielstimmige und dennoch einheitliche Volkssouveränität auf einem Arrangement des Staatsvolksverbands, entscheidet letzten Endes doch allein dieser, welche anderen Unter- und Obervölker neben ihm zur Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität beitragen. Des Weiteren bleiben die in der staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität zusammenfließenden Staats-, Unter- und Obervolksherrschaften allesamt auf dasselbe territorial-personelle Substrat bezogen, das den Staatsbezug von Volkssouveränität erkennbar verarbeitet. Die Vorstellung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität ist daher nicht die Frucht einer undialektischen Vereinseitigung, sondern nimmt den polyvalent-variablen Strukturbegriff der Volkssouveränität konsequent beim Wort. Erwähnung verdient zum anderen, dass die Pluralität der demokratischen Völker der Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität nicht nur nicht entgegensteht, sondern sie sogar fördert. Denn aufgrund der Pluralität der demokratischen Völker bricht sich die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität mitunter auch dort Bahn, wo eine solche ausgehend vom Staatsvolk entweder überhaupt nicht realisierbar wäre oder aber den legitimationsbedürftigen Hoheitsakten nur sehr indirekt vermittelt würde: Für den Staatsvolksverband nicht realisierbar ist eine solche staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität, die auf ein (Ober-)Volk zurückführt und die demokratische Regulierung von (auch) außerhalb der Staatsgrenzen verorteten Sachverhalten ermöglicht51. Deutlich unvermittelter dürfte sich vielfach diejenige staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität einem Hoheitsakt mitteilen, die statt auf das Staatsvolk auf einen seiner Untervolksverbände zurückführt52. Denn in Bezug auf einen nur wenige Staatsgebietsangehörige in gleicher Weise nachhaltig betreffenden Typus von Hoheitsakten dürften die insofern 50 Dazu nur Isensee, Antragsschrift vom 9. Juni 1989 zu den Anträgen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 32 BVerfGG, in: ders. / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 3 (25 ff.). 51 So ist es beispielsweise dem (Glied-)Staat Nordrhein-Westfalen beziehungsweise seinem (Glied-)Staatsvolk nicht möglich, zum Schutz des Wasserhaushalts stoff- und anlagenbezogene Vollregelungen zu erlassen, die auch für andere – etwa am Oberlauf des Rheins liegende – Bundesländer verbindlich wären. Die Bundesrepublik Deutschland respektive das Bundesstaatsvolk indes ist dazu neuerdings in der Lage (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 GG sowie BT-Drs. 16/813, S. 11). 52 Beispielhaft hierfür ist die Verlagerung von Kompetenzen des französischen Zentralstaats auf Regionen, Départements und Kommunen durch die Lois Deferre in den Jahren 1982/1983.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

vom Staatsvolksverband herrührenden Legitimationsbeiträge regelmäßig sehr viel vermittelter sein, als wenn die in dieser Weise betroffenen Staatsgebietsangehörigen aufgrund von durch das Staatsvolk gebilligten Organisationsbestimmungen zu Gliedern eines Untervolksverbands und in dieser Strukturgestalt zum Subjekt staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität avancieren.

bb) Dezentrierte, aber staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität und demoi-kratische Kondominien Von der nach allem durchaus tragfähigen Vorstellung dezentrierter, aber staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität lässt sich nun auch das Problem einer Lösung zuführen, inwieweit ein Hoheitsakt selbst dort, wo er gemeinsam von zwei oder mehreren unterschiedlichen Völkern beherrscht wird, als Ausfluss exklusiver demokratischer Dezisions- und Revisionsmacht gewertet werden kann53. Denn dass sich die Dezentrierung des demos mit der Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität verträgt54, muss auch in Hinblick auf die hierin angelegte exklusivperpetuelle Legitimation von Hoheitsakten reflektiert werden. Dabei drängt sich folgender Reflexionsgang auf: Wenn mehrere organisatorisch miteinander verbundene Völker durch ihre jeweils eigene Hoheitstätigkeit zur staatsgebietseinheit­ lichen Verwirklichung von Volkssouveränität beizutragen vermögen, kann es der für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität charakteristischen ausschließlichen demokratischen Dezisions- und Revisionsmacht nicht schon per se entgegenstehen, wenn ein Hoheitsakt von mehreren dieser (Staats-, Unter- beziehungsweise Ober-)Volksverbänden zugleich dezisionär legitimiert wird. Stattdessen wird man festhalten müssen, dass die exklusive Dezisions- und Revisionsmacht des demos rundum gewahrt bleibt, sofern sich der Hoheitsakt trotz Mitwirkung mehrerer (Staats-, Unter- oder Ober-)Völker als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität darstellt. Denn dies ist, wie schon gesagt, die Konsequenz und Pointe des polyvalent-variablen Verständnisses von Volkssouveränität und Volk im demokratischen Sinn – dass sie sich trotz ihrer Dezentrierung als Teil eines demoskratischen Ganzen entpuppen. Um als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität und mithin als exklusiv-perpetuell demokratisch legitimiert qualifiziert werden zu können, muss die gemeinschaftliche Herrschaft durch mehrerer demoi über einen Hoheitsakt die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn wahren: Ebenso wie sich das Grundkonzept staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität aus dem poly­valentvariablen Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinn ableitet, bildet dieser konsequenter Weise auch dort den architektonischen Dreh- und Angelpunkt,

53 Hierzu auch  – in kantianischer Perspektive  – Maus, Zur Aufklärung über Demokratie­ theorie, 1992, S. 28 ff. 54 In diesem Sinn auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 678.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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wo die Zurechnungsstruktur staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität unter den komplexen Verhältnissen eines demoi-kratischen Kondominiums55 rekonstruiert werden soll. Damit nun, wenn mehrere demoi einen Hoheitsakt gemeinsam erlassen beziehungsweise in Geltung erhalten, die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn gewahrt bleibt und sich insofern die Zurechnungsstruktur staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität realisiert, müssen die unterschiedlichen Völker erstens nach Maßgabe von durch den Staatsvolksverband legitimierten Organisationsbestimmungen zusammenwirken56. Zweitens und vor allem ist vorauszusetzen, dass die zusammenwirkenden demoi  – jeweils für sich betrachtet als zentrierter demos beziehungsweise als Völkergesamtheit, also als dezentrierter demos – alle Individuen an ihrer Machtentfaltung partizipieren lassen, die von dem Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden57, und sonstige Individual­ betroffene nur insoweit von der demokratischen Machtteilhabe ausschließen, als sich dies mit ihren Autonomieansprüchen verträgt58. Drittens muss gewährleistet sein, dass trotz des demokratischen Zusammenwirkens mehrerer demoi die Autonomieansprüche der an der kondominalen Machtausübung Partizipierenden ihrerseits gewahrt sind59. Viertens ist vorauszusetzen, dass sich die gemeinschaftliche Hoheitsausübung auch der Normalität nach als Ausdruck staatsgebietseinheit­ licher Volkssouveränität darstellt, weil der sie vermittelnde Wille der Völker beziehungsweise Völkergesamtheiten auf realiter funktionierenden Verständigungs­ prozessen der insoweit jeweils Partizipationsbefugten beruht60.

(1) Organisationsentscheidung des Staatsvolksverbands Die erste Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit demoi-kratische Kondominien die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinne erfüllen, versteht sich fast von selbst. Schließlich nehmen nach dem hier zugrundegelegten Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinn die sonstigen Personenverbände überhaupt nur nach Maßgabe von durch das Staatsvolk gebilligten Organisationsbestimmungen Gestalt an61. Der Staatsvolksverband bestimmt, inwieweit eine zumindest auch auf seinem Territorium wirksame Hoheitsmacht an andere Völker im demokra

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Zum Begriff des Kondominiums Jestaedt (Fn. 16), S. 77 ff. Siehe oben Kapitel 5 I. 3. d) = S. 215 und unten Kapitel 6 I. 1. d) bb) (1) = S. 265. 57 Siehe dazu auch Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 147 f.; Epping (Fn. 25), S. 358. 58 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. d) = S. 215 und unten Kapitel 6 I. 1. d) bb) (2) = S. 266; vgl. in diesem Kontext auch Rittberger, Weltregieren, in: Bruha / Nowak (Hrsg.), Europäische Union nach Nizza, 2003, S. 211 (219), der es als notwendige Bedingung einer ‚Weltdemokratie‘ ansieht, dass die sie konstituierenden Völker „selbst im Binnenverhältnis demokratisch verfasst sind“. 59 Siehe oben Kapitel 5 I. 1. d) = S. 195 und unten Kapitel 6 I. 1. d) bb) (3) = S. 267. 60 Siehe oben Kapitel 5 I. 2. d) = S. 204 und unten Kapitel 6 I. 1. d) bb) (4) = S. 270. 61 Vgl. Graser, „Demoikratie“?, in: Leviathan 2003, S. 345 (354 f.).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

tischen Sinn rückgebunden sein soll als an ihn selbst. Damit trifft er notwendig zugleich die Organisationsentscheidung62 darüber, ob ein bestimmter Hoheitsakt außer an das eine auch noch an das andere Volk im demokratischen Sinn rück­ gekoppelt sein soll. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Staatsvolksverband zwar entscheidet, ob ein Hoheitsakt an ein oder mehrere von ihm verschiedene Völker rückgebunden sein soll. Dies muss indes kein in dem Sinne bewusster Akt sein, dass er, wenn er diesbezügliche Entscheidungsmacht bei einem bestimmten Personenverband verankert, immer auch über dessen Volksqualität Bescheid wissen und diese gleichsam mitsetzen müsste. Vielmehr ist die Frage, ob und inwieweit ein Hoheitsakt nach dem Willen des Staatsvolksverbands auf andere Völker im demokratischen Sinn zurückführt, objektiv zu beantworten, nämlich in Anbetracht des vom Staatsvolksverband gebilligten institutionellen und prozeduralen Arrangements. Lässt dieses Völker im Sinne des hier entwickelten Strukturbegriffs erkennen, so kann und muss im Kontext demokratischer Zu­ rechenbarkeit und Legitimation selbst dann an diese angeknüpft werden, wenn sich das Staatsverbandsvolk bei der Errichtung des fraglichen Organisations- und Verfahrensregimes über die damit verbundene Neuschöpfung eines demokratischen Volksverbands nicht im Klaren war. Denn der Strukturbegriff von Volk im demokratischen Sinn ist dem Staatsverbandsvolk vorgegeben und steht nicht zu seiner Disposition.

(2) Betroffenheitsformel Die zweite, zentrale Voraussetzung begründet sich folgendermaßen: Erfassen die zusammenwirkenden demoi, jeweils für sich betrachtet, als zentrierter demos, alle Individuen, die von dem gemeinschaftlichen Hoheitsakt in vergleich­ barer Weise nachhaltig betroffen sind, und geschieht dies dergestalt, dass sonstige Individualbetroffene nicht autonomiewidrig von der Teilhabe an ihrer Machtentfaltung ausgeschlossen werden, so wahrt die aus der gemeinschaftlichen Hoheitsausübung isolierte Mitherrschaft der einzelnen Völker – jedenfalls unter dem hier in Rede stehenden Gesichtspunkt  – die Strukturgestalt von Volk im demokra­ tischen Sinn und lässt sich daher eventuell als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität begreifen63. Trägt freilich jedes der zusammenwirkenden Völker in dieser Hinsicht zur Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität bei, so lässt sich kein triftiger Grund finden, weshalb insofern nicht auch der gemeinschaftliche Hoheitsakt insgesamt als Ausdruck staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität gewertet werden dürfte. 62 Es handelt sich insofern im Wesentlichen um „Normierungen der Normsetzung“, vgl. Maus (Fn. 49), S. 113. 63 Dazu auch Emde ( Fn. 1), S. 421 für die Konstellation der Selbstverwaltung. Grundsätzlich anderer Ansicht Veil (Fn. 8), S. 90 ff. und Jestaedt (Fn. 16), S. 218.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Nun ist indes schon an früherer Stelle darauf hingewiesen worden64, dass ein demokratischer Staatsvolksverband dann, wenn er mit anderen Staatsverbänden eine völkerrechtlich verbindliche Regelung trifft und in Geltung erhält, typischerweise nicht alle Individuen erfasst, die von dieser Regelung vergleichbar nachhaltig betroffen werden. Eine solche Regelung kann dabei unter Umständen auch die Form eines Hoheitsakts annehmen, nämlich dann, wenn die Staaten die Regelung im Rahmen eines überstaatlichen Hoheitsverbands verabschieden. Zumindest in Hinblick darauf ist für die Konstellation des gemeinschaftlichen Erlasses von Hoheitsakten durch mehrere demoi festzuhalten, dass diese keineswegs immer alle von den Hoheitsakten in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen einschließen müssen. Allerdings kann auch dort, wo dies nicht der Fall ist, die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn gewahrt bleiben. Werden nämlich Hoheitsakte von einer demokratischen Völkergesamtheit, einem dezentrierten demos beherrscht, an deren Machtentfaltung alle vergleichbar nachhaltig von diesen Hoheitsakten betroffenen Individuen partizipieren, und bleiben nur diejenigen Individualbetroffenen von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen, deren Autonomieansprüche eine demokratische Beteiligung nicht zwingend erfordern, so wahrt die Völker­ gesamtheit – zumindest hinsichtlich der hier interessierenden Voraussetzung – die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn. Sie stellt sich insofern als dezentrierter demos dar und ihre Hoheitsakte können unter Umständen als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität qualifiziert werden. Entsprechendes gilt für die Situation, dass ein Hoheitsakt von einer Völker­ gesamtheit als dezentriertem demos und einem zentrierten demos gemeinsam beherrscht wird, sofern sich sowohl die Völkergesamtheit als auch der zentrierte demos, jeweils für sich betrachtet, aus allen in vergleichbarer Weise nachhaltig von dem Hoheitsakt betroffenen Individuen zusammensetzen und sonstige Individualbetroffene nicht autonomiewidrig von der Partizipation an ihrer respektiven (Teil-) Machtentfaltung ausgeschlossen werden. Insofern realisieren nämlich sowohl die Völkergesamtheit als auch der demos im Rahmen ihrer jeweiligen den Hoheitsakt betreffenden (Macht-)Beiträge staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität. Unter diesen Voraussetzungen aber fehlt, wie bereits gesagt, jedweder Anhaltspunkt dafür, dass der gemeinschaftlich beherrschte Hoheitsakt als solcher nicht seinerseits als Produkt staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität qualifiziert werden könnte.

(3) Autonomieansprüche der Partizipationsberufenen Die dritte Voraussetzung lenkt das Augenmerk darauf, dass die Autonomie­ ansprüche der Partizipationsbefugten gerade auch durch das Zusammenwirken mehrerer demoi beeinträchtigt sein können. Dies ist freilich nicht schon dann der

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Siehe oben Kapitel 5 II. 2. b) aa) = S. 245.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Fall, wenn die zusammenwirkenden demoi, jeweils für sich betrachtet, im Rahmen ihrer Mitherrschaft dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu vermitteln in der Lage sind. Denn ist dies der Fall, so genügt es, wenn in Hinblick auf die jeweilige Machtentfaltung der einzelnen kooperierenden Völker die Autonomieansprüche der insoweit Partizipationsbefugten gewahrt bleiben. Schließlich gibt es, wie nun schon mehrfach angesprochen65, keinen nachvollziehbaren Grund dafür, dass ein Hoheitsakt, der auf staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität vermittelnden Mitherrschaftsbeiträgen beruht, seinerseits allenfalls bei Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität qualifizierbar sein sollte. Dieser Sichtweise lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass einzelne Betroffene mitunter gleich über zwei Völker, andere wiederum nur über das eine Volk auf einen Hoheitsakt einzuwirken vermögen, wenn dieser von zwei demoi gemeinschaftlich beherrscht wird, die im Rahmen ihrer Mitherrschaftsmacht beide staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu erzeugen in der Lage sind. Dass es überhaupt zu diesem Phänomen mehrfacher Einflussnahmemöglichkeit kommen kann, hängt dabei mit Folgendem zusammen: Ein und demselben Hoheitsakt können zwei verschiedene Völker im Rahmen ihrer diesbezüglichen Mitentscheidungsmacht nur deshalb staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität vermitteln, weil sie jeweils alle von dem Hoheitsakt vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen erfassen. Freilich knüpfen die beiden Völker an einen unterschiedlichen Modus nachhaltiger Betroffenheit an, denn andernfalls könnten sie unter den gegebenen Bedingungen nicht verschieden sein. Wenn die zusammenwirkenden Völker aber an einen unterschiedlichen Betroffenheitsmodus anknüpfen, so versteht sich, weshalb einzelne Partizipationsbefugte über beide Völker an dem Hoheitsakt mitzuwirken berechtigt sein können – nämlich deshalb, weil dieser sie (und nicht die übrigen Partizipationsbefugten) in beiden Betroffenheitsmodi nachhaltig betrifft. Entgegen dem ersten Anschein verstößt die doppelte Einflussnahmemöglichkeit einiger Partizipationsbefugter daher nicht gegen den Autonomieanspruch, gegen die gleiche Freiheit der nur über ein Volk an der Hoheitsausübung beteiligten Partizipationsbefugten. Denn schließlich gehören die zweifach Partizipationsbefugten deshalb nicht nur dem einen Volk an, weil sie ungleich intensiver von dem gemeinschaftlich erlassenen Hoheitsakt betroffen werden als die übrigen Partizipationsbefugten; überdies gilt für den zweiten demos, dass sich seine Machtbetätigung mit den Autonomieansprüchen der nicht Partizipationsbefugten gerade verträgt66. Vor diesem Hintergrund kann es denn auch keine autonomiewidrige Ungleichbehandlung darstellen, wenn unter den geschilderten Umständen die einen Partizi­ pationsbefugten den von zusammenwirkenden Völkern erlassenen Hoheitsakt doppelt, die anderen hingegen nur einfach zu beeinflussen vermögen.

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Siehe insbesondere oben Kapitel 6 I. 1. d) aa) = S. 261. Dies folgt aus der zweiten Voraussetzung, siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) bb) (2) = S. 266.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Dass die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten gerade auch durch das Zusammenwirken mehrerer demoi beeinträchtigt sein können, ist indes für die Konstellationen anzunehmen, in denen die zusammenwirkenden demoi überhaupt nur als integrierender Bestandteil einer Völkergesamtheit, als Glieder eines dezentrierten demos staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu generieren in der Lage sind67. Dann nämlich verdanken die Partizipationsbefugten ihre Teilhabe­ befugnisse gerade nicht mehr dem Umstand, dass sie durch den gemeinschaft­ lichen Hoheitsakt in spezifisch anderer Weise betroffen werden als die Angehörigen eines anderen Volksverbands, der mit dem ihren zusammenwirkt. Vielmehr beruhen die Teilhabeansprüche darauf, dass die Partizipationsbefugten  – unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit  – durch die zumindest auch staatsgebietswirksame Hoheitsausübung der Völkergesamtheit, also des dezentrierten demos, vergleichbar nachhaltig betroffen sind. In dieser Konstellation können die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten nun nicht nur dadurch verletzt sein, dass sie schon im Rahmen ihres eigenen Volksverbands nicht gewährleistet sind. Sie können sich des Weiteren gerade auch durch das Zusammenwirken der Völker als beeinträchtigt erweisen, nämlich etwa dann, wenn dieses dergestalt organisiert ist, dass im Ergebnis der Einfluss, der den Angehörigen des einen Volks in Hinblick auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt zukommt, größer ist als der, der den Angehörigen der anderen Völker zusteht. Dann nämlich wird Gleiches ungleich behandelt, weil die Partizipationsbefugten trotz identischer Herrschaftsbetroffenheit in unterschiedlichem Maße zu Herrschaftsteilhabe befugt sind68. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang freilich, dass die Struktur­ gestalt von Volk im demokratischen Sinn lediglich voraussetzt, dass die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten hinreichend gewahrt werden. Dies bedeutet, dass nicht jede, sondern nur eine nicht mehr zu rechtfertigende Verkürzung politischer Freiheit und Gleichheit das Volk im demokratischen Sinn destruiert. Infolgedessen wird denn auch nicht notwendig und zwingend die  – dezentrierbare – Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn verfehlt, wenn die an der 67 Veranschaulichen lässt sich der damit angesprochene Zusammenhang an der spezifischen Stimmenverteilung im Bundesrat, mit der ein Mittelweg zwischen dem im Bundesstaat grundsätzlich geltenden Grundsatz der Gleichheit aller Gliedstaaten (Herzog, Zusammensetzung und Verfahren des Bundesrates, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 59 Rn. 1) und dem Grundsatz der Demokratie beschritten wird (siehe Korioth, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 51 Rn. 15), der keines der beiden Prinzipien vollumfänglich zur Entfaltung kommen lässt und infolgedessen auch den Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf nicht nur freie, sondern auch gleiche Machtteilhabe beeinträchtigt. 68 So fordert beispielsweise Rittberger (Fn. 58), S. 219 für die ‚Weltdemokratie‘, dass „auch bei einer territorial fragmentierten Repräsentation der ‚Völker‘ dieser Welt auf Weltebene dem demokratischen Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit jedes Individuums Rechnung getragen wird, also zumindest eine Stimmgewichtung für politische Gemeinschaften mit unterschiedlich großer Bevölkerung verfassungsmäßig verankert werden“ müsste.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Hoheitsmacht einer Völkergesamtheit partizipierenden Individualbetroffenen über ungleiche Einflusschancen verfügen69. Vielmehr besteht insofern zunächst einmal nur eine Rechtfertigungslast.

(4) Demokratische Normalität Die vierte Voraussetzung, die vorliegen muss, damit ein von mehreren Völkern gemeinsam erlassener beziehungsweise revidierbarer Hoheitsakt als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität gewertet werden kann, lässt sich ohne größeren Aufwand präzisieren: Wird ein Hoheitsakt von mehreren Völkern er­ lassen und in Geltung erhalten, die im Rahmen ihrer Mitherrschaftsmacht allesamt staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu vermitteln vermögen, so genügt es, wenn innerhalb jedes dieser demoi Verständigungsprozesse greifen, die realiter auf die dauerhafte Hervorbringung eines Volkswillens gerichtet sind. Eines volksübergreifenden Verständigungsprozesses bedarf es nicht, weil, wie gesagt70, ein Hoheitsakt nicht deshalb nicht in staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität erwächst, weil er sich in doppelter Hinsicht als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität darstellt. Können Völker hingegen nicht per se, sondern nur als integrierende Bestandteile einer Völkergesamtheit, als unverzichtbare Glieder eines dezentrierten demos, einem Hoheitsakte staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität vermitteln, so bedarf es einer demokratischen Normalität, in der die Verständigungs- und Willensvereinheitlichungsprozesse alle innerhalb der Völkergesamtheit zur Partizipation Befugten erfasst. Denn nur unter dieser Bedingung wahrt die gemeinschaftliche Hoheitsausübung die – potenziell polyzentrische – Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn.

cc) Eine Rekapitulation anhand praktischer Beispiele Damit ist im Einzelnen, wenn auch abstrakt klargestellt, unter welchen Voraussetzungen ein von mehreren demoi erlassener und in Geltung erhaltener Hoheitsakt als Ausdruck staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität und daher als exklusiv legitimiert anzusehen ist. Wann dies praktisch der Fall ist, soll nun im Folgenden anhand der sechs insofern relevanten Beispielskonstellationen ver­ anschaulicht werden.



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Als prototypisch kann insofern wieder auf das Beispiel der Stimmenspreizung im Bundesrat verwiesen werden – siehe oben Fn. 67. 70 Siehe eben Kapitel 6 I. 1. d) bb) (3) = S. 267.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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(1) Kondominium des Staatsvolksverbands und eines seiner Untervölker In den ersten beiden Beispielskonstellationen rührt ein Hoheitsakt vom Staatsvolksverband und einem seiner Untervölker her. Dabei kann es sich entweder um einen Hoheitsakt des Staatsvolksverbands handeln, in Hinblick auf den einem Untervolk Mitherrschaftsbefugnisse eingeräumt sind. Dieser ersten Beispielskonstellation begegnet man etwa dort, wo die Personalvertretungsgesetze eine volle, also uneingeschränkte Mitbestimmung des Personalrats beim Erlass beziehungsweise der Aufrechterhaltung von das Dienstpersonal spezifisch betreffenden Hoheitsakten vorsehen71. In Betracht kommen aber auch Hoheitsakte eines Untervolksverbands, deren Erlass beziehungsweise Fortbestand vom Willen des Staatsvolksverbands beziehungsweise  – genauer  – seiner Organe abhängt. Diese zweite Beispielskonstellation sieht sich dort verwirklicht, wo Personalentscheidungen eines Gliedstaats unter dem Vorbehalt bundesstaatlicher Zustimmung stehen72 oder aber gemeindliche Satzungen bestimmte gesetzliche Vorgaben des vom Landesvolk bestellten Landesparlaments einhalten müssen73. Und für beide Beispielskonstellationen lässt sich nun belegen, dass die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn gewahrt bleibt, obgleich zwei Völker für Erlass und Fortbestand des betreffenden Hoheitsakts verantwortlich zeichnen. So beruht das Zusammenwirken der Völker in beiden Fallgestaltungen auf einem vom Staatsvolk gebilligten Arrangement. Dabei kann die Billigung sowohl in Form eines Gesetzes erfolgen wie in der Personalratskonstellation74. Sie kann aber auch vom Staatsvolk als Träger des pouvoir constituant (constitué) herrühren,

71 Vgl. zum Beispiel §§ 75 Abs. 2 und 75 Abs. 3 Nr. 1–9, 11–13, 15 und 16 BPersVG. – Hier ist nicht der Ort, um die erheblichen Einschränkungen zu problematisieren, die das personalvertretungsrechtliche Mitbestimmungsrecht infolge des Beschlusses des BVerfG zum schleswig-holsteinischen Mitbestimmungsgesetz vom 11.12.1990 erfahren hat (E 93, 37 ff.). Wenn daher im Folgenden von Hoheitsakten die Rede ist, die nach den Personalvertretungsgesetzen der vollen personalrätlichen Mitbestimmung unterliegen, so sollen damit nur diejenigen angesprochen sein, die auch nach der Drei-Stufen-Theorie, die das BVerfG in der erwähnten Entscheidung entwickelt hat (dazu überblicksweise Eidenfeld, Recht der Arbeitnehmermit­ bestimmung, 2. Aufl. 2005, Rn. 20 ff.), der uneingeschränkten Mitbestimmung des Personalrats unterliegen dürfen. – Für die zumindest im Ergebnis zutreffende Kritik am bundesverfassungsgerichtlichen Beschluss zum schleswig-holsteinischen Mitbestimmungsgesetz wird insbesondere auf die Beiträge von Rinken, Demokratie und Hierarchie, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 125 ff. sowie Sterzel, Die Einheit von Grundrechtsidee und Demokratieprinzip des Grundgesetzes, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 156 ff. verwiesen. 72 Vgl. beispielsweise Art. 85 Abs. 2 Satz 3 GG. 73 Vgl. etwa § 74 LBO BW. 74 Dazu etwa Bryde, Personalvertretung in der parlamentarischen Demokratie, in: Becker / Bull / Seewald (Hrsg.), Festschrift für Thieme, 1993, S. 9 (21).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

wie es bei Zustimmungserfordernissen im bundesstaatlichen Verhältnis typischerweise der Fall sein dürfte75. Des Weiteren zeichnen sich diese Beispielskonstellationen dadurch aus, dass die zusammenwirkenden Völker, jeweils für sich betrachtet, alle Individuen an ihrer jeweiligen Mitherrschaft partizipieren lassen, die von dem gemeinschaft­ lichen Hoheitsakt in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffen werden, und dass sie sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Teilhabe an ihrer jeweiligen Machtausübung ausschließen, als sich dies mit deren Autonomieansprüchen verträgt; infolgedessen ist jedes der zusammenwirkenden Völker in der Lage, im Rahmen seiner Mitherrschaftsmacht staatsgebietseinheitliche Volks­ souveränität zu erzeugen. Im Fall des Personalvolks oder aber des Landes- beziehungsweise Gemeindevolks liegt es auf der Hand, dass an ihrer Mitherrschaft alle Individuen beteiligt sind, die von dem gemeinschaftlich erlassenen Hoheitsakt vergleichbar nachhaltig betroffen werden. Denn dass die fraglichen, der Zustimmung des Personalrats unterfallenden Hoheitsakte die Angehörigen des Dienstpersonalvolks in anderer Weise betreffen als den Rest der Staatsgebietsangehörigen leuchtet unmittelbar ein76. Entsprechendes gilt für die hier in Rede stehende Hoheitsakte der Bundesländer beziehungsweise Gemeinden, die schon wegen ihrer territorialen Begrenzung auf das Landesbeziehungsweise Gemeindegebiet die Landes- respektive Gemeindevolksangehörigen ungleich nachhaltiger betreffen als die übrigen Staatsgebietsangehörigen. Ferner ist der Umstand, dass die übrigen Staatsgebietsangehörigen an der Machtausübung der in Rede stehenden Untervölker nicht beteiligt sind, mit deren Autonomieansprüchen durchaus vereinbar. Dass die vom Personalvolk mit legitimierten Hoheitsakte die an einer ordnungsgemäßen Verwaltung interessierten Staatsangehörigen zumindest mittelbar betrifft, sie aber dennoch als solche von der Teilhabe an der personalrätlichen Teilmacht ausgeschlossen bleiben, verstößt zumindest solange nicht gegen ihre Autonomieansprüche, als die fraglichen Hoheitsakte durch demokratisches Zusammenwirken von Staatsverbands- und Personalvolk gesetzt werden können77. Dass die Mitherrschaft von Landes- beziehungs

75

Der erwähnte Art. 85 Abs. 2 Satz 3 GG war schon in der Ursprungsfassung des GG vom 23.05.1949 (BGBl. S. 1 [11]) enthalten und ist nicht erst durch den pouvoir constituant constitué in das Grundgesetz eingefügt worden. 76 Denn im Unterschied zum Rest der Staatsgebietsangehörigen sind die Angehörigen des Dienstpersonalvolks entweder selbst Adressaten der zustimmungspflichtigen Maßnahme (etwa im Fall einer Pausenvereinbarung [§ 75 Abs.  3 Nr.  3 BPersVG]) oder es besteht bei ihnen doch eine ungleich größere Wahrscheinlichkeit als bei jenen, dass sie in Zukunft Adressaten gleichsinniger Maßnahmen sein werden (zum Beispiel bei der Gewährung von Vorschüssen [§ 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BPersVG]). 77 Ausfluss des demokratischen Zusammenwirkens ist in diesem Falle auch die Bestellung des Vorsitzenden der Einigungsstelle (vgl. § 71 Abs. 1 Abs. 1 BPersVG). Die Institution der Eini­gungsstelle hat das BVerfG für die hier interessierenden Fälle (dazu oben Fn. 71) unbe­ anstandet gelassen (E 93,37 [70]).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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weise Gemeindevolksangehörigen in den in Rede stehenden Konstellationen nicht gegen die Autonomieansprüche etwa der sonstigen Staatsangehörigen verstößt, lässt sich mit der bereits erwähnten territorialen Begrenztheit der legitimations­ bedürftigen Hoheitsakte begründen. Auch vom Staatsvolksverband werden in den hier interessierenden Konstellationen alle Individuen eingeschlossen, die vergleichbar nachhaltig von den diversen gemeinschaftlichen Hoheitsakten betroffen werden; ebenso wird kein Staatsgebietsangehöriger autonomiewidrig von der Beteiligung an der insofern wirksam werden (Mit-)Herrschaftsmacht des Staatsvolksverbands ausgeschlossen78. So ist zum einen zu berücksichtigen, dass die gemeinschaftlichen Hoheitsakte eingebunden sind in das Ringen von Staatsvolksverbänden und Untervolksverbänden um ein gesamtstaatlich verantwortbares Politikkonzept und einen allgemeinen Interessenausgleich. Insofern betreffen die gemeinschaftlichen Hoheitsakte unterschiedslos alle Staatsangehörigen vergleichbar nachhaltig und zugleich in qualitativ anderer Weise als die übrigen Staatsgebietsangehörigen. Zum anderen ist es aus den bereits dargelegten Gründen nicht zu beanstanden, wenn Staatsgebietsangehörige ohne Staatsangehörigkeit nicht an der vom Staatsvolksverband ausgeübten Macht beteiligt werden79. Neben den Autonomieansprüchen der von der Teilhabe an der Mitherrschaft ausgeschlossenen Individualbetroffenen werden in den beiden Beispielskonstellationen auch die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten gewahrt. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Angehörigen der Personal-, Landesund Gemeindevölker in zweifacher Weise  – nämlich außerdem noch über die Mitherrschaft des Staatsvolksverbands  – auf die legitimationsbedürftigen Herrschaftsakte einzuwirken vermögen, wohingegen dies bei Angehörigen des Staatsverbandsvolks, die nicht zugleich Angehörige eines der genannten Untervölker sind, nicht der Fall ist. Denn schließlich werden die Untervolksangehörigen ungleich intensiver von dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt tangiert; damit ist die Mitherrschaft der Untervölker in Hinblick auf die Autonomieansprüche der von ihnen nicht erfassten Staatsgebietsangehörigen und auch in Hinblick auf die der lediglich im Rahmen des Staatsvolksverbands Partizipationsbefugten legitim. Vorauszusetzen ist des Weiteren, dass sowohl im Rahmen des jeweiligen Untervolks als auch in dem des Staatsverbandsvolks reale Verständigungsprozesse greifen. Nur soweit die Mitherrschaft des Personal-, Landes- und Gemeindevolks einerseits, die des Staatsvolks andererseits jeweils auf funktionierenden Willensbildungsprozessen beruht, kann sich die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität, die im Rahmen dieser Mitherrschaften an sich generiert werden kann, auch tatsächlich Bahn brechen. Dass Personal-, Landes- und Gemeindevölker auf derar

78

Anderer Ansicht offensichtlich Offe, Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung, in: ders., Herausforderungen der Demokratie, 2003, S. 62 (86). 79 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. c) cc) = S. 212.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

tigen Verständigungsprozessen beruhen, wird man – jedenfalls zum gegenwär­tigen Zeitpunkt – unterstellen können. Damit bestätigt sich, dass in den ersten beiden Beispielskonstellationen die gemeinschaftliche Herrschaft über die legitimationsbedürftigen Hoheitsakte mit der Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn harmoniert.

(2) Kondominium mehrerer Untervölker beziehungsweise Staatsverbandsvölker allein oder gemeinsam mit einem Obervolk Die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn kann nicht nur in den Fällen unbeeinträchtigt bleiben, in denen ein Staatsvolksverband Hoheitsakte zusammen mit einem einzelnen Untervolksverband erlässt beziehungsweise in Geltung erhält und dieser seinerseits alle von dem betreffenden Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffenen Staatsgebietsangehörigen erfasst. Die Struktur­ gestalt von Volk im demokratischen Sinn lässt sich vielmehr auch dort wahren, wo mehrere miteinander kooperierende Untervölker einen Hoheitsakt allein oder gemeinsam mit dem Staatsverbandsvolk erlassen beziehungsweise in Geltung erhalten80 und die Angehörigen der betreffenden Untervölker nicht in spezifisch anderer Weise von dem Hoheitsakt betroffen werden als die Angehörigen des Staats­verbandsvolks; sie kann fernerhin dann unbeeinträchtigt bleiben, wenn mehrere organisatorisch-prozedural miteinander verschränkte Staatsverbandsvölker allein oder zusammen mit einem überstaatlichen Obervolksverband supranationale Hoheitsakte beherrschen. Damit sind vier weitere Beispielskonstellationen benannt. Die dritte und vierte Beispielskonstellation werden etwa dort verwirklicht, wo in einem Bundesstaat bestimmte Personalentscheidungen in der alleinigen Verantwortung der Staatenkammer stehen81 oder aber Hoheitsakte des Bundesstaatsvolksverbands nur mit Zustimmung der Staatenkammer ergehen können82. Die fünfte und sechste Beispielskonstellation führen ins Herz der hier interessierenden Thematik. Denn sie betreffen den Fall, dass ein überstaatlicher Hoheitsakt deshalb in staatsgebiets­ einheitlicher Volkssouveränität erwächst, weil er entweder über die Herrschaftsmacht der in dem überstaatlichen Verband als Völkergesamtheit und mithin als dezentriertem demos zusammenwirkenden Staatsverbandsvölker demokratisch rückgebunden wird83 – oder aber über deren Mitherrschaftsmacht und zugleich die

80



81

So im Ergebnis auch Epping (Fn. 25), S. 357 f. Vgl. zum Beispiel Art. 52 Abs. 1 GG. 82 Vgl. beispielsweise Art. 80 Abs. 2 GG. 83 Diese Fallvariante entspricht – sofern bestimmte, noch zu erörtende demokratische Randbedingungen vorliegen – den Konstellationen, in denen die Hoheitsausübung auf europäischer Ebene nach wie vor stark intergouvernemental geprägt ist (dazu allgemein Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 4 Rn. 13).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

275

des sich aus den Angehörigen der Staatsverbandsvölker zusammensetzenden überstaatlichen (Ober-)Volks als zentriertem demos84. Auch in diesen Konstellationen basiert das Zusammenwirken der Völker auf einem vom Staat gebilligten Verfahrensregime. Dieses gründet in der dritten und vierten Beispielskonstellation auf der vom Volk als Träger des pouvoir consti­tuant gebilligten Verfassung, in der fünften und sechsten Beispielskonstellation auf der von den demokratischen pouvoirs constitués ausgesprochenen Zustimmung zu dem den überstaatlichen Hoheitsverband institutionalisierenden und organisierenden völkerrechtlichen Vertrag85. Fernerhin wird die Struktur von Volk im demokratischen Sinn auch insofern gewahrt, als danach vorauszusetzen ist, dass die zusammenwirkenden Völker  – jeweils für sich betrachtet als zentrierter demos beziehungsweise als Völker­ gesamtheit, also als dezentrierter demos – alle Individuen an ihrer Machtentfaltung partizipieren lassen, die von dem Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden, und sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Machtteilhabe ausschließen, als sich dies mit ihren Autonomieansprüchen verträgt. So erfüllen sowohl der Staatsvolksverband der vierten Beispielskonstellation als auch das überstaatliche Obervolk der sechsten Beispielskonstellation diese Strukturvoraussetzung in ihrer ersten Variante, also als jeweils zentrierter demos. Weshalb das Staatsverbandsvolk der vierten Beispielskonstellation alle von den gemeinschaftlich erlassenen Hoheitsakten vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen ein- und keine Staatsgebietsangehörigen autonomiewidrig von der demokratischen Teilhabe ausschließt, ist der Sache nach bereits begründet worden, als das Zusammenwirken eines Staatsverbandsvolks mit nur einem Untervolk er­ örtert wurde86. So ist zu berücksichtigen, dass sich die Hoheitsakte, die ein Staatsvolksverband gemeinsam mit der Gesamtheit seiner föderalen Untervölker erlässt, einschreiben in die von beiden Seiten als Ergebnis konfliktärer Prozesse kompromisshaft verfolgte gesamtstaatliche Politik und den insofern angestrebten gesamtstaatlichen Interessenausgleich. Begreift man die gemeinschaftlich erlassenen Hoheitsakte von diesem Gesamtzusammenhang her, so betreffen sie ungeachtet ihrer konkreten Ausgestaltung im Einzelfall alle Staatsangehörigen vergleichbar nachhaltig. Dass ein Ausschluss der übrigen Staatsgebietsangehörigen von der Machtentfaltung des Staatsvolksverbands zwar nicht zwingend geboten, unter 84 Diese Fallvariante lässt sich  – sofern bestimmte, noch zu diskutierende demokratische Voraussetzungen erfüllt sind – mit denjenigen Konstellationen vergleichen, in denen die Hoheitsausübung auf europäischer Ebene gemäß dem Modell doppelter Legitimationsbasis (siehe oben Kapitel 4 III. = S. 176) erfolgt und insoweit Elemente eines supranationalen Föderalismus (vgl. v. Bogdandys gleichnamiges Werk sowie Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 12 Rn. 25) aufweist. 85 Das Volk ist insofern Quell funktionell-institutioneller Legitimation – siehe dazu unten Kapitel 6 I. 2. c) = S. 303. 86 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (1) = S. 271.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Autonomiegesichtspunkten aber auch nicht zu beanstanden ist, duldet in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive keinen Zweifel87. Dasselbe gilt nun entsprechend für das Obervolk der sechsten Beispielskonstellation. Auch die Hoheitsakte des Obervolksverbands fügen sich in die vom Obervolk in Abstimmung mit der Gesamtheit der Untervölker abgestimmte Politik und in den gemeinschaftlich betriebenen Interessenausgleich ein. Vor diesem Hintergrund betreffen sie alle Angehörigen der im Obervolk verbundenen Staatsvölker vergleichbar nachhaltig. Zwar mögen auf den ersten Blick einzelne Hoheitsakte die eine Gruppe von Obervolksangehörigen vermeintlich stärker betreffen als eine andere Gruppe. Doch dadurch, dass die Hoheitsakte über die gemeinschaftlich bezweckte Politik und den gemeinschaftlich erstrebten Interessenausgleich mit­einander korrespondieren, einander wechselseitig bedingen, können alle Ange­ hörigen des Obervolksverbands als von jedem beliebigen Hoheitsakt des Obervolksverbands vergleichbar nachhaltig betroffen angesehen werden. Hinzu kommt, dass überhaupt nur die Obervolksangehörigen in dieser Weise nachhaltig betroffen werden. Denn wiewohl auch die auf dem Territorium des Obervolksverbands lebenden, diesem aber nicht zugehörigen Menschen gleichfalls durch die Hoheitsakte des Obervolksverbands betroffen werden, lässt sich die dadurch ausgelöste Betroffenheit durchaus von der unterscheiden, die für die Angehörigen des Obervolksverbands charakteristisch ist. Denn diese stehen in einem besonderen, im Wesentlichen über die nationale Staatsangehörigkeit vermittelten Näheverhältnis zum Obervolksverband und werden infolgedessen durch dessen  – zusammen mit seinen Untervolksverbänden getroffenen  – politische Richtungsentscheidungen beziehungsweise dem insoweit angestrebten gebiets­ universalen Interessenausgleich nachhaltiger betroffen als sonstige Gebietsangehörige. Insofern erweist es sich im Übrigen auch unter Autonomiegesichtspunkten als statthaft, wenn an der Mitherrschaft des Obervolksverbands nur dessen An­ gehörige partizipieren. Die Strukturanforderungen an die personelle Komposition eines herrschafts­ ausübenden demos werden des Weiteren auch insofern gewahrt, als in der dritten und vierten Beispielskonstellation die Gesamtheit der Landesvölker demokratische Allein- beziehungsweise Teilherrschaft ausübt, in der fünften und sechsten Beispielskonstellation die Gesamtheit der Staatsvölker als Allein- respektive Mitherrschaftsträgerin figuriert. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass die Angehörigen der Landes- beziehungsweise Staatsvölker in diesen vier Beispielskonstellationen typischerweise gerade nicht in spezifisch anderer Weise von den legitimationsbedürftigen Hoheitsakten betroffen werden als die übrigen Angehörigen ihres Obervolks, also die Angehörigen des Bundesstaatsvolks beziehungsweise des überstaatlichen Hoheitsverbands. Eine spezifische Betroffenheit der Angehörigen der einzelnen Landes- beziehungsweise Staatsvölker ergibt sich insbe­sondere

87

Siehe oben Kapitel 5 II. 2. b) bb) = S. 248.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

277

auch nicht daraus, dass die Mitherrschaftsbeiträge ihrer jeweiligen Volksverbände eingebunden sind in die von diesen jeweils generell betriebene Politik und in den von ihnen allgemein erstrebten Interessenausgleich. Denn insofern lässt sich lediglich feststellen, dass speziell die Mitherrschaftsbeiträge der Landes- beziehungsweise Staatsvolksverbände die eigenen Angehörigen vergleichbar nachhaltig und zugleich in spezifisch anderer Weise betreffen als sonstige Individualbetroffene. Für den gemeinsam erlassenen Hoheitsakt kann dies aber gerade nicht angenommen werden. Denn dieser ist Ausfluss einer  – in der dritten und fünften Beispielskonstellation von allen Untervölkern, in der vierten und sechsten Beispiels­ konstellation von der Gesamtheit der Untervölker zusammen mit dem respektiven Obervolksverband – gemeinsam verfolgten Politik und des von ihnen gemeinsam angestrebten Interessenausgleichs. Hierdurch aber werden die Angehörigen eines bestimmten Landes- beziehungsweise Staatsvolks nicht anders betroffen als die Angehörigen des Bundesstaatsvolks beziehungsweise des überstaatlichen Obervolks. Folglich kann die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn nicht schon insofern gewahrt sein, als die Landes- beziehungsweise Staatsvölker, jeweils für sich betrachtet, alle von dem gemeinschaftlich erlassenen Hoheitsakt vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen erfassen. Indes wirken die Landes- beziehungsweise Staatsvölker in den vier zu diskutierenden Beispielskonstellationen nicht isoliert voneinander, sondern organisatorisch und prozedural verschränkt als Völkergesamtheit, als dezentrierter demos. Dabei erfasst jedes der Landes- beziehungsweise Staatsvölker einen anderen Teil ihres jeweiligen Obervolks, sodass sie, zusammen genommen, die Gesamtheit der Obervolksangehörigen abbilden. Insofern umfasst die Völkergesamtheit als dezentrierter demos auch alle vom legitimationsbedürftigen Hoheitsakt vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen. Denn dass alle Angehörigen des Bundesvolks beziehungsweise des überstaatlichen Obervolks vergleichbar nachhaltig von den in Rede stehenden Hoheitsakten betroffen werden, wurde eben schon dar­ gelegt. Zugleich kann auch unterstellt werden, dass die Angehörigen der Landesbeziehungs­weise Staatsvölker in relativ stärkerem Maße von der Allein- beziehungsweise Mitherrschaft ihrer Völkergesamtheit tangiert werden als sonstige Individuen, die auf dem Territorium des Bundesstaats beziehungsweise des überstaatlichen Hoheitsverbands ansässig sind. Dies ergibt sich aus dem staatsangehörigkeitsrechtlichen oder zumindest staatsangehörigkeitsrechtlich vermittelten Näheverhältnis, in dem sie nicht nur zu ihrem jeweiligen Landes- beziehungsweise Staatsvolksverband, sondern ebenso auch zum Bundesstaatsvolk und zum überstaatlichen Obervolk stehen. Nicht zuletzt erweist sich diese an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Differenzierung aus den früher bereits dargelegten Gründen88 auch in Hinblick auf die Autonomieansprüche der von Herrschaftsteilhabe aus­ geschlossenen Gebietsangehörigen als durchaus vertretbar.

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Siehe oben Kapitel 5 I. 3. c) cc) = S. 212 und Kapitel 5 II. 2. b) bb) = S. 248.

278

Teil III: Volkssouveränität und EU

Nach allem wahrt in den vier in Rede stehenden Beispielskonstellationen (auch) die Gesamtheit der Untervölker, also die Gesamtheit der Landes- respektive Staatsverbandsvölker, die sich aus der  – dezentrierbaren  – Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinne ergebenden Anforderungen an den Betroffenheits­ modus. Jedenfalls in der dritten und vierten Beispielskonstellation dürften fernerhin auch die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten typischerweise in hinreichendem Umfang erfüllt sein. Denn im Rahmen der zeitgenössischen Demokratien wird man zum einen davon ausgehen können, dass sich sowohl die Partizipation an der Machtausübung der einzelnen Landesvölker als auch die Beteiligung an der Machtentfaltung des Bundesstaatsvolks nach den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit gestalten89. Zum anderen kann unterstellt werden, dass auch insofern, als die Landesvölker überhaupt nur als integrierende Bestandteile einer Völkergesamtheit, als dezentrierter demos, zur Erzeugung staatsgebietseinheit­ licher Volkssouveränität beizutragen vermögen, die Autonomieansprüche der insoweit Partizipationsbefugten nicht ungerechtfertigt beeinträchtigt werden. Zwar sind diese etwa dann zweifelsohne tangiert, wenn ein Herrschaftsakt des Bundes  – allein oder zumindest auch  – von der Staatenkammer herrührt, die Einflussmacht der einzelnen dort repräsentierten Länder aber nicht mit dem Bevölkerungsanteil der Landesvölker am Bundesvolk korreliert. Doch wird diese Autonomieeinbuße gemeinhin als in bundesstaatlicher Perspektive rechtfertigbar angesehen90. Ob die Autonomieansprüche indes auch in der fünften und sechsten Beispielskonstellation regelmäßig gewahrt sind, kann und soll an dieser Stelle noch nicht vertieft werden. Unstreitig dürfte insofern allenfalls sein, dass die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten insofern im Regelfall hinreichend gewahrt sind, als es um die Beteiligung an der Machtentfaltung der einzelnen Staats­ völker geht. Inwieweit die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten freilich dadurch beeinträchtigt werden, dass diese an der Allein- beziehungsweise Teil­herrschaft der Völkergesamtheit als dezentriertem demos oder an der Mitherrschaft des überstaatlichen zentrierten demos partizipieren, und inwieweit sich allfällige Beeinträchtigungen rechtfertigen lassen – diese Fragen führen ins Zentrum von ‚Demokratie und Europäischer Union‘91 und bedürfen daher der sorg­sameren Aufbereitung, bevor sie einer adäquaten Antwort zugeführt werden können.

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Für die Bundesrepublik Deutschland gewährleistet dies die Homogenitätsklausel Art. 28 Abs. 1 GG durch ihren Satz 2 (dazu etwa Bothe, in: Azzola u. a. [Bearb.], Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 28 Rn. 9). 90 Siehe dazu etwa Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 740. 91 Zu den EU-spezifischen Problemen demokratischer Gleichheit in Zusammenhang mit Rat und Europäischem Parlament vgl. vorerst nur Jochum / Petersson, Vom „Mitregieren“ zu demo­ kratischer Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Ver­ fassung, 2007, S. 151 (184 f.).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Ähnliches wie für die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten gilt hinsichtlich der Normalitätsvoraussetzungen von Volk im demokratischen Sinn. Auch insofern wird man für die dritte und vierte Beispielskonstellation festhalten können, dass die Normalitätsvoraussetzungen erfüllt sind. Denn die Herrschafts­ beiträge der – aus demokratischer Sicht – zur Völkergesamtheit, zum dezentrierten demos integrierten Landesstaatsvölker wie auch die des Bundesstaatsvolks beruhen auf demselben und jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch real funktionierenden Verständigungsprozess zwischen den – mit den Angehörigen der Völkergesamtheit personenidentischen  – Angehörigen des Bundesvolks92. Hinsichtlich der fünften und sechsten Beispielskonstellation ist es hingegen gerade fraglich und wird im Weiteren eingehend zu untersuchen sein, ob sich zwischen den Angehörigen einer Staatsvölkergesamtheit beziehungsweise zwischen den damit personenidentischen Angehörigen eines überstaatlichen demos überhaupt ein Verständigungsprozess entsponnen hat, der real zu demokratischer Willensvereinheitlichung und dezentrierter Volkswerdung führt93.

dd) Dogmatische Schlussbemerkung Wenn somit hinsichtlich der fünften und sechsten Beispielskonstellation zwei Problemkreise noch offen bleiben müssen, so ändert dies freilich nichts daran, dass die Voraussetzungen, unter denen ein von mehreren demoi erlassener Hoheitsakt Ausdruck staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität ist und daher als exklusiv legitimiert angesehen werden kann, im Licht der hier diskutierten Beispiele an Kontur und zugleich Plausibilität gewinnen konnten. Zweierlei bleibt in Hinblick auf die soeben entwickelte wirklichkeitswissenschaftliche Dogmatik exklusiver demokratischer Legitimation freilich noch anzusprechen. Zum einen ist daran zu erinnern, dass ein Hoheitsakt schon dann nicht mehr als Ausdruck staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität gewertet werden kann, wenn auch nur eine der vier insoweit herausgearbeiteten Voraussetzungen nicht erfüllt ist. Wirken daher beispielsweise demokratische Staatsvolksverbände mit undemokratisch organisierten Staaten intergouvernemental in einem überstaatlichen Hoheitsverband zusammen, so können die von dieser Organisation ausgehenden Hoheitsakte von vornherein nicht als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität gewertet werden. Dies nämlich würde voraussetzen, dass der überstaat­ liche Verband alle durch seine Herrschaftsakte vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen an seiner Machtausübung partizipieren lässt. Davon kann jedoch nicht die Rede sein, wenn nur ein Teil der Angehörigen jener Staatsvolksverbände, auf denen der überstaatliche Hoheitsverband gründet, über ihre jeweilige Regierung an der überstaatlichen Herrschaftsmacht beteiligt wird. Die Herrschafts

92

Zu dessen Gefährdungen allerdings Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (265 ff.). 93 Hierzu vorerst nur Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 36 ff.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

akte, die von einem dergestalt organisierten überstaatlichen Hoheitsverband ausgehen, können denn auch nicht als exklusiv demokratisch legitimiert qualifiziert werden. Zum anderen müssen die Überlegungen zur Exklusivität demokratischer Legitimation beim Zusammenwirken mehrerer demoi noch in die Gesamtdogmatik der wirklichkeitswissenschaftlich als Zurechnungsstruktur zu entfaltenden Volkssouveränität eingebettet werden. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die Volkssouveränität, wie gesagt, in mehrere Strukturdimensionen aufgegliedert werden soll, um wirklichkeitswissenschaftlich adäquat rekonstruiert werden zu können94. Die Frage nach der Exklusivität demokratischer Legitimation bezieht sich in dieser dogmatischen Perspektive auf die Vertikaldimension von Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang. Freilich nimmt die Antwort, die auf diese Frage geliefert wurde, auch schon andere Dimensionen von Volkssouveränität in Bezug. Denn die dritte Voraussetzung dafür, dass ein von mehreren Völkern beherrschter Herrschaftsakt als Ausdruck staats­gebietseinheitlicher Volkssouveränität und mithin als exklusiv legitimiert qualifiziert werden kann95, betrifft die Horizontaldimension von Volkssouveränität, nämlich die hier sogenannten staats- und gesellschaftsorganistorischen Voraussetzungen von Volkssouveränität96. Entsprechendes gilt für die vierte Voraussetzung97. Sie betrifft die hier als Normalität demokratischer Volkswerdung charakterisierte Tiefendimension von Volkssouveränität98. Die vorstehenden Überlegungen zur Exklusivität dezisionärer beziehungsweise revisionärer demokra­ tischer Legitimation vermengen insofern die verschiedenen Strukturdimensionen von Volkssouveränität. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, wenn die Frage, ob ein von mehreren demoi erlassener Hoheitsakt exklusiv dezisionär legitimiert ist, in dogmatischer Perspektive allein danach beurteilt wird, ob die unterschiedlichen Völker erstens nach Maßgabe von durch den Staatsvolksverband gebilligten Organisationsbestimmungen zusammenwirken und ob sie zweitens  – jeweils für sich betrachtet als zentrierter demos oder doch zumindest als Völkergesamtheit, als dezen­ trierter demos – alle Individuen an ihrer Machtentfaltung beteiligen, die von dem gemeinschaftlich erlassenen Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden und sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Machtteilhabe ausschließen, als sich dies mit ihren Autonomieansprüchen verträgt. Insofern ist nämlich lediglich die Vertikaldimension von Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang an­ gesprochen. Zwar hat dies zur Konsequenz, dass in dogmatischer Hinsicht ein von

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95



Siehe oben Kapitel 6 = S. 249. Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) bb) (3) = S. 267. 96 Dazu unten Kapitel 6 III. = S. 327. 97 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) bb) (4) = S. 270. 98 Dazu unten Kapitel 6 IV. = S. 353.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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mehreren Völkern erlassener beziehungsweise in Geltung erhaltener Herrschaftsakt bereits dann als in dezisionärer sowie revisionärer Hinsicht exklusiv demokratisch legitimiert angesehen wird, wenn an sich noch nicht alle diesbezüglichen Voraussetzungen erfüllt sind. Doch erweist es sich in Hinblick auf die gebotene dogmatische Abschichtung als zweckmäßig, wenn die beiden übrigen notwen­ digen Voraussetzungen, die anderen Strukturdimensionen von Volkssouveränität unterfallen, erst in dem dafür vorgesehen dogmatischen Kontext diskutiert werden. Dieser dogmatische Kniff erscheint nicht zuletzt auch deshalb als legitim, weil man nicht nur bei der Rückbindung von Herrschaftsakten an mehrere demoi, sondern ebenso bei der Rückbindung von Herrschaftsakten an einen einzelnen demos eine exklusive dezisionäre beziehungsweise revisionäre Legitimation letztlich nur dann unterstellen kann, wenn die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten hinreichend gewahrt und die Volksherrschaft keine kontrafaktische, sondern eine an reale Verständigungsprozesse anknüpfende ist. Denn ist dies nicht der Fall, so ist auch der allein entscheidungs- und revisionsbefugte Personenverband kein Volk im demokratischen Sinn und kann füglich auch keine exklusive dezisionäre respektive revisionäre demokratische Legitimation vermitteln. Es ist also keine systemwidrige Besonderheit, sondern fügt sich durchaus in die Gesamtdogmatik von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur ein, wenn bei von mehreren Volks­ verbänden beherrschten Hoheitsakten eine exklusive demokratische Legitimation in dogmatischer Hinsicht nicht erst bei Vorliegen aller insofern maßgeblichen Voraussetzungen bejaht wird. Es lässt sich damit folgendes Resümee ziehen: Zurechenbarkeit durch exklusiv vom Volk bewirkte Legitimation bedeutet und fordert, dass ein Hoheitsakt Ausdruck ausschließlicher demokratischer Dezisions- und Revisionsmacht sein muss. Ein solcher Zurechnungszusammenhang ist zu bejahen, wenn der betreffende Hoheitsakt entweder von einem einzigen Volk oder – in dezentrierter Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität  – von mehreren Völkern gemeinsam beherrscht wird. Dabei kann dogmatisch bereits dann davon ausgegangen werden, dass ein von mehreren Völker entschiedener Hoheitsakt exklusiv dezisionär und revisionäre legitimiert ist, wenn das Zusammenwirken der Völker in puncto Legitimation des Kooperationsregimes und hinsichtlich des Kreises der Partizipationsbefugten die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn wahrt.

2. Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen Zu bedenken ist nun fernerhin, dass sich in den Flächenstaaten unserer Tage die für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität prägende fortdauernde Rück­ bindung hoheitlicher Macht an den aktuellen Willen des Volks, also die exklusivperpetuelle demokratische Legitimation von Hoheitsakten, nicht dergestalt verwirklichen lässt, dass die einzelnen Akte öffentlicher Gewalt unmittelbar vom demos entschieden werden und unmittelbar durch ihn auch wieder abgeändert

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werden können99. Vielmehr bedarf es intermediärer Organe, die die demokratische Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht konkret ausüben und dadurch die Volksherrschaft im Einzelfall durchsetzen. Anders formuliert: In aller Regel ist nicht das Volk, sondern sind dessen Organe – als Einzelorgan, als Kollegialorgan oder auch als Organmehrheit100 – institutioneller Träger demokratischer Dezisionsbeziehungsweise Revisionsmacht; nur in Ausnahmefällen ist das Volk zugleich demokratisches Subjekt101 und institutioneller Träger demokratischer Dezisionsrespektive Revisionsmacht. Demnach beruht die Zurechnung hoheitlicher Gewalt heutzutage ganz überwiegend auf einer mittelbar-indirekten Rückbindung der Hoheits­akte an das Volk. In Hinblick auf den mitunter vielstufigen legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang lassen sich dabei zwei spezifische Formen der Legitimation unterscheiden102. Ein demokratischer Ableitungszusammenhang kann unter den Bedingungen mittelbarer Demokratie erstens dadurch begründet werden, dass die Hoheitsentscheidung von solchen Amtswaltern getroffen wird beziehungsweise wieder abgeändert werden kann, die ihre entsprechenden Herrschafts­ befugnisse entweder unmittelbar oder aber über eine ununterbrochene Kette individueller Berufungsakte mittelbar vom Volk herleiten. Dies ist als personelle demokratische Legitimation zu bezeichnen103. Zweitens kann ein Legitimationszusammenhang dadurch begründet werden, dass die dezisionäre beziehungsweise revisionäre Rückkoppelung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts auf sachlichinhaltlichen Wertungen beruht, die entweder unmittelbar das Volk selbst getroffen hat oder die den Willen höherrangiger, ihrerseits demokratisch berufener Amts-

99 Vgl. etwa Hofmann, Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demo­ kratie, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 129 (136 f.); Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 3 (6). 100 Zu monokratischen und Kollegialorganen vgl. nur Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 14 IV. 101 In Anknüpfung an Heller (Fn.  14), S.  358 wird an dieser Stelle wie auch andernorts sorgsam zwischen dem demokratischen Subjekt, dem Legitimationssubjekt, dem Subjekt der Volkssouveränität einerseits und dem Subjekt der Souveränität tout court unterschieden. Während mit dem Subjekt der Souveränität allein der Staat als auf seinem Gebiet höchste Norm­ setzungsgewalt und Inhaber des Gewaltmonopols angesprochen ist (anders aus legitimitätstheoretischer Sicht Petersson / Schröder, Souveränität und politische Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 103 [145]), meint Subjekt in den übrigen Konstellationen das Volk im demokratischen Sinn, den – zentrierten oder auch dezentrierten – demos. In Bezug auf die Staatssouveränität ist das Volk nicht Subjekt, sondern (allenfalls) Träger. Dazu bereits oben Kapitel 2 II. 2. c) aa) = S. 145. 102 So zum Beispiel Preuß, Regieren ohne Demos, in: Bruha / Nowak (Hrsg.) Die Europäische Union nach Nizza, 2003, 49 (53 f.); Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grund­gesetz, 1986, S. 105; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 377. Kritisch Kotzur, Die Demokratiedebatte in der deutschen Verfassungsrechtslehre, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 351 (380 ff.). 103 Vgl. beispielsweise Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 294.

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walter wiedergeben. Insofern lässt sich von materieller demokratischer Legitimation sprechen104. Im Folgenden wird nun zunächst en détail dargetan, in welcher Weise durch personelle und materielle Legitimationsbeiträge zum einen zur dezisionären, zum anderen zur revisionären Legitimation von Hoheitsakten beigetragen wird; dabei soll auch auf das spezifische Verhältnis eingegangen werden, in dem personelle und materielle Legitimation im Rahmen dezisionärer beziehungsweise revisionärer Legitimation zueinander stehen. Im Weiteren wird zu erläutern sein, weshalb – im Unterschied zur personellen und materiellen Legitimation – die in der Literatur so genannte funktionell-institutionelle Legitimation ihrerseits nicht zu dem fortdauernd demokratievermittelnden Ableitungszusammenhang beiträgt, durch den Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur Gestalt annimmt. Dass die dezisionäre sowie revisionäre Rückbindung von Hoheitsakten an den demokratischen Volkswillen ausschließlich in den spezifischen Formen personeller und materieller Legitimation erfolgt, ist dabei insbesondere auch für jene komplexeren Fälle festzuhalten, in denen entweder mehrere in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität kooperierende demoi als Legitimationssubjekt demokratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht fungieren oder aber eine Organmehrheit respektive ein Kollegialorgan institutioneller Träger demokratischer Dezi­ sions- beziehungsweise Revisionsmacht ist.

a) Dezisionäre Legitimation und spezifische Legitimationsformen Dezisionäre Legitimation beruht auf der Zurechenbarkeit einer hoheitlichen Erlassentscheidung zum Volk. Dass der Erlass eines Hoheitsakts auch im ‚Fuchsbau‘ repräsentativer Demokratie an den Volkswillen rückgekoppelt bleibt, verdankt sich, wie erwähnt, personellen und materiellen Legitimationsbeiträgen.

aa) Dezisionäre Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen aufgrund personeller demokratischer Legitimation Die Annahme, Hoheitsakte könnten aufgrund personeller demokratischer Legitimation an den Volkswillen rückgebunden werden, erweist sich in dreierlei Richtung als erklärungsbedürftig: Worauf bezieht sich die demokratische Legitimation, auf den Entscheider oder dessen Entscheidung? Wie ist die Wirkweise personeller demokratischer Legitimation? Weshalb vermag personelle demokratische Legitimation gerade bei der dezisionären Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen zu verfangen? 104 Vgl. etwa Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratieund Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S. 33 ff.

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(1) Worauf bezieht sich die demokratische Legitimation, auf den Entscheider oder dessen Entscheidung? Mit personeller demokratischer Legitimation kann zweierlei gemeint sein, wobei die beiden Bedeutungsgehalte der Sache nach eng miteinander verwandt sind. So lässt sich zum einen von der personellen demokratischen Legitimation eines Amtsträgers sprechen. Personelle demokratische Legitimation besagt demnach, dass ein Amtswalter seine Amtsbefugnisse der demokratischen Allgemeinheit verdankt105. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass der Amtswalter unmittelbar vom Volk in sein Amt eingesetzt wurde; er kann aber auch durch Gremien oder hierarchisch übergeordnete Amtswalter bestellt worden sein, die ihrerseits durch die Allgemeinheit oder durch von ihr eingesetzte Amtsträger berufen wurden106. Zum anderen kann von personeller demokratischer Legitimation auch in Bezug auf einen zu legitimierenden Hoheitsakt die Rede sein107. Unter dem Gesichtspunkt der dezisionären Rückbindung eines Hoheitsakts an das Volk wächst diesem personelle demokratische Legitimation dadurch zu, dass die demokratische Allgemeinheit selbst über den Erlass eines Hoheitsakts entscheidet oder aber un­ mittelbar beziehungsweise mittelbar vom demos berufene Amtsträger die betreffende Hoheitsmaßnahme in Geltung setzen. Die beiden Verständnisse von personeller demokratischer Legitimation sind einander in der Sache sehr nah, weil in beiden Fällen aus der spezifischen Beziehung eines Amtsträgers zum Volk Rückschlüsse auf die demokratische Zurechenbarkeit der von ihm organschaftlich ausgeübten Hoheitsgewalt gezogen werden. Tendenziell kongruieren die beiden Konzeptionen von personeller demokratischer Legitimation somit – nur dass in dem einen Fall die Rückbindung eines mit Hoheits­ befugnissen betrauten Amtsträger an den demos im Vordergrund steht, während im anderen Fall entscheidend auf die Rückbindung des von diesem Amtsträger entschiedenen Hoheitsakts an die demokratische Allgemeinheit abgestellt wird. Gleichwohl stellt sich das zuletzt skizzierte Verständnis von personeller demokratischer Legitimation als das präzisere dar. Denn für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität kommt es allein auf die Rückbindung der Herrschaftsausübung und damit die jedes einzelnen Herrschaftsakts an das Volk an108. Dezisionäre demokratische Legitimation setzt insofern voraus, dass – soweit die Entscheidung über den Erlass eines Hoheitsakts nicht durch sachlich-inhaltliche Vorgaben an den Volkswillen rückgebunden ist – es über den Berufungszusammenhang, in dem der Entscheider steht, zu einer demokratischen Rückkoppelung kommt. In 105 Vgl. zum Beispiel Holzmann, Das Kooperationsprinzip, 2006, S. 76 f.; Freitag, Das Be­ leihungsrechtsverhältnis, 2005; S.  86; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 443; Epping (Fn. 25), S. 354. 106 Schmidt-Aßmann (Fn. 30), S. 360. 107 So beispielsweise Emde (Fn. 1), S. 332. 108 Zutreffend hierzu Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 130 f.

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demokratietheoretischer Perspektive steht damit die personelle Legitimation der Erlassentscheidung und nicht die personelle demokratische Legitimation des Entscheiders im Zentrum des dogmatischen Interesses109. Das begriffliche Konzept einer personellen demokratischen Legitimation von Amtsträgern verdunkelt diese Zusammenhänge. Hinzu tritt, dass ein auf die Bestellung von Amtsträgern abhebendes Verständnis personeller demokratischer Legitimation die – unmittelbare – personelle demokratische Legitimation von Volksentscheiden ausblendet. In einer Zeit, da überall in Europa über eine Revitalisierung der direkten Demokratie gesprochen wird110, erweist sich dies als misslich. Zutreffender erscheint es daher, bei der wirklichkeitswissenschaftlichen Entfaltung der Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur statt auf die personelle demokratische Legitimation des Entscheiders auf die der Entscheidung abzustellen.

(2) Wie ist die Wirkweise personeller demokratischer Legitimation? Die Frage nach dem richtigen Bezugsobjekt der personellen demokratischen Legitimation benennt freilich nicht das wirklich zentrale Problem, das sich bei dieser Legitimationsart stellt. Klärungsbedürftig ist vielmehr zunächst und zuvorderst, weshalb der Umstand, dass jemand unmittelbar oder mittelbar vom Volk in sein Amt berufen worden ist, überhaupt zur Rückbindung von Hoheitsakten an den Volkswillen beizutragen vermag111. Gewiss klingt es vertraut und wirkt vom Bildlichen her auch plausibel, dass ein Hoheitsakt personell vom demos her legitimiert ist, sofern ein vom Volk unmittelbar oder mittelbar berufener Amtsträger ihn erlassen hat. Bei nüchterner Betrachtung erhebt sich allerdings unweigerlich die Frage, weshalb eigentlich davon auszugehen ist, dass jede einzelne Entscheidung eines Amtswalters auch dort tendenziell an den Volkswillen rückgekoppelt bleibt, wo dieser nicht bestimmten, unmittelbar auf den Volkswillen rückführbaren Sachvorgaben folgt. So mag zwar das in einem Berufungsakt zum Ausdruck gelangende persönliche Zutrauen des Volkes112 durchaus in einem allgemein sozio 109 In diesem Sinne auch Jestaedt (Fn. 16), S. 269: „Genaugenommen bedarf nämlich nicht die Person des Entscheiders der demokratischen Legitimation, sondern ausschließlich der ihm zuwachsende Entscheidungsanteil als selbständiges Element der Ausübung von Staatsgewalt.“ 110 Vgl. auch Leisner, Demokratie, 1998, S. 30. 111 Rousseau, Du Contrat Social (Burgelin [Hrsg.]), 1992, S. 124 (Livre III / Chapitre XV) hat hier ein für allemal den demokratietheoretischen Stachel gesetzt: „Quoi qu’il en soit, à l’instant qu’un peuple se donne des représentants, il n’est plus libre; il n’est plus.“ Zur Aktualität Rousseaus vgl. nur Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 11 ff. 112 Dazu auch Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, 1973, S.  13: „Vertrauen ist die seelische Grundlage der repräsentativen Demokratie, und alle politischen Auseinandersetzungen in ihr sind weniger Kampf um Willen und Macht als um Vertrauen.“

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logischen Sinne legitimierend wirken. Eine spezifisch demokratische Legitimation kann durch ein solches „Wahlkönigtum“ indes nicht ins Werk gesetzt werden. Denn für die demokratisierte Vorstellung von Volkssouveränität reicht es, wie bereits erwähnt113, nicht aus, dass ein Träger von Hoheitsgewalt seine Entscheidungsmacht generell vom Volk herleitet. Insofern bestätigt sich denn auch nochmals, dass dasjenige Konzept, das auf die personelle demokratische Legitimation des Amtsträgers und nicht auf die des von ihm beherrschten Hoheitsakts abstellt, wenig glücklich ist. Denn wer von der personellen demokratischen Legitimation des Amtsträgers spricht, erweckt damit schon rein sprachlich den Eindruck, als ob es insofern entscheidend um die Bevollmächtigung des Amtsträgers durch das Volk ginge, als ob bereits die Übertragung bestimmter Voll-Machten vom Volk auf einen Amtsträger der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität hinreichend Rechnung trüge. Dies aber ist gerade nicht der Fall. Legitimation bedeutet im demokratischen Kontext nicht Ermächtigung bestimmter Personen zum Handeln im Namen des Volkes, sondern bezeichnet die ins Werk gesetzte Rückbindung der hoheitlichen Machtentfaltung insgesamt und damit jedes einzelnen Hoheitsakts an den allein maßgeblichen Volkswillen114. Vor diesem Hintergrund erweist es sich somit in der Tat als begründungs­ bedürftig, weshalb ein Hoheitsakt, nur weil er von einem direkt oder indirekt volks­berufenen Amtsträger determiniert wurde, dem Volk und seinem politischen Willen zurechenbar, mithin also personell demokratisch legitimiert sein soll. Die Antwort auf die Frage nach der demokratischen Wirkweise personeller Legitimation hat bei der Spezifität demokratischer Berufungsakte anzusetzen. Diese bedeuten nicht nur Übertragung einer bestimmten Machtposition, sondern stellen sich ihrem Wesen nach als Übertragung eines Amtes dar115. Amt indes bedeutet seiner etymologischen Wurzel nach Dienst116. In dieser Perspektive stellt sich die Amtsübertragung als Indienstnahme des Amtswalters dar. Dem entspricht, dass sich Amt sprachgebräuchlich mit Pflicht assoziiert117, sich die Amtsüber­ tragung folglich als Inpflichtnahme präsentiert118. Diese semantischen Zusammenhänge spiegeln sich auch durchaus in der sozialen Wirklichkeit wider. Dass jemand mit der Berufung in ein Amt zur pflichtgemäßen Erfüllung des ihm von seinem Dienstherrn zugewiesenen Auftrags angehalten wird, ist nicht nur Aus 113

Siehe oben Kapitel 6 I. = S. 252. Stein (Fn. 2), Rn. 13. 115 Grundlegend in diesem Zusammenhang immer noch Hennis (Fn. 112), S. 9 ff. 116 Dreier, Artikel ‚Amt, öffentlich-rechtlich‘ Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 128; siehe ferner auch Gröschner, Die Republik, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 62. 117 Und zum Begriff der ‚Amtspflicht‘ führt (vgl. § 839 BGB). Siehe auch Gröschner (Fn. 116), Rn. 63. 118 Zur Pflichtgebundenheit der staatlichen Ämter Morlok (Fn. 32), S. 572 f. 114

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druck einer bestimmten Normativität, sondern zugleich ein der Normalität eingeschriebenes Phänomen. Denn durch die individuelle Berufung entsteht – (sozial-) psychologisch vermittelt  – ein Loyalitätszusammenhang119, der sich verhaltenssteuernd auszuwirken vermag. Die individuell in ihr Amt Berufenen werden mit anderen Worten nicht nur berufsethisch verpflichtet, sondern zugleich tatsächlich motiviert, auftragsgemäß zu handeln. Wenn sich mit der Amtsübertragung indes ein real wirksamer Impuls für den in dieser Weise berufenen Amtswalter verbindet, den ihm übertragenen Auftrag pflichtgemäß zu erfüllen, kann im Rahmen des spezifischen Amtsauftrags zur Rückkoppelung des Amtswalterhandelns an den Volkswillen beigetragen werden120. So kann die Berufung eines Amtsträgers mit einem Repräsentationsauftrag verbunden sein: Der Amtsträger wird angehalten, in seinen Entscheidungen zur Vergegenwärtigung des Volkswillens beizutragen121. Personelle demokratische Legitimation nimmt in diesem Fall dadurch Gestalt an, dass der Amtsträger auch insoweit, als die von ihm zu treffende Entscheidung nicht abschließend vor­bestimmt ist, tendenziell an den Volkswillen rückgebunden bleibt, weil er durch seinen  – ihm im Berufungsakt übertragenen  – amtsmäßigen Repräsentationsauftrag dazu an­geregt wird122. Ein solche personelle Legitimationszusammenhänge bewirkender Repräsentationsauftrag obliegt freilich nach richtiger Auffassung nur einer vergleichsweise kleinen Zahl von Amtswaltern. Bei der Mehrzahl der Amtswalter handelt es sich nämlich nicht um solche magistratischen Repräsentanten. Die meisten Beamten und sonstigen Angehörigen des öffentlichen Dienstes haben indes gerade nicht den Auftrag, den Volkswillen zu vergegenwärtigen123. Ihnen kommt stattdessen der Auftrag zu, den Volkswillen zu vollziehen, wie er durch die ihnen vorgesetzten Amtswalter an sie weitergegeben und wie er insbesondere durch die ihnen vor­gesetzten magistratischen Repräsentanten vergegenwärtigt wird124. Indem 119

Dazu auch Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 192. Skeptisch Blanke, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 34 (48). 121 Ein zeitgemäßes Verständnis von Repräsentation vertreten etwa Fleiner / Fleiner (Fn. 6), S. 399 oder Haverkate (Fn. 102), 1992, S. 371 ff. 122 Siehe dazu auch Sartori (Fn. 7), S. 39, der deutlich macht, dass eine Wahl an sich noch keinen Repräsentanten schaffe; entscheidend sei vielmehr die normative und sanktionierbare Erwartung, dass der Gewählte der Wählerschaft gegenüber aufgeschlossen und ihr verantwortlich ist. 123 Heller, Das Berufsbeamtentum in der deutschen Demokratie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 379 (388). 124 Vgl. im Gegensatz dazu die vordemokratische Konzeption von Berufsbeamtentum bei Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S.  145 (159 ff.). Hier wird das Berufsbeamtentum in obrigkeitsstaat­ licher Tradition als „Element neutraler Staatlichkeit“ und Garant der „Versachlichung“ gegen „die bloße Mehrheit des Parlaments“ und den „Kompromiß der jeweils mächtigen Sozial­ faktoren“ in Stellung gebracht. 120

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sie durch die Amtsübertragung verpflichtet werden, diesen Vollzugs­auftrag zu er­füllen, bleiben sie auch in ihren Ermessensentscheidungen tendenziell an den Volkswillen rückgebunden und wächst diesen personelle demokratische Legitimation zu. Es handelt sich freilich nicht um eine im engeren Sinne originäre, sondern um eine sozusagen derivative personelle demokratische Legitimation. Der Schlüssel zum Verständnis der personellen demokratischen Legitimation liegt nach alldem beim Phänomen der Amtsübertragung. Von dorther erschließt sich dreierlei. Erstens offenbart sich die spezifische Bewirkungs- und Wirkweise mittelbarer personeller demokratischer Legitimation: Ein Hoheitsakt erweist sich deshalb als mittelbar personell demokratisch legitimiert, weil sich der ihn erlassende Amtswalter aufgrund der seinerzeitigen Amtsübertragung zwar nicht gezwungen, wohl aber angehalten und angeregt sieht, entsprechend seinem Amtsauftrag zu handeln. In Hinblick darauf, dass die mittelbare personelle Legitimation eines Hoheitsakts somit letztlich an die Übertragung eines Amts auf den Entscheider anknüpft, lässt sich ihr Bewirkungsmodus als aktiv-punktuell beschreiben. Denn sie leitet sich aus einem zu einem definiten Zeitpunkt vorgenommenen positiven Tun ab. Der modus operandi der durch die Amtsübertragung bewirkten mittelbaren personellen Legitimation ist als inzitativ charakterisierbar. Denn dass ein Hoheitsakt demokratisch rückgebunden wird, weil der Amtswalter seinerzeit in ein bestimmtes Amt berufen wurde, ist auf die davon fortdauernd ausgehende Anregung zu amtspflichtgemäßem Verhalten zurückzuführen. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass sich die, wie gesagt, aktiv-punktuell bewirkte personelle demokratische Legitimation typischerweise als nicht rechtszwangsbewehrt erweist. Wird nämlich der Amtsträger durch seine individuelle Berufung nicht angeregt, amtspflichtgemäß zu handeln, so vermag dies, allein für sich betrachtet, in der Regel keine unmittelbaren Rechtsfolgen auszulösen. Dem widerspricht nicht, dass Amtsträger beziehungsweise ihre Entscheidungen rechtszwangsbewehrter Kontrolle durch übergeordnete Amtsträger oder das Volk selbst unterliegen. Denn der insofern in Rede stehende Rechtszwang effektuiert nicht die mit dem Berufungsakt verbundenen Anregungen, sondern die von den demokratischen Kontrollmöglichkeiten herrührenden Inzitationen. Hierzwischen muss in wirklichkeitswissenschaftlich systematisierender Perspektive schon deshalb unterschieden werden, weil nicht nur individuell vom Volk oder seinen Amtswaltern Berufene, sondern etwa auch Beliehene125 oder sonstige an der Herrschaftsausübung beteiligte Private126, die von nicht volksförmigen gesellschaftlichen Gruppen be-

125 Zu den Beliehenen vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16.  Aufl. 2006, § 23 Rn. 56 ff. und Pieper, Aufsicht, 2006, S. 382 ff. sowie eingehend Freitag (Fn. 105). 126 Zum Phänomen der Privatisierung vgl. nur Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 96 Rn. 37 ff. sowie – global informiert und mit nuancierter Kritik – v. Weizsäcker / Young / Finger (Hrsg.), Grenzen der Privatisierung, 2006.

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nannt wurden127, rechtszwangsbewehrten Kontrolle durch Träger demokratischer Herrschaftsmacht ausgesetzt sein können. Die durch die rechtszwangsbewehrte Kontrollmöglichkeit bewirkten Anregungen begründen daher einen eigenen, vom personellen zu trennenden Legitimationsstrang. Er wird an späterer Stelle als materiell-kontrollative Legitimation beschrieben128. Vor diesem Hintergrund zeigt sich drittens, dass die an die Amtsübertragung anknüpfende personelle Legitimation, für sich betrachtet, eine letztlich nur sehr schwache, gefährdete Rückkoppelung an den Volkswillen bewirkt. Denn auch wenn der Amtswalter durch die Amtsübertragung angeregt wird, in der eigenen Entscheidung dem Volkswillen zum Durchbruch zu verhelfen, und er insofern zur demokratischen Legitimation von Hoheitsakten beizutragen vermag, erscheint dies andererseits mangels Rechtszwangsbewehrtheit doch nicht als derart gesichert, dass jede solchermaßen legitimierte Entscheidung demokratietheoretisch als Ausfluss des Volkswillens gewertet werden könnte. Just dies aber setzt die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität voraus. Auf die demokratietheoretische Lücke129, die bei der personellen demokratischen Legitimation zwischen der Anregung zur unmittelbaren oder mittelbaren Ausrichtung am Volkswillen einerseits und dessen tatsächlicher Vergegenwärtigung andererseits klafft, wird daher an späterer Stelle noch zurückzukommen sein130.

(3) Weshalb vermag personelle demokratische Legitimation gerade bei der dezisionären Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen zu verfangen? Abschließend bleibt nur mehr kurz darauf einzugehen, weshalb sich dezisionäre Legitimation gerade auch im Wege personeller Legitimation verwirklichen lässt. Insofern ist nämlich zu berücksichtigen, dass zwar sowohl die dezisionäre als auch die personelle Legitimation aktiv-punktuell bewirkt werden131. Indes fällt im Rahmen der hier vordringlich interessierenden mittelbaren Demokratie der jeweilige Bewirkungszeitpunkt notwendig auseinander. Denn bewirkt wird die mittelbare personelle demokratische Legitimation durch die Berufung des den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt erlassenden Amtswalters. Dieser Berufungsakt aber ist der Erlassentscheidung, aufgrund derer qua personeller demokratischer Legitimation die dezisionäre demokratische Legitimation bewirkt werden soll, zeitlich not­ 127 Hier ist vor allem an die Problematik der privaten Normungsorganisationen im Zusammenhang mit der Setzung von Technik- und Umweltstandards zu denken  – vgl. Spar­ wasser / Engel / Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 1 Rn. 197 ff.; vertiefend Murswiek, Dynamik der Technik und Anpassung des Rechts, in: Ziemske u. a. (Hrsg.), Festschrift für Kriele, 1997, S. 651 ff. 128 Siehe unten Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. 129 Vgl. hierzu auch Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 175. 130 Siehe unten Kapitel 6 I. 4. = S. 314. 131 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257 und Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285.

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wendig vorgelagert. Darin liegt nun freilich kein Widerspruch. Denn auch wenn der Amtswalter vor seiner die dezisionäre Legitimation vermittelnden Erlassentscheidung in sein Amt berufen wurde, erledigt sich die davon ausgehende Inzitation natürlich nicht schon mit der Amtsübertragung, sondern wirkt über diesen Zeitpunkt hinaus132 und vermag daher auch zum Zeitpunkt der Erlassentscheidung zur durch personelle demokratische Legitimation vermittelten dezisionären Rückkoppelung eines Hoheitsakts an den aktuellen demokratischen Volkswillen beizutragen.

bb) Dezisionäre Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen aufgrund materieller demokratischer Legitimation Unmittelbare materielle demokratische Legitimation wächst einer Hoheitsentscheidung unter dem Gesichtspunkt dezisionärer Rückkoppelung insofern zu, als das Volk sie selbst trifft133. Für die Praxis der modernen Demokratie spielt diese besondere Konstellation, in der die Hoheitsentscheidung in dezisonärer Hinsicht zugleich auch personell unmittelbar demokratisch legitimiert ist, freilich eine nur sehr untergeordnete Rolle134. Stattdessen bricht sich materielle demokratische Legitimation heutzutage vor allem mittelbar Bahn135, und zwar auf zwei­fache Weise136. So wird demokratische Dezisionsmacht durch materielle Legitimationsbeiträge zum einen dergestalt vermittelt, dass der Erlass eines Hoheitsakts durch solche materiellen Vorgaben vorab determiniert wird, die ihrerseits von der übergeordneten demokratischen Magistratur entschieden wurden und die trotz demokratischer Revidierbarkeit bis zum Erlasszeitpunkt in Geltung erhalten worden sind. Man kann insofern von einer materiellen demokratischen Legitimation durch Direktive oder kürzer von materiell-direktiver Legitimation sprechen137. 132

In diesem Sinne auch Hennis (Fn. 112), S. 17. Schliesky (Fn. 54), S. 297. 134 Dass die mittelbare, die repräsentative Demokratie heutzutage den Normalfall bildet, ist Allgemeingut (vgl. nur Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, Rn. 356). Vgl. zu den Vorzügen der halbdirekten Demokratie aber auch Fleiner / Fleiner (Fn. 6), S. 384 ff. 135 Tschentscher (Fn. 108), S. 54 f. 136 Siehe etwa Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 21 oder Britz / Schmidt, Die institutionalisierte Mitwirkung der Sozialpartner an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1999, S. 467 (492 f.). In der Literatur wird freilich öfters auch nur eine Dimension von materieller Legitimation gesehen, wenn diese kurzerhand und ausschließlich mit der den Gesetzen entspringenden Legitimation identifiziert wird (so etwa Schnapp, in: v. Münch / Kunig [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 20 Rn. 20 oder Menzel, Legitimation staatlicher Herrschaft durch Partizipation Dritter?, 1980, S. 59 f.). 137 Vgl. Waechter, Geminderte demokratische Legitimation staatlicher Institutionen im parlamentarischen Regierungssystem, 1994, S. 35; Epping (Fn. 25), S. 354 f. 133

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Zum anderen wird die Dezisionsmacht des Volks dann durch materielle Legitimationsbeiträge operationalisiert, wenn der legitimationsbedürftige Hoheitsakt beziehungsweise die insofern entscheidungsbefugten Gremien oder Magistrate einer sanktionsbewehrten Überwachung seitens übergeordneter Instanzen beziehungsweise der Allgemeinheit selbst unterliegen138. Denn dass übergeordnete Instanzen beziehungsweise das Volk in der Lage sind, direkt oder indirekt über von ihnen abhängige Amtswalter auf einen sachlich missliebigen Entscheidungsakt zu reagieren, etwa indem dieser im Wege des Selbsteintritts oder der Weisung139 beseitigt beziehungsweise der Entscheider abberufen oder abgewählt wird  – dies nötigt den oder die dezisionsbefugten Amtsträger sanft dazu, sich bereits bei Erlass des Hoheitsakts an den inhaltlichen Vorstellungen der übergeordneten Instanz zu orientieren140. Dies lässt sich, wie bereits angesprochen141, als materielle Legitimation durch Kontrollmöglichkeit oder knapper als materiell-kontrollative Legitimation bezeichnen142. Der Unterschied zwischen diesen beiden Unterformen materieller Legitimation liegt nun nicht etwa darin, dass jede von ihnen durch klar voneinander zu trennende prozedurale Arrangements realisiert würde. Vielmehr können durch ein und dieselbe Verfahrensanordnung beide Legitimationsunterformen aktualisiert werden. So vermag ein Parlament aufgrund seiner Gesetzgebungsbefugnis dadurch zur dezisionären Rückkoppelung eines Hoheitsakts an den Volkswillen beizutragen, dass etwa eine Rechtsverordnung nur in Nachvollzug dieser gesetz­ lichen Vorgaben erlassen werden darf und insofern materiell-direktiv legitimiert wird. Zugleich veranlasst die dem Parlament eingeräumte Gesetzgebungsbefugnis den Verordnungsgeber tendenziell dazu, trotz Verordnungsermessens143 bestimmte untergesetzliche Regelungen im Sinne der Parlamentarier zu erlassen, weil andernfalls ein parlamentsgesetzliches ‚overruling‘ droht144. Insofern trägt die Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments zugleich durch materiell-kontrollative Legitimation des Verordnungsakts zu dessen dezisionären Rückbindung an das Volk bei.

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Vgl. dazu etwa Schmidt-Aßmann (Fn. 30), S. 358 f. Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 48 f. und 92 ff.; dies., Die doppelte Legitimationsbasis der EU, in: EuR 1999,133 (136). 140 Dazu auch Isensee, Salus publica – suprema lex?, 2006, S. 26. 141 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. 142 Zutreffend hebt Velten, Transparenz staatlichen Handelns und Demokratie, 1996, S.  43 hervor, dass allein schon die Existenz von Kontrollmechanismen die Ausübung staatlicher Tätigkeit beeinflusse. 143 Ossenbühl, Rechtsverordnung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 103 Rn. 40 ff.; Maurer (Fn. 125), § 13 Rn. 15; Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 80 Rn. 21. 144 Der Parlamentsgesetzgeber ist normalerweise nicht nur berechtigt, die erteilte Verordnungsermächtigung jederzeit zurückzunehmen, sondern auch befugt, die ergangenen Rechtsverordnungen entsprechend dem Vorrang des Gesetzes durch Erlass eines formellen Gesetzes aufzuheben oder abzuändern (Maurer [Fn. 125], § 4 Rn. 17). 139

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Als strukturell vergleichbar erweisen sich die beiden materiellen Legitimationsformen des Weiteren auch insofern, als diejenigen, die einen Hoheitsakt erlassen, nicht nur über jeweils einen, sondern durchaus über mehrere materiell-direktive beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimationsstränge an den Volkswillen rückgebunden werden können. Erlässt ein demokratischer Magistrat einen Hoheitsakt, so unterliegt dieser gegebenenfalls sowohl gesetzlichen Vorgaben als auch den Bestimmungen einer Rechtsverordnung und erweist sich insofern gleich in mehrfacher Hinsicht als materiell-direktiv legitimiert; eine Regierung kann zugleich der Kontrollmacht des sich in Wahlen artikulierenden Volks wie auch der des Parlaments unterworfen sein und vermittelt dem von ihm erlassenen Hoheitsakt gleich in doppelter Hinsicht materiell-kontrollative Legitimation. Indes differieren die beiden Unterformen materieller Legitimation in puncto Bewirkungs- und Wirkungsmodus. Die materielle Legitimation durch Direktive wird gleichermaßen aktiv-punktuell als auch omissiv-repetitiv ins Werk gesetzt. Schließlich beruht sie auf einer bewusst getroffenen und in der Folgezeit durch Revisions­verzicht, also durch Unterlassen, immer wieder bestätigten Sachentscheidung. Die in dieser zweifachen Weise bewirkte materiell-direktive Legitimation kennzeichnet im Weiteren ein koerzitiver Wirkungsmodus. Denn durch die für die materiell-direktive Legitimation kausale Sachentscheidung wird dem zu er­ lassenden Hoheitsakt ein vordeterminierter Hoheitsakt aufgezwungen. Demgegenüber gründet die materiell-kontrollative Legitimation auf der konstanten Kontrollmöglichkeit, entsteht somit lediglich durch fortwährendes Unterlassen. Ihr Bewirkungsmodus ist insofern als ausschließlich omissiv-repetitiv zu kennzeichnen. Hinsichtlich der Wirkweise ist zu berücksichtigen, dass der den Hoheitsakt erlassende Amtswalter durch die bloße Möglichkeit einer Kontrollmaßnahme und damit gerade ohne positives Zutun der Kontrollinstanz zwar nicht gezwungen, wohl aber angeregt beziehungsweise ‚sanft genötigt‘ wird, sich an dem demokratievermittelnden Willen dieser Kontrollinstanz zu orientieren. Der modus operandi materiell-kontrollativer Legitimation ist mithin als inzitativ zu charakterisieren. Der These vom omissiv-repetitiven Bewirkungsmodus materiell-kontrollativer Legitimation tut es dabei keinen Abbruch, dass die für sie konstitutive Kontrollmöglichkeit gegebenenfalls auch aktiviert werden kann und um ihrer legitimatorischen Wirkung willen auch aktivierbar sein muss. Die legitimatorische Relevanz eines tatsächlich ausgeübten Kontrollakts ist nämlich von der materiell-kontrollativen Legitimation strikt zu trennen. Insbesondere setzt sich die omissiv-per­ petuell operationalisierte Legitimation durch Kontrollmöglichkeit nicht in einer aktiv-punktuell generierten Legitimation durch Kontrolle fort: Kommt es infolge ausgeübter Kontrolle beispielsweise zur Beseitigung des unliebsamen Hoheitsakts durch Selbsteintritt der Kontrollinstanz145, so erledigt sich mit diesem zu 145

Zum Selbsteintritt der höheren Behörde Maurer (Fn. 125), § 21 Rn. 49.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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gleich die Frage nach seiner materiell-kontrollativen Legitimation. Wird lediglich eine Weisung erteilt146, so vermag diese der neuen Hoheitsentscheidung, durch die der im Weisungswege gerügte Hoheitsakt abgeändert wird, materiell-direktive Legitimation zu vermitteln. Dem aktiv kontrollierten Hoheitsakt wächst hierdurch aber selbstverständlich keine materielle Legitimation zu. Entsprechend verhält es sich, wenn ein Amtsträger wegen eines bestimmten Entscheidungsakts abberufen wird. Dieser Umstand effektuiert zwar zweifellos die materiell-kon­ trollative Legitimation von Entscheidungsakten seiner Nachfolger, bleibt für die Legitimation des kon­trollierten Entscheidungsakts jedoch ohne legitimatorische Bedeutung. Was den als inzitativ zu charakterisierenden modus operandi materiell-kon­ trollativer Legitimation anbelangt, so lässt sich insofern eine Parallele zur Wirkweise personeller demokratischer Legitimation ziehen147. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, dass sich die für die materiell-kontrollative Legitimation konstitutiven Anregungen qualitativ von denjenigen unterscheiden, die der individuelle Berufungsakt hervorzurufen vermag. Denn hinter der materiell-kon­ trollativen Legitimation steht, wie bereits angedeutet, eine rechtsfolgenbewehrte Kontroll­möglichkeit, ein Durchsetzungspotenzial, das bei der personellen Legitimation gerade fehlt. Dies bedeutet nun zwar sicherlich nicht, dass jeder mate­ riell-kontrollative Legitimationsstrang per se und ohne Weiteres geeignet wäre, zur Vergegenwärtigung des Volkswillens in dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt beizutragen. Denn ungeachtet ihrer Rechtsfolgenbewehrung wirkt die Kontrollmöglichkeit an sich nur inzitativ und eben nicht koerzitiv. Ein materiell-kontrollativer Legitimationsstrang wird daher überhaupt nur dann in der Lage sein, allein für sich betrachtet, zur Vergegenwärtigung des Volkswillens beizutragen, wenn die ihm zugrundeliegende Kontrollmöglichkeit durch solche Rechtsfolgen bewehrt ist, die den Entscheider in besonderer Weise betreffen würden und mithin auch be­sonders motivieren. Die demokratietheoretische Lücke148 zwischen der bloßen Anregung zur unmittelbaren oder mittelbaren Ausrichtung am Volkswillen einerseits und dessen tatsächlicher Repräsentation im Erlassakt des entscheidungs­ befugten Magistraten andererseits kann daher auch im Rahmen materiell-kon­ trollativer Legitimation nicht als von vornherein geschlossen angesehen werden, worauf an späterer Stelle noch einzugehen sein wird149. Allerdings erweisen sich die materiell-kontrollative Legitimation begründenden Anregungen im Vergleich zu den für die personelle Legitimation konstitutiven als grundsätzlich nachhaltiger. Mithin ist auch die demokratietheoretische Lücke bei der mate­ riell-kontrollativen Legitimation schmaler als bei der personellen demokratischen Legitimation.

146

Zur innerdienstlichen Weisung Maurer (Fn. 125), § 9 Rn. 27 f. Zu dieser siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285. 148 Dazu bereits oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2)= S. 285. 149 Siehe unten Kapitel 6 I. 4. = S. 314.

147

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Bleibt zuletzt wiederum zu problematisieren, weshalb sich dezisionäre demokratische Legitimation gerade auch durch materiell-direktive und materiell-kon­ trollative Legitimation Bahn zu brechen vermag. Denn auch insofern lässt sich auf den ersten Blick eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Bewirkungsmodus dezisionärer demokratischer Legitimation einerseits und dem der spezifischen Legitimationsformen andererseits ausmachen. Wendet man sich zunächst der materiell-direktiven Legitimation zu, so ist zwar festzustellen, dass sie zumindest auch aktiv-punktuell bewirkt wird, was dem Bewirkungsmodus dezisionärer Legitimation entspricht. Doch wie im Fall der personellen Legitimation weicht der Zeitpunkt, in dem die materiell-direktive Legitimation aktiv-punktuell ins Werk gesetzt wird, vom Bewirkungszeitpunkt dezisionärer Legitimation ab: Aktiv-punktuell wird die materiell-direktive Legitimation notwendig vor der dezisionären Legitimation bewirkt. Anders als bei der personellen Legitimation lässt sich diese zeitliche Differenz auch nicht unter Rekurs auf eine fortwährende Anreizwirkung überbrücken. Denn die materielle Direktive regt den Entscheider im Zeitpunkt der Dezision nicht etwa dazu an, den momentanen Volkswillen zu vergegenwärtigen; vielmehr zwingt sie ihn, den bei ihrem Erlass artikulierten und in dieser Hinsicht gegebenenfalls schon sehr betagten Volks­ willen zu vermitteln. Wenn nun das Konzept materiell-direktiver Legitimation dennoch nicht in Widerstreit zum aktiv-punktuellen Bewirkungsmodus dezisionärer demokratischer Legitimation tritt, so hängt dies damit zusammen, dass die demokratisch legitimierende Direktive eben nicht ausschließlich nur aktiv-punktuell, sondern zugleich immer auch omissiv-repetitiv bewirkt wird. Denn da die mate­riell-direktive Legitimation genetisch nicht nur auf einer einmaligen Sachentscheidung, sondern gleichzeitig auf deren fortgesetzten Nichtrevision beruht, ist gewährleistet, dass die Direktive auch in dem Zeitpunkt noch als an den aktuellen Volkswillen rückgebunden gelten kann, in dem sie den Erlass eines neuen Hoheitsakts aktiv determiniert und sich just dadurch dezisionäre demokratische Legitimation punktuell Bahn bricht. Nicht zuletzt aus diesen Zusammenhängen erhellt denn auch, weshalb es zumindest unpräzise ist, wenn die Literatur für die hier so genannte materiell-direktive Legitimation allein auf die sachlich-inhaltliche Vorgabe abstellt150. Denn erst der zusätzliche Umstand, dass diese Vorgabe im Erlasszeitpunkt noch revisionär demokratisch legitimiert ist, lässt den Schluss zu, dass der Erlass eines Hoheitsakts durch die Direktive an den aktuellen Volkswillen rückgebunden wird. Fernerhin steht auch der omissiv-repetitive Entstehungsmodus materiell-kontrollativer Legitimation keineswegs in Widerspruch zum aktiv-punktuellen Bewirkungsmodus dezisionärer Legitimation. Denn dass dezisionäre Legitimation notwendig durch die zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst getroffene Entscheidung Gestalt annimmt, schließt es gerade nicht aus, dass dieses legitima‑

150

Vgl. zum Beispiel Zippelius / Würtenberger, Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 10 II 2 a) (2.).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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tionsstiftende Handeln inhaltlich durch das Bestehen einer Kontrollmöglichkeit determiniert und insofern im Wege der omissiv-perpetuell generierten materiellkontrollativen Legitimation punktuell an den gegenwärtigen demokratischen Willen rückgekoppelt wird.

cc) Vertiefende Überlegungen zum Verhältnis von personeller und materieller Legitimation im Rahmen dezisionärer demokratischer Legitimation Das Verhältnis, in dem personelle und materielle Legitimation im Rahmen dezisionärer demokratischer Legitimation zueinander stehen, offenbart sich, wenn man sich die spezifische Struktur hoheitlicher Entscheidungen vor Augen führt. Diese hat Hermann Heller im Jahr 1927 in seinem berühmten Vortrag vor der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung transparent gemacht. Heller begreift jeden Akt öffentlicher Gewalt überzeugend als Rechtsnorm beziehungsweise Rechtssatz151. Seiner Ansicht nach schafft dabei „jede Individualisierung einer Norm durch die kompetente Autorität eine neue, vorher nicht dagewesene Norm“, indem die „Rechtssätze der höheren Instanz einer von dieser gar nicht voraussehbaren Situation“ angepasst werden152. Aus der insofern gewiss pointiert, aber gleichwohl zutreffend beschriebenen Genese von Akten öffentlicher Gewalt erhellt, dass die ihnen zugrundeliegende Dezision, mithin also ihr Erlass und Inhalt allenfalls teilweise qua materielldirektiver Legitimation an den Volkswillen rückgebunden ist153. Denn selbst bei gebundenen Entscheidungen bleibt stets ein Konkretisierungsspielraum, in dem die von einer höheren Instanz vorgegebene Direktive dem Entscheider keine definitive Handlungsanweisung liefert154. Erst Recht gilt dies natürlich, wenn dem Entscheider Ermessen zusteht. Und just hier setzen personelle und materiell-kon­ trollative Legitimation an. Sie tragen dazu bei, dass Akte öffentlicher Gewalt auch dann in dezisionärer Hinsicht an den Volkswillen rückgekoppelt sind, wenn die Steuerungskraft der dem Entscheider vorgegebenen Direktiven versagen. In dieser Perspektive zeigt sich denn auch, dass dort, wo die materiell-direktive Legitimation greift, für die personelle sowie die materiell-kontrollative Legitimation kein Raum mehr ist, wohingegen die beiden letztgenannten Legitimationsformen denselben Bezugspunkt, nämlich den nicht vordeterminierten Teil  eines Hoheitsakts, aufweisen und sich diesbezüglich ergänzen. Anders formuliert: Dezisionäre Legitimation kann einem Hoheitsakt nur insoweit über einander demo­ 151 Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 203 (227). 152 Heller (Fn. 151), S. 227 f. 153 Dazu auch Schmidt (Fn. 29), S. 56. 154 Dazu erhellend Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 287 ff.

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kratisch komplementierende personelle sowie materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge zuwachsen, als sie ihm nicht schon im Wege materiell-direktiver Legitimation kommuniziert wird155. Dass somit im Rahmen dezisionärer Legitimation eine klare dogmatische Trennlinie zwischen materiell-direktiver Legitimation einerseits und personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimation andererseits verläuft, zeigt sich im Übrigen auch noch in anderer Hinsicht. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die materiell-direktive Legitimation in dezisionärer Hinsicht nur greift, weil und soweit die ihr zugrundeliegende Sachentscheidung im Erlasszeitpunkt noch demokratisch revidierbar ist156. Die materiell-direktive Legitimation weist mit anderen Worten die Besonderheit auf, dass sie das Vorhandensein einer wirk­samen revisionären demokratischen Legitimation zur Voraussetzung dafür macht, dass die durch sie vermittelte dezisionäre Legitimation verfangen kann. Insofern besteht ein bedeutsamer dogmatischer Unterschied zur personellen und materiell-kontrollativen Legitimation, die unabhängig vom Vorhandensein revi­ sionärer Legitimations­zusammenhänge dezisionäre Legitimation hervorzubringen vermögen. Bedeutsam ist dieser Unterschied vor allem deshalb, weil das unter dem Begriff der Störungsanfälligkeit revisionärer Legitimation beschriebene Phänomen157 infolgedessen auch im Rahmen dezisionärer Legitimation wirksam wird, wenn und soweit diese sich über materiell-direktive Legitimationsbeiträge Bahn bricht. Kann nämlich einem Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht nur dann und insoweit mate­ riell-direktive Legitimation zuwachsen, als die materielle Direktive auch im Erlasszeitpunkt noch revisionär legitimiert ist, so erweist sich die dezisionäre Legitimation in diesem Umfang als prekär. Denn dann ist typischerweise ungewiss, ob die legitimationsbegründende Nichtrevision der materiellen Direktive im Erlasszeitpunkt tatsächlich willensgetragen ist158 und der dezisionäre demokratische Legitimationsstrang insoweit ungestört ist. Dass ein durch materiell-direktive Legitimationsbeiträge operationalisierter dezisionärer Legitimationszusammenhang durch die für die Wirkweise revisionärer Legitimation charakteristische Störungsanfälligkeit tangiert wird, steht dabei keineswegs in Widerspruch zu der früher entwickelten These159, der zufolge die Wirkweise dezisionärer Legitimation durch Störungsfreiheit gekennzeichnet ist.

155 Etwas unscharf Jestaedt (Fn. 16), S. 297, wenn er pauschal von der Komplementarität von personell-demokratischer und materiell-demokratischer Legitimation spricht. 156 Andernfalls fehlt es an der demokratiekonstitutiven Rückbindung an den aktuellen Volkswillen, wie sie auch für eine repräsentative Demokratie unaufgebbar ist – dazu allgemein Volkmann, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 20 (2. Teil), Rn. 23. 157 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257. 158 Dazu auch schon oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257. 159 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die dezisionäre Legitimation ihrer Wirkweise nach auch dort störungsfrei bleibt, wo sie unter anderem über materiell-direktive Legitimationsbeiträge ins Werk gesetzt wird. Denn auch in dieser Konstellation wird die dezisionäre Legitimation aktiv-punktuell durch Erlass des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts bewirkt. Sie erweist sich insofern als notwendig willens­ getragen und vermag in dieser Hinsicht störungsfrei zu wirken. Dass sich die dezisionäre Legitimation wegen ihrer materiell-direktiven Operationalisierung dennoch als störungsanfällig erweist, hängt demnach gerade nicht mit ihrer spezifischen Wirkweise zusammen. Vielmehr knüpft die, wie gesagt, überhaupt erst im Erlasszeitpunkt bewirkte und von dort an störungsfrei funktionierende dezisionäre Legitimation an einen störungsanfällig gegenwärtigen Volkswillen an. Die Störungsanfälligkeit des dezisionären Legitimationszusammenhangs liegt mithin der spezifischen Wirkweise dezisionärer Legitimation voraus.

b) Revisionäre Legitimation und spezifische Legitimationsformen Ebenso wie sich die dezisionäre Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen durch personelle beziehungsweise materielle Legitimationsbeiträge Bahn bricht, wird naheliegenderweise auch die revisionäre Rückbindung durch diese spezifischen Legitimationsformen ins Werk gesetzt. Infolgedessen erweist es sich auch unter den Bedingungen mittelbarer Legitimation als möglich, die Nicht­ revision eines Hoheitsakts dauerhaft an den Volkswillen rückzukoppeln.

aa) Revisionäre Rückkoppelung an den Volkswillen aufgrund personeller demokratischer Legitimation Auch im Kontext revisionärer Legitimation ist der Begriff der personellen demokratischen Legitimation richtigerweise auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt und nicht auf den legitimationsvermittelnden Amtswalter zu beziehen160. Von personeller demokratischer Legitimation ist daher unter dem Gesichtspunkt revisionärer Rückbindung insoweit zu sprechen, als die demokratische Allgemeinheit selbst oder aber ein direkt beziehungsweise indirekt von ihr berufener Amtswalter die fortgesetzte (Unterlassungs-)Entscheidung trifft, einen geltenden Hoheitsakt trotz entsprechender Revisionskompetenz nicht zu modifizieren. Als in diesem Sinne revisionskompetent ist ein Amtswalter in dem Maße anzusehen, in dem er selbst unmittelbar kassatorisch oder modifikatorisch auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt zuzugreifen vermag. Aber auch dort, wo er mittelbar über ihm subordinierte Organe eine Abrogation beziehungsweise Modifikation des zu

160

Dazu  – im Zusammenhang dezisionärer Legitimation  – eingehend oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (1) = S. 284.

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legitimierenden Hoheitsakts erzwingen kann, steht ihm eine Revisionskompetenz im hier interessierenden Sinn zu161. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass ein Hoheitsakt immer nur so weit qua personeller demokratischer Legitimation an den revisionären Volkswillen rückgebunden werden kann, wie die Revisionskompetenz des betreffenden Amtswalters im konkreten Fall reicht. Denn natürlich kann demokratische Revisionsmacht lediglich in dem Maße durch personelle demokratische Legitimation vermittelt werden, in dem sie dem revisionsbefugten Amtswalter tatsächlich zusteht. Ist es dem Amtswalter daher nur unter bestimmten, durch materielle Direktiven festgesetzten Voraussetzungen erlaubt, einen Hoheitsakt zu revidieren, so kann diesem in revisionärer Hinsicht auch nur im Rahmen des materiell-direktiv Ungeregelten personelle demokratische Legitimation zuwachsen. Dass sich die demokratische Revisionsmacht einem zu legitimierenden Hoheitsakt nun auch dann mitteilt, wenn sie nicht vom Volk selbst, sondern von einem seiner Amtswalter ausgeübt wird, muss, wie bereits dargetan162, in Zusammenhang mit dem Phänomen der Amtsübertragung gesehen werden: Aufgrund der Amtsübertragung wird ein magistratischer Repräsentant dazu angeregt, bei der Wahrnehmung der ihm übertragenen Revisionsmacht den Volkswillen zu ver­gegenwärtigen; ein sonstiger Amtswalter wird angehalten, bei der Ausübung seiner Revisionsmacht den durch die magistratischen Repräsentanten vergegen­ wärtigten Volkswillen zu vollziehen. Zuletzt bleibt noch darauf hinzuweisen, dass der aktiv-punktuelle Bewirkungsmodus personeller Legitimation163 keineswegs in Widerspruch zum omissiv-perpetuellen Bewirkungsmodus revisionärer Legitimation steht. Denn auch wenn die revisionsmächtigen Amtswalter zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in ihr Amt berufen worden sind, so erledigt sich die davon ausgehende Anregung zu amtsmäßigem Verhalten nicht schon mit der Übereichung der Ernennungsurkunde164. Vielmehr wirkt sie in die Zeit hinein und vermag insofern auch ein dauerhaftes Absehen von einer Revisionsentscheidung immer wieder neu zu motivieren: Durch seinen aktiv-punktuell begründeten Repräsentationsauftrag ist ein magis­ tratischer Repräsentant gehalten, bei der Wahrnehmung der ihm zustehenden Revisionsbefugnis den Volkswillen fortdauernd zu vergegenwärtigen; einen sonstigen Amtsträger trifft die mit dem Berufungsakt entstandene Amtspflicht, sich bei der Ausübung seiner Revisionsbefugnisse fortwährend an den politischen Leit 161 Dies ist etwa dann der Fall, wenn dem vorgesetzten Träger demokratischer Gewalt eine Weisungsbefugnis zukommt. Hingegen kommt ihm keine Revisionskompetenz zu, wenn das nachgeordnete Organ lediglich von ihm abberufen werden kann beziehungsweise sich ihm gegenüber verantworten muss. Denn solche institutionelle Regelungen machen es zwar wahrscheinlich, dass es zu einer Derogation beziehungsweise Modifikation des fraglichen Hoheitsakts kommt; erzwingen lässt sich die Revision unter diesen Bedingungen aber nicht. 162 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285. 163 Ebd. 164 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (3) = S. 289.

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linien des- oder derjenigen magistratischen Repräsentanten auszurichten, die ihn in sein Amt berufen haben und ihrerseits in ihren Vorgaben den Volkswillen vergegenwärtigen.

bb) Revisionäre Rückkoppelung an den Volkswillen aufgrund materieller demokratischer Legitimation Außer über personelle Legitimationsbeiträge realisiert sich die revisionäre Rückbindung von Hoheitsakten an den Volkswillen über materielle Legitimations­ beiträge. Unmittelbare materielle Legitimation wächst einem Hoheitsakt unter dem Gesichtspunkt revisionärer Rückkoppelung insofern zu, als das Volk – trotz plebiszitärer Revisionskompetenz – von seiner Modifikation absieht. Sehr viel bedeutsamer sind im Kontext der zeitgenössischen repräsentativen Demokratien freilich diejenigen Konstellationen, in denen die demokratische Revisionsmacht durch nicht unmittelbar vom Volk herrührende materielle Legitimationsbeiträge vermittelt wird. Zu berücksichtigen ist freilich, dass materielle Legitimation insofern nicht als materiell-direktive, sondern immer nur als materiell-kontrollative Legi­ timation wirksam werden kann. Dass materiell-direktive Legitimationsbeiträge im Rahmen revisionärer Legitimation ausgeschlossen sind, ergibt sich aus deren spezifischer Wirkvoraussetzung. Denn revisionäre Legitimation gründet darauf, dass ein in Geltung gesetzter Hoheitsakt revidiert werden könnte, es aber nicht wird. Revisionäre Legitimation kann einem Hoheitsakt daher nur insoweit zuwachsen, als der revisionsbefugte demokratische Amtswalter nicht von vornherein durch materielle Direktiven dazu gezwungen ist, den Hoheitsakt aufzuheben, ihn zu modifizieren oder ihn un­angetastet zu lassen. In den beiden ersten Fallkonstellationen versteht sich dies von selbst: Zielen die materiellen Direktiven auf Aufhebung beziehungsweise Modifikation des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts, so vermögen sie diesen schon deshalb nicht revisionär zu legitimieren, weil revisionäre Legitimation durch das Unterlassen einer Revisionsentscheidung ins Werk gesetzt wird. Aber auch in den Fällen, in denen durch eine zwingende Vorgabe das Unterlassen einer Revisionsentscheidung geboten wird, kommt es keineswegs zu einer durch materiell-direktive Legitimation vermittelten revisionären Rückanbindung des betreffenden Hoheitsakts165. Denn revisionäre Legitimation knüpft an das Vorhandensein, nicht an die (materiell-direktive) Begrenzung von Revisionsmacht an166. 165 Vielmehr ist für diese Fälle davon auszugehen, dass diejenige Instanz, die durch sachlich-inhaltliche Vorgaben die Vornahme oder eben auch das Unterlassen einer Revisionsentscheidung erzwingen kann, ihrerseits revisionskompetent ist und infolgedessen zur revisionären Rückbindung des Hoheitsakts an den demokratischen Volkswillen beiträgt. Über sie wächst dem legitimationsbedürftigem Hoheitsakt personelle (und materiell-kontrollative)  Legitimation zu. 166 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. b) = S. 255.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Wenn sich revisionäre Legitimation einem Hoheitsakt folglich nur insoweit mitteilt, als demokratisch über ihn verfügt werden kann, so hat dies zur Konsequenz, dass im Kontext der heutzutage ganz überwiegend nur mehr mittelbaren Demokratien revisionäre Legitimation außer über den personellen bloß noch über den materiell-kontrollativen Legitimationsstrang vermittelt werden kann. Denn die materiell-kontrollative Legitimation knüpft – ebenso wie die personelle Legitimation und im Gegensatz zur materiell-direktiven Legitimation – an institutionelle Arrangements an, bei denen der demokratische Amtswalter handlungsbefugt ist und aufgrund der nachwirkenden amtsmäßigen Berufung beziehungsweise vorwirkender Kontrollmöglichkeiten sanft veranlasst wird, seine an sich vorhandene Entscheidungsmacht demokratisch legitim auszuüben. Aufgrund materieller demokratischer Legitimation kann ein Hoheitsakt nach allem nur insofern revisionär an den Volkswillen rückgekoppelt werden, als die Allgemeinheit selbst eine diesbezügliche Revisionsmacht innehält oder aber die revisionskompetenten Amtswalter einer effektiven, das heißt sanktionsbewehrten Kontrolle von Seiten übergeordneter Instanzen beziehungsweise des Volks selbst unterliegen. Dabei ist – wie im Rahmen personeller Legitimation – zu beachten, dass ein Hoheitsakt durch materiell-kontrollative Legitimation nur in dem Umfang revisionär rückgebunden werden kann, in dem der kontrollierte Entscheidungs­ träger revisionskompetent ist. Denn während dezisionäre Legitimation mitunter auch durch materielle Direktiven vermittelt wird, schränkt es die revisionäre Legitimation im Gegensatz hierzu gerade ein, wenn die Ausübung demokratischer Revisionsmacht materiell-direktiv determiniert wird. Im Übrigen gilt für die materiell-kontrollative Legitimation im Rahmen revisionärer Rückkoppelung an den Volkswillen nichts anderes als für die materiellkontrollative Legitimation im Kontext dezisionärer demokratischer Rückbindung. Insbesondere wird die materiell-kontrollative Legitimation wegen des Vorwirkens der Kontrollmöglichkeit sofort wirksam, vermag den legitimationsbedürftigen Hoheits­akt also, wie für die revisionäre Legitimation erforderlich, eine juristische Sekunde nach dessen Erlass und grundsätzlich auf Dauer zu erfassen167.

cc) Vertiefende Überlegungen zum Verhältnis von personeller und materieller Legitimation im Rahmen revisionärer demokratischer Legitimation Wie dargelegt, wächst einem Hoheitsakt revisionäre Legitimation nur so lange und insoweit zu, als das Volk selbst oder aber von ihm bestellte Amtswalter über den Hoheitsakt rechtlich verfügen können168. Dies hat, wie ebenfalls schon dar­ getan, zur Konsequenz, dass revisionäre demokratische Legitimation nur durch 167

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257. Siehe oben Kapitel 6 I. 1. b) = S. 255.

168

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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personelle sowie materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge, nicht aber durch materiell-direktive Legitimationsbeiträge vermittelt wird169. Dies ist freilich nicht die einzige Besonderheit, die im Rahmen revisionärer Legitimation für das Verhältnis von personeller und materieller Legitimation auszumachen ist. Ein weiterer Unterschied zur dezisionären Legitimation besteht darin, dass im Rahmen revisionärer Legitimation zwar der materiell-direktive Legiti­ mationsstrang entfällt, der legitimationsbedürftige Hoheitsakt dafür aber vielfach in mehr als nur einen Zusammenhang personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimation eingebunden ist. So ist zu berücksichtigen, dass einem Hoheitsakt im Rahmen dezisionärer Legitimation immer nur über ein einziges (Einzel- oder Kollegial-)Organ beziehungsweise nur über eine einzige Organmehrheit personelle Legitimation zuwachsen kann: Es kommt allein und entscheidend darauf an, wer den Hoheitsakt erlässt. Die personelle Legitimation wird mit anderen Worten immer nur über einen ganz bestimmten institutionellen Träger demokratischer Dezisionsmacht vermittelt  – sei es ein Einzelorgan, ein Kollegialorgan oder eine Organmehrheit. Entsprechendes gilt für die materiell-kontrollative Legitimation, die sich dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt lediglich über den beziehungsweise die im konkreten Fall entscheidenden Amtswalter mitteilt, mithin also nur über einen einzigen institutionellen Träger demokratischer Dezisionsmacht vermittelt wird. Insofern kann es im Kontext dezisionärer Legitimation zwar durchaus verschiedene personelle und materiell-kontrollative Legitimationsstränge geben – etwa weil ein Hoheitsakt nur durch eine Organmehrheit erlassen werden kann oder ein Einzelorgan über mehrere verschiedene Kontrollmechanismen demokratisch rückgebunden ist. Dies ändert aber nichts daran, dass es auch in diesen Fällen nur einen einzigen Legitimationszusammenhang gibt, der einheitlich über den – gegebenenfalls vielköpfigen  – institutionellen Träger demokratischer Dezisionsmacht vermittelt wird. Demgegenüber existieren in revisionärem Kontext häufig verschiedene Legitimationszusammenhänge nebeneinander. Dies hängt damit zusammen, dass ein Hoheitsakt zwar von einem einzigen institutionellen Träger demokratischer Dezisionsmacht erlassen wird, jedoch vielfach durch mehrere institutionelle Träger demo­kratischer Revisionsmacht unabhängig voneinander aufgehoben beziehungsweise abgeändert werden kann. Infolgedessen ist ein einmal erlassener Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht oftmals in mehr als einen Zusammenhang personeller und materieller Legitimation eingebunden. Allerdings tragen diese verschiedenen Legitimationszusammenhänge nicht alle in gleichem Maße zur revisionären Rückbindung an den Volkswillen bei. Denn in revisionärer Hinsicht wird ein Hoheitsakt immer nur in dem Umfang personell und materiell-kontrollativ legitimiert, in dem der legitimationsvermittelnde 169

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) bb) = S. 299.

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Amtswalter zu seiner Revision befugt ist170. Die entsprechenden Befugnisse der revisionsbefugten Organe und Organmehrheiten reichen indes nicht alle gleich weit. Vielmehr werden sie vielfach durch materielle Direktiven, die die Ausübung der Revisionsmacht inhaltlich determinieren, in unterschiedlicher Weise beschränkt. Veranschaulichen lassen sich diese Zusammenhänge am Beispiel einer regierungsexekutiven Rechtsverordnung, die in einem demokratischen Verfassungsstaat auf der Grundlage einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigung ergangen ist171; dabei sollen an dieser Stelle die Besonderheiten ausgeblendet bleiben, die sich ergeben können, wenn die Verordnungsgebung in einem bundesstaatlichen Kontext erfolgt172. Personelle demokratische Legitimation wächst einer solchen Rechtsverordnung in dezisionärer Hinsicht ausschließlich über den Verordnungsgeber zu, also über die Regierungsexekutive. Auch die materiell-kontrollative Legitimation wird insofern allein über die entscheidungsbefugte Regierungs­ exekutive vermittelt, und zwar erstens wegen ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit, zweitens aufgrund der Befugnis des Parlaments, die Rechtsverordnung außer Kraft zu setzen, sowie drittens infolge der periodisch wiederkehrenden Möglichkeit, durch die Wahl des Parlaments auch die Zusammensetzung der Regierungsexekutive zu beeinflussen. In dezisionärer Hinsicht brechen sich personelle und materiell-kon­trollative Legitimation somit in einem einheitlichen, über die entscheidungs­befugte Regierung vermittelten Legitimationszusammenhang Bahn. In revisionärer Perspektive wird die in Rede stehende Rechtsverordnung indes außer über den Verordnungsgeber auch noch über das gleichfalls revisionsbefugte Parlament personell legitimiert. Die vom Parlament insofern vermittelte materiell-kontrollative Legitimation beruht auf den in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Parlamentswahlen. Der über das Parlament verlaufende revisionäre Legitimationszusammenhang besteht unabhängig neben dem über die Regierung vermittelten. Der an die Revisionskompetenz des Parlaments anknüpfende Legitimationszusammenhang kann dabei in größerem Umfang zur revisionären Legitimation der Rechtsverordnungen beitragen als der auf der Revisionsbefugnis der Regierungsexekutive basierende. Denn die Revisionsmacht der Regierungs­ 170

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) = S. 297 und Kapitel 6 I. 2. b) bb) = S. 299. Dass Rechtsverordnungen grundsätzlich nur aufgrund parlamentsgesetzlicher Ermächtigung ergehen dürfen, ist im Verfassungsrecht der EU-Mitgliedstaaten nach wie vor die Regel (so auch Brenner, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 80 Rn. 13). 172 Besonderheiten können sich insofern daraus ergeben, dass sowohl das ermächtigende Parlamentsgesetz als auch die Rechtsverordnung unter diesen Umständen gegebenenfalls der Zustimmung der Staatenkammer bedürfen. In diesem Fall gestalten sich sowohl der dezi­ sionäre Legitimationszusammenhang als auch die revisionären Legitimationszusammenhänge etwas anders, als dies im Text für den Fall einheitsstaatlicher Verordnungsgebung skizziert wird. 171

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exekutive wird durch die aus der Verordnungsermächtigung ableitbaren materiellen Direktiven eingeschränkt. Nach allem ist für den Bereich revisionärer Legitimation festzuhalten, dass es insofern zwar an materiell-direktiven Legitimationsbeiträgen fehlt. Dafür existieren jedoch vielfach unabhängig voneinander mehrere, durch personelle und materiell-kontrollative Legitimationsstränge geknüpfte Legitimationszusammenhänge, die  – allerdings in unterschiedlichem Umfang  – zur Rückbindung von Hoheitsakten an den revisionären Volkswillen beitragen. Einander teils ergänzend, teils überlagernd bewirken die verschiedenen Legitimationszusammenhänge gemeinsam, dass ein Hoheitsakt grundsätzlich vollumfänglich auf den revisionären Volkswillen zurückführt. Innerhalb dieser verschiedenen Legitimationszusammenhänge wiederum ergänzen die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsstränge einander dergestalt, dass sie beide die revisionsmächtigen Entscheidungsorgane zur Ausrichtung am (repräsentierten) Volkswillen anregen.

c) Volkssouveränität und funktionell-institutionelle Legitimation Als dritte spezifische Legitimationsform figuriert in der Literatur die funktio­ nell-institutionelle Legitimation, die insofern der personellen sowie materiellen Legitimation gleichgestellt wird173. Die funktionell-institutionelle Legitimation lässt sich in vier Bedeutungsgehalte aufgliedern174. Unter funktioneller Legitimation versteht man die legitimierende Zuweisung öffentlich-rechtlicher Machtbefugnisse an bestimmte Entscheidungsstrukturen175, als institutionelle Legitimation wird die legitimierende organisatorische Begründung derartiger öffentlich-rechtlicher Entscheidungsstrukturen begriffen176. Funktionelle und institutionelle Legitimität können zum einen aus der Verfassung erwachsen177. In diesem Fall ist das Volk als Träger des pouvoir constituant Legitimationssubjekt178. Funktionelle und institutionelle Legitimation lassen sich zum anderen aber auch durch ge-

173

Zum Beispiel bei Spieß, Sozialer Dialog und Demokratieprinzip, 2005, S. 122; Hummer, Vom Postulat „struktureller Kongruenz und Homogenität“ zum (vertikalen) Homogenitäts­ gebot des Art. 6 Abs. 1 EUV, in: Reinalter (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2002, S. 168; Holzmann (Fn. 105), S. 76; Jestaedt (Fn. 16), S. 276 ff. Zum Ganzen auch Schliesky (Fn. 54), S. 299 ff. 174 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schmidt (Fn. 29), der die undifferenzierte Betrachtung dieser Legitimationsform als Ursache ihrer Umstrittenheit ausmacht. 175 Vgl. Dederer (Fn. 11), S. 179. 176 Schmidt (Fn. 29), S. 51; Dederer (Fn. 11), S. 181 spricht insofern denn auch von organisatorischer Legitimation. 177 Dazu etwa Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S.  55; Voßkuhle / Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, in: JZ 2002, S.  673 (676). 178 Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S.  77; Dederer (Fn.  11), S.  179 ff. spricht von primärer funktioneller beziehungsweise organisatorischer Legitimation.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

setzliche oder untergesetzliche Organisationsakte vermitteln179. Dann handeln die pouvoirs constitués. Insgesamt ergeben sich somit vier Konstellationen, in denen funktionelle beziehungsweise institutionelle Legitimation wirksam werden können. Bei genauerem Hinsehen fragt sich jedoch, ob diese vier Legitimationskonstellationen für die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur, für die Erzeugung eines fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhangs überhaupt relevant sind. Dies wäre nur dann der Fall, wenn durch funktionell-institu­ tionelle Legitimation unmittelbar dazu beigetragen würde, dass jeder einzelne Hoheits­akt vom Volk ausgeht und auf Dauer von ihm beherrscht wird180. Nun kann freilich die verfassungsrechtliche Zuweisung von öffentlich-rechtlichen Macht­ befugnissen an ein bestimmtes Verfassungsorgan schon deshalb nicht unmittelbar zur legitimierenden Rückbindung spezifischer Hoheitsakte an den Volkswillen beitragen, weil eine solche funktionelle Legitimation den konkreten Inhalt der einzelnen Akte öffentlicher Gewalt an sich überhaupt nicht berührt181. Sie trägt, allein für sich betrachtet, in nichts dazu bei, dass sich in einem konkreten Hoheitsakt der Volkswille niederschlägt182. Die Machtzuweisung schafft lediglich die Voraussetzungen dafür, dass bestimmte hierzu berufene Entscheider  – unter Berücksichtigung etwaiger sachlich-inhaltlicher Vorgaben  – Hoheitsakte erlassen beziehungsweise zu revidieren vermögen und (erst) hierdurch ein demokratisch legitimierender Zurechnungszusammenhang geschaffen wird183. Inwiefern diese Sachentscheidungen an das Volk und dessen Willen rückgekoppelt sind, ergibt sich demnach allein aus der grundsätzlich exklusiv-perpetuellen demokratischen Legitimation und den sie operationalisierenden personellen sowie materiellen Legitimationssträngen184. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die institutionelle Legitimation durch das Volk als Träger des pouvoir constituant. Da sich die institutionelle Legitimation lediglich auf die äußeren Bedingungen hoheitlicher Sachentscheidungen bezieht, nicht aber unmittelbar auf Geltung und Fortgeltung der Hoheitsentscheidungen, kann sie auch keinen direkten Zurechnungszusammenhang zwischen Volkswillen und Hoheitsakt begründen. Ebenso wenig wie die funktionelle schafft die institutionelle Legitimation durch den Verfassunggeber eine demokratische Legitimation im eigentlichen Sinne, sondern begründet lediglich den organisatorischen Rahmen für die Entfaltung von Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang. 179

Schnapp (Fn. 136), Rn. 21. Grundsätzlich anderer Auffassung Kotzur (Fn. 102), S. 381 f. 181 Im Ergebnis gleich Jestaedt (Fn. 16), 1993, S. 276 ff. 182 Ebenso Epping (Fn. 25), S. 353. 183 Zu berücksichtigen ist, dass Demokratie sich nicht in einer spezifischen Zuteilung von Macht erschöpft, sondern zugleich und vor allem die Art und Weise der Ausübung dieser Macht anspricht (Bieber, Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 267). 184 Brosius-Gersdorf (Fn. 139), S. 40 f. 180

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Nichts anderes gilt der Sache nach für die funktionelle und institutionelle Legitimation durch gesetzliche oder sonstige Rechtsakte185. Wird beispielsweise durch Gesetz im Bereich der Exekutive eine bestimmte Entscheidungsstruktur begründet und der so begründeten Entscheidungsstruktur bestimmte Machtbefugnisse zugewiesen, so wird dadurch lediglich ein institutionell-prozedurales Arrangement geschaffen, innerhalb dessen die Allgemeinheit mittelbar auf die einzelnen Hoheits­akte einwirken kann. Demokratische Legitimation im Sinne des demokratiezentralen Prinzips der Volkssouveränität, nämlich im Sinne einer konkreten Rückbindung von Hoheitsausübung an den Volkswillen, kann auch aus dieser Form funktioneller und institutioneller Legitimation unmittelbar nicht erwachsen. Dazu bedarf es der – durch personelle und materielle Legitimationsbeiträge ins Werk gesetzten – dezisionären sowie revisionären Rückbindung der einzelnen Hoheits­akte an das Volk. Dass die funktionell-institutionelle Legitimationsform für die demokratische Zurechnung von Hoheitsakten zum Volk an sich ohne Belang ist186, entwertet freilich nicht den sich hinter dieser Legitimationsvorstellung verbergenden Grundgedanken. Richtig bleibt nämlich, dass kein im Einzelnen vorgefertigtes und als solches verbindliches Demokratiemodell existiert. Es ist daher vom Prinzip her demokratisch durchaus legitim, wenn die verfassunggebenden oder auch die verfassten Gewalten Volkssouveränität durch die Zuweisung von bestimmten Kompetenzen an bestimmte institutionelle Entscheidungsstrukturen in concreto ganz unterschiedlich organisieren. Sie sind grundsätzlich frei darin, in welcher Art und Weise sie die personellen und materiellen Legitimationszusammenhänge organisieren, sofern dadurch Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang Gestalt annimmt187. Darauf, dass Demokratie nicht auf einen ganz bestimmten Legitimationsmodus festgelegt ist, sondern stattdessen die grundsätzliche Veränderbarkeit personell- und materiell-demokratischer Legitimationszusammenhänge geradezu ein Spezifikum von Demokratie darstellt, wird denn auch im Folgenden wiederholt zurückzukommen sein188. An dieser Stelle freilich muss festgehalten werden, dass Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur außer durch exklusiv-perpetuelle Legitimation nur durch personelle und materielle, nicht aber durch funktionell-institutionelle Legitimationszusammenhänge geprägt wird189.

185

So im Ergebnis auch Jestaedt (Fn. 16), S. 280. So auch Saalfrank (Fn. 176), S. 55; Isensee (Fn. 178), S. 78. 187 Vgl. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rn. 35. 188 Siehe vor allem unten Kapitel 6 I. 3. b) = S. 309. In diesem Sinne auch Kadelbach, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 2007, S. 7 (10). 189 So offensichtlich auch Sommermann, Demokratiekonzepte im Vergleich, in: Bauer / Huber / ders. (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 191 (203), der ebenfalls nur von personeller sowie sachlicher Legitimation und insofern vom „Prinzip doppelter Legitimation“ spricht. 186

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Teil III: Volkssouveränität und EU

d) Zurechenbarkeit durch personelle und materielle Legitimation, wenn mehrere demoi als Legitimationssubjekt oder eine Organmehrheit respektive ein Kollegialorgan als institutioneller Träger demokratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht fungiert Aus den dargelegten Gründen kann ein Hoheitsakt auch dann exklusiv-per­ petuell legitimiert sein, wenn mehrere Völker gemeinsam einen Hoheitsakt beherrschen190. Voraussetzung ist freilich, dass insoweit die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn gewahrt bleibt. Ist dies der Fall und ist der Hoheitsakt infolgedessen nicht an einen einzigen demos, sondern an mehrere Völker zugleich rückgebunden, so verkomplizieren sich zwar typischerweise das Netzwerk per­ soneller und materieller Legitimation, im Rahmen dessen sich die grundsätzlich exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation ihren Weg bahnt. Es bleibt aber auch in dieser Konstellation dabei, dass sich die demokratische Dezisions- und Revisionsmacht ausschließlich über personelle und materielle Legitimationsbeiträge den legitimationsbedürftigen Hoheitsakten mitteilt. Kann beispielsweise eine bestimmte behördliche Entscheidung nur mit Billigung des Personalrats ergehen191, so wird sie in dezisionärer Hinsicht sowohl von diesem192 als auch von dem innerbehördlich zuständigen Amtswalter personell demokratisch legitimiert. Materiell-direktive Legitimation wächst der Entscheidung insoweit über die zu beachtenden Gesetze zu193. Materiell-kontrollativ legitimiert wird die Entscheidung zum einen dadurch, dass der Personalrat sich der Wiederwahl durch das Personalvolk stellen muss194; zum anderen wirkt insbesondere der Umstand, dass der Amtswalter weisungsunterworfen ist, im Sinn materiell-kon­ trollativer Legitimation. Unter dem Gesichtspunkt revisionärer demokratischer Legitimation müssen insofern zwei Legitimationszusammenhänge unterschieden werden; dafür gibt es keine materiell-direktiven Legitimationsstränge. Der eine revisionäre Legitimationszusammenhang wird über die Erlassbehörde und den Personalrat vermittelt, sodass dem betreffenden Hoheitsakt auch in revisionärer Hinsicht personelle demokratische Legitimation zugleich über die Erlassbehörde und den Personalrat zuwächst. Materiell-kontrollative Legitimation wird dem Hoheitsakt insofern vor allem aufgrund der Weisungsunterworfenheit der Erlassbehörde und der periodisch wiederkehrenden Personalratswahlen vermittelt. Ein zweiter Zusammenhang revisionärer Legitimation ergibt sich aus der im Regelfall zu bejahenden

190

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (1) = S. 271. 192 Anders freilich die herrschende Meinung, die den Personalrat ausnahmslos nicht als demokratisch legitimationsfähiges Teilvolk ansieht, vgl. nur Ilbertz / Widmaier, Bundespersonalvertretungsgesetz, 10. Aufl. 2004, vor § 66 Rn. 1. 193 Bryde (Fn. 74), S. 17 f. 194 Vgl. § 27 Abs. 1 BPersVG. 191

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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gesetz­geberischen Zugriffsmöglichkeit des Parlaments auf den Hoheitsakt195. Insofern wächst dem Hoheitsakt personelle Legitimation vom Parlament, materiellkon­trollative Legitimation aufgrund der regelmäßig wiederkehrenden Parlaments­ wahlen zu. Es zeigt sich, dass die Legitimationszusammenhänge bei der demoi-kratischen Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zwar komplexer sind als bei einem monolithischen Volk. In qualitativer Hinsicht gilt aber auch insoweit der Numerus clausus der spezifischen Legitimationsformen: Eine dezisionäre wie auch revisionäre Rückbindung an die verschiedenen (Haupt-, Ober- und Teil-) Völker erfolgt ausschließlich im Wege personeller und materieller Legitimation. Entsprechendes gilt, wenn die formelle Dezisions- beziehungsweise Revisionszuständigkeit bei mehreren demokratischen Organen zugleich beziehungsweise bei einem Kollegialorgan liegt. Dann vervielfachen sich zwar ebenfalls die personellen und materiellen Legitimationsstränge, durch die ein Hoheitsakt exklusivperpetuell an den Volkswillen rückgebunden wird. Es bleibt aber auch hier beim numerus clausus der spezifischen Legitimationsformen.

3. Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation im Verhältnis zur Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen Zwischen der Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation und der Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen muss sorgsam differenziert werden. Dies heißt zwar nicht, dass diese beiden Zurechnungstatbestände beziehungslos nebeneinander stünden. Man muss sich jedoch zunächst nochmals ihres jeweiligen Bedeutungsgehalts rückversichern, um sie in ein sinnvolles Verhältnis zueinander setzen zu können. Ist dies freilich erst einmal geschehen, so bestätigen sich die zur sogenannten funktionell-institu­ tionellen Legitimation angestellten Überlegungen. Danach leitet sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität kein spezifischer Legitimationsmodus, also kein bestimmtes Arrangement von Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang ab196. Des Weiteren lässt sich in dieser Perspektive näher analysieren, wie personelle und materielle demokratische Legitimation wirkt, wenn mehrere untereinander fremde Völker oder aber ein dezentrierter demos über Erlass und Fortbestand eines Hoheitsakts zu entscheiden befugt sind.

195

Zur Bedeutung des parlamentarischen Zugriffsrechts im demokratischen Verfassungsstaat Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 105. 196 So auch Emde (Fn. 1), S. 385.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

a) Das Verhältnis der beiden Zurechnungstatbestände Die Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation sowie die Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen benennen grundverschiedene Zurechnungstatbestände. Die Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation ist unmittelbar in der Zurechnungsstruktur demokratisierter Volkssouveränität angelegt. Sie bildet den Wesenskern von Volkssouveränität im demokratischen Sinn. Wird daher die ausschließliche und fortwährende Herrschaftsmacht des Volks beschnitten, so rührt dies notwendig an das Sein und Sollen der demokratiezentralen Volkssouveränität. Der Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation kommt vor diesem Hintergrund ein schlechthin substanzieller Gehalt zu. Anders verhält es sich bei der Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen. Diese nämlich haben einen primär instrumentellen Charakter: Personelle und materielle Legitimationszusammenhänge bewirken, dass – speziell unter den besonderen Bedingungen mittelbarer Demokratie – die exklusiv-perpetuelle Legitimation von Hoheitsakten und mithin die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität realiter Platz greifen kann. Die personelle und materielle demokratische Legitimation hat aus Sicht der demokratiezentralen Volkssouveränität also gerade keine schlechthin substanzielle Bedeutung. Die Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle Legitimation einerseits und durch spezifische Legitimationsformen andererseits steht vielmehr in einer Art Zweck-Mittel-Relation: Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität bezweckt die Zurechenbarkeit von Hoheitsakten aufgrund exklusiv-perpetueller demokra­ tischer Legitimation. Um diese Zwecksetzung speziell unter den Bedingungen mittelbarer Demokratie zu verwirklichen, bedarf es des Mittels mitunter hoch­ komplexer personeller und materieller Legitimationszusammenhänge. Diese Zweck-Mittel-Relation hat nun zum einen zur Konsequenz, dass den personellen und materiellen Legitimationsbeiträgen (nur) dann ein abgeleitet substanzieller Bedeutungsgehalt zuwächst, wenn und soweit sie die exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation und damit die Volkssouveränität vermitteln. Zum anderen und vor allem folgt aus der Zweck-Mittel-Relation, in der exklusiv-perpetuelle Legitimation und spezifische Legitimationsformen stehen, dass die Volkssouveränität nicht notwendig immer schon dann tangiert sein muss, wenn ein Hoheitsakt zwar über die eine spezifische Legitimationsform, nicht aber über die andere dezisionär beziehungsweise revisionär an den ausschließlichen Willen des Volks rückgebunden ist. Da nämlich die spezifischen Legitimationsformen durch das Prinzip der Volkssouveränität nicht selbst als Zweck gesetzt sind, sondern eben nur ein Mittel zum Zweck darstellen, tut der demokratische (Teil-)Ausfall einzelner Legitimationsstränge der vollumfänglichen und jederzeitigen Entscheidungsmacht des demos solange keinen Abbruch, als diese durch einen der anderen Legitimationsstränge vermittelt wird.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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b) Keine Festlegung auf einen spezifischen Legitimationsmodus Ist das Verhältnis von exklusiv-perpetueller Legitimation und spezifischen Legitimationsformen im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation zu bestimmen, so sieht sich auch die These bestätigt, der zufolge die Zurechnungsregel der Volkssouveränität keinen spezifischen Legitimationsmodus bedingt197. Denn wenn die spezifischen Legitimationsformen nur Mittel zum Zweck sind, dann kommt es für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität lediglich darauf an, dass durch sie in irgendeiner Weise zur exklusiv-perpetuellen Legitimation von Hoheitsakten bei­ getragen wird. In welchem konkreten Modus personeller und materieller Legitimation sich die exklusiv-perpetuelle Legitimation Bahn bricht, ist demgegenüber für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität ohne Bedeutung. Dies heißt nun allerdings nicht, dass die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität überhaupt keine Rückschlüsse auf die Ausgestaltung des Legitimations­ modus zuließe. So hat die nach der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität prinzipiell gebotene exklusiv-perpetuelle Legitimation beispielsweise zur Konsequenz, dass jeder Hoheitsakt, den das Volk selbst weder erlassen hat noch abändern kann, sowohl in dezisionärer wie auch in revisionärer Hinsicht zwingend materiell-kontrollativ legitimiert ist. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Die exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation setzt eine exklusiv-demokratische Revisionsmacht voraus. Infolgedessen besteht schon in der juristischen Sekunde nach dem volksmittelbaren Erlass eines Hoheitsakts die demokratische Möglichkeit, ihn wieder aufzuheben oder zu modifizieren. Dies wiederum hat zwangsläufig zur Konsequenz, dass die Dezision über den Hoheitsakt qua materiell-kontrollativer Legitimation an den Volkswillen rückgebunden ist. Denn die vorstehend in Anlehnung an Heller skizzierte genetische Struktur von Hoheitsakten198 lehrt, dass deren Erlass niemals nur durch materielle Direktive, sondern in größerem oder eben geringerem Umfang stets auch durch eine persönliche Wertung des Entscheiders determiniert wird. Dieser gegebenenfalls auch nur minimale dezisionäre Entscheidungsspielraum wird nun seinerseits wegen der in Hinblick auf den Hoheitsakt demokratienotwendig bestehenden Revisionsmacht zwangsläufig materiell-kontrollativ rückgebunden. Von einer demokratischen Revisionsmacht kann nämlich überhaupt nur dann die Rede sein, wenn das Volk selbst beziehungsweise seine Repräsentanten in der Lage sind, entweder den Entscheider oder aber dessen Entscheidung auszuwechseln. Diese Möglichkeiten aber begründen beide materiell-kontrollative Legitimation. Unter den Bedingungen einer vollumfänglich entfalteten demokratischen Zurechnungsstruktur wächst dem Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht daher notwendig zumindest ein Minimum an materiell-kontrollativer Legitimation zu.

197

Dazu auch schon oben Kapitel 6 I. 2. c) = S. 303. Vgl. Emde (Fn. 1), S. 385; ferner Jestaedt (Fn. 16), S. 298. 198 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Für die von demokratischen Amtsträgern fortgesetzt zu treffende Entscheidung, einen Hoheitsakt nicht abzuändern, versteht sich erst recht, weshalb sie im Rahmen einer voll ausgebildeten demokratischen Zurechnungsstruktur zwingend materiell-kontrollativ legitimiert ist. Denn diese Entscheidung beruht, wie bereits dargelegt, niemals auf einer materiellen Direktive, sondern immer nur auf einer Wertung des revisionsbefugten Entscheiders199. Nun vermag die von einem Amtsträger fortgesetzt getroffene Entscheidung, einen Hoheitsakt nicht zu modifizieren, selbstverständlich nur dann die demokratische Revisionsmacht des Volks zu vermitteln, wenn dieses selbst oder aber einer seiner Repräsentanten dazu ermächtigt ist, den betreffenden Amtsträger entweder abzusetzen oder seine Nicht­ revisionsentscheidung zu derogieren. Infolgedessen wächst einem Hoheitsakt unter den Bedingungen einer vollumfänglich entfalteten demokratischen Zurechnungsstruktur auch in revisionärer Hinsicht zwingend ein Mindestmaß an mate­ riell-kontrollativer Legitimation zu. Dass demnach in der Tat jeder vom Volk selbst weder erlassene noch revidierbare Hoheitsakt sowohl in dezisionärer Hinsicht als auch in revisionärer Hinsicht materiell-kontrollativ legitimiert sein muss, stellt nun freilich keine echte Fest­ legung des Legitimationsmodus dar. Dies ergibt sich daraus, dass die materiellkontrollativen Legitimationsstränge, durch die sich die exklusiv-demokratische Revisionsmacht Bahn bricht, in concreto denkbar verschieden ausgestaltet sein und den Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht auch ganz unterschiedlich weit erfassen können. Insofern bleibt es im Ergebnis dabei, dass Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang durch weitgehende modale Unbestimmtheit geprägt ist. Insbesondere lässt, wie eben schon allgemein an­ gesprochen200, das demokratiezentrale Erfordernis exklusiv-perpetueller Legitimation keineswegs den Schluss zu, dass sich einem Hoheitsakt die alleinige Dezi­ sions- und Revisionsmacht des Volkes immer sowohl über den personellen als auch über den materiellen Legitimationsstrang mitteilen müsste, um in Wirklichkeit zu erstarken. Diese auf einer sehr abstrakten Ebene gewonnene Einsicht soll im Folgenden nochmals für den Fall veranschaulicht werden, dass ein Hoheitsakt von einem nicht eigens vom Staat bestellten Beliehenen201 oder aber von volksberufenen Amtsträgern gemeinsam mit Privatpersonen erlassen wird, die ihrerseits von gesellschaftlichen Gruppen ohne (Teil-)Volkscharakter benannt worden sind202. In diesem Fall liegt es auf der Hand, dass über den personell-demokratischen Legitimationsstrang nicht die demokratietheoretisch an sich geforderte exklusive Dezisionsmacht des Volkes vermittelt werden kann. Da der personelle Legitima­ 199

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) bb) = S. 299. Siehe oben Kapitel 6 I. 3. a) = S. 308. 201 Siehe oben Fn. 125. 202 Siehe oben Fn. 127.

200

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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tionsstrang aber zunächst nur instrumentellen Charakter hat, führt dessen demokratische Unzulänglichkeit nicht zwingend zu einer Beeinträchtigung der Volkssouveränität. Zu überlegen ist daher, ob die demokratisch an sich gebotene Zurechenbarkeit durch exklusiv-demokratische dezisionäre Legitimation nicht auch über andere Legitimationsstränge gewährleistet werden kann. Bis zu einem gewissen Grade lässt sich das demokratische Manko, dass der personell-demokratische Legitimationsstrang insuffizient ist, durch entsprechend rigidere Direktiven des demokratischen Gesetzgebers beheben203. Denn soweit der Private bei seinen Mitentscheidungsakten an bestimmte demokratisch legitime Vorgaben gebunden ist, bleibt er mit seinem Handeln an den Volkswillen rück­ gebunden und trägt insofern dazu bei, dass die demos-kratische Dezisionsmacht qua materiell-direktiver Legitimation vermittelt wird204. Nun ist freilich schon verschiedentlich dargelegt worden, dass sich die dezisionäre Rückkoppelung eines Hoheitsakts an den Volkswillen allenfalls teilweise im Wege materiell-direktiver Legitimation Bahn zu brechen vermag. Dies hängt mit der eben nochmals angesprochenen genetischen Struktur von Hoheitsakten zusammen, wie sie sich in Anknüpfung an Hermann Heller beschreiben lässt205. Aus dieser erschließt sich, dass ein Hoheitsakt stets und immer durch eine persön­ liche Wertung des Entscheiders mitbedingt wird. Vor diesem Hintergrund könnte man zumindest prima facie den Eindruck gewinnen, dass die einem Hoheitsakt zu­grundeliegende Dezision immer auch personell demokratisch legitimiert sein muss, damit sie als Ausfluss exklusiv-demokratischer Dezisionsmacht gewertet werden kann. Dies wäre allerdings nur dann anzunehmen, wenn allein ein unmittelbar oder mittelbar demokratisch bestellter Amtsträger aufgrund seiner direkt oder indirekt auf das Volk zurückführenden Berufungskette in der Lage wäre, in seinen Ent­ scheidungen den Volkswillen zu vergegenwärtigen. Insofern ist freilich zu berücksichtigen, dass die Berufung an sich noch nicht erklärt, weshalb ein Amtsträger sich in seinen Entscheidungen am Volkswillen orientiert und insofern personelle demokratische Legitimation vermittelt. Stattdessen lehrt die wirklichkeitswissenschaftliche Betrachtung, dass die Übertragung eines bestimmten öffentlichen Amtes deshalb legitimatorische Effekte zeitigt, weil sie den Amtsträger inzitativ zur Ausrichtung seiner Entscheidungen am aktuellen Volkswillen anhält206. Eine solche legitimatorische Wirkung lässt sich freilich auch in Hinblick auf Entscheidungsträger erzielen, die weder unmittelbar noch mittelbar von einem Volk berufen wurden: Unterliegen solche privaten Entscheidungsträger einer rechtsfolgenbewehr 203 Dies ist auch im Bereich des technischen Sicherheits- und Umweltrechts möglich, wo das Steuerungspotenzial des Parlamentsgesetzes deutlich höher ist, als gemeinhin angenommen wird (dazu eingehend Murswiek [Fn. 127], S. 663 ff. und 668 ff.). 204 Freitag (Fn. 105), S. 88. 205 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295. 206 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

ten Kontrolle durch demokratische Instanzen, so werden sie gleichfalls inzitativ dazu angehalten, sich auch dort, wo es nicht um die Umsetzung klarer demokratischer Normvorgaben geht, am Willen der Kontrollinstanzen und damit mittelbar am Volkswillen zu orientieren. Die privaten Entscheidungsträger tragen in diesen Fällen gegebenenfalls dazu bei, dass sich die vollumfängliche Dezisionsmacht des Volkes den betreffenden Hoheitsakten im Wege materiell-kontrollativer Legitimation kommuniziert. Dies ist dann der Fall, wenn die zu gewärtigenden Kontrollmaßnahmen so eingreifend für sie sind, dass sich die privaten Entscheidungsträger von vornherein an den Wertungen der demokratischen Kontrollinstanzen ausrichten werden – und nicht an den eigenen Interessen beziehungsweise an den Interessen derjenigen Privaten, die sie benannt haben. Es ist infolgedessen keineswegs ausgeschlossen, wenn auch nicht eben häufig, dass die personelle demokratische Legitimation durch die materiell-kontrollative vollends substituiert wird207. Ungeachtet dessen, dass eine Hoheitsentscheidung niemals nur in Nachvollzug vorgegebener Normen ergeht, sondern immer zugleich eine persönliche Wertung des Entscheiders transportiert, lässt sich somit festhalten, dass die vollumfängliche Dezisionsmacht des Volkes und damit die exklusiv-demokratische dezisionäre Legitimation nicht notwendig durch personelle, sondern stattdessen auch bloß durch materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge vermittelt werden kann. Demzufolge lässt sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität auch nicht zwingend auf einen Legitimationsmodus schließen, wonach prinzipiell alle Hoheitsakte in dezisionärer Hinsicht personell demokratisch legitimiert sein müssten. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für die revisionäre Legitimation.

c) Personelle und materielle demokratische Legitimation bei Verteilung der demokratischen Entscheidungs- und Revisionsgewalt auf verschiedene Völker Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität realisiert sich nur dort vollumfänglich, wo ein Hoheitsakt auf die exklusive Dezisions- und Revisionsmacht des Volkes rückführbar ist208. Die demnach demokratietheoretisch regelmäßig vorauszusetzende exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation muss dabei speziell unter den Bedingungen moderner Großstaatlichkeit durch zahlreiche, freilich sehr unterschiedlich organisierbare personelle und materielle Legitimationszusammenhänge hindurchgeleitet werden209. Die einzelnen personellen und materiellen Legi­ 207 Für eine Ersetzbarkeit der personellen demokratischen Legitimation – wenn auch deutlich weitergehend als hier – Schuppert, Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 65 (71). 208 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. = S. 253. 209 Dazu auch – in Auseinandersetzung mit der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung – Blanke, Antidemokratische Effekte der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie, in: KJ 1998, S. 452 (468 ff.).

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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timationsbeiträge vermögen folglich nur in dem Maße Demos-kratie zu vermitteln, als sich in ihnen und durch sie die exklusive Dezisions- und Revisionsmacht des Volkes manifestiert210. Diese vorstehend näher begründete Sichtweise bedarf nun für die Fälle der Präzisierung, in denen ein bestimmter Hoheitsakt nicht ohne Weiteres als Ausfluss einer exklusiven demos-kratischen Dezisions- und Revi­ sionsmacht gewertet werden kann und folglich auch das demos-kratische Vermittlungsvermögen der einzelnen Legitimationsbeiträge in Frage steht. Im Weiteren ist daher zu überlegen, wie personelle und materielle demokratische Legitimation verfangen, wenn die unter demokratischen Gesichtspunkten maßgebliche voll­ umfängliche und jederzeitige Dezisions- und Revisionsbefugnis auf verschiedene untereinander fremde Völker oder  – bei dezentrierter Erzeugung staatsgebiets­ einheitlicher Volkssouveränität  – auf verschiedene Ober-, Teil- sowie Untervölker verteilt ist. Vergleichsweise klar ist die Sachlage, wenn sich ein Volk die Dezisions- und Revisionsbefugnis in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt mit einem ihm gänzlich fremden Machtträger teilen muss. So ist etwa ein völkerrechtliches Verwaltungsabkommen211 in dezisionärer Hinsicht über die Entscheidung der demokratisch gewählten Regierung, den Vertrag abzuschließen, personell demokratisch legitimiert. Aufgrund der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung sowie ihrer indirekten Abhängigkeit vom Wahlvolk wächst ihm insoweit zugleich auch materiell-kontrollative Legitimation zu. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Fall keine exklusiv-demokratische dezisionäre Legitimation vermittelt wird, weil die demokratische Dezisionsmacht keine exklusive, sondern eine partizipative ist: Die demokratische Regierung kann nicht allein, sondern nur im fallweise herbeizuführenden Konsens mit den Vertretern des anderen Vertragsstaates über Inhalt und Inkrafttreten des Verwaltungsabkommens bestimmen; infolgedessen kann auch der von der parlamentarischen Kontrollmöglichkeit beziehungsweise den jeweils anstehenden Wahlen ausgehende und auf den Er­ lasszeitpunkt vorwirkende ‚sanfte Zwang‘ nur in beschränktem Umfang zum Tragen kommen. Personelle und materielle Legitimationsbeiträge vermögen in einer solchen Konstellation nicht die für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität an sich kennzeichnende exklusiv-demokratische, sondern lediglich eine partizipative dezisionäre Legitimation zu vermitteln. Entsprechendes gilt für die revisionäre Legitimation. Das Verwaltungsabkommen kann zwar nur mit Willen der parlamentarisch verantwortlichen und mittelbar vom Wahlvolk abhängigen Regierung revidiert werden, sodass sich ihm die Revisionsmacht des Volks sowohl im Wege personeller als auch in dem materiell-kontrollativer Legitimation mitteilt. Jedoch befindet nicht die Regierung allein über 210 Zur lediglich dienenden Funktion speziell der personellen Legitimation siehe Tschen­ tscher (Fn. 108), S. 141 f. 211 Dazu zum Beispiel Tomuschat (Fn. 34), Sp. 3807 sowie Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 59 Rn. 76 ff.

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Modifikation und Aufhebung des Verwaltungsabkommens, sodass die über den personellen sowie materiell-kontrollativen Legitimationsstrang vermittelte revisionäre Legitimation keine exklusiv-demokratische, sondern eine bloß partizipative ist. Anders verhält es sich demgegenüber, wenn die Dezisions- und Revisionsmacht hinsichtlich eines bestimmten Hoheitsakts zwar bei mehr als einem Volk liegt, diese Mehrzahl von Völkern aber so zusammenwirkt, dass sie staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu erzeugen vermag und insofern von einer exklusivdemokratischen Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht auszugehen ist212. Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel einer gemeindlichen Satzung, die außer vom Gemeindevolk auch noch durch landesgesetzliche Vorgaben und damit vom Landesvolk her legitimiert wird213. Dass die Satzung als Ganze nur bedingt der Dezisions- und Revisionsmacht des Gemeindevolks untersteht, führt – anders als im Beispiel des völkerrechtlichen Verwaltungsabkommens – nicht dazu, dass diese vom Gemeindevolk her nur partizipativ legitimiert wäre. Denn die sich in der Satzung gleichfalls manifestierende Dezisions- und Revisionsmacht des Landesvolks steht nicht in Gegensatz zu der des Gemeindevolks. Vielmehr wirken, wie bereits besprochen214, Gemeindevolk als Untervolk und Landesvolk als Obervolk dergestalt zusammen, dass die Satzung als Ausfluss staatsgebietseinheit­ licher Volkssouveränität angesehen werden kann. Soweit daher die beiden Völker im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Satzung beherrschen, bricht sich darin ein und dieselbe ausschließliche und fortwährende demos-kratische Herrschaftsmacht Bahn215. Wenn folglich der Satzung durch den Erlassbeschluss des Gemeinderats personelle demokratische Legitimation zuwächst, so vermittelt dieser Legitimationsbeitrag nicht anders als der auf dem Landesgesetz beruhende materiell-direktive Legitimationsbeitrag keine bloß partizipative, sondern eine ex­ klusiv-demokratische dezisionäre Legitimation.

4. Mittelbare Legitimation und Volkssouveränität Ausgangspunkt der Überlegung zu den spezifischen Legitimationsformen war gewesen, dass diese insbesondere auch dort zu einer Rückbindung an den Volkswillen beitragen, wo die demokratische Allgemeinheit einen Hoheitsakt nicht selbst unmittelbar setzt und fortdauernd beherrscht216. Daran anknüpfend wurde sodann der bloß instrumentelle Charakter der spezifischen Legitimationsformen betont: Diese sind bloßes Mittel zum Zweck exklusiv-perpetueller demokratischer 212

Dazu näher oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. Zum Beispiel eine Kommunalabgabensatzung. 214 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (1)= S. 271. 215 Dies ist, soweit es das Zusammenwirken der räumlich radizierten Teilvölker, der Gebietskörperschaften, anbelangt, unbestritten – dazu nur Jestaedt (Fn. 16), S. 210 ff. 216 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. = S. 281. 213

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Legitimation von Hoheitsakten217. Allerdings ist bislang noch nicht abschließend geklärt worden, weshalb Hoheitsakte auch dort durch personelle und materielle Legitimationsbeiträge dauerhaft an den demokratischen Volkswillen rückgekoppelt werden, wo nicht das Volk seine Dezisions- und Revisionsmacht unmittelbar wahrnimmt. Wie durch mittelbare personelle und materielle Legitimationsbeiträge Volkssouveränität operationalisiert wird, bedarf daher noch einer tiefschürfenderen Analyse. So ist insbesondere auf jene demokratietheoretische Lücke zurückzukommen, von der in Zusammenhang mit der personellen und – wenn auch in geringerem Umfang  – bezüglich der materiell-kontrollativen Legitimation die Rede war218. Diese beiden spezifischen Legitimationsformen wirken nämlich lediglich inzitativ, sodass nicht ohne Weiteres unterstellt werden kann, dass der in dieser Weise legitimierte Erlass eines Hoheitsakts beziehungsweise das so legitimierte Unterlassen einer an sich möglichen Revisionsentscheidung vom aktuellen Volkswillen getragen wird. Denn da der betreffende Legitimationsmittler insoweit lediglich an­ geregt wird, amtspflichtgemäß beziehungsweise entsprechend den Vorstellungen der Kontrollinstanz zu handeln, bleibt die Ausrichtung am Volkswillen eine mitunter nur sehr unvollkommene, prekäre. Dass ein nicht unmittelbar volksbeschlossener Hoheitsakt, der allein über den personellen Legitimationsstrang rückgekoppelt ist, niemals als Ausfluss der Volkssouveränität gewertet werden kann und auch der materiell-kontrollative Legitimationsstrang, für sich allein betrachtet, vielfach nicht ausreicht, um in einem Hoheitsakt den Volkswillen zu vergegenwärtigen, vermag sich nun zugleich auch auf den materiell-direktiven Legitimationsstrang auszuwirken. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die legitimierend wirkende materielle Direktive nur ausnahmsweise auf das Volk selbst zurückführt. In der Regel aber wird auch sie über personelle beziehungsweise materielle Legitimationsstränge mittelbar an den Volkswillen rückgebunden. Soweit indes die insofern greifenden personellen beziehungsweise materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge in Hinblick auf die zu generierende Volkssouveränität unzulänglich sind, wirkt sich dies auch auf die materiell-direktive Legitimation aus. Die materielle Direktive vergegenwärtigt unter diesen Voraussetzungen nicht länger den Volkswillen und vermag diesen denn auch nicht den von ihr regulierten Hoheitsakten aufzuzwingen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass in einer funktionierenden mittelbaren Demokratie die einander ergänzenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsstränge zwingend dergestalt zusammenlaufen müssen, dass bei wertender Betrachtung davon ausgegangen werden kann, dass die von einem magistratischen Repräsentanten oder einem sonstigen Amtsträger getroffenen Entscheidungen dem aktuellen Volkswillen auch dort zum Durchbruch verhelfen, wo 217

Siehe oben Kapitel 6 I. 3. a) = S. 308. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285 und Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290.

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sie nicht durch ihrerseits den Volkswillen vergegenwärtigende materielle Direk­ tiven determiniert werden. Denn nur unter dieser Voraussetzung bricht sich im Rahmen mittelbarer Demokratie die demokratiezentrale Volkssouveränität Bahn. Das Volkssouveränität generierende Zusammenspiel von personeller und materieller Legitimation wird durch den hier sogenannten Prozess dauerhafter demokra­ tischer Legitimation erreicht. Er stellt sicher, dass auch Hoheitsakte, die nicht vom Volk selbst entschieden werden und auf die es de constitutione lata auch keinen direkten Zu- beziehungsweise Durchgriff hat, exklusiv-perpetuell an den Volkswillen rückgebunden bleiben.

II. Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation Der für die mittelbare demokratische Legitimation öffentlicher Gewalt konstitutive andauernde Legitimationsprozess kommt in den zeitgenössischen, modernen Demokratien zunächst und zuvörderst durch das System magistratischer Repräsentation zustande. Dieses beruht darauf, dass sich das Volk in regelmäßigen Wahlen für oder gegen bestimmte magistratische Repräsentanten aussprechen kann, die über den Erlass der gebietsgesellschaftlich maßgeblichen Hoheitsakte entscheiden und erlassene Hoheitsakte auch wieder revidieren können219. Durch Affirmation oder Negation solcher magistratischer Repräsentanten – und dadurch zugleich auch der von ihnen verkörperten Programme220 – kann das Volk bestimmenden Einfluss auf die gesamte Hoheitstätigkeit gewinnen221. Dabei steht die Periodizität der Wahlen222 der Permanenz des Legitimationsflusses deshalb nicht entgegen, weil ein Wahlakt nachwirkt, die in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehrende (Ab-)Wahlmöglichkeit vorwirkt223, sodass die magistratischen Re­ präsentanten dauerhaft durch den Volkswillen orientiert werden und infolgedessen die Wahrnehmung hoheitlicher Gewalt insgesamt vom aktuellen Volkswillen beeinflusst bleibt224. In dieser Perspektive realisiert sich Volkssouveränität denn auch nicht länger nur herrschaftlich ‚von oben nach unten‘, wie dies ihre Rekonstruktion als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang sugge 219

Vgl. etwa Gusy (Fn. 11), S. 153 f. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982, S.  277 ff., Groß (Fn.  129), S.  179 und ­Huber (Fn. 23), S. 353. 221 Dazu nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, § 5 Rn. 155. 222 Dazu Hofmann, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 161 (176); auch Isensee (Fn. 26), S. 171 sowie Velten (Fn. 142), S. 28. 223 Herzog, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 20 II, Rn. 70; vgl. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 39 f. 224 In diesem Sinne auch Beetham, Liberal Democracy and the Limits of Democratization, in: Held (Hrsg.), Prospects for Democracy, 1993, S. 55 (63 f.) und Müller, Das imperative und das freie Mandat, 1966, S. 223 ff. Vernachlässigt werden diese Zusammenhänge von Leisner, Das Volk?, 2005, S. 125 ff. 220

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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riert225. Vielmehr wirkt die Volkssouveränität in ihrer – zweiten – Vertikaldimension als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation gleichsam ‚von unten nach oben‘226 und fügt sich insofern in die indviduumszentrierten Demokratie­ paradigmen ein227. Zugleich zeigt sich, dass das Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation operationalisierende System magistratischer Repräsentation ein spezifisches Zusammenspiel von personeller und materiell-kontrollativer Legitimation entbindet, das die demokratischen Unzulänglichkeiten dieser spezifischen Legitimationsformen überwindet. Denn personelle und materiell-kontrollative Legitimation laufen unter den Voraussetzungen des Systems magistratischer Legitimation dergestalt zusammen, dass bei wertender Betrachtung angenommen werden kann, die magistratischen Repräsentanten erfüllten wirk-lich ihren amtsgemäßen Auftrag der Volksrepräsentation und anverwandelten sich tat-sächlich den Willen des sie kontrollierenden Volks. Parlament und Regierung werden unter den Bedingungen des Systems magistratischer Repräsentation so effektiv und nachhaltig dazu angeregt, ihrem Repräsentationsauftrag Folge zu leisten und den Willen des sie kontrollierenden Volks treulich umzusetzen, dass die von ihnen erlassenen und in Geltung erhaltenen Hoheitsakte als dauerhaft vom Volkswillen getragen qualifiziert werden können228. Steht mithin im Ausgangspunkt fest, dass es das System magistratischer Repräsentation ist, das in den zeitgenössischen Demokratien die Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation ins Werk setzt und insofern auch ein demokratievermittelndes Zusammenspiel von personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation ermöglicht, sollen im Folgenden zunächst zwei Aspekte dieses Systems näher untersucht werden. So gilt es, die besondere Bedeutung des Parlaments im System magistratischer Repräsentation zu verdeutlichen. Des Weiteren ist der Frage nachzugehen, wie in diesem eigentlich doch auf der magistratischen Repräsentation aufbauenden System auch die Amts­träger ohne repräsentative Funktion in den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation eingebunden sind. In dieser doppelten Perspektive wird sich für das System magistratischer Repräsentation bestätigen, was soeben auch schon für das Verhältnis zwischen der Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang einerseits, als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation andererseits herausgestellt wurde – nämlich dass sich in der Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität insofern Elemente des verbandsorientierten Demokratieverständnisses mit solchen der individuumszentrierten Demo 225

So auch Marcic, Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie, in: Ehmke / Schmid / Scharoun (Hrsg.), Festschrift für Arndt, 1969, S. 267 (271). 226 Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 463 (468). 227 Zu diesen siehe oben Kapitel 5 = S. 182. 228 Siehe dazu auch Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, 1954, S. 23: „Repräsentation ist äußerlicher Herrschaftstatbestand bei tatsächlicher Nichtherrschaft.“

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kratiekonzeption verbinden. Vor dem Hintergrund des in dieser Weise entfalteten Systems magistratischer Repräsentation bleibt abschließend noch auf den strukturellen Zusammenhang zwischen Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang einerseits und als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation andererseits hinzuweisen. Dieser besteht, wie bereits angedeutet, darin, dass der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation auf einem definiten Zusammenspiel personeller und materieller Legitimationsstränge beruht, mithin also mit einem spezifischen Modus demokratischer Legitimation korreliert. 1. Das Parlament im System magistratischer Repräsentation Mit den Begriffen der magistratischen Repräsentation und des magistratischen Repräsentanten wird klargestellt, dass es insoweit nicht nur um Parlamentarier geht229, sondern grundsätzlich auch an sonstige hohe Amtsträger zu denken ist, sofern ihr Amt dem Prinzip von Wahl und Wiederwahl unterworfen ist230. Diese begriffliche und konzeptionelle Weiterung kann jedoch nicht über die besondere Bedeutung hinwegtäuschen, die der parlamentarischen Repräsentation und den parlamentarischen Repräsentanten für das System magistratischer Repräsentation und infolgedessen für den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation zukommt231. So weist das System magistratischer Repräsentation in der politischen Wirklichkeit durchweg die Eigenheit auf, dass mit dem Parlament eine Art wesensgleiches Minus zum Volksganzen existiert232: Aufgrund seiner besonderen politischen Konstruktion, infolge seiner spezifischen deliberativ-diskursiven Entscheidungsprozesse233 sowie wegen des Selbst- und Fremdverständnisses seiner Mitglieder als Abgeordnete, Deputierte, Repräsentanten ist das Parlament innerhalb des Systems magistratischer Repräsentation in besonderem Maße angetan, den in den gesellschaftlichen Diskursen artikulierten aktuellen Volkswillen zu rezipieren und in korresponsivem Austausch234 mit den gesellschaftlichen Akteu 229

In diesem Sinne auch Böckenförde (Fn. 195), S. 105, dort Fn. 7. Zu dem noch weiter gefassten Begriff des Repräsentanten bei Kant vgl. Maus (Fn. 53), S. 191 ff. Zu dem hier zu Grunde gelegten Begriffsverständnis Hermann Hellers: Mori, Die staatliche Willensbildung in der differenzierten Gesellschaft, in: ARSP 2000, S. 185 (189). 231 Zur zentralen Rolle des Parlaments in der mittelbaren Demokratie vgl. etwa Murswiek, Parlament, Kunst und Demokratie, in: Dörr u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schiedermair, 2001, S. 211 (219); auch Spieß (Fn. 173), S. 127; Jestaedt (Fn. 16), S. 306 ff.; Grimm (Fn. 93), S. 37; Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S. 85 f. 232 v. Komorowski (Fn. 23), S. 138. 233 v. Komorowski (Fn. 23), S. 140 f. 234 Dazu auch Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, 2001, S. 85 ff.; Benz, Demokratiereform durch Föderalisierung?, in: Offe (Hrsg.), Demokra­ tisierung der Demokratie, 2003, S. 169 (172); v. Komorowski (Fn. 23), S. 138; Reichel, Das demo­kratische Offenheitsprinzip und seine Anwendung im Recht der politischen Parteien, 1996, S. 111 f.; Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 110; Beierwaltes, Demokratie und Medien, 2. Aufl. 2002, S. 45 ff.; Isensee (Fn. 140), S. 27. 230

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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ren235 das Volk als vielheitlich bewirkte demokratische Entscheidungseinheit zu vergegenwärtigen236. Gerade über das Parlament ist es insofern möglich, Volkssouveränität in der mittelbaren Demokratie als Prozess dauerhafter Legitimation zu begründen. Aus diesen strukturellen, prozeduralen und daraus resultierenden mentalen Zusammenhängen folgt gleichzeitig, dass der vom Parlament vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimation eine besonders hohe legitimatorische Kraft zukommt. Denn aufgrund dieser Zusammenhänge werden Parlamentarier besonders effektiv und nachhaltig dazu angeregt, ihren Repräsentationsauftrag zu befolgen und dem Willen ihrer Kontrollinstanz nachzukommen. Infolgedessen kommt im legitimationsvermittelnden Verhalten des Parlaments – ganz gleich, ob es sich um positives Tun oder um Unterlassen handelt – der Volkswille unmittel­ barer, unverfälschter, eben repräsentativer zum Ausdruck als im legitimationsvermittelnden Verhalten sonstiger magistratischer Repräsentanten. Daraus wiederum ergibt sich, dass soweit Berufungs-, Gesetzes- oder Kontrollzusammenhänge auf das Parlament zurückführen, den insoweit vermittelten Legitimationsbeiträgen eine besonders hohe demokratische Wirkkraft zukommt.

2. Das System demokratischer Administration als Fortsetzung des Systems magistratischer Repräsentation Auch in einem Gemeinwesen, in dem ein System magistratischer Repräsentation etabliert wurde, werden die allermeisten Hoheitsakte nicht von magistratischen, geschweige denn von parlamentarischen Repräsentanten, sondern von sonstigen Amtsträgern erlassen und gegebenenfalls auch revidiert. Diese sonstigen Amtsträger indes unterliegen nicht dem demokratischen Prinzip von Wahl und Wiederwahl. Sie werden daher nicht direkt von dem System magistratischer Repräsentation erfasst, auf dem an und für sich der Prozess dauerhafter demo­ kratischer Legitimation beruht. Das System magistratischer Repräsentation findet im System demokratischer Administration seine Fortsetzung237. Dieses trägt seinerseits dazu bei, dass auch die sonstigen Amtsträger in den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation eingebunden werden: Das System demokratischer Administration beruht in erster Linie darauf, dass die sonstigen Amtsträger auf durch von magistratischen Repräsentanten gesetztes Recht verpflichtet und hierdurch an den Prozess 235 Dass die Staatswillensbildung nicht gegen die Volkswillensbildung abgeschottet werden darf, betont Abendroth, Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mit­bestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, 1953, S. 5 ff. sowie ders., Grundgesetz, 3. Aufl. 1973, S. 80 ff. 236 Heller (Fn. 226), S. 468 f. 237 Dazu auch Jestaedt (Fn. 16), S. 193 ff.; Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokra­ tischen Staat, 1991, S. 125 ff.; Oebbecke (Fn. 11), S. 67.

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dauer­hafter demokratischer Legitimation rückgekoppelt sind238. Soweit ihre Entscheidungen indes nicht durch die Vorgaben der magistratischen Repräsentanten gebunden sind, ist zum einen zu berücksichtigen, dass sie aufgrund des ihnen übertragenen Amts gehalten sind, den politischen Willen der ihnen vorgesetzten magistratischen Repräsentanten nachzuvollziehen239; zum anderen werden sie unter dem Eindruck der letztinstanzlich magistratischen Repräsentanten zustehenden Kontrollgewalt animiert, sich an dem in deren Wertungen vergegenwärtigten Volkswillen zu orientieren240. Indem die inzitative Amtsübertragung fortwirkt, die möglichen Kontrollmaßnahmen vorwirken, müssen sich die sonstigen Amtsträger auch dort dauerhaft an den volksrepräsentativen Wertungen der magistratischen Repräsentanten ausrichten, wo sie nicht ohnehin schon durch deren gesetzesförmige Direktiven inhaltlich gebunden sind241. Infolgedessen bleibt das System demokratischer Administration rückgebunden an das System magistratischer Repräsentation und mithin eingebunden in den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation. Bei wertender Betrachtung lässt sich somit auch für das System demokratischer Administration konstatieren, dass personelle und materiell-kontrollative Legitimation ersichtlich dergestalt zusammenlaufen, dass die sonstigen Amtswalter wirklich den ihnen von Amts wegen auferlegten Auftrag erfüllen, die politischen Leitlinien der ihnen vorgesetzten magistratischen Repräsentanten zu vollziehen, und sich tat-sächlich den Willen anverwandeln, den die sie kontrollierenden magis­ tratischen Repräsentanten in Vergegenwärtigung des Volkswillens gefasst haben. Die sonstigen Amtsträger werden mit anderen Worten so effektiv und nachhaltig durch nachwirkenden Vollzugsauftrag und vorwirkende Kontrollmöglichkeit zur beständigen Durchsetzung des von der demokratischen Magistratur ver­ gegenwärtigt Volkswillen animiert, dass sich jene demokratietheoretische Lücke, die nicht nur die personelle Legitimation kennzeichnet, sondern auch die materiell-kontrollative Legitimation prägt und gegebenenfalls sogar den materielldirektiven Legitimationsstrang zu infizieren vermag, als im Endeffekt geschlossen erweist. Vor diesem Hintergrund treten denn auch die Eigenheiten des Systems demokratischer Administration klar hervor. Zum einen wird erkennbar, dass der für das System demokratischer Administration prägende öffentliche Dienst seinerseits strukturelle, prozedurale und  – daraus resultierend  – mentale Zusammenhänge begründet, die wesentlich dazu beitragen, dass sich die Volkssouveränität

238

Schmidt-Aßmann (Fn. 30), S. 357: „Die Gesetzesbindung der Exekutive ist nicht nur der Kern des rechtsstaatlichen, sondern auch des demokratischen Verwaltungsrechts.“ 239 Schmidt-Aßmann (Fn. 30), S. 362. 240 Diese Kontrollgewalt nimmt vor allem über die Instrumente der Aufsicht Gestalt an (vgl. etwa Maurer [Fn. 125], § 22 Rn. 31 ff. [Fachaufsicht] und § 23 Rn.18 ff. [Rechtsaufsicht]; auch Zippelius [Fn. 100], § 37 II 2). 241 Kritisch dazu Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002, S. 232.

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als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation Bahn bricht, sich mithin personelle und materiell-kontrollative Legitimationsstränge in demokratiebegründender Weise ergänzen. Zum anderen werfen die Überlegungen zum System demokratischer Administration nochmals ein erhellendes Schlaglicht auf den Umstand, dass den sonstigen Amtsträgern kein Repräsentationsauftrag zukommt und sie also keine originäre, sondern lediglich eine derivative personelle demokratische Legitimation vermitteln. So sind öffentliche Bedienstete wegen ihrer Eingliederung in das hierarchisch geordnete Verwaltungssystem242, aufgrund ihrer Einbindung in letztlich auf Befehl beruhende Entscheidungsprozesse243 sowie infolge ihres daraus erwachsenden Selbst- und Fremdverständnisses als Staatsdiener in besonderem Maße dazu disponiert, die Vorgaben der ihnen vorgesetzten demokratischen Magistratur dauerhaft zu vollziehen und dadurch – mittelbar – Demokratie als Prozess dauer­hafter demokratischer Legitimation zu operationalisieren244. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn man die öffentlichen Bediensteten mit Beliehenen vergleicht, bei denen diese strukturellen, prozeduralen und mentalen Zusammenhänge teils völlig fehlen, teils sehr viel schwächer ausgeprägt sind. Ein über Beliehene vermittelter Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation wird sich daher typischerweise als durchweg zähflüssiger erweisen. Dem entspricht, dass den von öffentlichen Bediensteten vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen eine vergleichsweise hohe legitimatorische Kraft zukommt. Denn aufgrund besagter struktureller, mentaler und prozeduraler Zusammenhänge werden öffentliche Bedienstete besonders effektiv und nachhaltig instigiert, ihren Vollzugsauftrag amtsgemäß zu erfüllen und den Willen der sie kontrollierenden demokratischen Magistratur zu befolgen. Und folglich kommt den materiellen Legitimationszusammenhängen, die über Sachentscheidungen öffentlicher Bediensteter laufen, auch eine größere legitima­ torische Kraft zu als denjenigen, die über Sachentscheidungen Beliehener vermittelt werden. Aus diesen Erwägungen erhellt zugleich, dass und weshalb den sonstigen Amtsträgern kein Repräsentationsauftrag zukommt und sie daher keine originäre, sondern lediglich eine derivative personelle demokratische Legitimation vermitteln. Denn im System demokratischer Administration fehlt es an einem Verfahrens­

242 Dazu grundlegend Dreier (Fn.  237). Vgl. auch Preuß (Fn.  102), S.  53 f.: „Regieren im demo­kratischen Staat erfordert mithin – und das klingt paradox – eine hierarchische Exekutive.“ Auch Klein, Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Grundgesetzes, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 78 (82). 243 Kelsen, Staatslehre, 1925, S. 366 f. spricht insofern pointiert von der autokratischen Gesetzesvollziehung, die aber „keineswegs im Gegensatz zur Demokratie der Gesetzgebung“ stehe. 244 Vgl. zu diesen Zusammenhängen – mit freilich staatskonservativem Zungenschlag – Leisner (Fn. 110), S. 90 ff.

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arrangement, das – wie im System magistratischer Repräsentation245 – nicht nur normativ, sondern zugleich auch ganz real darauf hinzielt, dass sich die betreffenden Amtsträger aufgrund ihrer Berufung unmittelbar an den Volkswillen rück­ gebunden fühlen und diesen in der Folge vergegenwärtigen. Stattdessen inzitieren Berufungsakte im hierarchisierten System demokratischer Administration zur Befolgung der Vorgaben vorgesetzter Stellen, woraus sich der fehlende Repräsen­ tationsauftrag der sonstigen Amtsträger wie auch der bloß derivative Charakter der von ihnen vermittelten personellen Legitimation erschließt. Anzumerken bleibt, dass die nun schon mehrfach betonte Unterscheidung zwischen magistratischen Repräsentanten und sonstigen Amtsträgern nicht bloß von akademischem Interesse ist, sondern sich als durchaus folgenreich erweist246. Während nämlich die magistratischen Repräsentanten von Amts wegen den aktuellen Volkswillen zu vergegenwärtigen haben, sind die sonstigen Amtsträger lediglich als ‚Diener des Volkes‘247 und gerade nicht als Volksvertreter248 zu qualifizieren. Muss der sonstige Amtsträger daher eine Entscheidung treffen, hat er von Amts wegen im Rahmen von Gesetz und Verfassung den (mutmaßlichen) Willen der ihm vorgesetzten Instanzen umzusetzen249. Ist dieser nicht ermittelbar, hat der Amtsträger nicht den demokratischen Volkswillen zu ergründen. Vielmehr trifft ihn die Amtspflicht, unparteilich eine sachangemessene, billige Lösung zu treffen250. In problematischen und speziell auch in politisch entscheidungsbedürftigen Fällen hat er diese den vorgesetzten Instanzen zur Entscheidung vorzulegen251. In diesem Sinne, nicht im Sinne eines Repräsentationsauftrags sind denn etwa auch jene beamtenrechtlichen Verpflichtungen zu begreifen, wonach ein Beamter dem ganzen Volk diene und bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht nehmen müsse252.

245

Dazu oben Kapitel 6 II. 1. = S. 318. Hierzu und zum Folgenden – mit freilich anderer Akzentsetzung – Veil (Fn. 8), S. 159 ff. 247 Heller (Fn. 123), S. 389. 248 Vgl. dazu Art. 1 der Section II der frz. Verf. von 1791: „Les administrateurs n’ont aucun caractère de représentation“ sowie Art. 82 der frz. Verf. von 1793: „Les administrateurs et officiers municipaux n’ont aucun caractère de représentation“. 249 Heller (Fn. 123), S. 387; vgl. aus neuer Zeit auch Loschelder, Weisungshierarchie und persönliche Verantwortung in der Exekutive, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 107 Rn. 77 und 82. 250 § 35 BRRG; siehe ferner auch Battis, Bundesbeamtengesetz, 3. Aufl. 2004, § 52 Rn. 9. 251 Dies folgt aus der demokratisch gewendeten Pflicht eines Amtswalters, seine Vorgesetzten zu unterstützen (vgl. etwa § 55 Satz 1 2. Alternative BBG; dazu auch Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 14 Rn. 40). 252 Vgl. beispielsweise § 52 Abs. 1 Satz 2 BBG; hierzu auch Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 78 (111 f.); ferner v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 355. 246

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3. Gegenläufige Demokratieparadigmen im System magistratischer Repräsentation Anhand der beiden fokussierten Eigentümlichkeiten des Systems magistra­ tischer Repräsentation – nämlich der besonderen Rolle des Parlaments einerseits und seiner Ergänzung durch das System demokratischer Administration253 andererseits – zeigt sich abermals, wie sich die im vorigen Kapitel idealtypisch entwickelten Demokratieparadigmen in der wirklichkeitswissenschaftlich entfalteten Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität wechselseitig überlagern und ergänzen. So steht die herausragende Stellung des Parlaments in ideellem Zusammenhang mit der individuumszentrierten Vorstellung von Demokratie als freiheitlicher Selbstgesetzgebung. Denn seine besondere legitimatorische Potenz leitet das Parlament daraus ab, dass das parlamentarische Entscheidungsverfahren die im gesellschaftlichen Raum vorfindliche vielstimmige volonté de tous unmittelbar aufgreift und in einem idealiter herrschaftsfreien, jedenfalls diskursiv-deliberativen Verfahren zu einer demokratischen volonté générale amalgamiert254. Die auf die sonstigen Amtsträger und ihr Hoheitshandeln zurückführenden demokratischen Legitimationszusammenhänge, wie sie das System demokratischer Administration kennzeichnen, knüpfen ihrerseits an die herrschaftlich-hierarchischen Befehlsstrukturen des neuzeitlichen Staates an255 und verweisen insofern auf das verbandsorientierte Demokratieparadigma der Volksherrschaft256. Der eingangs dieses Kapitels formulierte Anspruch, dass eine wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur die berechtigten Gesichtspunkte der gegenläufigen Demokratieparadigmen aufgreifen und dialektisch vermitteln muss257, sieht sich insofern einmal mehr eingelöst.

4. Zum Korrelationsverhältnis zwischen dem Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation und dem Legitimationsmodus Ausgangspunkt der Überlegungen zum Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation war gewesen, dass sich nicht ohne Weiteres erklärt, weshalb mittelbare personelle beziehungsweise materielle Legitimationsbeiträge zu einer stetigen Vergegenwärtigung des Volkswillens beizutragen vermögen und just hierdurch die demokratiezentrale Volkssouveränität auch für repräsentative Demokratien als 253 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 7. Aufl. 1977, S. 195, der „mit repräsentativen Versammlungen, bezahlten Beamten und bevollmächtigter Zentralleitung“ die Voraussetzungen für eine leistungsfähige Demokratie als gegeben ansah. 254 Vgl. v. Komorowski (Fn. 23), S. 140 f. 255 Dreier (Fn. 237), S. 36 ff., insbesondere S. 45 ff.; auch Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 281 (298). 256 Prototypisch Isensee (Fn. 26), S. 163. 257 Siehe oben Kapitel 6 = S. 249.

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fortwährend legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang ins Werk gesetzt werden kann. Schließlich weisen, allein für sich betrachtet, sowohl die mittelbare personelle Legitimation als häufig auch die materiell-kontrollative Legitimation insoweit eine demokratietheoretische Lücke auf, als nicht hinreichend gesichert erscheint, dass diese lediglich inzitativ wirkenden Legitimationsformen zu einer wirk-lichen dezisionären beziehungsweise revisionären Rückbindung von Hoheitsentscheidungen an den Volkswillen führen. Wenn nun bei wertender Betrachtung gleichwohl davon ausgegangen werden kann, dass auch in den volksmittelbaren Erlass- beziehungsweise Nicht-Revisionsentscheidungen der aktuelle Volkswille Gestalt anzunehmen vermag, so verdankt sich dies dem Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation, der als zweite Vertikaldimension von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur neben die des fortwährend legitimations­ vermittelnden Ableitungszusammenhangs tritt258. Dass und wie der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation in den zeitgenössischen Demokratien ins Werk gesetzt wird, wurde in Entfaltung des Systems magistratischer Repräsentation dargelegt, das im System demokratischer Administration seine Fortsetzung findet. Dabei hat sich gezeigt, dass der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation vor allem dadurch zustande kommt, dass sich magistratische Repräsentanten, die zum Erlass der gebietsgesellschaftlich maßgeblichen Hoheitsakte befugt sind, regelmäßig wiederkehrenden Wahlen stellen müssen259. Hinzu treten muss das System demokratischer Administration, in dessen Rahmen individuell berufene Amtsträger ohne Repräsentationsfunktion der Kontrollgewalt magistratischer Repräsentanten unterstellt sind260. Dies wiederum bedeutet, wie ebenfalls schon dargetan wurde, dass der Prozess dauer­ hafter demokratischer Legitimation, wie er sich im System magistratischer Repräsentation – ergänzt um das System demokratischer Administration – verwirklicht, mit einer spezifischen Ausgestaltung von Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang, kurzum mit einem spezifischen Legitimationsmodus, korreliert. Denn das System magistratischer Repräsentation legt durch das Prinzip der Volkswahl zwingend fest, dass die exklusiv-perpetuelle Legitimation, die den von Volksrepräsentanten erlassenen Hoheitsakten zuwächst, auf ganz spezifischen personellen sowie materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen beruht. Das System demokratischer Administration wiederum gründet einerseits auf der demokratischen Amtsübertragung, andererseits auf der Weisungs- und Kontrollgewalt261 magistratischer Repräsentanten. Auch dies hat zwangsläufig zur Konsequenz, dass die von den sonstigen Amtsträgern erlassenen Hoheitsakte durch ganz bestimmte personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge an die Dezisions- und Revisionsmacht des Volks rückgebunden

258

Siehe oben Kapitel 6 II. = S. 316. Siehe oben Kapitel 6 II. 1. = S. 318. 260 Siehe oben Kapitel 6 II. 3. = S. 323. 261 Dazu etwa Jestaedt (Fn. 16), 1993, S. 340 ff.

259

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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werden. Indem personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge im Rahmen des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation in spezi­fischer Weise zusammenlaufen, können die diesen Legitimationsformen potenziell eignenden demokratietheoretischen Lücken geschlossen und die in dieser Weise legitimierten Hoheitsakte als Ausfluss des demokratischen Volkswillens gewertet werden. Das Korrelationsverhältnis zwischen dem Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation und dem Legitimationsmodus spiegelt sich nun fernerhin auch in den einzelnen Facetten des Systems magistratischer Repräsentation wider. So muss etwa, um den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation zu stimulieren, dem Parlament eine zentrale Stellung im System magistratischer Repräsentation eingeräumt werden262. Denn aus den genannten strukturellen, mentalen und prozeduralen Gründen ist das Parlament in besonderer Weise dazu befähigt, korresponsiv auf die gebietsgesellschaftlichen Debattenzusammenhänge zu reagieren und im Zuge dessen den aktuellen Volkswillen weithin unverfälscht zu repräsentieren263. Für den Legitimationsmodus wiederum hat dies in der Praxis zur Kon­sequenz, dass die diversen Legitimationsbeiträge im Regelfall – mittelbar oder unmittelbar  – über das Parlament an den Volkswillen rückgebunden sind264. Das in Ergänzung des Systems magistratischer Repräsentation für den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation zumindest derzeit dezisive System demokratischer Administration baut seinerseits entscheidend auf dem öffentlichen Dienst auf. Schließlich sind die öffentlichen Bediensteten aus den gleichfalls bereits genannten strukturellen, mentalen und prozeduralen Gründen geneigt, den durch die demokratische Magistratur vergegenwärtigten Volkswillen durchzusetzen. In Hinblick auf den Legitimationsmodus bedeutet dies in praxi, dass auch ein nicht von demokratischen Repräsentanten erlassener Hoheitsakt nicht nur materiell, sondern grundsätzlich auch personell an den Volkswillen rückgebunden sein wird. Diese Erwägungen stehen nun keineswegs im Widerspruch zu der These, die oben in Zusammenhang mit der sogenannten funktionell-institutionellen Legitimation erstmals formuliert265 und an späterer Stelle vertieft wurde266, nämlich dass die Volkssouveränität nicht von vornherein auf einen spezifischen demokratischen Legitimationsmodus festgelegt ist. Vielmehr bleibt es dabei, dass die Art und Weise, wie die personellen und materiellen Legitimationsstränge im Einzel 262

Vgl. hierzu Hesse (Fn. 221), Rn. 573. Siehe oben Kapitel 6 II. 1. = S. 318. 264 Dazu auch Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  3, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 27. 265 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. c) = S. 303. 266 Siehe oben Kapitel 6 I. 3. b) = S. 309. 263

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Teil III: Volkssouveränität und EU

nen ausgebildet werden, durch das Prinzip der Volkssouveränität nicht vorgegeben ist. Entscheidend ist allein, dass Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang Gestalt annimmt, was aus den dargelegten Gründen einen Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation voraussetzt. Dieser wird heutzutage in einem System magistratischer Repräsentation verwirklicht, in dem vor allem das Parlament, aber auch der Öffentliche Dienst eine zentrale Rolle spielen. Insofern – und nur insofern – ergeben sich auch einige zwingende Vorgaben hinsichtlich des Legitimationsmodus. Dies hängt freilich nicht unmittelbar mit dem Prinzip der Volkssouveränität zusammen. Denn der dauerhafte Prozess demokratischer Legitimation ließe sich prinzipiell auch in einem auf dem imperativen Mandat267 aufbauenden Rätesystem268 ins Werk setzen. In diesem Fall würde ebenfalls ein Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation erzeugt. Er würde freilich mit einem anderen Legitimationsmodus korrelieren. Insbesondere käme hier dem materiell-direktiven Legitimationsstrang zentrale Bedeutung zu, während beim System magistratischer Repräsentation die – freilich auch im Rätesystem durchaus vorhandene  – materiell-kontrollative Legitimation im Vordergrund steht269. Auch würden – anders als im System magistratischer Repräsentation  – nicht grundsätzlich alle Legitimationsstränge über eine zentrale Vertretungskörperschaft laufen270. Schließlich wäre die Rolle des öffentlichen Dienstes eine sehr viel bescheidenere271. Somit ist zwar unübersehbar, dass der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation mit einem spezifischen Legitimationsmodus, also mit einer bestimmten Ausgestaltung von Volkssouveränität als legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang, korreliert. Gleichwohl gibt das Prinzip der Volkssouveränität nicht im Einzelnen vor, wie der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation zu organisieren ist. Mithin lässt sich aus diesem auch nicht auf einen ganz bestimmten Legitimationsmodus schließen272. Wird der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation indes, wie in der heutigen politischen Realität ganz vorherrschend, in den Systemen magistratischer Repräsentation und demokra­ tischer Administration ins Werk gesetzt, so legt dies jedenfalls einige Grundzüge des Legitimationsmodus fest.

267

Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, § 59 c). Dazu etwa Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie?, 1978, S. 21 ff.; v. ­Oertzen, Freiheitlich-demokratische Grundordnung und Rätesystem, in: ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, 2004, S.  384 ff.; auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, § 76 ff. 269 Dazu Haverkate (Fn. 102), S. 360. 270 Vgl. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: ders. / Engels, Werke, Bd. 17, 5. Aufl. 1973, S. 313 (339 ff.). 271 Marx (Fn. 270), S. 339. 272 Dazu etwa Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 302 ff. 268

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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III. Staats- und gesellschaftsorganisatorische Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität nimmt, wie dargelegt, als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang273 und Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation274 Gestalt an. Allerdings lässt sie sich nicht auf diese beiden Vertikaldimensionen reduzieren. Denn aus diesen ergibt sich nur, wie Hoheitsakte an einen als gegeben vorausgesetzten Volkswillen rückgebunden werden und sich insofern demokratische Legitimation Bahn bricht. Die dem voraus liegende Frage aber, unter welchen organisatorischen Bedingungen sich aus dem Stimmengewirr der gesellschaftlichen Akteure überhaupt ein als demokratisch qualifizierbarer Volkswille herauszukristallisieren vermag, bleibt unbeantwortet. Ohne Antwort auf diese Frage freilich steht das wirklichkeitswissenschaftliche Konzept von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur auf tönernen Füßen275. Denn demokratische Willensvermittlung vertikal von oben nach unten und von unten nach oben lässt sich überhaupt erst dann ins Werk setzen, wenn die horizontal aufeinander treffenden volontés particulières unter staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen vereinheitlicht werden, die ein Umschlagen der Einzelwillen in eine genuin demokratische volonté générale gewährleisten276. In dieser Perspektive entpuppen sich die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Be­dingungen demokratischer Volkswerdung als integraler Bestandteil von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur und avancieren insofern zu ihrer dritten Dimension, zu ihrer hier sogenannten Horizontaldimension. In welcher Richtung die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung zu suchen sind, erschließt sich aus dem wirklichkeitswissenschaftlichen Begriff von Volk im demokratischen Sinn. Denn eines seiner Merkmale ist, dass die Glieder des demokratischen Volksverbands der­ gestalt an dessen Machtentfaltung beteiligt sein müssen, dass ihre Autonomieansprüche als hinreichend gewahrt angesehen werden können277. Es drängt sich insofern auf, die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung jedenfalls im Ausgangspunkt vom Autonomiegedanken her, also von der Vorstellung der gleichen Freiheit aller zu konkretisieren278. 273

Siehe oben Kapitel 6 I. = S. 252. Siehe oben Kapitel 6 II. = S. 316. 275 Dazu Bäumlin (Fn. 268), S. 13. 276 Dies vernachlässigt Kratzmann, Die Erscheinungsformen der Volkssouveränität und die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Methodenlehre (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG), 1981, S. 71. 277 Freilich hält Bleckmann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, in: JZ 1990, S. 301 (302) es für verfehlt, das Demokratieprinzip auch unter den Bedingungen einer Massengesellschaft weiterhin anhand des Autonomiegedankens konkretisieren zu wollen. 278 Dass Demokratie seit jeher durch die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit geprägt wird, betont auch Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 241 (244). 274

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Teil III: Volkssouveränität und EU

1. Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung Wie eben schon angeklungen, greift der legitimationsvermittelnde Ableitungszusammenhang überhaupt nur dann, wenn das Volk im demokratischen Sinn seinen Willen ‚oben‘ einspeist, damit dieser dann nach ‚unten‘ vermittelt werden und eine bestimmte Entscheidung legitimieren kann; und auch der Prozess dauer­hafter demokratischer Legitimation verfängt nur dann, wenn das Volk seinen jeweils aktuellen Willen immer wieder von ‚unten‘ in das System magistratischer Repräsentation einfüttert, damit die magistratischen Repräsentanten ‚oben‘ im Sinn ihrer demokratischen Basis agieren. Der insofern unabdingbare demokratische input besteht in den heutigen Demokratien typischerweise in einer Wahlentscheidung, kann sich bisweilen aber auch in Gestalt einer plebiszitären Sachentscheidung präsentieren279. Vor diesem Hintergrund fragt es sich, wie das Wahl- beziehungsweise Abstimmungsverfahren organisiert sein muss, damit das Verfahrensergebnis als Ausdruck des demokratischen Volkswillens anerkannt werden kann. Diese Frage stellt sich insbesondere auch in Hinblick auf diejenigen Konstellationen, in denen mehrere demoi zusammenwirkend dazu beitragen wollen und sollen, dass ein Hoheits­akt in staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität erwächst. a) Grundsätzliches zu Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger als Bedingung demokratischer Volkswerdung Insbesondere aus Sicht der individuumszentrierten Demokratieparadigmen fällt es nicht schwer, Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger als staatorganisato­rische condititiones sine qua non demokratischer Volkswerdung zu diagnostizieren280. Denn in dieser Perspektive kann nur ein solches Verfahren demokratisch legitim sein, das allen herrschaftsunterworfenen Individuen prozedural dasselbe Recht auf autonome Herrschaftsteilhabe einräumt281. Die Glieder des demos müssen mit anderen Worten die Befugnis haben, frei von äußerem Zwang gleichberechtigt auf die legitimationsstiftende (Wahl-)Entscheidung Einfluss zu nehmen282. Damit 279 Dazu nur Hättich, Artikel ‚Demokratie‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 1182 (1187 f.). 280 Dazu auch Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 (31). Zur demokratiekonstitu­ tiven Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Gleichheit Kant, Metaphysik der Sitten (Ebeling [Hrsg.]), 1990, S. 75 (Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre / Einteilung der Rechtslehre / B.). 281 Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S.  241 (256); insoweit überzeugend auch Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, in: StWiss 1992, S. 349 (367). 282 Vgl. Grimm, Bedingungen demokratischer Rechtsetzung, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S.  489 (490); Dietrich, Das Sezessionsrecht im demokra­ti­ schen Verfassungsstaat, in: Leviathan 2007, S. 62 (64); Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 17.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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avancieren das Freiheits- und Gleichheitsprinzip zum entscheidenden Kriterium eines demokratischen Verfahrensarrangements innerhalb der Staatsorganisation, der Grundsatz der freien und gleichen Wahl zum zentralen Verfahrensprinzip des zeitgenössischen demokratischen Staates283. Aus den insoweit demokratiefundamentalen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit wäre nun freilich eigentlich zu schlussfolgern, dass nur solche (Wahl-)Entscheidungen als demokratisch legitim angesehen werden können, denen alle Stimmbürger beigepflichtet haben284. Insbesondere aus Sicht der individuumszentrierten Demokratieparadigmen stellt es sich zumindest prima facie als Verletzung der gleichen Freiheit aller dar, wenn eine Entscheidung Geltung beanspruchen können soll, obwohl ihr nicht alle zugestimmt haben285. Freilich lenken namentlich die verbandsorientierten Demokratieparadigmen den Blick darauf, dass auch demokratische Gemeinwesen nicht umhin kommen, Zwang und Herrschaft auszuüben. Das Mehrheitsprinzip286, das in den Demokratien schon aus praktischen Gründen regelmäßig an die Stelle des nicht umsetzbaren Einstimmigkeitsprinzips tritt287, ist par excellence Ausdruck dieser – insofern auch schon in der Wurzel – herrschaftlichen Dimension von Volkssouveränität288. Das demnach bereits aus ganz pragmatischen, organisationstechnischen Gründen unumgängliche Mehrheitsprinzip289 steht nun keineswegs in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu den demokratiefundamentalen Verfahrensprinzipien der Freiheit und Gleichheit290. Diese können nämlich auch dann als gewahrt an­ gesehen werden, wenn alle Bürger dieselbe Chance haben, frei von äußerem Zwang das Ergebnis der (Wahl-)Entscheidung mitzubestimmen291. Derartige Ver 283 Di Fabio, Demokratie im System des Grundgesetzes, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 77 (80). 284 In diese Richtung auch Pernthaler (Fn.  267), § 56 d)  und Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, S. 130. Vgl. ferner Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 337. 285 Dies ist Graf Kielmansegg, Demokratiebegründung zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S.  98 (106) zuzugeben. 286 Zu diesem eingehend Hofmann (Fn. 222), S. 184 ff. 287 Vgl. – mit den notwendigen Differenzierungen – Krugmann, Das Recht der Minderheiten, 2004, S. 141 f.; auch Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 196 f.; Pernthaler (Fn. 267), § 56 b); Zippelius (Fn. 100), § 17 III . 288 Denn das „Mehrheitsverfahren bedeutet Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit“ (Jäger, Artikel ‚Mehrheit, Mehrheitsprinzip‘, in: Görres-Gesellschaft [Hrsg.], Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 1082). 289 Dazu auch Dederer (Fn. 11), S. 330 f.; Veil (Fn. 8), S. 50 f; vgl. Bröhmer (Fn. 225), S. 41. Ansätze zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips etwa bei Jochum (Fn. 2), S. 41 ff. 290 Hierzu auch Bernstein (Fn. 253), S. 177; ferner Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, in: ders., Demokratie und Sozialismus, 1967, S. 40 (44 f.) und Fikentscher, Demokratie, 1993, S. 27. 291 Diese „gleiche Chance“, die eigenen „Interessen in Verfahren der Willensbildungs- und Entscheidungsfindung einzubringen“, sieht Benz (Fn. 234), S. 171 denn auch als demokratiefundamental an; dazu auch Greven, Output-Legitimation, in: Buckmiller / Perels (Hrsg.), Festschrift für Seifert, 1998, S. 477 (480).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

fahrensbedingungen indes lassen sich durchaus auch unter der Geltung des Mehrheitsprinzips etablieren. Denn wiewohl bei einer Mehrheitsentscheidung nicht alle Entscheidungsbefugten dasselbe Recht auf autonome Einflussnahme besitzen, so mag ihnen doch von Rechts wegen dieselbe Möglichkeit autonomer Einflussnahme eingeräumt sein292. Mithin können, demokratietheoretisch gesehen, auch Mehrheitsentscheidungen dem demos als Ganzem und damit zugleich den überstimmten Bürgern zugerechnet werden, sofern nur das Entscheidungsverfahren von Freiheit und Gleichheit geprägt bleibt. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Gleichheits­ komponente. Die demokratische Gleichheit ist im Sinne einer grundsätzlich strikt formalen Gleichheit zu verstehen293. Wann die Chance, eine mehrheitlich zu treffende Entscheidung zu beeinflussen, im demokratischen Sinn gleich ist, muss an sich rein schematisch, im Sinne arithmetischer und eben nicht proportionaler Gleichheit bestimmt werden294. Ein solches strikt formales Verständnis demokratischer Gleichheit soll gewährleisten, dass das Majoritätsprinzip295 nicht zum Herrschaftsinstrument einer strukturell dominanten Gruppe mutiert, sondern sich tatsächlich als ein pragmatisches, rein organisationstechnisch bedingtes Ver­ fahrensinstrument zur demokratischen Entscheidungsfindung darstellt296. Es soll sicherstellen, dass der bei einer Wahl oder Abstimmung unterlegenen Minderheit die Möglichkeit bleibt, beim nächsten Mal zur Mehrheit zu werden297. Probleme ergeben sich freilich dann, wenn ein streng formales Verständnis demokratischer Gleichheit zu materieller Ungleichheit führt298. Dies ist dort zu gewärtigen, wo in einem demokratischen Gemeinwesen strukturell verfestigte Minderheiten sozialer, ethnischer299 oder sonstiger Natur existieren300. Hier birgt eine 292

Vgl. v. Komorowski / Bechtel, Gesetzgebungs- oder Justizstaat?, in: Becker / Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2006, S. 282 (283 f.); auch BVerfGE 5, 85 (199). 293 Dazu Emde (Fn. 1), S. 406 ff. und Jestaedt (Fn. 16), S. 174 ff. 294 Grundlegend Leibholz, Freiheitliche demokratische Grundordnung und das Bonner Grundgesetz, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 132 (137); ders., Zum Begriff und Wesen der Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 142 (149). 295 Stein (Fn. 2), Rn. 17. 296 Hesse (Fn. 221), Rn. 153 ff. 297 Dazu auch Greven (Fn.  291), S.  480; Murswiek, Demokratie und Freiheit im multi­ ethnischen Staat, in: Blumenwitz / Gornig / ders. (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, S. 41 (50 f.); Sartori (Fn. 7), S. 33; Kotzur (Fn. 102), S. 370. 298 Eingehend hierzu Grimmer (Fn. 287), S. 208 ff. 299 Zur strukturellen Mehrheitsunfähigkeit ethnischer Minderheiten Murswiek (Fn.  297), S. 50 f.; auch Brühl-Moser, Recht auf Demokratie im Völkerrecht, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wildhaber, 2007, S. 969 (982 ff.) 300 Eine bemerkenswerte Typologie struktureller Minderheiten bietet Krugmann (Fn.  287), S.  96 ff. Zum Problem „geborener“ Minderheiten siehe Habermas, Inklusion  – Einbeziehen oder Einschließen, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 154 (172 ff.); auch Abromeit, Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften, in: Brunkhorst / Niesen (Hrsg.), Festschrift für Maus, 1999, S. 17 (22 und 24 ff.). Zur Problematik des formellen Gleichheitsver-

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strikte Orientierung am formalen Gleichheitsverständnis die akute Gefahr, dass das Majoritätsprinzip nicht länger als rein pragmatisches, machtpolitisch neutrales Verfahrensinstrument fungiert, sondern sich de facto als Herrschaftsmittel einer strukturell dominanten Gruppe präsentiert301. An die Stelle der demokratisch allein akzeptablen Herrschaft auf Zeit302 droht eine perennierende Vermachtung der bestehenden Mehrheitsherrschaft zu treten. In derartigen Situationen ist es um der Demokratie willen jedenfalls gerecht­ fertigt, wenn nicht teilweise sogar geboten, das rein formale Verständnis demokratischer Gleichheit zu relativieren. Typischerweise wird dies dergestalt geschehen, dass den Stimmen von Angehörigen der Minderheit im Verfahren der Mehrheitsentscheidung ein relativ höheres Gewicht verliehen wird als den Angehörigen der Mehrheitsgruppe303. Denn dadurch wird das Spannungsverhältnis zwischen strikt formaler und (auch) materialer Gleichheit zwar nicht aufgelöst, wohl aber entschärft: Der Minderheit wird es erleichtert, Mehrheiten für ihre Anliegen zu finden, ohne dass deshalb die basale Ausrichtung an dem formalen Verständnis demo­kratischer Gleichheit vollständig aufgegeben würde. Dass Demokratie um ihrer selbst willen nicht blind sein darf für die geschilderte Minderheitenproblematik304, bestätigt sich namentlich auch aus Sicht der verbandsorientierten Demokratieparadigmen. Sie betonen die demokratietheoretische Bedeutung kollektiver Identitäten305 und verbieten es insofern, das Minoritätenproblem unter jakobinerndem Hinweis auf die formal gleiche Machtteilhabe aller Aktivbürger leichthin abzutun. Der Vollständigkeit halber zu erwähnen bleibt, dass das vorstehend skizzierte, nämlich – relativ formale – Gleichheitsverständnis bei der Konkretisierung der unterschiedlichen Varianten demokratischer Gleichheit zugrunde zu legen ist. So gilt es beispielsweise im Fall des Systems magistratischer Repräsentation gleicher­ maßen für die aktive und passive Wahlrechtsgleichheit als auch für die Abgeordnetengleichheit306.

ständnisses bei Vorhandensein ethnischer Minderheiten Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats, 1990, S. 123. 301 Dazu auch Fisahn, Demokratie in Europa – ein Volk oder das Volk, in: Bovenschulte u. a. (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 2001, S. 131 (142 f.). 302 Meyn (Fn. 220), S. 237 f.; zur zeitlichen Dimension der Volkssouveränität auch Morlok (Fn. 32), S. 568 f. 303 Hierzu Marko, Autonomie und Integration, 1995, S. 475 f. 304 Dazu auch Murswiek, Minderheitenfragen und peaceful change, in: Blumenwitz / Gornig (Hrsg.), Der Schutz von Minderheiten und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union, 1996, S. 55 (67). 305 Prototypisch Murswiek (Fn. 297), S. 52 f.; näher unten Kapitel 6 IV. 3. a) bb) = S. 386. 306 Siehe auch BVerfGE 93, 373 (377): „Der Grundsatz, daß jedermann von seinen staats­ bürgerlichen Rechten in formal möglichst gleicher Weise soll Gebrauch machen können, gilt nicht nur für die Ausübung des aktiven und passiven Mandats, sondern in gleichem Maße für die Annahme und Ausübung eines errungenen Mandats.“

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Teil III: Volkssouveränität und EU

b) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger und demoi-kratisches Kondominium Schon die grundsätzlichen Erwägungen zeigen, dass die auf den ersten Blick so griffige Formel, wonach die demokratische Volkswerdung unter der staatsorganisatorischen Bedingung einer freien und gleichen Partizipation aller Stimm­bürger steht, in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive nur bei entsprechender Differenzierung zu überzeugen vermag. Einer differenzierenden Betrachtungsweise bedarf es nun insbesondere auch dann, wenn man die an sich so eingängigen staatsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung für die Fälle konkretisiert, in denen ein Hoheitsakt, wiewohl er von mehreren demoi beherrscht wird, in staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität erwachsen soll. Wird nämlich ein Hoheitsakt von mehreren demoi beherrscht, so stellt speziell das demokra­ tische Postulat einer gleichen Einflussnahmemöglichkeit aller Stimmbürger vor besondere Probleme307. In diesen Fällen können sich Gleichheitsprobleme nämlich gerade auch aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Völker ergeben – und zwar selbst dann, wenn die betreffenden demoi, für sich betrachtet, die staatsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung punktgenau erfüllen. Eine erste Auseinandersetzung mit dieser Problematik hat dabei der Sache nach bereits an früherer Stelle stattgefunden308. Denn in Hinblick auf die Frage, in­ wieweit ein Hoheitsakt trotz demoi-kratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht exklusiv demokratisch legitimiert sein kann, war zu überlegen, ob ein demoi-kratisches Kondominium die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn auch insofern wahrt, als den Autonomieansprüchen der Partizipationsbefugten hinreichend Rechnung zu tragen ist. Da sich Autonomie rechtsphilosophisch mit gleicher Freiheit übersetzt309, ist in diesem Zusammenhang konsequenterweise bereits thematisiert worden, inwieweit die unter den Bedingungen eines demoikratischen Kondominiums eventuell ungleiche Gewichtung der Stimmen der einzelnen Partizipationsbefugten der Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn und mithin auch der Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität widerstreitet. Folglich hat die Gleichheit der Stimmbürger als staatsorgani­ satorische Bedingung demokratischer Volkswerdung auch schon in Hinblick auf demokratische Kondominien eine erste Konkretisierung erfahren.

307 Prototypisch hierfür ist die Stimmenponderierung im Rat gemäß Art. 205 Abs. 2 EGV – vgl. dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung, 2001, S. 682 f. 308 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) bb) (3) = S. 267. 309 Kant (Fn. 280), S. 67 (Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre / Einleitung in die Rechtslehre / § C. [Allgemeines Prinzip des Rechts]); dazu anschaulich Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl. 1992, S. 153.

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aa) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger bei einem vom Staatsvolksverband und einem seiner Untervölker ausgeübten Kondominium Eingehend diskutiert wurde demgemäß bereits, ob es sich mit den Autonomieansprüchen der Partizipationsbefugten verträgt, wenn ein Hoheitsakt zugleich vom Staatsvolksverband und einem seiner Untervölker beherrscht wird. Dies kann in der Weise geschehen, dass das Untervolk über Hoheitsakte des Staatsvolks­ verbands310 oder aber das Staatsvolk über Hoheitsakte des Untervolksverbands mit­entscheidet311. Die Konsequenz eines derartigen demoi-kratischen Kondomi­ niums ist jedenfalls, dass die Untervolksangehörigen hinsichtlich des betreffenden Hoheitsakts eine relativ größere Einflussnahmemöglichkeit besitzen als die­jenigen Angehörigen des Staatsvolksverbands, die nicht gleichzeitig dem Untervolksverband angehören. Im Ergebnis ist zu diesen Fallkonstellationen festgestellt worden, dass die Autonomieansprüche aller Partizipationsbefugten dann hinreichend gewahrt sind, wenn zwei Anforderungen erfüllt sind312. Zum einen müssen die beiden zusammen­ wirkenden Völker, jeweils für sich betrachtet, autonomiekonforme Partizipations­ mechanismen vorsehen. Sie müssen mit anderen Worten, allein für sich ge­ nommen, die staatsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung einlösen. Zum anderen muss das Zusammenwirken der beiden Völker jene zweite, zentrale Voraussetzung erfüllen, die an ein staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität generierendes Kondominium zu stellen ist: Staats- und Untervolksverband müssen – jeweils für sich als zentrierter demos betrachtet – alle Individuen an ihrer respektiven Machtentfaltung partizipieren lassen, die von dem gemeinsam beherrschten Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden, und dürfen sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Machtteilhabe ausschließen, als sich dies mit deren Autonomieansprüchen verträgt. Ob sich der Ausschluss der übrigen Individualbetroffenen von der Machtentfaltung des Staats- beziehungsweise des Untervolksverbands als autonomiekonform erweist, hängt dabei davon ab, inwieweit die andersartige, spezifische Betroffenheit der Staats- beziehungsweise Untervolksangehörigen die Exklusion rechtfertigt. Sind nun diese beiden Anforderungen erfüllt, so erschließt sich in der Tat ohne Weiteres, weshalb die Autonomieansprüche aller Partizipationsbefugten gewahrt bleiben, obgleich den Untervolksangehörigen eine relativ größere Einfluss­ nahmemöglichkeit zukommt. Denn in diesem Fall werden die Untervolksangehö­ rigen ungleich intensiver von dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt tangiert 310 Beispiel: Erlass einer Polizeiverordnung durch die dem Verwaltungsträger Land zuordenbare Kreispolizeibehörde nach vorgängiger Zustimmung des Kreistags. 311 Beispiel: Erlass einer atomrechtlichen Änderungsgenehmigung durch eine oberste Landesbehörde auf Weisung des Bundesumweltministeriums gemäß Art. 85 Abs. 3 Satz 1 GG. 312 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260.

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und erweist sich der Ausschluss der übrigen Staatsvolksangehörigen von der Machtentfaltung des Untervolksverbands in Hinblick auf diesen spezifischen Betroffenheitsmodus als auch unter Gleichheitsgesichtspunkten demokratisch legitim; zugleich partizipieren sowohl die Untervolksangehörigen als auch die Obervolksangehörigen unter den Bedingungen von Freiheit und Gleichheit an der Machtentfaltung ihres jeweiligen Verbands. Vor diesem Hintergrund offenbart sich, dass in den Fällen, in denen Staatsund Untervolksverband einen Hoheitsakt gemeinsam beherrschen, die Frage nach der Gleichheit der Stimmbürger, die eigentlich erst in der Horizontaldimension der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung thematisch wird, zum Teil  bereits in der Vertikaldimension von Volkssouveränität als legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang vorentschieden wird313. Vertiefend braucht daher in der Horizontaldimension von Volkssouveränität nur mehr erörtert zu werden, ob die Partizipationsmechanismen innerhalb des Staats- beziehungsweise Untervolksverbands den demokratischen Gleichheitserfordernissen entsprechen.

bb) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger bei einem von mehreren Staatsverbandsvölkern allein oder zusammen mit einem überstaatlichen Obervolksverband ausgeübten Kondominium Noch nicht abschließend geklärt wurde, inwieweit die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten und zwar speziell die Anforderungen des demokratietheoretischen Gleichheitssatzes auch in den Fällen gewahrt werden, in denen mehrere institutionell-prozedural zu einem dezentrierten demos verschränkte Staatsverbandsvölker allein oder zusammen mit einem überstaatlichen Obervolksverband, also einem zentrierten demos, supranationale Hoheitsakte beherrschen314. Dies freilich sind die in Zusammenhang von ‚Demokratie und Europäischer Union‘ eigentlich interessierenden Konstellationen. 313 Für den legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang kommt es entscheidend darauf an, ob Hoheitsakte exklusiv demokratisch legitimiert werden. Dies aber hängt, wenn Staats- und Untervolksverband Hoheitsakte gemeinsam beherrschen, nach der wirklichkeitswissenschaftlichen Gesamtdogmatik von Volkssouveränität davon ab, ob die Volksverbände erstens nach Maßgabe von durch den Staatsvolksverband legitimierten Organisationsbestimmungen zusammenwirken und ob sie zweitens – jeweils für sich betrachtet – alle Individuen an ihrer jeweiligen Machtentfaltung beteiligen, die von dem gemeinschaftlich erlassenen Hoheits­ akt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden, und sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Machtteilhabe ausschließen, als sich dies mit ihren Auto­ nomieansprüchen verträgt (siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) dd) = S. 279). Kann nun freilich diese zweite Voraussetzung bejaht werden, so ist damit auch eine der beiden Anforderungen erfüllt, die in diesen Konstellationen in Hinblick auf den staatsorganisatorischen Gleichheitssatz zu stellen sind. 314 Dazu oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (2) = S. 274.

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Für sie ist im Ausgangspunkt festzustellen, dass demokratische Gleichheit als staatsorganisatorische Voraussetzung demokratischer Volkswerdung nicht schon dann gewährleistet ist, wenn das demoi-kratische Kondominium exklusive demokratische Legitimation zu generieren in der Lage ist und die innerhalb der einzelnen demoi vorfindlichen Partizipationsstrukturen die Autonomieansprüche der insoweit partizipationsbefugten Volksglieder wahren. Exklusive demokratische Legitimation erzeugen die Staatsverbandsvölker in den geschilderten Konstellationen nämlich schon dann, wenn sie erstens die ihr Zusammenwirken regelnden Bestimmungen legitimiert haben; zweitens müssen sie als Völkergesamtheit, als dezentrierter demos, alle Individuen an ihrer Machtentfaltung partizipieren lassen, die von dem Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden, und dürfen sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Machtteilhabe ausschließen, wie sich dies mit deren Autonomieansprüchen verträgt315. Hierdurch wird freilich nicht nur nicht ausgeschlossen, dass den Angehörigen des einen die Völkergesamtheit konstituierenden Staatsverbandsvolks weitergehende Einflussmöglichkeiten zustehen als den Angehörigen eines anderen Staatsverbandsvolks – etwa weil den Staatsvolksverbänden bei unterschiedlicher Bevölkerungszahl derselbe Einfluss auf den legitimatonsbedürftigen Hoheitsakt eingeräumt wird. Ebenso wenig stellen die beiden Voraussetzungen exklusiver Legitimation in diesen Konstellationen sicher, dass eine derartige Ungleichbehandlung nur unter rechtfertigenden Umständen zustande kommen kann. Insbesondere müssen die Angehörigen des einflussreicheren Staatsverbandsvolks nicht in spezifisch anderer, nämlich nachhaltigerer Weise von dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt betroffen sein als die Angehörigen des weniger einflussreichen Staatsverbandsvolks. Im Gegenteil hängt die Fähigkeit, exklusive Legitimation zu erzeugen, in den hier in Rede stehenden Konstellationen davon ab, dass der betreffende Hoheitsakt die Angehörigen des einen Staatsverbandsvolks gerade nicht in spezifisch anderer Weise betrifft als die Angehörigen der anderen in die Völkergesamtheit und also zum dezentrierten demos integrierten Staatsverbandsvölker. Im Unterschied zu den Fällen, in denen Staats- und Untervolksverband gemeinsam einen Hoheitsakt beherrschen, ist die demokratische Gleichheit somit dort, wo eine Mehrheit von Völkern allein oder zusammen mit einem Obervolk einen Hoheitsakt dominiert, nicht allein schon dadurch gewährleistet, dass der betreffenden Hoheitsakt exklusiv demokratisch legitimiert wird und die beteiligten Völker, für sich betrachtet, autonomiekonforme Partizipationsstrukturen aufweisen. Vor diesem Hintergrund stellt sich nachdrücklich die Frage, ob beziehungsweise wie es sich in Hinblick auf den staatsorganisatorischen Gleichheitssatz rechtfertigen lässt, wenn in den Fällen, in denen mehrere organisatorisch-prozedural miteinander verschränkte Staatsverbandsvölker allein oder zusammen mit einem überstaatlichen Obervolksverband supranationale Hoheitsakte beherrschen, den Angehörigen des einen Staatsverbandsvolks größere Einflussmöglichkeiten 315

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) dd) = S. 279.

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eingeräumt sind als den Angehörigen eines anderen Staatsverbandsvolks. Insofern ist zu erinnern, was in grundsätzlicher Hinsicht zur Gleichheit der Stimmbürger als Voraussetzung staatsorganisatorischer Volkswerdung ausgeführt wurde. Danach ist eine Relativierung des an sich strikt formal zu verstehenden staats­ organisatorischen Gleichheitsgrundsatzes prinzipiell statthaft, wenn andernfalls eine strukturell verfestigte Minderheit innerhalb der Stimmbürgerschaft Gefahr liefe, der von der strukturellen Mehrheit der Stimmbürger ausgeübten Herrschaft ohnmächtig ausgeliefert zu sein316. Eine solche Majorisierung kann nun freilich insbesondere auch dann zu befürchten sein, wenn mehrere unterschiedlich große Staatsverbandsvölker in Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität gemeinschaftlich einen hoheitlichen Rechtsetzungsprozess beherrschen. Denn misst man in einer solchen Konstellation den Stimmen, die von den Bürgern der bevölkerungsreichen Staaten abgegeben werden, dasselbe Gewicht zu wie den Stimmen von Bürgern aus kleinen Ländern, so droht dies bei Geltung des organisationstechnisch unverzichtbaren Mehrheitsprinzips dazu zu führen, dass die Bürger der kleinen Staaten auf Dauer in eine strukturelle Minderheitenposition gedrängt werden317. In einer derartigen Konstellation muss es denn auch grundsätzlich rechtfertigbar sein, wenn das Gleichheitsprinzip relativiert wird, um eine Majorisierung kleiner Staaten zu verhindern318. Insofern ist vor allem an zwei grundsätzliche Verfahrensarrangements zu denken. Zu einer massiven Beeinträchtigung des staatsorganisatorischen Gleichheitsprinzips, zugleich aber auch zu einem besonders effektiven Schutz gegen eine strukturelle Dominanz der Bürger großer Staaten kommt es dann, wenn das in der zeitgenössischen staatlichen Demokratie fest etablierte Mehrheitsprinzip319 nur innerhalb der zusammenwirkenden Staaten angewendet, im Verhältnis der Staatsverbandsvölker untereinander hingegen auf das Einstimmigkeitsprinzip rekurriert wird320. Eine typischerweise geringere Einbuße an demokratischer Gleichheit, dafür aber auch ein geringerer Majorisierungsschutz ist demgegenüber bei einem solchen Verfahrensarrangement gegeben, das die Stimmen der Bürger kleiner Staaten lediglich stärker gewichtet als die Stimmen von Bürgern aus großen Staaten, ansonsten aber durchweg die Geltung des Majoritätsprinzips vorsieht, also nicht nur innerhalb der einzelnen Staatsvolksverbände, sondern auch im Verhältnis der Staatsvolksverbände zueinander321. 316

Vgl. Epiney u. a. (Fn. 57), S. 161. Dazu etwa – bezogen auf den Rat als zentralem Organ des unionalen Institutionengefüges – Huber, Recht der europäischen Integration, 2. Aufl.2002, § 11 Rn. 15. 318 Dazu differenzierend Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 497 f.; dazu auch unten Kapitel 10 III. 1. d) aa) = S. 761 und Kapitel 13 IV. 2. b) aa) = S. 1195. 319 Jäger (Fn. 288), Sp. 1082 ff. 320 Das Zusammenwirken der Staatsvolksverbände ist in diesem Fall durch Intergouvernementalität geprägt (Peters [Fn. 307], S. 203). 321 Das Zusammenwirken der Staatsvolksverbände weist in diesem Fall ein wesentliches Merkmal von Supranationalität auf (Peters [Fn. 307], S.  240 und auch schon oben Einleitung I. = S. 51 mit Fn. 3). 317

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Die durch derartige Verfahrensarrangements bewirkte Relativierung demokratischer Gleichheit ist insoweit gerechtfertigt, als dadurch im konkreten Fall ein angemessener Ausgleich zwischen formaler und materialer Gleichheit realisiert wird: Weder darf die arithmetische Gleichheit der Stimmbürger einseitig zu Lasten der tatsächlichen Offenheit des demokratischen Prozesses betont und verwirklicht werden, noch darf mit der Orientierung an der proportionalen Gleichheit die demokratische Leitvorstellung verschütt gehen, wonach Volkssouveränität als ein Interessen- und Ideenwettstreit von als frei und gleich voraus-gesetzten Individuen zu institutionalisieren ist322.

2. Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im politischen Willensbildungsprozess als gesellschaftsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung Die (Wahl-)Entscheidungen des Volks, die für die Volkssouveränität in seinen beiden Vertikaldimensionen schlechthin konstitutiv sind, müssen staatsorganisatorisch in einem den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit entsprechenden Verfahren herbeigeführt werden323. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der gesellschaftliche Willensbildungsprozess nicht erst im unmittelbaren Wahlgang beziehungsweise direkt im Abstimmungsvorgang einsetzt324, sondern dass der im Wahl- und Abstimmungsverfahren demokratisch ermittelte Volkswille bereits im gesellschaftlichen Raum entscheidend vorgeprägt wird325. Hinzu tritt  – und dies wiegt noch schwerer  –, dass Volkssouveränität als fortwährend legitimations­ vermittelnder Ableitungszusammenhang wie auch als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation von der ständigen, ununterbrochenen Rückkoppelung von Hoheitsentscheidungen an den aktuellen Volkswillen ausgeht326. Dieser aktuelle Volkswille aber ist, sofern nicht gerade eine Wahl oder Abstimmung stattgefunden hat, von vornherein überhaupt nur im gesellschaftlichen Raum existent327. Wenn nun aber der Volkswille in beträchtlichem Maße vom gesellschaftlichen Willensbildungsprozess her determiniert wird, so liegt es auf der Hand, dass es auch spezifisch gesellschaftsorganisatorische Bedingungen einer demokratischen Volks 322

Zum Spannungsverhältnis zwischen formaler und materialer Gleichheit – leicht ressentimentgeladen – Herzog, Artikel ‚Gleichheit‘, in: ders. u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Sp. 1182 (1183). 323 Dazu etwa Zippelius (Fn. 100), § 24 I. 324 Dazu Fisahn, Demokratie: Aufhebung der Besonderung des Staates, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S.  71 (91) und Groß (Fn.  129), S. 178. 325 v. Komorowski (Fn. 23), S. 137 f.; Greven, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 249 (250); Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: APuZ 2007, 10, S. 24 (28). 326 Vgl. Mehde, Kooperatives Regierungshandeln, in: AöR 2002, S. 655 ff.; Reichel (Fn. 234), S. 111. 327 Siehe etwa Herzog (Fn. 119), S. 339 f.

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werdung gibt328. Den in den (Wahl-)Entscheidungen der Stimmbürger oder aber in Entscheidungen sonstiger Volksorgane vergegenwärtigten Willen wird man nur insofern als Ausfluss einer demokratischen volonté générale, eines demokratischen plébiscite de tous les jours329 qualifizieren können, als die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse an sich geeignet sind, einen solchen demokratischen Willen zu präformieren330.

a) Keine demokratietheoretische Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung Dass sich die demokratiezentrale Volkssouveränität nicht von ihren gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen dissoziieren lässt, liegt zunächst ganz auf der Linie des individuumszentrierten Demokratieverständnisses. Denn diesem eignet, wie dargelegt, die Tendenz, den Graben zwischen staatsorganisatorischem und gesellschaftlichem Bereich einzuebnen331. Folgerichtig scheint daher – zumindest auf den ersten Blick – auch die weitere Konsequenz zu sein, die nach diesem spezifischen Demokratieverständnis zu ziehen ist, nämlich die Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft332. Denn es ist in der Tat schlüssig, dass eine umfänglich demokratisierte Gesellschaft in besonderem Maße geeignet sein dürfte, immer wieder von neuem einen demokratischen Volkswillen aus sich heraus zu gebären. Wenn nämlich bereits die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse demokratisch organisiert sind, dürften die hiervon ohnehin nicht wirklich zu trennenden staatsbezogenen Willensbildungsprozesse ebenfalls demokratisch imprägniert sein. Beispielsweise dürften Bürger, die schon im Betrieb unter demokratischen Bedingungen über die Errichtung einer sozialen Einrichtung diskutieren und mitentscheiden, in besonderem Maße be­ fähigt sein, in einen demokratischen Diskurs über das Ausmaß staatlicher Sozial­ leistungen einzutreten und einen darauf bezogenen Volkswillen auszubilden333. Nun ist freilich bereits dargetan worden, dass eine unbegrenzte Demokratisierung der Gesellschaft fatale Folgen haben kann334. Dies braucht hier nicht nochmals vertieft zu werden. Fraglich bleibt allerdings, ob eine ihre eigenen Grenzen reflektierende und berücksichtigende Demokratisierung der Gesellschaft nicht nur hinreichende Bedingung, sondern überdies conditio sine qua non eines gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses ist, der seinerseits in der Lage ist, den für 328

Sartori (Fn. 7), S. 95. Siehe Renan, Qu’est-ce qu’une Nation?, in: Forest, Qu’est-ce qu’une Nation?, 1991, S. 31 (44). 330 Dazu auch Greven (Fn. 325), S. 257 und Groß (Fn. 129), S. 179. 331 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. b) = S. 208. 332 In diese Richtung Callinicos, Socialism and Democracy, in: Held, David (Hrsg.), ­Prospects for Democracy, 1993, S. 200 ff. 333 Zu diesem Ansatz überblicksartig Katz, Staatsrecht, 16. Aufl. 2005, Rn. 158. 334 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. c) aa) = S. 209. 329

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die Volkssouveränität im staatlichen Bereich konstitutiven demokratischen Volkswillen dauerhaft hervorzubringen. In solcher Pauschalität ist dies zu ver­neinen. Stattdessen ist mit dem verbandsorientierten Demokratieparadigma, das die Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formales Prinzip setzt, festzuhalten, dass Volkssouveränität im Bereich eines Hoheitsträgers gegebenenfalls auch ohne umfängliche Demokratisierung der hoheitsunterworfenen Gesellschaft und mithin auch in den gegenwärtig dominierenden marktliberalen Gesellschaften funktionieren kann335. Unter welchen gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen dies möglich ist, muss freilich aus dem demokratiekonstitutiven Zusammenspiel von gesellschaftlichem Willensbildungs- und hoheitlichem Entscheidungsprozess abgeleitet werden und bestimmt sich insofern nach der keineswegs nur staatsorganisatorischformal fassbaren Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität. Um der Volkssouveränität willen muss der gesellschaftliche Willensbildungsprozess dergestalt organisiert und reguliert werden, dass eine demokratische Volkswerdung nicht konterkariert wird, sondern möglich bleibt. Das Prinzip der Volkssouveränität fordert und schützt mit anderen Worten eine Gesellschaftsverfassung, die einen in Hinblick auf das Demokratiepostulat dysfunktionalen Ablauf der gesellschaftlichen Debatten und Kontroversen hindert. Insofern ist es zwar nicht zwingend nötig, dass die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse ins­ gesamt nach dem Muster der staatlichen Entscheidungsprozesse gestaltet und mithin demokratisiert werden336. Jedoch muss sichergestellt sein, dass zumindest die staatsbezogenen, im engeren Sinne politischen Willensbildungsprozesse der Gesellschaft ihrerseits – sinngemäß – von jenen prozeduralen Prinzipien geprägt sind, die auch für die staatsorganisatorische Volkswerdung entscheidend sind. Folglich müssen die politischen Willensbildungsprozesse tendenziell den Verfahrensan­ forderungen der Freiheitlichkeit und der Gleichberechtigung entsprechen337. Dies ergibt sich aus folgender Erwägung: Volkswahlen oder Volksabstimmungen können, wie dargelegt338, grundsätzlich nur dann als demokratisch und mithin als legitimationsstiftend qualifiziert werden, wenn staatsorganisatorisch sichergestellt ist, dass jedes Glied des demos über dieselbe Chance verfügt, frei an der Wahl- beziehungsweise Abstimmungsentscheidung mitzuwirken. Da nun aber die Wahl- und Abstimmungsentscheidungen aus den gesellschaftlichen Debatten und Konflikten erwachsen, die Glieder des demos in diese gesellschaftlichen Kontroversen einbezogen sind und aus ihnen heraus an der Entscheidungsfindung mitwirken, läuft die vom Prinzip der Volkssouveränität staatsorganistorisch ge­forderte 335

Rechtspolitisch freilich bleibt es ein fataler Fehler, die Bedeutung gesellschaftlicher Demokratie für eine nachhaltige staatliche Demokratie (dazu etwa am Beispiel der betrieblichen und Unternehmensmitbestimmung Plander, Vom Nutzen der Mitbestimmung für die Demokratie, in: Redaktion Kritische Justiz [Hrsg.], Demokratie und Grundgesetz, 2000, 117 ff.) systematisch kleinzureden oder schlichtweg in Abrede zu stellen. 336 Vgl. auch Herzog (Fn. 223), Rn. 119 ff. und Groß (Fn. 129), S. 199. 337 Dazu nur Habermas (Fn. 309), S. 151 ff. 338 Siehe oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328.

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gleiche und freie Teilhabe aller Volksglieder in der Sache leer, wenn nicht die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse ihrerseits unter Bedingungen ablaufen, die eine grundsätzlich gleichberechtigte und freie Teilnahme an den gesellschaftlichen Kontroversen ermöglichen. Fehlt es an einer dies verbürgenden Gesellschaftsverfassung, so mögen die staatsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung zwar formaliter erfüllt sein; ihr demokratischer Sinn und Zweck aber, nämlich echte demokratische Teilhabe an der staatlichen Hoheitsmacht zu realisieren, bleibt unerfüllt, wenn die gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung nicht eingelöst werden339. So ist es etwa schwerlich vorstellbar, dass der gesellschaftliche Willensbildungsprozess einen als demokratisch qualifizierbaren Volkswillen generiert, wenn lohnabhängig Beschäftigte mit Repressionen ihrer Arbeitgeber zu rechnen haben, falls sie sich politisch für ein bestimmtes Anliegen einsetzen340, oder aber wenn die Medien­landschaft von einigen wenigen Großunternehmen oligopolistisch beherrscht wird341, ohne dass durch entsprechende Redaktionsstatute Pluralität und Stimmenvielfalt verbürgt wird342. Besonders deutlich werden die skizzierten Zusammenhänge, wenn die gesellschaftlichen Kontroversen von bestimmten, strukturell verfestigten Machtkartellen dominiert, ja manipuliert werden können und sich die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse infolgedessen gerade nicht durch Freiheitlichkeit und Chancengleichheit auszeichnen. Die staatsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung werden in diesen Fällen realiter dadurch unterlaufen, dass die betreffenden sozialen Mächte ihre partikularen Interessen bereits in den von ihnen dominierten gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen durchsetzen können und auf diese Weise – mittelbar – auch die (Wahl-)Entscheidungen des demos zu bestimmen vermögen. In diesen Konstellationen kann auch ein noch so demokratisches Arrangement im staatsorganisatorischen Bereich letztlich nicht verhindern, dass das politische System über kurz oder lang den Partikularinteressen des Machtkartells dienstbar gemacht wird und insofern eben nicht mehr die freie Beteiligung aller demos-Angehörigen an der politischen Macht organisiert. Demokratische Verhältnisse lassen sich unter diesen Umständen nur dadurch wiederherstellen, dass man das Machtkartell auf die eine oder andere Weise zerbricht343 und dafür sorgt, dass auch im Rahmen der gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse strukturell ein Mindeststandard an Freiheitlichkeit und Chancengleichheit gewährleistet wird. 339

Dazu auch Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 78 ff. Zur Beeinträchtigung der Wahlfreiheit bei Beeinflussung durch Private siehe nur Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Auflage, 2007, Art. 38 Rn. 88. 341 Zu dieser Gefahr auch Zippelius (Fn. 100), § 26 VI 1 und § 28 IV 4.  342 Vgl. auch Hoffmann-Riem, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 169. 343 Zur Möglichkeit derartige Machtkartelle durch Demokratisierung, aber eben auch durch Publifizierung der Machtverhältnisse zu domestizieren, vgl. sogleich unten Kapitel 6 III. 3. b) = S. 348. 340

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b) Institutionalisierung einer gleichen Meinungs- und Assoziationsfreiheit aller als gesellschaftsorganisatorische conditio sine qua non demokratischer Volkswerdung Vor dem Hintergrund der soeben angestellten Überlegungen lässt sich somit festhalten, dass die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse um der Demo­ kratie willen dergestalt ablaufen müssen, dass die staatsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung nicht konterkariert werden. Dies lässt sich nur dadurch erreichen, dass die für die staatsorganisatorische Volkswerdung konstitutiven Verfahrensbedingungen sinngemäß auf die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse übertragen werden344. Eine demokratische Gesellschaftsverfassung muss daher sicherstellen, dass die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse ihrerseits tendenziell von den prozeduralen Prinzipien der Freiheitlichkeit und der Gleichberechtigung bestimmt werden345. Dies bedeutet zunächst, dass den einzelnen Gebietsangehörigen prinzipiell gleiche Kommunikationsrechte eingeräumt werden müssen346. Jeder muss grundsätzlich dieselbe Möglichkeit haben, sich frei von äußerem Zwang in ergebnisoffene gesellschaftliche Willensbildungsprozesse einzubringen, damit seine Interessen und Bedürfnisse dort Widerhall finden347. Dieses individuelle Anrecht auf freie und gleiche Kommunikation beinhaltet unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft zwingend eine institutionelle Dimension348. Da die politische Kommunikation schwerpunktmäßig über die Massenmedien vermittelt wird349, reicht es in Hinblick auf den Sinn und Zweck des individuell verbürgten Rechts auf freie und gleiche Kommunikation nicht aus, wenn jeder Einzelne das formal gleiche Freiheitsrecht der Kommunikation be-

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Siehe oben Kapitel 6 III. 2. = S. 337. Dazu auch Hesse, Artikel ‚Grundrechte‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl. 1987, Sp. 1111 (1116). 346 Rousseau, La démocratie et le droit, in: Damamme (Hrsg.), La démocratie en Europe, 2004, S. 111 (116 f.); Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 241 (257); Fleiner /  Fleiner (Fn.  6), S.  178; Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2  GG, 1962, S.  17 f.; Hoffmann-Riem, Kommunikations- und Medienfreiheit, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. § 7 Rn. 12. 347 So auch Gusy (Fn. 11), S. 156; Beetham (Fn. 224), S. 56. 348 Überzeugend hierzu Kübler, Massenkommunikation und Medienverfassung, in: Badura /  Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S.  649 (658 ff.). In diese Richtung auch schon Leibholz, Freiheitliche demokratische Grundordnung (Fn.  294), 137 f.: „… ein System von Einrichtungen, das die Herrschaft der öffentlichen Meinung in all ihren verschiedenen Ausdrucksformen sicherstellt.“ Speziell zur Pressefreiheit Ehmke, Verfassungsrechtliche Fragen einer Reform des Pressewesens, in: ders. / Schmid / Scharoun (Hrsg.), Festschrift für Arndt, 1969, S. 77 (83 ff.) sowie Marcic (Fn. 225), S. 284. 349 Vgl. dazu auch Hart / Jarvis, Artikel ‚Communication‘, in: Clarke / Foweraker (Hrsg.), Encyclo­pedia of Democratic Thought, 2001, S. 83 (84 f.). 345

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sitzt350. Denn in einer massenmedial vernetzten Agora bleiben Einzelstimmen regelmäßig ohne Resonanz, gehen im Stimmengewirr typischerweise unter351. Dies gilt insbesondere dann, wenn einige machtvolle Personengruppen – unter Berufung auf das nach überwiegender Auffassung auch ihnen zustehende Recht auf freie und gleiche Kommunikation352 – Massenmedien kontrollieren und zur kommunikativen Durchsetzung ihrer Partikularinteressen nutzen353. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass das Recht auf freie und gleiche Kommunikation zugleich eine Medienlandschaft voraussetzt, in der die mediale Macht dekonzentriert ist354 und im Übrigen dafür Sorge getragen wird, dass dem offenen politischen Diskurs hinreichend Raum gelassen wird355. Über das Recht auf freie und gleiche Kommunikation hinaus muss es den einzelnen Gebietsangehörigen fernerhin grundsätzlich möglich sein, im Verein mit anderen Gebietsangehörigen für ihre Interessen zu streiten und dadurch den gesellschaftlichen Willensbildungsprozess zu beeinflussen356. Auch dieses demokratiekonstitutive Assoziationsrecht357 weist eine institutionelle Dimension auf. Denn auch sein Sinn und Zweck wird konterkariert, wenn sozialmächtige Verbände die innerverbandlichen Einflussmöglichkeiten einzelner Mitglieder willkürlich beschneiden oder der formal freie und gleichberechtigte Wettbewerb der Assoziationen aufgrund ihrer unterschiedlichen Durchsetzungsfähigkeit zu einem freiheits- und gleichheitswidrigen Verdrängungswettbewerb führt358. Insofern muss das demokratische Gemeinwesen durch entsprechende institutionelle Maßnahmen dafür sorgen, dass das Assoziationsrecht realiter an dem auch ihm zugrunde­ liegenden Ideal einer tendenziell gleichen Teilhabe aller an einem freien, also unvermachteten gesellschaftlichen Willensbildungsprozess orientiert bleibt. Ganz generell lässt sich mithin feststellen, dass in Hinblick auf den für die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur so zentralen gesellschaftlichen Willensbildungsprozess gesellschaftsorganisatorisch eine relativ ausgewogene Ver 350

Haverkate (Fn. 102), S. 228. Zu diesen Zusammenhängen auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 330 ff. 352 Kritisch hierzu Kübler (Fn. 348), S. 652 ff. 353 Dazu immer noch lesenswert Ehmke (Fn. 348), S. 77 ff.; ferner Grams (Fn. 234), S. 111 f. 354 Dazu, wenn auch eher zurückhaltend, Böckenförde (Fn. 264), Rn. 41 f. 355 Vgl. Grimm, Bedingungen demokratischer Rechtsetzung, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S. 489 (490 f.); Hoffmann-Riem (Fn. 346), Rn. 16; Beetham (Fn. 224), S. 65. 356 Kunig, in: v. Münch / ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 8 Rn. 3 f.; Dietrich (Fn. 282), S. 65 f. 357 Zu diesem Terminus als Obergriff für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit siehe Sachs, Die Freiheit der Versammlung und Vereinigung, in: Stern, Staatsrecht der Bundes­ republik Deutschland, Bd. 4/1, 2006, S. 1070 (1128). 358 Zur legislativen Ausgestaltung des Art.  9  GG, „die die Wahrnehmung des Grundrechts überhaupt erst ermöglicht und das Vereinigungswesen in das allgemeine Rechtsleben einfügt“, eingehend Rinken, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 9 Abs. 1 Rn. 71 ff. sowie 64 ff. 351

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teilung der realen Einflussmöglichkeiten und -chancen sichergestellt sein muss, damit ein den Anforderungen der Freiheitlichkeit und Gleichheit Rechnung tragender politischer Diskurs entstehen und fortleben kann359. Wird diese Maßgabe vernachlässigt, droht eine in demokratischer Hinsicht dysfunktionale Überwältigung der gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse durch partikulare Macht­ interessen360.

3. Das Prinzip der Öffentlichkeit als staats- und gesellschaftsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität kann nur in dem Umfang Gestalt annehmen, in dem die ihr vorausliegenden gesellschaftlichen und staatlichen Willensbildungs- und -vereinheitlichungsprozesse immer wieder von Neuem eine dem Volk zurechenbare volonté générale generieren, von der her die verbandliche Hoheitsausübung legitimiert wird361. Ohne ausreichende Transparenz der verbandlichen Hoheitstätigkeit ist es freilich ausgeschlossen, dass derartige Willens­ bildungs- und -vereinheitlichungsprozesse Platz greifen362. Freilich wäre das demokratische Prinzip der Öffentlichkeit363 nur unvollkommen erfasst, wenn es von vornherein auf den Bereich der Hoheitsausübung beschränkt würde364. Denn die demokratische Volkswerdung hängt vielfach  – und zwar speziell unter den gegenwärtigen Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung  – davon ab, dass auch im gesellschaftlichen Bereich für hinreichende Publizität gesorgt ist, und zwar insbesondere in Ansehung der real existierenden sozioökonomischen Übermachtverhältnisse365. 359 Geboten ist mit anderen Worten „eine in ausreichendem Maße deliberative und inklusive Öffentlichkeit als Gelegenheitsstruktur für die argumentative und gleichberechtigte Erörterung gesellschaftlich anerkennungsfähiger Gerechtigkeitsvorstellungen“ (Meyer, in: ders., Theorie der Sozialen Demokratie, 2005, S. 220). 360 Dazu vertiefend Touraine, Qu’est-ce que la démocratie, 1994, S. 247 ff. 361 Siehe oben bei Fn. 23 sowie Morlok (Fn. 32), S. 574, der betont, dass der Grundsatz demokratischer Öffentlichkeit seine Dignität unmittelbar aus der Volkssouveränität gewinne. 362 Dazu auch Meier, Die parlamentarische Demokratie, 1999, S. 39; Grözinger, Die ‚Vereinigten Parlamente von Europa‘ und weitere Überlegungen zur subsidiären Demokratie, in: Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, 2003, S. 211 (213); Hart / Jarvis (Fn. 349), S. 83; v. Arnim (Fn. 252), S. 509; Zippelius (Fn. 100), § 23 II 7. 363 Dazu Marcic (Fn. 225), S. 267 ff. 364 So offensichtlich auch Meier (Fn. 362), S. 48; dezidiert in diesem Sinn Grimmer (Fn. 287), S. 272 ff. 365 Eingehend dazu Denninger (Fn. 339), S. 74 ff. Dazu, dass Machtverhältnisse im demokratischen Verfassungsstaat nicht camoufliert sein dürfen, siehe Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel [Hrsg.]), Bd. 6, 1964, S. 191 (244 f.): „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“

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Teil III: Volkssouveränität und EU

a) Das Prinzip der Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung Um die Geltung des demokratischen Öffentlichkeitsgebots in Hinblick auf die Staatsorganisation präzise zu begründen, macht es Sinn, einmal mehr beim Auto­ nomiegedanken anzusetzen366: Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität setzt voraus, dass im gesellschaftlichen Bereich und daran anknüpfend im staatsorganisatorischen Bereich ein permanenter, den autonomiekonstitutiven Prin­ zipien der Freiheit und Gleichheit verpflichteter und auf die zu legitimierende Hoheitstätigkeit bezogener Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess Platz greift. Eine autonomiekonforme Partizipation an diesem mehrschichtigen Verständigungsprozess ist freilich nur möglich, wenn die staatliche Hoheitstätigkeit, die es zu legitimieren gilt, hinreichend transparent ist367. Insbesondere muss für die Gebietsgesellschaft ersichtlich sein, welche unmittelbar oder mittelbar vom Staatsvolk bestellten Magistrate oder Magistratskollegien für Erlass beziehungsweise Nichtrevision eines bestimmten Hoheitsakts politisch verantwortlich sind368. Denn nur unter dieser Voraussetzung können Gebietsgesellschaft und von ihr getragenes Staatsvolk in Hinblick auf die diesem zugerechnete Hoheitsausübung zielgerichtet agieren und interagieren369, ohne dass ihre Angehörigen in die Abhängigkeit von Informationsmächtigen geraten und infolgedessen gleichermaßen in ihrer Freiheits- wie auch in ihrer Gleichheitsposition, kurzum: in ihrem Auto­ nomieanspruch, beeinträchtigt werden370. aa) Abgrenzung gegen alternative Konzepte staatsorganisationsbezogener demokratischer Öffentlichkeit Das hier zugrundegelegte Verständnis staatsorganisationsbezogener demokratischer Öffentlichkeit muss gegen andere denkbare Begriffskonzepte abgegrenzt werden. So lässt sich nicht zu Unrecht auch dort vom staatsorganisatorischen Prinzip demokratischer Öffentlichkeit sprechen, wo die interorganschaftliche Transparenz371 im Verhältnis zwischen volksmittelbaren Magistraturen in Rede steht, 366 In diesem Sinn auch Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie ohne Völker?, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 27 (49). 367 Dazu plastisch Eppler, Auslaufmodell Staat?, 2005, S. 216 f.; auch Mehde, Kooperatives Regierungshandeln, in: AöR 2002, S. 655 (671 f.) und Hermes, Der Bereich des Parlaments­ gesetzes, 1988, S. 52 f. 368 Kelsen, Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 115 (135). 369 „… die nichtorganisierte letzte Instanz in der Demokratie lebt von der Öffentlichkeit, ist die Öffentlichkeit“ (Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Bachof u. a. [Hrsg], Gedächtnisschrift für Jellinek, 1955, S. 11 [16]). Siehe auch Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive und Informationsrecht der Presse, 1971, S. 75. 370 Zum staatsorganisatorischen Transparenzgebot Reichel (Fn. 234), S. 110 ff.; auch Huber (Fn. 366), S. 38. 371 Zur Inter-Organ-Kontrolle beispielsweise Herzog (Fn.  119), S.  351; ferner Bröhmer (Fn. 223), S. 27.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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etwa im Verhältnis zwischen Parlament und Regierung372. Allerdings geht es insoweit um demokratische Transparenz als Voraussetzung für die staatsorganisatorisch eingehegte Vermittlung des als bereits konstituiert unterstellten Volkswillens und nicht wie nach dem hiesigen Begriffsverständnis um demokratische Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung, um Transparenz unmittelbar gegenüber der demokratischen Allgemeinheit. Das hier vertretene, spezifische Verständnis von demokratischer Öffentlichkeit im staatsorganisatorischen Bereich erscheint indes nicht zuletzt deshalb als gerechtfertigt, weil das weitergehende Konzept demokratischer Öffentlichkeit in der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur durchaus Berücksichtigung findet. So ist zu erinnern, dass Volkssouveränität in seiner Vertikaldimension als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang zwingend durch materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge ins Werk gesetzt wird. Diese knüpfen an das Vorhandensein einer Kontrollmöglichkeit an. Deren Wirksamkeit wiederum hängt unter anderem davon ab, in welchem Umfang sich die Kontrollinstanzen ein Bild von der hoheitliche Be­ tätigung der magistratischen Repräsentanten beziehungsweise der sonstigen Amtsträger machen können373. Ähnliches gilt für die personelle Legitimation. Denn die von der Amtsübertragung ausgehende Inzitation wird deutlich stärker nachwirken, wenn die Amts­ träger bei ihrer hoheitlichen Betätigung unter ständiger Beobachtung vorgesetzter Magistrate stehen, als wenn sie – abgeschirmt von diesen – im stillen Kämmerlein schalten und walten374. Damit bestätigt sich, dass das hier zugrundegelegte Konzept von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur die Bedeutung der intraorganschaftlichen Transparenz für die Realisierung von Demokratie keineswegs ignoriert. Zumindest dann muss es aber auch statthaft sein, das staatsorganisatorische Prinzip demokratischer Öffentlichkeit enger zu fassen und es wie hier auf den für die Demokratie schlechthin konstitutiven Regelungsinhalt zu beschränken, der ihm in der Horizontaldimension von Volkssouveränität zukommt.

bb) Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung, Legitimationsmodus und Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die demokratische Öffentlichkeit, wenn sie wie hier als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung verstanden wird, nicht zugleich als ausschnittsweise unter die Lupe genom 372

Prototypisch: § 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. 374 Dazu ansatzweise Bröhmer (Fn. 223), S. 27: „Transparenz geht (…) über das Verhältnis Bürger-Staat hinaus.“ 373

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Teil III: Volkssouveränität und EU

menes Element des Legitimationsmodus oder des damit korrelierenden Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation gedeutet werden darf. Erwähnenswert ist dies deshalb, weil es nicht ganz selbstverständlich ist. Denn zumindest auf den ersten Blick könnte die Annahme naheliegen, die staatsorganisationsbezogene demokratische Publizität werde insofern vom Legitimationsmodus mit erfasst, als dieser nicht zuletzt durch die unmittelbar vom Volk herrührenden personellen sowie materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge ins Werk gesetzt wird und diese, wie der Sache nach eben angesprochen, in ihrer Wirkkraft unter anderem davon ab­ hängen, wie transparent die Entscheidungszusammenhänge sind, in die der legitimationsbedürftige Hoheitsakt gestellt ist. Den Konnex zum Prozess dauerhafter Legitimation wiederum könnte man  – jeden­falls prima facie  – darin sehen, dass dieser nur insoweit Platz greift, als der demos in den periodisch wiederkehrenden Wahlen auf die Hoheitsausübung Einfluss zu nehmen vermag und durch die Nach- und Vorwirkungen dieser Einflussnahme(-möglichkeit) eine dauerhafte Angleichung der Hoheitsausübung an den Gemeinwillen bewirkt wird. Dazu aber muss die Hoheitsübung für die Allgemeinheit transparent sein. Denn nur wenn sie über die hoheitliche Betätigung ihrer magistratischen Repräsentanten und sonstigen Amtsträger informiert ist, kann sie die Hoheitsausübung gezielt beeinflussen. Es zeigt sich somit, dass alle Arrangements der Staatsorganisation, die für die demokratische Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung bestimmend sind, an sich auch schon bei der Rekonstruktion des demokratischen Legitimationsmodus beziehungsweise des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation zu berücksichtigen sind. Gleichwohl fallen demokratische Öffentlichkeit im hier verstandenen Sinn und Legitimationsmodus respektive Prozess demokratischer Legitimation nicht zusammen, sondern müssen im Gegenteil strikt unterschieden werden. Denn der Legitimationsmodus sowie der damit korrelierende Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation be­ziehen sich darauf, wie in einer Staatsorganisation ein Hoheitsakt an den als gegeben vorausgesetzten Volkswillen rückgebunden ist und um der Demokratie willen rückgebunden sein muss. Demgegenüber fokussiert das demokratische Prinzip der Öffentlichkeit nach dem hiesigen Verständnis die staatsorganisatorischen Pu­ blizitätsvorgaben unter dem Gesichtspunkt, ob und inwieweit sie zu dem im gesellschaftlichen Bereich einsetzenden und auf der staatsorganisatorischen Ebene sich sukzessive konkretisierenden Prozess demokratischer Volkswillensbildung beitragen375. Insofern beziehen sich Legitimationsmodus sowie Prozess dauerhafter Legitimation einerseits und staatsorganisatorisches Prinzip demokratischer Öffentlichkeit andererseits auf unterschiedliche Bereiche der als Zurechnungsstruktur begriffenen Volkssouveränität.

375

In diesem Sinne auch Denninger (Fn. 339), S. 74 ff.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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cc) Das Prinzip der Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung bei völkermehrheitlich bewirkter Hoheitstätigkeit Abschließend sei noch berücksichtigt, dass es im Folgenden zentral um die demo­kratische Legitimation gerade solcher Hoheitsakte geht, die (zumindest auch) von Völkermehrheiten ausgehen und auf diese zurückführen. Insofern gilt es schon an dieser Stelle zweierlei festzuhalten. Erstens ist zu berücksichtigen, dass ihrer eben skizzierten Rekonstruktion zufolge von demokratischer Öffentlichkeit immer nur dort gesprochen werden kann, wo der konkret legitimationsstiftende demos Einblick in die hoheitliche Be­ tätigung der für ihn handelnden Magistrate und Magistratskollegien erlangt. Bei einer demoi-kratischen Legitimation von Hoheitsakten durch eine Völkermehrheit entsteht demokratische Öffentlichkeit füglich nicht schon dann, wenn zwar publik wird, was ein Organ der Völkermehrheit bewirkt, aber nicht ersichtlich ist, in­wieweit die in dem betreffenden Organ vertretenen Repräsentanten der einzelnen Völker hierfür haftbar gemacht werden können. Denn unter diesen Bedingungen ist es für die ihm vorgelagerte Öffentlichkeit und das jeweilige Volk selbst gerade nicht möglich, zielgerichtet auf die ihm zugerechnete Hoheitsausübung einzuwirken und just dadurch Volkssouveränität zu realisieren. Dabei ist es gänzlich unerheblich, ob sich über die betreffende Völkermehrheit unterschiedliche Volkssouveränitäten Bahn brechen oder ob sie staatsgebietseinheitliche Volks­souveränität generiert. Denn auch in der zuletzt genannten Konstellation genügt es nicht, wenn die einzelnen Völkern und ihre jeweiligen Öffentlichkeiten lediglich Einblick in die Hoheitstätigkeit der Organe der Völkermehrheit haben: Tagte der Bundesrat nicht-öffentlich376, so stünden von ihm gefasste Mehrheitsbeschlüsse in Widerspruch zum Prinzip demokratischer Öffentlichkeit, auch wenn sie im Nachhinein amtlich verkündet würden. Schließlich wäre es für die Landesvölker und das ihnen vorgelagerte Landespublikum nicht möglich, zielgerichtet zu (re-)agieren, weil die politische Verantwortung ihrer jeweiligen Bundesratsvertreter unklar wäre. Damit zusammenhängend sind bei völkermehrheitlich beherrschten Hoheitsakten zweitens Besonderheiten hinsichtlich des Geltungsanspruchs und der Geltungsweise des staatsorganisatorischen Publizitätsgebots zu beachten: Geht ein Hoheitsakt von mehreren Völkern aus, ohne dass sie in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken, so gilt das staatsorganisatorische Publizitätsgebot von vornherein nur in Hinblick auf diejenigen Hoheitsbeiträge, die von dem als allein legitimationsstiftend in den Blick genommenen demos herrühren. Soweit es um die hoheitliche Betätigung eines von dem fokussierten Volk verschiedenen demos geht, greift das staatsorganisatorische Gebot demo­kratischer Publizität schon seinem Geltungsanspruch nach nicht Platz. 376 Tatsächlich gilt gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 3 GG der Öffentlichkeitsgrundsatz (dazu nur Krebs, in: v. Münch / Kunig [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. Art. 52 Rn. 9).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Rührt ein Hoheitsakt hingegen von einer Völkermehrheit her, die in Verwirk­ lichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt, so erstreckt sich das staatsorganisatorische Publizitätsgebot seinem Geltungsanspruch nach auf den gesamten Hoheitsakt. Freilich gilt es in der Weise, dass jedes der mit­ wirkenden Völker Einsicht in die hoheitliche Betätigung seiner Repräsentanten haben muss und es nicht genügt, wenn es lediglich über das Handeln der Völkergesamtheit als Ganzer informiert ist377. Denn auch dort, wo mehrere Völker in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken, werden die gemeinsam erzeugten Hoheitsakte über eine je eigene Struktur demokratischer Zurechnung auf jedes einzelne Glied der Völkermehrheit zurückgeführt. Und folglich muss staatsorganisatorische Öffentlichkeit in Hinblick auf jedes einzelne dieser (Sub-)Systeme realisiert sein, damit der Normsetzungsakt insgesamt in staatsorganisatorischer Publizität erwächst.

b) Das Prinzip der Öffentlichkeit als gesellschaftsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung Es wäre nun freilich verfehlt, das Öffentlichkeitsgebot demokratietheoretisch ausschließlich auf den staatsorganisatorischen Bereich zu beziehen378. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die demokratische Volkswerdung gesellschaftsorganisatorisch davon abhängt, dass im Rahmen der gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse strukturell ein Mindeststandard an Freiheitlichkeit und Chancengleichheit gewährleistet ist. Insbesondere muss, wie bereits angesprochen, verhindert werden, dass der gesellschaftliche Willensbildungsprozess durch soziale Partikularmächte überwältigt und zu eigenen Zwecken instrumentalisiert wird379. Einer derartigen Manipulation des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses lässt sich nun zum einen dadurch entgegen wirken, dass die fraglichen Träger sozialer (Über-)Macht demokratisiert werden und sie dadurch die gesellschaftliche Pluralität gewissermaßen eingepflanzt bekommen380. Allerdings ist die Demokratisierung keine gesellschaftsorganisatorische conditio sine qua non demokratischer Volkswerdung381. Denn die Gefahr einer oligopolistischen Usurpation des gesellschaftlichen Willensbildungsprozess lässt sich zum anderen etwa auch dadurch signifikant verringern, dass Machtstrukturen mit besonders großem Einfluss auf die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse um der Volkssouveränität willen transparent gemacht werden382. Auf diese Weise nämlich wird ihre 377

Siehe dazu auch unten Kapitel 13 IV. 1. a) bb) = S. 1175. Siehe oben Kapitel 6 III. 3. = S. 343. In diese Richtung auch Reichel (Fn. 234), S. 117 ff. 379 Wie Birnbaum, Einige Probleme mit der Demokratie, in: Münkler / Llanque / Stepina (Hrsg.), Festschrift für Fetscher, 2002, S. 151 (157) zutreffend festhält, neigt „die Trennung von Wirtschaft und Politik (…) zur Ausrottung der Politik.“ 380 Abendroth, Grundgesetz (Fn. 235), S. 82 f. 381 Herzog (Fn. 223), Rn. 125. 382 Eingehend Denninger (Fn. 19), S. 124 ff. 378

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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interessengeleitete Einflussnahme auf den gesellschaftlichen Diskurs kritisierbar, kann unter Umständen soziale beziehungsweise mediale Gegenmacht organisiert oder aber auch auf staatliche Regulierungsmaßnahmen hingewirkt werden, so dass, insgesamt betrachtet, die tendenzielle Freiheitlichkeit des Willensbildungsprozesses und die Gleichberechtigung der gesellschaftlichen Akteure gewahrt bleiben. Dem dienen zum Beispiel Vorschriften, die die Publizität von Besitzverhältnissen an sozial mächtigen Kapitalgesellschaften vorschreiben. Gerade im Rahmen der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse rechnet somit neben der staatsorganisatorischen vielfach auch die gesellschaftsorganisatorische Implementierung des Publizitätsgebots zu den Bedingungen demokratischer Volkswerdung383. Hervorzuheben bleibt indes, dass es jeweils vom konkreten gesellschafts­ organisatorischen Arrangement abhängt, ob und inwieweit die Wahrung des gesell­schaftsorganisatorischen Publizitätsgebots Voraussetzung für Genese und fortzeugende Existenz eines demos ist384. Denn der gesellschaftliche Willensbildungsbildungsprozess, der durch das in Rede stehende Publizitätsgebot geschützt wird, lässt sich auch noch auf andere Weise gegen demokratiewidrige Interferenzen sozialer Partikularmächte absichern. Zu nennen ist hier zunächst die bereits erwähnte Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft385. Würde diese in demokratietheoretisch optimaler Weise realisiert, wäre das gesellschaftsorganisatorische Publizitätsgebot gänzlich überflüssig386. Unter den gegenwärtigen sozioökonomischen Verhältnissen bedeutsamer sind es freilich die wettbewerbs- und kartellrechtlichen Ordnungen, die gleichfalls zur Offenheit des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses beizutragen vermögen387. Je rigider Wettbewerbs- und Kartellrecht sind, desto schwächer kann das gesellschaftsorganisatorische Publi­ zitätsgebot gefasst werden. 383 Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass das gesellschaftsorganisatorische Publizitätsgebot  – anders als das staatsorganistatorische  – keine denknotwendige, unter allen Umständen zwingende Voraussetzung für die Genese und die Existenz eines demos ist. Denn das gesellschaftsorganisatorische Publizitätsgebot dient der Sicherung eines unvermachteten Willensbildungsprozesses. Vermachtungstendenzen können jedoch nicht nur durch Transparenz, sondern, wie dargelegt, beispielsweise auch durch eine Demokratisierung der relevanten sozia­ len Machtträger erreicht werden. Demgegenüber stellt sich das staatsorganisatorische Öffentlichkeitsprinzip als schlechterdings unverzichtbare Bedingung demokratischer Volkswerdung dar. Ohne Publizität im Bereich der Staatsorganisation lässt sich Volkssouveränität nicht als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation organisieren, kann sich ein legitimierender Volkswille nicht ausbilden und gebricht es insofern an einer Bedingung demokratischer Volks­ werdung. 384 Dies vernachlässigt Grimmer (Fn. 287), S. 272 ff., bei seinen ansonsten sehr unterstützens­ werten Überlegungen. 385 Siehe oben Kapitel 6 III. 2. a) = S. 338. 386 Dies dürfte freilich nur eine theoretische Option. In praxi bleibt daher ein gewisses, situationsabhängig näher zu bestimmendes Maß an gesellschaftsorganisatorischer Publizität unverzichtbar. 387 Dazu etwa Hoffmann-Riem (Fn. 342), Rn. 162.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Dass die demokratietheoretische Bedeutung des gesellschaftsorganisatorischen Publizitätsgebots schwankt, ist nicht zuletzt deshalb zu betonen, weil darin ein deutlicher Unterschied zum staatsorganisatorischen Öffentlichkeitsgebot liegt. Denn ohne ein ganz bestimmtes Mindestmaß an Transparenz im staatsorganisatorischen Bereich lässt sich Volkssouveränität in keiner einzigen mittelbaren Demokratie ins Werk setzen.

c) Konkretisierungen des demokratischen Öffentlichkeitsgebots Das demokratierechtlich bisweilen vernachlässigte, in seiner Bedeutung für die Volkssouveränität aber kaum zu unterschätzende Prinzip der Öffentlichkeit388 verdient es, noch etwas näher analysiert zu werden.

aa) Regel-Ausnahme-Verhältnisse Dabei lässt sich im Ausgangspunkt festhalten, dass die Publizität hoheitsrechtlicher Vorgänge im Regelfall zu wahren ist389. Ausnahmen vom staatsorganisato­ rischen Publizitätsgebot bedürfen von daher der besonderen Rechtfertigung390. Dass außer dem demokratischen auch noch andere Rechtsgrundsätze die Publizität hoheitlicher Betätigung zum Prinzip erheben391 und Abweichungen hiervon rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen, sei hier lediglich erwähnt. Demgegenüber besteht bei der Betätigung Privater typischerweise ein grundrechtlich verbürgtes Geheimhaltungsinteresse392. Die hoheitlich verordnete Publizität privater Sachverhalte stellt sich daher als Ausnahme zur Regel dar und bedarf infolgedessen der besonderen Legitimation393. Als Rechtsfertigungsgrund kommt, wie dargelegt, das Demokratieprinzip in Betracht: Unter bestimmten Umständen kann es sich als geboten (und angemessen) erweisen, das demokratische Öffentlichkeitsprinzip auch auf Sachverhalte anzuwenden, die nicht dem Bereich hoheitlicher Betätigung, sondern allein der gesellschaftlichen Sphäre zuzurechnen sind.

388

Unzweideutig insofern Rösch, Geheimhaltung in der rechtsstaatlichen Demokratie, 1999, S. 157: „Demokratie kann ohne maximale Zulassung von Öffentlichkeit nicht leben.“ 389 In diesem Sinne auch Sachs (Fn. 187), Rn. 18 und Stern (Fn. 90), S. 190 f.; siehe hierzu ferner Pernthaler (Fn. 267), § 44 a). 390 Zippelius (Fn. 100), § 23 II 7 a). 391 Zur Ableitung von Öffentlichkeitserfordernissen aus dem Rechtsstaatsprinzip vgl. Rösch (Fn. 388), S. 63 ff. sowie Jerschke (Fn. 369), S. 77 ff. 392 Dazu etwa Bröhmer (Fn. 223), S. 25 f. 393 Vgl. Rösch (Fn. 388), S. 74 ff.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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bb) Verwirklichungsformen demokratischer Öffentlichkeit: Eine Typologie Verwirklichen lässt sich das demokratische Prinzip der Öffentlichkeit auf unterschiedlichste Art und Weise394. Bei näherer Analyse lässt sich die folgende Typologie entwerfen: Demokratische Öffentlichkeit kann sich bereits auf den Prozess hoheitlicher beziehungsweise gesellschaftlich-ökonomischer Entscheidungsfindung beziehen. Insofern ist von dynamischer oder Verfahrensöffentlichkeit zu sprechen395. Sie kann aber auch bestimmte Ergebnisse solcher Entscheidungsfindungsprozesse zum Gegenstand haben. Insofern lässt sich der Begriff der statischen oder Ergebnisöffentlichkeit bilden396. Sowohl bei der dynamischen als auch bei der statischen Öffentlichkeit ist zwischen perfekter, semiperfekter und imperfekter Publizität zu unterscheiden. Verfahrensöffentlichkeit ist perfekt, wenn das Publikum den Entscheidungsprozess live miterleben kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese perfekte Verfahrensöffentlichkeit gegebenenfalls auf bestimmte Phasen des Entscheidungsprozesses beschränkt sein kann. Als semiperfekt erweist sich die Verfahrensöffentlichkeit, sofern das Publikum zwingend über den Entscheidungsprozess informiert wird. Dies kann unmittelbar dadurch geschehen, dass Details aus dem Entscheidungsprozess schriftlich oder mündlich bekannt gemacht werden. Mittelbar wird semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit dadurch generiert, wenn bestimmte Institutionen über die Entscheidungsvorgänge informiert werden und ihrerseits öffentlich darüber debattieren. Imperfekt ist die Verfahrensöffentlichkeit schließlich dann, wenn dem Publikum immerhin Ansprüche auf Information über den Entscheidungs­ prozess zustehen. Damit kongruierend stellt sich Ergebnisöffentlichkeit als perfekt dar, falls bestimmte Ergebnisse hoheitlicher beziehungsweise gesellschaftlichorganisatorischer Entscheidungsprozesse in formalisierten Verfahren öffentlich bekannt gemacht werden; sie ist semiperfekt, sofern über diese Ergebnisse allgemein informiert wird; und sie präsentiert sich als imperfekt, sofern es lediglich einen Anspruch auf Information über die fraglichen Entscheidungsergebnisse gibt. Im Fall der semiperfekten beziehungsweise imperfekten Verfahrensöffentlichkeit erscheint es außerdem angezeigt, zwischen mitlaufender und nachlaufender Verfahrensöffentlichkeit zu unterscheiden. Denn es macht demokratietheoretisch einen erheblichen Unterschied, ob die Informationen über das Verfahren erteilt werden beziehungsweise beansprucht werden können, noch während dieses im Gang ist, oder ob die Informationspflicht respektive der Informationsanspruch erst nach Abschluss des Verfahrens greifen. Schließlich kann nur bei einer mitlaufenden semi- beziehungsweise imperfekten Verfahrensöffentlichkeit noch auf 394

Dazu etwa Zippelius (Fn. 100), § 23 II 7 a). Vgl. Bröhmer (Fn. 223), S. 20 f. 396 Vgl. Bröhmer (Fn. 223), S. 19 f.

395

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Teil III: Volkssouveränität und EU

das Verfahrensergebnis Einfluss genommen werden; nur in diesem Fall müssen die Hoheitsakte bereits statu nascendi vor der Allgemeinheit verantwortet werden. Demgegenüber macht es in Hinblick auf die semiperfekte beziehungsweise imperfekte Ergebnisöffentlichkeit selbstverständlich keinen Sinn, zwischen mit- und nachlaufender Öffentlichkeit zu differenzieren. Denn insofern handelt es sich nun einmal um eine statische und keine dynamische Öffentlichkeit. In typologischer Hinsicht bleibt abschließend noch darauf hinzuweisen, dass das demokratische Publizitätsgebot nicht selten mit dem Vorhandensein einer perfekten Verfahrens- und Ergebnisöffentlichkeit gleichgesetzt wird. Insofern macht es Sinn, von demokratischer Öffentlichkeit im engeren Sinn zu sprechen.

cc) Vertiefende Überlegungen zu den Typen demokratischer Öffentlichkeit Der demokratische Legitimationsprozess wird durch die vorstehend entwickel­ ten Typen von Öffentlichkeit in durchaus unterschiedlicher Weise befördert. So gewährleistet selbstverständlich die demokratische Öffentlichkeit im engeren Sinne die legitimatorisch ergiebigste Form der Publizität. Speziell die davon inbegriffene Verfahrensöffentlichkeit bewirkt, dass Hoheitsakte stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken397. Anders als bei schlichter Ergebnisöffentlichkeit werden dem großen Publikum im Falle dynamischer Öffentlichkeit die einem jeden Hoheitsakt zugrundeliegenden Interessen zumindest partiell vor Augen geführt. Denn im Verlauf des Entscheidungsverfahrens werden die verschiedenen Interessenlagen immerhin ansatzweise artikuliert. Dadurch erhöht sich insgesamt der Druck auf die magistratischen Repräsentanten, sich am Volkswillen zu orientieren. Schließlich können die Glieder der Allgemeinheit in diesem Fall vergleichsweise gut be­ urteilen, ob ein Magistrat in ihrem Sinne entschieden hat, und ihr Wahlverhalten danach ausrichten. Erwähnenswert erscheint des Weiteren, dass dem Publizitätsprinzip unter demokratischen Gesichtspunkten umso größere Bedeutung zukommt, je gewichtiger und allgemeiner ein Hoheitsakt ist. Denn namentlich diese Hoheitsakte bedürfen einer besonders effektiven demokratischen Legitimation. Vor diesem Hintergrund wird man es bei Hoheitsakten von weitreichender und allgemeiner Bedeutung nicht bei der bloß statischen Öffentlichkeit belassen können, sondern wird fordern müssen, dass bereits der zu solchen Hoheitsakten führende Prozess von jedermann live mitverfolgt werden kann und mithin perfekte Verfahrensöffentlichkeit gewährleistet ist. Geht es hingegen um spezielle Hoheitsakte von begrenzter Tragweite wird man deutlich geringere oder gar keine Anforderungen an deren Publi 397

Vgl. speziell zur Parlamentsöffentlichkeit Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massen­medien, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 42 Rn. 54.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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zität stellen, zumal in diesen Fällen häufig das grundrechtlich geschützte Geheimhaltungsinteresse398 oder auch die Verfahrenseffizienz399 legitime Gründe für eine Einschränkung demokratischer Publizität liefern können400. Soweit das demokratische Öffentlichkeitsgebot auf den gesellschaftsorganisatorischen Bereich überwirkt, um eine Vermachtung der gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse zu verhindern401, dürfte es sich jedenfalls im Regelfall auf die bloß statische Öffentlichkeit beziehen. Das demokratische Publizitätsgebot kann insofern typischerweise nur die Offenlage des Ergebnisses gesellschaftlichökonomischer Entscheidungsprozesse verlangen, also etwa die Veröffentlichung von Gesellschaftsverträgen, Gesellschafterlisten, Unternehmensverträgen, Jahresund Konzernbeschlüssen und Geschäftsberichten402, unter Umständen auch die Bekanntgabe des Abschlusses von Lobbyistenverträgen oder der Finanzierung interessenpolitischer Strukturen. Hingegen liefe es den grundrechtlich geschützten Geheimhaltungsinteressen regelmäßig zuwider, wenn privatwirtschaftliche Entscheidungsfindungsprozesse den Grundsätzen dynamischer Öffentlichkeit unterworfen würden403.

IV. Die Normalität demokratischer Volkswerdung Volkssouveränität kann als legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang und Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation nur dann verfangen, wenn sich ein als demokratisch zu qualifizierender Volkswille zu formieren vermag. Aus der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität leiten sich insofern bestimmte staats- und gesellschaftsorganisatorische Bedingungen ab, die erfüllt sein müssen, damit die gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse überhaupt in die Bildung eines demokratischen Volkswillens einmünden können. Damit ist frei 398

Dazu eingehend Rösch (Fn. 388), S. 74 ff. So wird beispielsweise bei der Plangenehmigung aus Gründen der effizienten Verfahrensgestaltung auf die Öffentlichkeitsbeteiligung verzichtet (§ 74 Abs. 6 Satz 2. Halbsatz VwVfG); zum Effizienzeinwand generell Jerschke (Fn. 369), S. 143 ff. sowie – eher kritisch – Grimmer (Fn. 287), S. 277. 400 In diesem Sinne auch BVerfGE 70, 324 (358). 401 Siehe dazu auch Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, 13. Aufl. 2007, Rn. 9: „Die große wirtschaftliche Macht der Großunternehmen berührt das Interesse der Allgemeinheit. Die Öffentlichkeit hat daher ein Interesse daran, Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse der großen Aktiengesellschaften, aber auch in die in anderen Rechtsformen betriebenen Großunternehmen zu nehmen.“ 402 Die sukzessive Verschärfung der Publizitätsvorschriften namentlich im Bereich des deutschen Aktienrechts (siehe hierzu nur Eisenhardt [Fn. 401], Rn. 479 ff.) hat denn auch einen – freilich nur selten thematisierten – demokratierechtlichen Hintergrund. 403 Zu denken ist hier insbesondere an die Verbürgungen der Berufs-, Eigentums- und Ver­ einigungsfreiheit, an das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hingegen nur im Fall von natürlichen, nicht aber bei juristischen Personen (weniger dezidiert Dreier, in: ders. [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004). 399

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lich noch nichts Abschließendes über die Normalität demokratischer Volkswerdung ausgesagt. Die krassen Beispielsfälle gescheiterter Demokratien sensibilisieren vielmehr dafür, dass es in der Realität für die demokratische Volkswerdung nicht immer schon ausreicht, gebietsgesellschaftlichen Meinungsäußerungsprozessen ein demokratisches Verfahrensarrangement aufzusatteln404. Erinnert sei hier nur an die jüngsten Erfahrungen der Tschechen und Slowaken405. Insofern stellt sich die Frage nach den Realbedingungen demokratischer Volkswerdung. Diese darf bei der wirklichkeitswissenschaftlichen Erörterung der demokratiezentralen Volkssouveränität nicht ausgespart werden. Denn mit der Rückbindung tatsäch­ licher Herrschaftszusammenhänge an ein kontrafaktisches Volk lässt sich Volkssouveränität nur ideologisch, nicht aber wirklichkeitswissenschaftlich auf den Begriff bringen. Ein wirklichkeitswissenschaftlicher Begriff von Volkssouveränität bleibt von daher auf die Normalität demokratischer Volkswerdung verwiesen406. Darin liegt die Tiefendimension von Volksouveränität als Zurechnungsstruktur. Diese ergänzt die bereits ausführlich diskutierten Vertikal- und Horizontaldimensionen von Volkssouveränität. Nun ist für die Horizontaldimension von Volkssouveränität als staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvoller demos-Werdung bereits ausführlich dargetan worden, dass das Volk als wirk-liches Subjekt demokratischer Legitimation aus den gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen heraus Gestalt annimmt. Die Normalität demokratischer Volkswerdung ist demnach im Bereich der Zivilgesellschaft zu ermitteln407. In diesem Zusammenhang stellt sich die schon ganz zu Anfang angerissene408, hier freilich nur aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre interessierende Frage409, inwieweit die den nationalstaat­lichen Demokratien konkret zugrundeliegende zivilgesellschaftliche Normalität410 als Realbedingung von Demokratie schlechthin zu werten ist. Zu berücksichtigen ist insbesondere, worauf ebenfalls schon hingewiesen wurde, nämlich dass nationale beziehungsweise ethnische Identitäten wieder verstärkt als reales Subs­trat von Demokratie in Erscheinung treten411 und dass sich eine politische Öffentlich­ 404 Dazu auch Post, Democracy and Equality, in: Breitenmoser u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wildhaber, 2007, S.  1043 (1054): „Democracy requires that persons identify with the state, even if they disagree with the particular decisions of the state. Although free participation within public discourse is a necessary condition for this identification, it is far form a sufficient condition.“ 405 Siehe dazu etwa Tucker, Artikel ‚Czechoslowakia‘, in: Cook (Hrsg.), Europe Since 1945, Bd. 1, 2001, S. 250 (254). 406 Dies scheint auch Schmitz (Fn. 46), S. 220 zu konzedieren. 407 Hierzu auch Habermas (Fn. 309), S. 435 ff. 408 Siehe oben Einleitung I. 5. b) = S. 63. 409 Zum methodischen Problem des Einbaus dieses Normalitätsproblems in die positiv-rechtliche Normativität des Demokratieprinzips vgl. Einleitung III.= S. 76. 410 Neumann, Der demokratische Dekalog, in: Löwenthal (Hrsg.), Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, 1963, S. 11 (23) sprach insofern vom „Pluralismus des demokratischen Alltags“. 411 Siehe oben Kapitel 1 II. 1. a) = S. 100.

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keit, wie sie für demokratiekonstitutive Willensbildungsprozesse realiter vorauszu­ setzen ist, jenseits des Nationalstaats bislang nur in Ansätzen ausgebildet hat412. Dies könnte den Umkehrschluss nahelegen, dass nur eine national homogene Gebietsgesellschaft zur demokratischen Volkswerdung real befähigt ist. Die Frage nach der Normalität demokratischer Volkswerdung führt insofern zurück auf die in Zusammenhang mit dem Maastricht-Urteil bereits erörterte Homogenitäts­problematik413. Hieran anknüpfend wird im Folgenden zunächst die Debatte um die sogenannten ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie skizziert. Insbesondere soll die in dieser Diskussion vielfach vertretene These kritisch analysiert werden, wonach die ‚vorrechtlichen Demokratievoraussetzungen‘ derzeit nur auf nationaler, nicht aber auf übernationaler Ebene gegeben seien. Vor diesem Hintergrund wird sodann ein eigener Versuch unternommen, die Normalität demokratischer Volkswerdung zusammenfassend zu rekonstruieren und deren möglichen Störungen nachzuspüren.

1. Die Diskussion um die ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie Bei der seit der Maastricht-Debatte neu entflammten Diskussion um die ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie414 geht es um die Frage, welche realen Bedingungen herrschen müssen, damit eine politische Öffentlichkeit entstehen kann, aus der heraus ein demokratischer Volkswille Gestalt anzunehmen und zur demokratischen Legitimation von Hoheitsgewalt beizutragen vermag415. Hinsichtlich dieser ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ lassen sich in der Diskussion ideal­ typisch zwei Sichtweisen unterscheiden, die es zumindest zunächst voneinander zu trennen gilt. Denn auch soweit die beiden Ansätze zu vergleichbaren Ergebnissen führen, beruhen sie doch auf einer grundsätzlich verschiedenen Wahrnehmung der Normalität demokratischer Volkswerdung. Die eine Auffassung entwickelt die Realbedingungen demokratischer Legitimation letztlich von der Vorstellung her, dass in der politischen Wirklichkeit nur ein aufgrund nationaler Identität substanziell homogenes Volk demokratisch legitimationsfähig ist416. Sie lässt sich insofern in den Kontext der verbandsorientierten Demokratieparadigmen einordnen. Für die Gegenauffassung kommt es hinge 412

Siehe oben Kapitel 1 II. 1. b) = S. 103. Oben Kapitel 2 I. = S. 118. Dazu auch Meier (Fn. 362), S. 47 f. 414 Vgl. etwa Kraus, Europäische Öffentlichkeit und Sprachpolitik, 2004, S.  39 ff.; Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union, 2001, S. 51 ff.; Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995. S. 1313 (1324 ff.); Peters (Fn. 307), S. 699 ff. 415 Vgl. dazu auch Spieß (Fn. 173), S. 130 ff. 416 Dazu Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 2003, S. 117 (136 f.). 413

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gen darauf an, dass jene Vermittlungsmechanismen tatsächlich greifen, die in der Vergangenheit auf nationaler Ebene realiter dazu geführt haben, dass die Wünsche, Belange und Interessen der einzelnen Glieder einer Gebietsgesellschaft in den gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozess und darüber in den legitimationsstiftenden Volkswillen einfließen konnten417. Diese Gegenauffassung kann den individuumszentrierten Demokratieparadigmen zugeordnet werden. Wie bereits skizziert, haben sich – trotz ihrer tendenziellen Gegensätzlichkeit – beide Auffassungen im bundesverfassungsgerichtlichen Urteil niedergeschlagen418. Die Karlsruher Richter haben insofern auch einen Bogen zu der entsprechenden Auseinandersetzung innerhalb der Weimarer Staatslehre gespannt. Dieser Rekurs war zwar im Einzelnen alles andere als glücklich419. Er belegt jedoch, dass in der Diskussion um die ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie die Weimarer Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Hermann Heller – teils offen, teils verdeckt – fortgeführt wird420.

a) Die verbandsorientierte Rekonstruktion der ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie Carl Schmitt begreift Demokratie als die „Regierende und Regierte einschließende Identität des homogenen Volkes“421. Demzufolge muss der demokratische Entscheidungsprozess allgemein und im Besonderen der Billigung und Kritik durch die vom Volk bewirkte öffentliche Meinung unterliegen. Denn nur auf diese Weise ist in einer repräsentativen Demokratie die „Identität des anwesenden Volks mit sich selbst als politischer Einheit“422 zu erreichen423. Aus diesem Zusammenhang erhellt auch die demokratiekonstitutive Bedeutung der Medien, durch die diese öffentliche Meinung überhaupt erst massenwirksam erzeugt wird und sich das „Volk als unmittelbar anwesende (…) wirkliche Größe“424 artikuliert. Ferner erweisen sich in dieser Perspektive die politischen Parteien als unver­zichtbar für die Demokratie, weil „sie dem demokratischen Prinzip der Iden­tität insofern entsprechen, als sie, wie das Volk, stets anwesend und vorhanden sind …“425. Eine lebendige öf 417

Grimm (Fn. 93), S. 37 ff. Siehe oben Kapitel 1 I. 3. = S. 94. 419 Dazu im Einzelnen oben Kapitel 2 I. = S. 118. 420 Vgl. hierzu auch Blanke (Fn. 120), S. 460. 421 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S.  235; vgl. auch ders., Legalität und Legitimität, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S.  263 (284). Zu Schmitts Demokratieverständnis siehe auch Habermas (Fn. 300), S. 160 ff.; Rödel / Frankenberg / Dubiel, Die demokratische Frage, 1989, S. 138 ff. 422 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 216. 423 Dezidiert anderer Auffassung Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 1 (22). 424 Schmitt, Verfassungslehre (Fn.421), S. 242. 425 Schmitt, Verfassungslehre (Fn.421), S. 247 f. 418

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fentliche Meinung, eine ausgebildete Medienlandschaft sowie die Existenz funktionierender Parteien avancieren insofern zu den Real­bedingungen des demokratischen Legitimationsprozesses. Freilich vermögen diese unterschiedlichen Äußerungsformen des nicht-formierten Volks als Träger der öffentlichen Meinung nur solange legitimierend zu wirken, als „die demokratische Gleichartigkeit der Substanz noch vorhanden ist …“426. Im historisch gewordenen liberal-demokratischen Verfassungsstaat soll Carl Schmitt zufolge die Substanz der demokratischen Gleichheit in der Nation liegen427. In dieser Perspektive scheint denn auch nur das national homogene Volk befähigt zu sein, eine als demokratisch qualifizierbare öffentliche Meinung auszubilden. Dies entspricht dem bereits angesprochenen Kern von Carl Schmitts autopoetischem Demokratiekonzept428, wonach demokratische Prozesse letztlich nur „eine latent vorhandene und vorausgesetzte Übereinstimmung und Einmütigkeit zutage treten lassen“ und Mehrheitsentscheidungen nur deswegen keine Vergewaltigung der Minderheit darstellen soll, weil „kraft der gleichen Zugehörigkeit zum gleichen Volk alle in gleicher Weise im Wesentlichen das Gleiche wollen“429. Als ‚vorrechtliche Voraussetzung‘ von Demokratie kommt nach Auffassung Carl Schmitts des Weiteren auch der gemeinsamen Sprache eine zentrale Bedeutung zu. Sprachhomogenität stellt einen gewichtigen Integrationsfaktor bei der Aus­ bildung einer Nation und damit der Formierung des demos dar430. Denn allenfalls außerordentliche geschichtliche Kollektiverfahrungen wie eine gelungene Revolution oder siegreiche Kriege können Sprachbarrieren überwinden helfen „und das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit begründen, auch wenn nicht die gleiche Sprache gesprochen wird“431. Grundsätzlich aber präsentiert sich Sprachuniformität bei Schmitt als reale Voraussetzung der Nation – und damit auch der Demo­ kratie, denn das Nationalitätsprinzip figuriert bei Schmitt als „das Prinzip des demokratischen Staats selbst“432. Schließlich rechnen bei Zugrundelegung der Schmittschen Konzeption auch Öffentlichkeit und Transparenz zu den Realbedingungen von Demokratie. Denn diese wird wesensmäßig nicht als Verfahren, sondern als „etwas Existenzielles“ begrif 426 Schmitt, Verfassungslehre (Fn.  421), S.  247. Instruktiv hierzu Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, in: Leviathan 2003, S. 362 (379). 427 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 231. 428 Siehe oben Kapitel 2 I. 2. = S. 123. 429 Schmitt, Legalität und Legitimität (Fn. 421), S. 284 und 295; dazu die zeitgenössische Kritik von Fraenkel, Um die Verfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1999, S. 496 (499 ff.). 430 In diese Richtung auch Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 20 Rn. 2, 5 und 78 ff. Vgl. freilich auch Renan, Qu’est-ce qu’une Nation?, in: Forest, Qu’est-ce qu’une Nation?, 1991, S. 31 (38) : „Il y a dans l’homme quelque chose de supérieur à la langue: c’est la volonté. La volonté de la Suisse d’être unie, malgré la varieté de ces idiomes, est un fait bien plus important qu’une similitude souvent obtenue par des vexations.“ 431 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 231. 432 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 232.

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fen433, das durch die Identität des letztlich stets präsenten434 homogenen Volkes als einer politischen Einheit begründet wird435. Soll daher im demokratischen Legitimationsprozess diese existenzielle Identität durch Repräsentation aktualisiert werden, so kann dies „nur in der Sphäre der Öffentlichkeit vor sich gehen“436. Denn das Volk – ob repräsentiert oder nicht – „erscheint nur in der Öffentlichkeit“437. Treffen Repräsentanten geheime Abmachungen, tagen sie nichtöffentlich, so wird das Ziel demokratischer Repräsentation verfehlt, weil die politischen Willens­ bildungen „unter Ignorierung des immer irgendwie vorhandenen und anwesenden Volkes durchgeführt werden“438. Nun hat die Schmittsche These, der zufolge Demokratie realiter als Autopoiese des national homogenen Volks zu begreifen ist, gerade auch in der jüngeren Diskussion weite Kreise gezogen. Zwar sind die daraus resultierenden Konsequenzen häufig nicht in derselben systematischen Schärfe gezogen worden wie bei Schmitt, dessen Vorstellungen von öffentlicher Meinung, sprachlicher Homogenität und Öffentlichkeit allesamt in der Prämisse wurzeln, dass Demokratie nichts anderes als die fortwährende Erzeugung des nationalen demos durch sich selbst ist. Doch sind die Anklänge unüberhörbar. So werden die Wahlen des Nationalvolks zum Mittel nationaler Selbstfindung deklariert439, wird Demokratie mithin als autonomes System nationaler Selbsterzeugung beschrieben440. Demokratische Verfassungsstaatlichkeit stellt sich als selbstreferentielles System dar, in dessen Rahmen nationale Erfahrungen durch eine einheitliche (National-)Sprache verfassungs­ förmig fixiert und im demokratischen Prozess durch eben diese Sprache immerfort reproduziert werden441. Diese auf Nation und Staat relativierte Sicht von Demokratie442 strahlt selbstredend auf die übrigen ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie aus. Kulturelle443 und sprachliche Homogenität des Volks444, seine quasi-nationale 433

Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Fn.421), S. 235. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 208. 435 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 235; siehe dazu auch Mori (Fn. 230), S. 187. 436 Vgl. Schmitt Verfassungslehre (Fn. 421), S. 208. 437 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 243 ff., auch 208 f. 438 Schmitt Verfassungslehre (Fn. 421), S. 208. 439 Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, in: Schwab u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mikat, 1989, S. 705 (717). 440 Vgl. etwa Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. / Schäfer / Tietmeyer, Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Aufl. 1994, S. 63 (82 f.). 441 Kirchhof, Die Staatenvielfalt – ein Wesensgehalt Europas, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 947 (952). 442 Dazu sehr kritisch Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: ZfP 1998, S. 267 (276). 443 Vgl. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders.; Staat Nation Europa,1999, S. 68 (92 ff.); Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, in: ZRP 1993, S. 98 (103); Kirchhof, Die Erneuerung des Staates – eine lösbare Aufgabe, 2006, S. 108 ff. 444 Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz, in: DVBl. 1993, 629 (634). 434

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Identität445 werden als Realbedingungen der demokratiekonstitutiven öffentlichen Meinungsbildung ausgewiesen446. Die Sprachgemeinschaft figuriert zumindest im Rahmen des Grundgesetzes447, wohl aber auch darüber hinaus448 als elementare Voraussetzung demokratischer Verfassungsstaatlichkeit449. Das Prinzip der Öffentlichkeit erweist sich als logisch-notwendige Realbedingung eines prononciert nationaldemokratischen Repräsentationskonzepts, wonach demokratische Repräsentation zustande komme, wenn die Einzelnen ihr eigenes Ich als Bürger und das Volk sein eigenes Selbst im Handeln der Repräsentanten, deren Überlegungen, Entscheidungen und Fragen an das Volk wiederfinden450.

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Böckenförde (Fn. 136), Rn. 67 f. Vgl. Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Staat 1993, 191 (S. 203 ff.). Dass Di Fabio bei seiner Argumentation auf die Diskurstheorie Jürgen Habermas’ zurückgreift, hat weitgehend Alibi-Funktion. Di Fabio bringt seine These, wonach kulturelle und sprachliche Homogenität Voraussetzungen des öffentlichen Diskurses seien, mit Habermas’ Begriff der Lebenswelt zusammen; erst die nationale Homogenität vermittle jene lebensweltliche Verankerung, die funktionale Voraussetzung öffentlicher Meinungsbildung sei. Wie nachstehend zu zeigen sein wird, geht Habermas’ Diskurstheorie des Rechts aber gerade von der Einsicht in die Pluralität lebensweltlicher Gewissheiten aus und versucht die Atomisierung lebensweltlicher Kontexte in dem modernen Projekt demokratischer Rechtverwirklichung zu kompensieren. Während Di Fabio noch die ungeminderte ‚Gemeinsamkeit des lebensweltlich Selbstverständlichen‘ als Voraussetzung des politischen Diskurses ansieht, hat Habermas schon längst dia­ gnostiziert, dass eine solche weithin prekär geworden ist, ohne dass dies notwendig den Kommunikationsabbruch nach sich ziehen müsste. Vgl. nur Habermas, Warum braucht Europa eine Verfassung, in: Die Zeit vom 29.06.2001, S. 7. 447 Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 74. 448 Vgl. Brunner, Europa und Nation, in: Schwilk / Schacht (Hrsg.), Die selbstbewusste Nation, 1994, S. 381 (387). 449 Kirchhof (Fn. 264), Rn. 112 f.; siehe ferner auch ders. (Fn. 443), S. 131 ff. 450 So ausdrücklich Böckenförde (Fn. 354), Rn. 35. Allerdings distanziert sich Böckenförde partiell von dem Repräsentationsbegriff Carl Schmitts, den er als zu statisch empfindet (ebd., Rn. 34). Stattdessen versucht er den Gedanken der dynamisch-dialektischen Responsivität in seinen Begriff der Repräsentation einzuflechten (ebd., Rn. 34). Letztlich bleibt aber die Vorstellung beherrschend, demokratische Repräsentation aktualisiere ein in jedem Staatsbürger und jeder Staatsnation notwendig vorfindliches Allgemeines (ebd., Rn. 35). Für dieses Allgemeine ist allerdings charakteristisch, dass es seit jeher mit dem real existierenden Staat und den darin herrschenden Bevölkerungsschichten gleichgesetzt wurde. Schon Böckenfördes Gewährsmann Hegel (ebd., Rn. 33) hat das Allgemeine „zur gegenständlichen preußischen Wirklichkeit profaniert“ (so das treffende Urteil bei Heller, Hegel und die deutsche Politik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 241 [253]). Und auch heute noch wird das politisch Allgemeine mit dem aktualen „staatlichen Schicksal“ identifiziert (vgl. Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, in: DÖV 1983, S. 1 [11 f.]). Im Endeffekt läuft Böckenfördes ‚inhaltlicher‘ Repräsentationsbegriff daher mit der Schmittschen Vorstellung konform, demokratische Re­präsentation bezwecke die Identität des anwesenden Volks mit sich selbst als einer nationalstaatlichen Einheit (vgl. Schmitt, Verfassungslehre [Fn. 421], 214 f.). 446

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b) Die individuumszentrierte Rekonstruktion der ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie Zu im Ergebnis ganz ähnlichen ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demo­ kratie kann man freilich auch gelangen, sofern man entsprechend dem individuumszentrierten Rekonstruktionsansatz statt auf die existenzielle Identität des homogenen Volkes auf die real existierenden Vermittlungsmechanismen abstellt, durch die in den individualistisch-pluralistisch konturierten Demokratien der nationalen Verfassungsstaaten die wirkliche Einflussnahme der Volksglieder auf die hoheitlichen Entscheidungsprozesse bislang sichergestellt wurde451. Unter den Bedingungen heutzutage notwendig repräsentativer Ausübung öffentlicher Gewalt setzt Demokratie auch in dieser Perspektive eine funktionierende politische Öffentlichkeit und einen real existierenden politischen öffentlichen Diskurs voraus, ohne die es keine dauerhafte Rückkoppelung staatlicher Macht an das Volk geben kann452. Allein durch die periodisch wiederkehrenden Wahlen, in denen, wenn überhaupt, nur noch sehr allgemeine Richtungsentscheidungen getroffen werden, ist noch nicht gewährleistet, dass der Bürger in demokratisch zureichendem Maße auf die Staatstätigkeit Einfluss nehmen kann453. Real wird demokratische Teilhabe für den Einzelnen erst durch die zusätzliche Partizipation an der öffentlich Meinung, die „als motivierende Hemmung oder Förderung, als Warnung oder Ermutigung für das Handeln der staatlichen Repräsentanten“454 wirkt. Öffentliche Meinung, politische Öffentlichkeit und öffentlicher Diskurs, auf die Demokratie nach dem individuumszentrierten Rekonstruktionsansatz real an­ gewiesen ist455, können sich in den Flächenstaaten heutiger Tage nur vermittels einer pluralen Medienlandschaft gebietsuniversal konstituieren456. Weltanschaulich diversifizierte Massenmedien präsentieren sich damit als Realbedingung demokratischer Volkswerdung457. Ebenso wichtig sind in diesem Kontext politische Parteien und gesellschaftliche Verbände, die ihrerseits zur Bildung öffentlicher

451

Prototypisch Scharpf, Regieren in Europa, 1999, S.  17 ff. sowie 167. Eine knappe Zusammenfassung dieser Position findet sich etwa bei Schmidtke, Globalisierung, Demokratie und die Heiligsprechung des Nationalen, in: Scharenberg / ders. (Hrsg.), Das Ende der Politik?, 2003, S.  160 (171 ff.). Freilich unterzieht er sie im Folgenden einer eingehenden Kritik. 452 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 36 ff. sowie v. Münch, Staatsrecht I. 6. Aufl. 2000, Rn. 942. 453 In diesem Sinn Grimm, Die größte Erfindung unserer Zeit, in: FAZ vom 16.06.2003, S. 35; auch Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (424 f.); vgl. ferner Ipsen, Die europäische Integration in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Baur / Müller-Graff / Zuleeg (Hrsg.), Festschrift für Börner, 1992, S. 163 (174). 454 Heller (Fn. 14), S. 286. 455 Dazu auch Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 2001, S. 53 (57). 456 Grundlegend dazu Hoffmann-Riem (Fn. 346), Rn. 1 ff. 457 Vgl. dazu auch Böckenförde (Fn. 136), Rn. 68.

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Meinungen beitragen, der politischen Öffentlichkeit Struktur geben und den politischen öffentlichen Diskurs animieren458. Auch eine stärker individuumszentrierte, etwa an Hermann Heller orientierte Sichtweise führt somit zu dem Ergebnis, dass eine funktionierende öffentliche Meinung, plurale Massenmedien sowie ein etabliertes Parteienwesen459 die Nor­ malität demokratischer Volkswerdung im Wesentlichen ausmachen460. Denn „ohne ein solches System von Vermittlungen ist die Einheit in der Vielheit unvermittelter Gegensätze demokratisch nicht zu denken“461. Dies sind freilich nicht die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen der verbandsorientierten sowie der individuumszentrierten Rekonstruktion der ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie. So ist des Weiteren auch von Vertretern des individuumszentrierten Ansatzes verschiedentlich vorgetragen worden, dass eine gewisse sprachliche Einheit zu den vorrechtlichen Voraussetzungen von Demokratie zähle. Eben weil Demokratie in der individuumszentrierten Perspektive rea­liter auf diskursiver und deliberativer Verständigung beruhe, erweise sich übermäßige Sprachenvielfalt als Demokratiehindernis462. Sprachbarrieren blockierten die öffentliche Meinungsbildung und unterminierten damit die zentrale Realbedingung von Demokratie463. Ferner muss auch der individuumszentrierte Ansatz die Publizität hoheitlicher Betätigung zu einer der ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie rechnen. Die gestaltende und planende Tätigkeit der öffentlichen Gewalten muss transparent sein, damit ein demokratiekonstitutiver Diskurs über Vorhaben und Ziel­ setzungen der öffentlichen Gewalten in Gang kommen kann464. Nicht zuletzt ist schließlich diejenige Parallele zwischen verbandsorientiertem und individuumszentriertem Rekonstruktionsansatz hervorzuheben, die unmittelbar mit der Homogenitätsproblematik verwoben und daher besonders intensiv diskutiert worden ist. Gemeint ist die vorrechtliche Demokratievoraussetzung einer kollektiven Identität des demos465. Aus Sicht des verbandsorientierten Ansatzes stellt sich diese, wie dargelegt, als Wesensvoraussetzung von Demo­kratie dar. Denn danach setzt Demokratie „im Ganzen und in jeder Einzelheit ihrer politi 458

Scharpf, Demokratie in der transnationalen Politik, in: Streek (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, S. 59 (159). 459 Heller (Fn. 14), S. 293. 460 Scharpf, Demokratieprobleme in der europäischen Mehrebenenpolitik, in: Merkel / Busch (Hrsg.), Festschrift für v. Beyme, 1999, S. 672 (674 f.). 461 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 421 (427). 462 Grimm (Fn. 452), S. 42 ff.; Scharpf, Legitimationsprobleme der Globalisierung, in: Böhret / Wewer (Hrsg.), Festgabe für Hartwich, 1993, S. 165; Kaufmann (Fn. 105), S. 270 f.; Veil (Fn. 8), S. 232: Unüberwindlichkeit des Sprachproblems; Strohmeier (Fn. 325), S. 29. 463 Strohmeier (Fn. 325), S. 29; Greven (Fn. 325), S. 266. 464 Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 274 ff. 465 Scharpf (Fn. 458), S. 154 f.; ders. (Fn. 460) S. 672 ff.

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schen Existenz ein in sich gleichartiges Volk voraus, das den Willen zur politischen Existenz hat“466. Aus der Perspektive des individuumszentrierten Ansatzes ist das reale Vorhandensein einer kollektiven Identität der legitimierenden demokratischen Allgemeinheit vielfach als Funktionsvoraussetzung von Demokratie beschrieben worden467: Damit das in den Demokratien heutiger Tage unver­zichtbare Majoritätsprinzip akzeptiert werde, bedürfe es mehr als nur einer prozeduralen Verbürgung, dass unterlegene Minderheiten auch wieder zur Mehrheit werden können468. Vielmehr müsse darüber hinaus in der Bürgergesellschaft ein Zusammengehörigkeitsgefühl469 vorhanden sein, das Mehrheitsentscheidungen zu tragen vermöge470. Das demokratiebegründende System vielfacher Willensvereinheit­ lichung stößt in dieser, im Ansatz auch von Hermann Heller geteilten Perspektive spätestens dort an Funktionsgrenzen, „wo sich alle politisch relevanten Volksteile in der politischen Einheit in keiner Weise mehr wiedererkennen, wo sie sich mit den staatlichen Symbolen und Repräsentanten in keiner Weise mehr zu identifizieren vermögen“471.

c) Das einheitliche Ergebnis der heterogenen Diskussion: Kollektive Identität und demokratische Öffentlichkeit als ‚vorrechtliche Voraussetzungen‘ von Demokratie Zwar wird die Debatte um die ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demo­ kratie von zwei gegenläufigen Diskussionsansätzen beherrscht. Diese führen jedoch zu durchaus vergleichbaren Resultaten472. Nach beiden Auffassungen473 setzt Demokratie realiter zweierlei voraus474. Erstens bedarf es einer hinreichenden kol 466

Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 235; zustimmend Böckenförde (Fn. 136), Rn. 49. Grimm (Fn. 452), S. 46 f. 468 Scharpf, Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 81 (87 f.); ders. (Fn. 460), S. 672 ff. 469 Scharpf, Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, in: StWiss 1992, S. 293 (296); auch Leibfried, Untertanenfabrik? Ach wo!, in: Die Zeit vom 16.05.2007, S. 12 sowie Strohmeier (Fn. 325), S. 28. 470 In diese Richtung bereits Bleckmann (Fn.  277), S.  302; ferner Scharpf, Demokratische Politik in Europa, in: Grimm u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungs­ konferenz 1996/97, 1997, S. 65 (66); ders. (Fn. 462), S. 165; Saalfrank (Fn. 177), S. 50 f.; Hofmann (Fn. 222), S. 189; Höreth (Fn. 464), S. 90. Vgl. auch schon Hennis, Das Problem der Souveränität, 2003, S. 115. 471 Heller (Fn. 461), S. 428 unter ausdrücklicher Inbezugnahme der politischen Verhältnisse während der Zwischenkriegszeit. 472 Bemerkenswert ist, dass auch die drei gegenwärtig geläufigsten politikwissenschaftlichen Demokratietheorien trotz erheblicher konstruktiver Unterschiede insoweit Deckungsgleichheit aufweisen (vgl. Hurrelmann, Europäische Demokratie ohne europäischen Demos?, in: ZfPol 2003, S. 661 [676]). 473 Hierzu auch Brunkhorst (Fn. 426), S. 380. 474 Eine zusammenfassende Beschreibung dieser Position findet sich etwa bei Hurrelmann, Verfassung und Integration in Europa, 2005, S. 20 ff. 467

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lektiven Identität der zu demokratischer Herrschaft berufenen Volksglieder475. Zweitens erweist sich eine durch Massenmedien, Parteien, Verbände, Sprache476 konstituierte demokratische Öffentlichkeit als unerlässlich für die Normalität demokratischer Volkswerdung477. Mithin ist es nur, aber immerhin das sozusagen konstruktive Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren demokratischer Norma­ lität, das den Unterschied zwischen dem verbands- und dem individuumszentrierten Diskussionsansatz markiert: Während bei jenem die kollektive Identität den axiomatischen Ausgangspunkt bildet und sich das Erfordernis demokratischer Öffentlichkeit überhaupt erst von dorther erschließt, erweist sich bei diesem demokratische Öffentlichkeit als Wesensvoraussetzung der individualistisch-pluralistisch gedeuteten Demokratie, wohingegen die kollektive Identität lediglich als Funktionsbedingung von Demokratie verstanden wird478.

2. Kritik der nationalstaatlich verkürzten Sicht demokratischer Normalität Im Folgenden geht es nicht darum, jene idealtypischen Demokratieparadigmen grundlegend zu kritisieren, die sich hinter der verbandsorientierten beziehungsweise der individuumszentrierten Rekonstruktion vorrechtlicher Demokratievoraussetzungen verbergen. Dies ist bereits ausführlich in Zusammenhang mit dem demokratischen Volksbegriff geschehen479. Auch soll hier noch nicht abschließend erörtert werden, inwieweit die von beiden Rekonstruktionsansätzen übereinstimmend benannten vorrechtlichen Voraussetzungen von Demokratie – demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität – tatsächlich die Normalität demokratischer Volkswerdung determinieren. Darüber wird im Rahmen des eigenen Rekonstruktionsversuchs zu befinden sein480. Im Folgenden soll vielmehr jene These kritisch 475 Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch, Euro­ päische Integration, 1996, S. 47 (54 f.); ders., Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 229 (234); Eder, Konstitutionsbedingungen einer transnationalen Gesellschaft in Europa, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S.87 (96). 476 Zur vor allem in der deutschen Rechtslehre verbreiteten Vorstellung von der Sprachenvielfalt als Integrationshindernis vgl. – beschreibend und mit weiteren Nachweisen – Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, 2002, S. 197 f. Zum Englischen als lingua franca siehe Blanke, Essentialia des Entwurfs eines Verfassungsvertrages für Europa, in: Stern / Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 37 (50); zum Französischen als potenzieller Europasprache vgl. Fetscher, Zukunftsprobleme und Perspektiven der Demokratie in Europa, in: Herb / Hidalgo (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2006, S. 13 (18). 477 Bleckmann, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, in: JZ 1990, S. 301 und 303; Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 (436); Schubert (Fn. 284), S. 130. 478 Hierzu auch Dellavalle, Für einen normativen Begriff von Europa, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 237 (242 f.). 479 Siehe oben Kapitel 5 = S. 182. 480 Siehe unten Kapitel 6 IV. 3. = S. 383.

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beleuchtet werden, die sowohl aus Sicht des verbandsorientierten als auch aus der Perspektive des individuumszentrierten Ansatzes mit Verve vertreten worden ist, nämlich dass sich die genannten ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demo­ kratie bis auf Weiteres nur im nationalen Raum verwirklichen lassen481.

a) Die These vom nationalstaatlichen Rahmen als Verwirklichungsbedingung der vorrechtlichen Demokratievoraussetzungen Aus Sicht des verbandsorientierten Ansatzes erweist sich die Anbindung der vorrechtlichen Voraussetzungen von Demokratie an den nationalen Rahmen als nahezu zwangsläufig und gewissermaßen wesensnotwendig482. Schließlich kann danach die öffentliche Meinung nur insoweit demokratievermittelnd wirken, als sich darin das substanziell homogene Volk manifestiert483. Da bislang kein gebietsgesellschaftliches Kollektiv erkennbar ist, das eine auch nur annähernd vergleichbare substanzielle Gleichheit seiner Angehörigen484 aufweisen könnte wie das nationale Staatsvolk, erscheint ein demokratischer Meinungsbildungsprozess jenseits des nationalen Raumes schon unter diesem Gesichtspunkt als ausgeschlossen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass an die Intensität des durch Massenmedien sowie durch Partei- und Verbandsstrukturen bewirkten öffentlichen politischen Diskurses, an die sprachliche Homogenität sowie an die Publizität des hoheitlichen Repräsentationsvorgangs überaus hohe demokratietheoretische Anforderungen gestellt werden, wenn der Sinn der Demokratie in der – zumindest tendenziellen  – „Identität des anwesenden Volkes mit sich selbst als politischer Einheit“485 liegen soll. Auf übernationaler Ebene lassen sich diese Anforderungen jedenfalls nicht einlösen486. Aus der Perspektive des individuumszentrierten Ansatzes ist die These, wonach Demokratie wegen ihrer vorrechtlichen Voraussetzungen zumindest vorläufig den nationalen Rahmen nicht zu transzendieren vermöge, eher sozialwissenschaftlichempirisch begründet worden487. Auf transnationaler Ebene fehle es derzeit noch an dem für die Demokratie unerlässlichen Bürgerdiskurs488. Ob ein solcher überhaupt 481 Vgl. dazu überblicksartig auch die Kritik von Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan 1996, S.339 (347 f.). 482 Paradebeispiel: Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Stober (Hrsg.), Festschrift für Roellecke, 1997, S. 137 (145 ff.). 483 Böckenförde (Fn. 136), Rn. 47. 484 Hierzu – zustimmend – auch Jestaedt (Fn. 16), S. 142 und 174 mit Fn. 179. 485 So Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 216. 486 Kaufmann (Fn. 105), S. 263. 487 Siehe jüngst etwa Strohmeier (Fn. 325), S. 27 ff. 488 Grimm, Ohne Volk keine Verfassung, in: Die Zeit vom 18.03.1999, S.  4 (5); Schacht­ schneider / Fritsche  – Emmerich / Beyer: Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: JZ 1993, S. 751 (760).

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jenseits der nationalen Kommunikationsräume entstehen könne, sei schon deshalb zu bezweifeln, weil es auf transnationaler Ebene auf Dauer an einer einheit­lichen Medienlandschaft, an einheitlichen Partei- und Verbandsstrukturen489, vor allem aber an einer einheitlichen lingua franca fehlen werde490. Dieses Manko werde auch dadurch nicht kompensiert, dass sich die verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten mit ihren Medien, Partei- und Verbandsstrukturen zunehmend der übernationalen Themen annehmen. Denn insofern bleibe die nationale Perspektive vorherrschend491 und könne eine für transnationale Demokratiestrukturen essentielle transnationale Öffentlichkeit gerade nicht begründet werden492. Schließlich, aber nicht zuletzt ermangele es transnationalen Gebietsgesellschaften bislang an jener kollektiven Identität, die sich aus Sicht des individuumszentrierten Ansatzes als Funktionsvoraussetzung von Demokratie darstellt493. Ein Mehrheitsentscheidungen (er-)tragendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit bestehe allenfalls noch im nationalen Verband494. Mithin führen trotz ihrer grundlegenden Verschiedenheit sowohl vom verbandsorientierten als auch vom individuumszentrierten Ansatz her argumentative Wege zur These vom nationalstaatlichen Rahmen als Verwirklichungsbedingung der sogenannten vorrechtlichen Demokratievoraussetzungen495. Aus der Perspektive beider Auffassungen ist mit lediglich unterschiedlicher Begründung die Behauptung aufgestellt worden, dass sich die für die Normalität demokratischer Volkswerdung dezisiven Faktoren, nämlich die kollektive Identität des demos sowie das Vor­handensein demokratischer Öffentlichkeit, zumindest bis auf Weiteres nur im Kontext des Nationalstaats in hinreichendem Maße verwirklichen lassen.

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Siehe v. Münch (Fn. 452), Rn. 942; auch Gellner / Glatzmeier, Die Suche nach der euro­ päischen Zivilgesellschaft, in: APuZ 2005, 36, S. 8 (11). 490 In diesem Sinne etwa Bleckmann (Fn. 277), S. 303; Graf Kielmansegg, Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen? (Fn.  475), S.  235 f. Demgegenüber betont Denninger, Menschenrechte und Staatsaufgaben – ein „europäisches“ Thema, in: JZ 1996, 585 (586), dass die Bedingungen für die allmähliche Entwicklung einer diskursfähigen europäischen Öffentlichkeit so günstig wie noch nie in der Geschichte seien. Schmitz (Fn. 46), S. 224 f. scheint seinerseits eine second first language „angesichts der heute zur Verfügung stehenden intellektuellen und technischen Ressourcen“ für verzichtbar zu halten. Glotz, Der Irrweg des Nationalstaats, 1990, S. 38 f. weist darauf hin, dass im Jahr 1860 im neugeschaffenen Italien nur zweieinhalb Prozent der Bevölkerung der italienischen Hochsprache mächtig war. 491 Bleckmann (Fn. 455), S. 58. 492 Vgl. Grimm (Fn. 452), S. 41; ähnlich Graf Kielmansegg, Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen? (Fn. 475), S. 238. 493 Strohmeier (Fn. 325), S. 27. 494 Vgl. dazu auch Offe (Fn. 78), S. 87, der betont, dass die Nation als Geltungsvoraussetzung des Mehrheitsprinzips nicht mehr nur im konservativen und reaktionären Lager, sondern auch auf der Linken diskutiert wird. 495 Dagegen energisch Schmitz (Fn. 46), S. 219 ff.

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b) Die unbewältigte Ambivalenz der Globalisierung als Anstoß zur Kritik Wäre es daher jedenfalls gegenwärtig ausgeschlossen, den historisch gewor­ denen nationalstaatlichen Bezugsrahmen von Demokratie zu transzendieren, so wäre dies eine überaus düstere Analyse, die zu noch viel düstereren Folgepro­ gnosen Anlass gäbe. Denn die nationalstaatliche Demokratie ist ersichtlich nicht geeignet, die Ambivalenzen der Globalisierung konstruktiv zu bewältigen496. Es stünde zu befürchten, dass der destruktive Gehalt des Globalisierungsprozesses à la longue die Oberhand gewinnt. So besteht die politische Ambivalenz des Globalisierungsprozesses, wie bereits dargelegt497, darin, dass er an sich die Chance zur demokratischen Gestaltung staatsübergreifender und damit bislang vielfach unregulierter Prozesse bietet, zugleich aber durch die Internationalisierung der Wirtschaft die Einflussmöglichkeiten der nach wie vor nationalstaatlich radizierten Demokratien massivst beschneidet498. Wäre es nun ausgeschlossen, dass auf europäischer Ebene genuine demokratische Strukturen entstehen, so könnten sich der Grundtendenz nach die negativen Globalisierungsfolgen sukzessive Bahn brechen, ohne dass die Chancen einer demokratisch domestizierten Globalisierung hinreichend wirksam genutzt werden könnten499. Die kommunikative Ambivalenz des Globalisierungsprozesses500 wiederum würde sich ebenfalls verschärfen, wenn die immer stärker pulsierenden Kommunikationsströme nicht in einem europäischen politischen Diskurs vernetzt werden könnten, sondern stattdessen zunehmend und notwendig in viele verschiedene, voneinander unabhängige Kommunikationszusammenhänge zerfließen würden. Das Mehr an kommunikativer Souveränität jedes Einzelnen könnte in diesem Fall nicht in ein Plus an demokratischer Diskursteilhabe umgemünzt werden. Die soziale Ambivalenz des Globalisierungsprozesses501 schließlich, also die widerspruchsvolle Gleichzeitigkeit von sozialethischer Homogenisierung und Heterogenisierung, würde sich notgedrungen vertiefen, wenn es 496 Dazu auch Habermas, Der europäische Nationalstaat unter dem Druck der Globalisierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hrsg.), Der Sound des Sachzwangs, 2. Aufl. 2006, S. (155 f.). 497 Siehe oben Kapitel 1 II. 1. c) = S. 104. 498 Zutreffend weist Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, S. 11 (27) darauf hin, dass der Kapitalismus der – oft multinationalen – Großkonzerne in die Lebensbedingungen der Menschen eingreift und die Macht von den Institutionen der Partizipation abzieht, um sie auf bürokratische Organisationen zu übertragen, die sich dem Prinzip der Verantwortung entziehen. 499 In diese Richtung auch Habermas, Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 154 (186 f.); Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 11 (20 f.); Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 776 (786 f.). 500 Siehe oben Kapitel 1 II. 1. b) = S. 103. 501 Siehe oben Kapitel 1 II. 1. a) = S. 100.

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ausgeschlossen wäre, dass sich zusätzlich zur nationalen eine europäische Identität ausbildet. Denn nur so ließe sich die für die Globalisierung charakteristische Dialektik von Universalisierung und Kommunitarisierung ein Stück weit auf­ heben. Träfe es also zu, dass die vorrechtlichen Demokratievoraussetzungen bis auf Weiteres nur im nationalstaatlichen Kontext bereit stehen, so wäre dies deshalb fatal, weil in diesem Fall dem ambivalenten Globalisierungsprozess nicht adäquat begegnet werden könnte502. Erschwerend käme hinzu, dass in dieser Perspektive sogar die nationalstaatlichen Demokratien selbst über kurz oder lang von den in­soweit zerstörerischen Ambivalenzen des Globalisierungsprozesses erfasst und allmäh­lich destruiert zu werden drohten: Ein Nationalstaat, der die volonté générale gegenüber der denationalisierten Wirtschaft nicht länger zu behaupten vermag, verliert seine demokratische Substanz und soziale Bindungskraft503. In dem Maße, in dem die nationale Politik an Handlungsfähigkeit einbüßt, muss auch der hierauf bezogene politische öffentliche Diskurs allmählich verebben und der globalisierungsbedingte Prozess der Fragmentarisierung demokratischer Öffentlichkeit entsprechend voranschreiten. Der seiner realen Wirkmacht weitgehend beraubte Nationalstaat kann sich nur mehr kommunitär rechtfertigen und muss infolge­dessen sukzessive mit dem für den demokratischen Nationalstaat idealiter prägenden universalisme républicain, jener eigentümlichen Verbindung von universalistischem und kommunitärem Konzept, brechen504. Mithin lassen sich die Ambivalenzen des Globalisierungsprozesses im Rahmen der nationalstaatlichen Demokratien nicht nur nicht bewältigen. Vielmehr drohen die nationalstaatlichen Demokratien an der politischen, kommunikativen und sozialen Ambivalenz der Globalisierung zu zerbrechen, wenn sie nicht durch eine europäische Demokratie entlastet werden505. Im Hinblick auf diese Folgeüber­ legungen erscheint es zwingend geboten, die gängige These vom nationalstaat­ lichen Rahmen als Verwirklichungsbedingung der vorrechtlichen Demokratie­ voraussetzungen einer intensiven und kritischen Überprüfung zu unterziehen. Denn die demokratiepolitische Perspektivlosigkeit, die sich mit dieser These verknüpft, sollte man sich nur dann zu eigen machen, wenn ihre Prämissen der genaueren Analyse standhalten506. 502

Vgl. Bryde (Fn. 24), S. 309. Vgl. – insofern zutreffend – auch Meier (Fn. 362), 1999, S. 47: „Zudem hat der Staat aufgrund zunehmender Freiheit der Märkte an wirtschaftspolitischer Kompetenz verloren. Wenn aber die Freiheit, über die eigenen Angelegenheiten bestimmen zu können, nur mehr bedingt gegeben ist, könnte die demokratische Identifizierung mit dem Staat nachlassen.“ 504 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Offe, Bewährungsproben, in: ders., Herausforderungen der Demokratie, 2003, S. 136 (139). 505 Kritisch gegenüber diesem Ansatz allerdings Preuß, Transformation des europäischen Nationalstaates – Chance für die Herausbildung einer Europäischen Öffentlichkeit, in: Franzius /  ders. (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, 2004, S. 44 (59). 506 Vgl. dazu auch Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im trans­ nationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 937 f. 503

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c) Der kommunikationstheoretische Ansatz der Kritik Schon eingangs dieses Abschnitts wurde darauf hingewiesen, dass und weshalb die Normalität demokratischer Volkswerdung in der Zivilgesellschaft zu suchen ist507: Im gesellschaftlichen Bereich formt sich jene demokratische Allgemeinheit aus, die – zum Wahlvolk organisiert – den Ausgangspunkt von Demokratie als legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang bildet und – als politisch artikulationsfähige Gebietsgesellschaft  – den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation animiert. Nun kann sich die Gebietsgesellschaft nur dann dauerhaft politisch artikulieren, wenn es zwischen den Gesellschaftsgliedern zu ent­ sprechenden Verständigungen kommt508. Die vom Wahlvolk mehrheitlich sanktionierten Hoheitsentscheidungen nehmen die hiervon besonders belasteten oder benachteiligten Glieder der Gebietsgesellschaft nur deshalb und insoweit hin, als sie sich mit den anderen Gesellschaftsgliedern zumindest stillschweigendgewohnheitsmäßig darüber verständigt haben, dass und weshalb Derartiges hinzunehmen ist509. Dass die Normalität demokratischer Volkswerdung von einer gelungenen Vorverständigung und fortdauernd gelingender Verständigung zwischen den Gliedern der demokratischen Allgemeinheit abhängt, steht in dieser Abstraktheit in Einklang sowohl mit dem verbandsorienterten als auch mit dem individuumszentrierten Ansatz. Dies gilt zunächst und zuvörderst in Hinblick auf die von diesen an sich unterschiedlichen Ansätzen im Ergebnis einmütig anerkannten Real­ bedingungen von Demokratie, also denen des Vorhandenseins einer demokratischen Öffentlichkeit sowie einer kollektiven Identität510. Insoweit nämlich basiert die Normalität demokratischer Volkswerdung unverkennbar auf dauerhaften innergesellschaftlichen Verständigungsprozessen sowie auf einer gewissen Grund­ übereinkunft innerhalb der Gebietsgesellschaft. Doch auch in konstruktiver Hinsicht lässt nicht nur der individuumszentrierte, sondern auch der verbandsorientierte Ansatz den Rückschluss zu, dass die Normalität demokratischer Volkswerdung auf – von einer gewissen Vorverständigung getragenen  – Verständigungsleistungen beruht. So proklamiert zwar beispielsweise Carl Schmitt mit der ihm eigenen Vorliebe für überspitzte Begriffskonzepte und letztlich aus einem antiparlamentarischen Affekt511 heraus die Diskussions­ unfähigkeit des Volkes512. Gleichwohl scheint er davon auszugehen, dass die den 507

Siehe oben Kapitel 6 IV. = S. 353. Vgl. Hart / Jarvis (Fn. 349), S. 83. 509 Dazu auch v. Komorowski / Bechtel (Fn. 292), S. 283 f. 510 Skeptisch gegenüber dem demokratischen Erfordernis kollektiver Identität allerdings v. Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, in: JZ 2004, S. 53 mit weiteren Nachweisen. 511 Dies wird von Heller  – auch wenn er Schmitt nicht namentlich erwähnt  – klar erkannt (Fn. 461), S. 427. 512 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 315. 508

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Volkswillen transportierende öffentliche Meinung als „moderne Art der Akklamation“ nicht „auf geheimnisvolle Weise aus dem Nichts“, sondern aus den Verständigungsleistungen der sozialen Akteure erwächst513. Dass die unterlegene Minderheit eine Mehrheitsentscheidung nur deswegen hinnimmt, weil sich darin wegen der substanziell homogenen Identität des Gesamtvolkes eine real existente Grundübereinstimmung manifestiert, unterstellt Carl Schmitt, wie schon angesprochen, ebenfalls514. Noch sehr viel deutlicher wird diese auf gelingende Verständigungen abhebende Rekonstruktion demokratischer Normalität in der individuumszentrierten Perspektive. „Nicht durch gewaltsames Diktieren von oben nach unten, sondern durch Parlieren, die Verhandlung, Verständigung, Diskussion zwischen allen Gruppen soll das politische System von Willensvereinheitlichungen von unten nach oben her­gestellt werden“  – so beschreibt Hermann Heller in seiner hellsichtigen Faschismusanalyse die Wirklichkeit des demokratischen Prozesses515. Des Weiteren beruht die Hinnahme von Mehrheitsentscheidungen auch bei Heller auf einer vorgängigen, Wir-Bewusstsein schaffenden Verständigung, die freilich nicht wie bei Carl Schmitt in einer materialen Übereinstimmung, sondern auf einem prozeduralen Konsens über faire Verfahrensbedingungen516 beruht. Wenn die Normalität demokratischer Volkswerdung demnach eine gelungene und fortdauernd gelingende politische Verständigung zwischen den Gliedern der Gebietsgesellschaft voraussetzt, so muss die Kritik an der gängigen These, die den nationalstaatlichen Kontext zur Realbedingung demokratischer Volkswerdung erhebt, bei der sozialwissenschaftlichen Analyse der insofern relevanten Verständigungszusammenhänge ansetzen517. Hieraus resultiert zum einen der hier gewählte kommunikationstheoretische Kritikansatz518. Zum anderen ergibt sich daraus, dass die kommunikationstheoretische Kritik sich inhaltlich den beiden Faktoren zuwenden muss, die auch aus Sicht des verbandsorientierten beziehungsweise des indviduumszentrierten Ansatzes für die Normalität demokratischer Volkswerdung maßgeblich sind, also der demokratischen Öffentlichkeit sowie der kollektiven Identität. Mithin ist erstens zu erörtern, ob sich die Verständigungsleistungen der gebietsgesellschaftlichen Akteure tatsächlich nur unter den Bedingungen des demokratischen Nationalstaats zu einer demokratisch legitimationsfähigen poli­ tischen Öffentlichkeit zusammenfügen. Zweitens muss geklärt werden, ob nur im demokratischen Nationalstaat jene gebietsgesellschaftliche Grundverständigung 513

Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 246 f.; vgl. dazu auch Rödel / Frankenberg / Dubiel (Fn. 421), S. 140 f. 514 Schmitt, Legalität und Legitimität (Fn. 421), S. 264. 515 Heller (Fn. 226), S. 468 516 Heller (Fn. 461), S. 427; dazu auch Sartori (Fn. 7), S. 99. 517 Dazu auch Greven (Fn. 325), S. 263. 518 Zutreffend betont auch Augustin (Fn. 351), S. 336, dass die „nicht institutionalisierten Demokratiemomente (…) auf eine Kommunikationsgemeinschaft“ abstellen. Zum Themenkreis Demokratie und Kommunikation vgl. auch Beierwaltes (Fn. 234), 2002, S. 34 ff.

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zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgliedern möglich ist, auf dem die notwendig auf das Majoritätsprinzip verwiesenen demokratischen Prozesse beruhen. d) Kommunikationstheoretische Kritik an der nationalstaatlich verkürzten Sicht demokratischer Öffentlichkeit Auch wenn sie dies unterschiedlich begründen, gelangen sowohl Vertreter des verbandsorientierten wie auch des individuumszentrierten Ansatzes vielfach zu dem Ergebnis, dass sich zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine demokratische Öffentlichkeit519 nur auf nationaler Ebene zu formieren vermag. Vergegenwärtigt man sich freilich kommunikationstheoretisch, was demokratische Öffentlichkeit bedeutet, und reformuliert man vor diesem Hintergrund die bald verbandsorientiert, bald individuumszentriert motivierte These von der Abhängigkeit demokratischer Öffentlichkeit vom nationalstaatlichen Verwirklichungs­ rahmen, so zeigt sich rasch, dass diese These schwerlich zu überzeugen vermag520. aa) Kommunikationstheoretische Rekonstruktion demokratischer Öffentlichkeit Kommunikationstheoretisch ist Öffentlichkeit als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen zu beschreiben, in dessen Rahmen die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert werden, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten Meinungen verdichten521. Daraus folgt zweierlei. Als Produkte kommunikativen Handelns bedürfen demokratische politische Öffentlichkeit und öffentliche Meinung zum einen der Einbettung in die Verständigung ermöglichende Lebenswelt522. Diese speist sich aus überlieferten gemeinsa 519 Zur Begriffsgeschichte von (demokratischer) Öffentlichkeit Kohler, Was ist Öffentlichkeit?, in: Angehrn / Baertschi (Hrsg.), Demokratie und Globalisierung, 1999, S. 197 (201 ff.) sowie Smend, Zum Problem des Öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Bachof u. a. [Hrsg], Gedächtnisschrift für Jellinek, 1955, S. 11 ff. 520 So im Ergebnis auch Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 55. 521 So ausdrücklich Habermas (Fn. 309), S. 436. Dazu auch Manz (Fn. 476), S. 208 ff. Man wird Kohler (Fn. 519), S. 210 nur zustimmen können, wenn er zu Habermas’ Rekonstruktion demokratischer Öffentlichkeit feststellt, dass sie zwar „nicht die einzige sorgfältige und angemessen komplexe Entfaltung des Themas, aber sicherlich die am besten in einer umfassenden Theorie verankerte Bestimmung von ‚Öffentlichkeit‘“ ist. In diese Richtung auch Risse, Auf dem Weg zu einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft, in: Franzius / Preuß (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, 2004, S. 139 (148). 522 Zum Konzept der Lebenswelt grundlegend Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1997, S. 182 ff. Es ist bemerkenswert und spricht für seine Überzeugungskraft, dass das Lebenswelt-Konzept auch von solchen Literaturvertretern rezipiert wird, die sich ansonsten in ausgesprochener (weltanschaulicher) Distanz zu Habermas bewegen, vgl. Di Fabio (Fn. 446), S. 203 f. sowie oben Fn. 446.

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men Deutungsmustern523, wird aber zugleich über die aktualen Verständigungsleistungen der kommunikativ Handelnden beständig reproduziert524. Denn aufgrund der zunehmenden Pluralisierung und Differenzierung der lebensweltlichen Gewissheiten, reichen diese allein nicht mehr aus, um den gesellschaftlich vorhandenen Verständigungsbedarf zu decken. Die Reproduktion der Lebenswelt wird daher sukzessive den kommunikativ Handelnden aufgebürdet, die unter den Bedingungen eines – der regulativen Idee nach – herrschaftsfreien Diskurses zu rationaler Verständigung gelangen können525. Weil diese rationale Verständigung freilich überaus voraussetzungsvoll ist und daher die Gefahr des Fehlschlagens groß ist, wird die lebensweltliche Kommunikation durch die zunehmende Entkoppelung der sich selbst regulierenden Systeme Wirtschaft und Staat entlastet526, zugleich aber gefährdet527. Denn diese Systeme werden nicht nur von der Lebenswelt entkoppelt, sondern wirken auch auf sie zurück und können sie äußerstenfalls ‚kolonialisieren‘528, das heißt ihren Systemimperativen Geld und Macht unter­ werfen529. Zum anderen ergibt sich aus dem kommunikationstheoretischen Begriff der Öffent­lichkeit, dass diese in den heutigen hochkomplexen Gesellschaften nicht konkretisch als politische Willens- und Meinungsbekundungen eines allumfassenden gesellschaftlichen Ganzen begriffen werden kann530. Vielmehr ist die auf das politische System bezogene netzwerkartige Öffentlichkeit räumlich in eine Vielzahl von überlappenden internationalen, nationalen, regionalen, kommunalen Arenen verzweigt, sachlich nach funktionalen Gesichtspunkten, Themenschwerpunkten, Politikbereichen et cetera gegliedert sowie nach Kommunikationsdichte, Organisationskomplexität und Reichweite differenziert531. Diese Teilöffentlich­ keiten sind aber nicht impermeabel, sondern aufgrund ihrer lebensweltlichen Verankerung porös füreinander532. Politische Öffentlichkeit und öffentliche Meinung 523 Peters, Nationale und transnationale Öffentlichkeiten, in: ders., Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, S. 283 (286). 524 Habermas (Fn. 522), S. 208 ff. 525 Vgl. hierzu auch Scharpf (Fn. 460), S. 688 ff. sowie Korioth (Fn. 416), S. 117 (140). 526 Dazu grundlegend Habermas (Fn. 522), S. 229 ff.; zusammenfassend Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, 2007, S. 14. Nuancierte Kritik hieran bei Rödel / Frankenberg / Dubiel (Fn. 421), S. 159 ff. 527 Demokratietheoretisch motivierte Kritik an dem Lebenswelt-System-Modell übt Behre, Volkssouveränität und Demokratie, 2004, S. 91 ff. 528 Habermas (Fn. 522), S. 452; vgl. auch Brunkhorst, Globale Solidarität, in: Wingert / Günther (Hrsg.), Festschrift für Habermas, 2001, S. 605 (609 und 611). 529 Mit gutem Grund begreift Touraine (Fn. 360), S. 24 Demokratie daher immer auch als Kampf der lebensweltlich verankerten und freiheitsberufenen Subjekte gegen die herrschsüchtige Logik der Systeme. 530 Siehe auch Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2002, S. 322 f. 531 So ausdrücklich Habermas (Fn.  309), S.  452; vgl. auch Grewe, Demokratie ohne Volk oder Demokratie ohne Völker?, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 59 (64 f.); Kaufmann ( Fn. 105), S. 60 sowie Peters (Fn. 523), S. 283 f. 532 Habermas (Fn. 309), S. 452.

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nehmen vor diesem Hintergrund also nicht als bewusste Meinungs- beziehungsweise Willensäußerung eines gebietsgesellschaftlichen Kollektivs, wohl aber als anonym verzahnter Diskurs, als ein subjektloser Kommunikationsfluss Gestalt an, durch den das aus der Lebenswelt ausdifferenzierte politische System beeinflusst wird533. Die Funktionsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit hängt in dieser Perspektive davon ab, wie effektiv die Kommunikationsinhalte durch Kommunika­ tionsmedien verbreitet werden, aber auch davon, ob ein hinreichendes diskursives Niveau erreicht wird534. Dass politische Öffentlichkeit kommunikativ nur dann verfangen kann, wenn die Kommunikationsinhalte breit zirkulieren und möglichst viele Betroffene mit einbeziehen, liegt dabei auf der Hand. Dass zusätzlich Anforderungen an die Qualität des Zustandekommens öffentlicher Meinung gestellt werden, hängt mit dem telos politischer Öffentlichkeit zusammen. Soll diese nämlich intersubjektiver rationaler Verständigung Raum geben, so darf sie nicht derart vermachtet sein, dass die lebensweltliche Kommunikation zusehends von den Imperativen des politischen und ökonomischen Systems überformt und damit langfristig zerstört wird535. Demokratische Öffentlichkeit ist daher auf das Entgegenkommen einer ratio­nalisierten Lebenswelt angewiesen, wie sie in zivilgesellschaftlichen Asso­ ziationen und einer liberalen Meinungskultur Strukturgestalt annimmt536.

bb) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom verbandsorientierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Öffentlichkeit vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen Nähert man sich im Licht der kommunikationstheoretischen Rekonstruktion demo­kratischer Öffentlichkeit erneut der These, wonach demokratische Öffentlichkeiten jedenfalls derzeit nur im nationalstaatlichen Kontext realisierbar sein sollen, so können die dafür vorgetragenen Argumente nunmehr auch kommunikationstheoretisch reformuliert und analysiert werden. So stellt der verbands­ orientierte Ansatz darauf ab, dass nur die Artikulationen eines substanziell homogenen, mithin also nationalstaatlich verfassten Volkes sich zu einer ihrem Wesen nach demokratischen Öffentlichkeit verdichten können537. Kommunikationstheoretisch lässt sich diese Argumentation dahin ausdeuten, dass es jenseits des natio­ 533

Dazu auch Greven (Fn. 325), S. 257. Habermas (Fn. 309), S. 438. 535 Postuliert wird mit anderen Worten die „nicht-deformierte, weder von innen noch von außen okkupierte“ Öffentlichkeit (Habermas [Fn. 499], S. 190). 536 Habermas (Fn. 309), S. 434. 537 Gegen diese Sichtweise grenzen sich die Vertreter des individuumszentrierten Ansatzes mit Vehemenz ab, selbst wenn sie zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangen – siehe dazu etwa Grimm (Fn. 93), S. 46. 534

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nalstaatlichen Rahmens an den lebensweltlichen Voraussetzungen für eine funktionierende öffentliche Meinung538 fehle, nämlich an den lebensweltlich geteilten Selbstverständlichkeiten539 sowie der aufeinander bezogenen Weltwahrnehmung540 als strukturellen Bedingungen kommunikativer Rationalität541. Allein im nationalstaatlichen Kontext, unter den Bedingungen weitgehender politischer, kultureller sowie sprachlicher Homogenität sei lebensweltliche Kommunikation möglich und könne politische Öffentlichkeit kommunikativ Platz greifen542. Dass demokratische Öffentlichkeit lediglich im nationalstaatlichen Kontext noch über eine hinreichende lebensweltliche Einbettung verfüge, wie der verbandsorientierte Ansatz kommunikationstheoretisch übersetzt suggeriert, erweist sich bei näherer Betrachtung als zu undifferenziert. Diese Auffassung überschätzt die im nationalstaatlichen Raum vorhandenen traditionalen Ressourcen lebensweltlicher Kommunikation ebenso sehr, wie sie die Möglichkeiten einer Reproduktion von Lebenswelt durch transnationale Kommunikation unterschätzt. So geht sie offenbar davon aus, dass die nationalstaatlich radizierte Kommunikation sich nach wie vor in einem weitgehend undifferenzierten, ethnozentrierten Kontext lebensweltlicher Gewissheit bewegt und sich aus dem weiterhin kräftig sprudelnden Quell nationalstaatlicher Gemeinsamkeit speist543. Durch die verschiedenen, immer rascher aufeinander abfolgenden Modernisierungsschübe sind diese lebensweltlichen Gewissheiten in Wirklichkeit indes bereits weithin aufgesprengt worden. Es genügt, beliebig einige zentrale gesellschaftspolitische Herausforderungen zu evozieren – etwa den Bildungsnotstand, die massive Arbeitslosigkeit oder das therapeutische Klonen –, um zu belegen, dass die kommunikativ Handelnden auch im nationalstaatlichen Kontext nur mehr sehr bedingt durch traditionales Hintergrundwissen orientiert werden und daher die unabdingbare Orientierung in dis­ kursiven Prozessen selbst hervorbringen müssen544. Dass der Anschluss neuer Situationen an die Lebenswelt, mithin also deren Reproduktion, zunehmend den primär rationalen, nur noch in Ansätzen durch präreflexives Hintergrundwissen flankierten Verständigungsleistungen der kommunikativ Handelnden aufgebürdet ist, entlarvt die Vorstellung von einem durch Selbst-Verständlichkeiten geprägten nationalen Kommunikationsraum als zumindest unrealistisch. Zugleich wird deutlich, dass und weshalb demokratische Öffentlichkeit den nationalen Rahmen durchaus transzendieren kann: Eben weil lebensweltliche Kommunikation zunehmend auch ohne implizites, vorrätiges Kollektivwissen zu 538

So ausdrücklich Di Fabio (Fn. 446), S. 203 f. Di Fabio (Fn. 446), S. 203. 540 Di Fabio (Fn. 446), S. 204. 541 Dazu auch Habermas (Fn. 309), S. 18. 542 Di Fabio (Fn. 446), S. 203 f.; dagegen Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (360 f.). 543 Beispielhaft für diese Sichtweise Kirchhof (Fn. 447), Rn. 74. 544 In diese Richtung auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, in: Staat 2002, S. 331 (348). 539

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ver­fangen vermag, scheidet eine demokratische Öffentlichkeit jenseits des Nationalstaats nicht schon per se aus545. Veranschaulichen lässt sich dies an einigen Beispielen nationalstaatlich entgrenzter Kommunikation, wie sie durch Ereignisse oder Probleme von globaler, dennoch aber lebensweltlicher Relevanz ausgelöst wurde. Erwähnt seien etwa die Auseinandersetzung um die Ölplattform Brentspar546, der kriegerischen Einsatz der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegen Ex-Jugoslawien, die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York, die causa Haider547 sowie der Irak-Krieg548, des Weiteren die Diskussionen um Globalisierung und Gentechnik, Service Public549 und Kündigungsschutz550. Es zeigt sich insofern, dass neue Situationen zunehmend auch durch transnationale Kommunikation an die Lebenswelt angeschlossen werden können551. Einzuräumen ist freilich, dass die hochgradig reflexive Reproduktion von Lebenswelt, wie sie im Zuge transnationaler Kommunikation gefordert ist, überaus anspruchsvoll ist552. Dies befördert fast zwangsläufig die prima facie entlastende, bei näherem Hinsehen aber durchaus janusköpfige Entkoppelung der verselbstständigten Handlungssysteme Wirtschaft und Macht. Eine transnational konstituierte demokratische Öffentlichkeit unterliegt folglich in besonderem Maße der Gefahr, dass sie in den Bannkreis des ökonomischen und politischen Systems und ihrer Logiken gerät und dadurch allmählich zerstört wird553. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine transnationale demokratische Öffentlichkeit von vornherein an der mangelnden lebensweltlichen Einbettung scheitert, sondern dass es einer besonderen Pflege und Förderung der sie konstituierenden lebensweltlichen Kommunika 545

Habermas (Fn. 300), S. 190 f. Dazu v. Weizsäcker, Globalisierung, in: Hager (Hrsg.), Im Namen der Demokratie, 1997, S. 129 (132). 547 Zur Entstehung transnationaler Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang vgl. die politikwissenschaftliche Studien von van de Steeg, Does a public sphere exist in the European Union, in: European Journal of Political Research 2006, S. 609 ff. und Risse (Fn. 521), S. 141 ff. Die causa Haider hat bekanntlich Konsequenzen nicht nur für die europäische Verfassungswirklichkeit, sondern – in Form der Ergänzung des Sanktionsmechanismus nach Art. 7 EUV – auch für das geschriebene Gemeinschaftsverfassungsrecht gehabt (dazu Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, in: JuS 2001, 846 [847]). 548 Landfried, Wo bleiben die Bürger in der Europäischen Union?, in: Bruha / Nowak (Hrsg.), Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S.  89 (95 ff.); Gellner / Glatzmeier (Fn. 489), S. 11 sowie Preuß (Fn. 505), S. 55. 549 Dazu etwa Héritier, Containing Negative Integration, in: Mayntz / Streeck (Hrsg.), Die Reformierbarkeit der Demokratie, 2003, S. 101 (115 ff.). 550 Vgl. im Übrigen auch Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 151, der auf die zahlreichen europäischen Skandale hinweist, die in „fast hegelscher Dialektik“ zur Ausbildung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen. 551 Zur Bedeutung, die in diesem Zusammenhang dem Internet zukommt, etwa Lang, Globale Öffentlichkeit, das Internet und Netzwerkbildung, in: Scharenberg / Schmidtke (Hrsg.), Das Ende der Politik?, 2003, S. 302 ff. 552 Habermas (Fn. 300), S. 190: „voraussetzungsreich“. 553 Grundlegend zur Entkoppelung von System und Lebenswelt: Habermas (Fn.  522), S. 470 ff. 546

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tion bedarf, wenn eine transnationale demokratische Öffentlichkeit geschaffen, erhalten und ausgebaut werden soll554.

cc) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom individuumszentrierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Öffentlichkeit vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen In individuumszentrierter Perspektive ist bezweifelt worden, dass sich die für die zeitgenössische Demokratie wesensnotwendige demokratische Öffentlichkeit auch jenseits des Nationalstaats ausbilden kann, weil es insofern an einem gebietsuniversal zentralisierten, hochgradig verdichteten Netz von Massenmedien555, Parteien556 und Verbänden557 sowie im Übrigen an einer einheitlichen Sprache fehle558. Kommunikationstheoretisch gewendet, nährt dieser individuumszentrierte Ansatz Zweifel daran, dass die politischen Meinungsflüsse auf übernationaler Ebene in quantitativer wie qualitativer Hinsicht geeignet sind, sich zu einem demokratische Öffentlichkeit konstituierenden Kommunikationsstrom zu vereinen559. Der in individuumszentrierter Perspektive vorgetragene Einwand, dass demokratische Öffentlichkeit ohne zentralisiertes Kommunikations- und Assoziativwesen sowie ohne Einheitssprache kommunikativ überhaupt nicht verfangen könne560, muss freilich ebenfalls deutlich relativiert werden561. Hinter diesem Einwand verbergen sich, wie zu Recht kritisiert wurde, bewusstseinsphilosophische Denkfiguren, die von einer kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft ausgehen und 554 Dass man im Übrigen die Vorstellung einer europäischen Öffentlichkeit nicht als gänzlich lebensweltfremd ansehen dürfe, betont zu Recht Eder (Fn. 475), S. 95. Diese sei „tief in der Gesellschaftsgeschichte Europas verankert“, nämlich als „eine Fortsetzung der Kommunikationsnetzwerke von aristokratischen Eliten, von europäischen Stadtbürgern oder wandernden Gesellen“. Es gebe mithin historische Strukturen, die Öffentlichkeit gerade nicht an den Nationalstaat bänden. 555 Dazu auch Lamprecht, Untertan in Europa, in: NJW 1997, S. 505 (506). 556 Hierzu Goodman, Die Europäische Union: Neue Demokratieformen jenseits des Nationalstaats, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 331 (353). 557 Emde, Herrschaftslegitimation ohne Volk, in: Enders / Masing (Hrsg.), Freiheit des Subjekts und Organisation von Herrschaft, 2006, S. 65 (74). 558 Graf Kielmansegg, Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen? (Fn. 475), S. 229 (238). 559 In diese Richtung Scharpf, Die europäische Verfassungsdiskussion vor einem Dilemma, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, S. 447 (458); ders., Mehr­ ebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, in: StWiss 1994, S. 475 (486); vgl. auch Möschel, Europapolitik zwischen deutscher Romantik und gallischer Klarheit, in: APuZ 1995, B 2–4, S. 10 (13). 560 In diesem Sinne etwa auch schon Bleckmann, Politische Aspekte der europäischen Integration unter dem Vorzeichen des Binnenmarkts 1992, in: ZRP 1990, S. 265 (267). 561 In diesem Sinne auch Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 82 f.

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die gebietsgesellschaftliche Meinungsbildung als bewusste Vorformung der ‚volonté générale‘ begreifen562. Solche konzeptionellen Modelle haben zwar im Rahmen von Allgemeiner Staatslehre und Rechtswissenschaft nach wie vor (relativen) Erkenntniswert563. Jedoch muss stets berücksichtigt werden, dass es sich hierbei um Fiktionen handelt, die nicht ohne Weiteres, sondern nur soziologisch vermittelt, in die empirische Realität übersetzt werden dürfen. Nun ergibt die Kommunikationstheorie, dass politische Öffentlichkeit realiter gerade nicht als ein einheitlicher, zentralisierter Kommunikationsraum zu denken ist, sondern durch das unorganisiert-anonyme Ineinandergreifen permeabler (Teil-)Diskurse entsteht564. Insofern ist demokratische Öffentlichkeit nicht schon per se daran gehindert, nationale Grenze zu überschreiten. Denn die nationalen Öffentlichkeiten sind nicht wechselseitig gegeneinander abgeschottet, sondern erweisen sich als porös565. Die ursprünglich in anderen Staaten angestoßenen Diskussionen diffundieren in den nationalen Debattenraum. Auch werden sie nicht mehr nur vor dem nationalen Horizont interpretiert, sondern vielfach aus einer individuelleren sowie gleich­ zeitig globaleren Betroffenen-Perspektive reflektiert566. Davon zeugen nicht zuletzt die eben schon erwähnten Debatten über bestimmte transnationale Ereignisse und Probleme567. Eine transnationale demokratische Öffentlichkeit scheitert auch nicht zwingend daran, dass sich die Kommunikationsmedien, die für eine hinreichend intensive Zirkulation der Kommunikationsinhalte zu sorgen haben, nicht an ein transnationales, sondern (allenfalls) an ein nationales Publikum richten568. Denn solange die Medien trotz ihres nationalen Adressatenkreises transnationale Themen in hinreichendem Maße aufgreifen, wirken sie an jenen für einander porösen Teilöffentlichkeiten mit, durch die hindurch die transnationale Kommunikation geleitet wird und die sich insofern als integrierender Bestandteil der transnationalen demokratischen Öffentlichkeit entpuppen569. Entsprechendes gilt für den zivilgesellschaftlichen Unterbau transnationaler demokratischer Öffentlichkeit. Dass das Parteienund Assoziativwesen, letzthin die gesamte politische Kultur weiterhin und weithin nationalstaatlich radiziert ist, steht einer allmählich transnational austreibenden 562

Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 277 (288); ders., Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1991, S. 22; ders. (Fn. 309), S. 362. 563 In diese Richtung auch Tschentscher (Fn. 108), S. 24 f. 564 Augustin (Fn. 351), S. 143; auch Jochum / Petersson (Fn. 91), S. 180. 565 Dazu auch Habermas (Fn. 446), S. 7. 566 Dazu auch Giegerich (Fn. 506), S. 932 f. 567 Zum Vorstehenden etwa Hurrelmann (Fn. 474), S. 191 f. 568 Landfried (Fn. 548), S. 101: „Auch nationale Medien können dazu beitragen, einen ‚nationenübergreifenden Kommunikationszusammenhang‘ herzustellen. Europäische Zeitungen, Hörfunk- und Fernsehprogramme sind wünschenswert. Sie sind aber keine conditio sine qua non einer europäischen Öffentlichkeit.“ 569 Siehe Augustin (Fn. 351), S. 152; Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Verw. 1993, S. 449 (480 f.); Schroeder, Demokratie, Transparenz und die Regierungskonferenz, in: KritV 1998, S. 423 (440).

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demokratischen Öffentlichkeit nicht entgegen, wenn und soweit trotz nationalstaatlicher Verankerung an nationalstaatsübergreifende Diskurse angeknüpft wird570. Schließlich hindert auch ihre sprachliche Fragmentierung nicht notwendig das Ent- und Bestehen transnationaler demokratischer Öffentlichkeit571. Sprachen werden übersetzt572 und politische Diskurse dadurch von der einen (nationalen) Teil­ öffentlichkeit in die andere übertragen573. Zu konzedieren ist freilich, dass eine transnationale demokratische Öffentlichkeit, eben weil sie aus medial, politisch und sprachlich heterogenen Teilöffentlichkeiten erwächst, labiler sein dürfte als nationale Öffentlichkeiten574. Denn unter diesen Bedingungen fällt die Verbreitung kommunikativer Inhalte schwerer und erweist sich die lebensweltliche Verankerung als schwächer. Mithin werden auf transnationaler Ebene die beiden für die Funktionsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit maßgeblichen Faktoren, nämlich die Effektivität des Kommunika­ tionsflusses sowie die Qualität des diskursiven Niveaus, negativ berührt. Hinzu tritt, dass im Kontext übernationaler demokratischer Öffentlichkeit den politischen und ökonomischen Eliten eine Schlüsselfunktion als Mittler zwischen den verschiedenen (nationalen) Teilöffentlichkeiten zukommt575. Auch insofern besteht die eben schon in anderem Zusammenhang skizzierte Gefahr, dass die lebensweltlichen Voraussetzungen demokratischer Öffentlichkeit zerstört werden. Denn über die Eliten wirken die von der Lebenswelt entkoppelten Systeme Politik und Wirtschaft ‚kolonisierend‘ auf diese zurück576 und drohen durch ihre Systemimperative ‚Macht‘ und ‚Geld‘ die Praxis lebensweltlicher Kommunikation zu destruieren577. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, transnationale Diskurse könnten sich niemals auf Dauer zu einer funktionsfähigen transnationalen demokratischen 570

Optimistisch insofern auch Rittberger (Fn. 58), S. 220. So zutreffend Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus Sicht der Mitgliedstaaten, in: EuR 1995, S. 315 (324). Instruktiv auch Beierwaltes (Fn. 234), S. 236 ff. und Risse (Fn. 521), S. 145 ff. 572 So Pernice (Fn.  569), S.  480; Habermas (Fn.  446), S.  7; Jochum / Petersson (Fn.  91), S. 179 f. 573 Hurrelmann (Fn. 474), S. 119 f.; Manz (Fn. 476), S. 209; Dernedde, Autonomie der Europäischen Zentralbank, 2001, S. 191 f.; Zuleeg (Fn. 499), S. 20; Lenz, Vertrag von Maastricht – Ende demokratischer Staatlichkeit, in: NJW 1993, 1962 (1963); Nicolaysen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 2, 1995, S. 945 (953). Anderer Ansicht Graf Kielmansegg (Fn. 475), S. 55 f. Zur poli­tischen Option (beziehungsweise Vision) eines ‚konvergierenden Multilingualismus‘ vgl. Kraus (Fn. 414), S. 198 ff. 574 So zutreffend auch Peters (Fn. 307), S. 716. 575 Dazu  – kritisch  – auch Grimm (Fn.  453), S.  36: „Eine europäische Öffentlichkeit und einen europaweiten Diskurs, der nicht bloß die Addition von (…) 25 nationalen Diskursen ist, gibt es zwar auf der Ebene der Eliten. Doch ist die Demokratie keine Veranstaltung für die Eliten, sondern für alle.“ Zur Vorherrschaft der Eliten im europäischen Integrationsprozess vgl. auch – aus empirischer Sicht – Koopmans, Who inhabits the European public sphere, in: Euro­ pean Journal of Political Research, 2007, S. 183 ff. 576 Vgl. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1991, S. 16 f. 577 Dazu auch Scharpf, Demokratische Politik in Europa (Fn. 470), S. 82 f. 571

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Öffentlichkeit verdichten. Zulässig ist allein die Schlussfolgerung, dass gerade bei der Ausbildung transnationaler demokratischer Öffentlichkeiten der Lebensweltpflege eine besondere Aufmerksamkeit gebührt.

e) Kommunikationstheoretische Kritik an der nationalstaatlich verkürzten Sicht kollektiver Identität Sowohl aus Sicht des verbandsorientierten als auch in der Perspektive des individuumszentrierten Ansatzes wird argumentiert, die Normalität demokratischer Volkswerdung setze zumindest bis auf Weiteres voraus, dass die zu demokratischer Herrschaft berufene Personenmehrheit von einem Gefühl kollektiver Identität zusammengehalten wird, wie es für eine Staatsnation prägend ist578. Der kommunikationstheoretisch informierten Überprüfung hält diese These freilich nicht stand.

aa) Kommunikationstheoretische Rekonstruktion kollektiver Identität Kommunikationstheoretisch betrachtet, stellt sich kollektive Identität579 zunächst als Voraussetzung einer gelingenden, durch kommunikatives Verhalten vermittelten Reproduktion von Lebenswelt und damit zugleich als Bedingung erfolgreicher Sozialintegration580 dar581. Die kollektive Identität rechnet mithin zu jenen lebensweltlichen Ressourcen, durch die verständigungsorientiertes Handeln und damit auch solidarischer Zusammenhalt überhaupt erst möglich werden. Zerfallen kollektive Identitäten, so ist dies ein Symptom dafür, dass die Reproduktion von Lebenswelt und insbesondere der Prozess sozialer Integration gestört sind. Des Weiteren ist kollektive Identität aber auch das Ergebnis gelungener Re­ produktion von Lebenswelt allgemein und erfolgreicher sozialer Integration im Besonderen. Denn indem kollektive Identität kommunikatives Handeln orientiert und soziale Interaktionen koordinieren hilft, wird sie gefestigt und – durch den Anschluss neuer Situationen an die Lebenswelt – zugleich sukzessive erneuert, fortentwickelt, verändert582. Der zunehmenden Rationalisierung der Lebenswelt ent 578 In diese Richtung etwa auch Kohler-Koch / Conzelmann / Knodt, Europäische Integration – Europäisches Regieren, 2004, S. 216; Graf Kielmansegg: Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 229 (234 ff.); Höreth (Fn. 464), S. 59. 579 Vgl. dazu auch Straub, Personale und kollektive Identität, in: Assmann / Friese (Hrsg.), Erinnerung, Geschichte, Identität, 2. Aufl. 1999, S. 73 ff. (96 ff.), der dargelegt, dass und weshalb sich kollektive Identität überhaupt nur als kommunikatives Konstrukt, als diskursiver Tatbestand sinnvoll rekonstruieren lässt. 580 Hierzu etwa Habermas (Fn. 576), S. 17. Kritisch Hurrelmann (Fn. 474), S. 90 ff. Wie hier Greven (Fn. 325), S. 262. 581 Habermas (Fn. 522), S. 204 ff. 582 Habermas (Fn. 522), S. 210 ff.

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spricht hierbei, dass sich kollektive Identität fortschreitend von konkreten Inhalten wie etwa den in der Vergangenheit so wirkmächtigen nationalen Mythen583 ablöst und durch sehr viel abstraktere Grundüberzeugungen substituiert wird, die das Ergebnis diskursiver Verständigung sind584.

bb) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom verbandsorientierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Kollektividentität vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen Vor dem Hintergrund des soeben Skizzierten ist es erneut möglich, das Argument kommunikationstheoretisch zu reformulieren, das aus verbandsorientierter Perspektive für die notwendige Verknüpfung von demokratischer Volkswerdung und nationaler Identität vorgetragen wird. Wenn nämlich der verbandsorientierte Ansatz letztlich auf der Vorstellung beruht, dass Demokratie die politische Existenzform eines substanziell homogenen Volkes sei, so lässt sich dies kommunika­ tionstheoretisch dahin interpretieren, dass von vornherein nur die in nationalen oder vergleichbaren Kontexten ausgebildeten kollektiven Identitäten jenen lebensweltlichen Rückhalt bieten könnten, der für das aus demokratischer Sicht erforderliche Maß an Sozialintegration konstitutiv ist. Hiergegen lässt sich einmal mehr einwenden, dass der verbandsorientierte Ansatz damit die lebensweltliche Relevanz nationaler Traditionskontexte überschätzt585 und zugleich die kommunikativen Handelns unterschätzt. Die Bedeutung nationaler Identität muss schon deshalb relativiert werden, weil in den modernen, sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaften die Zahl sozialer Kollektive, denen sich die einzelnen Gesellschaftsglieder zugehörig fühlen, anwächst586. Man braucht sich nur selbst nach der eigenen politischen Identität zu fragen, um zu bemerken, dass man längst nicht mehr nur Deutscher oder Franzose oder Pole ist, sondern immer zugleich Einwohner einer Stadt, Angehöriger einer Region, ferner Europäer, auch Weltbürger, vielfach Kirchen-, Partei-, Ge 583

Vgl. hierzu v. Simson, Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk“?, in: EuR 1991, 1 (3 ff.). 584 Dazu Müller, Für Brüssel sterben?, in: NZZ vom 5.12.2003, S. 35. Auch der Rückgriff auf Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État (Champion [Hrsg.]), 1888, S. 31 (Chapitre Premier) erweist sich in diesem Zusammenhang als fruchtbar, heißt es doch dort: „Qu’est-ce qu’une nation? Un corps d’associés vivant sous une loi commune et représentés par la même législature.“ 585 Dies ist etwa bei Graf Kielmansegg (Fn.  475), S.  55 ff. und ders., Läßt sich die Euro­ päische Union demokratisch verfassen? (Fn.  475), S.  234 ff. der Fall. Vgl. im hiesigen Sinn auch Preuß (Fn. 505), S. 56. 586 Dazu zutreffend Fisahn (Fn. 301), S. 143; ferner Berten, Europäische Identität – Einzahl oder Mehrzahl, in: Dewandre / Lenoble (Hrsg.), Projekt Europa, 1994, S. 55 (57 ff.); Schmitz (Fn. 46), S. 221; Hrbek, Staatsbürger – Unionsbürger: Konkurrenz oder Komplementarität, in: ders. (Hrsg.), Bürger und Europa, 1994, S. 119 (121).

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werkschafts-, Verbandsmitglied et cetera587. Hinzu tritt, dass nationale Identitäten in dem Maße labiler werden, in dem sich infolge des rasch vorantreibenden Individualisierungsprozesses das gemeinsam Geglaubte rapide verdünnt588. Während der eine sein Deutschtum über die Weimarer Dichterfürsten, Carl Benz und Helmut Kohl definiert, designt ein anderer seine nationale Identität vom WankdorfStadion, den Solinger Stahlwerken oder von Auschwitz589 her590. Dieser Bedeutungsverlust nationaler Identitäten591 muss nun freilich nicht zwingend in eine nachhaltige Störung des demokratisch unerlässlichen Vorgangs sozialer Integration einmünden. Wie die Rationalisierung der Lebenswelt insgesamt dürfen auch die Multiplikation592 und Dilution kollektiver Identitäten nicht nur von ihren destruierenden Wirkungen her betrachtet werden593. Bilden sich im Zuge der kommunikationsvermittelten Reproduktion von Lebenswelt ergänzende, durchaus wirkmächtige Gruppenidentitäten aus, birgt dies in einer konstruktiven Perspektive immer auch die Chance, dass neue Solidarzusammenhänge entstehen, von denen sich gerade nicht a priori sagen lässt, sie seien untauglich, ein bestimmtes Maß an sozialer Integration zu gewährleisten. Wenn daher im Prozess der Nation­ werdung lokale und regionale Identitäten auf Dauer durch tragfähige nationale Identitäten ergänzt werden konnten594, so stellt dies ein modernisierungsgeschichtliches Indiz dafür dar, dass auch die vor allem seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sukzessive ausgebildeten transnationalen Identitäten in hinreichendem Maße sozialintegrierend wirken können595.

587 Smith, National identity and the idea of European unity, in: International Affairs, 1992, S. 55 (58 ff.); S. 55; Beck, Die postnationale Gesellschaft und ihre Feinde, in: Assheuer / Perger (Hrsg.), Was wird aus der Demokratie?, 2000, 35 (38): „… und auch politische Identitäten und Loyalitäten gehorchen nicht mehr dem Gebot der nationalen Loyalitäts-Monogamie.“ Vgl. auch Sommer, Regieren in Europa: Brüssel und die Bürger, in: Willems (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, 109 (114); Manz (Fn. 476), 2002, S. 205 f.; Gusy (Fn. 442), S. 277 ff.; Nicolaysen (Fn. 573), S. 945; Merkel, Legitimitätsüberlegungen zu einem unionsspezifischen Demokratiemodell, in: Giering u. a., Demokratie und Interessenausgleich in der Europäischen Union, 1999, S. 27 (29). 588 So auch Schwaabe, Politische Identität und Öffentlichkeit in der Europäischen Union, in: ZfP 2005, 421 (427 ff.). 589 Intolerant gegenüber solchen Identitätsdesigns Isensee (Fn. 482), S. 155 ff. 590 Dies verkennt Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, S. 185 ff. 591 Dazu auch Kaelble, Wege zur Demokratie, 2001, S. 156; Beck (Fn. 587), S. 41. 592 Zu den multiplen Identitäten der Unionsbürger vgl. auch empirischer Sicht Schwaabe (Fn. 588), S. 422. 593 In diesem Sinne auch Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegen­ standes, in: VVDStRL 2003, S. 7 (26 f.). 594 Taylor, Demokratie und Ausgrenzung, in: ders., Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, S. 30 (33) unter Hinweis auf das Beispiel Kanada. 595 In diesem Sinne etwa Habermas (Fn. 499), S. 191; ders. (Fn. 446), S. 7; ders. (Fn. 496), S. 158; Glotz (Fn. 300), S. 38 f.; Schmidtke (Fn. 451), S. 161 f.; Bracher, Europa zwischen Demokratie und Nationalstaat, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 243 (252 f.); Sommer (Fn. 587), S. 115.

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Dass sich die kollektiven Identitäten verdünnt haben, läuft ebenfalls nicht notwendig auf die allmähliche, aber unumkehrbare Zersetzung sozialer Bindungskräfte hinaus, sondern birgt seinerseits ein Integrationspotenzial. Erwächst kollektive Identität nämlich in immer geringer werdendem Umfang aus konkret verbindenden Lebensformen, so muss Verständigung in zunehmendem Maße rational596, über abstrakte Grundsatzdiskurse erzielt werden, aus denen dann wieder neue, ergänzende kollektive Identitäten erwachsen können597. Dieser rationalisierte Modus sozialer Integration ist strukturell geeignet, zur transnationalen Identitätsstiftung beizutragen598. Beispielhaft ist der auch in diesem Beitrag fortgeführte jahrhundertealte Diskurs um die Volkssouveränität, der in Ablösung des mittelalterlichen Weltbilds die Nationalstaatswerdung befördert und nunmehr auch die Unionswerdung Europas beherrscht. Damit wird keineswegs geleugnet, dass die zur Festigung von transnationaler Identität erforderlichen kommunikativen Prozesse überaus anspruchsvoll sind. Doch schließt dies eine transnationale Identität nicht schon von vornherein aus, sondern besagt wiederum nur, dass die lebensweltlichen Voraussetzungen transnationaler Identitätsbildung der besonderen Pflege bedürfen599.

596 Vgl. auch Dellavalle (Fn. 478), S. 265 f.: „Auf dem heutigen Stand der politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung kann Europa weder als Nation nach der objektiven noch nach der subjektiven Auffassung des Begriffs angesehen werden. Daher kann sich das vereinigte Europa nur als ein ‚Mechanismus‘ herausbilden, der von seinen Bürgern gewollt und legitimiert wird und konsequenterweise in erster Linie zur Verwirklichung ihrer vernünftigen Ansprüche dienen muß.“ 597 Für die nicht mehr national bestimmte, sondern durch einen gesellschaftlichen Werte­ konsens gestiftete kollektive Identität hat Sternberger den treffenden Begriff des „Verfas­ sungspatriotismus“ geprägt (Verfassungspatriotismus, in: ders., Verfassungspatriotismus, 1990, S. 17 ff.). Zu dieser Form nationaler Identität auch Parekh, Integrating Minorities in a Multicultural Society, in: Preuß / Requejo (Hrsg.), European Citizenship, Multiculturalism, and the State, 1998, S. 67 (83 ff.), Oberndörfer, Die offene Republik, 1991, S. 11, Peters, Öffentlicher Diskurs, Identität und das Problem demokratischer Legitimität, in: ders., Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, S. 322 (336 f.) sowie Buchheim, Das Prinzip ‚Nation‘ und der neuzeitliche Verfassungsstaat, in: ZfP 1995, S. 60 (64 f.). Zum europäischen Verfassungspatriotismus: Habermas (Fn. 576), S. 24 f.; (zumindest gegenwärtig) zurückhaltend Augustin (Fn. 351), S. 181 ff.; skeptisch auch Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, in: AöR 2003, S. 512 (554): „Verfassungspathos wird das europäische Legitimationsproblem nicht lösen können.“ Generell kritisch gegenüber dem Konzept vom Verfassungspatriotismus Isensee (Fn. 140), S. 59 sowie Mäder, Vom Wesen der Souveränität, 2007, S. 27. 598 In diesem Sinn hält Müller (Fn. 584), S. 35 einen identitätsstiftenden europäischen Verfassungspatriotismus für durchaus denkbar. In diese Richtung auch Manz (Fn. 476), S. 205; ferner Giegerich (Fn. 506), S. 936 f. sowie Merkel (Fn. 587), S. 27 (29 f.). 599 Vgl. auch Pernice (Fn. 520), Rn. 55.

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cc) Kommunikationstheoretisch reformuliert und kritisiert: Die vom individuumszentrierten Demokratieverständnis behauptete Abhängigkeit demokratischer Kollektividentität vom nationalstaatlichen Verwirklichungsrahmen Soweit in individuumszentrierter Perspektive argumentiert wird, dass sich überstaatlich noch keine für die Funktionsfähigkeit von Demokratie unerlässliche kollektive Identität ausgebildet habe, so wird damit, kommunikationstheoretisch gewendet, zum Ausdruck gebracht, dass die überstaatlichen Kommunikations­ prozesse und die damit einhergehenden Prozesse sozialer Integration noch nicht zu einer lebensweltlichen Überformung nationaler Identität durch eine ergänzende transnationale Identität geführt hätten600. Es wird mit anderen Worten behauptet, dass es – jedenfalls gegenwärtig – an fest gefügten transnationalen Identitäten fehle, die eine für den demokratischen Prozess hinreichende sozialpsychologische Basis bieten könnten. Zuzugestehen ist insofern, dass eine den nationalen Identitäten auch nur an­ nähernd vergleichbare kollektive Identität übernational nicht vorhanden ist601. Daraus unmittelbar den Schluss zu ziehen, mangels hinreichender sozialer Integration fehle es an den Realvoraussetzungen demokratischer Volkswerdung, heißt jedoch, den hochdynamischen Charakter kollektiver Identität zu verkennen. Eben weil sich kollektive Identität gleichermaßen als Voraussetzung und Ergebnis gelungener Reproduktion von Lebenswelt darstellt, kann es überhaupt nicht sein, dass dort, wo neue Situationen erstmals an die Lebenswelt angeschlossen werden, bereits dasselbe Maß an kollektiver Identität erzeugt wird wie dort, wo die Verständigungsprozesse vor dem Hintergrund gefundener und bewährter Gemeinsamkeit ablaufen602. Ein lokalpatriotisches Beispiel hierfür sind die Abstimmungen über den Südweststaat603, die im Kleinen belegen, was auch im Großen gilt: Im Prozess der Volkswerdung steht die in sich ruhende kollektive Identität der Volksangehörigen regelmäßig erst am Ende der identitätsbildenden Verständigungsprozesse; zu Anfang ist sie nur in nuce vorhanden604. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es daher als überzogen, wenn pauschal behauptet wird, überstaatlich habe sich die für eine funktionsfähige Demokratie unerlässliche kollektive Identität noch längst nicht ausgebildet. Andererseits ist freilich auch nicht verbürgt, dass die gegenwärtig tatsächlich noch hochgra 600 In diesem Sinn etwa Scharpf, Die europäische Verfassungsdiskussion vor einem Dilemma (Fn. 559), S. 458. 601 Dazu empirisch Peters, Segmentierte Europäisierung, in: ders., Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, S. 298 (316 f.). 602 Vgl. hierzu auch Schmidtke (Fn.  451), S.  173 ff., der deutlich macht, dass es auf eine Enthistorisierung und Ontologisierung des Nationalstaats hinausläuft, wenn behauptet wird, Demokratie lasse sich gegenwärtig überhaupt nur im nationalen Rahmen realisieren. 603 Dazu etwa Weber / Wehling, Vielfalt als Bedingung, in: bwWoche vom 23.04.2007, S. 24. 604 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Zippelius / Würtenberger (Fn. 150), § 14 II 1 (am Ende).

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dig labile kollektive Identität sich allmählich verfestigt. Dies hängt vielmehr vom lebensweltlichen Gelingen der potenziell identitätsstiftenden Verständigungsprozesse ab605.

3. Ergebnis: Die kommunikationstheoretisch rekonstruierte Normalität demokratischer Volkswerdung Die demokratiezentrale Volkssouveränität basiert auf der Annahme, dass die gebietsgesellschaftlichen Willensbildungsprozesse unter bestimmten, nämlich demokratischen Organisationsbedingungen einen als demokratisch qualifizierbaren Volkswillen generieren können606. Bei wirklichkeitswissenschaftlicher, das heißt immer auch zur Normalität hin geöffneter Betrachtungsweise stellt sich die Frage, inwieweit beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen diese für das normative Konzept der Volkssouveränität so zentrale Prämisse von der empirischen Wirklichkeit gedeckt wird. Die notwendig sozialwissenschaftliche Antwort hierauf ist sinnvollerweise im Bereich der Kommunikationstheorie zu suchen607. Schließlich beruht die Annahme, dass Willensbildungsprozesse in einen demokratischen Volkswillen einmünden können, auf einer spezifischen Vorstellung vom Ablauf kommunikativer Prozesse. Vorausgesetzt wird insofern nämlich, dass es zwischen den Gliedern der Gesellschaft zu Verständigungen kommt, die letzten Endes hoheitliche Entscheidungen zu legitimieren vermögen, und dass ein vorgängiges Ein-Verständnis, also eine Vor-Verständigung608 darüber existiert, weshalb Einzelne auch das ihnen nachteilige Ergebnis derartiger Verständigungen und die darauf beruhenden hoheitlichen Entscheidungen hinnehmen sollen. Auf diese spezifische Vorstellung von Kommunikation in der Demokratie lässt sich insbesondere auch die kontroverse Diskussion um die sogenannten ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie zurückführen. Nicht von ungefähr gelangt sie zu dem insofern einhelligen Ergebnis, dass Demokratie realiter eine funktionierende, artikulationsfähige demokratische Öffentlichkeit sowie eine kollektive Identität der Volksglieder voraussetzt609. Nach allem sprechen somit durchgreifende Gründe dafür, dass die Normalität demokratischer Volkswerdung in ganz entscheidendem Maße von den real existierenden Kommunikationsverhältnissen abhängt610 und der kommunikationstheoretische Ansatz daher seine volle Berechtigung hat. 605

Dazu überzeugend Habermas (Fn. 499), S. 188 ff. Siehe oben Kapitel 6 III. = S. 327. 607 Siehe oben Kapitel 6 IV. 2. c) = S. 368. 608 Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S.  178 ff. spricht insofern von Konsens. 609 Siehe oben Kapitel 6 IV. 1. c) = S. 362. 610 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hart / Jarvis (Fn. 349), S. 86: „Democracy has been born on the wings of communication from its often undemocratic beginnings in ancient Greece.“ 606

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a) Zusammenfassende Analyse der Normalität demokratischer Volkswerdung Die Erwägungen, die für die spezifisch kommunikationstheoretische Rekonstruktion der Normalität demokratischer Volkswerdung ins Feld geführt wurden, legen es nahe, auch bei kommunikationstheoretischer Rekonstruktion selbst zwischen dem Aspekt der gelingenden Verständigung beziehungsweise der darauf basierenden demokratischen Öffentlichkeit einerseits sowie dem Gesichtspunkt der gelungenen Verständigung, mithin also der kollektiven Identität zu differenzieren.

aa) Normalität demokratischer Volkswerdung und demokratische Öffentlichkeit Damit im gesellschaftlichen Raum politische Verständigung greifen, demokratische Öffentlichkeit realiter verfangen und der Volkswerdungsprozess in dieser Hinsicht Normalität erlangen kann, müssen die relevanten Kommunikations­ prozesse zunächst an eine gemeinsame Lebenswelt rückgekoppelt sein. Diese wird freilich immer weniger von überkommenen, präreflexiven Traditionen, dafür immer stärker von den Ergebnissen der an diese Traditionen andockenden rationalen Diskurse geprägt. Die Normalität demokratischer Volkswerdung setzt in dieser Perspektive zweierlei voraus. Erstens müssen die noch vorhandenen Traditionsreste lebensweltpflegerisch gehegt und kultiviert werden, damit kommunikatives Handeln weiterhin an sie anschließen kann. Zweitens bedarf es solcher Verfahrensarrangements, die dem rationalen Diskurs förderlich sind. In Hinblick auf diesen zweiten Aspekt ist zu berücksichtigen, dass sich die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung, die die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität in ihrer Horizontaldimension prägen, tendenziell mit den Voraussetzungen eines rationalen, also unvermachteten und auf die Autorität des besseren Arguments gestützten Diskurses decken. Folglich vermag ein demokratisch verfasster Willensbildungsprozess schon seiner ganzen Struktur nach dazu beizutragen, dass Lebenswelt reproduziert und dadurch die Normalität demokratischer Volkswerdung gefestigt wird611. Soll durch gebietsuniversal gelingende Verständigung demokratische Öffentlichkeit entstehen und dadurch zur Normalität demokratischer Volkswerdung beigetragen werden, müssen des Weiteren die Kommunikationsinhalte hinreichend breit zirkulieren und ein hinreichend hohes diskursives Niveau erreicht werden. Dabei ist zu bedenken, dass sich der für die demokratische Volkswerdung in tatsächlicher Hinsicht konstitutive Kommunikationsfluss aus dem Ineinandergreifen 611 Vgl. Habermas (Fn.  499), S.  189 sowie ders., Die postnationale Konstellation, 1998, S. 117 ff.

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zahlloser örtlich und sachlich beschränkter Verständigungen, wie sie in zahllosen Teilöffentlichkeiten zustande kommen, speist. Seine Intensität und seine Qualität hängen vor diesem Hintergrund entscheidend davon ab, in welchem Umfang demokratisch (entscheidungs-)relevante Themen in den einzelnen Teilöffentlichkeiten rezipiert, diskursiv verarbeitet und in andere Teilöffentlichkeiten exportiert werden. Um die Normalität demokratischer Volkswerdung abzusichern, bedarf es folglich einer vielfältigen Medienlandschaft und eines pluralen Partei- und Verbandswesens, durch die die Kommunikationsinhalte aufmerksam aufgegriffen, argumentativ aufbereitet und weiträumig diffundiert werden. Zugleich muss verhindert werden, dass sich die einzelnen Teilöffentlichkeiten gegeneinander abschotten, wie dies etwa am Ende der Weimarer Republik im Verhältnis zwischen bürger­ licher und proletarischer Öffentlichkeit vielfach der Fall war612. Eine diesbezügliche Lebensweltpflege erweist sich als für die Normalität demokratischer Volkswerdung unabdingbar  – ebenso wie die Vermittlung diskursiver Fähigkeiten in Schule und Beruf. In nicht zu vernachlässigendem Umfang entlastend wirkt nun freilich auch insofern die vom demokratischen Modell selbst ausgehenden lebensweltwahrenden Impulse. So übt speziell das System magistratischer Repräsentation mit seinen periodisch wiederkehrenden Wahlen und durch seine tendenziell auf den Bürger­ dialog angewiesenen magistratischen Repräsentanten einen sanften Zwang dahingehend aus, dass sich die Gebietsgesellschaft samt ihrer Medien, Parteien und Assoziationen intensiver mit den entscheidungsrelevanten Themen beschäftigt613. Dieser institutionell angelegte Druck, sich zu verständigen, lastet auf der ganzen Gebietsgesellschaft und trägt tendenziell zum Austausch zwischen den einzelnen Teilöffentlichkeiten, mithin also zu deren Porösität bei. Die Institution Demokratie wirkt sich intensivierend auf die lebensweltlichen Kommunikationsprozesse aus und unterstützt damit die Normalität demokratischer Volkswerdung erheblich614. 612

Heller (Fn. 461), S. 431 und passim hat diese zunehmende Abschottung von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit in großer Klarsicht thematisiert. 613 Vgl. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1946, S. 54: „Das parlamentarische Regime lebt von der Diskussion (…) Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Pressbengel hervor, der debattierende Klub im Parlament ergänzt sich notwendig durch debattierende Klubs in den Salons und in den Kneipen, die Repräsentanten, die beständig an die Volksmeinung appellieren, berechtigen die Volksmeinung, in Petitionen ihre wirkliche Meinung zu sagen.“ Hierzu auch Beierwaltes (Fn. 234), S. 44 f. und Boewe (Fn. 234), S. 94. 614 In diese Richtung auch die Anmerkungen von Fromont, Europa und nationales Verfassungsrecht nach dem Maastricht-Urteil, in: JZ 1995, S.  800 (802) zum Maastricht-Urteil. Deutlich zurückhaltender Grimm, Vertrag oder Verfassung, in: ders. u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S. 9 (28): „Zwar besteht zwischen gesellschaftlichen Strukturen und politischen Institutionen kein einseitiges Abhängigkeits­ verhältnis. Institutionelle Vorgriffe können auch gesellschaftliche Entwicklungen anstoßen. Unter den gegebenen Bedingungen müssen dafür aber lange Entwicklungszeiträume veranschlagt werden. Der institutionelle Vorgriff darf deswegen nicht überdehnt werden.“

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Aber nicht nur die Intensität, auch die Qualität des für die Demokratie realiter vorauszusetzenden Kommunikationsflusses wird durch die normativ vorgegebenen und in diesem Sinne zu institutionalisierenden Demokratiestrukturen faktisch abgesichert. Denn, wie eben erwähnt, kongruieren die aus der normativen Zurechnungsregel der Volkssouveränität abgeleiteten staats- und gesellschaftsorganisatorischen Anforderungen an die demokratische Volkswerdung tendenziell mit den prozeduralen Bedingungen diskursiver Rationalität. Die so regulierten staatlichen und gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse verwirklichen daher in nicht unerheblichem Maße das für die Normalität demokratischer Volkswerdung erforder­ liche diskursive Niveau und bieten zugleich den Übungsraum, in dem die unerlässlichen diskursiven Fähigkeiten erlernt werden können.

bb) Normalität demokratischer Volkswerdung und kollektive Identität Was den Aspekt vorgängig gelungener Verständigung beziehungsweise kollektiver Identität anbelangt, so ist in kommunikationstheoretischer Hinsicht festzuhalten, dass darunter nichts Statisch-Einmaliges zu verstehen ist. Sie sind nie nur Voraussetzung, sondern immer auch Ergebnis kommunikativer Reproduktion von Lebenswelt allgemein und sozialer Integration im Besonderen. Aufgrund dieser ihnen innewohnenden Dynamik werden die Vorverständigungen und kollektiven Identitäten auch von jenem historischen Rationalisierungsprozess erfasst, der zur sukzessiven Ausdifferenzierung der Lebenswelt führt. Sie können unter den Bedingungen einer zunehmend ausdifferenzierten Lebenswelt nur in dem Maße sozial integrierend wirken, in dem sie sich von konkreten Lebensformen ablösen und stattdessen sukzessive die Gestalt von – im Prozess von Kritik und Antikritik gewonnenen – gemeinsamen Grundsatzüberzeugungen annehmen615. Die Normalität demokratischer Volkswerdung, die ohne die sozial integrativ wirkenden Vorverständigungen beziehungsweise kollektiven Identitäten nicht zu denken ist616, hängt in kommunikationstheoretischer Perspektive folglich davon ab, inwieweit es gelingt, durch Reflexion der an sozialer Bindungskraft verlierenden traditio­nalen Weltverständnisse zu deren Fortschreibung beizutragen und dadurch dis­kursiv fortwährend von Neuem Vorverständigung beziehungsweise kollektive Identität zu (re-)produzieren617. Insoweit gilt, was bereits bei der Normalitätsvoraussetzung demokratischer Öffentlichkeit in Hinblick auf die lebensweltliche Rückkoppelung ausgeführt wurde: Um der Normalität demokratischer Volkswerdung willen müssen zum einen die vorhandenen Traditionen gepflegt werden, damit deren diskursive Fortschreibung überhaupt einen Ansatzpunkt hat. Zum anderen bedarf es entsprechender Ver­ fahrensarrangements, im Rahmen derer der rationale Diskurs Platz greifen kann. 615

So etwa Schwaabe (Fn. 588), S. 429 ff. In diesem Sinne auch Gusy (Fn. 442), S. 279. 617 Eher skeptisch Volkmann, Setzt Demokratie den Staat voraus?, AöR 2002, S. 575 (602 ff.).

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Diesem zweiten Erfordernis tragen freilich schon die für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität prägenden staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung tendenziell Rechnung. Pointiert formuliert, meint dies, dass demokratische Herrschaftsverbände zwar realiter in besonderem Maße auf die Vorverständigung beziehungsweise kollektive Identität ihrer Verbandsglieder angewiesen sind; zugleich aber entbinden die für sie charakteristischen demokratischen Willensbildungsverfahren in hohem Maße jene diskursive Verständigung, die im Kontext der zeitgenössischen, hochgradig rationalisierten Lebenswelt nicht zuletzt für die soziale Integration und damit für die Aus­prägung von auf Vorverständigung basierenden Kollektividentitäten eminent bedeutsam ist618.

b) Zusammenfassende Analyse der möglichen Störungen demokratischer Volkswerdung Dass die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität in ihrer Horizontaldimension mit den lebensweltlichen Voraussetzungen dauerhafter demokratischer Volkswerdung tendenziell kongruiert, relativiert jene kultur- und demokratiepessimistische These619, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Andererseits darf diese an sich optimistisch stimmende Ausgangsposition nicht darüber hinwegtäuschen, dass die demokratische Volkswerdung auch in der kommunikationstheoretisch rekonstruierten Normalität keineswegs als Selbstläufer anzusehen ist. Vielmehr erweist sie sich als störungsanfällig, wobei sich das Störungspotenzial auch in kommunikationstheoretischer Perspektive mit den Ambivalenzen des Globalisierungsprozesses in Zusammenhang bringen lässt. Und ebenso wie eine gelingende Demokratie ihre eigenen lebensweltlichen Voraussetzungen nachhaltig bewirtschaftet, zehrt eine misslingende Demokratie sie allmählich auf. Werden die dem normativen Demokratiemodell eingeschriebenen Formen diskursiver Willensbildung nur halbherzig umgesetzt, die flankierende Lebensweltpflege vernachlässigt, drohen vorhandene Vorverständigungen, mithin also bestehende kollektive Identitäten in eine Vielzahl konkurrierender Teilkonsense und Gruppenidentitäten zu zersplittern. Der Koordinationsbedarf in den globalisierten und daher beständig komplexer werdenden Gesellschaften muss dann zunehmend 618 Dazu eindringlich Habermas, Der europäische Nationalstaat – Zur Vergangenheit und Zukunft von Souveränität und Staatsbürgerschaft, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 128 (142). In diese Richtung bereits Kelsen (Fn. 423), S. 23. Ferner Fisahn (Fn. 301), S. 143 f. Auch Bauböck, Citizenship and National Identities, in: Antalovsky / Melchior / Puntscher Riekmann (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, 297 (324 f.) räumt dies ein, wenngleich er – zutreffend – festhält, dass allein die Einbindung in demokratische Freiheits- und Teilhabestrukturen noch nicht nachhaltig zur politischen Integration beizutragen vermag. 619 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

über die Steuerungsmedien Geld und Macht gedeckt werden. In dem Maße aber, in dem die Systemintegration die kommunikativ vermittelte Sozialintegration substituiert, erodieren wiederum die lebensweltlichen Voraussetzungen von Demokratie620. Darin liegt, kommunikationstheoretisch reformuliert, die soziale Ambivalenz der Globalisierung621. Des Weiteren können die rapide zunehmenden Kommunikationsbeziehungen nur noch systemisch verarbeitet werden, wenn der von der Institution Demokratie an sich ausgehende sanfte Zwang zur Verständigung nachlässt, die lebensweltpflegerischen Bemühungen um eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit zurückgehen. Auch dies trägt zur Kolonisierung der Lebenswelt im Zeichen von Geld und Macht, zur Erosion der lebensweltlichen Demokratievoraussetzungen bei. Dies macht die spezifisch kommunikative Ambivalenz der Globalisierung aus622. Die politische Ambivalenz der Globalisierung623 schließlich spiegelt sich, kommunikationstheoretisch betrachtet, darin wider, dass sich im Zuge der Systemintegration autoritäre, wirtschaftshörige Herrschaftsformen etablieren, wenn es nicht gelingt, die durch den Globalisierungsprozess hervorgerufenen Problemlagen an die lebensweltlich verankerten demokratischen Diskurse rückzukoppeln. Auch in dieser Hinsicht führen Dysfunktionen der Demokratie dazu, dass deren lebensweltliche Voraussetzungen zerfallen.

c) Zusammenfassende Überlegung zur Normalität demokratischer Volkswerdung auf europäischer Ebene In der hier zusammenfassend skizzierten kommunikationstheoretischen Perspektive stehen der demokratischen Unionsvolkswerdung – mag sich diese dezentriert oder zentriert Bahn brechen624 – normaliter keine unüberwindbaren Hindernisse entgegen625. Im Kontext einer zunehmend rationalisierten Lebenswelt kann sich mosaikartig aus zahlreichen Teildiskursen heraus eine demokratische Öffentlichkeit ausbilden626; neben die nationalen Identitäten können im Zuge entspre 620 Eindrücklich Mahnkopf, Probleme der Demokratie unter den Bedingungen ökonomischer Globalisierung und ökologischer Restriktionen, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 55 (68 f.). 621 Zu dieser siehe auch schon oben Kapitel 1 II. 1. a) = S. 100. 622 Hierzu bereits oben Kapitel 1 II. 1. b) = S. 103. 623 Dazu auch schon oben Kapitel 1 II. 1. c) = S. 104. 624 Dazu näher unten Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. 625 So auch Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, in: EuR 2001, S. 809 (816 f.). 626 Speziell in Bezug auf die Europäische Union Kettner / Schneider, Öffentlichkeit und entgrenzter politischer Handlungsraum, in: Brunkhorst / Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, 2000, S.  369 (388 f.), Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre, 2002, 56 f. und Kaelble (Fn. 591), S. 211; in diese Richtung fernerhin Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (589).

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chender Verständigungsprozesse transnationale Identitäten treten627. Dazu tragen zum einen hinreichend effektive europäische Demokratiestrukturen bei628. Denn diese befördern aufgrund des ihnen innewohnenden sanften Zwangs zum rationalen Diskurs gleichermaßen die Entstehung demokratischer Öffentlichkeit629 wie die transnationale Identitätsstiftung630. Zum anderen müssen auf europäischer Ebene aber auch die lebensweltlichen Voraussetzungen demokratischer Volks­ werdung vorgehalten und gepflegt werden631. Die konsequente Erhaltung, Erfindung und Erneuerung einer europäischen Kultur632, insbesondere einer politischen europäischen Kultur samt der diesbezüglichen Infrastruktur, erweist sich für die Normalität demokratischer Volkswerdung auf Unionsebene als unabdingbar. Nachhaltig gestört wird diese, wenn und soweit europäische Politik sich auf den zweckrationalen Nachvollzug ökonomisch motivierter Konzepte beschränkt. In diesem Fall nämlich wird das Koordinationspotenzial kommunikativen Handelns wegen des Rückgriffs auf die Steuerungsmedien Macht und Geld nur mehr in beschränktem Maße nachgefragt. Unter diesen Umständen aber können die für die demokratische Volkswerdung elementaren Kommunikationsströme nicht die demokratisch notwendige Fließgeschwindigkeit erreichen. Ob sich derartige Störungen demokratischer Volkswerdung gegebenenfalls durch eine Renationalisierung von Politik beheben lassen, erscheint freilich seinerseits als überaus fraglich. Zwar mag es im nationalen Kontext einfacher sein, den politischen Prozess an die lebensweltliche Kommunikation rückzukoppeln. Doch wenig bis nichts ist erreicht, wenn sich national die globalen Probleme nicht bewältigen lassen. Denn in diesem Fall bleibt es dabei, dass diplomatische Macht 627 Speziell in Bezug auf die Europäische Union Kaelble (Fn. 591), S. 210; Weiler, European Citizenship: The Selling of the European Union, in: Antalovsky / Melchior / Puntscher Riekmann (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, 266 (286). 628 Lübbe-Wolff (Fn. 92), S. 263 f.; Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, in: EuR 2001, S. 809 (814 ff.). 629 Dass die Herausbildung einer relevanten Öffentlichkeit auf der EU-Ebene eben nicht nur durch sprachliche und kulturelle Differenzen, sondern auch durch publizitätsmindernde Faktoren dieser Politikprozesse selbst behindert wird, betonen zutreffend Kettner / Schneider (Fn. 626), S. 387. 630 Zu ‚identitätserweiternden Demokratiestrukturen‘ auch Zürn (Fn.  33), S.  30 ff.; ferner Schwaabe (Fn. 588), S. 441 f. 631 Siehe dazu zum Beispiel Steiger (Fn. 544), S. 352: „Zugespitzt kann man sagen, die Prinzipien der Souveränität wie der Nation waren unter dem Gesichtspunkt der aktiven politischen Integration gerade antieuropäisch und sind es noch. Das schließt nicht aus, daß in Europa stets eine passive Integration religiöser, kultureller, wissenschaftlicher, philosophischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art stattfand und sich stets erneuerte. Heute ermöglicht gerade dies die Bildung der voranschreitenden politisch-aktiven Integration, weil damit grundlegende inhaltliche Homogenität begründet wurde.“ 632 Dass dies möglich ist, betont Deringer, Kulturhoheit der Länder und Europäische Union, in: Lerche / Mestmäcker (Hrsg.), Festschrift für Kreile, 1994, S.  135 (151) gegen Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland (Fn.  440), S. 71.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

spiele und im Übrigen ökonomisches Kalkül die Problemlösungsstrategien bestimmen. Insofern droht auch die im nationalen Zusammenhang derzeit noch vergleichsweise intakte Lebenswelt vom politischen und ökonomischen System her kolonialisiert zu werden und langfristig zu erodieren633. Vor diesem Hintergrund sprechen kommunikationstheoretisch durchgreifende Gründe dafür, dass die Normalität demokratischer Volkswerdung nicht nur auf europäischer, sondern damit zusammenhängend auch auf nationaler Ebene entscheidend davon abhängt, ob es der EU gelingt, die entstehungsgeschichtlich bedingte Marktzentrierung hinter sich zu lassen und sich in ausreichendem Maße demokratie- wie auch kulturstaatliche Wesenszüge anzuverwandeln634.

V. Volkssouveränität als Erzeugung eines definiten Niveaus demokratischer Legitimation Wie im Verlauf dieses Kapitels sorgsam dargelegt, lässt sich die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität in zwei Vertikaldimensionen, nämlich als fortwährend legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang635 und als dauerhafter Prozess demokratischer Legitimation636, sowie in der Horizontaldimension einer staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvollen demokratischen Volkswerdung637 entfalten. Hinzu tritt – als Tiefendimension – die Normalität demokratischer Volkswerdung, ohne die sich die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich nicht begreifen lässt638. In diesen vier Dimensionen639 wird dazu beigetragen, dass in Hinblick auf einen Hoheitsakt ein bestimmtes Maß an demokratischer Zurechenbarkeit und damit an demokratischer Legitimation realisiert wird. Das bezüglich eines Hoheitsakts erreichte spezifische Maß an demokratischer Zurechenbarkeit lässt sich als sein demokra­tisches Legitimationsniveau bezeichnen640. Volkssouveränität nimmt in dieser wirklichkeitswissenschaftlich informierten Perspektive als Erzeugung eines definiten Niveaus demokratischer Legitimation Gestalt an641. 633 Dazu auch Saage, Liberale Demokratie, in: ders., Elemente einer politischen Ideen­ geschichte der Demokratie, 2007, S. 300 ff. 634 In diese Richtung auch Häberle (Fn. 550), S. 176. Allgemein für die – auch hier eingenommene – mittlere Position in der Homogenitätsdiskussion Saage, Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht, in: ders., Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie, 2007, S. 232 (246 f.). 635 Siehe oben Kapitel 6 I. = S. 252. 636 Siehe oben Kapitel 6 II. = S. 316. 637 Siehe oben Kapitel 6 III. = S. 327. 638 Siehe oben Kapitel 6 IV. = S. 353. 639 Demgegenüber fächert Morlok (Fn. 32), S. 565 ff. die Volkssouveränität in drei Dimensionen auf, nämlich in eine sachliche, eine personelle sowie eine zeitliche Dimension. 640 Vgl. dazu eingehend Jestaedt (Fn. 16), S. 285 ff. 641 Hierzu auch Holzmann (Fn. 105), S. 78 f.

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Der Begriff des Legitimationsniveaus muss dabei strikt von dem bereits angesprochenen Terminus des Legitimationsmodus642 unterschieden werden. Damit ist eine spezifische Ausgestaltung von Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang gemeint, aufgrund dessen in bestimmter Art und Weise, nämlich durch ein spezifisches Zusammenspiel personeller und materieller Legitimationsbeiträge zur Erzeugung des Legitimationsniveaus beigetragen wird. Der Begriff des demokratischen Legitimationsniveaus ist in­ sofern erheblich weiter gefasst als der des Legitimationsmodus, denn er bezieht sich nicht nur auf die erste Vertikaldimension von Volkssouveränität, sondern auf alle ihre Dimensionen. Im Folgenden soll nun im Einzelnen dargelegt werden, wie in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt ein definites Niveau demokratischer Legitimation erzeugt wird. Es liegt dabei auf der Hand, dass sich das betreffende Legitimationsniveau letztlich erst aus der Zusammenschau aller vier Dimensionen von Volks­souveränität präzisieren lässt. Im Zuge einer schrittweisen Analyse wird nachstehend freilich zunächst separat für jede der vier Dimensionen von Volkssouveränität gesondert analysiert, inwieweit insofern zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus beigetragen wird. Erst nach dieser ausführlichen Vorklärung soll zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus generell Stellung genommen werden.

1. Die Dimension des fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs In seiner Dimension als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang begreift sich Volkssouveränität als Zurechnung durch grundsätzlich exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation643, wobei diese sich aufgrund mitunter vielfach vermittelter personeller beziehungsweise materieller Legitimationsbeiträge Bahn bricht644 und im Übrigen insoweit gestört sein kann, als sie durch revisionäre Legitimationszusammenhänge vermittelt wird645. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Schluss auf, dass das in dieser Dimension in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt verwirklichte Niveau demokratischer Legitimation von insgesamt drei Variablen abhängt, nämlich erstens vom Ausmaß der Exklusivität beziehungsweise Perpetualität demokratischer Legitimation, zweitens vom Grad demokratischer Abgeleitetheit und drittens vom Umfang revisionärer Störungsanfälligkeit. Dabei sei schon an dieser einleitenden Stelle darauf hingewiesen, dass die drei genannten Faktoren das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts zwar gemeinsam, 642

Zu diesem oben Kapitel 6 I. 2. c) = S. 303 und Kapitel 6 I. 3. b) = S. 309. Siehe oben Kapitel 6 I. 1. = S. 253. 644 Oben Kapitel 6 I. 2. = S. S. 281. 645 Oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

aber keineswegs in gleichem Maße determinieren. Vielmehr wird das Legitima­ tionsniveau eines Hoheitsakts ungleich stärker durch das Ausmaß der Exklusivität beziehungsweise Perpetualität demokratischer Legitimation geprägt als durch den Grad demokratischer Abgeleitetheit646, wohingegen diesem wiederum größere Bedeutung für das Niveau demokratischer Legitimation zukommt als dem Umfang revisionärer Störungsanfälligkeit647.

a) Legitimationsniveau und Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation In der Dimension von Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang hängt das in Hinblick auf einzelne Hoheitsakte erreichte demokratische Legitimationsniveau zunächst und zuvörderst davon ab, inwieweit gerade das legitimationsstiftende Volk einen Hoheitsakt dauerhaft zu bestimmen vermag. Das insofern maßgebliche Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation setzt sich aus dem Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation sowie dem Ausmaß der Exklusivität sowie Perpetualität revisionärer Legitimation zusammen.

aa) Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation Das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation wird dadurch bestimmt, in welchem Umfang der demos unmittelbar oder mittelbar über den Erlass des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts (mit-)entscheidet. Je stärker demokratisch nicht rückgebundene private Entscheidungsträger oder aber andere Völker, die weder als Unter- noch als Obervolk des betreffenden demos qualifizierbar sind, an der Genese einzelner Hoheitsakte mitwirken, desto geringer fällt das diesbezüglich verwirklichte Maß an demokratischer Zurechenbarkeit aus. Denn Volkssouveränität nimmt vollumfänglich nur dort Strukturgestalt an, wo Hoheitsakten eine ex­ klusive, nicht bloß partizipative dezisionäre Legitimation648 zuwächst. Dementsprechend erweist sich das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation etwa dann als verringert, wenn das Volk seine Dezisionsmacht nur im Konsens mit anderen volksfremden Entscheidungsträgern ausüben kann649. Das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation verhält sich in diesem Fall umgekehrt proportional zur Zahl der im Konsensverfahren mitentscheidungsbefugten Entscheidungsträger. 646

Dazu näher unten Kapitel 6 V. 1. b) aa) = S. 406. Dazu unten Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 648 Zur partizipativen dezisionären Legitimation vgl. oben Kapitel 6 I. 3. c) = S. 312. 649 Diese Situation ist etwa beim Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags gegeben (dazu näher unten Kapitel 10 III. 2. b) = S. 788). 647

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Unterliegt die nur anteilig vom Volk beziehungsweise von seinen Organen getroffene Erlassentscheidung dem Mehrheitsprinzip, so hat dies zur Konsequenz, dass die dezisionäre Legitimation theoretisch sogar ganz entfallen kann650. Dies ist der Fall, wenn das Volk bei der Erlassentscheidung von den anderen volksfremden Entscheidungsträgern überstimmt wird. Ist die – ohnedies allenfalls partizipative – dezisionäre Legitimation bei einer derartigen Mehrheitsentscheidung auf Null reduziert, so prägt dies den betreffenden Hoheitsakt  – anders als beim durch das Majoritätsprinzip bedingten Ausfall partizipativ-okkasioneller revisionärer Legitimation651 – auch durchaus dauerhaft. Schließlich vermag dezisionäre Legitimation nur punktuell im Erlasszeitpunkt bewirkt zu werden652, sodass der Mangel an dezisionärer Legitimation den einmal erlassenen Hoheitsakt zeit seiner Existenz bestimmen wird. Dieser Sichtweise lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass der betreffende Hoheitsakt unter anderen Vorzeichen mit Willen des Volks hätte ergehen und ihm insofern zumindest eine partizipative dezisionäre Legitimation hätte zuwachsen können. Denn dass dies virtualiter möglich gewesen wäre, ändert nichts daran, dass es realiter an einer solchen dezisionären Rückbindung an den Volkswillen fehlt. Auch der Umstand, dass das Volk in Zukunft möglicherweise die entscheidungsrelevante Mehrheit von seiner Auffassung überzeugen oder aber sich selbst dem Mehrheitswillen anschließen wird, hat Bedeutung lediglich in Hinblick auf seine sogleich noch zu besprechende revisionäre, nicht aber für seine dezisionäre Legitimation. Es bleibt also dabei, dass bei Geltung des Mehrheitsprinzips die dezisionäre Legitimation und damit selbstverständlich auch das Ausmaß ihrer Exklusi­vität auf Null reduziert sein kann653.

bb) Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation Das demokratische Legitimationsniveau eines Hoheitsakts hängt fernerhin davon ab, inwieweit dieser auch in revisionärer Hinsicht ausschließlich und zudem immerwährend an den Volkswillen rückgebunden ist. Denn schließlich soll der legitimationsvermittelnde Ableitungszusammenhang ein fortdauernder, die ex­ klusive Legitimation zugleich eine perpetuelle sein. Das in Hinblick auf einen 650 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass den fraglichen Erlassentscheidungen in den praktisch relevanten Fällen immer noch ein gewisses (Rest-)Maß an dezisionärer Legitimation zuwachsen wird, und zwar aufgrund von für die Mehrheit unverfügbaren materiellen Direktiven. Fasst beispielsweise eine internationale Organisation Beschlüsse nur mit Mehrheit und kann daher ein einzelnes Mitglied auch überstimmt werden (vgl. Seidl-Hohenveldern / Loibl, Das Recht der internationalen Organisationen, 7. Aufl. 2000, Rn. 1127 ff.), so bleibt die Mehrheit doch immer an den Gründungsvertrag gebunden, dem auch die im konkreten Fall überstimmte Minderheit seinerzeit zugestimmt hat (siehe ebd., Rn. 0401). 651 Zu dieser siehe oben Kapitel 6 I. 1. b) = S. 255. 652 Siehe unten Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257. 653 Siehe dazu auch unten Kapitel 11 I. 3. c) aa) (3) = S. 892.

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Hoheitsakt realisierte Niveau demokratischer Legitimation bestimmt sich demnach immer auch nach dem Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisio­ närer Legitimation. Dabei erscheint es im Rahmen demokratietheoretischer Modellbildung als zweckmäßig, die Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation von vorneherein in einer Hinsicht kontrafaktisch zu vereinfachen: Unter gewissen engen Voraussetzungen sollen die Implikationen ausgeblendet bleiben, die es für das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation hat, wenn ein Träger demokratischer Revisionsgewalt bestimmte Änderungen der durch den Hoheitsakt geschaffenen Rechtslage nur erreichen kann, sofern ein oder mehrere an seiner Revisionsbefugnis unbeteiligte Staaten in die betreffenden Änderung einwilligen. Diese kontrafaktische Vereinfachung soll in den (Ausnahme-)Konstellationen zum Tragen kommen, in denen der legitimationsbedürftige Hoheitsakt nicht auch schon in dezisionärer Hinsicht an die fraglichen Staaten rückgebunden ist, die an der auf ihn bezogenen Revi­sionsmacht partizipieren. Nachstehend gilt es daher zunächst, die hiermit an­ gesprochene (Ausnahme-)Fallgestaltung näher zu veranschaulichen und die diesbezüglich vorgeschlagene modelltheoretische Simplifizierung zu begründen. Diese hilft freilich nur bedingt weiter. Es bleibt ein ausgesprochen anspruchsvolles Unterfangen, das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation für die Fälle zu rekonstruieren, in denen der demos den legitima­ tionsbedürftigen Hoheitsakt nur gemeinsam mit einem oder mehreren volksfremden Machtträgern revidieren kann. Die Rekonstruktion erweist sich zum einen deshalb als schwierig, weil die revisionäre Legitimation an sich erneuernde Nichtrevisionsentscheidungen anknüpft654 und diese, wenn dem legitimationsstiftenden Volk die Revisionsmacht nicht allein zusteht, bald mit, bald gegen seinen Willen getroffen werden. Schwierigkeiten ergeben sich zum anderen aber auch dann, wenn demos und volksfremde Machtträger in unterschiedlichen Verfahren und gegebenenfalls auch in unterschiedlichem Umfang auf den betreffenden Hoheitsakt zugreifen können, dieser folglich über mehr als einen revisionären Legitimationszusammenhang an die dem Volk nicht allein zustehende Revisionsmacht rück­ gebunden wird. Auf diese beiden Rekonstruktionsprobleme soll daher im Folgenden ebenfalls erläuternd eingegangen werden.

(1) Kontrafaktisch vereinfachte Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation Im Rahmen der modelltheoretischen Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation soll es nach dem eben Gesagten unter einer Voraussetzung unberücksichtigt bleiben, dass ein institutioneller 654

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257.

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Träger demokratischer Revisionsmacht bestimmte Änderungen der hoheitsrechtlich geschaffenen Rechtslage nur mit Zustimmung von (mindestens) einem an der Revisionsmacht unbeteiligten Staat erreichen kann. Dies soll dann der Fall sein, wenn die in Hinblick auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt getroffene Erlassentscheidung nicht auf den Willen auch dieses beziehungsweise dieser Staaten zurückführt. Um diese modelltheoretische Annahme zu begründen, muss nun zunächst klargestellt werden, welche Konstellationen vorliegen und angesprochen sind und inwieweit dadurch überhaupt das Ausmaß der Exklusivität und Perpe­ tualität revisionärer Legitimation tangiert sein kann. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich dann sinnvoll rechtfertigen, weshalb die in solchen Konstellationen fallweise zu beobachtenden Implikationen für das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation modelltheoretisch unberücksichtigt bleiben können. Zur Veranschaulichung wird vorliegend das vergleichsweise überschaubare Beispiel eines Bundesgesetzes gewählt, dessen Erlass weder der Zustimmung des Bundesrats bedarf noch durch völkerrechtsvertragliche Vorgaben determiniert ist. Als institutioneller Träger demokratischer Revisionsmacht lässt sich insofern problemlos der Bundestag identifizieren. Insbesondere ist der Bundestag in der Lage, grundsätzlich jede Änderung der durch das Bundesgesetz geschaffenen Rechtslage zu verfügen. Allerdings kommen auch Änderungen der Gesetzeslage in Betracht, die der Bundestag rechtmäßig nur herbeiführen kann, wenn ein oder mehrere an seiner Revisionsbefugnis unbeteiligte Staaten der betreffenden Änderung zu­stimmen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die betreffenden Gesetzesänderungen der Zustimmung des Bundesrats bedürfen655 oder aber mit völkerrechtsvertraglichen Verpflichtungen in Widerstreit stehen656. Dabei ist die erste der beiden Konstellationen vorliegend nicht weiter von Belang. Denn das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität wird dadurch, dass die Änderung eines Bundesgesetzes nur mit Zustimmung der Mehrheit der im Bundesrat vertretenen Gliedstaaten zustande kommen kann, von vornherein nicht tangiert. Schließlich ist die revisionäre Legitimation, die dem Bundesgesetz partiell über den Bundesrat zuwächst, Ausdruck derselben staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität, wie sie der Bundestag vermittelt657. Die zweite Konstellation 655 Vorliegend wird nicht verkannt, dass der Bundesrat ein Organ des Bundes und damit des Staats Bundesrepublik Deutschland ist. Allerdings ändert dieser Umstand nichts daran, dass im Bundesrat die Vertreter von Gliedstaaten vertreten sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich sehr wohl formulieren, dass der Bundestag im Hinblick auf zustimmungsbedürftige Abänderungen nicht zustimmungspflichtiger Bundesgesetze seine Revisionsmacht nur mit Zustimmung anderer Staaten abgeben kann. 656 Entsprechendes gilt für die Fälle, in denen die betreffenden Änderungen der bundesgesetzlich geschaffenen Rechtslage in den Kompetenzbereich der Länder fallen oder aber gegen primäres beziehungsweise sekundäres Gemeinschaftsrecht verstoßen. 657 Gleiches gilt für den Fall, dass Änderungen der durch das Bundesgesetz geschaffenen Rechtslage in den Kompetenzbereich der Länder fallen und daher – sieht man von der eher entlegenen Möglichkeit einer Verfassungsänderung oder Verfassungsneugebung ab – nur der­

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freilich ist ein Paradebeispiel dafür, dass ein ansonsten änderungsbefugtes Organ demokratischer Revisionsmacht bestimmte Änderungen der hoheitsrechtlich geschaffenen Rechtslage nur mit Zustimmung von mindestens einem anderen Staat bewirken kann und dies an sich das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation tangiert. Denn soweit die durch das Bundesgesetz geschaffene Rechtslage völkerrechtskonform nur dadurch abgeändert werden kann, dass ein völkerrechtlicher Vertrag aufgehoben oder modifiziert wird, wächst dem Bundesgesetz vom deutschen Volk eine nur partizipativ-okkasionelle revisionäre Legitimation zu658. Diese Verringerung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation soll nun allerdings nach dem hier vorgeschlagenen Rekonstruktionsschema ausgeblendet bleiben dürfen. Denn die Voraussetzung, die für eine solche kontrafaktische Vereinfachung oben aufgestellt wurde, wird in beiden geschilderten Konstellationen und mithin auch in der hier interessierenden erfüllt: Das Bundesgesetz ist dezisionär nicht an den beziehungsweise die anderen Staaten rückgebunden, denn es ist weder mit Zustimmung des Bundesrats zustande gekommen noch liegt ihm ein völkerrechtsvertraglicher Vertrag zugrunde. Dass sich die hier vorgeschlagene modelltheoretische Annahme somit durchaus veranschaulichen lässt und damit als praktisch relevant erweist, rechtfertigt sie freilich noch nicht, sondern erhöht im Gegenteil die Rechtfertigungslast. Für sie spricht indes folgende Erwägung: Beruht der legitimationsbedürftige Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht nicht auf dem Willen (zumindest) eines anderen Staates, so ist es zwar keineswegs ausgeschlossen, dass bestimmte Änderungen der hoheitsrechtlich geschaffenen Rechtslage nur mit dessen Willen rechtmäßig erreicht werden können. Um in dem gebildeten Beispiel zu bleiben: Selbst wenn der revisionsmächtige Bundestag die legitimationsbedürftigen Regelungen ohne Rücksicht auf völkerrechtsvertragliche Vorgaben und insoweit unabhängig von einem anderen Staat erlassen konnte, ist es ohne Weiteres denkbar, dass bestimmte Abänderungen der durch den Hoheitsakt geschaffenen Rechtslage nur mit

gestalt ins Werk gesetzt werden können, dass die einzelnen Gliedstaaten entsprechende landesgesetzliche Regelungen erlassen. Denn auch in diesem Fall ist der Revisionsverzicht Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität. Ob das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation auch insoweit nicht tangiert ist, als bestimmte Änderungen der bundesgesetzlich geschaffenen Rechtslage gemeinschaftsrechtswidrig sind und das Bundesgesetz insofern revisionär auch an die Gesamtheit der EU-Mitgliedstaaten rückgebunden ist, soll an dieser Stelle noch offen bleiben. Die Antwort auf diese Frage hängt nämlich davon ab, ob durch das Zusammenwirken der EU-Mitglied­ staaten im Rahmen der durch die europäischen Verträge geschaffenen Ordnung staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität generiert wird. Bejaht man dies, lässt die revisionäre Rückbindung von Bundesgesetzen auch an die europäischen Instanzen das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Rückbindung unberührt. Andernfalls ist im Hinblick auf die revisionäre Legitimation von einer Einbuße an Exklusivität und Perpetualität auszugehen. 658 Näher dazu unten Kapitel 10 III. 2. b) = S. 788.

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Zustimmung eines anderen Staates erreichbar sind, weil sie völkerrechtsvertraglich determinierte Regelungsgegenstände betreffen. Jedoch spricht eine vergleichsweise hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der institutionelle Träger demokratischer Revisionsmacht die Änderung ohne Zustimmung anderer Staaten erreichen kann, wenn auch schon der Erlass des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts unabhängig von ihrem Willen erfolgen konnte. Schließlich ist die Revisionsentscheidung sachlich auf die abzuändernde Be­ stimmung bezogen. Wenn indes der der abzuändernden Bestimmung zugrundeliegende Sachzusammenhang im Dezisionszeitpunkt in die alleinige Zuständigkeit des- oder derjenigen Staaten fällt, zu denen der institutionelle Träger der Revisionsmacht gehört, so wird dies im Regelfall auch für die darauf bezogene Abänderung gelten. Am hier zugrunde gelegten Beispiel veranschaulicht heißt dies: Konnte eine Bundesgesetz ohne Rücksicht auf sachlich einschlägige völkerrechtsvertragliche Vorgaben erlassen werden, so liegt es ungleich näher, dass die spätere Abänderung der bundesgesetzlich geschaffenen Sach- und Rechtslage ohne Rücksicht auf ausländische Staaten vorgenommen werden darf, als dass es dazu ihrer Mitherrschaftsmacht bedarf. Angesichts dieser Probabilitäten erscheint es im Rahmen demokratietheore­ tischer Modellbildung gerechtfertigt, wenn diejenigen legitimatorischen Implikationen kontrafaktisch ausgeblendet werden, die für das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation daraus erwachsen, dass ein institutioneller Träger demokratischer Revisionsmacht bestimmte Änderungen der durch Hoheitsakt geschaffenen Rechtslage nur mit Zustimmung (zumindest) eines anderen Staates erwirken kann – immer vorausgesetzt, dass der legitimationsbedürftige Hoheitsakt auch dezisionär nicht von diesem oder diesen anderen Staaten abhängt.

(2) Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation, wenn die Revisionsmacht dem Volk nicht allein zusteht Das in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation wird ersichtlich von zwei Faktoren bestimmt, die überdies miteinander verwoben sind. Insofern besteht ein klarer Unterschied zum Ausmaß exklusiver dezisionärer Legitimation, das sich, wie dargelegt659, umgekehrt proportional zum Umfang der (Mit-)Entscheidungsmacht volksfremder Entscheidungsträger verhält und insofern von einer einzigen Varia­ ble abhängt. Noch ohne größeren Aufwand lassen sich in diesem Zusammenhang diejenigen Fälle bewältigen, in denen einem Volk allein die fortwährende Revisionsmacht zu 659

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) aa) = S. 392.

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kommt. Denn insofern steht außer Frage, dass das in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation optimal ist. Nicht weiter problematisch sind ferner diejenigen Konstellationen, in denen ein Hoheitsakt überhaupt nicht revisionär legitimiert ist, weil er sich in der juristischen Sekunde nach seiner Ingeltungsetzung erledigt hat. Ein bereits erwähntes Beispiel hierfür ist der völkerrechtliche Verzicht660 auf Rechte der Staatsangehörigen661. In diesem Fall ist das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation schlichtweg auf Null reduziert. Als problematisch erweist sich die Bestimmung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation hingegen dann, wenn das Volk seine Revisionsmacht dergestalt mit anderen Entscheidungsträgern teilt, dass eine Revision nur im Konsens bewirkt werden kann. Insofern ist zweierlei zu berücksichtigen. Erstens kann selbst dann nicht von einer exklusiven revisionären Legitimation ausgegangen werden, wenn die (Unterlassungs-)Entscheidung, den Hoheitsakt nicht zu revidieren, allein noch vom demos getragen wird, die anderen Entscheidungsträger sich hingegen schon längst für eine Revision ausgesprochen haben. Eine exklusive revisionäre Legitimation kann nämlich nur dann unterstellt werden, wenn der demos die Entscheidung über das Ob und Wie der Revision nach eigenem freien Ermessen treffen kann662. Dies aber ist auch in der fraglichen Konstellation nicht der Fall. Zwar besitzt das Volk hinsichtlich der Revision eine Vetoposition. Dies zeigt jedoch gerade, dass die Revisionsmacht beschränkt ist, nämlich auf die Ausübung dieses Vetos. Solange indes der demos nicht auch allein darüber entscheiden kann, wie eine allfällige Revisionsentscheidung aus­sehen könnte, bleibt seine Revisionsmacht eine partizipative und kann, selbst wenn fallweise allein er die Nichtrevisionsentscheidung trägt, dem darüber legitimierten Hoheitsakt auch keine exklusive revisionäre Legitimation zuwachsen. Knapper formuliert: Revi­ sionäre Legitimation beruht auf der Unterlassung einer Revisionsentscheidung trotz Revisionsmacht; ist die Revisionsmacht keine exklusive, kann auch revi­ sionäre Legitimation keine exklusive, sondern allenfalls eine partizipative sein. Hinzu tritt zweitens, dass die revisionäre Legitimation okkasionell sogar ganz entfallen kann, wenn der demos eine Revision nur im Konsens mit anderen volksfremden Entscheidungsträgern zu bewirken vermag. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die (Unterlassungs-)Entscheidung, den Hoheitsakt nicht zu modifizieren, insofern auch gegen den erklärten Willen des demos erfolgen kann. Die revi­ sionäre Legitimation stiftende Nichtrevisionsentscheidung lässt sich dann nicht einmal partizipativ auf die Revisionsmacht des Volks zurückführen. Für das Ausmaß von Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation ergibt sich vor diesem doppelten Hintergrund, dass es sich je nach Situation, nämlich 660 Heintschel-v. Heinegg, Die weiteren Quellen des Völkerrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 18 Rn. 16 sowie Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 309 ff. 661 Schweisfurth (Fn. 36). 662 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) = S. 393.

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je nach dem, ob das Volk die Nichtrevisionsentscheidung mitträgt oder nicht, entweder nach der Zahl der Mitentscheidungsträger bestimmt oder aber auf Null reduziert ist. Diese situative Betrachtungsweise hat dort ihren Platz, wo es das einen konkreten Hoheitsakt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt prägende Niveau revisionärer demokratischer Legitimation zu bestimmen gilt. Daneben lässt sich aber auch eine generalisierende Betrachtungsweise ent­ wickeln. Eine solche will erstens dem Umstand gerecht werden, dass die revisionäre Legitimation ihrem Bewirkungsmodus nach repetitiv ist663, was bei der situativen Betrachtungsweise zu kurz kommt. Zweitens wird es überhaupt erst durch die generalisierende Betrachtungsweise möglich, das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation, das einen vom demos allein nicht revi­ dierbaren Hoheitsakt kennzeichnet, so zu bestimmen, dass es mit dem für andere Hoheitsakte prägenden Ausmaß allgemein und eben nicht bloß für einen willkürlich gewählten Zeitpunkt verglichen werden kann. Bei generalisierender Betrachtungsweise ist im Ausgangspunkt und als erster Näherungswert festzuhalten, dass Hoheitsakten, die das Volk nur im Zusammenwirken mit anderen Hoheitsträgern zu revidieren vermag, eine partizipativ-okkasionelle Legitimation zuwächst, die von ihrem legitimatorischen Potenzial her gewissermaßen auf halber Strecke zwischen einerseits einer exklusiv-perpetuellen revisionären Legitimation und andererseits dem vollständigen Ausfall revisionärer Legitimation zu verorten ist. Bei genauerer Analyse zeigt sich freilich rasch, dass durchaus zwischen solchen partizipativ-okkasionellen Legitimationsbeiträgen unterschieden werden kann, die der exklusiv-perpetuellen revisionären Legitimation sichtlich angenähert sind, und solchen, die in Richtung Legitimationsausfall tendieren. Als entscheidend erweist sich dabei, wie stark volksfremde Machtträger an der Revisionsmacht beteiligt sind. In Hinblick auf den Faktor der Exklusi­vität liegt dies auf der Hand: Die revisionäre Legitimation mutiert umso stärker von einer partizipativen zu einer annähernd exklusiven, je größer die revisionäre Teilmacht des demos ausfällt; im Gegenzug verdünnt sich die partizipative revi­sionäre Legitimation in dem Maße, in dem der demos seine Revisionsmacht mit anderen Machtträgern teilen muss. Diese Korrelation zwischen dem demokratischen Poten­zial revisionärer Legitimation und der Beteiligung volksfremder Machtträger an der Revisionsgewalt gilt nun freilich fernerhin auch für den Faktor der Perpetualität: Je größer der Einfluss des demos auf die repetierliche Nichtrevi­ sionsentscheidung ausfällt, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese mit dem Volkswillen kongruiert, und desto stärker nähert sich infolgedessen die okkasionelle revisionäre Legitimation der perpetuellen an; und je mehr (Mit-)Entscheidungsträger die Revisionsmacht innehaben, desto wahrscheinlicher ist, dass die repetitive Nichtrevisionsentscheidung mitunter auch gegen den Willen des Volks getroffen wird, und desto okkasioneller ist die revisionäre Legitimation.

663

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. b) = S. 405.

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Vor diesem Hintergrund lässt sich das Bild, wonach die partizpativ-okkasionelle Legitimation in Hinblick auf ihr demokratisches Potenzial auf halber Strecke zwischen exklusiv-perpetueller revisionärer Legitimation und dem Fehlen eines revisionären Legitimationsstrangs anzusiedeln ist, folgendermaßen konkretisieren: Eine in diesem Sinne halbwegs exklusiv-perpetuelle Rückanbindung an den Volkswillen ist dann gegeben, wenn sich das Volk und ein anderer Entscheidungsträger die Revisionsmacht exakt teilen. Soweit das Volk über mehr als fünfzig Prozent der Revisionsmacht verfügt, bewegt sich das Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation von einem bloßen Mittelmaß auf ein Optimum zu. Kommt dem demos weniger als fünfzig Prozent der Revisionsmacht zu, so tendiert das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation allmählich gegen Null. Besonderes ergibt sich, wenn die nicht allein vom Volk beziehungsweise nicht allein von dessen Organen getroffenen Nichtrevisionsentscheidungen überdies dem Mehrheitsprinzip unterliegen. Während das Majoritätsprinzip nämlich im Rahmen dezisionärer Legitimation dazu führen kann, dass diese auf Null reduziert ist664, so kann es sich in Hinblick auf die revisionäre Legitimation allenfalls demokratiefördernd auswirken. Dies gilt sowohl bei Zugrundelegung der situativen als auch auf der Basis der generalisierenden Betrachtungsweise665. Geht man zunächst von der situativen Betrachtungsweise aus, so hat das Mehrheitsprinzip zur Konsequenz, dass, wenn die Nichtrevisionsentscheidung im konkreten Fall vom Volk mitgetragen wird, das Ausmaß der Exklusivität revisionärer Legitimation umso größer ist, je kleiner die für eine Revisionsentscheidung vorauszusetzende Mehrheit sein darf. Trägt das Volk die Nichtrevisionsentscheidung in einer konkreten Situation hingegen nicht mit, so ändert die Geltung des Mehr-

664

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) aa) = S. 392. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich der Totalausfall dezisionärer Legitimation, der einen nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips ohne Billigung des Volks erlassenen Hoheitsakt kennzeichnet, auch nicht unter Rekurs auf eine generalisierende Betrachtungsweise relativieren lässt, wie sie in Hinblick auf den okkasionellen Totalausfall revisionärer Legitimation vorgeschlagen wurde und nachstehend weiter entwickelt wird. Zu erinnern ist nämlich, dass es im hiesigen Kontext darum geht, welches Maß an Volkssouveränität ein ganz bestimmter Hoheitsakt aufweist. Dabei bedarf es in Hinblick auf den revisionären Legitima­ tionsstrang für den Fall, dass das Volk nicht allein Träger der Revisionsmacht ist, deshalb einer generalisierenden Betrachtungsweise, weil unter diesen Bedingungen ein und derselbe Hoheitsakt zu bestimmten Zeiten eine immerhin partizipative revisionäre Legitimation aufweist, zu anderen indes überhaupt nicht revisionär legitimiert ist. Von diesen Legitimationsschwankungen wird im Rahmen der generalisierenden Betrachtungsweise abstrahiert, damit das für diesen ganz bestimmten Hoheitsakt realisierte Niveau revisionärer Legitimation allgemein bestimmt werden kann. Mangelt es freilich einem bestimmten Hoheitsakt an der auch nur parti­ zipativen dezisionären Legitimation, so ist dies kein passageres Phänomen, sondern kennzeichnet diesen Hoheitsakt, wie dargelegt, auf Dauer und damit allgemein. Für eine generalisierende Betrachtung, wie sie für den revisionären Legitimationsstrang angezeigt erscheint, gibt es infolgedessen keinen Anhaltspunkt. 665

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heitsprinzips nichts an den durch den Ausfall revisionärer Legitimation geprägten legitimatorischen Verhältnissen. Im Rahmen der generalisierenden Betrachtungsweise ist zu erinnern, dass das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation in dem Maße steigt, in dem das Volk die repetitive Nichtrevisionsentscheidung in modifizierender oder kassatorischer Richtung zu beeinflussen vermag. Dass die diesbezüg­ lichen Einflussmöglichkeiten bei Geltung des Mehrheitsprinzips größer sind als im Fall des Einstimmigkeitsprinzips, liegt dabei auf der Hand. Somit ist auch bei generalisierender Betrachtungsweise davon auszugehen, dass das Mehrheits­ prinzip, das zu einem Totalausfall dezisionärer Legitimation führen kann, immerhin den revisionären Legitimationszusammenhang stärkt.

(3) Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation, wenn sich die dem Volk nicht allein zustehende Revisionsmacht über mehr als einen revisionären Legitimationszusammenhang Bahn bricht Bereits an früherer Stelle ist dargelegt worden, dass sich die revisionäre von der dezisionären Legitimation unter anderem dadurch unterscheidet, dass ein und derselbe Hoheitsakt nicht nur von einem, sondern häufig von einer Mehrzahl revisionärer Legitimationszusammenhänge erfasst wird666. Dies hängt damit zusammen, dass der Hoheitsakt in einem ganz bestimmten Erlassverfahren in Geltung gesetzt wird, aber mitunter in mehreren, voneinander unabhängigen Verfahren auch wieder revidiert werden kann; denn hinsichtlich eines bestimmten Hoheitsakts existiert zwar nur ein institutioneller Träger demokratischer Dezisionsmacht, aber gegebenenfalls gleich mehrere institutionelle Träger demokratischer Revisionsmacht. Dieses Phänomen ist bislang freilich nur in Hinblick darauf entfaltet worden, dass verschiedene Organe beziehungsweise Organmehrheiten desselben demos in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt über unterschiedliche Revisionsbefugnisse verfügen und sich personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation einem Hoheitsakt infolgedessen über mehrere revisionäre Legitimationszusammenhänge mitteilen. Für die Frage nach dem Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation ist damit indes noch nichts gewonnen. Denn diese beantwortet sich nicht danach, wie unmittelbar ein Hoheitsakt an den Revisionswillen des einen legitimationsstiftenden Volks rückgebunden ist667, sondern danach, wie unumschränkt und dauerhaft dessen Revisionsmacht in An­ sehung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts ausfällt. Für die Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation kann es aber gleichwohl eine Rolle spielen, dass ein Hoheitsakt vielfach durch mehrere 666

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) cc) = S. 300. Dies ist eine Frage des Grads demokratischer Abgeleitetheit – dazu näher unten Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405. 667

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revisionäre Legitimationszusammenhänge an den Volkswillen rückgebunden ist. Dies soll im Folgenden näher dargetan werden. Von vornherein ohne Belang für das Ausmaß der Exklusivität und Perpetua­ lität revisionärer Legitimation ist eine allfällige Mehrheit revisionärer Legitima­ tionszusammenhänge allerdings dort, wo alle Revisionsmacht fortdauernd bei dem einen Volk liegt. Denn dann besteht, ungeachtet dessen, wie sich die revi­ sionäre Legitimation im Einzelnen Bahn bricht, jedenfalls ein Höchstmaß an exklusiv-perpetueller Legitimation. Es mögen mit anderen Worten unterschiedliche demokratische Organe oder Organmehrheiten unabhängig voneinander als institutionelle Träger demokratischer Revisionsmacht fungieren und insoweit unterschiedlich gewichtige personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge vermitteln; in Hinblick auf das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation indes gibt es keinen Grund, zwischen unterschiedlichen revisionären Legitimationszusammenhängen zu differenzieren, wenn ein Hoheitsakt revisionär ohne Abstriche in exklusiv-perpetueller Legitimation erwächst668. Eine allfällige Mehrheit revisionärer Legitimationszusammenhänge erweist sich für die Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation hingegen dann als beachtlich, wenn einem Hoheitsakt nicht schon von vornherein ein Maximum an exklusiv-perpetueller revisionärer Legitimation zuwächst. Dies ist dann und insoweit der Fall, als der demos ihm eingeräumte Revisionsbefugnisse zumindest teilweise nur im Zusammenwirken mit volksfremden Machtträgern ausüben kann. In dieser Konstellation nämlich ist es weder theoretisch noch praktisch auszuschließen, dass das Ausmaß der Exklusi­vität und Perpetualität unterschiedlich ausfällt – je nachdem, über welche von mehreren Revisionsbefugnissen sich die in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt bestehende Korevisionsmacht Bahn bricht. Bei einer derartigen Mehrheit revisionärer Legitimationszusammenhänge liegt es auf der Hand, dass sich das für den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt kennzeichnende Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation überhaupt nur durch eine Gesamtschau dieser verschiedenen revisionären Legitimationszusammenhänge bestimmen lässt. Für die insofern gebotene Gesamtschau genügt es, wenn man die diversen revisionären Legitimationszusammenhänge in vereinfachter Form rekonstruiert. Es ist lediglich darauf abzustellen, welche Revisionsbefugnisse in Hinblick auf 668 Von Letzterem ist nach der hier vorgeschlagenen modelltheoretischen Rekonstruktion mitunter auch dann auszugehen, wenn einzelne Änderungen der hoheitsrechtlich geschaffenen Sach- und Rechtslage nicht ohne Zustimmung eines anderen Staates bewirkt werden können und sich die revisionäre Legitimation in der Folge realiter zumindest teilweise als lediglich partizipativ-okkasionelle darstellt; Voraussetzung für diese kontrafaktische Annahme ist allerdings, dass der Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht exklusiv an das legitimationsstiftende Volk rückgebunden ist. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (1) = S. 394.

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einen Hoheitsakt bestehen und wie ausschließlich beziehungsweise dauerhaft ein Hoheits­akt im Rahmen der diversen Revisionsbefugnisse an die Korevisionsmacht des legitimationsbedürftigen Volks rückgebunden ist. Infolgedessen kann es auch unberücksichtigt bleiben, wenn das legitimationsstiftende Volk die ihm im Rahmen einer bestimmten Revisionsbefugnis zustehende Korevisionsmacht nicht einheitlich durch ein Organ, sondern fallabhängig durch unterschiedliche Organe beziehungsweise Organmehrheiten ausübt und es in dieser Hinsicht zu einer zusätzlichen Vermehrung der revisionären Legitimationszusammenhänge kommt. Einer derart detaillierten Rekonstruktion der revisionären Legitimationszusammenhänge bedarf es zur Bestimmung des in revisionärer Hinsicht erzeugten Grads demokratischer Abgeleitetheit, nicht aber, um das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation zu determinieren. Im Rahmen der Gesamtschau muss nun insbesondere beachtet werden, dass längst nicht alle diese revisionären Legitimationszusammenhänge eine umfassende Rückkoppelung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts bewirken. Denn bis­weilen werden die revisionsbefugten Entscheidungsträger und mit ihnen das korevisionsbefugte Volk durch materielle Direktiven beschränkt, kann die Revisionsbefugnis nur unter Beachtung vorrangigen Rechts ausgeübt werden, sodass durch einen Revisionsverzicht auch nur in beschränktem Maß zu revisionären Legitimation des betreffenden Hoheitsakts beigetragen werden. Bei der Gesamtschau der verschiedenen revisionären Legitimationszusammenhänge ist daher zweckmäßigerweise von demjenigen Legitimationszusammenhang auszugehen, der auf einer durch keinerlei materielle Direktive beschränkten Revisionsbefugnis beruht669. Denn nur ein solcher vermag den Hoheitsakt insgesamt an den revisionären Volkswillen rückzubinden. Folglich ist dieser Legitimationszusammenhang auch vorrangig zu analysieren, wenn das für den Hoheitsakt insgesamt prägende Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation ermittelt werden soll. Erst danach kommen die übrigen Legitimationszusammenhänge in den Blick. 669 Jedenfalls dann, wenn das korevisionsbefugte Volk ein souveränes ist und die mehreren revisionären Legitimationszusammenhänge in der Weise rekonstruiert werden, wie dies zur Bestimmung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation vorgeschlagen wurde, wird man durchweg davon ausgehen können, dass ein den Hoheitsakt insgesamt erfassender revisionärer Legitimationszusammenhang existiert. Unter diesen Voraussetzungen ist es nämlich zumindest infolge eines konsensuellen völkerrechtsvertraglichen Akts möglich, jede beliebige Änderung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts zu erwirken. Dieser wird insofern notwendig durch einen ihn materiell-direktiv uneingeschränkt erfassenden revisionären Legitimationszusammenhang rückgebunden. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich die dafür konstitutive Korevisionsmacht des legitimationsstiftenden Volks aus kompetenzrechtlichen Gründen bald über das eine Volksorgan, bald über ein anderes Bahn brechen mag. Denn dass der eine, materiell-direktiv uneingeschränkte revisionäre Legitimationszusammenhang hierdurch in mehrere, kompetenzrechtlich beschränkte Legitimations­ zusammenhänge zerfällt, darf aus den dargelegten Gründen bei der Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusvität und Perpetualität revisionärer Legitimation ausgeblendet bleiben. Dieser Umstand wird erst bei der Bestimmung des in revisionärer Hinsicht erzeugten Grads demo­ kratischer Abgeleitetheit bedeutsam werden.

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Sie tragen nur in mehr oder minder beschränktem Umfang zur revisionären Legitimation eines Hoheitsakts bei und bestimmen folglich auch das für einen Hoheitsakt prägende Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation in nur mehr oder minder eingeschränktem Maße mit. Diese Erwägungen lassen sich wie folgt präzisieren: Man nehme an, einem bestimmten Hoheitsakt wächst über denjenigen revisionären Legitimationszusammenhang, der ihn materiell-direktiv uneingeschränkt erfasst, ein mit x zu bezifferndes Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation zu. Zugleich wird dieser Hoheitsakt durch einen weiteren revisionären Legitimationszusammenhang an den Volkswillen rückgebunden, der seinerseits an eine materiell-direktiv beschränkte Revisionsbefugnis anschließt; darüber soll dem betreffenden Hoheitsakt ein mit y zu bezifferndes Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation zuwachsen. Geht man nun davon aus, dass y größer x ist, so hat dies zur Konsequenz, dass der Hoheitsakt insoweit durch ein höheres Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation geprägt ist, als der legitimationsstiftende Revisionsverzicht nicht nur über den materiell-direktiv unbeschränkten, sondern zugleich auch über den materiell-direktiv beschränkten revisionären Legitimationszusammenhang rückgebunden ist. Denn soweit der Hoheits­akt sowohl von dem einen als auch von dem anderen revisionären Legitimationszusammenhang erfasst wird, bestimmt sich das für ihn kennzeichnende Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation nur zum einen Teil nach x, zum anderen aber nach y670. Inwieweit nun dieses partielle Mehr an Demokratie das für den Hoheitsakt insgesamt charakteristische Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation mitprägt, hängt seinerseits davon ab, wie weit die Revisionsmacht reicht, auf der der revisionäre Legitimationszusammenhang beruht, der den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt nur materiell-direktiv eingeschränkt erfasst. Denn überall dort, wo die materielle Direktive der Ausübung der Revisionsmacht regelnd Grenzen setzt, bleibt Raum nur für den anderen, materiell-direktiv uneingeschränkten Legitimations­ zusammenhang.

670 Das genaue Teilungsverhältnis bestimmt sich dabei nach der jeweiligen Störungsanfälligkeit der betreffenden revisionären Legitimationsstränge. Zeichnen sich die revisionären Legitimationszusammenhänge, die einander überlagernd auf den Hoheitsakt zurückführen, durch eine unterschiedlich hohe Störungsanfälligkeit aus, so prägt vorwiegend der störungsunan­ fälligere das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation, das den fraglichen Hoheitsakt insoweit kennzeichnet, als es von beiden Legitimationszusammenhängen erfasst wird. Denn der störungsunanfälligere revisionäre Legitimationszusammenhang trägt sehr viel nachhaltiger dazu bei, dass der seinerzeit in Geltung gesetzte Hoheitsakt dauerhaft an den Volkswillen rückgebunden bleibt als der andere, störungsanfälligere. Da dieser die Nicht­ revision des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts nur gelegentlich an den Volkswillen rück­ bindet, prägt er das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation in geringerem Umfang als der störungsunanfälligere Legitimationsstrang.

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b) Legitimationsniveau und Grad demokratischer Abgeleitetheit Die Regelungsdimension von Volkssouveränität als Ableitungszusammenhang verdeutlicht ferner, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit eines bestimmten Hoheitsakts über sein Legitimationsniveau entscheidet. Ein Höchstmaß an Volkssouveränität ist nämlich nur bei denjenigen Hoheitsakten gegeben, über die unmittelbar das Volk selbst herrscht671. Denn hier schlägt sich der Volkswille, ohne durch den Eigenwillen intermediärer Organe gestört werden zu können, effektiv in der hoheitlichen Entscheidung über den Erlass eines Hoheitsakts beziehungsweise in der über den diesbezüglichen Revisionsverzicht nieder. Je mittelbarer und in­effektiver ein Hoheitsakt hingegen an die Dezisions- und Revisionsmacht des Volks rückgebunden ist, desto geringer droht das erreichte Maß an Volkssouveränität auszufallen672. Denn da es Menschen mit unterschiedlichen Partikular­ interessen und Gemeinwohlvorstellungen sind, die zur originären oder derivativen Vergegenwärtigung des Volkswillens673 in den von ihnen erlassenen beziehungsweise revidierbaren Hoheitsakten beitragen sollen, steigt mit zunehmender Vermittlung und abnehmender Effektivität demokratischer Legitimation, mithin also mit dem Grad demokratischer Abgeleitetheit die Gefahr, dass die Orientierung auf den Volkswillen hin gestört wird. Freilich gilt es gleich eingangs festzuhalten, dass es auf einer Regelvermutung beruht, wenn das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts, wie geschildert, auf dessen Grad demokratischer Abgeleitetheit relativiert wird. Denn selbstverständlich kommt es vor, dass auch ein nur sehr mittelbar und ineffektiv an den Volkswillen rückgebundener Hoheitsakt den Willen des Volks weitgehend authentisch widerspiegelt. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die legitimationsvermittelnden Instanzen aus außerrechtlichen Gründen von einem besonderen Geist demokra­tischer Moralität erfüllt sind674. Von der grundsätzlichen Tendenz her gesehen bleibt es indes dabei, dass eine authentische Vergegenwärtigung des Volkswillens umso unwahrscheinlicher wird, je mehr unterschiedliche Partikularinteressen im legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang wirksam werden können und je schwächer die institutionell-prozeduralen Arrangements sind, die die jeweils nachgeordnete legitimationsvermittelnde Instanz an die hierarchisch 671 Grundsätzlich anderer Auffassung Schmidt-Aßmann (Fn. 30), S. 360; zurückhaltend auch Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 1986, S. 174 f. 672 Vgl. nur Bröhmer (Fn. 223), S. 42; anderer Ansicht freilich Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 29 sowie Schmidt-Aßmann (Fn. 30), S. 360. 673 Zur originären respektive derivativen Vergegenwärtigung des Volkswillens durch magistratische Repräsentanten beziehungsweise sonstige Amtswalter vgl. oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285. 674 In diesem Zusammenhang sei an Rousseau (Fn. 111), S. 118 (Livre III / Chapitre IX) erinnert, der uns versichert, dass „les bornes du possible dans les choses morales sont moins étroites que nous ne pensons“.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

vorgesetzte rückbinden. Zum Zweck demokratietheoretischer Modellbildung kann daher durchaus an der Kernthese festgehalten werden, dass sich das demokratische Legitimationsniveau eines Hoheitsakts nach dem Grad seiner demokratischen Abgeleitetheit bemisst. Im Folgenden wird es nun darum gehen müssen, zu rekonstruieren, wie sich dieser Grad demokratischer Abgeleitetheit dogmatisch erfassen und bestimmen lässt. In Hinblick darauf, dass sich die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität unter den Bedingungen mittelbarer Demokratie als veritabler Fuchsbau darstellt675, liegt es auf der Hand, dass die dogmatische Rekonstruktion des Grads demokratischer Abgeleitetheit ein komplexes Unterfangen darstellt.

aa) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit und das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation Bevor freilich im Einzelnen auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit ein­ gegangen wird, ist zunächst nochmals herauszukehren, was an früherer Stelle bereits angedeutet wurde676, nämlich dass es in Hinblick auf das für einen bestimmten Hoheitsakt charakteristische Niveau demokratischer Legitimation ungleich schwerer ins Gewicht fällt, wenn sich das Ausmaß der Exklusivität und Perpe­ tualität demokratischer Legitimation verringert, als wenn der Grad demokratischer Abgeleitetheit steigt. Entscheidend hierfür ist, dass im erstgenannten Fall der partielle Demokratieverlust in jeder Hinsicht definitiv ist. Die demokratische Herrschaftsmacht ist von vornherein nicht mehr exklusiv-perpetuell beim Volk angesiedelt. Hingegen ist die mit einem höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit verbundene partielle Einbuße an Demokratie zwar mehr oder minder wahrscheinlich. Doch ist sie weder in der Hinsicht definitiv, dass sie von vorneherein feststünde, noch in der, dass mit ihr die Rückkoppelung an den Volkswillen gänzlich abgebrochen wäre. So ist zum einen zu berücksichtigen, dass es lediglich eine im Einzelfall durchaus falsifizierbare Regelvermutung ist, dass magistratische Repräsentanten und sonstige Amtswalter bei schwächerer Rückbindung an den Volkswillen stärker von diesem abweichen677. Dass die Orientierung auf den Volkswillen mit zunehmender Länge der Legitimationskette immer mehr gestört wird, steht insofern nicht definitiv fest, sondern umschreibt eine mehr oder weniger probable Potenzialität. Schon dies zeigt, dass ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit das Niveau demokratischer Legitimation weniger nachhaltig beeinträchtigt als die ihrer Natur

675

Siehe oben Einleitung I. 5. b) = S. 63. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. = S. 391. 677 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405.

676

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nach nicht nur potenziellen, sondern definitiven Abstriche bei der Exklusivität be­ ziehungsweise Perpetualität demokratischer Legitimation. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass der partielle Demokratie­verlust, wie er durch ein gemindertes Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation bewirkt wird, von gänzlich anderer Qualität ist als derjenige partielle Demokratieverlust, der eintritt, wenn nachgeordnete demokratische Organe bei der Konkretisierung des Volkswillens ihre partikularen Gemeinwohlvorstellungen und Interessen einfließen lassen. Denn in der ersten Konstellation beruht der partielle Demokratieverlust auf einer strukturell definitiven Verkürzung demokratischer Herrschaftsmacht und mithin auch auf einer insofern strukturell vollständigen Entkoppelung vom Volkswillen. Anders verhält es sich in der zweiten Konstellation. Die Desorientierung des Volkswillens durch partikulare Interessen und Gemeinwohlvorstellungen der demokratischen Amtsträger basiert nämlich gerade nicht auf einer strukturell definitiven Verkürzung demokratischer Herrschaftsmacht. Vielmehr erweist sie sich als strukturwidrig und sieht sich insofern erwartbarer Kritik ausgesetzt – insbesondere von Seiten der Gebietsgesellschaft. Dies wiederum hat zur Konsequenz, dass es selbst dort zu keiner völligen Entkoppelung vom Volkswillen kommt, wo ein Amtsträger seine partikularen Gemeinwohlvorstellungen und Interessen in die ihm obliegende Vergegenwärtigung des Volkswillens einfließen lässt. Denn der Amtsträger sieht sich strukturbedingt zumindest der Tendenz nach daran gehindert, solche partikularen Gemeinwohlvorstellungen und Partikularinteressen in den demokratischen Prozess einzuspeisen, die dem Volkswillen diametral entgegenstehen. Folglich erweist sich der intermediäre Eigenwille legitimationsvermittelnder Amtsträger als immerhin demokratisch temperiert und für die dadurch ausgelöste partielle Demokratieeinbuße lässt sich in der Tat festhalten, dass sie gerade nicht auf einer strukturell vollständigen Entkoppelung vom Volkswillen beruht. Auch dies erklärt, weshalb Demokratie­ defizite, wie sie mit Einbußen bei der Exklusivität und Perpetualität demokra­ tischer Legitimation verbunden sind, das Legitimationsniveau stärker nach unten orientieren als solche Demokratieverluste, die durch einen höheren Grad demo­ kratischer Abgeleitetheit ausgelöst werden.

bb) Die Komplexität des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit Wendet man sich nach diesen Präliminarien endgültig dem für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit zu, so macht es Sinn, gleich zu Anfang die mannigfaltigen Aspekte aufzuzeigen, die bei seiner Rekonstruktion zu berücksichtigen sind. Denn vor diesem Hintergrund wird es leichter fallen, das facettenreiche dogmatische Modell nachzuvollziehen, das hier zur Rekonstruktion und Bestimmung des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit vorgeschlagen wird.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

(1) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, die exklusiv-perpetuelle Legitimation und die spezifischen Legitimationsformen Die bei der Rekonstruktion des Grads demokratischer Abgeleitetheit zu bewältigende Komplexität hängt zunächst damit zusammen, dass Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang eine grundsätzlich exklusiv-perpetuelle Legitimation von Hoheitsakten fordert und diese wiederum in die exklusive dezisionäre sowie die exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation unterfällt678. Besteht der legitimationsvermittende Ableitungszusammenhang insofern sowohl in dezisionärer wie auch in revisionärer Hinsicht, lässt sich eine abschließende Aussage über den bei einem bestimmten Hoheitsakt realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit nur in Ansehung beider Legitima­ tionszusammenhänge treffen. Der das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts mit determinierende Grad demokratischer Abgeleitetheit lässt sich mit anderen Worten nur durch eine Zusammenschau von dezisionärem und revisionärem Legiti­ mationskontext bestimmen. Des Weiteren ist zu beachten, dass die dezisionäre und revisionäre Rückbindung eines Hoheitsakts an den Volkswillen typischerweise nicht nur durch eine einzelne der spezifischen Legitimationsformen679 ins Werk gesetzt wird. Vielmehr sind Hoheitsakte im Regelfall sowohl dezisionär wie revisionär durch personelle und materielle Legitimationsstränge an den Willen des Volks rückgebunden. Dabei gilt für jede der spezifischen Legitimationsformen, was eben in genereller Hinsicht festgestellt wurde, nämlich dass mit jedem weiteren Grad demokratischer Abgeleitetheit die Orientierung auf den Volkswillen zusätzlich gestört zu werden droht und mithin die personellen respektive materiellen Legitimationsbeiträge umso schwächer ausfallen, je mittelbarer und ineffektiver sie auf das Volk zurückführen. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine belastbare Aussage über den für einen Hoheitsakt prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit nur treffen, wenn man gesamthaft sämtliche Legitimationsbeiträge berücksichtigt, die ihm in dezisionärer be­ ziehungsweise revisionärer Hinsicht zuwachsen.

(2) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit und die unterschiedliche Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge Die Rekonstruktion des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit erweist sich nun nicht nur deshalb als intrikat, weil dazu letztlich alle Legitimationsbeiträge in Augenschein genommen werden müssen, 678

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. = S. 253. Zu den spezifischen Legitimationsformen siehe oben Kapitel 6 I. 2. = S. 281.

679

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die dem betreffenden Hoheitsakt in dezisionärer beziehungsweise revisionärer Hinsicht zuwachsen. Erschwerend kommt hinzu, dass die spezifischen Legitima­ tionsbeiträge den fraglichen Hoheitsakt in unterschiedlichem Umfang erfassen können. Infolgedessen kann von dem für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht ohne Weiteres auf den für den Hoheitsakt insgesamt charakteristischen Grad demokratischer Ab­ geleitetheit geschlussfolgert werden. So ist für den dezisionären Legitimationsstrang zu erinnern, dass personelle und materiell-kontrollative Legitimation überhaupt nur dort  – einander ergänzend  – wirksam werden, wo sich die demokratische Rückkoppelung nicht schon im Wege materiell-direktiver Legitimation Bahn bricht680. Der in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit wird daher mitunter auch dadurch bestimmt, inwieweit er materielldirektiv legitimiert ist. Denn soweit dies der Fall ist, darf zur Bestimmung seines diesbezüglichen Grads demokratischer Abgeleitetheit nicht auf die ihn womöglich gleichfalls, aber eben anders erfassenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsstränge abgestellt werden. Im Rahmen revisionärer Legitimation wiederum ist zu berücksichtigen, dass der sie bewirkende Revisionsverzicht eines an sich revisionsbefugten demokratischen Machtträgers überhaupt nur über den personellen beziehungsweise den materiell-kontrollativen Legitimationsstrang, nicht aber über den materiell-direktiven Legitimationsstrang an den demokratischen Volkswillen rückgebunden werden kann681. Des Weiteren erweisen sich auch die personellen und materiell-kon­ trollativen Legitimationsbeiträge, die – einander ergänzend – einen Hoheitsakt an den revisionären Volkswillen rückkoppeln, als vielfach in ihrer Reichweite beschränkt. Denn durch personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimation kann nur in dem Umfang zur revisionären Rückbindung eines Hoheitsakts an das Volk beigetragen werden, in dem der revisionsbefugte Entscheider über den Hoheitsakt zu verfügen vermag682. Die ihm in Hinblick auf einen Hoheitsakt eingeräumten Dispositionsbefugnisse werden sich indes häufig als durch materielle Direktiven beschränkt entpuppen. Dass die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge folglich auch in revisionärer Hinsicht eine vielfach nur eingeschränkte Reichweite haben, muss bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit selbstverständlich berücksichtigt werden und verkompliziert diese.

680

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) bb) = S. 299. 682 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) cc) = S. 300.

681

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Teil III: Volkssouveränität und EU

(3) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit personeller beziehungsweise materieller Legitimationsbeiträge sowie bei Ausübung der Dezisionsbeziehungsweise Revisionsmacht durch eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker, eine Organmehrheit beziehungsweise durch ein Kollegialorgan Die Rekonstruktion des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit erweist sich schließlich insbesondere auch in den in der Überschrift genannten Konstellationen als verwickelt. In bestimmten Ausnahmefällen wächst einer Dezisions- beziehungsweise Revisionsentscheidung eine Mehrheit personeller Legitimationsbeiträge zu, weil der dezisions- beziehungsweise revisionsbefugte Organwalter sein Amt mehreren, voneinander verschiedenen Instanzen verdankt683. Fallweise kann der Entscheidung über den Erlass eines Hoheitsakts auch eine Mehrzahl materielldirektiver Legitimationsbeiträge zuwachsen, weil der dezisionsbefugte Organ­ walter an mehrere von verschiedenen Instanzen herrührende Vorgaben gebunden ist684. Als Regelfall anzusehen ist schließlich, dass Entscheidungen über Erlass beziehungsweise Nichtrevision eines Hoheitsakts durch mehr als einen materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag an den Volkswillen rückgekoppelt werden, weil das dezisions- beziehungsweise revisionsbefugte Organ der Kontrollmacht mehrerer demokratischer Instanzen unterworfen ist685. In diesen spezifischen Fallkonstellationen muss bei der dogmatischen Rekonstruktion des für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit zusätzlich beachtet werden, wie sich diese simultanen personellen beziehungsweise materiellen Legitimationsbeiträge zueinander verhalten. Bisweilen legitimieren mehrere demoi zugleich einen Hoheitsakt. Dabei kann es sich sowohl um eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker handeln, die de-

683

Etwa bei Entscheidungen des Präsidenten einer Oberfinanzdirektion, der gemäß § 9 Abs. 2 Satz  2  FVG auf Vorschlag des Bundesministeriums der Finanzen und der für die Finanz­ verwaltung zuständigen obersten Landesbehörde im gegenseitigen Einvernehmen zwischen der Bundesregierung und der zuständigen Landesregierung durch den Bundespräsidenten oder die Bundespräsidentin sowie die zuständige Stelle des Landes ernannt und entlassen wird. – Zur verfassungsrechtlichen Würdigung dieser Regelung siehe nur Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 108 Rn. 29. 684 Bei einer umweltrechtlichen Zulassungsentscheidung beispielsweise sind neben den Vorgaben aus den parlamentsbeschlossenen Fachgesetzen etwa auch die Anforderungen des insoweit hochbedeutsamen Verordnungsrechts zu beachten (vgl. Sparwasser / Engel / Voßkuhle [Fn. 127], § 1 Rn. 181). 685 Die vom Bundesverkehrsminister gemäß Art. 80 GG erlassene Fahrerlaubnisverordnung wird in dezisionärer wie revisionärer Hinsicht nicht nur wegen der Entlassungsbefugnis des Bundeskanzlers nach Art. 64 Abs. 1 GG, sondern auch aufgrund des jederzeitigen legislativen Zugriffsrechts des Bundestags materiell-kontrollativ legitimiert.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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mokratisch unverbunden ist686, als auch um eine Völkergesamtheit, die als dezentrierter demos in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt687. In diesen Fällen muss ebenfalls ergänzend überlegt werden, welchen Effekt die Rückkoppelung an mehrere Völker für den Grad demokratischer Abgeleitetheit hat, der dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt zukommt. Entsprechendes gilt des Weiteren für den Fall, dass die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht von mehreren Organen gemeinsam ausgeübt wird. Insofern müssen zwei Unterkonstellationen unterschieden werden. Zum einen ist an die Fallgestaltung zu denken, dass mehrere Organe den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt nur gemeinsam zu erlassen beziehungsweise zu revidieren befugt sind688. Zum anderen kommt die Konstellation in den Blick, dass eine materielle Direktive, die den zu prüfenden Hoheitsakt legitimiert, von einer Organmehrheit erlassen wurde beziehungsweise revidiert werden kann689. Die zuletzt geschilderte Problematik stellt sich schließlich auch dann, wenn die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht zwar nicht bei einer Organmehrheit, wohl aber bei einem Kollegialorgan verortet ist690. Auch insofern ist bei der Re­konstruktion des für einen Hoheitsakt prägenden Grads demokratischer Abge­ leitetheit zu berücksichtigen, dass ihm beziehungsweise einer ihn dezisionär rückbindenden materiellen Direktive personelle und materielle Legitimation über mehrere unterschiedliche Teilorgane zuwächst. cc) Der Grad demokratischer Abgeleitetheit: Grundzüge des dogmatischen Modells Um den für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitet­ heit unter den Bedingungen von, wie skizziert, typischerweise komplexen Legitimationszusammenhängen zu rekonstruieren, muss im Ausgangspunkt bei den spezifischen Legitimationsbeiträgen, die dem Hoheitsakt in dezisionärer und revisionärer Hinsicht zuwachsen, und bei deren jeweiligem Grad demokratischer Abge 686

Dies ist etwa im Rahmen der Nordatlanikpaktorganisation der Fall (zu dieser BVerfGE 68, 1 [79 ff.]). 687 Davon ist beispielsweise im Hinblick auf das Zusammenwirken der schweizerischen Kantonsvölker im Ständerat auszugehen. 688 Ein zuletzt wieder tagesaktuell gewordenes Beispiel hierfür ist die Ausübung des Begnadigungsrechts durch den Bundespräsidenten nach Art. 60 Abs. 2 GG, die nach zutreffender Auffassung gemäß Art. 58 Satz 1 GG der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister bedarf (so etwa Umbach, in: ders. / Clemens [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 60 Rn. 37; anderer Ansicht Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 1980, S. 265). 689 Dies ist der Sache nach etwa bei einer Rechtsverordnung der Fall, die der Zustimmung des Bundestags bedarf (vgl. zum Beispiel § 59 KrW-/AbfG; zur Grundgesetzkonformität derartiger Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Bundestags siehe nur Lücke / Mann, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 80 Rn. 41). 690 Also etwa im Fall der Verordnungsgebung durch die Regierung statt durch einen einzelnen Minister.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

leitetheit angesetzt werden. Um diesen zu beschreiben, werden im Rahmen des im Weiteren entfalteten dogmatischen Modells zunächst zwei zentrale Termini eingeführt: Es wird zwischen der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristischen Stufe demokratischer Vermitteltheit und seiner Wirkkraft unterschieden. Die Stufe demokratischer Vermitteltheit gibt Auskunft darüber, über wie viele legitimationsvermittelnde Instanzen der spezifische Legitimationsbeitrag dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt in dezisionärer beziehungsweise revisionärer Hinsicht zuwächst. Wird des Weiteren auf die Wirkkraft der einem Hoheitsakt zuwachsenden spezifischen Legitimationsbeiträge abgestellt, so ist dies dem Umstand geschuldet, dass die spezifischen Legitimationsbeiträge in unterschiedlicher Intensität dazu beitragen, einen vom Volk verschiedenen Träger demokratischer Dezisions- oder Revisionsmacht an den unmittelbaren Volkswillen beziehungsweise an den Willen eines anderen, vorgesetzten Mittlers demokratischer Legi­ timation rückzukoppeln. An die beiden genannten Begriffe schließt ein weiteres Begriffspaar an, das an dieser Stelle ebenfalls eingeführt werden soll. Es handelt sich um das Begriffspaar der Leistungsstärke beziehungsweise Leistungsschwäche. Dieses bezieht sich auf den für einen spezifischen Legitimationsbeitrag prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit und trifft diesbezüglich eine Tendenzaussage. Wie leistungsstark beziehungsweise leistungsschwach ein spezifischer Legitimationsbeitrag ist, ergibt sich demnach seinerseits aus der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristischen Stufe demokratischer Vermitteltheit in Verbindung mit der ihn kennzeichnenden Wirkkraft. Ist nun erst einmal mit Hilfe des eingeführten Begriffsarsenals präzisiert, welcher Grad demokratischer Abgeleitetheit den einzelnen Legitimationsbeiträgen zukommt, die einem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt in dezisionärer und revisionärer Hinsicht zuwachsen, lässt sich in diesem Licht der Grad demokratischer Abgeleitetheit rekonstruieren, der den Hoheitsakt insgesamt prägt. Dabei ist ins­ besondere zu berücksichtigen, dass die spezifischen Legitimationsbeiträge einen Hoheitsakt in unterschiedlichem Umfang erfassen (können). Damit ist in Grundzügen – und bislang mehr thesenhaft als begründend – das dogmatische Modell skizziert, in dem sich der für einen Hoheitsakt charakteris­ tische Grad demokratischer Abgeleitetheit entfalten lässt. Dies muss nun im Folgenden näher erläutert werden.

dd) Der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit wird nach der hier vorgeschlagenen Dogmatik durch die Stufe demokratischer Vermitteltheit und seine Wirkkraft bestimmt. Diese beiden

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Determinanten sollen im Folgenden zunächst jeweils für sich sorgsam analysiert werden. Sodann ist zu überlegen, inwieweit sich die an diese Determinanten anknüpfende dogmatische Rekonstruktion des für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit rechtfertigen lässt und wo ihre Grenzen liegen.

(1) Die Stufe demokratischer Vermitteltheit: Konkretisierungen Für die spezifischen Legitimationsbeiträge ist davon auszugehen, dass mit jeder weiteren Stufe demokratischer Vermitteltheit die Orientierung auf den Volkswillen zusätzlich gestört zu werden droht691. Darin liegt der Konnex zwischen dem für einen Legitimationsbeitrag kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit und seiner Stufe demokratischer Vermitteltheit. Dass der Grad demokra­ tischer Abgeleitetheit folglich mit der Anzahl legitimationsvermittelnder Instanzen korreliert692, klingt dabei nicht nur abstrakt richtig. Vielmehr erweist sich diese Annahme auch bei konkretisierender Betrachtung als durchaus zutreffend. So ist hinsichtlich der personellen Legitimation zu berücksichtigen, dass sie darauf beruht, dass der Entscheider durch seine individuelle Berufung beziehungsweise den dadurch begründeten Loyalitätszusammenhang angeregt wird, seinen Amtsauftrag wahrzunehmen, und sich in Erfüllung dieses Amtsauftrags die demokratische Rückbindung vollzieht. Die Erfüllung des Amtsauftrags wird freilich umso prekärer, je länger die Kette legitimationsvermittelnder Instanzen ist, die vom Volkswillen auf das Verhalten desjenigen Amtsträgers zurückführt, der den Entscheider berufen hat693. Im Fall des Repräsentationsauftrags ergibt sich dies daraus, dass ein nur mittelbar volksberufener Entscheider die ihm durch den Repräsentationsauftrag angesonnene Vergegenwärtigung des Volkswillens nicht nur dadurch zu verfälschen droht, dass er seine eigenen Partikularinteressen in den Volkswillen hineinliest. Hinzu tritt, dass er aufgrund des für die personelle Legitimation konstitutiven Loyalitätszusammenhangs bei der Vergegenwärtigung des Volkswillens auch die Vorstellungen berücksichtigen wird, die sich diejenige demokratische Magistratur vom Volkswillen macht, die ihn berufen hat. Nun können auch schon diese Vergegenwärtigungen durch Partikularinteressen verfälscht sein. Und sie sind es umso eher, je mehr legitimationsvermittelnde Instanzen diese Vergegenwärtigungen durch ihre Partikularinteressen mit beeinflussen konnten694. 691

In diesem Sinne eingehend auch Veil (Fn. 8), S. 246 ff. So auch Scharpf, Demokratische Politik in Europa (Fn.  470), S.  65 und Grözinger (Fn. 362), S. 214. 693 Im Ergebnis gleich Jestaedt (Fn. 16), S. 274. 694 Vgl. Bröhmer (Fn. 225), S. 42. 692

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Von einem mit der Anzahl legitimationsvermittelnder Instanzen tendenziell abnehmenden demokratischen Steuerungsvermögen ist auch für den Fall der den sonstigen Amtsträgern obliegende Vollzugspflicht auszugehen. Denn der für die personelle Legitimation ausschlaggebende Loyalitätszusammenhang wird typischerweise zur Folge haben, dass sich der Entscheider bei seiner amtsgemäßen Vollzugstätigkeit gerade auch an den Vorstellungen desjenigen Amtsträgers orientieren wird, der ihn berufen hat. Je größer freilich die Zahl legitimationsvermittelnder Instanzen ist, über die diese Vorstellungen an den Volkswillen rückgebunden werden, desto wahrscheinlicher ist ihre demokratische Desorientierung. Entsprechendes gilt für die beiden materiellen Legitimationsformen: Teilt sich dem Rechtssatz, der Erlass und Inhalt eines legitimationsbedürftigen Hoheitsakts determiniert, der legitimationsstiftende Volkswille nur über eine Mehrzahl legitimationsvermittelnder Instanzen mit, so ist auch bei diesem die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Volkswille durch Partikularinteressen überformt ist. Da der betreffende Rechtssatz infolgedessen den Volkswillen nur in bedingtem Maße widerzuspiegeln vermag, kann dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt auch nur ein entsprechend geringeres Maß an materiell-direktiver Legitimation zuwachsen. In Hinblick auf die materiell-kontrollative Legitimation ist zu konstatieren, dass die Vorstellungen des Organs, das die legitimierende Kontrollmacht ausübt, umso stärker durch Partikularinteressen infiziert sind, je mehr legitimationsvermittelnde Instanzen zwischen ihm und dem Volkswillen liegen. Vor dem Hintergrund dieser detaillierteren Analyse bestätigt sich somit, dass die legitimatorische Leistungskraft eines personellen, materiell-direktiven oder materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrags mit jeder weiteren Stufe demokratischer Vermitteltheit abnimmt. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss diese These freilich nach zwei Richtungen hin präzisiert werden. Zum einen ist zu erinnern, was der Sache nach bereits für den Grad demokratischer Abgeleitetheit generell festgehalten worden ist: Dass die demokratische Leistungskraft spezifischer Legitimationsbeiträge mit der Zahl der Legitimations­ mittler abnimmt, lässt Fälle unberücksichtigt, in denen bedingt durch außerrechtliche Gründe trotz vielstufiger Vermittlung eine weitgehend authentische Re­ präsentation des Volkswillens erreicht wird. Der Zusammenhang zwischen dem Grad demokratischer Abgeleitetheit und der Zahl der Legitimationsmittler ist mithin kein sozusagen gesetzmäßiger, sondern beruht auf einer Regelvermutung695. Zum anderen und vor allem darf nicht übersehen werden, dass der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht allein mit der Stufe demokratischer Vermitteltheit korreliert. Zu bedenken ist vielmehr, dass es immer auch darauf ankommt, wie die institutionell-prozeduralen Arrangements beschaffen sind, aufgrund derer die jeweils nachgeordnete legitimationsvermittelnde Instanz an die hierarchisch vorgesetzte rückgebunden wird. Es 695

Siehe dazu auch schon oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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kommt mit anderen Worten immer zugleich darauf an, wie effektiv die Erlass- beziehungsweise Revisionsinstanz an den Willen der für sie maßgeblichen Norm­ setzungs-, Berufungs- und Kontrollinstanz rückgebunden ist, aber auch darauf, wie effektiv diese Normsetzungs-, Berufungs- und Kontrollinstanzen ihrerseits wieder an die nächst höheren Instanzen rückgekoppelt sind et cetera. Ein umfassendes Bild des für einen Legitimationsbeitrag charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit erlangt man demnach nur dann, wenn man nicht nur die Stufen demokratischer Vermitteltheit, sondern auch die Effektivität der Legitimationszusammenhänge in den Blick nimmt, die zwischen den verschiedenen Stufen demokratischer Vermitteltheit jeweils Platz greifen.

(2) Die Stufe demokratischer Vermitteltheit: Dogmatische Operationalisierung Ist es nach allem zutreffend, dass das demokratische Potenzial eines personellen oder materiellen Legitimationsbeitrags – zumindest auch – von der für ihn charakteristischen Stufe demokratischer Vermitteltheit abhängt, so muss diese Erkenntnis nunmehr noch dogmatisch operabel gemacht werden. Dies kann dergestalt geschehen, dass man beziffert, über wie viele legitimationsvermittelnde Instanzen ein personeller, materiell-direktiver oder materiell-kontrollativer Legitimationsbeitrag auf den Volkswillen zurückführt. Die für einen personellen Legitimationsbeitrag kennzeichnende Stufe demo­ kratischer Vermitteltheit korreliert demnach mit der um die Ziffer 1 erhöhten Zahl der legitimationsvermittelnden Instanzen, über die das Verhalten der Berufungsinstanz in dezisionärer und revisionärer Hinsicht durch personelle und materielle Legitimationsstränge an den Volkswillen rückgebunden ist. Die Erhöhung um die Ziffer 1 erfolgt deshalb, weil noch der Entscheider hinzugerechnet werden muss – als aus Sicht des legitimationsstiftenden Volks letztem Mittler des personellen Legitimations­beitrags. Entsprechendes gilt für die materiell-direktive sowie die materiell-kontrollative Legitimation. Auch hier ist auf die Zahl der legitimationsvermittelnden Instanzen abzustellen, über die das Verhalten der Normsetzungsinstanz beziehungsweise der Kontrollinstanz demokratisch rückgekoppelt wird. Sodann ist diese Zahl um den Wert 1 zu erhöhen. So ergibt sich etwa für ein Parlamentsgesetz, dass ihm in dezisionärer Hinsicht einfach vermittelte personelle und einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation zuwächst; sollte der Hoheitsakt ausnahmsweise durch eine plebiszitäre Vorgabe determiniert sein, wüchse ihm sogar eine einfach vermittelte materielldirektive Legitimation zu. Die erste Stufe demokratischer Vermitteltheit wird dabei in allen drei Konstellationen deshalb erreicht, weil der legitimationsstiftende Volkswille dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt über jeweils nur einen Legi-

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Teil III: Volkssouveränität und EU

timationsmittler kommuniziert wird, nämlich über das unmittelbar vom Volk be­ rufene, kontrollierte und ausnahmsweise sogar direktiv angeleitete Parlament. Demgegenüber wird eine aufgrund Gesetzes durch einen Bundesminister erlassene Rechtsverordnung696 in dezisionärer Hinsicht durch eine dreifach vermittelte, nämlich über das Parlament, den Bundeskanzler und den verordnungsgebenden Minister697 vermittelte personelle Legitimation geprägt. Auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit ist auch der über den Legitimationsmittler Parlament vermittelte materiell-direktive Legitimationsbeitrag angesiedelt. In Hinblick auf die materiell-kontrollative Legitimation ist zu berücksichtigen, dass sich diese in drei voneinander zu unterscheidenden Legitimationsbeiträgen Bahn bricht. Denn neben dem Bundeskanzler, der die Entlassung des Bundesministers verbindlich vorschlagen kann698, und dem Parlament, das die Verordnung durch ein gegenläufiges Gesetz kassieren kann699 oder durch ein konstruktives Misstrauensvotum mittelbar die Absetzung eines Bundesministers erreichen kann700, übt ferner auch das Volk insofern selbst Kontrollgewalt aus, als es über eine Abberufung der parlamentarischen Mehrheit indirekt auch die des Verordnungsgebers bewirken kann. In dem einen Fall erfolgt die materiell-kontrollative Legitimation auf der dritten, im anderen auf der zweiten und im letzten auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit.

(3) Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge: Der legitimatorische Mehrwert der materiell-direktiven Legitimation Eine unterschiedliche Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge lässt sich zunächst in Hinblick darauf konstatieren, dass lediglich die materiell-direktive Legitimation koerzitiv701 wirkt, wohingegen die personelle sowie die materiell-kontrollative Legitimation ihrem modus operandi nach auf Inzitation702 be­ ruhen703. Dies hat zur Konsequenz, dass die materiell-direktive Legitimation per 696

Zur demokratischen Legitimation von Rechtsverordnungen vgl. zum Beispiel Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 62. 697 Zur legitimationsstiftenden Ernennung zum Minister siehe Emde (Fn. 1), S. 340 f. 698 Vgl. Art. 64 Abs. 1 GG. Dazu, dass dem Bundespräsidenten im Falle der Entlassung keine sachliche Prüfungsbefugnis zukommt, vgl. Hesse (Fn. 221), Rn. 668. 699 Brenner, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. Art. 80 Rn. 25. 700 Vgl. Art. 69 Abs. 2 letzter Halbsatz GG; auch Emde (Fn. 1), S. 342 sowie Schmidt (Fn. 29), S. 79 ff. 701 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) aa) (2) = S. 285 und Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. 702 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. 703 Nicht wirklich überzeugend ist demgegenüber die Differenzierung, die Jestaedt (Fn. 16), S. 275 vornimmt, wenn er schreibt: „Während die personell-demokratische Legitimation stärker die Ermächtigung, die Freisetzung zur Ausübung von Herrschaftsmacht im Blick hat, konstituiert die materiell-demokratische Legitimation tendenziell eher Bindungen und Pflichtig­ keiten, die den gewährten Herrschafts-‚Freiheitsraum‘ begrenzen sollen.“

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se in stärkerem Maße dazu beizutragen vermag, einen Träger demokratischer Dezisions- oder Revisionsmacht an den Volkswillen beziehungsweise an den Willen der vorgesetzten demokratischen Instanzen rückzubinden, als dies bei den beiden anderen Legitimationsformen der Fall ist. Denn selbstverständlich bewirkt Zwang eine stärkere Rückkoppelung als eine noch so nachdrückliche Anregung704. Zwar ist auch im Rahmen materiell-direktiver Legitimation keineswegs ausgeschlossen, dass die dadurch bezweckte Rückbindung realiter scheitert. Dass gesetztes Recht trotz des damit verbundenen Anwendungsbefehls mitunter nicht vollzogen wird, ist ein seit alters her bekanntes Phänomen705. Freilich ist dies nichts, was unmittelbar dem Wirkungsmodus materiell-direktiver Legitimation anzulasten wäre. Denn dieser beruht auf Zwang und will eine Lockerung beziehungsweise gar ein Scheitern der Rückbindung gerade ausschließen. Anders verhält es sich demgegenüber bei der personellen oder materiell-kontrollativen Legitimation. Hier ist eine Lockerung beziehungsweise ein Scheitern des Legitimationszusammenhangs bereits unmittelbar im Wirkungsmodus angelegt. Denn dass eine Anregung mitunter nicht befolgt wird, liegt in der Natur der Sache. Insofern kann in der Tat daran fest­gehalten werden, dass der materiell-direktiven Legitimation grundsätzlich eine höhere Wirkkraft zukommt als der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation. Dass nach der hier entwickelten Sichtweise der legitimatorische Mehrwert, der den materiell-direktiven Legitimationsbeiträgen im Vergleich zu den übrigen spezifischen Legitimationsbeiträgen zukommt, mit ihrer unterschiedlichen Wirkweise  – koerzitiv versus inzitativ  – zusammenhängt, ist dabei durchaus hervor­ hebenswert. Schließlich ist in der Literatur die Höherwertigkeit nicht etwa nur der materiell-direktiven, sondern der gesamten materiellen Legitimation mitunter damit begründet worden, dass Gegenstand der Rechtfertigung von Herrschaft letztlich nicht Personen und Institutionen, sondern Entscheidungen seien und der personellen Legitimation von daher eine der materiellen Legtimationskomponente lediglich dienende, mithin also nachgeordnete Funktion zukomme706. Die in dieser Argumentation aufscheinende pauschale Gleichsetzung von materieller Legitimation und konkreter Hoheitsentscheidung ist freilich zu Recht als unzulässig kritisiert worden707. In der Tat widerstreitet es der nun schon mehrfach angesprochenen genetischen Struktur von Hoheitsakten708, wenn der Anschein erweckt wird, eine Hoheitsentscheidung sei unmittelbarer Ausfluss sachlich-inhaltlicher Steuerung. Insofern wird nämlich verkannt, dass jede Konkretisierung von 704

Völlig zutreffend weist Herzog (Fn. 223) Rn. 74 insoweit darauf hin, dass es beispielsweise einen beträchtlichen Unterschied mache, ob „vermittels finanz- oder gar rechtsaufsichtlicher Befugnisse oder durch die Bindung an ein förmliches Gesetz“ gesteuert werde. 705 Zum Thema Vollzugs- und Implementationsdefizit vgl. nur Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, § 20 IV b). 706 Emde (Fn. 1), 1991, S. 46. 707 Jestaedt (Fn. 16), S. 281; so auch Brosius-Gersdorf (Fn. 139), S. 68. 708 Siehe insbesondere oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

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sachlich-inhaltlichen Vorgaben in einem Hoheitsakt „eine folgenreiche interpositio auctoritatis bedeutet“709. Denn bedenkt man diese interpositio auctoritatis mit, so zeigt sich erstens, dass auch materiell-direktive sowie materiell-kontrollative Legitimation eine lediglich dienende Funktion haben, indem sie den für den Erlass eines Hoheitsakts zuständigen demokratischen Entscheidungsträger auf den demokratischen Volkswillen hin orientieren. Zweitens wird deutlich, dass die personelle Legitimation ihrerseits exakt dieselbe Funktion wie die materiellen Legitimationskomponenten erfüllt, indem sie dort, wo es an materiellen Direktiven fehlt, neben der materiell-kontrollativen Legitimation zur Orientierung des Dezi­ sionsmächtigen auf den Volkswillen hin beiträgt. Dass der materiell-direktiven Legitimation ein legitimatorischer Mehrwert zukommt, lässt sich daher gerade nicht auf eine funktionale Höherwertigkeit der materiellen Legitimation im Allgemeinen zurückführen. Entscheidend ist insofern vielmehr die spezifische, nämlich koerzitive Wirkweise materiell-direktiver Legitimation. Die These vom legitimatorischen Mehrwert der materiell-direktiven Legitimation lässt sich im Übrigen auch nicht in Hinblick darauf in Abrede stellen, dass diese spezifische Legitimationsform – im Unterschied zur personellen und materiellen Legitimation – immer auch revisionär ins Werk gesetzt wird und sich insofern als im bereits geschilderten Sinne störungsanfällig erweist710. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der legitimatorische Mehrwert der materiell-direktiven Legitimation darin begründet liegt, dass in dieser Legitimationsform mit höherer Wirkkraft als im Fall der anderen spezifischen Legitimationsformen dazu beigetragen wird, einen Hoheitsakt möglichst eng an den Volkswillen rückzubinden. Der legitimatorische Mehrwert materiell-direktiver Legitimation bezieht sich damit auf den für einen Hoheitsakt charakteristischen Grad demokratischer Ab­ geleitetheit. Diesem aber kommt, wie bereits angesprochen wurde711 und sogleich noch näher begründet wird, eine erheblich größere Bedeutung für die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus zu als dem Umfang legitimatorischer Störungsanfälligkeit. Folglich lässt es denn auch ihren legitimatorischen Mehrwert unberührt, wenn sich die materiell-direktive Legitimation zwar im Unterschied zu personeller und materiell-kontrollativer Legitimation als störungsanfällig erweist, ihr demokratisch sehr viel bedeutsamerer Beitrag zu einem möglichst niedrigen Grad demokratischer Abgeleitetheit aber den von personeller und materiell-kon­ trollativer Legitimation klar übertrifft. Die diese Argumentation tragende Prämisse, nämlich dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit das in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt realisierte Legitimationsniveau in ungleich stärkerem Maße bestimmt als der Umfang legitimatorischer Störungsanfälligkeit, begründet sich wie folgt: Zwar ist der durch einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit bewirkte Demokratieverlust 709

Heller (Fn. 151), S. 225. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) cc) = S. 300. 711 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. = S. 391.

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ebenso wenig definitiv wie der durch eine Störung revisionärer Legitimationszusammenhänge bedingte. Insofern besteht ein gemeinsamer Unterschied zu Demokratieeinbußen, die durch die Beschränkung der Exklusivität beziehungsweise Perpetualität demokratischer Legitimation bedingt sind712. Allerdings steigt mit dem Grad demokratischer Abgeleitetheit die Wahrscheinlichkeit, dass der Volkswille durch volksfremde Einflüsse, nämlich durch die partikularen Gemeinwohlvorstellungen und Interessen der demokratischen Amtswalter verfälscht wird. Dies beeinträchtigt die demokratische Legitimation ersichtlich stärker, als wenn diese lediglich dadurch potenziell gestört wird, dass die Nichtrevision eines Hoheitsakts momentan nicht vom aktuellen Unterlassungswillen des Volks getragen wird. Denn es weicht stärker von der demokratietheoretisch zu fordernden exklusiv-perpetuellen Legitimation ab, wenn sich ein Hoheitsakt als Ausfluss volksfremder Willensäußerungen darstellt, als wenn lediglich die Rückbindung an den gegenwärtigen Volkswillen unterbrochen ist. Kommt dem Grad demokratischer Abgeleitetheit demnach in der Tat größere Bedeutung für das Niveau demokratischer Legitimation zu als dem Umfang legitimatorischer Störungsanfälligkeit, so kann auch daran festgehalten werden, dass der materiell-direktiven Legitimation wegen ihrer den demokratischen Ableitungszusammenhang in besonderem Maße verkürzenden koerzitiven Wirkweise ein legitimatorischer Mehrwert eignet, selbst wenn sie sich im Unterschied zu den anderen spezifischen Legitimationsformen als störungsanfällig erweist.

(4) Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge: Die uneinheitliche Wirkkraft von personeller und materiell-kontrollativer Legitimation Aus den zur Wirkweise der verschiedenen Legitimationsformen angestellten Erwägungen ergibt sich nun freilich noch ein zweiter Unterschied zwischen materiell-direktiver Legitimation einerseits und personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation andererseits. So ist die Wirkkraft der materiell-direktiven Legitimationsbeiträge insofern eine stets einheitliche, gleichmäßige, als die ihnen zugrundeliegenden Rechtssätze alle einen identischen Rechtsbefolgungszwang auslösen: Rechtlich betrachtet, besteht für den Adressaten des Rechtssatzes, also den Inhaber demokratischer Dezisionsmacht, keine Alternative zur Rechts­ befolgung. Daraus folgt denn auch, dass der für materiell-direktive Legitima­ tionsbeiträge kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit an sich – nämlich bei Außerachtlassung etwaiger faktischer Vollzugsdefizite713 – ausschließlich in Ansehung der jeweiligen Stufe demokratischer Vermitteltheit variieren kann.

712

Vgl. oben Kapitel 6 V. 1. b) aa) = S. 406. Zum Problem der Vollzugsdefizite siehe nur Sparwasser / Voßkuhle / Engel (Fn. 127), § 2, Rn. 2; nachsichtig Reimer (Fn. 306), Rn. 88. 713

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Abweichendes gilt demgegenüber für die personelle und die materiell-kontrollative Legitimation. Deren Wirkkraft ist nicht einheitlich, gleichmäßig, sondern hängt jeweils davon ab, wie effektiv und nachhaltig die vom Berufungsakt beziehungsweise von der Kontrollmöglichkeit ausgehenden Anregungen in der Person des Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugten wirken. Welchen Grad demokratischer Abgeleitetheit ein personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimationsbeitrag erreicht, bestimmt sich also anders als im Fall materielldirektiver Legitimation nicht nur nach der Stufe demokratischer Vermitteltheit. In diesem Zusammenhang ist nun schon an früherer Stelle angesprochen worden714, dass sich die für die materiell-kontrollative Legitimation maßgeblichen Anregungen im Vergleich zu den für die personelle Legitimation konstitutiven als grundsätzlich effektiver und nachhaltiger erweisen. Dies hängt damit zusammen, dass hinter der materiell-kontrollativen Legitimation ein Durchsetzungspotenzial steht, das bei der personellen Legitimation fehlt. Infolgedessen kann im Ausgangspunkt festgehalten werden, dass nicht nur die materiell-direktive Legitimation von höherer Wirkkraft ist als die personelle und materiell-kontrollative Legitimation, sondern dass auch die materiell-kontrollative Legitimation die personelle Legitimation in puncto Wirkkraft prinzipiell übertrifft. Im Übrigen freilich muss bei der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation im Wege der Einzelfallanalyse genau untersucht werden, wie effektiv und nachhaltig die inzitative Rückbindung an den unmittelbar oder mittelbar vergegenwärtigten Volkswillen jeweils ausfällt. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich bestimmen, wie wirkkräftig ein personeller oder materiell-kontrollativer Legitima­ tionsbeitrag im konkreten Fall tatsächlich ist. Wie effektiv und nachhaltig ein Amtsträger durch die Amtsübertragung inzitativ auf die Erfüllung seines Amtsauftrags hin orientiert wird, wie stark mithin qua personeller Legitimation demokratisch rückgekoppelt wird, hängt von den Strukturen, Verfahren und daraus resultierenden Mentalitäten ab, die die durch die Amtsübertragung bewirkte Anregung flankieren. In struktureller Hinsicht werden Effektivität und Nachhaltigkeit der von der Amtstübertragung ausgehenden Inzitation etwa davon beeinflusst, inwieweit es dem Amtsträger erlaubt ist, anderen (Erwerbs-)Tätigkeiten nachzugehen715. Ist dies unbegrenzt möglich, so wirkt sich die durch die Amtsübertragung bewirkte Indienst- und Inpflichtnahme weniger effektiv und nachhaltig aus, als wenn eine weitgehende Inkompatibilität von Amt und sonstiger (Erwerbs-)Tätigkeit existiert. Denn als Diener mehrerer Herren wird ein Amtsträger eben nicht nur zur Erfüllung seines demokratischen Amtsauftrags, sondern zugleich zur Wahrnehmung anderer (Partikular-)Interessen angeregt716. 714

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. Vgl. in diesem Zusammenhang zum Beispiel die grundgesetzlichen Inkompatibilitäts­ vorschriften der Art. 55 Abs. 2 und 66 GG. 716 Zum Zweck der in Rede stehenden Inkompatibilitätsvorschriften vgl. – speziell im Hinblick auf Art. 66 GG – Zippelius / Würtenberger (Fn. 150), § 42 III 3.  715

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Effektivität und Nachhaltigkeit der von einem Berufungsakt ausgehenden Anregung zu amtspflichtgemäßem Handeln werden in prozeduraler Hinsicht etwa dadurch befördert, dass sich der Amtsträger unter der Verfahrensbedingung demokratischer Transparenz hoheitlich betätigen muss. Hierauf wurde in anderem Zusammenhang bereits eingegangen717 und braucht hier nicht nochmals dargelegt zu werden. Die vom Berufungsakt ausgehende Inzitation zu amtspflichtgemäßen Handeln kann verfahrensmäßig des Weiteren dadurch verstärkt werden, dass der Amtsträger in ein Kollegium berufen wird und insoweit zur Mitwirkung an notwendig diskursiv generierten Entscheidungen aufgerufen ist718. Denn in diesem Fall sieht sich der Amtsträger unter dem beständigen Druck, seine Mitwirkungsakte gegenüber den anderen Angehörigen des Kollegiums rational zu begründen719. Rational freilich ist unter den insoweit gegebenen Bedingungen das, was dem Amtsauftrag entspricht. Sofern strukturelle und verfahrensmäßige Bedingungen gewährleistet sind, die eine effektive und nachhaltige Ausrichtung der Amtsträger an ihrem Amtsauftrag sichern helfen, kann sich zugleich ein entsprechendes Amtsethos720 ausbilden. Dieses vermag dann seinerseits wiederum zu Effektivität und Nachhaltigkeit der vom Berufungsakt ausgehenden, demokratievermittelnden Anregung beizutragen. Auf strukturelle, prozedurale und mentale Faktoren lassen sich des Weiteren auch Effektivität und Nachhaltigkeit der von einer Kontrollmöglichkeit ausgehenden Anregung, mithin also die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation zurückführen. So existieren Kontrollstrukturen, bei denen es wahrscheinlicher ist als bei anderen, dass sich die kontrollierende Instanz intensiv mit dem Verhalten des dezisions- beziehungsweise revisionsbefugten Entscheidungsträgers auseinandersetzt und infolgedessen bei einem missliebigen Verhalten tatsächlich zu Sanktionsmaß 717

Siehe oben Kapitel 6 III. 3. a) aa) = S. 344. Dazu auch Voßkuhle / Sydow (Fn. 177), S. 679 sowie Isensee (Fn. 140), S. 66. 719 Zu diesen Zusammenhängen vgl. etwa  – klassisch  – Constant, in: Principes de politiques, in: ders., Écrits politiques (Gauchet [Hrsg.]), 1997, S. 303 (379) (Chapitre VII): „Chacun frappé des raisonnements qu’il vient d’entendre, est conduit naturellement à les examiner. Ces raisonnements font impression sur son esprit, même à son insu. Il ne peut les bannir de sa mémoire: les idées qu’il a rencontrées s’amalgament avec celles qu’il apporte, les modifient, et lui suggèrent des réponses qui présentent les questions sous leurs divers points de vue.“ – Zur ‚prozeduralen Rationalität des Kollegialprinzips‘ allgemein Groß (Fn. 129), S. 204 ff. – Spe­ ziell zum Kollegialorgan Parlament siehe Meier (Fn. 362), S. 257: „Nach Karl von Rotteck trügen die parlamentarischen Diskussionen zur Feststellung des ‚vernünftigen Gesamtwillens‘ bei. Davon sind wir weit entfernt. Aber die Klarheit darüber, was im Gange ist und warum so entschieden wird, eine Nötigung zu rationaler Auseinandersetzung und oft genug auch ein gewisser Ausgleich der Interessen kann nach wie vor auf diesem Wege erreicht werden, jedenfalls auf keinem anderen so gut wie vermittels der Volksvertretung durch das Parlament.“  – Kritisch gegenüber Kollegialentscheidungen gerade auch des Parlaments erwartungsgemäß Leisner (Fn. 110), S. 611 ff.: „Herrschaftsverlust in Kollegialität“. 720 Dazu auch Veil (Fn. 8), S. 159 ff. 718

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nahmen greift. Im Rahmen einer solchen Kontrollstruktur ist die von der Kontrollmöglichkeit ausgehende Anregung naturgemäß effektiver und nachhaltiger, das Niveau materiell-kontrollativer Legitimation entsprechend höher, als wenn eine Auseinandersetzung mit dem Verhalten des kontrollierten Entscheidungsträgers und infolgedessen auch eine etwaige Kontrollmaßnahme strukturbedingt eher unwahrscheinlich ist. Eine solche, die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation steigernde Kontrollstruktur liegt, abstrakt gesprochen, dann vor, wenn sie ein verantwortlichkeitsförderndes721 Näheverhältnis der Kontrollinstanz zum Kontrollgegenstand, mithin also zu der Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung, nach sich zieht. Damit ist gemeint, dass es strukturelle Arrangements gibt, aufgrund derer sich eine Kontrollinstanz für eine Entscheidung der kontrollierten Instanz in besonderem Maße verantwortlich fühlt und infolgedessen auch intensiver über die Opportunität einer Kontrollmaßnahme nachsinnt, weil ihr unter den gegebenen strukturellen Verhältnissen die Frage, ob sie die betreffende Entscheidung reaktionslos hinnehmen soll, besonders nahegebracht wird. Dementsprechend vermittelt etwa die Befugnis eines Parlaments, die Entlassung einzelner Minister zu erzwingen, den ministeriellen Entscheidungen ein höheres Maß an materiell-kontrollativer Legitimation, als wenn das vom Regierungschef zusammengestellte Kabinett während dessen Amtszeit parlamentsfest ist722. Denn im ersten Fall ist das Parlament mit seiner Kontrollmacht dem Kontroll­ gegenstand, nämlich den ministeriellen Entscheidungen, strukturell deutlich näher als in der zweiten Konstellation, in der sich die Frage nach einer sanktionierenden Reaktion auf die möglicherweise unwillkommene ministerielle Entscheidung wegen der damit notwendig verbundenen Nebeneffekte nicht ohne Weiteres aufdrängt723. Eine materiell-kontrollative Legitimation mit von vornherein geringer Wirkkraft wächst einem Hoheitsakt fernerhin dann zu, wenn mit seinem Erlass beziehungsweise seiner Nichtrevision ein fait accompli geschaffen oder vertieft wird, dessen Beseitigung auch durch nachgängige Kontrollmaßnahme nicht mehr ohne Weiteres erreicht werden kann724. Denn auch in diesem Fall zeichnet sich die Kontrollstruktur dadurch aus, dass die Kontrollinstanz, weil sie mit ihren Mitteln in der Sache ohnedies nichts mehr auszurichten vermag, der zu kontrollierenden Ent 721 Zum Zusammenhang von Verantwortlichkeit und demokratischer Legitimation allgemein vgl. Schmidt (Fn. 29), 2007, S. 31 ff. 722 Dem Grundgesetz zufolge darf sich das Misstrauensvotum bekanntlich nur gegen den Bundeskanzler, nicht aber gegen einzelne Bundesminister richten (vgl. Detterbeck, Innere Ordnung der Bundesregierung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  3, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn.  43 sowie Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 68 Rn. 1). 723 Vgl. hierzu auch Denninger, Staatsrecht 2, 1979, S. 132 f. 724 Das Paradebeispiel hierfür ist die (fortgesetzte) Zulassung einer, – wenn überhaupt – nur unter größten Schwierigkeiten reversiblen Technologie  – dazu lediglich Bäumlin (Fn.  21), Sp. 466 und Morlok (Fn. 32), S. 575.

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scheidung strukturell entrückt ist. Da es mit anderen Worten an einem verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis zwischen der Kontrollinstanz und der zu kontrollierenden Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung fehlt, ist es vergleichsweise unwahrscheinlich, dass Kontrollmaßnahmen ergriffen werden. Infolgedessen erweist sich in dieser Konstellation die von der Kontrollmöglichkeit ausgehende Inzitation weder als sonderlich effektiv noch als besonders nachhaltig und kommt der materiell-kontrollativen Legitimation von daher nur geringe Wirkkraft zu. Als  – wenn auch nur leicht  – abgeschwächt erweist sich die materiell-kon­ trollative Legitimation fernerhin in den Fällen, in denen das kontrollierte Organ bei seiner Entscheidung über den Erlass eines Hoheitsakts durch eine materielle Direktive determiniert ist beziehungsweise seine diesbezügliche Nichtrevisionsentscheidung auf einer durch materielle Direktive beschränkten Revisionsbefugnis beruht. Denn in diesen Konstellationen kann das kontrollierte Organ gegenüber seinen Kontrolleuren geltend machen, eine bestimmte Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung nur deshalb getroffen zu haben, weil wegen der materiellen Direktive eine abweichende Entscheidung nicht möglich war. Mithin müssen die Kontrollorgane erst einmal eruieren, ob die Einlassung des kontrollierten Organs zutrifft. Dies kann sich namentlich dann, wenn die fraglichen Vorgaben unbe­stimmt sind, als durchaus mühsam erweisen. Insofern sind die Kontrollinstanzen der zu kontrollierenden Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung strukturell ein Stück weit entrückt. Indes darf dieser Umstand nicht überbetont werden. Zwar ist unzweifelhaft, dass die Ausübung der Kontrolle erschwert wird, wenn die Kontrollorgane zunächst die materiale Verantwortlichkeit der kontrollierten Organe für die von diesen getroffenen Entscheidungen rekonstruieren müssen. Jedoch halten sich die Schwierigkeiten dieser Rekonstruktionsarbeit in Grenzen, wenn sich die mate­ riale Verantwortlichkeit ex negativo aus einer schriftlich fixierten, wenngleich mitunter auch recht unbestimmten materiellen Direktive ableitet. Dies gilt erst recht dann, wenn die fragliche materielle Direktive von der Kontrollinstanz erlassen wurde. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass dann, wenn das kontrollierte Organ bei Erlassentscheidungen materiellen Direktiven folgen muss oder bei seinen Nichtrevisionsentscheidungen durch materielle Direktive beschränkt wird, das verantwortlichkeitsfördernde Näheverhältnis des Kontrollorgans zum Kontroll­ gegenstand leidet – aber eben nicht übermäßig. Nun sind die Kontrollstrukturen für das in ihrem Rahmen erzeugte Maß an materiell-kontrollativer Legitimation freilich nicht nur in Hinblick darauf von Interesse, inwieweit sie ein strukturelles Näheverhältnis der Kontrollinstanz und der zu kontrollierenden Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung begründen. Effektivität und Nachhaltigkeit der von der Kontrollmöglichkeit ausgehenden Anregungen werden fernerhin durch die Natur der Kontrollmaßnahme bestimmt. Denn inwieweit sich der dezisions- beziehungsweise revisionsbefugte Entscheidungs-

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Teil III: Volkssouveränität und EU

träger durch eine bei Fehlverhalten zu gewärtigende Kontrollmaßnahme dazu veranlasst sieht, von diesem Fehlverhalten abzusehen, hängt außer von ihrer Wahrscheinlichkeit von der Art der Kontrollmaßnahme ab. Dazu lässt sich all­gemein sagen, dass die legitimierende Kraft einer sanktionsbewehrten Kontrollmöglichkeit typischerweise geringer sein wird, wenn sie sich auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt bezieht, als wenn sie den oder die Entscheidungsträger selbst betrifft. Dass eine Gemeinderatsmehrheit bei der nächsten Wahl abgewählt werden könnte, wird diese eher dazu animieren, sich bei einer Entscheidung am Willen der Gemeindebevölkerung auszurichten, als wenn diese ‚lediglich‘ durch ein Bürgerbegehren und einen sich daran womöglich anschließenden Bürgerentscheid bedroht ist. Unter prozeduralen Gesichtspunkten erweist sich die von einer Kontrollmöglichkeit ausgehende Anregung namentlich dann als effektiv und nachhaltig, wenn die Entscheidungen des Dezisions- respektive Revisionsbefugten unter der Verfahrensbedingung demokratischer Transparenz getroffen werden und daher für seine Kontrollinstanz offen zu Tage liegen. Davon war bereits die Rede. Ein Prozedere, das die von einer Kontrollmöglichkeit bewirkte Inzitation stärkt, ist ferner dort auszumachen, wo der Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugte nicht alleine, sondern als Mitglied eines Kollegiums und damit notwendig im Diskurs entscheidet. Insofern gilt entsprechend, was insofern schon zu Effektivität und Nachhaltigkeit der von der Amtsübertragung ausgehenden Anregung ausgeführt wurde: Die diskursive Situation nötigt sanft dazu, seine Entscheidung rational zu begründen725, was unter den gegebenen Bedingungen auf eine Ausrichtung am Willen der Kontrollinstanzen hinausläuft. Existieren Kontrollstrukturen und -verfahren, die eine effektive und nachhaltige Rückbindung an die Kontrollinstanzen bewirken, so kann sich diese Rückbindung bei den Amtsträgern zu einer gewohnheitsmäßigen, von entsprechenden Selbstund Fremdverständnissen getragenen mentalen Disposition verdichten. Dadurch werden Effektivität und Nachhaltigkeit des von der Kontrollmöglichkeit bewirkten Anregung gleichfalls gestärkt und erhöht sich die Wirkkraft materiell-kon­ trollativer Legitimation.

(5) Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge: Resümee und Präzisierung Festzuhalten ist somit, dass der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht nur von der Stufe demokratischer Vermitteltheit abhängt. Hinzu tritt, dass sich die Wirkkraft der 725

Vgl. dazu in verwandtem Zusammenhang Fisahn, Abgeleitete Demokratie, in: KritV 1996, S. 267 (279); zu den rationalitätssichernden Effekten des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens Reimer (Fn. 713), Rn. 5.

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spezi­fischen Legitimationsbeiträge unterscheidet. So übertrifft die Wirkkraft der materiell-direktiven Legitimation die von personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation, die der materiell-kontrollativen wiederum die der personellen Legitimation. Des Weiteren ist die Wirkkraft von personeller sowie materiellkon­trollativer Legitimation im Unterschied zur materiell-direktiven Legitimation keine einheitliche, gleichmäßige, sondern erweist sich als variabel. Die Wirkkraft von personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation hängt von Effektivität und Nachhaltigkeit der sie begründenden Inzitationen ab, was sich seinerseits nach den strukturellen, prozeduralen und mentalen Besonderheiten des jeweiligen Amtsberufungs- beziehungsweise Kontrollzusammenhangs bestimmt. Zu präzisieren bleibt an dieser Stelle zweierlei. Zum einen ist zu berücksichtigen, was der Sache nach für den Grad demokratischer Abgeleitetheit generell festgehalten wurde726, nämlich dass ein Hoheitsakt trotz nur schwacher Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge aus außerrechtlichen Gründen den Volkswillen vergleichsweise authentisch widerspiegelt. So ist es beispielsweise ohne Weiteres denkbar, dass sich ein magistratischer Repräsentant in seiner Entscheidung relativ eng am Volkswillen orientiert, obwohl diese durch personelle und mat­eriellkontrollative Legitimationsbeiträge rückgebunden ist, denen nur geringe Wirkkraft zukommt. Zum anderen und vor allem ist zu berücksichtigen, dass seine Wirkkraft immer dann nur unvollkommene Rückschlüsse auf den für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit zulässt, wenn er nicht auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist. Denn in diesem Fall lässt sich aus der Wirkkraft des Legitimationsbeitrags nur ableiten, wie eng der Hoheitsakt hierdurch an den Willen der vorgesetzten Normsetzungs-, Berufungs- oder Kontrollinstanz rückgebunden ist. Der Grad demokratischer Abgeleitetheit indes hängt zusätzlich davon ab, wie effektiv diese Instanzen wiederum an die ihnen vorgesetzten Instanzen beziehungsweise an den Volkswillen rückgebunden sind. Sind die spezifischen Legitimationsbeiträge mehrfach vermittelt, so bestimmt sich ihr Grad demokratischer Abgeleitetheit mithin nicht nur nach ihrer Wirkkraft, sondern zugleich auch nach der Wirkkraft der auf den vorhergehenden Stufen demokratischer Vermitteltheit greifenden Legitimationsbeiträge.

(6) Die dogmatische Rekonstruktion des für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit: Rechtfertigung Um den für einen spezifischen Legitimationsbeitrag prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit zu bestimmen, ist nach dem hier vorgeschlagenen dogmatischen Modell zum einen nach seiner Stufe demokratischer Vermitteltheit, zum 726

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405.

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anderen nach seiner Wirkkraft zu fragen. Die Stufe demokratischer Vermitteltheit gibt Auskunft darüber, durch wie viele Partikularinteressen die sich über einen spezifischen Legitimationsbeitrag vollziehende Orientierung auf den Volkswillen beeinträchtigt ist (beziehungsweise beeinträchtigt sein kann)727. Demgegenüber lässt die Wirkkraft des betreffenden Legitimationsbeitrags selbst (lediglich) Rückschlüsse darauf zu, wie wahrscheinlich es ist, dass die Orientierung auf den Volkswillen gerade durch Partikularinteressen des letzten Legitimationsmittlers, also der dezisions- beziehungsweise revisionsbefugten Person(en) gestört wird728. Seine Stufe demokratischer Vermitteltheit sowie seine Wirkkraft bestimmen gemeinsam die Leistungsstärke (oder -schwäche) eines bestimmten Legitimationsbeitrags. Wie die meisten Modelle beruht auch das hier vorgeschlagene auf einer Ver­ einfachung729. Denn es nimmt neben seiner Stufe demokratischer Vermitteltheit lediglich die Wirkkraft des einem Hoheitsakt zuwachsenden Legitimationsbeitrags in den Blick. Damit blendet das Modell die Wirkkraft all jener Legitimations­ beiträge aus, die das Verhalten derjenigen Berufungs-, Normsetzungs- beziehungsweise Kontrollinstanz demokratisch rückbinden, durch die der zu analysierende Legitimationsbeitrag via den Entscheider mitgeprägt wird. Ist die betreffende Berufungs-, Normsetzungs- beziehungsweise Kontrollinstanz daher nicht das Volk selbst, so lässt sich der für einen personellen, materiell-direktiven oder materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit in dem hier favorisierten Modell schon deshalb nur näherungsweise bestimmen, weil nur die Rückbindung des letzten an den vorletzten Legitimationsmittler genauer eruiert wird, wohingegen die vom vorletzten Legitimationsmittler auf das Volk zurückführenden Legitimationszusammenhänge allein unter dem Gesichtspunkt der Stufe demokratischer Vermitteltheit gewürdigt werden. Damit stellt sich die Frage, inwieweit das hier vorgeschlagene Modell und insbesondere auch die ihm zugrundeliegende Vereinfachung gerechtfertigt sind. In diesem Zusammenhang ist zunächst darzutun, weshalb bei der Bestimmung des für einen Legitimationsbeitrag kennzeichnenden Grads demokratischer Abge­ leitetheit – abgesehen von seiner Wirkkraft – allein auf seine Stufe demokra­tischer Vermitteltheit abgestellt werden und dementsprechend die Effektivität der Legitimationszusammenhänge, die vom vorletzten Legitimationsmittler  – Stufe für Stufe – auf den Volkswillen zurückführen, ausgeblendet bleiben darf. Begründen lässt sich dies in zweifacher Perspektive, nämlich zum einen in sozusagen rein pragmatischer, zum anderen in mehr analytischer Blickrichtung.

727

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (1) = S. 413. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (5) = S. 424. 729 Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl. 2007, S. 881: Das Modell „vereinfacht die infragestehende Wirklichkeit zu gedachten, konstruierten, als relevant angesehenen Aussagesätzen.“ 728

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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In rein pragmatischer Hinsicht lässt sich vortragen, dass das hier vorgeschlagene dogmatische Modell eine Antwort auf die Frage liefern möchte, welchen Grad demokratischer Abgeleitetheit ein ganz spezieller Legitimationsbeitrag aufweist. Angesichts dieser Fragestellung liegt es eher fern, im Detail auf die zahlreichen und unterschiedlich wirkkräftigen Legitimationsbeiträge einzugehen, über die das für den eigentlich interessierenden Legitimationsbeitrag maßgebliche Verhalten der relevanten Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanzen im Rahmen gegebenenfalls vielstufiger Legitimationszusammenhänge an den Volkswillen rückgebunden wird. Angemessen erscheint vielmehr, diese Legitimationszusammenhänge und mithin auch die sie konstituierenden Legitimationsbeiträge lediglich summarisch zu würdigen, indem auf die für den zu untersuchenden Legitimationsbeitrag charakteristische Stufe demokratischer Vermitteltheit abgestellt wird. Entscheidendes bleibt bei diesem rein pragmatischen Begründungsansatz freilich offen. Weshalb soll es bei der Bestimmung des für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit ausreichen, den vom vorletzten Legitimationsmittler auf den Volkswillen zurückführenden Legitimationsstrang allein unter dem Gesichtspunkt der Stufe demokratischer Vermitteltheit zu bewerten? Können überhaupt belastbare Aussagen zum Grad demokratischer Abgeleitetheit getroffen werden, wenn die Effektivität dieses Legitimationsstrangs, mithin also die Wirkkraft der verschiedenen ihn begründenden Legitimationsbeiträge ausgeblendet bleiben? Um diese Frage in ana­lytischer Perspektive zu beantworten, erscheint es als zweckmäßig, einen Blick auf die praktische Anwendung des hier vorgeschlagenen Modells zu werfen. Dieses dient erstens dazu, Aussagen über die Leistungsstärke von spezifischen Legitimationsbeiträgen zu treffen, die innerhalb eines konkreten demokratischen Systems verschiedenen Typen von Hoheitsakten zuwachsen730. Vergleicht man indes die Leistungsstärke von Legitimationsbeiträgen, die innerhalb ein und desselben demokratischen Systems zur demokratischen Rückbindung beitragen, so erscheint es jedenfalls als angängig, wenn die vom jeweils vorletzten Legitimationsmittler auf den Volkswillen zurückführenden Legitimationszusammenhänge allein unter dem Gesichtspunkt der Stufe demokratischer Vermitteltheit diskutiert und die Wirkkraft der insofern greifenden spezifischen Legitimationsbeiträge ausgeblendet bleibt. Denn ein demokratisches System ist typischerweise dergestalt hierarchisch organisiert, dass ein nachrangiger Normsetzungsakt im Wesentlichen immer auch (und eben nur nicht ausschließlich) über diejenigen Legitima-

730 Aus später noch näher zu erläuternden Gründen wird in diesem Beitrag zunächst die Leistungsstärke von Legitimationsbeiträgen untersucht werden, durch die dem Grundgesetz zufolge ein Bundesgesetz, eine Bundesrechtsverordnung oder ein von der Bundesrepublik Deutschland rezipierter Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts geprägt wird. Des Weiteren wird zu prüfen sein, wie es um die Leistungsstärke derjenigen Legitimationsbeiträge bestellt ist, die den verschiedenen Typen von EG-Normsetzungsakten zuwachsen.

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tionszusammenhänge an den Volkswillen rückgekoppelt ist wie die ihm im Rang vorgehenden731. In diesem Kontext bedeutet es denn auch keine unzulässige Verkürzung, wenn bei der Bestimmung des für einen spezifischen Legitimationsbeitrag kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit die vom vorletzten Legitimationsmittler auf das Volk zurückführenden Legitimationszusammenhänge allein unter dem Gesichtspunkt der Stufe demokratischer Vermitteltheit bewertet werden und der Effektivitätsaspekt insofern unberücksichtigt bleibt. Schließlich wäre eine solche Relativierung des Grads demokratischer Abgeleitetheit auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit nur dann nicht haltbar, wenn es denkbar wäre, dass eine Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanz zwar nur sehr mittelbar an den Volkswillen rückgebunden ist, der insoweit greifende Legitimationszusammenhang aber ungleich effektiver ist als der, der einer im Vergleich unmittelbarer an das Volk rückgekoppelten Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanz zuwächst. Innerhalb desselben demokratischen Systems ist eine solche Konstellation indes normalerweise ausgeschlossen, weil die Legitimationszusammenhänge im geschilderten Sinne hierarchisiert sind. Es ist insofern zwar nicht ausgeschlossen, dass eine nur sehr mittelbar an das Volk rückgebundene Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanz in besonders effektiver Weise an den ihr vor­gesetzten Legitimationsmittler rückgekoppelt ist. Dies ändert aber nichts daran, dass die demokratische Rückbindung stärker wäre, wenn dieser vorgesetzte Legitimationsmittler selbst als Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanz agierte. Denn dann wäre – bei ansonsten gleich effektiver Rückkoppelung – gänzlich und nicht nur in mehr oder minder hohem Maße ausgeschlossen, dass die Vergegenwärtigung des Volkswillens durch den Partikularwillen eines weiteren Legitimationsmittlers gefährdet wird. In Ansehung der innerhalb desselben demokratischen Systems generierten Legitimationsbeiträge erweist sich daher die hier verfochtene These, der zufolge die demokratische Rückbindung des vorletzten Legitima­ tionsmittlers allein unter dem Gesichtspunkt der Stufe demokratischer Vermitteltheit bewertet werden darf, als im Rahmen demokratietheoretischer Modellbildung durchaus tragfähig. Nun soll das hier vorgeschlagene Modell aber nicht nur über die Leistungsstärke spezifischer Legitimationsbeiträge Aufschluss geben, die innerhalb ein und desselben demokratischen Systems erbracht werden. Es soll zweitens auch dazu dienen, den Grad demokratischer Abgeleitetheit zu vergleichen, den bestimmte Legitimationsbeiträge unter den Bedingungen verschieden gestalteter demokratischer

731 Dementsprechend wird etwa diejenige Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanz, die  – über den Entscheider  – einen dreifach vermittelten Legitimationsbeitrag inhaltlich bestimmt, im Regelfall zwar nicht nur, aber doch unter anderem durch dieselben Legitimationszusammenhänge demokratisch rückgebunden sein, über die auch eine Berufungs-, Norm­ setzungs- oder Kontrollinstanz rückgekoppelt ist, die – über den Entscheider – einen einfach vermittelten Legitimationsbeitrag prägt.

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Systeme realisieren732. Bei analytischer Betrachtung zeigt sich indes, dass es auch in Hinblick auf die im Rahmen unterschiedlicher demokratischer Systeme ergangenen Legitimationsbeiträge zu hinreichend belastbaren Ergebnissen führt, wenn man den für einen Legitimationsbeitrag kennzeichnenden Grad demokra­tischer Abgeleitetheit in der geschilderten Weise  – außer auf seine spezifische Wirkkraft – auf seine Stufe demokratischer Vermitteltheit relativiert. So ist zu berücksichtigen, dass die Effektivität der demokratischen Legitimationszusammenhänge, über die eine Berufungs-, Normsetzungs- oder Kontrollinstanz Stufe für Stufe an den Volkswillen rückgebunden wird, typischerweise nur in eingeschränktem Umfang variiert. Denn einerseits müssen diese Legitimationszusammenhänge in ihrer Gesamtheit ein Mindestmaß an Effektivität vermitteln, um überhaupt als demokratisch qualifiziert werden zu können733. Andererseits kann der die Demokratievermittlung potenziell beeinträchtigende Eigenwille der verschiedenen Legitimationsmittler, über die sich die fraglichen Legitimationszusammenhänge Bahn brechen, niemals ganz ausgeschaltet werden. Dies lässt den Schluss zu, dass der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit im Normalfall in stärkerem Maße davon beeinflusst wird, ob der vom vorletzten Legitimationsmittler zum Volk hinaufführende Legitimationszusammenhang durch ein, zwei oder drei Partikularinteressen infiziert ist (oder sein kann), als davon, wie effektiv die demokratische Rückkoppelung insoweit funktioniert. Denn weisen die zwischen dem vorletzten Legitimationsmittler und dem Volk greifenden Legitimationszusammenhänge eine zwar nicht identische, aber auch nicht fundamental verschiedene Effektivität auf, dann wird die Relativierung des für einen spezifischen Legitimationsbeitrag kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit im Regelfall nicht etwa dadurch falsifiziert, dass ein den Legitimationsbeitrag demokratisch rückkoppelnder Legitimationszusammenhang zwar über eine größere Zahl von Vermittlungsstufen führt, dafür aber  – vom vorletzten Legitimationsmittler aufwärts  – durch ungleich effektivere Legitimationszusammenhänge zusammengeschweißt wird. Vor diesem Hintergrund erweist sich in theoretisch-analytischer Perspektive die Modellannahme generell als zulässig, dass der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit – abgesehen von seiner Wirkkraft  – mit der Stufe demokratischer Vermitteltheit korreliert. Damit bleibt abschließend nur noch zu erinnern, weshalb neben seiner Stufe demokratischer Vermitteltheit auch noch die Wirkkraft eines spezifischen Legitima­ tionsbeitrags in den Blick genommen werden muss. Dies liegt nach dem bislang Gesagten auf der Hand: In der eben entwickelten pragmatischen Blickrichtung er 732 So werden – aus gleichfalls noch näher zu erörternden Gründen – an späterer Stelle die Leistungsstärke von Legitimationsbeiträgen, wie sie im demokratischen System der Bundes­ republik Deutschland Platz greifen, mit der Leistungsstärke von Legitimationsbeiträgen ver­ glichen, wie sie sich im demokratischen System der EU Bahn brechen. 733 Jestaedt (Fn. 16), S. 265 ff.

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gibt sich dies bereits daraus, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit eines ganz spezifischen Legitimationsbeitrags eingehend untersucht werden soll. Dazu aber muss auch seine Wirkkraft ermittelt werden. In analytischer Perspektive wiederum kann zwar mit gutem Grund davon ausgegangen werden, dass bei der Bestimmung des für einen Legitimationsbeitrag charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit die Effektivität der vom vorletzten Legitimationsmittler auf das Volk zurückführenden Legitimationszusammenhänge, mithin also die Wirkkraft der insofern konstitutiven Legitimationsbeiträge vernachlässigt und stattdessen allein auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit abgestellt werden darf. Jedoch kann nicht auch die Wirkkraft des zu untersuchenden Legitimationsbeitrags selbst ausgeblendet und sein Grad demokratischer Abgeleitetheit vollends auf die Stufe demokratischer Abgeleitetheit relativiert werden. Dies wäre nämlich in analytischer Blickrichtung nur dann angängig, wenn für den Regelfall unterstellt werden könnte, dass ein Legitimationsbeitrag, den eine unmittelbarer an das Volk rückgebundene Entscheidungsinstanz vermittelt, leistungsstärker ist als ein Legitimationsbeitrag, den eine im Vergleich dazu volksfernere Entscheidungsinstanz generiert. Davon kann jedoch gerade nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Vergleicht man beispielsweise die personelle Legitimation, die einem Hoheitsakt zuwächst, wenn ein Minister einen Hoheitsakt erlässt, mit der materiell-direktiven Legitimation, die einem Hoheitsakt aufgrund einer Ministerverordnung zuwächst, so darf nicht ungeprüft unterstellt werden, dass sich der Volkswille in dem ersten Fall dem Hoheitsakt stärker kommunizieren würde als in dem zweiten Fall. Denn die personelle Legitimation hat eine nur geringe Wirkkraft und trägt daher selbst dann typischerweise in geringerem Maße zur demokratischen Rückkoppelung bei als ein materiell-direktiver Legitimationsbeitrag, wenn dieser auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit ergangen ist. Insofern erhellt auch in analytischer Perspektive, weshalb neben seiner Stufe demokratischer Vermitteltheit immer auch die Wirkkraft eines spezifischen Legitimationsbeitrags ergründet werden muss, wenn dessen Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt werden soll.

(7) Die dogmatische Rekonstruktion des für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit: Grenzen Es ist nach allem gut zu rechtfertigen, wenn der für einen Legitimationsbeitrag prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit im Rahmen demokratischer Modellbildung zum einen nach der Stufe demokratischer Vermitteltheit, zum anderen nach der Wirkkraft bestimmt wird. Freilich stößt dieses Modell auch auf Grenzen. Sie verlaufen erstens dort, wo das Modell darauf verzichtet die Leistungskraft der vom vorletzten Legitimationsmittler aufwärts zum Volk zurückführenden Legitimationszusammenhänge anders als in Hinblick auf die Stufe demokratischer

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Vermitteltheit zu bewerten734. Diese modellspezifische Vereinfachung lässt sich zwar rechtfertigen. Allerdings knüpft die Rechtfertigung, sofern sie nicht rein pragmatischer Natur ist, an besondere Prämissen an. Denn die theoretisch-ana­ lytische Rechtfertigung hebt entweder auf solche Legitimationsbeiträge ab, die innerhalb ein und desselben demokratischen Systems verfangen. Oder sie reklamiert das Vorhandensein hinreichend effektiver Legitimationszusammenhänge. Beide Voraussetzungen erweisen sich vorliegend als problematisch. So sollen mit Hilfe des hier vorgeschlagenen Modells einzelne demokratische Systeme nicht nur jeweils für sich betrachtet, sondern auch verglichen werden735. Des Weiteren ist es keineswegs ausgemacht, sondern vielfach erst nachzuweisen, dass die Berufungs-, Normsetzungs- und Kontrollinstanzen, die für die Leistungsstärke eines Legitimationsbeitrags mit maßgeblich sind, ihrerseits durch hinreichend effektive Legitimationszusammenhänge demokratisch rückgebunden werden736. Allerdings lässt sich das hier vorgeschlagene Modell dergestalt ins Werk setzen, dass seine aufgezeigten Grenzen gleichsam mitlaufend reflektiert werden. Dies geschieht dann, wenn man zunächst jeweils die am Engsten an den Volkswillen rückgebundenen Legitimationsbeiträge in den Blick nimmt, um dann sukzessive auch die vermittelteren Legitimationsbeiträge zu eruieren. Dies hat zur Folge, dass bevor Aussagen über einen zweifach vermittelten Legitimationsbeitrag getroffen werden, der Sache nach bereits dargelegt wurde, wie der vorletzte Legitimationsmittler an den Volkswillen rückgebunden ist. Auf diese Weise werden nicht nur die in unterschiedlichen demokratischen Systemen generierten Legitimationsbeiträge vergleichbar, sondern kann auch eine Aussage darüber getroffen werden, ob die Rückkoppelung vom vorletzten Legitimationsmittler zum Volk hinreichend effektiv ist. Zweitens sind dem hier vorgeschlagenen dogmatischen Modell Grenzen auch insofern gesetzt, als es keine allgemein-abstrakte Aussage darüber zulässt, in welchem Umfang der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit durch seine Stufe demokratischer Vermitteltheit einerseits, seine Wirkkraft andererseits geprägt wird. Insbesondere kann in Hinblick auf die einzelnen Legitimationsbeiträge nicht ohne Weiteres in dem Sinne von einem Vorrang ihrer Stufe demokratischer Vermitteltheit vor ihrer Wirkkraft ausgegangen werden, dass ein niederstufig vermittelter Legitimationsbeitrag stets leistungsstärker wäre als der vergleichsweise höherstufig vermittelte und sich ein Vergleich der Wirkungsstärken unterschiedlicher Legitimationsbeiträge in­folgedessen immer nur auf derselben Stufe demokratischer Vermitteltheit 734

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (6) = S. 425. Siehe oben Fn. 732. 736 So wird es im Folgenden gerade zur Debatte stehen, ob die Berufungs-, Normsetzungsund Kontrollinstanzen, über die einem EG-Normsetzungsakt indirekt – nämlich über den oder die Entscheider – personelle, materiell-direktive oder materiell-kontrollative Legitimation zuwächst, durch hinreichend effektive Legitimationszusammenhänge demokratisch rückgebunden sind. 735

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als sinnvoll erwiese737. Erwächst nämlich beispielsweise eine materiell-kontrollative Legitimation daraus, dass das Volk bei einem unbotmäßigen Verhalten der Regierung auf deren Absetzung hinwirken kann738, so wird dadurch im Zweifel ein geringeres Maß an Volkssouveränität vermittelt, als wenn die Regierung an eine materielle Vorgabe des Parlaments gebunden wird; dabei ist die materiell-kontrollative einfach, die materiell-direktive Legitimation hingegen lediglich zweifach vermittelt. Dass sich nicht allgemein-abstrakt festlegen lässt, wie sich die Stufe demo­ kratischer Vermitteltheit und die Wirkkraft eines spezifischen Legitimations­ beitrags bei der Bestimmung seines Grads demokratischer Abgeleitetheit zueinander verhalten, hängt dabei ersichtlich damit zusammen, dass die durch einen einzelnen spezifischen Legitimationsbeitrag bewirkte demokratische Rückkoppelung von denkbar unterschiedlicher Qualität sein kann – je nachdem, ob es sich um einen materiell-direktiven oder einen personellen beziehungsweise materiellkontrollativen Legitimationsbeitrag handelt, sowie in Abhängigkeit davon, wie effektiv und nachhaltig der personelle oder materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag ist. Doch auch wenn letztlich erst im Wege der Einzelfallbetrachtung geklärt werden kann, inwieweit der für einen spezifischen Legitimationsbeitrag charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit durch seine Stufe demokratischer Vermitteltheit einerseits und seine Wirkkraft andererseits bestimmt wird, bleibt es doch dabei, dass das hier vorgeschlagene dogmatische Modell eine strukturierte(re) Analyse der legitimatorischen Verhältnisse ermöglicht. Hinzu tritt ein Weiteres: Betrachtet man die Legitimationsbeiträge nicht isoliert, sondern berücksichtigt man, wie sie zusammenwirkend zur Rückkoppelung eines Hoheitsakts an den Volkswillen beitragen, so lässt sich durchaus eine allgemeinabstrakte Aussage darüber treffen, wie sich die Stufe demokratischer Vermitteltheit zur Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge verhält739; damit ist freilich auch schon zu dem für einen Hoheitsakt insgesamt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit übergeleitet.

ee) Der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Vor dem Hintergrund der eben zu den spezifischen Legitimationsbeiträgen angestellten Überlegungen lässt sich nun auch entwickeln, wie sich bei einem Hoheitsakt der Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt. Dabei kann freilich 737

Dazu bereits oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (1) = S. 413 und Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. Zum Misstrauensvotum im parlamentarischen Regierungssystem vgl. nur Herzog (Fn. 119), S. 266 ff. 739 Dazu näher unten Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. 738

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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nicht unmittelbar und gleichmäßig von dem Grad demokratischer Abgeleitetheit, der den verschiedenen dem Hoheitsakt zuwachsenden Legitimationsbeiträgen eignet, auf den für diesen selbst charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit geschlossen werden. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die spezifischen Legitimationsbeiträge einen legitimationsbedürftigen Hoheitsakt in unterschiedlichem Umfang erfassen und mithin auch ungleichmäßig den für ihn charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit determinieren. Es wird im Folgenden daher zunächst auf die Korrelation zwischen dem für einen Hoheitsakt charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit und der unterschiedlichen Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge einzugehen sein. Daran anknüpfend wird dargelegt, dass die Überlegungen, die zur kontrafaktisch vereinfachten Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation angestellt worden sind740, auf den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit entsprechend übertragbar sind. Fernerhin soll analysiert werden, inwieweit sich in Ansehung des für einen Hoheitsakt insgesamt prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit Aussagen darüber treffen lassen, in welchem Verhältnis ihre Stufe demokratischer Vermitteltheit und die Wirkkraft spezifischer Legitimationsbeiträge stehen. Abschließend wird – nicht zuletzt zur besseren Veranschaulichung – eine Äquation zwischen dem für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit und dem Charakter der Legitimationsmittler aufgemacht.

(1) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit und die unterschiedliche Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge Der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit kann nicht gleichmäßig nach dem jeweiligen Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt werden, der die diesem Hoheitsakt zuwachsenden Legitimationsbeiträge kennzeichnet. Denn dies hieße unterschlagen, dass die spezifischen Legitima­tionsbeiträge einen legitimationsbedürftigen Hoheitsakt in unterschied­ lichem Umfang erfassen. So ist für den dezisionären Legitimationsstrang zu erinnern, dass personelle und materiell-kontrollative Legitimation überhaupt nur dort  – einander ergänzend  – wirksam werden, wo sich die demokratische Rückkoppelung nicht schon im Wege materiell-direktiver Legitimation Bahn bricht741. Das in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht realisierte Legitimationsniveau wird daher mitunter auch dadurch bestimmt, inwieweit er materiell-direktiv legitimiert ist. Denn soweit dies der Fall ist, darf zur Bestimmung des Legitimationsniveaus 740

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (1) = S. 394. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

741

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nicht auf den ihn gleichfalls erfassenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsstrang abgestellt werden. Die Reichweite der materiell-direktiven Legitimation und damit – ex negativo korrelierend – auch die von personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation hängt nun ihrerseits davon ab, wie bestimmt die bei Erlass des Hoheitsakts nachzuvollziehende Vorgabe ist. Denn je bestimmter diese ausfällt, desto schmaler ist der Wirkungskreis von personeller und materiell-kontrollativer Legitimation. Dementsprechend ist etwa eine gebundene Entscheidung weitergehend materielldirektiv legitimiert als eine Ermessensentscheidung, werden bei der administrativen Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen mit Beurteilungsspielraum personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge in größerem Umfang wirksam als bei der administrativen Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen ohne Beurteilungsspielraum742. Festzuhalten ist somit, dass sich der für einen Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit überhaupt nur dann rekonstruieren lässt, wenn man zwischen einerseits den materiell-direktiv und andererseits den personell sowie materiell-kontrollativ legitimierten Regelungs­ gehalten des Hoheitsakts differenziert. Erst wenn für diese jeweiligen Regelungsgehalte gesondert festgestellt ist, welcher Grad demokratischer Abgeleitetheit in dem einen Fall materiell-direktiv, in dem anderen Fall personell und materiell-kontrollativ realisiert ist, lässt sich unter Berücksichtigung der Reichweite dieser spezifischen Legitimationsbeiträge der für den Hoheitsakt insgesamt in dezisionärer Hinsicht kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit adäquat bestimmen. Anders als im Rahmen dezisionärer demokratischer Legitimation stellt sich der Zusammenhang zwischen dem Grad demokratischer Abgeleitetheit und der Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge im Kontext revisionärer Legitimation dar. Denn der revisionäre Legitimation bewirkende Revisionsverzicht eines an sich revisionsbefugten demokratischen Machtträgers kann, wie bereits dargestellt, überhaupt nur über den personellen beziehungsweise den materiell-kontrollativen, nicht aber über den materiell-direktiven Legitimationsstrang an den demokratischen Volkswillen rückgebunden sein743. Allerdings erweisen sich auch die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, die – einander ergänzend – einen Hoheitsakt an den revisionären Volkswillen rückkoppeln, als vielfach in ihrer Reichweite beschränkt. Denn durch personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimation kann, wie gleichfalls schon dargelegt, nur in dem Umfang zur revisionären Rückbindung eines Hoheitsakts an das Volk beigetragen werden, in dem der revisionsbefugte Entscheider über den Hoheitsakt zu verfügen vermag744. Die ihm in Hinblick auf einen Hoheitsakt eingeräumten Dispositions-

742

Allgemein zum Ermessen und den unbestimmten Rechtsbegriffen Faber (Fn. 705), § 14. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) bb) = S. 299. 744 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

743

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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befugnisse indes werden sich häufig als durch materielle Direktiven beschränkt entpuppen. Dass die revisionäre Legitimation vermittelnden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge infolgedessen vielfach eine nur eingeschränkte Reichweite aufweisen, ist nun selbstverständlich gleichfalls zu berücksichtigen, wenn der für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit genau bestimmt werden soll. So ist es beispielsweise nicht präzise, wenn behauptet wird, dass einer auf einer parlamentsgesetzlichen Er­ mächtigung beruhenden Ministerverordnung, weil sie vom Minister auch wieder aufgehoben werden kann, in revisionärer Hinsicht eine dreifach vermittelte personelle Legitimation sowie ein-, zwei- und dreifach vermittelte materiellkon­trollative Legitimationsbeiträge zuwachsen. Genauer müsste es heißen, dass eine Rechtsverordnung aufgrund der Revisionsmacht des Verordnungsgebers (nur) insoweit durch eine dreifach vermittelte personelle demokratische Legitimation sowie ein-, zwei- und dreifach vermittelte materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge an den revisionären Volkswillen rückgebunden wird, als der verordnungsgebende Minister nicht durch die in der Verordnungsermächtigung enthaltenen materiellen Direktiven in seiner Revisionsmacht beschränkt ist. Um den für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit zu rekonstruieren, bedarf es daher wie schon bei der Bestimmung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation745 einer Gesamtschau der revisionären Legitimationszusammenhänge. Anders als dort genügt es hier allerdings nicht, wenn die revisionären Legitima­ tionszusammenhänge in vereinfachter Form rekonstruiert werden. Es reicht mithin nicht aus, wenn ganz allgemein darauf abgestellt wird, wie ein Hoheitsakt im Rahmen der ihn betreffenden Revisionsbefugnisse an die Revisionsmacht des legitimationsstiftenden Volks rückgebunden wird, und demnach außer Betracht bleibt, welches der verschiedenen Volksorgane die betreffenden Revisionsbefugnisse ausübt. Denn im Rahmen einer solchen vereinfachten Rekonstruktion ließe sich nicht feststellen, welches Maß an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation einem Hoheitsakt im Rahmen und nach Maßgabe einer bestimmten Revisions­befugnis zuwächst. In Ansehung des Grads demokratischer Abgeleitetheit bedeutet revisionärer Legitimationszusammenhang daher die Rückbindung eines Hoheitsakts an das Organ746, welches im Rahmen einer in Hinblick auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt bestehenden Revisionsbefugnis die Revi­ sionsmacht des legitimationsstiftenden Volks ausübt. Was die Gesamtschau der in dieser detaillierteren Weise zu rekonstruierenden revisionären Legitimationszusammenhänge anbelangt, besteht eine strukturelle Parallele zur Bestimmung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität 745

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (3) = S. 401. Beziehungsweise die Organmehrheit.

746

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revisionärer Legitimation. Soweit vorhanden747 ist nämlich im Ausgangspunkt wie­ derum auf denjenigen personell sowie materiell-kontrollativ vermittelten revi­ sionären Legitimationszusammenhang abzustellen, der auf einer durch keinerlei materielle Direktiven beschränkten Revisionsbefugnis beruht748. Denn nur dieser erfasst den Hoheitsakt umfassend. Erst in einem zweiten Schritt sind die übrigen Legitimationszusammenhänge zu untersuchen, die den für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit nur eingeschränkt mitzubestimmen vermögen. Vor diesem Hintergrund lässt sich präzisierend die folgende Gleichung auf­ machen: Man nehme an, ein bestimmter Hoheitsakt weist in Hinblick auf den ihn materiell-direktiv uneingeschränkt erfassenden revisionären Legitimationszusammenhang einen mit x zu beziffernden Grad demokratischer Abgeleitetheit auf. Zugleich wird der Hoheitsakt durch einen weiteren Legitimationszusammenhang an den revisionären Volkswillen rückgebunden, der auf einer durch materielle Direktiven beschränkten Revisionsbefugnis beruht und – für sich betrachtet – einen mit y zu beziffernden Grad demokratischer Abgeleitetheit vermittelt. Ist nun x kleiner y, so weist der Hoheitsakt, soweit er allein über den materiell-direktiv un­ eingeschränkten revisionären Legitimationszusammenhang demokratisch rückgebunden wird, einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit auf als dort, wo er zusätzlich noch über den anderen revisionären Legitimationszusammen 747 Anders als bei der Bestimmung des Ausmaßes der Perpetualität und Exklusivität revisionärer Legitimation kann vorliegend nicht durchweg davon ausgegangen werden, dass ein den Hoheitsakt insgesamt erfassender revisionärer Legitimationszusammenhang existiert. Dies hängt damit zusammen, dass zur Bestimmung des in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit die revisionären Legitimationszusammenhänge in detaillierter Weise zu rekonstruieren sind. In dieser Perspektive aber ist es theoretisch wie praktisch denkbar, dass Hoheitsakte lediglich von materiell-direktiv eingeschränkten Legitimationszusammenhängen erfasst werden, weil nach der aktuell geltenden Verfassungsordnung bestimmte Revisionen des betreffenden Hoheitsakts nur von dem einen Volksorgan, andere nur von dem anderen vorgenommen werden können. Dabei wird nicht verkannt, dass ein Hoheitsakt grundsätzlich auch noch insofern revisionär an den Volkswillen rückgebunden ist, als der demos vermöge seines pouvoir constituant originaire auf ihn zugreifen kann. Zwar lässt sich in Hinblick darauf durchaus vertreten, dass auch bei detaillierter Rekonstruktion der revisionären Legitimationszusammenhänge regelmäßig zumindest einer existiert, der den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt materiell-direktiv uneingeschränkt erfasst. Doch ist schon ganz zu Anfang dieses Kapitels deutlich gemacht worden, dass die mit dem Terminus des pouvoir constituant verbundene Bedeutungsschicht der Volkssouveränität vorläufig ausgespart werden soll. Insofern ist es denn auch konsequent, wenn der an den demokratischen pouvoir constituant anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang hier ausgeblendet bleibt. Dies ist auch insofern gerechtfertigt, als es sich hierbei ohnehin, um einen äußerst störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhang handelt und er infolgedessen den Grad demokratischer Abgeleitetheit in ungleich geringerem Umfang mitprägt als die anderen mit ihm (teil-)kongruenten revisionären Legitimationszusammenhänge. 748 Für die Fälle, in denen es sich anders verhält, es also an einem den Hoheitsakt materielldirektiv uneingeschränkt erfassenden revisionären Legitimationszusammenhang fehlt, vgl. die Erwägungen unten am Ende dieses Gliederungspunkts.

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hang rückgekoppelt wird. Denn soweit der Hoheitsakt von beiden revisionären Legitimationszusammenhängen erfasst wird, bestimmt sich der für ihn kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit eben nur teilweise nach x, zum anderen Teil aber nach y749. Insbesondere verbietet sich die Schlussfolgerung, dass durch das Hinzutreten des zweiten, materiell-direktiv eingeschränkten revisionären Legitimationsstrangs der für den betreffenden Hoheitsakt insoweit kennzeichnende Grad demokra­ tischer Abgeleitetheit allenfalls noch weiter abgesenkt werden, das demokratische Legitimationsniveau überhaupt nur steigen könne. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die revisionären Legitimationszusammenhänge unabhängig voneinander existieren. Sowohl die eine als auch die andere revisionsbefugte Instanz könnte den Hoheitsakt unabhängig von der jeweils anderen revidieren. Mithin stehen auch die durch ihren Revisionsverzicht vermittelten Legitimationsbeiträge in keinem Kumulativ-, sondern in einem Konkurrenzverhältnis. Der Grad demokra­ tischer Abgeleitetheit, der einem Hoheitsakt insoweit zukommt, als er von zwei revisionären Legitimationssträngen zugleich erfasst wird, lässt sich daher in der Tat nur in der Weise bestimmen, dass teils auf den Legitimationsbeitrag des einen Legitimationsstrangs, teils auf den des anderen abgestellt wird. Damit ist freilich lediglich eine Aussage darüber getroffen, wie sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt, der einem Hoheitsakt insoweit zuwächst, als er zugleich über zwei – oder auch mehrere – (teil-)kongruente revisionäre Legitimationsstränge demokratisch rückgebunden ist. Für den Hoheitsakt insgesamt, der teilweise auch nur von dem einen, materiell-direktiv unbeschränkten revi­ sionären Legitimationsstrang erfasst wird, ist daher Folgendes zu erinnern750: Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der durch das konkurrierende Zusammen­ wirken eines materiell-direktiv uneingeschränkten und eines materiell-direktiv eingeschränkten revisionären Legitimationszusammenhangs bewirkt wird, prägt das für einen Hoheitsakt charakteristische Gesamtniveau demokratischer Legitimation umso mehr, je weiter die Revisionsmacht reicht, auf der der den Hoheitsakt nur materiell-direktiv eingeschränkt erfassende revisionäre Legitimations­ zusammenhang beruht. Denn umso umfassender wird der Hoheitsakt durch beide revisionären Legitimationszusammenhänge rückgebunden und desto schmaler ist der Bereich, in dem die revisionäre Legitimation an die materiell-direktiv unein­ geschränkte Revisionsbefugnis anknüpft. 749 Wie hinsichtlich des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation (dazu oben Fn. 670), bestimmt sich das genaue Teilungsverhältnis auch in Ansehung des in revisionärer Hinsicht erzeugten Grads demokratischer Abgeleitetheit nach der respektiven Störungsanfälligkeit der betreffenden revisionären Legitimationsstränge. Der störungsunanfälligere revisionäre Legitimationszusammenhang prägt den Grad demokratischer Abgeleitetheit stärker als der im Vergleich störungsanfälligere. 750 Es gilt strukturell dasselbe wie bei der Bestimmung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation in den Fällen, in denen die Revisionsmacht dem legitimierenden Volk nicht allein zusteht. Dazu oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397.

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Fehlt es nun freilich an einem revisionären Legitimationszusammenhang, der den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt insgesamt erfasst751, so muss der in revisionärer Hinsicht generierte Grad demokratischer Abgeleitetheit in sinngemäßer Abwandlung der vorstehend angestellten Überlegungen bestimmt werden. Beruht das Fehlen des den Hoheitsakt insgesamt erfassenden revisionären Legitimationszusammenhangs etwa darauf, dass einzelne Revisionen des legitimations­ bedürftigen Hoheitsakts neben der entsprechenden Entscheidung des Erlassorgans zusätzlich das Plazet eines weiteren Organs voraussetzen, so ergibt sich folgendes Bild: Statt auf den einen, materiell-direktiv uneingeschränkten revisionären Legitimationszusammenhang ist dann im Ausgangspunkt auf die zwei revisionären Legitimationszusammenhänge abzustellen, die einander ergänzend, aber nicht überlagernd für die umfängliche demokratische Rückkoppelung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts sorgen. Inwieweit diese inkongruenten revisionären Legitimationszusammenhänge den für den Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit prägen, hängt von der respektiven Reichweite der Revisionsbefugnisse ab, auf denen sie materiell-direktiv ein­geschränkt beruhen. Besteht neben diesen beiden revisionären Legitimationszusammenhängen noch ein weiterer materiell-direktiv eingeschränkter revisionärer Legitimationszusammenhang, so erweist sich dieser als mit zumindest einem der beiden zuvor angesprochenen revisionären Legitimationszusammenhänge (teil-)kongruent. In dem Umfang, in dem sich die revisionären Legitimationszusammenhänge überlagern, determinieren sie anteilig752 den für den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt in­ soweit charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit. Das insoweit zu konstatierende, partielle Mehr oder Weniger an Volkssouveränität prägt den Hoheitsakt umso stärker, je weiter die Revisionsmacht reicht, auf der dieser zusätz­ liche materiell-direktiv eingeschränkte Legitimationszusammenhang beruht. Steht dieser revisionäre Legitimationszusammenhang, der mit zumindest einem der beiden im Ausgangspunkt angesprochenen revisionären Legitimationszusammenhänge (teil-)kongruent ist, nun freilich nicht alleine, sondern wird er durch weitere, mit ihm inkongruente Legitimationszusammenhänge ergänzt, so kommt es auf dreierlei an: Zu prüfen ist erstens, wie weit die insofern konstitutiven Revi­ sionsbefugnisse in Hinblick auf den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt insgesamt reichen. Zweitens kommt es darauf an, wie weit die Revisionsbefugnisse im Verhältnis zueinander reichen. Erst nach diesen Vorabklärungen lässt sich nach der 751

Dies ist beispielsweise bei einem völkerrechtlichen Vertrag im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz  1  GG der Fall: Für dessen Aufhebung ist deutscherseits lediglich die Bundesregierung organzuständig (so die herrschende Meinung, vgl. Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. Art. 59 Rn. 81); hingegen darf von Grundgesetzes wegen eine inhaltliche Modifikation immer nur mit Zustimmung zumindest eines Gesetzgebungs­ organs herbeigeführt werden – dazu näher unten Kapitel 10 III. 2. c) aa) (7) = S. 801. 752 Das genaue Teilungsverhältnis richtet sich, soweit die (Teil-)Kongruenz reicht, nach der jeweiligen Störungsanfälligkeit (siehe oben Fn. 749).

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bewährten Methode diagnostizieren, inwieweit die fraglichen revisionären Legi­ timationszusammenhänge den Grad demokratischer Abgeleitetheit mitprägen, der den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt insgesamt charakterisiert.

(2) Kontrafaktisch vereinfachte Rekonstruktion des in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit Anders als bei der Bestimmung des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation dürfen die revisionären Legitimationszusammenhänge nicht in einfacher, sondern müssen, wie eben dargelegt753, in detaillierter Weise rekonstruiert werden, wenn der in revisionärer Hinsicht generierte Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt werden soll. Es ist insofern nicht nur darauf abzustellen, ob und inwieweit die Revisionsbefugnisse, die in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt bestehen, die Herrschaftsmacht des legitimationsstiftenden Volks vermitteln; vielmehr ist im Zuge weiterer Differenzierung darauf ab­ zuheben, durch welche Organe das Volk die ihm im Rahmen der vorhandenen Revisionsbefugnisse zuwachsende Revisionsmacht ausübt. Dies schließt es jedoch nicht aus, Überlegungen, die zur kontrafaktisch ver­ einbarten Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revi­ sionärer Legitimation angestellt worden sind, auch in Hinblick auf den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit fruchtbar zu machen. Dementsprechend kann und soll es im Rahmen demokratietheoretischer Modellbildung unter bestimmten engen Voraussetzungen unberücksichtigt bleiben, wenn der in revisionärer Hinsicht erzeugte Grad demokratischer Abgeleitetheit dadurch tangiert wird, dass ein ansonsten änderungsbefugter Träger demokratischer Revisionsmacht bestimmte Modifikationen der durch den Hoheitsakt geschaffenen Rechtslage nur erreichen kann, wenn andere Staaten in die betreffende Änderung einwilligen. Eine derart kontrafaktisch vereinfachte Rekonstruktion des in revisionärer Hinsicht generierten Grads demokratischer Abgeleitetheit ist dann statthaft und angezeigt, wenn der legitimationsbedürftige Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht nicht an die betreffenden Staaten rückgebunden ist. Um die Praxisrelevanz dieser doch recht abstrakten Modellüberlegung zu illus­ trieren, lässt sich erneut der nicht allzu komplexe Beispielsfall eines ohne bundesrätliche Zustimmung erlassenen Bundesgesetzes heranziehen. Wie bereits dargelegt, ist insofern im Normalfall der Bundestag in der Lage, jede nur denkbare Änderung der durch seinen Hoheitsakt geschaffenen Rechtslage zu bewirken754. Bestimmte Änderungen der von ihm hoheitsrechtlich kreierten Rechtslage vermag der Bundestag indes nur herbeizuführen, wenn ein oder mehrere an seiner Revi­ 753

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (1) = S. 394.

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sionsbefugnis unbeteiligte Staaten der betreffenden Änderung zustimmen. Dies ist namentlich auch dann der Fall, wenn die konkrete Änderung des zustimmungsfreien Bundesgesetzes ihrerseits der Zustimmungspflicht des Bundesrats unterfällt755. Diese Abhängigkeit bestimmter Gesetzesänderungen vom Bundesrat bleibt nun freilich nicht ohne Auswirkungen auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit, den der legitimationsbedürftige Hoheitsakt aufweist. Infolgedessen existiert nämlich neben dem revisionären Legitimationszusammenhang, der an die – alleinige – Revisionsmacht des Bundestags anschließt, noch ein zweiter, der auf der organmehrheitlich von Bundestag und Bundesrat ausgeübten Revisionsbefugnis beruht. Diese beiden revisionären Legitimationszusammenhänge erfassen das Bundesgesetz nur materiell-direktiv eingeschränkt. Der eine greift nur insoweit, als kein bundesrätlicher Zustimmungsvorbehalt einschlägig ist, der andere nur insofern, als ein solcher greift. Zwar erfassen die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge einander ergänzend das gesamte legitimationsbedürftige Bundesgesetz. Sie überlagern sich aber nicht. Mithin wird der für das Bundesgesetz charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit nur insoweit durch den allein auf das Parlament zurückführenden revisionären Legitimationszusammenhang geprägt, wie die ihm zugrunde liegende parlamentarische Revisionsbefugnis reicht. Im Übrigen richtet er sich nach dem an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundestag und Bundesrat anknüpfenden Legitimationszusammenhang. Dies aber wirkt sich notwendig auf den das Bundesgesetz in revisionärer Hinsicht insgesamt prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit aus. Denn ohne dies hier weiter vertiefen zu wollen, lässt sich jedenfalls festhalten, dass es sowohl für die Stufe demokra­ tischer Vermitteltheit als auch für die Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge von Belang ist, ob als letzter Legitimationsmittler allein das Parlament oder Parlament und Bundesrat gemeinsam fungieren756. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das Bundesgesetz im hiesigen Beispielsfall nicht einmal partiell an die Dezisionsmacht der im Bundesrat zusammenwirkenden gliedstaatlichen Völker rückgebunden ist. Folglich dürfen nach dem hier vorgeschlagenen Rekonstruktionsschema die Auswirkungen ausgeblendet werden, die sich für seinen in revisionärer Hinsicht erzeugten Grad demokratischer Abgeleitetheit daraus ergeben, dass bestimmte Änderungen des seinerseits zustimmungsfreien Bundesgesetzes dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Dies erscheint auch gerechtfertigt. Denn wiewohl die zu einem zustimmungsfreien Bundesgesetz ergehenden Änderungsgesetze zustimmungspflichtig sein können, so ist dies doch nicht die Regel. Denn schließlich steht die Revi­ 755 Man mag insofern an den Fall denken, dass der Bundestag einen bisher durch materielles Bundesrecht geregelten Bereich deregulieren möchte, im Gegenzug aber durch abweichungsfestes Bundesverfahrensrecht (vgl. Art. 84 Abs. 1 Satz 5 und 6 GG, dazu Dittmann, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 83 Rn. 19 ff.) sicherstellen will, dass die Deregulierungsmaßnahme nicht zu kontraproduktiven Ergebnissen führt. 756 Näher dazu etwa unten Kapitel 10 III. 2. c) bb) = S. 807.

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sionsentscheidung in einem sachlichen Zusammenhang zu dem abzuändernden Gesetz. Ist freilich der Sachzusammenhang, auf dem das abzuändernde Bundes­ gesetz beruht, vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung exemiert, so kann dies – von Ausnahmefällen abgesehen – auch für die darauf bezogene Revisionsentscheidung unterstellt werden. Damit bestätigt sich am praktischen Beispiel, dass sich die Überlegungen, die zur kontrafaktisch vereinfachten Rekonstruktion des Ausmaßes der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation angestellt worden sind, in der Tat auch auf den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit entsprechend übertragen lassen757.

(3) Der Vorrang der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit Betrachtet man die spezifischen Legitimationsbeiträge isoliert, so kann nicht allgemein-abstrakt davon ausgegangen werden, dass bei der Bestimmung des für sie charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit ihrer Stufe demokra­ tischer Vermitteltheit stets Vorrang vor ihrer Wirkkraft zukäme758. Ein anderes Bild ergibt sich freilich, wenn man berücksichtigt, wie die spezifischen Legitimationsbeiträge zusammenwirkend zur Rückbindung eines Hoheitsakts beitragen. Geht es um den Grad demokratischer Abgeleitetheit eines Hoheitsakts, so macht eine isolierte Betrachtung der spezifischen Legitimationsbeiträge nur insoweit Sinn, als es um die materiell-direktive Legitimation geht, die dem fraglichen Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht zuwächst. Denn soweit dieser Legitimations­ beitrag reicht, bleibt für andere Legitimationsbeiträge kein Raum759. In Hinblick auf die verschiedenen personellen und materiell-kontrollativen Legitimations­ beiträge ist indes zu berücksichtigen, dass sie jeweils denselben Bezugspunkt 757 Dieser Ansatz lässt sich im Übrigen auch noch weiter fortspinnen: Unter bestimmten Voraussetzungen kann im Rahmen theoretischer Modellbildung auch unberücksichtigt bleiben, inwieweit der in revisionärer Hinsicht erzeugte Grad demokratischer Abgeleitetheit dadurch tangiert wird, dass ein ansonsten änderungsbefugter Träger demokratischer Revisionsmacht bestimmte Änderungen der durch den Hoheitsakt geschaffenen Rechtslage nur erreichen kann, wenn andere Organe desselben – zentrierten – demos die Änderung gutheißen. Die ent­ sprechenden Voraussetzungen sind freilich nur dann erfüllt, wenn der legitimationsbedürftige Hoheitsakt nicht schon in dezisionärer Hinsicht von den fraglichen anderen Organen her demokratisch legitimiert ist, weil diese kodezisiv an seinem Erlass mitgewirkt haben oder aber bei der Erlassentscheidung von ihnen (mit) gesetzte Direktiven zu beachten waren. Praktisch veranschaulichen ließe sich dies beispielsweise am Verhältnis von Verordnungsgeber und ver­ fassungsänderndem Gesetzgeber. 758 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (7) = S. 430. 759 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

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haben, nämlich denjenigen Regelungsgehalt eines Hoheitsakts, der nicht schon durch materielle Direktiven dezisionär vorgegeben beziehungsweise dem Zugriff des Revisionsbefugten entzogen ist. Insofern tragen personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge einander ergänzend, mithin also in untrennbarer Verbundenheit, zur dezisionären respektive revisionären Legitimation eines Hoheitsakts bei. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch entwickeln, inwiefern bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit von einem Vorrang der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge ausgegangen werden kann. Denn begreift man die auf denselben Bezugspunkt gerichteten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge als das, was sie in Ansehung des legiti­ mationsbedürftigen Hoheitsakts sind, nämlich als einen funktional einheitlichen Legitimationsbeitrag, so kann der Grundtendenz nach davon ausgegangen werden, dass ein niederstufig vermittelter Legitimationsbeitrag – sei er materiell-direktiver oder zugleich personeller und materiell-kontrollativer Natur – stets, das heißt unabhängig von seiner Wirkkraft, als demokratisch leistungsstärker einzustufen ist als ein vergleichsweise höherstufig vermittelter. Begründen lässt sich dies unter den beiden analytischen Blickwinkeln, aus denen auch schon die hier unternommene dogmatische Rekonstruktion des für einen Legitimationsbeitrag prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit gerechtfertigt wurde760. Dementsprechend wird zunächst der Grad demokratischer Abgeleitetheit solcher Hoheitsakte in den Blick genommen, die innerhalb ein und desselben demokratischen Systems ergehen. Ein solches System ist typischerweise in der Weise hierarchisch organisiert, dass ein nachrangiger Hoheitsakt immer auch (wenn auch nicht ausschließlich) durch dieselben Legitimationszusammenhänge rückge­ koppelt wird wie die ihm im Rang vorgehenden. Unter diesen Voraussetzungen freilich werden beispielsweise Regelungsgehalte, die durch einen dreifach vermittelten materiell-direktiven oder durch einen dreifach vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag rückgebunden sind, notwendig in schwächerem Maße demokratisch legitimiert, als wenn ihnen ein zweifach vermittelter Legitimationsbeitrag zuwächst – und zwar gleichgültig, ob dieser mate­ riell-direktiver oder aber personeller und materiell-kontrollativer Natur ist. Um dies zu veranschaulichen, bietet es sich an, zwischen den einzelnen Vergleichskonstellationen zu unterscheiden. Dass ein Regelungsgehalt, der durch einen dreifach vermittelten materiell-direktiven Legitimationsbeitrag demokratisch rückgebunden wird, einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweist als ein Regelungsgehalt, der durch einen zweifach vermittelten materielldirektiven Legitimationsbeitrag rückgekoppelt wird, ergibt sich aus einer doppelten Erwägung. So ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Wirkkraft der mate 760

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (6) = S. 425.

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riell-direktiven Legitimation eine einheitliche ist, sodass sich die Leistungsstärke der hier in Rede stehenden Legitimationsbeiträge nicht schon unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet. Zum anderen ist zu erinnern, dass die demokratische Rückkoppelung des vorletzten Legitimationsmittlers bei dreifacher Vermittlung notwendig schwächer ist als bei zweifacher Vermittlung. Denn da die Legitima­ tionsmittler in denselben hierarchisierten Legitimationszusammenhang eingebunden sind, wird der vom Entscheider vergegenwärtigte Volkswille bei dreifacher Vermittlung nicht nur notwendig und im selben Umfang wie bei zweifacher Vermittlung durch die Partikularinteressen der nächst höheren Legitimationsmittler infiziert. Hinzu kommt, dass der Volkswille in diesem Fall zusätzlich auch noch durch die Partikularinteressen des Entscheiders selbst desorientiert wird, was bei einem auf der nächst höheren Stufe vermittelten Legitimationsbeitrag gerade nicht der Fall ist. Erst recht kommt einem Regelungsgehalt ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit zu, wenn er statt durch eine zweifach vermittelte materiell-direktive Legitimation durch eine dreifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation demokratisch rückgekoppelt wird. Denn in diesem ist auch schon die Wirkkraft der respektiven Legitimationsbeiträge verschieden: Die koerzitiv wirkende materiell-direktive Legitimation ist demokratisch wirkkräftiger als die lediglich inzitativ wirkende personelle und materiell-kontrollative Legitimation. Einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit weist ein Hoheitsakt aber schließlich auch dann auf, wenn er statt durch eine zweifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation durch eine dreifach vermittelte materiell-direktive oder aber eine dreifach vermittelte personelle und materiell-kon­ trollative Legitimation demokratisch rückgebunden wird. Dem widerstreitet nicht, dass in dieser Vergleichskonstellation die Wirkkraft des dreifach vermittelten Legitimationsbeitrags über dem des zweifach vermittelten Legitimationsbeitrags liegt oder zumindest liegen kann. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der dreifach vermittelte Legitimationsbeitrag unter den Bedingungen hierarchisierter Legiti­ mationszusammenhänge typischerweise durch die gegebenenfalls nur schwache Wirkkraft des zweifach vermittelten Legitimationsbeitrags mitgeprägt wird. Denn das Verhalten der Normsetzungs- beziehungsweise der Berufungs- und Kontroll­ instanz, von der der dreifach vermittelte Legitimationsbeitrag herrührt, wird seinerseits durch exakt die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge demokratisch rückgekoppelt, die dem auf der höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit ergangenen Regelungsgehalt zuwachsen. Wenn daher dem dreifach vermittelten Legitimationsbeitrag eine vergleichsweise hohe Wirkkraft zukommt, so kann dies unter den Voraussetzungen eines hierarchisch durchorganisierten demokratischen Systems nicht dazu führen, dass der hiervon erfasste Regelungs­ gehalt einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweist, als wenn er über einen zweifach vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag rückgebunden wird. Lediglich erweist sich dann das graduelle Mehr an demokratischer Abgeleitetheit, das den durch den höherstufig vermittel-

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ten Legitimationsbeitrag geprägten Regelungsgehalt kennzeichnet, als vergleichsweise gering. Dass ein niederstufig vermittelter Legitimationsbeitrag ungeachtet seiner Wirkkraft demokratisch durchweg leistungsstärker ist als ein vergleichsweise höherstufig vermittelter, lässt sich auch noch in anderer Perspektive analytisch begründen. Dazu ist zunächst zu erinnern, dass ein Hoheitsakt insgesamt und mithin auch seine einzelnen Regelungsgehalte nicht durch jede auch noch so lockere Rückbindung an den Volkswillen demokratisch legitimiert werden können761. Des Weiteren ist zu bedenken, dass sich die mittelbare Rückbindung eines Hoheitsakts beziehungsweise einzelner seiner Regelungsgehalte ausschließlich durch mate­ riell-direktive Legitimationsbeiträge einerseits sowie gemischt personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge andererseits vollzieht. Dabei greifen die beiden Typen von Legitimationsbeiträgen – materiell-direktive einerseits, personelle und materiell-kontrollative andererseits  – immer nur dort, wo der jeweils andere nicht durchschlägt. Daraus folgt, dass die uneinheitliche Wirkkraft der gemischt personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge nur insoweit hinter der einheitlichen Wirkkraft der materiell-direktiven Legitimations­ beiträge zurückbleiben darf, als trotz bloß inzitativen Charakters eine hinreichend effektive Rückbindung des jeweils letzten Legitimationsmittlers an die vorgesetzte demokratische Instanz ins Werk gesetzt wird. Denn andernfalls kann dieser Legitimationsbeitrag nicht als demokratischer qualifiziert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch entwickeln, weshalb der für einen Legitimationsbeitrag prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit in erster Linie durch seine Stufe demokratischer Vermitteltheit und nur nachrangig durch seine Wirkkraft determiniert wird. Denn unter diesen Voraussetzungen ist die Wirkkraft eines materiell-direktiven Legitimationsbeitrags einerseits sowie eines personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrags andererseits zwar nie identisch, aber auch niemals fundamental verschieden. Des Weiteren weisen auch die Legitimationszusammenhänge, die vom vorletzten Legitimationsmittler – über ge­ gebenenfalls mehrere Vermittlungsstufen – zum Volkswillen hinaufführen, durchweg eine vergleichbare Effektivität auf, selbst wenn sie sich in dem einen Fall stärker über materiell-direktive, im anderen Fall ausschließlich über personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge Bahn brechen. Infolgedessen ist es prinzipiell ausgeschlossen, dass ein Legitimationsbeitrag zwar mittelbarer demokratisch rückgebunden ist als ein anderer Legitimations­ beitrag, er aber um so vieles wirkkräftiger ist, dass er einen hoheitlichen Regelungsgehalt enger an den Volkswillen rückzukoppeln vermag als dieser. Ebenso scheidet es unter den geschilderten Bedingungen aus, dass ein Legitimationsbeitrag zwar auf einer höheren Vermittlungsstufe erbracht wird als ein anderer Legi 761 Zur gebotenen Effektivität demokratischer Legitimation vgl. etwa für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland BVerfGE 83, 60 (71).

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timationsbeitrag, die vom vorletzten Legitimationsmittler auf das Volk zurückführenden Legitimationszusammenhänge bei ihm aber um so vieles effektiver sind als bei besagtem anderen Legitimationsbeitrag, dass er gleichwohl ein höheres Maß an Volkssouveränität kommuniziert als dieser. Auch in der zweiten analytischen Perspektive kann daher dem Grundsatz nach daran festgehalten werden, dass es bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit zuvörderst auf die für einen Legitimationsbeitrag prägenden Stufe demokratischer Vermitteltheit ankommt und dessen Wirkungskraft nur insofern eine Rolle spielt, als diese auf der betreffenden Stufe demokratischer Vermitteltheit für ein gewisses Mehr oder Weniger an demokratischer Legitimation sorgt. Allerdings bleibt darauf hinzuweisen, dass bei der Begründung des skizzierten Vorrangverhältnisses erneut von zwei problembehafteten Prämissen ausgegangen wird762. So wird zum einen an das Vorhandensein eines demokratischen Systems angeknüpft, das einer bestimmten Konvention entsprechend hierarchisch durch­organisiert ist. Zum anderen wird die Effektivität der existierenden Legitimationszusammenhänge vorausgesetzt. Aus den der Sache nach bereits an früherer Stelle dargelegten Gründen bedeutet dies jedoch nicht, dass die Vorstellung eines Vorrangs der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft eines Legitima­tionsbeitrags dogmatisch unbrauchbar wäre. Sie muss lediglich dergestalt zur praktischen Anwendung gebracht werden, dass ihre Prämissen nicht aus dem Blickfeld geraten, sondern – gleichsam beiläufig, aber deshalb nicht unkritisch – überprüft werden. Wie dargetan, sind daher zunächst diejenigen Hoheitsakte zu untersuchen, denen volksunmittelbare Legitimationsbeiträge zuwachsen, bevor auf solche Hoheitsakte eingegangen wird, die durch entsprechend vermitteltere Legitimationsbeiträge geprägt werden.

(4) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit und der Charakter der Legitimationsmittler Spinnt man die bis hierher angestellten Erwägungen fort, so offenbart sich, dass der durch einen bestimmten Hoheitsakt realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit immer auch vom Charakter der einzelnen Legitimationsmittler abhängt. Insbesondere lässt sich in dieser Perspektive genauer nachvollziehen, dass und weshalb im System magistratischer Repräsentation gerade das Parlament dazu beiträgt, ein demokratisch befriedigendes Niveau personeller und materieller Legitimation zu realisieren763. Aber auch dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit abnimmt und folglich das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts steigt, wenn statt eines Einzelmagistraten ein Magistratenkollegium764 oder anstelle eines Beliehe 762

Dazu und zum Folgenden ausführlicher bereits oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (7) = S. 430. Zur zentralen Stellung des Parlaments vgl. oben Kapitel 6 II. 1. = S. 318. 764 Dazu auch schon oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419.

763

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nen ein Angehöriger des öffentlichen Dienstes als Legitimationsmittler fungiert765, tritt in dieser Blickrichtung offen zu Tage. Wenn die vom Parlament entschiedenen beziehungsweise revidierbaren Hoheitsakte ein hohes Maß an demokratischer Legitimation aufweisen, so hängt dies zunächst und zuvörderst damit zusammen, dass das Parlament unmittelbar vom Volk berufen und unmittelbar von diesem kontrolliert wird, die Legitimations­ beiträge mithin auf einer denkbar niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen. Dies erklärt freilich noch nicht, weshalb derartige vom Parlament beherrschte Hoheitsakte den Volkswillen authentischer widerspiegeln sollen als diejenigen, über die ein gleichfalls unmittelbar vom Volk berufener und kontrollierter Einzelmagistrat verfügt. Insofern ist zu beachten, dass die Wirkkraft personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimation, wie dargelegt, von bestimmten strukturellen, prozeduralen und mentalen Determinanten abhängt766. Berücksichtigt man diese, so wird man unschwer zu dem Ergebnis gelangen, dass die personelle demokratische Legitimation des von einem Parlament dezisionär beziehungsweise revisionär beherrschten Hoheitsakts diejenige übertrifft, die einem von magistratischen Einzelrepräsentanten entschiedenen respektive revidierbaren Hoheitsakt zuwächst. Da nämlich das Parlament das Volk strukturell nachbildet767, diskursive Beschlussverfahren pflegt768 und ein die Repräsentationsaufgabe besonders betonenden Abgeordnetenethos769 befördert, werden Parlamentarier in sehr viel effektiverer und nachhaltigerer Weise als magistratische Einzelrepräsentanten dazu angeregt, die ihnen mit dem Berufungsakt zugewachsene Amtsaufgabe zu erfüllen und in ihren Entscheidungen den Volkswillen zu vergegenwärtigen. Wegen eben dieser besonderen strukturellen, prozeduralen und mentalen (Anreiz-)Bedingungen wirkt auch die Inzitation, sich den Willen der Kontrollinstanz Volk anzuverwandeln, bei Angehörigen des Parlaments entsprechend effektiver und nachhaltiger als bei sonstigen volksunmittelbar berufenen Magistraten. Mithin sind parlamentarische Hoheitsakte auch materiell-kontrollativ effektiver und nachhaltiger an den Volkswillen rückgebunden als die eines magistratischen Einzel­ repräsentanten. Es dürfte deutlich geworden sein, dass und weshalb der Entscheidung eines Parlaments, einen Hoheitsakt zu erlassen beziehungsweise nicht zu revidieren, eine besonders hohe legitimatorische Kraft zukommt. Damit ist der strukturelle Zusammenhang zwischen dem Grad demokratischer Abgeleitetheit und dem spezifischen Charakter des Legitimationsmittlers Parlament aber noch nicht erschöpft. Vielmehr lässt sich daran anknüpfend aufzeigen, dass, sofern ein Berufungs-, Gesetzes- oder Kontrollzusammenhang unmittelbar auf das Parlament zurückführt, 765

Hierzu bereits oben Kapitel 6 II. 2. = S. 319. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. 767 v. Komorowski (Fn. 23), S. 138. 768 v. Komorowski (Fn. 23), S. 140 f. 769 Dazu – trotz einer gewissen Einseitigkeit – Hennis (Fn. 112), S. 13 f.

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die insoweit vermittelten personellen, materiell-direktiven und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge ihrerseits in besonders hohem Maße legitimierend wirken. Dass sich die personelle demokratische Legitimation, die ein unmittelbar durch das Parlament berufener Entscheider vermittelt, als besonders leistungsstark erweist, ist rasch begründet: Wegen des durch die Berufung begründeten Loya­ litätszusammenhangs wird sich der betreffende Amtsträger bei der Erfüllung seines Amtsauftrags immer auch daran orientieren, wie das Parlament den Volkswillen vergegenwärtigt. Das Parlament indes vermag den Volkswillen aus den dar­ gelegten Gründen besonders authentisch zu repräsentieren. In dieser Perspektive erklärt sich des Weiteren auch, weshalb ein unmittelbar auf das Parlament zurückführender materiell-direktiver oder aber materiell-kontrollativer Legitimationsstrang eine engere Rückbindung an den Volkswillen bewirkt, als wenn er von einem gleichfalls unmittelbar vom Volk bestellten magistratischen Einzelrepräsentanten ausgeht. Denn aufgrund der genannten strukturellen, prozeduralen und mentalen Faktoren führen die parlamentarischen Vergegenwärtigungen des Volkswillens, wie sie sich über den materiell-direktiven oder aber den materiell-kontrollativen Legitimationsstrang legitimationsbedürftigen Hoheitsakten mitteilen, dichter auf den echten Volkswillen zurück als die magistratischer Einzelrepräsentanten. Aus dem Vorstehenden erhellt, dass vom Parlament entschiedene beziehungsweise revidierbare Hoheitsakte, aber auch Hoheitsakte, die durch einen unmittelbar auf das Parlament zurückführenden Berufungs-, Gesetzes- oder Kontroll­ zusammenhang geprägt sind, besonders eng an den Volkswillen rückgebunden sind. Dass mithin das legitimatorische Potenzial eines Parlaments einerseits und eines unmittelbar volksberufenen Magistraten (etwa eines Präsidenten) andererseits differiert, obgleich ihre jeweilige Berufungskette gleich lang (beziehungsweise richtiger: gleich kurz) ist – just darin liegt der in der Überschrift zu diesem Abschnitt aufleuchtende Konnex zwischen dem für einen Hoheitsakt prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit und dem Charakter des Legitimationsmittlers. Ein solcher Konnex lässt sich freilich nicht nur in Hinblick auf das Parlament feststellen, auch wenn diesem im Rahmen der zeitgenössischen Demokratie besondere Bedeutung zukommt. So vermitteln auch nichtparlamentarische Kollegial­ organe770 den von ihnen entschiedenen beziehungsweise revidierbaren Hoheits­ akten ein höheres Maß an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, als es Einzelmagistrate in vergleichbaren Fällen tun771. Denn insbesondere wegen 770

Vgl. hierzu auch Herzog (Fn. 119), S. 193 f.; zu den Erscheinungsformen der Kollegialverwaltung Groß (Fn. 129), S. 13 ff. 771 Dagegen allerdings Kelsen (Fn. 243), S. 366, der meint, „dass die Vollziehung durch Einzelorgane sich besser eignet als das Kollegialsystem, das nicht nur das Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen, nur mit einer Stimme am Beschluß Beteiligten mindert, sondern auch die Geltendmachung der Verantwortung erschwert.“

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des für nichtparlamentarische Kollegialorgane kennzeichnenden diskursiven Beschlussverfahrens werden derartige Organe intensiver und effektiver als Einzelmagistrate angehalten, ihren Amtsauftrag zu erfüllen beziehungsweise dem Willen ihrer Kontrollorgane zu entsprechen: Der sanfte Zwang zum rationalen Diskurs772 verhindert zumindest tendenziell ein insoweit irrationales Abweichen von den Verhaltensweisen, die durch den Berufungsakt beziehungsweise die Kontrollmöglichkeit angeregt werden. In der Folge weisen denn auch Hoheitsakte, die auf einem auf solche nichtparlamentarischen Kollegialorgane unmittelbar zurückführenden Berufungs-, Gesetzes- oder Kontrollzusammenhang beruhen, ein vergleichsweise hohes Legitimationsniveau auf. Ein weiteres Beispiel für die Implikationen des Charakters eines Legitimationsmittlers für den Grad demokratischer Abgeleitetheit erschließt sich, wenn man das legitimatorische Potenzial eines Beamten oder sonstiger Angehörigen des öffentlichen Diensts mit dem etwa eines Beliehenen773 vergleicht. Im Fall des Beamten beziehungsweise Angehörigen des öffentlichen Diensts führt das Eingebundensein in hierarchische Ordnungs- und Verfahrensmuster und das dadurch beförderte Selbst- und Fremdverständnis als Staatsdiener dazu, dass er besonders effektiv und nachhaltig dazu angeregt wird, seinen Amtsauftrag zu erfüllen und die Wertungen der ihn kontrollierenden Vorgesetzten nachzuvollziehen774. Diese die demokratische Rückbindung verstärkenden strukturellen, prozeduralen und mentalen Zusammenhänge lassen sich bei Beliehenen allenfalls ansatzweise ausmachen775. Daraus folgt zum einen, dass die von Beliehenen entschiedenen oder revidierbaren Hoheitsakte selbst dann in geringerem Maße demokratisch legitimiert sind als die von einem Beamten oder sonstigen öffentlichen Bediensteten beherrschten, wenn deren Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnisse über äußerlich genau dieselbe Legitimationskette auf den Volkswillen zurückführen wie die des Beliehenen. Zum anderen ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass ein Hoheitsakt per se in höherem Maße demokratisch legitimiert ist, wenn er von jemandem entschieden wurde beziehungsweise revidiert werden kann, der – statt von einem Beliehenen – von einem Beamten oder sonstigen öffentlichen Bediensteten in sein Amt berufen wurde, direktiv angeleitet oder kontrolliert wird.

772 Dazu auch Herzog (Fn. 119), S. 193: „Ein unbestreitbarer Vorteil der kollegialen Organisationsform besteht (…) darin, daß man von ihr im allgemeinen gründlichere Beratung und damit auch gründlichere Entscheidung erwarten kann.“ 773 Groß, Die Verwaltungsorganisation als Teil  organisierter Staatlichkeit, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 13 Rn. 89 f. 774 Dagegen allerdings Grottian / Narr, Abschaffung des Berufsbeamtentums?, in: Grottian (Hrsg.), Wozu noch Beamte?, 1996, S. 123 (132 ff.). 775 Etwa insoweit, als sie der Fachaufsicht unterliegen (kritisch dazu Groß [Fn. 773], Rn. 90). Hingegen fehlt es namentlich an der Eingliederung in die Ämterhierarchie (vgl. Isensee, Artikel ‚Beamte‘, in: Görres-Gesellschaft [Hrsg.], Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 584 [585]).

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ff) Die Bestimmung des für einen Hoheitsakt charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit in besonderen Problemkonstellationen Den Grad demokratischer Abgeleitetheit eines Hoheitsakts zu bestimmen, stellt nun nicht nur insoweit besondere Anforderungen an die Einzelfallbetrachtung, als die einzelnen Legitimationsbeiträge eine unterschiedliche Reichweite aufweisen. Zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich in einer Reihe von Problemkonstella­ tionen776. Im Folgenden wird daher erörtert, wie sich der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt, wenn ihm mehrere personelle beziehungsweise materielle Legitimationsbeiträge zuwachsen, er von mehreren Völkern zugleich dezisionär und revisionär legitimiert wird, oder aber die insofern relevante (Ko-)Dezisions- beziehungsweise (Ko-)Revisionsmacht bei einer Organmehrheit respektive einem Kollegialorgan verankert ist. (1) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit personeller beziehungsweise materieller Legitimationsbeiträge Gelegentlich wächst einer Dezisions- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung eine Mehrheit personeller Legitimationsbeiträge zu. Bisweilen wird die Entscheidung über den Erlass eines Hoheitsakts über mehr als einen materiell-direktiven Legitimationszusammenhang rückgebunden. Vielfach erfassen schließlich mehrere materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge zugleich die Entscheidung über Erlass beziehungsweise Nichtrevision eines Hoheitsakts. Eine solche Mehrheit personeller beziehungsweise materieller Legitimationsbeiträge kann bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit nicht ohne Konsequenz bleiben und muss daher dogmatisch verarbeitet werden. Dazu muss zunächst eine doppelte Abgrenzung vorgenommen werden. Zum einen werden nachstehend (noch) nicht die Konstellationen angesprochen, in denen die Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis bei einer Organmehrheit liegt und ein Hoheitsakt schon deswegen von einer Mehrheit personeller beziehungsweise materieller Legitimationsstränge erfasst werden kann. Auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit, der einen Hoheitsakt bei Ausübung der De­zisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit prägt, soll erst an späterer Stelle eingegangen werden777. Zum anderen geht es im Folgenden nicht um den Fall, dass die Entscheidung über Erlass beziehungsweise Nichtrevision eines Hoheitsakts von einer Mehr 776

Dazu auch schon oben Kapitel 6 V. 1. b) bb) (3) = S. 410. Siehe unten Kapitel 6 V. 1. b) ff) (6) = S. 468.

777

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zahl von Völkern getroffen wird, die nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt. Zwar kommt es auch in dieser Konstellation dazu, dass eine Dezisions- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung über mehr als einen personellen oder materiellen Legitimationsbeitrag rückgebunden ist. Doch stehen diese Legitimationsbeiträge demokratisch unverbunden nebeneinander. Sie tragen nicht gemeinsam zu einem einheitlichen Grad demokratischer Abgeleitetheit bei. Vielmehr ist der Grad demokratischer Abgeleitetheit hier in Hinblick auf jede einzelne der Volkssouveränitäten, die sich insoweit durch partizipative dezisionäre und partizipativ-okkasionelle revisionäre Legitimation778 Bahn brechen, gesondert zu bestimmen. Wenn daher an dieser Stelle von einer Mehrheit personeller, materiell-direk­tiver oder materiell-kontrollativer Legitimationsbeiträge die Rede ist, so sind damit ausschließlich diejenigen Fallgestaltungen angesprochen, in denen ein dezisionsbeziehungsweise revisionsbefugtes Entscheidungsorgan erstens durch mehrere Instanzen gemeinsam in sein Amt berufen worden ist779, es mehrere materielle Direktiven verschiedener Instanzen befolgen muss780 oder es sich der sanktions­ bewehrten Kontrollmacht nicht nur einer, sondern zumindest zweier vorgesetzter Instanzen ausgesetzt sieht781; zweitens müssen die mehreren Instanzen, die das dezisions- beziehungsweise revisionsbefugte Entscheidungsorgan berufen, gesetzesförmig anleiten oder kontrollieren, dieselbe staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität vermitteln. Nach dieser Vorabklärung soll nun zunächst die Konstellation erörtert werden, in der eine Mehrheit materiell-direktiver Legitimationsbeiträge vorliegt. Dazu kann es in der hier interessierenden Perspektive lediglich dadurch kommen, dass ein Organ bei Erlass eines Hoheitsakts mehrere, von verschiedenen Organen herrührende Rechtsvorgaben beachten muss und ein Hoheitsakt infolgedessen über mehr als einen materiell-direktiven Legitimationsbeitrag dezisionär rückgebunden wird. Denn eine materiell-direktiv vermittelte revisionäre Legitimation scheidet aus den dargelegten Gründen aus. Will man nun bestimmen, wie diese materiell-direktiven Legitimationsbeiträge den für einen Hoheitsakt charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit determinieren, so ist zunächst zu ermitteln, wie unmittelbar der fragliche Hoheits 778

Dazu oben Kapitel 6 V. 1. = S. 391. Davon ist etwa im Fall des Vorstands und des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit auszugehen. Denn hinsichtlich der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter in diesen Gremien ist der zuständige Bundesminister bei der Bestellung an die Vorschläge der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gebunden – vgl. Emde (Fn. 1), S. 190 f. 780 Diese Konstellation liegt beispielsweise dort vor, wo im Rahmen der berufsständischen Selbstverwaltung der freien Berufe Kammerorgane zugleich an parlamentsgesetzliche und satzungsrechtliche Vorgaben gebunden sind – vgl. Emde (Fn. 1), S. 89 ff. 781 Der Bundesminister unterliegt nicht nur der durch Art. 64 Abs. 1 2. Alternative GG vermittelten Kontrollmacht des Bundeskanzlers, sondern auch der sich auf Art. 67 GG gründenden Kontrollmacht des Parlaments – vgl. Emde (Fn. 1), 1991, S. 341 f. 779

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akt durch diese spezifischen Legitimationsbeiträge jeweils rückgebunden wird. Da ihre Wirkkraft identisch ist, kommt es insofern entscheidend auf ihre jeweilige Stufe demokratischer Vermitteltheit an. Hiernach muss die respektive Reichweite dieser materiell-direktiven Legitimationsbeiträge ausgemessen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in einem normhierarchisch und kompetenzrechtlich geordneten Rechtssystem die von verschiedenen demokratischen Instanzen herrührenden materiell-direktiven Legitimationsbeiträge notwendig unterschiedliche Regelungsgehalte erfassen782. Unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen demokratischen Leistungsstärke und ihrer respektiven Reichweite lässt sich im Weiteren präzisieren, welcher Grad demokratischer Abgeleitetheit der betreffende Hoheitsakt in Hinblick auf seine materiell-direktiv vorgegebenen Regelungsgehalte aufweist. Um den für den Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht insgesamt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit zu bestimmen, braucht dann nur mehr geklärt zu werden, wie volksunmittelbar der von der materiell-direktiven Legitimation nicht erfasste Teil des Hoheitsakts qua personeller und materiell-kontrollativer Legitimation an den Volkswillen rückgebunden ist. Damit ist auch schon zu den Konstellationen übergeleitet, in denen ein Hoheitsakt durch eine Mehrzahl personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimationsbeiträge demokratisch rückgebunden wird. Wachsen einem Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht mehrere personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge zu, so ist im Ausgangspunkt zu bedenken, dass sich diese  – anders als bei einer Mehrzahl materiell-direktiver Legitimationsbeiträge  – nicht auf unterschiedliche Teilgehalte der legitimationsbedürftigen Hoheitsakte beziehen. Vielmehr nehmen sie jeweils den gesamten von der materiell-direktiven Legitimation nicht erfassten Teil des Hoheitsakts in Bezug und tragen zu dessen dezisionärer Legitimation bei. Entsprechendes gilt im Rahmen revisionärer Legitimation: Wird im Rahmen eines bestimmten revisionären Legitimationszusammenhangs, der allein oder  – wahrscheinlicher – zusammen mit anderen revisionären Legitimationszusammenhängen einen Hoheitsakt an den Volkswillen rückkoppelt, eine Mehrzahl personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimationsbeiträge wirksam, so beziehen sich diese ausnahmslos auf die gesamte von dem betreffenden Legitima­ tionszusammenhang erfasste Nichtrevisionsentscheidung.

782 Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass Rechtsbestimmungen unterschiedlicher Instanzen partiell denselben Regelungsgehalt aufweisen. Doch ist dies dann dem Umstand geschuldet, dass die normhierarchisch untergeordnete Rechtsbestimmung den Regelungsgehalt der ihr übergeordneten Vorschrift wiederholend, deklaratorisch, aufgreift. Soweit daher ein Hoheitsakt ergeht, dessen Erlass im skizzierten Sinne durch zwei gleichsinnige Vorgaben determiniert wird, so ist für die Frage seiner materiell-direktiven Legitimation allein die normhierarchisch übergeordnete Vorgabe maßgeblich. Im Ergebnis bleibt es daher dabei, dass die von verschiedenen demokratischen Instanzen herrührenden materiell-direktiven Legitimationsbeiträge notwendig unterschiedliche Regelungsgehalte erfassen.

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Daran knüpft sich die Frage an, wie volksunmittelbar der materiell-direktiv ungeregelte Teil einer Erlassentscheidung einerseits, die aufgrund möglicherweise materiell-direktiv beschränkter Revisionsmacht getroffene Nichtrevisionsentschei­dung andererseits an den Volkswillen rückgebunden ist, wenn denn insofern mehrere personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge greifen. Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst die Stufe demokratischer Vermitteltheit sowie die Wirkkraft zu bestimmen, die für die verschiedenen personellen beziehungsweise materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge jeweils prägend ist. Damit ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, wie die demokra­tische Leistungsstärke der verschiedenen personellen beziehungsweise materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge miteinander zu verrechnen ist, wenn es dar­um geht, den für einen Hoheitsakt charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit zu rekonstruieren. Im Ausgangspunkt zu berücksichtigen ist, dass mehrere personelle beziehungsweise mehrere materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge, die Ausfluss der­ selben staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität sind, in keinem Konkurrenz-, sondern in einem Kumulativverhältnis zueinander stehen783. Schließlich tragen mehrere personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge gemeinsam dazu bei, dass der Wille des dezisions- respektive revisionsbefugten Entscheiders im Wege der Inzitation demokratisch rückgebunden wird. Infolgedessen sind die mehreren personellen beziehungsweise mehreren materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, die einem Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht oder aber im Rahmen eines bestimmten revisionären Legitimationszusammenhangs zuwachsen, funktional als Einheit zu betrachten784. Für die Rekonstruktion des einen Hoheitsakt prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit hat dies die folgende Konsequenz: Die personelle respektive materiell-kontrollative Legitimation, die einem Hoheitsakt aufgrund der Berufung des Entscheiders durch mehrere Instanzen gemeinsam beziehungsweise infolge einer Mehrzahl demokra­ tischer Kontrollmöglichkeiten zuwächst, ist auf derjenigen Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln, auf der der am stärksten vermittelte Legitimationsbeitrag ergeht. Denn daraus ergibt sich, durch wie viele unterschiedliche Partikular­ interessen die als funktionale Einheit zu begreifende personelle respektive mate­ riell-kontrollative Rückkoppelung negativ tangiert sein kann. Dies bedeutet indes nicht, dass die niederstufiger vermittelten personellen respektive materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge für den insoweit realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit ohne Belang wären. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass durch die übrigen Berufungszusammenhänge beziehungsweise Kontrollmöglichkeiten die Wahrscheinlichkeit weiter minimiert wird, dass der 783 Insofern besteht ein Unterschied zu dem (Regel-)Fall, dass mehrere revisionäre Legitimationszusammenhänge auf einen Hoheitsakt zurückführen. Denn insofern besteht ein Konkurrenzverhältnis. 784 So wie ja im Weiteren auch die personelle und materiell-kontrollative Legitimation als funktionale Einheit betrachtet wird. Dazu bereits oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441.

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letzte Legitimationsmittler statt des Willens der vorgesetzten demokratischen Instanzen eigene Partikularinteressen in seine Dezisions- respektive Revisionsentscheidung einfließen lässt. Die übrigen personellen beziehungsweise materiellkontrollativen Legitimationsbeiträge bewirken insofern, dass der an sich zwar mehrfachen, in Ansehung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts indes als Einheit zu deutenden personellen respektive materiell-kontrollativen Legitimation eine höhere Wirkkraft zukommt, als wenn sie allein auf dem am stärksten vermittelten Beitrag beruhte. Die Wirkkraft der einheitlich zu betrachtenden personellen respektive materiell-kontrollativen Legitimation fällt dabei umso höher aus, je wirkkräftiger die zusätzlichen personellen beziehungsweise materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge sind. Denn je effektiver und nachhaltiger der dezisions- beziehungsweise revisionsbefugte Entscheider dazu animiert wird, sich den Willen einer demo­ kratischen Berufungs- beziehungsweise Kontrollinstanz anzuverwandeln, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er eigene Partikularinteressen in seine Entscheidung einfließen lässt.

(2) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker, die nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken Die ohnehin schon komplexe Bestimmung des für einen Hoheitsakt prägenden Grads demokratischer Abgeleitetheit verkompliziert sich zusätzlich dann, wenn ein Hoheitsakt außer an das eine Volk auch noch an andere fremde Völker rück­ gebunden ist. Dazu ist vorab zu erinnern, dass dem Hoheitsakt insofern immer nur ein mehr oder minder abgeschwächtes Maß an exklusiv-perpetueller Legitimation von den jeweiligen Völkern her zuwachsen kann. Denn legitimieren untereinander fremde Völker gemeinsam einen Hoheitsakt, dann steht keinem von ihnen dies­bezüglich eine umfängliche Dezisions- und Revisionsmacht zu785. Allerdings geht es hier nicht um das vorstehend schon erörterte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, sondern um den Grad demokratischer Abgeleitetheit, den ein von mehreren untereinander fremden Völkern legitimierter Hoheitsakt aufweist. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass auch in dieser Konstellation die – jeweils lediglich partizipativ-okkasionelle – Volksherrschaft in den ausschließlichen Formen personeller und materieller Legitimation vermittelt wird786. Es kommt insofern allerdings zu einer Vervielfachung der Legitimationsstränge: Personelle und materielle Legitimationsstränge führen nicht ausschließlich nur auf das eine, sondern mitunter auch auf das andere Volk zurück. Diese Vervielfachung 785

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. = S. 253. Zum Numerus clausus der spezifischen Legitimationsformen siehe oben Kapitel 6 I. 3. c) = S. 312.

786

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der Legitimationsstränge wirkt sich unmittelbar auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit aus. Nun liegt die Konsequenz, die aus der Pluralität der Legitimationsstränge zu ziehen ist, selbstverständlich nicht darin, dass für die Bestimmung des Grads demokratischer Abgeleitetheit darauf abzustellen wäre, in welchem Umfang die verschiedenen Völker den Hoheitsakt beherrschen, wie leistungsstark die im Rahmen dieser Herrschaftsmacht greifenden personellen sowie materiellen Legitimationsbeiträge insgesamt sind. Denn dann, wenn die Völker nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken, lassen sich ihre respektiven Legitimationsbeiträge gerade nicht miteinander verrechnen und kann der für den betreffenden Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit niemals einheitlich, sondern immer nur relativ zu der Volkssouveränität des einen oder des anderen demos bestimmt werden. Doch auch wenn man den Grad demokratischer Abgeleitetheit in dem angesprochenen relativen Sinn rekonstruiert, wird er von dem Umstand beeinflusst, dass der Hoheitsakt von mehreren Völkern legitimiert wird. Denn die Pluralität der Legitimationsstränge wirkt sich auf die Wirkkraft einzelner Legitimationsbeiträge aus, und zwar konkret auf die der materiell-kontrollativen. Die materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge verlieren nämlich an Effektivität und Nachhaltigkeit, wenn ein Hoheitsakt von mehreren Völkern zugleich legitimiert wird. Schließlich beruht die materiell-kontrollative Legitimation auf dem ‚sanften Zwang‘, der dadurch erzeugt wird, dass ein entscheidungsberufener Magistrat oder sonstiger Amtsträger damit rechnen muss, dass die ihm vorgesetzten Instanzen in für ihn unangenehmer Weise auf seine Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung reagieren, wenn diese nicht ihrem Willen folgt787. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Reaktion nimmt freilich in dem Maße ab, in dem der Amtsträger geltend machen kann, dass ein Hoheitsakt nicht nur von seinem, sondern auch von dem Willen fremder Völker abhängt788. Denn der Hinweis, aber auch der Vorwand, dass die Mitwirkung anderer Völker zu Kompromissen nötigt, bewirkt, dass die Kontrollinstanz bei unliebsamen Entscheidungen des Amtsträgers nicht mehr ohne Weiteres zu Kontrollmaßnahmen greifen kann. Vielmehr muss zunächst unter teils erheblichem investigativen Aufwand ermittelt werden, ob unter den gegebenen Bedingungen überhaupt Alternativen zu dem vom eigenen Amtsträger mit beschlossenen Hoheitsakt bestanden und bestehen. Dabei ist zu differenzieren. Denn wie hoch der investigative Aufwand im Einzelnen ist, hängt insbesondere davon ab, ob sich die Mitherrschaft des fremden Volks nur über materiell-direktive oder aber (auch) über personelle und mate­ riell-kontrollative Legitimationsbeiträge mitteilt. Schließlich lässt sich noch vergleichsweise leicht ermitteln, inwieweit eine Hoheitsentscheidung durch materi 787

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) bb) = S. 290. Zum Phänomen des ‚scapegoating‘ auf europäischer Ebene Gretschmann, Traum oder Alptraum?, in: APUZ 2001, B 5, S. 25 (27). 788

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elle Direktiven präjudiziert ist. Folglich fällt es in diesem Fall sichtlich leichter, die Verantwortlichkeit des eigenen Amtswalters zu rekonstruieren, als wenn er mit den Vertretern der anderen Völker gemeinsam die Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung fällt. Ungeachtet dieser Differenzierung lässt sich gleichwohl allgemein feststellen, dass die durch das Zusammenwirken mehrerer Völker bedingte strukturelle Erschwernis der Kontrolltätigkeit die Wahrscheinlichkeit von Kontrollreaktionen absinken lässt und damit letztendlich die Effektivität sowie die Nachhaltigkeit materiell-kontrollativer Legitimation beeinträchtigt. Anders formuliert: Da ein verantwortlichkeitsförderndes Näheverhältnis der Kontrollinstanz zur Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung dann allenfalls in Ansätzen entstehen kann, wenn mehrere untereinander fremde Völker einen Hoheitsakt beherrschen, kommt der materiell-kontrollativen Legitimation unter diesen Bedingungen eine nur geringe Wirkkraft zu.

(3) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken Die zuletzt angestellten Erwägungen lassen sich nun auch auf die Konstellation übertragen, dass ein Hoheitsakt von mehreren Völkern legitimiert wird, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken. Zwar mindert in diesem Fall die Einbindung anderer Völker nicht schon das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation. Um dieses geht es insofern aber auch gar nicht. In Hinblick auf den stattdessen interessierenden Grad demokratischer Abgeleitetheit ist indes zu konstatieren, dass es durchaus direkte Auswirkungen auf die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation hat, wenn untereinander als Teil-, Unter- oder Obervölker qualifizierbare demoi gemeinsam einen Hoheitsakt legitimieren. Denn auch insofern greift der beschriebene Mechanismus, dass die Vertreter der einzelnen Völker ihre Erlass- und Nichtrevisionsentscheidungen unter Hinweis auf die Einflussmacht des jeweils anderen Volks gegen Kritik tendenziell immunisieren können, unter diesen Voraussetzungen die Wahrscheinlichkeit sanktionierender Maßnahmen abnimmt und dadurch die mate­ riell-kontrollative Legitimation sich abschwächt. Es fehlt also gleichfalls an einem effektiv verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis der Kontrollinstanz zum legitimationsbedürftigen Hoheitsakt789. Dies lässt sich am Beispiel einer gemeindlichen Satzung veranschaulichen790: Macht die Gemeinderatsmehrheit geltend, dass es wegen andernfalls drohender 789

Siehe dazu eben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453. Zur gemeindlichen Satzung vgl. lediglich Faber (Fn. 705), § 11 II.

790

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kommunalaufsichtlicher Maßnahmen791 keine Alternative zu einem vom Gemeindevolk so nicht gewünschten Satzungsinhalt gibt, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie just dafür bei den nächsten Gemeinderatswahlen vom Gemeindevolk zur Verantwortung gezogen wird. Denn das Gemeindevolk wird vielfach nicht in der Lage sein nachzuvollziehen, ob diese rechtlichen Zwänge wirklich existieren. Dass die gemeindliche Satzung auch an das Landesstaatsvolk rück­ gebunden ist, führt mithin dazu, dass die ihr vom Gemeindevolk zuwachsende materiell-kontrollative Legitimation nur bedingt effektiv ist. Bei der gemeinsamen Legitimation von Hoheitsakten durch mehrere Völker, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken, ist indes nicht nur die relative Einbuße an materiell-kontrollativer Legitimation zu berücksichtigen, die als solche auch bei der Legitimation eines Hoheitsakts durch demoi-kratisch unverbundene Völker zu verzeichnen ist. Zu beachten ist in dieser Konstellation ferner, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit immer auch davon abhängt, in welchem Umfang und Ausmaß die einzelnen Völker über die von ihnen ausgehenden Legitimationsstränge konkret Volksherrschaft vermitteln. Während nämlich bei der Legitimation eines Hoheitsakts durch einander fremde Völker die von diesen ausgehenden Legitimationsstränge streng voneinander zu trennen sind und sich demzufolge auch der Grad demokratischer Abgeleitetheit getrennt beurteilt, zeichnet sich die hier interessierende Fallgestaltung dadurch aus, dass die betroffenen Völker gemeinsam zur Erzeugung derselben Volks­souveränität beitragen und mithin auch der in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit einheitlich zu bestimmen ist. Wie dies geschieht, soll im Folgenden nach der dezisionären wie auch nach der revisionären Seite hin geklärt werden. Treffen verschiedene Völker desselben dezentrierten demos die Entscheidung über Inhalt und Erlass eines Hoheitsakts, so bestimmt sich dessen in dezisionärer Hinsicht realisierter Grad demokratischer Abgeleitetheit folgendermaßen: Erstens ist zu ermitteln, in welchem respektiven Umfang die betreffenden Völker den Hoheitsakt tatsächlich entschieden haben. Zweitens muss überlegt werden, wie leistungsstark die im Rahmen dieser jeweiligen Kodezisionsmacht in personeller sowie materieller Hinsicht geleisteten Legitimationsbeiträge sind. Vor diesem doppelten Hintergrund lässt sich der für den Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit sodann drittens dergestalt rekonstruieren, dass man die Leistungsstärke der dem Hoheitsakt insgesamt zuwachsenden personellen und materiellen Legitimation proportional zum Umfang ihrer respektiven (Ko-)Dezisionsmacht nach der Leistungsstärke der von den zusammenwirkenden Völkern jeweils herrührenden Legitimationsbeiträge bestimmt. Knapper formuliert: Der für einen Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit bemisst sich dann, wenn mehrere Völker in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammen 791

Zur Kommunalaufsicht nur Pieper (Fn. 125), S. 362 ff.

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wirken, danach, in welchem respektiven Umfang die betreffenden Ober- und Untervölker den Hoheitsakt tatsächlich entschieden haben und wie leistungsstark die im Rahmen dieser jeweiligen Kodezisionsmacht in personeller sowie materieller Hinsicht geleisteten Legitimationsbeiträge sind. Kommt daher dem einen, den Hoheitsakt mit erlassenden Volk eine relativ große Einflussmacht zu, zeichnen sich die von ihm herrührenden Legitimationsbeiträge indes durch eine hohe Stufe demokratischer Vermitteltheit und eine geringe Wirkkraft aus, so wird auch der fragliche Hoheitsakt insgesamt in dezisionärer Hinsicht durch einen vergleichsweise hohen Grad demokratischer Abgeleitetheit und ein entsprechend niedriges Niveau demokratischer Legitimation geprägt sein. Abstrakt betrachtet, bereitet die hier vorgeschlagene Rekonstruktion dann besondere Schwierigkeiten, wenn für das Zusammenwirken der betreffenden Völker das Mehrheitsprinzip gilt. Denn soweit das Mehrheitsprinzip Platz greift, muss an sich stets noch analysiert werden, welche Völker überstimmt worden sind. Bei der Bemessung des in dezisionärer Hinsicht generierten Grads demokratischer Abgeleitetheit haben nämlich korrekterweise die bloß virtuellen Legitimationsbeiträge außer Betracht zu bleiben, die die überstimmten Völker hätten leisten können, effektiv aber nicht geleistet haben792. In einer mehr praktischen Perspektive lässt sich die Komplexität dieser legitimatorischen Zusammenhänge freilich deutlich reduzieren. So ist zu berücksichtigen, dass der in dezisionärer Hinsicht realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit durch die Geltung des Mehrheitsprinzips normalerweise, wenn überhaupt, nur marginal beeinflusst wird. Denn soweit Völker, die demselben demos angehören, nach Maßgabe des Majoritätsprinzips zusammenwirken, weisen ihre personellen und materiellen Legitimationsbeiträge im Regelfall eine vergleichbare Leistungsstärke auf. Dies hängt damit zusammen, dass das Mehrheitsprinzip bislang nur dort Anwendung auf die demoi-kratische Erzeugung staatsgebiets­einheitlicher Volkssouveränität Anwendung findet, wo demokratisch organisierte Flächenstaaten dergestalt zusammenwirken, dass sie entweder unmittelbar gewählte Abgeordnete oder aber Regierungsvertreter in ein gemeinsames Entscheidungsgremium entsenden. In beiden Konstellationen liegt es auf der Hand, dass sich die von den zusammenwirkenden Völkern herrührenden Legitimationsbeiträge in puncto Leistungsstärke allenfalls leicht voneinander unterscheiden. Soweit daher keine Gegenindizien vorliegen, kann für Hoheitsakte, die von mehreren Völkern in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität qua Mehrheitsbeschluss erlassen werden, davon ausgegangen werden, dass sie – ungeachtet dessen, welches Volk überstimmt wurde  – in dezisionärer Hinsicht stets einen weitgehend identischen Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen. In der Perspektive demokratietheoretischer Modellbildung lässt sich daraus der folgende Schluss ziehen: Wirken verschiedene Völker in Erzeugung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips zusammen, so braucht zur 792

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) aa) = S. 392.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Bestimmung des für einen Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit nicht auf den Umfang der verschiedenen, von den einzelnen Völkern tatsächlich ausgehenden Legitimationsbeiträge und auf deren Leistungskraft abgestellt zu werden; es genügt, wenn insoweit die Leistungskraft der von einem idealtypischen Volk ausgehenden Legitimationsbeiträge ermittelt wird. Die vorstehenden Überlegungen sollen für den Fall veranschaulicht werden, dass in einem Bundesstaat ein Bundesgesetz nur unter gleichberechtigter Beteiligung der nach dem Mehrheitsprinzip verfahrenden Staatenkammer ergehen kann: Der für ein solches Gesetz in dezisionärer Hinsicht kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit bemisst sich je zur Hälfte nach den über das Bundesparlament einerseits sowie über die Staatenkammer andererseits vermittelten Legitimationsbeiträgen. Soweit sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit hälftig nach den über die Staatenkammer vermittelten Legitimationsbeiträgen bestimmt, dürften an sich nur die real wirksamen, nicht die bloß virtuellen in den Blick genommen werden. Jedoch ist es mangels gegenläufiger Indizien zulässig, die im Rahmen der Kodezisionsmacht der Staatenkammer bewirkte Legitimation generalisierend danach zu beurteilen, wie leistungskräftig die Legitimationsbeiträge sind, die von einem der insofern zusammenwirkenden Völker generiert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass, wenn die Staatenkammer nicht nach dem Senatssystem793 organisiert ist794, die über sie vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation schon wegen des Vorrangs der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge795 hinter die vom Parlament vermittelte Legitimation zurückfällt796. Wird ein Bundesgesetz daher im rechtlich geforderten Konsens mit einer solchen Staatenkammer erlassen, wächst ihm in dezisionärer Hinsicht ein geringeres Maß an demokratischer Legitimation zu als einem allein vom Bundesparlament beschlossenen Gesetz. Dies gilt freilich ebenso, wenn auch in geringerem Ausmaß, wenn man vergleicht, welchen Grad demokratischer Abgeleitetheit ein Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht aufweist, wenn er in dem einem Fall allein vom Bundesparlament, in dem anderen von Bundesparlament und parlamentarisch organisierter Staatenkammer erlassen wird. Zwar erfolgt die personelle und materiell-kontrollative Legitimation insofern beide Male auf der ersten Stufe demokratischer Vermittelt 793

Dazu nur Herzog (Fn. 119), S. 252. Sondern als Vertretung der Länderregierungen (Modell des deutschen Bundesrates) beziehungsweise der Länderparlamente (Modell des österreichischen Bundesrats) – vgl. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, § 63 b). 795 Dazu mit den notwendigen Differenzierungen siehe oben Kapitel 6 V. 1.  b)  ee)  (3) = S. 441. 796 Im Übrigen übertreffen die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, die einem allein vom Parlament beschlossenen Gesetz zuwachsen, auch in puncto Wirkkraft die personelle und materiell-kontrollative Legitimation, in der ein zugleich vom Parlament und von einer nichtparlamentarischer Staatenkammer erlassenes Gesetz erwächst. Dies folgt aus dem Charakter des jeweils letzten Legitimationsmittlers. 794

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heit. In Hinblick auf die Mehrheit der legitimationsstiftenden Völker fällt indes die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge im Fall der Mitentscheidungsmacht der Staatenkammer geringer aus, als wenn das Bundesparlament den Hoheitsakt allein erlässt. Wendet man sich im Weiteren dem in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit zu, so ergibt sich, wenn die Revisionsmacht auf mehrere Völker zugleich zurückführt, folgende Besonderheit: Je nachdem, ob die Völker nach dem Konsens- oder nach dem Mehrheitsprinzip zusammenwirken, kann die Nichtrevisionsentscheidung zeitweise mitunter auch nur von einem Volk beziehungsweise einer knappen Mehrheit von Völkern tatsächlich getragen sein. Für den Grad demokratischer Abgeleitetheit, der einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht kennzeichnet, bedeutet dies, dass er sich insofern allein danach bemisst, wie leistungsstark die von dem einen Volk herrührenden Legitimationsbeiträge sind beziehungsweise in welchem Umfang die einzelnen Mehrheitsvölker die von ihnen getragene Nichtrevisionsentscheidung legitimieren und wie leistungsstark die insofern generierten Legitimationsbeiträge sind. Nun wird freilich eine solche rein situative Betrachtungsweise der revisionären Legitimation nicht wirklich gerecht wird797. Denn erstens ist die revisionäre Legitimation ihrem Bewirkungsmodus nach repetierlich, was bei einer rein situativen Betrachtungsweise ausgeblendet bleibt. Zweitens lässt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht kennzeichnet, bei rein situativer Betrachtungsweise niemals in der Weise bestimmen, dass er mit dem für andere Hoheitsakte in revisionärer Hinsicht prägenden Grad demokratischer Allgemeinheit allgemein und eben nicht bloß für einen singulären Zeitpunkt verglichen werden könnte. Insofern kommt es darauf an, eine Methode zu entwickeln, um den für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit in generalisierender Weise zu bestimmen. Hierzu wird ein Rekonstruk­ tionsmuster vorgeschlagen, das strukturell dem entspricht, das auch für die Bemessung des in dezisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit zugrundegelegt wurde. Demnach ist erstens zu eruieren, in welchem respektiven Umfang die Völker tatsächlich Revisionsmacht auszuüben in der Lage sind. Zweitens ist zu ermitteln, wie leistungsstark die im Rahmen dieser jeweiligen Korevisionsmacht in personeller und materieller Hinsicht gegebenenfalls verfangenden Legitimationsbeiträge sind. Vor diesem doppelten Hintergrund lässt sich der für den Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit sodann drittens dergestalt rekonstruieren, dass man die Leistungsstärke der dem Hoheitsakt insgesamt zuwachsenden personellen und materiellen Legitimation proportional zum Umfang ihrer respektiven Korevisionsmacht nach der Leistungsstärke der von den zusammenwirkenden Völkern jeweils herrührenden 797

Dazu bereits oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397.

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Legitimationsbeiträge bestimmt. Kurzum: Der für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit soll sich dann, wenn mehrere Völker in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken, bei generalisierender Betrachtungsweise danach bemessen, in welchem respektiven Umfang die einzelnen Völker an der den fraglichen Hoheitsakt erfassenden Revisionsmacht tatsächlich partizipieren und wie leistungsstark die im Rahmen dieser jeweiligen Korevisionsmacht in personeller sowie materieller Hinsicht gegebenenfalls verfangenden Legitimationsbeiträge sind. Begründen lässt sich dieses Rekonstruktionsmodell durch folgende Erwägung: Je größer die Revisionsmacht eines demos ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Nichtrevisionsentscheidung von dem betreffenden Volk mitgetragen wird und infolgedessen auch deren Grad demokratischer Abgeleitetheit durch die Leistungsstärke der von diesem Volk herrührenden Legitimationsbeiträge geprägt wird798. Je schmaler die Revisionsmacht des demos ausfällt, desto häufiger wird es vorkommen, dass eine Nichtrevisionsentscheidung in Geltung bleibt, obwohl dies dem Volkswillen widerstreitet. Insofern macht es bei generalisierender Betrachtungsweise in der Tat Sinn, den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit nach dem Umfang der jeweiligen Revisionsmacht und der Leistungsstärke der in diesem Rahmen gegebenenfalls verfangenden Legitimationsbeiträge zu bestimmen, selbst wenn es situativ dazu kommen kann, dass das über die größere Revisionsmacht verfügende Volk gar nicht zur revisionären Legitimation eines Hoheitsakts beiträgt. Bemisst sich demnach der für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit nach strukturell denselben Gesichtspunkten, wie sie zur Bestimmung des in dezisionärer Hinsicht kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit herausgearbeitet wurden, so lassen sich auch die eben zum Mehrheitsprinzip angestellten Erwägungen auf den Fall der revisionären Legitimation übertragen. Wirken daher verschiedene Völker in Erzeugung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips zusammen, so genügt es typischerweise, wenn zur Bestimmung des für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer

798 Diese Argumentation ist nicht völlig neu, sondern mutatis mutandis auch schon in Zusammenhang mit dem Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation bemüht worden. Durch sie ließ sich erklären, weshalb der Anteil der Revisionsmacht, der dem legitimationsstiftenden Volk neben den volksfremden Entscheidungsträgern zukommt, bei generalisierender Betrachtung Rückschlüsse auch auf das Ausmaß der Perpetualität revisionärer Legitimation zulässt – siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397. Dass mit dieser Argumentation nun entsprechend auch im vorliegenden Kontext operiert werden kann, ist freilich nicht weiter erstaunlich. Denn auch insofern geht es darum, den Umstand legitimationstheoretisch zu verarbeiten, dass ein und dieselbe Nichtrevisionsentscheidung nicht notwendig durchgängig auf den Willen einer bestimmten revisionsmächtigen Instanz zurückführt, sofern diese die Revisionsmacht nicht alleine ausübt. Es geht mit anderen Worten um dasselbe Problem – allerdings in Hinblick auf eine andere Dimension von Volkssouveränität.

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Abgeleitetheit auf die Leistungsstärke der Legitimationsbeiträge abgestellt wird, über die sich die Revisionsmacht (nur) eines der fraglichen Völker Bahn bricht.

(4) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit Soll der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit für Fälle bestimmt werden, in denen die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit ausgeübt wird, so muss zwischen zwei (Unter-)Konstellationen unterschieden werden. In erster Linie ist insofern an die Fallgestaltung zu denken, bei der eine Organmehrheit den in legitimatorischer Hinsicht in den Blick genommenen Hoheitsakt erlassen beziehungsweise revidieren darf. Daneben interessiert aber auch die Konstellation, in der die Rechtsnorm, die den in den Blick genommenen Hoheitsakt materiell-direktiv legitimiert, ihrerseits der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht einer Organmehrheit untersteht. Wendet man sich zunächst der ersten dieser beiden (Unter-)Konstellationen zu, so kommt es für den einen Hoheitsakt prägenden Grad demokratischer Abgleitetheit entscheidend darauf an, in welchem Umfang jedes einzelne der zusammenwirkenden Organe den Hoheitsakt mitbeherrscht und wie leistungsstark die im Rahmen dieser Einflussmöglichkeiten verfangenden personellen, materiell-direktiven beziehungsweise materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge sind. Hinsichtlich der dezisionären Legitimation liegt diese Bestimmungsmethode auf der Hand. Veranschaulichen lässt sie sich an der Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz799. Ist es beispielsweise der vom Parlament gewählten Regierungsexekutive vorbehalten, den Einsatz der Streitkräfte zu initiieren sowie dessen genauen Umfang zu determinieren, und kommt dem Parlament lediglich die Befugnis zu, dem Streitkräfteeinsatz entweder zuzustimmen oder ihn abzulehnen800, so wächst dem Einsatzbefehl dezisionär zwar sowohl im Rahmen der Mitentscheidungsmacht des Parlaments als auch nach Maßgabe der exekutiven Mitbestimmungsbefugnis personelle und materiell-kontrollative Legitimation zu. Jedoch ist der Einfluss der Regierung in diesem Fall größer als der des Parlaments. Denn diesem kommt letzten Endes nur ein Vetorecht zu801. Infolgedessen wird der Einsatzbefehl in dezisionärer Hinsicht in relativ geringerem Umfang von den personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen geprägt, die ihm aufgrund der Mitentscheidungsmacht des Parlaments zuwächst; stattdessen wird der für 799 Dazu für das Grundgesetz Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 87a Rn. 6 ff. 800 Dem entspricht die Regelungslage nach dem Grundgesetz, vgl. BVerfGE 90, 286 ff. 801 Vgl. dazu auch Zippelius / Würtenberger (Fn. 150), § 51 II 2. 

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den Einsatzbefehl in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit überwiegend von den personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen bestimmt, die an die Entscheidungsmacht der Exekutive anschließen. Deren Leistungsstärke ist geringer als die derjenigen Legitimationsbeiträge, die an die Dezisionsmacht des Parlaments anknüpfen. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass sie auf einer vergleichsweise höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sind. Davon ist nämlich nicht nur hinsichtlich der personellen Legitimationsbeiträge auszugehen, wo dies evident ist. Entsprechendes gilt auch für die materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge. Zwar wächst den (Mit-)Entscheidungen der Exekutive durchaus auch eine einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation zu, wie sie für Parlamentsentscheidungen charakteristisch ist. Denn schließlich untersteht die Regierungsexekutive insofern der Kontrollmacht des Volks, als dieses über die Abwahl des Parlaments zugleich über das Schicksal der parlamentsabhängigen Exekutive zu entscheiden vermag. Allerdings steht dieser einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag nicht allein. Hinzu tritt der zweifach vermittelte materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag, der sich aus den Kontrollmöglichkeiten ergibt, denen die Exekutive von Seiten des Parlaments ausgesetzt ist. Nun sind diese verschiedenen materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge als funktionale Einheit zu begreifen und als solche auf derjenigen Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten, auf der der am längsten vermittelte materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag ergeht802. Folglich wächst dem Einsatzbefehl im Rahmen der Kodezisionsmacht der Gubernative – anders als im Rahmen der Mitentscheidungsbefugnis des Parlaments – nur eine zweifach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation zu803. Aus alldem folgt denn auch, dass sich das in dezisionärer Hinsicht realisierte Legitimationsniveau militärischer Einsatzbefehle deutlich erhöhen ließe, wenn die 802

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) = S. 449. An dieser Stelle tritt nochmals offen zu Tage, weshalb es so wichtig ist, zwischen den beiden Grundkonstellationen zu unterscheiden, in denen sich mehrere materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge einem Hoheitsakt kommunizieren. Gemeint ist zum einen die Konstellation, in der ein dezisions- beziehungsweise revisionsbefugtes Organ durch mehrere vorgesetzte Organe kontrolliert wird; zum anderen geht es um die Konstellation, in der eine Organmehrheit dezisions- beziehungsweise revisionsbefugt ist und sich über jedes der beteiligten Organe voneinander verschiedene materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge Bahn brechen. Schließlich gilt in der zuletzt erwähnten Konstellation gerade nicht, dass sich der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit nach der Stufe demokratischer Vermitteltheit bestimmt, den der am stärksten vermittelte materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag aufweist. Entscheidend ist vielmehr, zu welchem Anteil die mehreren dezisions- beziehungsweise revisionsbefugten Organe die legitimationsbedürftige Hoheitsentscheidung beherrschen. Diesem Anteil entsprechend prägt dann auch die über sie vermittelte und sich gegebenenfalls aus mehreren Beiträgen zusammensetzende materiell-kontrollative Legitimation den hinsichtlich der Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit. 803

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diesbezüglichen Einflussmöglichkeiten des Parlaments, insbesondere was deren sachlichen, räumlichen und zeitlichen Umfang der Einsätze anbelangt, ausgeweitet würden. In Hinblick auf die revisionäre Legitimation bedarf es einer näheren Begründung, weshalb sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit danach bestimmen soll, mit welchem Anteil die zusammenwirkenden Organe an der Revisionsmacht partizipieren und wie leistungsstark die insofern jeweils generierten Legitima­tionsbeiträge sind. Schließlich kann eine Nichtrevisionsentscheidung gegebenenfalls auch von einem einzigen Organ getragen804 und infolgedessen nur über die von diesem Organ vermittelten Legitimationsbeiträge demokratisch rückgebunden sein. Diese legitimatorische Situation liegt quer zu der hier vorgeschlagenen Bestimmungsmethode. Allerdings kann sich diese legitimatorische Situation auch schnell wieder ändern. Deshalb sollte im Rahmen demokratietheoretischer Modellbildung einer generalisierenden Perspektive der Vorzug gegeben werden805. In dieser Blickrichtung macht es Sinn, auch zur Ermittlung des in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit darauf abzustellen, in welchem Umfang die zusammenwirkenden Organe an der Revisionsmacht teilhaben und wie leistungsstark die im Rahmen dieser Einflussmöglichkeiten greifenden personellen sowie materiellen Legitimationsbeiträge sind. Denn je größer die Revisionsmacht eines Organs ausfällt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Nichtrevisionsentscheidung von ihm mitgetragen wird und in der Folge auch deren Grad demokratischer Abgeleitetheit durch die von diesem Volk herrührenden Legitimationsbeiträge geprägt wird. Die strukturelle Parallele zu den eben geschilderten Legitimationszusammenhängen beim Zusammenwirken von mehreren Völkern eines dezentrierten demos ist insofern deutlich erkennbar806. Dies legt die Folgefrage nahe, ob, wenn eine Organmehrheit als institutioneller Träger demokratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht fungiert, ähnliche Dysfunktionen im Bereich der materiell-kontrollativen Legitimation zu gewärtigen sind, wie sie für den Fall der gemeinsamen Legitimation von Hoheitsakten durch verschiedene Völker beschrieben worden sind807. Dies ist grundsätzlich zu bejahen. Denn auch in diesem Fall können die zusammenwirkenden Organe gegenüber ihren respektiven Kontrollorganen jeweils geltend machen, dass sie eine bestimmte Entscheidung nur deswegen getroffen haben, weil sie einen Kompromiss mit dem anderen entscheidungsbefugten Organ eingehen mussten. Jedoch sollte zwischen zwei Fallgestaltungen differenziert werden, in denen die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit ausge 804 Dies ist der Fall, wenn die von allen übrigen gewünschte Revisionsentscheidung nur durch einen einstimmigen Beschluss in Geltung gesetzt werden kann. 805 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397. 806 Siehe zum Vergleich oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. 807 Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453.

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übt wird: In der einen Konstellation übt das eine der zusammenwirkenden Organe Kontrollmacht über das andere aus; in der anderen Fallgestaltung fehlt es an einem derartigen Kontrollzusammenhang zwischen den betreffenden Organen. Übt nämlich das eine Organ Kontrollmacht über das andere aus, ist die Wirkkraft der über die beiden Organe vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation lediglich leicht abgeschwächt. Veranschaulichen lässt sich dies am eben näher entwickelten Beispiel des Streitkräfteeinsatzes. So kann das Parlament beziehungsweise dessen Mehrheit gegenüber dem Kontrollorgan, nämlich dem Volk, letztlich nicht überzeugend geltend machen, dass der konkrete Einsatzbefehl auf einem Kompromiss mit der Regierung beruht. Schließlich wird die Regierung vom Parlament kontrolliert, sodass dieses an sich in der Lage wäre, seinen Willen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Der Regierung wiederum wird es nicht wirklich gelingen, die parlamentarische Kontrolle unter Hinweis auf die notwendige Kompromissfindung zu erschweren, weil das Parlament als Mitentscheider genau weiß, inwieweit der Streitkräfteeinsatz der Regierung zurechenbar ist und inwieweit nicht. Unter diesen Bedingungen ist die Entscheidung über den Streitkräfteeinsatz den genannten Kontrollinstanzen mithin strukturell nur leicht entrückt, das verantwortlichkeitsfördernde Näheverhältnis zwischen den fraglichen Kontrollinstanzen und der kontrollierten Entscheidung nur ansatzweise beeinträchtigt. Der somit beispielhaft veranschaulichte Umstand, dass die Einbuße an mate­ riell-kontrollativer Legitimation, wie sie die Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit hervorruft, dann vergleichsweise gering ausfällt, wenn das eine Organ der Kontrollmacht des anderen unterfällt, lässt sich in zweierlei Hinsicht noch näher präzisieren. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass der materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag, den das das andere Mitentscheidungsorgan kontrollierende Organ vermittelt, durch das organmehrheitliche Zusammenwirken umso weniger abgeschwächt wird, je effektiver und nachhaltiger die von ihm ausgeübte Kontrollmacht ist. Denn desto weniger wird das die Kontrollmacht ausübende Organ sich gegenüber seinem Kontroll­ organ einleuchtend darauf berufen können, die gemeinsam mit dem kontrollierten Organ getroffene Entscheidung beruhe auf einem Kompromiss mit diesem. Für die als Beispielsfall herangezogene Konstellation des Streitkräfteeinsatzes bedeutet dies, dass die Wirkkraft der über das Parlament vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation dadurch, dass das Parlament gemeinsam mit der Regierungsexekutive über den Militäreinsatz entscheidet, so gut wie gar nicht beeinträchtigt wird. Denn die seitens des Parlaments über die Exekutive ausgeübte Kontrollmacht erweist sich schon deshalb als besonders effektiv und nachhaltig, weil das Parlament jederzeit die Regierung stürzen kann. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die materiell-kontrollative Legitimation, die das durch das andere Mitentscheidungsorgan kontrollierte Organ vermittelt, infolge des organmehrheitlichen Zusammenwirkens nur insofern allenfalls leicht beeinträchtigt wird, als es um denjenigen materiell-kontrollativen Legitima-

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tionsbeitrag geht, der an die Kontrollmacht des anderen Mitentscheidungsorgans anknüpft. Soweit sich das fragliche Organ zusätzlich noch der Kontrolle anderer Organe ausgesetzt sieht und sich ihnen gegenüber auf den Kompromisscharakter der Entscheidung berufen kann, kommt es insoweit durchaus zu einer relevanten Abschwächung der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation. Darauf ist Bedacht zu nehmen, wenn die Wirkkraft der funktional als Einheit zu betrachtenden materiell-kontrollativen Legitimation bestimmt wird, die das von dem anderen Mitentscheidungsorgan kontrollierte Organ vermittelt. Ist daher im Beispiel des Streitkräfteeinsatzes die Regierung einer Kontrolle auch durch das Volk ausgesetzt, kommt es in Ansehung des insoweit begründeten materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhangs – als Konsequenz aus dem Zusammenwirken von Parlament und Exekutive – durchaus zu den geschilderten legitimatorischen Dysfunktionen. Auch aus diesem Grund trägt der an die Kontrollmacht des Volks anknüpfende materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag nur sehr beschränkt dazu bei, die Wirkkraft zu erhöhen, die der von der Regierung vermittelten und funktional als Einheit zu betrachtenden materiellen Legitimation zukommt808. Neben der Konstellation, dass bei einem organmehrheitlichen Zusammen­ wirken das eine der Organe Kontrollmacht über das andere ausübt, ist ferner diejenige in den Blick zu nehmen, in der dies nicht der Fall ist. Hier schwächt sich die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation deutlich stärker ab. Kann beispielsweise der volksunmittelbar bestellte Präsident einen obersten Bundesrichter nur mit Zustimmung der zweiten Kammer in sein Amt berufen809, so können beide Entscheidungsträger, also sowohl das Staatsoberhaupt als auch die Parlamentarier gegenüber dem Wahlvolk als ihrer jeweiligen Kontrollinstanz geltend machen, dass die Richterernennung auf einem Kompromiss beruhe. Dadurch wird eine effektive Kontrolle erheblich erschwert und verdünnt sich in massiver Weise die materiell-kontrollative Legitimation, die der Verordnung über die beiden Entscheidungsträger und im Rahmen ihrer jeweiligen Entscheidungsbefugnisse zuwächst. Strukturell entspricht diese Konstellation vollständig derjenigen bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker. Damit ist im Einzelnen dargetan, wie sich der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit rekonstruiert, wenn eine Organmehrheit die diesbezügliche Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht ausübt. Bleibt im Weiteren noch kurz darauf einzugehen, wie sich der für einen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt, wenn nicht dieser selbst, sondern die ihn legitimierende materielle Direktive der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht einer Organmehrheit unterliegt. In diesem Fall lässt sich die Stufe demokratischer Vermitteltheit nicht einheitlich bestimmen, auf der die materiell-direktive Legitimation ergeht und insofern den für den fraglichen Ho 808

Zum Hauptgrund, nämlich dem fehlenden strukturellen Näheverhältnis, vgl. oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. 809 Vgl. Art. 2 Abschnitt 2 Abs. 2 Satz 2 US-amerik. Verf.

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heitsakt prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit determiniert. Vielmehr ist daran anzuknüpfen, in welchem Umfang jedes einzelne der zusammenwirkenden Organe die materielle Direktive dezisionär beziehungsweise revisionär beherrscht und wie vermittelt die im Rahmen dieser Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht verfangende Legitimation ist. Daraus ergibt sich nämlich, zu welchem Anteil die materielle Direktive auf welcher Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist. Erhöht um die Ziffer 1 erschließt sich daraus die Stufe demokratischer Vermitteltheit, auf der die materiell-direktive Legitimation des zu prüfenden Hoheitsakts im Einzelnen zu lokalisieren ist810. Mit der Bestimmung der Stufe demokratischer Vermitteltheit lässt sich sodann ohne Weiteres auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit rückschließen, den der fragliche Hoheitsakt hinsichtlich seiner von der materiellen Direktive erfassten Regelungsgehalte aufweist. Denn die Wirkkraft der materiellen Direktive, die neben der Stufe demokratischer Vermitteltheit den Grad demokratischer Abgeleitetheit determiniert, ist unterschiedslos überall dieselbe811. Beispielhaft nachzeichnen lassen sich diese Erwägungen, wenn man überlegt, welcher Grad demokratischer Abgeleitetheit die Order eines militärischen Kommandeurs insofern charakterisiert, als er durch den auf Bundesregierung und Bundestag zurückführenden Einsatzbefehl determiniert ist. In Hinblick darauf, dass der Einsatzbefehl überwiegend von der Bundesregierung und nur zum geringeren Teil  vom Bundestag herrührt, erweist sich die der Kommandeursorder zuwachsende materiell-direktive Legitimation als überwiegend drei- und vierfach, zum geringeren Teil als zweifach vermittelt. Die Wirkkraft dieser materiell-direktiven Legitimation ist durchgängig hoch.

(5) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch ein Kollegialorgan Liegt die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht bei einem Kollegialorgan, so bestimmt sich der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit nach grundsätzlich demselben Muster, wie wenn die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht bei einer Organmehrheit verankert ist812. Für die vorrangig interessierende Konstellation, dass ein Kollegialorgan den in legitimatorischer Hinsicht zu prüfenden Hoheitsakt erlassen beziehungsweise revidieren kann, bestimmt sich sein Grad demokratischer Abgeleitetheit folglich danach, in welchem Umfang die einzelnen Angehörigen des Kollegiums den Hoheitsakt mitbeherrschen und wie leistungsstark die im Rahmen dieser Einflussmöglichkeiten 810

Siehe dazu auch schon oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (2) = S. 415. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 812 Dazu eben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (5) = S. 466.

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verfangenden personellen, materiell-direktiven beziehungsweise materiell-kon­ trollativen Legitimationsbeiträge sind. Soweit nicht der Hoheitsakt, sondern die ihn legitimierende materielle Direktive der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht eines Kollegialorgans untersteht, ist darauf abzustellen, in welchem Umfang die einzelnen Angehörigen des Kollegiums die materielle Direktive dezisionär beziehungsweise revisionär beherrschen und wie vermittelt die im Rahmen dieser Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht verfangende Legitimation ist. Daraus erschließt sich, zu welchem Anteil die materielle Direktive auf welcher Stufe demokratischer Vermitteltheit verortet ist. Erhöht um die Ziffer 1 ergibt sich hieraus, auf welcher Stufe demokratischer Vermitteltheit die materiell-direktive Legitimation des fraglichen Hoheitsakts angesiedelt ist. Die Wirkkraft dieser materiell-direktiven Legitimation wiederum ist ihrerseits  – unabhängig vom Umstand, dass die materielle Direktive von einem Kollegialorgan herrührt  – dieselbe wie bei allen materiell-direktiven Legitima­ tionsbeiträgen. Dass sich der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit dann, wenn die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht bei einem Kollegialorgan verankert ist, nach demselben Schema rekonstruiert, wie wenn die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht einer Organmehrheit zukommt, bedarf keiner aufwendigen Begründung. Allzu offensichtlich ist die strukturelle Parallele zwischen diesen beiden Konstellationen, zumal sich jedes Kollegialorgan auch als eine (Teil-)Organmehrheit beschreiben lässt. Als sehr viel wichtiger erscheint daher der Hinweis, dass die Rekonstruktion des Grads demokratischer Abgeleitetheit – trotz legitimationstheoretischer Strukturparallelität – in praxi typischerweise ungleich leichter fällt, wenn die Dezisions- respektive Revisionsmacht bei einem Kollegialorgan verortet ist, als wenn sie bei einer Organmehrheit angesiedelt ist. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die Angehörigen des Kollegiums häufig exakt denselben Einfluss auf Erlass oder Revision des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts beziehungsweise der ihn legitimierenden materiellen Direktive haben und sie zweitens personelle sowie materielle Legitimationsbeiträge von identischer Leistungsstärke vermitteln813. Das Paradebeispiel hierfür ist das Kollegialorgan Parlament. In derartigen Fällen genügt es zur Bestimmung des Grads demokratischer Abgeleitetheit, wenn – pars pro toto – die Leistungsstärke derjenigen Legitimationsbeiträge ermittelt wird, die ein einzelner Angehöriger des Kollegiums vermittelt. Dies gilt auch dann, wenn die Angehörigen des Kollegiums zwar nicht über exakt denselben Einfluss verfügen, die von ihnen vermittelte Legitimation aber von 813 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Kollegialorgane durch Wahl bestellt werden, wie dies bei den nicht nur zahlenmäßig bedeutsamsten kollegialen Organisationen, nämlich den Selbstverwaltungskörperschaften, der Fall ist. Zur Typologie der Kollegialgremien siehe Groß (Fn. 773), Rn. 53 f.

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gleicher Leistungsstärke ist. Ein Beispiel hierfür ist der Bundesrat. Um den Grad demokratischer Abgeleitetheit zu bestimmen, den ein vom Kollegialorgan Bundesrat herrührender Legitimationsbeitrag aufweist, kann grundsätzlich sowohl auf den Legitimationsbeitrag des nordrhein-westfälischen Bundesratsvertreters abgestellt werden als auch auf den des bremischen814. Problematischer wird die Rekonstruktion des Grads demokratischer Abgeleitetheit mithin erst dann, sofern die Leistungsstärke der von den Kollegiumsangehörigen vermittelten Legitimationsbeiträge unterschiedlich ausfällt. Dies gilt selbst dann, wenn die Einflussmacht dieselbe ist. Beispielhaft hierfür sind Kabinettsentscheidungen der Bundesregierung815. Hier genügt es nicht, auf einen einzelnen Angehörigen des Kollegialorgans zu achten. Vielmehr muss hier der Grad demokratischer Abgeleitetheit nach dem geschilderten Schema rekonstruiert werden. Für Kabinettsentscheidungen ergibt sich demnach, grob gefasst, dass sie teils auf der zweiten, teils auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sind.

(6) Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung demokratischer Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht durch Organmehrheiten Bisweilen ist ein Hoheitsakt an eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker rückgebunden, wobei die den verschiedenen Völkern zustehende Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht durch Organmehrheiten ausgeübt wird. Diese letzte Problemkonstellation zeichnet sich mit anderen Worten dadurch aus, dass die zweite816 beziehungsweise dritte817 mit der vierten818 Problemkonstellation verschränkt ist. Für die Rekonstruktion des Grads demokratischer Abgeleitetheit gilt daher im Wesentlichen das, was zu diesen bereits diskutierten Konstellationen ausgeführt worden ist. Einer näheren Erörterung bedarf lediglich das proprium dieser sechsten Problemkonstellation. Es besteht darin, dass hier die Wirkkraft materiell 814

Besonderheiten ergeben sich freilich dann, wenn sich die einen Bundesländer durch den Regierungschef, andere durch Landesminister vertreten lassen. Denn dann ist die von den Kollegiumsangehörigen vermittelte Legitimation gerade nicht identisch. 815 Zu den Kompetenzen des Bundeskabinetts vgl. nur Schneider, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art. 65 Rn. 10 ff. sowie Detterbeck (Fn. 722), Rn. 44 ff. 816 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453: Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker, die nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken. 817 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455: Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken. 818 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461: Der für einen Hoheitsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit.

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kontrollativer Legitimation sowohl durch den Umstand negativ tangiert wird, dass der legitimationsbedürftige Hoheitsakt an eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker rückgekoppelt ist, als auch durch den, dass die Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht organmehrheitlich ausgeübt wird. Soweit die Völkermehrheit nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt, kommt es für die Bestimmung des Grads demokratischer Abgeleitetheit, wie gesagt, ausschließlich auf die Legitimationsstränge an, die auf das als Legitimationsquell in den Blick genommene Volk zurückführen. Allerdings ist hinsichtlich der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation zu berücksichtigen, dass das legitimierende Volk den Hoheitsakt nicht allein beherrscht, sondern lediglich kodezisions- beziehungsweise -revisionsberechtigt ist. Dadurch wird, wie dargelegt, die Wirkkraft der materiell-kontrolla­ tiven Legitimation gemindert819. Zusätzlich wird diese dadurch beeinträchtigt, dass eine Organmehrheit die dem legitimationsstiftenden Volk zustehenden Mitherrschaftsbefugnisse ausübt. Insoweit kann ebenfalls auf die bereits angestellten Erwägungen verwiesen werden820. Soweit darüber hinaus auch die anderen, nicht legitimationsstiftenden Völker den Hoheitsakt über Organmehrheiten mitbeherrschen, mindert dies ebenfalls die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation. Zwar tragen diese anderen Organmehrheiten nicht selbst zu der Volkssouveränität bei, die von dem als legitimationsstiftend in den Blick genommenen Volk ausgeübt wird. Jedoch können die Organe, die gemeinsam die Volkssouveränität des fokussierten Volks vermitteln, ihren Kontrollorganen gegenüber einwenden, dass sie Kompromisse nicht nur mit einem, sondern gleich mit mehreren Organen der anderen Völker finden mussten. Dadurch sieht sich die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation gemindert, die dem Hoheitsakt über die das legitimationsstiftende Volk repräsentierende Organmehrheit zuwächst. Diese Legitimationseinbuße wird auch nicht etwa dadurch schon konsumiert, dass bereits berücksichtigt wurde, dass der Hoheitsakt auf eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker zurückführt, die nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt. Eine solche Konsumtion wäre nur dann anzunehmen, wenn der Hoheitsakt in der Weise organmehrheitlich rückgebunden wäre, dass jedes der die Organmehrheit bildenden Organe die Kodezi­ sions- beziehungsweise -revisionsmacht eines anderen Volks vermittelte. Vergleichbare Erwägungen gelten für den Fall, dass die Völkermehrheit in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt. Zwar kommt es in dieser Konstellation für die Bestimmung des Grads demokratischer Abgeleitetheit auf die Legitimationsbeiträge aller Völker an. In Hinblick auf die 819

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453 und Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461.

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Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation gilt indes im Ergebnis das, was eben für den Fall entwickelt worden ist, dass die Völkermehrheit nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt: Die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation wird zum einen dadurch beeinträchtigt, dass sich die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht auf mehrere Völker verteilt; zum anderen leidet sie darunter, dass die den einzelnen Völkern zustehende Kodezisions- beziehungsweise -revisionsmacht jeweils von Organmehrheiten ausgeübt wird. Soweit die verringerte Wirkkraft mit der Verortung der Kodezisions- beziehungsweise -revisionsmacht bei einer Organmehrheit zusammenhängt, ist fernerhin zu berücksichtigen, dass die Legitimationseinbuße dann im Vergleich geringer ausfällt, wenn innerhalb der betreffenden Organmehrheiten das eine Organ das andere kontrolliert821. Denn zum einen kann das kontrollbefugte Organ unter diesen Bedingungen in nur sehr eingeschränktem Maße gegenüber seinem Kontrollorgan geltend machen, dass es sich mit dem anderen zur Organmehrheit gehörenden Organ kompromisshaft zu einigen hatte. Zum anderen kann sich die kodezisionsbeziehungsweise korevisionbefugte Organmehrheit gegenüber ihren Kontrollorganen nur eingeschränkt darauf berufen, dass die übrige Dezisions- respektive Revisionsmacht nicht durch Einzelorgane, sondern durch Organmehr­heiten ausgeübt wird, wenn diese durch eine Abhängigkeit des einen Organs vom anderen geprägt sind.

c) Legitimationsniveau und Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit In der Regelungsdimension von Volkssouveränität als Ableitungszusammenhang hängt das in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte Legitimationsniveau schließlich auch noch vom Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit ab. Bevor darauf näher eingegangen wird, sei zum besseren Verständnis zunächst nochmals das Phänomen der Störungsanfälligkeit revisionärer Legitimation in Erinnerung gerufen822. Revisionäre Legitimation wirkt dadurch, dass die Revision eines legitimationsbedürftigen Hoheitsakts trotz Vorhandenseins einer demokratischen Revisions­ befugnis unterlassen wird. Ein derartiges Unterlassen ist indes nicht jederzeit willensvermittelt. Folglich kann die Rückkoppelung an den demokratischen Willen gestört sein. Eben dieser Zusammenhang ist angesprochen, wenn von der – durch den spezifischen Wirkungsmodus revisionärer Legitimation bedingten – Störungsanfälligkeit demokratischer Legitimation die Rede ist.

821

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461. Zum Folgenden siehe auch oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257.

822

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Die in diesem Sinne zu verstehende Störungsanfälligkeit betrifft nun nicht etwa nur die revisionäre, sondern auch die dezisionäre Rückbindung von Hoheitsakten an den Volkswillen823. Als störungsanfällig erweist sich die dezisionäre Legitimation nämlich insoweit, als sie materiell-direktiv ins Werk gesetzt wird. Denn einem Hoheitsakt kann in dezisionärer Hinsicht nur dann eine unverkürzte materiell-direktive Legitimation zuwachsen, wenn bei seinem Erlass die materielle Direktive revisionär an den Volkswillen rückgebunden ist. Andernfalls ist der mit der materiell-direktiven Legitimation verfolgte Zweck beeinträchtigt, einen Hoheitsakt an den aktuellen Volkswillen rückzukoppeln. Infolgedessen wird auch die dezisionäre Legitimation und eben nicht nur der revisionäre Legitimationsstrang durch die für den Wirkungsmodus revisionärer Legitimation kennzeichnende Störungsanfälligkeit mitgeprägt. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass der für das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts maßgebliche Umfang der Störungsanfälligkeit in zwei Schritten zu rekonstruieren ist. Zunächst ist zu klären, in welchem Umfang der legitimationsbedürftige Hoheitsakt durch die diversen mehr oder minder störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhänge geprägt wird, über die er nicht nur in revisionärer, sondern vielfach auch in dezisionärer Hinsicht an den Volkswillen rückgebunden wird. Sodann muss der Umfang der Störungsanfälligkeit ermittelt werden, der für die verschiedenen revisionären Legitimationszusammenhänge im Einzelnen kennzeichnend ist. Erst in dieser doppelten Perspektive wird das erkennbar, was hier mit dem Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit angesprochen ist. Bevor auf die insoweit maßgeblichen Bestimmungsgrößen eingegangen wird, bedarf es indes noch einer Vorklärung. Es versteht sich nämlich von selbst, weshalb bei der Bestimmung des für einen Hoheitsakt charakteristischen Legitimationsniveaus allgemein auf die Störungsanfälligkeit der insoweit relevanten revisionären Legitimationszusammenhänge abgestellt wird. Denn bei vordergründiger Betrachtung scheint es näherzuliegen, auf das tatsächliche Vorliegen revisionär bedingter Störungen, also statt auf den Umfang der Störungsanfälligkeit auf das Ausmaß realer Gestörtheit abzustellen. Auf diese Problematik soll daher vorab kurz eingegangen werden. Abgeschlossen werden die Überlegungen zu Legitimationsniveau und Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit durch Ausführungen zu den auch in diesem Kontext vertiefungsbedürftigen Fallkonstellationen, dass die Revisionsmacht von einer Mehrheit von Völkern beziehungsweise einer Organmehrheit ausgeübt wird oder aber die Korevisionsmacht bei einer Organmehrheit liegt.

823

Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) cc) = S. 300.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

aa) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit statt Ausmaß realer Gestörtheit Wird ein für die dezisionäre beziehungsweise revisionäre Legitimation eines Hoheitsakts maßgeblicher Revisionsverzicht nicht von einem darauf bezogenen Unterlassungswillen getragen, so ist die dem betreffenden Hoheitsakt zuwachsende demokratische Legitimation gestört und weist er infolgedessen ein geringeres Niveau demokratischer Legitimation auf, als wenn ihm die Legitimation störungsfrei zuwüchse. Des ungeachtet erweist es sich gleich in doppelter Hinsicht als unzureichend, das in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte Legitimations­ niveau anhand des tatsächlichen Vorliegens revisionär bedingter Störungen, mithin also nach dem Maß revisionär bedingter Gestörtheit zu bestimmen. So ist es erstens häufig gar nicht diagnostizierbar, ob eine derartige Störung vorliegt. Denn das insoweit entscheidende Fehlen eines Unterlassungswillens lässt sich im Regelfall empirisch nur schwer nachweisen. Schon dies spricht in gewissermaßen pragmatischer Hinsicht dafür, statt auf das tatsächliche Maß revisionär bedingter Gestörtheit auf den Umfang der Störungsanfälligkeit generell abzustellen. Zweitens und vor allem kann das für einen Hoheitsakt kennzeichnende Legitimationsniveau letztlich nur dann zutreffend beschrieben werden, wenn die insoweit maßgeblichen revisionären Legitimationszusammenhänge auf das ihnen allgemein eignende Ausmaß an Störungsanfälligkeit untersucht werden und eben nicht die ohnedies schwerlich nachweisbaren tatsächlichen Störungen revisionärer Legitimation fokussiert werden: Soweit es das in revisionärer Hinsicht erzeugte Niveau demokratischer Legitimation anbelangt, wurden die für eine solche generalisierende Betrachtungsweise streitenden Argumente der Sache nach auch schon vorgetragen, nämlich bei der Diskussion zum Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation824. Stellt man nämlich auf das Vorhandensein einer tatsächlichen Störung ab, so kann man allenfalls für einen ganz bestimmten Zeitpunkt feststellen, ob die für die revisionäre demokratische Legitimation eines Hoheitsakts maßgeblichen Revisionsverzichte willensgetragen sind oder nicht. Bei einer solchen situativen Betrachtungsweise wird infolgedessen nicht nur unterschlagen, dass revisionäre Legitimation repetitiv bewirkt wird. Es ist dann auch unmöglich, die Gestörtheit des revisionären Legitimationsstrangs so zu bestimmen, dass sie mit der für andere Hoheitsakte allgemein und eben nicht nur situativ verglichen werden kann. Vor diesem Hintergrund sprechen durchgreifende Gründe dafür, die Frage nach dem in revisionärer Hinsicht erzeugten Niveau demokratischer Legitimation danach zu beurteilen, wie störungsanfällig die insoweit maßgeblichen revisionären Legitimationszusammenhänge generell sind. Soweit es das in dezisionärer Hinsicht generierte Niveau demokratischer Legitimation anbelangt, bedarf es freilich einer anderen Begründung für die genera­ 824

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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lisierende Betrachtungsweise. Denn da die dezisionäre Legitimation aktiv-punktuell bewirkt wird825, kommt es für das demokratische Legitimationsniveau an sich durchaus darauf an, ob eine materielle Direktive just im Zeitpunkt des Erlasses des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts vom demokratischen Unterlassungs­willen getragen wird. Fehlt es in diesem Zeitpunkt am Unterlassungswillen, so haftet dieser demokratische Makel dem betreffenden Hoheitsakt Zeit seiner Existenz, also nicht bloß situativ an. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das Fehlen eines Unterlassungswillens im Erlasszeitpunkt die materiell-direktive Legitimation und mithin das demokratische Legitimationsniveau in durchaus unterschiedlicher Weise beeinträchtigt. Die situative Störung des revisionären Legitimationszusammenhangs wirkt sich nämlich umso intensiver aus, je gestörter die revisionäre Rückkoppelung auch schon vor dem Erlass des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts war. Denn umso weniger kann die materielle Direktive als Ausfluss des aktuellen Volkswillens gewertet werden. In dieser Perspektive freilich kommt es letztlich doch auf das Ausmaß der Störungsanfälligkeit an, das den auf die materielle Direktive zurückführenden revisionären Legitimationszusammenhang allgemein prägt. Wenn sich daher auch in Hinblick auf das in dezisionärer Hinsicht erzeugte Legitimationsniveau die situative Betrachtungsweise allein als unzureichend entpuppt und sich diese fernerhin wegen der häufigen Nichterweislichkeit eines Unterlassungswillens ohnedies als problematisch erweist, so streitet dies klar für die generalisierende Betrachtung. Mithin ist auch für das in dezisionärer Hinsicht erzeugte Niveau demokratischer Legitimation darauf abzustellen, welcher Umfang an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit den insofern – nämlich im Rahmen materiell-direktiver Legitimation  – relevanten revisionären Legitimationszusammenhang allgemein kennzeichnet.

bb) Bestimmungsgrößen für die Prägung eines Hoheitsakts durch die verschiedenen mehr oder minder störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhänge Auch wenn nicht nur die revisionäre, sondern gegebenenfalls auch die dezisionäre Rückbindung eines Hoheitsakts an den Volkswillen durch revisionäre Legitimationszusammenhänge vermittelt wird, darf gleichwohl nicht außer Acht gelassen werden, dass dies in unterschiedlichem Umfang geschieht. So wird ein Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht nur insofern von revisionären Legitimationszusammenhängen geprägt, als die Erlassentscheidung materiell-direktiv rückgebunden ist826. Insofern richtet sich der für das Legitimationsniveau ausschlaggebende Umfang der Störungsanfälligkeit nach der Reichweite materiell-direktiver 825

Siehe oben Kapitel 6 I. 1. c) = S. 257. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295.

826

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Legitimation. Demgegenüber lässt sich in Hinblick auf die revisionäre Legitimation eines Hoheitsakts kein Bereich ausmachen, auf den sich die revisionären Legitimationszusammenhänge von vornherein nicht beziehen könnten. Der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit erweist sich in dieser Hinsicht als unbegrenzt. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass ein Hoheitsakt sowohl im Rahmen der dezisionären wie auch im Kontext revisionärer Legitimation typischerweise – statt nur durch einen – gleich durch mehrere revisionäre Legitimationszusammenhänge zugleich geprägt wird827. Denn die einen Hoheitsakt dezisionär legitimierende materielle Direktive wie auch dieser selbst können typischerweise nicht nur in einem, sondern in mehreren Verfahren revidiert werden. Infolgedessen erweisen sich die für die dezisionäre beziehungsweise die revisionäre Legitimation maßgeblichen revisionären Legitimationszusammenhänge bald als materiell-direktiv eingeschränkt, bald als materiell-direktiv uneingeschränkt; in dem einen Fall erweisen sie sich als inkongruent, in dem anderen überlagern sie sich. Für den das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts in dezisionärer respektive revisionärer Hinsicht determinierenden Umfang der Störungsanfälligkeit bleibt dies natürlich nicht ohne Konsequenz. Dies soll nachstehend näher entwickelt werden. Dabei wird, um Komplexität zu reduzieren, nur auf den für einen Hoheitsakt in revisionärer Hinsicht prägenden Umfang der Störungsanfälligkeit eingegangen; immerhin ist dieser für den Gesamtumfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bedeutsamer. Allerdings gelten die nachstehenden Ausführungen entsprechend auch für den in dezisionärer Hinsicht erzeugten Umfang revisionärer Legitimation. Dazu muss nur das im Folgenden verwandte Wort ‚Hoheitsakt‘ durch die Wendung von der ‚den Hoheitsakt materiell-direktiv legitimierenden Sachvorgabe‘ substituiert werden. Man nehme an, ein erster revisionärer Legitimationszusammenhang erfasst einen Hoheitsakt materiell-direktiv uneingeschränkt. Er soll einen mit x zu beziffernden Umfang an Störungsanfälligkeit aufweisen. Daneben existiert noch ein zweiter revisionärer Legitimationszusammenhang, der an eine materiell-direktiv eingeschränkte Revisionsbefugnis anschließt und seinerseits durch einen mit y zu beziffernden Umfang an Störungsanfälligkeit geprägt ist. Dabei soll x größer y sein. Für diese Konstellation lässt sich erstens festhalten, dass der Hoheitsakt insoweit durch einen geringeren Umfang an Störungsanfälligkeit geprägt ist, als er nicht allein von dem materiell-direktiv unbeschränkten revisionären Legitimationszusammenhang, sondern von beiden zusammen demokratisch rückgebunden wird. Denn die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge stehen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Dies aber bedeutet, dass der eine revi­ sionäre Legitimationsstrang auch dann Wirkungen zeitigen kann, wenn der andere gestört ist. 827

Hierzu und zum Folgenden auch oben Kapitel 6 I. 2. b) cc) = S. 300.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Aus dieser Erwägung folgt zweitens nicht nur, dass der Hoheitsakt auch dann in größerem Umfang durch revisionäre Störungsanfälligkeit geprägt wäre, wenn er statt von beiden nur von dem relativ störungsunanfälligeren revisionären Legitimationsstrang rückgekoppelt würde. Freilich wäre der Zuwachs an Störungsanfälligkeit in dieser zuletzt erwähnten Konstellation nur gering. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass der an sich störungsanfälligere Legitimationsstrang greift, wenn der an sich störungsunanfälligere ausfällt, ist gering. Bleibt drittens zu konstatieren, dass sich der vergleichsweise geringe Umfang revisionärer Störungsanfälligkeit, der den Hoheitsakt insoweit prägt, als er über beide revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden wird, umso stärker auf sein legitimatorisches Gesamtniveau auswirkt, je weiter die Revisionsmacht reicht, auf der der ihn materiell-direktiv eingeschränkt erfassende revisionäre Legitimationszusammenhang beruht.

cc) Bestimmungsgrößen für die Störungsanfälligkeit der verschiedenen revisionären Legitimationsstränge Wie störungsanfällig ein revisionärer Legitimationszusammenhang ist, lässt sich im Rahmen der – aus den dargelegten Gründen angezeigten828 – generalisierenden Betrachtung nur im Wege einer Wahrscheinlichkeitsprognose näher bestimmen: Es ist zu überlegen, wie wahrscheinlich es ist, dass zu einem beliebigen Zeitpunkt nach Inkrafttreten des betreffenden Hoheitsakts der für die revisionäre Legitimation konstitutive Revisionsverzicht von einem demokratischen Unterlassungswillen getragen wird. Je wahrscheinlicher dies ist, desto störungsunanfälliger ist die revisionäre Legitimation und desto höher steigt das demokratische Legitimationsniveau. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Revisionsverzicht vergleichsweise häufig von einem Unterlassungswillen getragen wird, richtet sich dabei im Wesentlichen nach zwei Bestimmungsgrößen. Sie sind nach dem Gesagten zugleich die maßgeblichen Bestimmungsgrößen für die Störungsanfälligkeit des betreffenden revisionären Legitimationsstrangs. Erstens kommt es auf die Bedeutsamkeit des Sachverhalts an, der durch die Nichtrevisionsentscheidung betroffen ist. Je bedeutsamer diese Materie ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Nichtrevisionsentscheidung von einem Unter­ lassungswillen getragen wird und sich die revisionäre Legitimation infolgedessen als vergleichsweise störungsunanfällig erweist. Zweitens hängt es von den Strukturen ab, in denen die demokratische Revisions­ macht organisiert ist, ob es eher wahrscheinlich oder aber eher unwahrscheinlich ist, dass der Revisionsverzicht vergleichsweise oft von einem Unterlassungswillen getragen wird. Denn die demokratische Revisionsmacht kann durch solche Struk 828

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397.

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turen verfasst sein, die es eher wahrscheinlich machen, dass die Nichtrevision eines Hoheitsakts regelmäßig überdacht und insofern Gegenstand fortdauernder demokratischer Willensbildung bleibt. Dabei nimmt es angesichts der bereits angesprochenen strukturellen Verwobenheit von materiell-kontrollativer Legitimation einerseits und revisionärer Legitimation andererseits829 nicht Wunder, dass sich diejenigen Revisionsstrukturen, bei denen der dauerhafte Revisionsverzicht mit vergleichsweise hoher Wahrscheinlichkeit willensgetragen und die revisionäre Legitimation infolgedessen relativ störungsunanfällig ist, durch exakt dieselbe strukturelle Eigenheit auszeichnen, wie sie auch für Kontrollstrukturen prägend sind, die eine Reflexion sowie in der Folge eine eventuelle Sanktionierung von Tun und Lassen des kontrollierten Entscheidungsträgers wahrscheinlich machen und somit für eine leistungsstarke materiell-kontrollative Legitimation sorgen. Denn ebenso wie es für das Niveau materiell-kontrollativer Legitimation darauf ankommt, ob strukturell ein verantwortlichkeitsförderndes Näheverhältnis zwischen Kontrollinstanz und kontrollunterworfener Erlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung existiert830, hängt der Umfang der Störungsanfälligkeit davon ab, inwieweit strukturell ein verantwortlichkeitsförderndes Näheverhältnis zwischen der Revisionsinstanz und dem revidierbaren Hoheitsakt besteht. Schließlich wird auch der demokratisch Revisionsbefugte den (Nicht-)Einsatz seiner demokratischen Macht gerade dann intensiv reflektieren, wenn ihm die Frage, ob er den revidierbaren Hoheitsakt hinnehmen soll oder nicht, unter den gegebenen strukturellen Voraussetzungen besonders nahegebracht wird. Als plastisches Beispiel für eine Struktur, die ein verantwortlichkeitsförderndes Näheverhältnis der Revisionsbefugten zum legitimationsbedürftigen Hoheitsakt begründet und dadurch die Wahrscheinlichkeit für eine relativ weitreichende Störungsfreiheit revisionärer Legitimation erhöht, ist ein Arrangement zu nennen, demzufolge ein legislativer Hoheitsakt alle fünf Jahre bestätigt werden muss, um in Geltung zu bleiben831. Denn dadurch wird nicht nur gewährleistet, dass der Revisionsverzicht zumindest alle fünf Jahre von einem Unterlassungswillen getragen ist. Vielmehr führt der Bestätigungsvorbehalt darüber hinaus dazu, dass dem Revisionsmächtigen sein Revisionsverzicht auch vor und nach diesen Stich­tagen deutlich präsenter ist, als dies ohne derartigen Bestätigungsvorbehalt der Fall wäre.

829

Zu dieser Verwobenheit auch schon oben Kapitel 6 I. 3. b) = S. 309. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. 831 Vgl. dazu etwa den von Murswiek (Fn. 127), S. 651 ff. für den Bereich des technischen Sicherheits- und Umweltrechts unterbreiteten Vorschlag einer ‚Rotationsgesetzgebung‘ (Detailkritik an diesem Vorschlag bei Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, 2005, S. 448 f. mit Fn. 333). 830

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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dd) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit in bestimmten Problemkonstellationen Besonderheiten für den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit er­ geben sich dann, wenn die demokratische Revisionsmacht bei einer Völker- oder Organmehrheit verortet ist beziehungsweise Organmehrheiten als Träger demokratischer Korevisionsmacht fungieren.

(1) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker Wird die Revisionsmacht durch eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker ausgeübt, so stellt sich zunächst die Frage, inwieweit die von den einzelnen Völkern ausgehenden Legitimationsbeiträge den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bestimmen können. Sofern es sich um eine Mehrheit von Völkern handelt, die nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken, kommt es für den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit allein auf die revisionären Legitimationsbeiträge desjenigen Volks an, dessen demokratischer Einfluss auf dem Prüfstand steht. Soweit es hingegen um eine Mehrheit von Völkern geht, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt, bestimmt sich die Störungsanfälligkeit der insoweit bewirkten revisionären Legitimationszusammenhänge danach, in welchem Umfang den verschiedenen Völkern Revisionsmacht zukommt und wie störungsanfällig die insoweit generierten Legitimationsbeiträge sind. Damit verhält es sich vorliegend nicht anders als bei der Bestimmung des Grads demokratischer Abgeleitetheit, wenn die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht bei einer Mehrheit von Völkern verankert ist832. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die revisionäre Störungsanfälligkeit zunimmt, wenn mehrere Völker die Revisionsmacht ausüben; dies gilt unabhängig davon, ob die Völker in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken oder nicht: Da die einzelnen Völker den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt unter diesen Bedingungen nicht allein, sondern immer nur – ungleich umständlicher – im Zusammenwirken mit anderen Völkern aufheben oder modifizieren können, wird sich ihnen die Frage einer allfälligen Revision deutlich seltener und verhaltener stellen, als dies der Fall wäre, wenn sie allein revisionsbefugt wären; übt eine Mehrheit von Völkern die Revisionsmacht aus, so ist ihnen mit anderen Worten der legitimationsbedürftige Hoheitsakt strukturell entrückt und mangelt es mithin tendenziell an einem verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis zu dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt. Infolgedessen steigt die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit an. Auch insofern lässt sich eine struktu 832

Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453.

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relle Parallele zur Bestimmung des Grads demokratischer Abgeleitetheit ziehen: Die Überlegungen, die soeben zum Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit angestellt wurden, kongruieren mit denen, die zuvor schon zur Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation angestellt worden sind833.

(2) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei Ausübung der Revisionsmacht durch eine Organmehrheit Ist die in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt bestehende Revisionsmacht bei einer Organmehrheit verortet, so erhöht dies ebenfalls den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Denn ebenso wie bei einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker gilt auch bei einer Organmehrheit, dass die Revisions­option wegen des umständlicheren Revisionsverfahrens in den Hintergrund tritt und die Nichtrevision infolgedessen umso häufiger als nicht mehr willensgetragen erscheint. Besonderheiten gelten für Fälle wie den, dass zwei Organe gemeinsam die Revisionsmacht ausüben und das eine von ihnen der Kontrollmacht des anderen unterworfen ist. Denn in dieser Konstellation liegt es für dasjenige Organ, das das andere kontrolliert, gerade nicht so fern, an eine Revision zu denken, wie wenn es keine Kontrollmacht besäße. Das verantwortungsfördernde Näheverhältnis der revisionsbefugten Instanzen zum legitimationsbedürftigen Hoheitsakt ist folglich nur partiell beeinträchtigt. Die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit fällt von daher geringer aus, als wenn innerhalb der betreffenden Organmehrheit das eine Organ nicht der Kontrollmacht des anderen Organs unterfiele. Auch vor diesem Hintergrund bestätigt sich einmal mehr der enge strukturelle Konnex zwischen materiell-kontrollativer und revisionärer Legitimation. Denn was eben unter dem Gesichtspunkt organmehrheitlich ausgeübter Revisionsmacht zum Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit gesagt wurde, entspricht dem, was zur Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation bei organmehrheitlicher Wahrnehmung demokratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht entwickelt worden ist834.

(3) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei Ausübung demokratischer Korevisionsmacht durch Organmehrheiten In Hinblick auf die Strukturparallele, die zwischen materiell-kontrollativer und revisionärer Legitimation besteht, nimmt es denn auch nicht Wunder, dass die Auswirkungen, die sich aus der organmehrheitlichen Ausübung demokratischer Kore 833

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461.

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visionsmacht für den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit ergeben, strukturell denen entsprechen, die sich für die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation daraus ergeben, dass die demokratische Kodezisions- beziehungsweise -revisionsmacht von einer Organmehrheit wahrgenommen wird835. So ist im Ausgangspunkt zu konstatieren, dass die hier in Rede stehende Problemkonstellation auf einer Verschränkung der beiden zuvor diskutierten Pro­ blemkonstellationen beruht. Denn der Hoheitsakt ist hier revisionär an eine Völkermehrheit rückgebunden, wobei die den verschiedenen Völkern zustehende Korevisionsmacht durch Organmehrheiten ausgeübt wird. Folglich kann weithin an die eben schon angestellten Erwägungen angeknüpft werden. Soweit die Völkermehrheit nicht in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt, kommt es für die Bestimmung des Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, wie dargetan836, ausschließlich auf die revisionären Legitimationsbeiträge an, die von dem als Legitimationssubjekt in den Blick genommenen Volk ausgehen. Jedoch ist hinsichtlich des Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit beachtlich, dass das legitimierende Volk nicht allein revisionsbefugt ist. Denn dieser vergrößert sich, wie dargetan, unter solchen Bedingungen. Der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit nimmt darüber hinaus deshalb zu, weil eine Organmehrheit die dem legitimationsstiftenden Volk zu­ stehenden Korevisionsbefugnisse wahrnimmt. Es gilt insofern, was eben schon zum Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bei Ausübung der Revisionsmacht durch eine Organmehrheit ausgeführt wurde837. Soweit allerdings darüber hinaus auch die anderen, nicht legitimationsstiftenden Völker durch Organmehrheiten an der den Hoheitsakt erfassenden Revisionsmacht teilhaben, vergrößert dies gleichfalls den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Zwar vermitteln diese anderen Organmehrheiten nicht selbst die fokussierte Volkssouveränität. Jedoch rutscht die Frage der Revision eines legitimationsbedürftigen Hoheitsakts auch dann auf der politischen Agenda der ihrerseits legitimationsvermittelnden Organe nach unten, wenn sie die Revision nur im Zusammenwirken mit volksfremden Organen erreichen können. Diese Legitimationseinbuße ist auch nicht etwa dadurch schon als konsumiert anzusehen, dass legitimationstheoretisch in Rechnung gestellt wurde, dass Revisionsmacht von einer Völkermehrheit ausgeübt wird. Eine derartige Konsumtion wäre nämlich nur anzunehmen, wenn die den einzelnen Völkern zustehende Korevisionsbefugnisse jeweils von nur einem Organ ausgeübt würden. Dies aber ist in der zugrundeliegenden Problemkonstellation gerade nicht der Fall, geht es hier doch um die Ausübung der jeweiligen Korevisionsmacht durch Organmehrheiten. 835

Zu diesen oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (6) = S. 468. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (1) = S. 477. 837 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (2) = S. 478.

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Entsprechende Überlegungen können für den Fall angestellt werden, dass die Völkermehrheit in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt. Es gilt insofern lediglich zu beachten, dass sich der Umfang revi­ sionär bedingter Störungsanfälligkeit nach den revisionären Legitimationsbeiträgen aller Völker bemisst. Im Übrigen aber gilt auch hier, dass sich der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit zum einen dadurch vergrößert, dass eine Völkermehrheit die Revisionsmacht ausübt. Zum anderen nimmt er deshalb zu, weil die den einzelnen Völkern zustehende Korevisionsmacht jeweils von Organmehrheiten ausgeübt wird. Damit bleibt nur mehr ein letzter Aspekt zu beleuchten, der in Hinblick auf die in Rede stehende Problemkonstellation interessiert. So ist erneut zu berücksichtigen, dass die Zunahme revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, die die Verortung der Korevisionsmacht bei mehr als einem Organ hervorruft, dann wieder gemindert wird, wenn eines dieser Organe vom anderen abhängt838. Davon ist jedenfalls insofern auszugehen, als es für das Organ, das das andere Organ zu kontrollieren vermag, weniger fernliegt, die seinem Volk zustehende Korevisionsmacht zu aktivieren, als wenn es keine solche Kontrollmacht besitzt. Insofern gilt, was oben schon ausgeführt wurde. Der Umfang revisionär bedingter Störungs­ anfälligkeit verringert sich dementsprechend auch dadurch, dass die mit der Multiplizierung volksfremder Revisionsorgane entsprechend zunehmende Erschwerung von Revisionsakten und die damit verbundene Verdrängung der Revisionsoption von der politischen Agenda dann ein Stück weit zurückgenommen wird, wenn besagte Multiplizierung eine unvollkommene ist, weil die einen Revisionsorgane von den anderen abhängen.

d) Zusammenfassendes zur Erzeugung demokratischer Legitimation in der Dimension des fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs Kehrt man nach diesen Detailüberlegungen nochmals zu den Kernaussagen des vorliegenden Unterabschnitts zurück, so sind es nach allem drei Faktoren, die in der Dimension von Volkssouveränität als legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang das Niveau demokratischer Legitimation determinieren. Es sind dies erstens das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, zweitens der Grad demokratischer Abgeleitetheit sowie drittens der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Freilich tragen diese drei Faktoren nicht in gleichem Maße zur Erzeugung demokratischer Legitimation bei. Vielmehr besteht insofern ein Stufenverhältnis. Am stärksten beeinträchtigt wird das für einen Hoheitsakt prägende Legitimations­ niveau, wenn das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Le 838

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (2) = S. 478.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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gitimation verringert wird. Die im Vergleich dazu weniger gravierende Absenkung des Grads demokratischer Abgeleitetheit wiegt ihrerseits legitimatorisch weniger schwer als ein vergrößerter Umfang revisionär bedingter Störungsan­ fälligkeit.

2. Die Vertikaldimension des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation Wendet man sich der Volkssouveränität in ihrer zweiten Vertikaldimension als dauerhaftem Prozess demokratischer Legitimation839 zu, so liegt es auf der Hand, dass das Niveau demokratischer Legitimation insoweit durch die Intensität dieses Legitimationsprozesses determiniert wird. Wie intensiv sich der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation gestaltet, hängt seinerseits davon ab, wie effektiv und nachhaltig sich der aktuelle Volkswille gleichsam ‚von unten nach oben‘ auf die Hoheitsausübung auszuwirken vermag. In den zeitgenössischen mittelbaren Demokratien, in denen der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation zunächst und zuvörderst über das System magistratischer Repräsentation ins Werk gesetzt wird840, kommt es für die Intensität dieses Legitimationsprozesses und damit für das Niveau demokratischer Legitimation entscheidend darauf an, wie effektiv und nachhaltig sowohl die bereits getroffenen wie auch die in Zukunft anstehenden Volkswahlentscheidungen die magistratische Hoheitsbetätigung an den Volkswillen rückbinden. Dazu lässt sich Folgendes feststellen: Je geringer die Konsequenzen einer Volkswahl für die Zusammensetzung einer für den Erlass bestimmter Hoheitsakte zuständigen Magistratur ausfallen, je unveränderlicher die einmal geschaffenen (Rechts-)Verhältnisse für den Wähler sind, je mehr magistratische Repräsentanten neben ihrem amtlichen Repräsentationsauftrag zusätzlich private Aufträge annehmen, je weiter die Wahltermine auseinanderliegen, desto träger wird im Endeffekt der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation und desto tiefer liegt das demokratische Legitimationsniveau. Denn unter diesen Voraussetzungen vermag eine Volkswahl nur noch in bedingtem Maße durch ihre Vor- und Nachwirkungen dazu beizutragen, dass die Hoheitstätigkeit dauerhaft am Volkswillen orientiert bleibt. Dies entspricht nicht von ungefähr den soeben angestellten Überlegungen dazu, wie in der ersten Vertikaldimension von Volkssouveränität, nämlich in dem als fortwährend legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang, zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus beigetragen wird. Denn das System magistratischer Repräsentation korreliert mit einem spezifischen Legitima­ tionsmodus, das heißt einer bestimmten Ausgestaltung von Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang841: Es basiert 839

Siehe oben Kapitel 6 II. = S. 316. Siehe oben Kapitel 6 II. 1. = S. 318. 841 Siehe oben Kapitel 6 II. 4. = S. 323.

840

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auf der grundsätzlich exklusiven Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht des Volks und legt durch das Prinzip periodisch wiederkehrender Wahlen fest, dass die Hoheitsakte der Volksrepräsentanten in spezifischer Weise erstens personell und zweitens materiell-kontrollativ legitimiert sein müssen. Bedenkt man nun weiter, dass das Niveau demokratischer Legitimation in der Perspektive von Volkssouveränität als Ableitungszusammenhang unter anderem vom Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation842 sowie von der Wirkkraft personeller und materiell-kontrollativer Legitimation843 abhängt, so ergibt sich für den durch das System magistratischer Repräsentation bedingten Legitimationsmodus folgendes Bild: Ihm kommt umso mehr legitimatorische Kraft zu, je stärker sich Volkswahlen auf die Zusammensetzung eines für bestimmte Hoheitsakte zuständigen Repräsentationsgremiums auszuwirken vermögen, je eher ein einmal getroffener Hoheitsakt aufgrund des Wähler­ votums auch wieder revidiert werden kann, je wirkungsvoller die magistratischen Re­präsentanten auf ihren Amtsauftrag festgelegt werden und je kürzer die Zeit­abstände zwischen den einzelnen Wahlterminen sind. Dies deckt sich exakt mit den Erwägungen, die zu den Auswirkungen des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation auf das demokratische Legitimationsniveau angestellt wurden. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich zum einen erneut, dass der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation das Korrelat eines spezifischen demokratischen Legitimationsmodus, also das Korrelat einer spezifischen Ausgestaltung von Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang ist. Zum anderen und vor allem wird erkennbar, dass man den Beitrag des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation zur Erzeugung eines bestimmten Legitimationsniveaus zwar nach seiner Intensität bemessen kann. Jedoch tritt dieser Beitrag nicht ergänzend zu dem hinzu, der im Rahmen des legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs erzeugt wird. Vielmehr ist er mit ihm identisch. Denn dieselben Zurechnungszusammenhänge, die die legitimatorische Kraft des Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation begründen, entscheiden auch in der Perspektive von Volkssouveränität als Ableitungszusammenhang über die insoweit generierte demokratische Legitimation. Somit bleibt festzuhalten: Auch wenn sich Volkssouveränität als legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang nur begreiflich rekonstruieren lässt, indem man sich den Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation vergegenwärtigt, so wird das Mehr oder Weniger demokratischer Legitimität eines Hoheitsakts außer durch das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, den Grad demokratischer Abgeleitetheit und den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit nicht noch zusätzlich durch die Intensität des 842

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) = S. 392. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416.

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Prozesses dauerhafter demokratischer Legitimation bestimmt. Aus dem Korrela­ tionsverhältnis zwischen Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang einerseits und als dauerhaftem Prozess demokratischer Legitimation andererseits ergibt sich in Hinblick auf die Erzeugung eines bestimmten Niveaus demokratischer Legitimation ein Verhältnis der Identität.

3. Die Horizontaldimension der staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvollen Volkswerdung Anders als der Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation liegen die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung844 dem Legitimationsmodus voraus. Der Beitrag der dritten Dimension von Volkssouveränität zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus lässt sich daher auch nicht mit dem legitimatorischen Gehalt des Legitimationsmodus identifizieren, wie dies im Fall der zweiten Vertikaldimension von Volkssouveränität möglich ist. Vielmehr handelt sich um einen genuin eigenen Legitimationsbeitrag. Dies gilt, worauf noch näher einzugehen sein wird, auch für die demokratische Öffentlichkeit als staatsorganisatorische Bedingung demokratischer Volkswerdung. Inwieweit nun in der Horizontaldimension von Volkssouveränität zur Schaffung eines bestimmten demokratischen Legitimationsniveaus beigetragen wird, bemisst sich danach, in welchem Umfang Staats- und Gesellschaftsorganisation die demokratische Volkswerdung befördern und dadurch überhaupt erst Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang und als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation ermöglichen. Dies bedeutet zunächst, dass das demokratische Legitimationsniveau davon abhängt, in welchem Umfang die Staatsorganisation Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger gewährleistet. Dabei wird in den westlichen Demokratien durchweg ein vergleichsweise hohes Maß an Freiheit dadurch sichergestellt, dass die Wahlen geheim ablaufen845. Denn dadurch wird die Möglichkeit, die freie Wahlbetätigung durch Pressionen von außen zu beeinträchtigen, erheblich reduziert846. Größere Aufmerksamkeit verdient daher gerade auch im hier speziell interessierenden Zusammenhang der EU der Gleichheitsaspekt. Wie dargestellt, können in den Fällen strukturell verfestigter Mehrheitsverhältnisse die Anforderungen an 844

Zu diesen siehe oben Kapitel 6 III. = S. 327. Vgl. nur Pernthaler (Fn. 267), § 62 a) 1.  846 Dazu auch Schneider, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art.  38 Rn.  51: „Somit schützt das Wahlgeheimnis in erster Linie die Wahl­ freiheit, zu der sie in enger funktioneller Konnexität steht.“ 845

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eine demokratisch-egalitäre Handhabung des Majoritätsprinzips dadurch in Ausgleich gebracht werden, dass das strikt formale Gleichheitsprinzip zugunsten der Minderheit relativiert wird847. Dies bleibt freilich nicht ohne Konsequenz für das demokratische Legitimationsniveau. Bemisst sich dieses nämlich danach, inwieweit die staatsorganisatorische Volkswerdung unter den Bedingungen von Freiheit und Gleichheit erfolgt, so erweist sich eine relative Besserstellung von Minderheitenstimmen gegenüber den Mehrheitsstimmen demokratisch zwar gegebenenfalls als gerechtfertigt, jedenfalls aber als suboptimal. Das Niveau demokratischer Legitimation ist mit anderen Worten höher, wenn jedermann die formal exakt gleiche Chance hat, ungehindert die dem Volk staatsorganisatorisch vorbehaltenen Entscheidungen nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips zu beeinflussen, und allein schon durch dieses Verfahrensarrangement ein lebendiger, Machtwechsel auch faktisch ermöglichender politischer Prozess in Gang gesetzt und auf Dauer unterhalten wird. In Hinblick auf die gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung lässt sich für das Niveau demokratischer Volkswerdung festhalten, dass es dadurch bestimmt wird, inwieweit die geltende Gesellschaftsverfassung eine gleichberechtigte, freie Teilhabe aller Gesellschaftsglieder an den gesellschaftlichen Meinungsbildungssprozessen848 gewährleistet849. Je weiter sich die Gesellschaftsverfassung von diesem normativen Leitbild entfernt, desto geringer ist die demokratische Substanz der in den gesellschaftlichen Willensbildungs­ prozessen vorgeformten Hoheitsentscheidungen. Ähnlich verhält es sich in Hinblick auf die um der Demokratie willen zu gewährleistende Öffentlichkeit850. Das Niveau demokratischer Legitimation hängt in dieser Perspektive davon ab, ob und in welchem Umfang die Hoheitstätigkeit851 und  – soweit dies demokratisch geboten ist  – auch die Ausübung sonsti 847

Siehe oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328. Dazu etwa Hoffmann-Riem (Fn. 342), Rn. 34. 849 Denn – so Abendroth, Grundgesetz (Fn. 235), S. 82 –: „Anonyme und geheime Einwirkungen auf Entscheidungen der öffentlichen Gewalt gefährden seine demokratische Struktur in gleicher Weise, wie die Einflußnahme von Organisationen, deren innere Struktur selbst auf sozial vorgegebenen Machtstrukturen (z. B. wirtschaftliche Macht), nicht aber auf demokra­ tischer Mitwirkung aller Beteiligten beruht.“ 850 Zu dieser Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union, 2004, S. 46 ff. 851 Speziell hinsichtlich der im staatsorganisatorischen Bereich generierten demokratischen Öffentlichkeit erscheint es an dieser Stelle angezeigt, nochmals in Erinnerung zu rufen, weshalb sich deren Beitrag zum demokratischen Legitimationsniveau nicht auf den legitimatorischen Gehalt des Legitimationsmodus relativieren lässt (siehe dazu auch schon oben Kapitel 6 III. 1. b] bb] = S. 334). Denn immerhin wird durch die demokratische Öffentlichkeit im hiesigen Sinn die Wirkkraft der unmittelbar vom Volk herrührenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge mit bestimmt, sodass der Realisierungsumfang demokratischer Öffentlichkeit der Sache nach auch schon unter dem Aspekt des Grads demokratischer Abgeleitetheit in die Bestimmung des Niveaus demokratischer Legitimation einfließt. Damit freilich ist noch keine Aussage darüber getroffen, wie die staatsorganisatorischen Gewährleistungen demokratischer Öffentlichkeit in der Horizontaldimension von Volkssou 848

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ger sozialer Macht publik gemacht wird852. Wird beispielsweise bei der besonders legitima­tionsbedürftigen Gesetzgebung auf dynamische Verfahrensöffentlichkeit verzichtet, so stellt dies ein gravierendes Minus an demokratischer Legitimation dar853.

4. Die Normalität demokratischer Volkswerdung als Tiefendimension In wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive bemisst sich das Niveau demokratischer Legitimation schließlich noch danach, in welchem Umfang die Realbedingungen demokratischer Volkswerdung verwirklicht sind. Denn Hoheitsakte können wirklichkeitswissenschaftlich überhaupt nur in dem Maße als demokratisch legitimiert angesehen werden, wie sich in den gebietsgesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen und infolgedessen auch in den staatsorganisatorischen (Wahl-)Entscheidungen ein demokratisch legitimierender Volkswille realiter manifestiert. Ob und inwieweit dies der Fall ist, hängt, wie ausführlich dargelegt, von zwei Faktoren ab, nämlich erstens von der Funktions- und Leistungsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit sowie zweitens von der Bindungskraft der den Volksgliedern gemeinsamen kollektiven Identität854. In dem Maße, in dem die demokratische Öffentlichkeit sich verflüchtigt und die kollektive politische Identität der Gebietsverbandsangehörigen sich auflöst, versagen zunehmend auch jene Verständigungsprozesse, die die Normalität demokratischer Volkswerdung ausmachen, und verdünnt sich infolgedessen der demokratisch geforderte Zurechnungszusammenhang zwischen dem vielstimmig generierten Volkswillen und den einzelnen Hoheitsakten. Nun ist freilich dargelegt worden, dass die Verwirklichung demokratischer Öffentlichkeit und kollektiver Identität ihrerseits durch die spezifischen Strukturen gefördert wird, die für die demokratiezentrale Volkssouveränität horizontaliter und vertikaliter prägend sind. So begünstigen die institutionell-prozeduralen Arrangements, mit denen die aus der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität herleitbaren staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung eingelöst werden, die rationale, diskursgestützte Reprodukveränität zur Erzeugung eines bestimmten Niveaus demokratischer Legitimation beitragen. Insofern ist es nach der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur geboten, den Beitrag demokratischer Öffentlichkeit zur Erzeugung eines definiten Niveaus demokratischer Legitimation sozusagen prüfungstechnisch an zwei Stellen zu würdigen. 852 Vgl. auch Landfried (Fn. 548), S. 102: „Die demokratische Legitimation der kollektiv verbindlichen Entscheidungen nimmt mit dem Maß an Geheimhaltung in politischen Prozessen ab.“ 853 Vgl. etwa Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art.  79 Abs. 3 GG, 1996, S. 251 ff. 854 Siehe oben Kapitel 6 IV. 3. a) = S. 384.

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tion von Lebenswelt855. Diese aber ist für die sich beständig erneuernde kollektive Volksidentität ebenso unerlässlich wie für die von Vorverständigungen zehrende demokratische Öffentlichkeit. Ferner ist Volkssouveränität sowohl als fortwährend legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang wie auch als Prozess dauerhafter Legitimation daraufhin angelegt, dass permanent und also nicht nur am periodisch wiederkehrenden Wahltag Stellungnahmen des demos eingefordert werden856. Insofern übt ein demokratisches System realiter einen sanften Druck dahingehend aus, dass sich gebietsgesellschaftlich Einzelpersonen, Assoziationen sowie Medien mit den auf der politischen Agenda stehenden Themen auseinandersetzen und dadurch ein für die demokratische Öffentlichkeit konstitutiver Kommunikationsstrom entsteht. Sowohl in ihrer Horizontaldimension als auch in ihren Vertikaldimensionen bewirtschaftet die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität mithin diejenigen Ressourcen, von denen sie in ihrer Tiefendimension abhängt857. Daraus lässt sich allerdings nicht der Schluss ziehen, dass die aus der Normalität demokratischer Volkswerdung erwachsenden Beiträge zum Niveau demokratischer Legitimation mit denjenigen identifizierbar wären, die in den Vertikal- und Horizontaldimensionen geleistet werden. Denn auch wenn die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung sowie der vom demokratischen Herrschaftssystem erzeugte Verständigungsdruck in nicht unerheblichem Maße zur Normalität demokratischer Volkswerdung beizutragen vermögen und infolgedessen Demokratieeinbußen in den Vertikal- beziehungsweise Horizontaldimensionen von Volkssouveränität vielfach auch zu Defiziten in deren Tiefendimension führen dürften, geht der in dieser Dimension erzeugte Legitimationsbeitrag gleichwohl nicht in den verticaliter und horizontaliter generierten Legitimationsbeiträgen auf. Hiergegen spricht allein schon der Umstand, dass die für die Tiefendimension von Volkssouveränität kennzeichnende Konsolidation und fortwährende Reformation von kollektiver Identität und demokratischer Öffentlichkeit durch jene die Volkssouveränität verticaliter und horizontaliter ausprägenden Strukturen lediglich begünstigt, befördert und protegiert werden. Hingegen lässt sich allein in Ansehung der Vertikal- und Horizontaldimensionen von Volkssouveränität gerade nicht feststellen, ob beziehungsweise in welchem Umfang sich in einer Gebietsgesellschaft tatsächlich eine kollektive Volksidentität und eine funktionstaugliche demokratische Öffentlichkeit ausgebildet haben. Die lebensweltliche Ambiance858, ohne die weder eine demokratische Öffentlich 855

Siehe oben Kapitel 6 IV. 3. a) aa) = S. 384. Ebd. 857 Für das demokratische Gemeinwesen erscheint insofern gerade nicht als gewiss, was nach Böckenfördes bekanntem Diktum für den freiheitlichen säkularisierten Staat generell gelten soll, nämlich dass er von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne (vgl. Fn. 619); zum ‚Böckenförde-Axiom‘ auch Kardinal Lehmann, Artikel ‚Grundwerte‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl. 1987, Sp. 1131 (1134). 858 Zu dieser lehrreich Heller (Fn. 14), S. 369. 856

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keit noch eine kollektive Volksidentität verfangen kann, lässt sich niemals nur als Folge respektive Variable demokratischer Verfahrensarrangements begreifen, sondern liegt dieser immer auch voraus859. Es bleibt also dabei, dass sich in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive das Niveau demokratischer Legitimation mitunter danach bemisst, in welchem Umfang die Realbedingungen demokratischer Volkswerdung verwirklicht sind. Dabei können Ausmaß und Qualität der lebensweltlichen Ambiance, die über das Niveau demokratischer Legitimation maßgeblich mitentscheiden, nicht kurzerhand auf das Ausmaß und die Qualität der lebensweltfördernden Demokratiestrukturen relativiert werden.

5. Die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus in der Zusammenschau Zwar lässt sich die Zurechnungsstruktur Volkssouveränität letztlich nur begreifen, wenn man sie in die vier ausführlich diskutierten Dimensionen auffächert. Um das in Hinblick auf bestimmte Hoheitsakte erzeugte Maß an Volkssouveränität, also ihr demokratisches Legitimationsniveau, wirklichkeitswissenschaftlich zu bemessen, genügt es aus den dargelegten Gründen freilich, wenn man die Vertikaldimension von Volkssouveränität als fortwährend legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang, ihre Horizontaldimension als staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvolle Volkswerdung sowie ihre Tiefendimension, nämlich die Normalität demokratischer Volkswerdung, in den Blick nimmt. In der zweiten Vertikaldimension von Volkssouveränität, der des dauerhaften Prozesses demokratischer Legitimation, wird hingegen nicht in eigenständiger Weise zur Erzeugung eines spezifischen demokratischen Legitimationsniveaus beigetragen860. Insofern hängt das in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte demokratische Legitimationsniveau in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive erstens vom Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation861, vom Grad demokratischer Abgeleitetheit862 sowie vom Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit863 ab. Als entscheidend erweist sich zweitens, inwieweit die spezifische Staats- und Gesellschaftsorganisation einen an den Leitvorstellungen der Freiheit und Gleichheit orientierten Prozess der Volkswerdung ermöglichen864. Drittens bestimmt sich das demokratische Legitimationsniveau nach der Funktions- und Leistungsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit sowie der Bindungskraft der den Volksgliedern gemeinsamen kollektiven Identität. 859

Siehe oben Kapitel 6 IV. 3. a) bb) = S. 386. Siehe oben Kapitel 6 V. 2. = S. 481. 861 Dazu eingehend oben Kapitel 6 V. 1. a) = S. 392. 862 Dazu eingehend oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405. 863 Dazu eingehend oben Kapitel 6 V. 1. c) = S. 470. 864 Dazu eingehend oben Kapitel 6 V. 3. = S. 483.

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In der Zusammenschau dieser für das demokratische Legitimationsniveau maßgeblichen Erzeugungsfaktoren stellt sich nunmehr weitergehend die Frage, inwieweit Legitimationseinbußen, die in dem einen Bereich zu verzeichnen sind, durch in anderem Zusammenhang erzielte Legitimationszuwächse kompensiert werden können865. So wurde beispielsweise bereits dargelegt, dass eine unzulängliche personelle demokratische Legitimation von Hoheitsakten durch eine wirksame materielle Legitimation nicht nur kompensiert, sondern sogar vollständig substituiert werden kann, ohne dass dies die demokratiezentrale Volkssouveränität notwendig verkürzt866. Inwieweit derartige Kompensations- und Substitutionsmöglichkeiten auch ansonsten gegeben sind, soll im Folgenden eingehend untersucht werden.

a) Begriffsklärung: Kompensation und Substitution in Hinblick auf demokratisch defizitäre Legitimationsbeiträge Bevor der Frage nach den bestehenden Kompensations- und Substitutions­ möglichkeiten nachgegangen werden kann, bedarf es – schon um Missverständnisse zu vermeiden  – zunächst einer Klarstellung. Die Termini der Kompensation und Substitution beziehen sich ausschließlich auf die Möglichkeit, Verluste in dem einen Bereich des demokratischen Legitimationssystems durch legitimatorische Zugewinne in einem anderen Bereich wettzumachen, und zwar dergestalt, dass bei bilanzierender Betrachtung das Legitimationsniveau dasselbe ist wie vor dem (partiellen) Legitimationseinbruch. Indes wird mit den Überlegungen zu Kompensation und Substitution keine Aussage darüber getroffen, ob ein nicht kompensiertes Legitimationsdefizit beziehungsweise die Substitution eines nicht substituierbaren Legitimationsstrangs einen definitiven Verstoß gegen das Demokratieprinzip darstellt. Darauf wird erst im nächsten Abschnitt einzugehen sein, in dem die demokratiezentrale Volkssouveränität mit der Erzeugung eines hinreichend hohen Niveaus demokratischer Legitimation gleichgesetzt und in diesem Sinne konkretisiert wird867. Vorliegend geht es lediglich darum, wie die verschiedenen Dimensionen von Volkssouveränität bei der Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus zusammenwirken. In Rede steht mit anderen Worten die spezifische Motorik des demokratischen Legitimationsniveaus, für die die Frage nach bestehenden Kompensations- und Substitutionsmöglichkeiten entscheidend ist.

865

Vgl. dazu auch – allerdings mit etwas überschießender Tendenz – Schuppert (Fn. 207), S. 70. 866 Siehe oben Kapitel 6 I. 3. b) = S. 309. 867 Dazu unten Kapitel 6 VI. = S. 495.

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b) Weitgehender Kompensations- und Substitutionsausschluss Bei näherer Betrachtung zeigt sich nun freilich rasch, dass die Kompensationsmöglichkeiten keineswegs beliebig, sondern vielmehr äußerst begrenzt sind868. So scheidet eine Kompensation oder gar Substitution im Verhältnis der einzelnen für die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus maßgeblichen Dimensionen von Volkssouveränität von vornherein aus. Es handelt sich insofern um inkommensurable Größen. So kann etwa eine Einbuße an exklusiv-perpetueller demokratischer Legitimation nicht dadurch wettgemacht werden, dass der Grad der Abgeleitetheit personeller und materieller demokratischer Legitimation verringert wird. Denn dass sich ein Hoheitsakt in einem solchen Fall unmittel­ barer auf den Volkswillen zurückführen lässt, ändert nichts an dem Umstand, dass dieser den betreffenden Hoheitsakt nicht vollumfänglich und jederzeit zu beherrschen vermag. Ebenso wenig vermag ein verkürzter Ableitungszusammenhang ein freiheitswidriges Verfahrensarrangement auf der Ebene der Staats- oder Gesellschaftsorganisation auszugleichen. Nicht viel anders verhält es sich hinsichtlich des Innenverhältnisses der für das Niveau demokratischer Legitimation maßgeblichen Dimensionen von Volkssouveränität. Auch insofern scheiden Kompensationsmöglichkeiten grundsätzlich aus. Weist ein Hoheitsakt ein gemindertes Maß an exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation auf, so wird dieses Defizit auch dadurch nicht behoben, dass das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation in revisionärer Hinsicht gesteigert werden konnte869. Denn das demos-kratische Ausgehen der Staatsgewalt allein vom Volk begreift sich ebenso wie die dauerhafte demos-kratische Rückführbarkeit der Staatsgewalt auf das Volk allein als konstitutives Strukturelement der demokratisierten Volkssouveränität870. Es handelt sich insofern um nicht gegeneinander aufrechenbare Determinanten demokratischer Zurechenbarkeit. Entsprechendes gilt ferner für das Verhältnis zwischen dem Grad demokratischer Abgeleitetheit und dem Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Dass ein Hoheitsakt unmittelbarer auf den Volkswillen zurückführt, lässt dessen Legitimationsniveau zwar stärker ansteigen, als wenn der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit verringert wird. Gleichwohl vermag ein niedrigerer Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht die Zunahme revisionär bedingter Störungsanfälligkeit zu kompensieren. Denn dass ein Volkswille in geringerem Umfang vom Partikularinteresse der ihn vermittelnden Amtswalter verfälscht wird,

868

Grundsätzlich anderer Auffassung Schuppert (Fn. 207), S. 70 ff. Dies ist etwa für den Fall von Relevanz, dass beim Zusammenwirken von demokratisch unverbundenen Völker statt des Einstimmigkeits- das Mehrheitsprinzip greift – siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397. 870 Vgl. Pieper (Fn. 125), S. 233. 869

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ändert nichts an der durch die spezifische Wirkweise revisionärer Legitimation bedingten Prekarität demokratischer Rückbindung. Veranschaulichen lässt sich der weithin bestehende Kompensations- und Substitutionsausschluss schließlich auch am Beispiel der Normalität demokratischer Legitimation. Will sich eine kollektive Identität partout nicht ausbilden, obwohl eine überaus vitale demokratische Öffentlichkeit besteht, so liegt es auf der Hand, dass das reale Plus an Diskursgesellschaft das reale Minus an Sozialintegration nicht auszugleichen vermag. Auch insofern gilt, dass das eine Konstituens der Volks­ souveränität nicht das andere ersetzen kann.

c) Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit nur im Verhältnis der spezifischen Legitimationsformen Eine Kompensationsmöglichkeit besteht nach allem nur im Verhältnis zwischen den hier sogenannten spezifischen Legitimationsformen871. Schließlich kommt es für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität nicht darauf an, wie die spezifischen Legitimationsformen einen fortdauernden legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang und einen Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation ins Werk setzen, sofern denn überhaupt derartige Zurechnungszusammenhänge in demokratisch ausreichendem Umfang begründet werden. Daher können, wie bereits dargelegt wurde872 und im Weiteren noch näher zu analysieren ist, demokratische Defizite im Bereich der einen Legitimationsform grundsätzlich durch entsprechende Demokratieüberschüsse im Kontext einer anderen Legitimationsform ausgeglichen und kann der komplette Wegfall der einen Legitimationsform gegebenenfalls durch das Vorhandensein einer anderen Legitimationsform ersetzt werden.

aa) Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit im Verhältnis von materiell-direktiver Legitimation einerseits sowie personeller und materiell-kontrollativer Legitimation andererseits Wendet man sich zunächst dem Kompensationsverhältnis zu, in dem materielldirektive Legitimation einerseits, personelle und materiell-kontrollative Legitimation andererseits zueinander stehen, so ist vorab zu erinnern, dass dieses überhaupt nur im Bereich dezisionärer Legitimation wirksam werden kann. Denn die demokratische Revisionsmacht bricht sich, wie schon dargetan, ausschließlich in den Formen personeller und materiell-kontrollativer Legitimation Bahn873. Das demnach nur, aber doch immerhin für das Niveau dezisionärer demokratischer Legiti 871

Dazu zum Beispiel Freitag (Fn. 105), 2005, S. 87. Siehe oben Kapitel 6 I. 2. = S. 281. 873 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. b) bb) = S. 299.

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mation beachtliche Kompensationsverhältnis der fraglichen Legitimationsformen muss seinerseits in drei Schritten rekonstruiert werden. So ist erstens zu berücksichtigen, dass personelle und materiell-kontrollative Legitimation überhaupt nur dort zum Tragen kommen, wo ein Hoheitsakt nicht schon materiell-direktiv legitimiert ist. Soweit freilich materiell-direktive Vorgaben verdünnt oder gar zurückgenommen werden und sich die Reichweite materiell-direktiver Legitimation infolgedessen verkürzt, ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die infolgedessen entstehende Legitimationslücke durch personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge kompensiert wird beziehungsweise es insofern zur einer Substitution kommt. Denn personelle und materiell-kontrollative Legitimation trägt nicht anders als die materiell-direktive Legitimation dazu bei, dass ein Hoheitsakt an den Volkswillen rückgebunden wird. Es ist folglich bei grundsätzlicher Betrachtung nichts dagegen zu erinnern, dass wenn die materiell-direktive Legitimation in ihrer Reichweite beschnitten wird, dies durch eine entsprechend weiterreichende personelle und materiell-kontrollative Legitimation ausgeglichen werden kann. Dasselbe gilt natürlich auch für den umgekehrten Fall. Treten neue materielle Direktiven hinzu, so kann die hierdurch provozierte Einbuße an personeller und materieller Legitimation durchaus durch das Mehr an materiell-direktiver Legitimation kompensiert werden. In dieser Perspektive erscheint in beiden Fallgestaltungen sogar eine Substitution der einen durch die andere Legitimationsform als statthaft. Zu bedenken ist nun freilich zweitens, dass eine Kompensation oder Substitution überhaupt nur insoweit in Betracht kommt, als der kompensatorische beziehungsweise substitutive Legitimationsbeitrag auf keiner höheren Stufe demokratischer Abgeleitetheit angesiedelt ist als der zu kompensierende beziehungsweise zu substituierende Legitimationsbeitrag. Dies ergibt sich daraus, dass in Hinblick auf den für einen Hoheitsakt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit der Stufe demokratischer Vermitteltheit Vorrang vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge zukommt874. Daraus folgt, dass das Legitimationsniveau eines Hoheitsakts immer absinkt, wenn beispielsweise eine zweifach vermittelte materiell-direktive Legitimation zugunsten einer dreifach vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimation zurückgeschnitten wird oder eine zweifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation durch einen dreifach vermittelte materiell-direktive Legitimation ersetzt wird. Diese Erwägungen dürfen allerdings drittens nicht darüber hinwegtäuschen, dass die materiell-direktive Legitimation koerzitiv, die personelle und materiellkontrollative Legitimation hingegen lediglich inzitativ wirkt. Schließlich kommen der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation infolgedessen eine geringere demokratische Wirkkraft zu als der materiell-direktiven Legitimation875. 874

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. Nur insoweit lässt sich von einem Vorrang der sachlich-inhaltlichen Legitimation sprechen, wie ihn etwa Fisahn (Fn. 725), S. 269 annimmt. 875

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Sind daher materiell-direktive sowie personelle und materiell-kontrollative Legitimation auf derselben Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt und wird die Reichweite materiell-direktiver Legitimation beschnitten, so kommt es zu einem Abfall des Niveaus demokratischer Legitimation, wenn die bisher materiell-direktiv an den Volkswillen rückgebundenen Regelungsgehalte über dieselben personellen und materiell-kontrollativen Legitimationszusammhänge demokratisch rückgekoppelt werden, wie sie für die auch bisher schon in dieser Weise legitimierten Gehalte des Hoheitsakts prägend waren. Verkürzt sich die materielldirektive Legitimation, so kann das dadurch bedingte Legitimationsdefizit mithin nur dann kompensiert werden, wenn die personelle und materiell-kontrollative Legitimation entsprechend leistungsstärker werden. Dies lässt sich zum einen dadurch bewirken, dass Nachhaltigkeit und Effek­ tivität der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation befördert werden. Zwar kann auch durch eine noch so nachhaltige und effektive personelle und materielle Legitimation nicht die Wirkkraft erreicht werden, die einen materielldirektiven Legitimationsakt auszeichnet. Da aber die entsprechend effektiveren und nachhaltigeren personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge nicht nur den Teil des Hoheitsakts erfassen, der bislang durch den materielldirektiven Legitimationsbeitrag demokratisch rückgekoppelt wurde, sondern auch denjenigen, der bislang in einen weniger effektiven und nachhaltigen personellen beziehungsweise materiell-kontrollativen Legitimationskontext eingebunden war, kann durch die erhöhte Nachhaltigkeit und Effektivität der personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge in Hinblick auf das demokratische Legitimationsniveau des Hoheitsakts insgesamt das Weniger an materiell-direktiver Legitimation durchaus kompensiert werden. Außer durch eine Steigerung von Effektivität und Nachhaltigkeit personeller und materiell-kontrollativer Legitimation lässt sich eine Verkürzung materielldirektiver Legitimation zum anderen natürlich immer auch dadurch kompensieren, dass personelle und materiell-kontrollative Legitimation auf eine niedrigere Stufe demokratischer Vermitteltheit  – im übertragenen Sinne  – ‚gehoben‘ werden. Denn aus dem Vorrangverhältnis ihrer Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge folgt, dass wenn schon eine Steigerung der Effektivität und Nachhaltigkeit der personellen und materiellkontrollativen Legitimation eine Reduzierung materiell-direktiver Legitimation kompensieren kann, dies erst recht dann möglich ist, wenn die personelle und materiell-kontrollative Legitimation volksunmittelbarer erfolgen. Vor diesem dreifachen Hintergrund lässt sich das Kompensationsverhältnis von materiell-direktiver Legitimation einerseits und personeller und materiell-kontrollativer Legitimation andererseits auf die folgenden Kurzformel bringen876: Wird 876

Die Überlegungen zum Kompensationsverhältnis von materiell-direktiver Legitimation einerseits, personeller und materiell-kontrollativer Legitimation andererseits lassen sich für die zeitgenössische gewaltenteilende Demokratie durch einen Vergleich der unterschiedlichen

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die Reichweite materiell-direktiver Legitimation reduziert, so muss, damit die fragliche Legitimationseinbuße kompensiert wird, bei den auf gleicher Legitima­ tionsstufe angesiedelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen zumindest deren Effektivität und Nachhaltigkeit gesteigert werden – oder sie werden geradewegs auf eine niedrigere Stufe demokratischer Vermitteltheit gehievt. Im Umkehrschluss gilt: Wird die Wirkkraft personeller und / oder mate­riellkontrollativer Legitimation erhöht, kann die auf gleicher Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelte materiell-direktive Legitimation in ihrer Reichweite beschnitten werden, ohne dass das Legitimationsniveau des in dieser Weise demokratisch rückgebundenen Hoheitsakts beeinträchtigt wird. Dass materiell-direktive Legitimation einerseits, personelle und materiell-kontrollative Legitimation andererseits in einem Verhältnis wechselseitiger Kompensationsfähigkeit stehen, bedeutet freilich nicht, dass insofern zugleich von einer umfänglichen wechselseitigen Substituierbarkeit auszugehen wäre. Vielmehr ist nur die materiell-direktive Legitimation durch personelle und materiell-kontrollative Legitimation vollständig substituierbar, sofern die eben genannten Kompensationsvoraussetzungen erfüllt sind. Hingegen scheidet eine Totalsubstitution personeller und materiell-kontrollativer Legitimation durch einen besonders weitreichenden materiell-direktiven Legitimationsbeitrag aus. Dies erschließt sich aus der genetischen Struktur von Hoheitsakten, nämlich daraus, dass sie dezisionär nie nur durch eine Direktive an den Volkswillen rückgebunden werden können, weil Hoheitsakte stets auch Ausfluss von Wertungen des Entscheiders sind. Insofern muss zur materiell-direktiven Legitimation zwingend die personelle und materiell-kontrollative Legitimation treten. Speziell die materiell-kontrollative Legitimation ist fernerhin auch deshalb unverzichtbar, weil die für das Zurechnungs­prinzip konstitutive revisionäre Legitimation notwendig einen materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhang begründet. Tritt die materiell-direktive Legitimation ganz an die Stelle der materiell-kontrollativen Legitimation, so ist dies für das Niveau demokratischer Legitimation deshalb niemals unerheblich, weil sich da-

Legitimationsmodi im Bereich von Judikative und Exekutive veranschaulichen. Es zeigt sich, dass im Bereich der Judikative die massive Abschwächung des materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhangs durch eine weitreichende Gesetzesbindung kompensiert, während im Bereich der Verwaltung die mitunter nur rudimentäre oder auch ganz fehlende materielldirektive Legitimation durch eine entsprechend wirkungsvollere materiell-kontrollative Legitimation ausgeglichen wird. Dabei fällt auf, dass die Legitimation durch Kontrollmöglichkeit im Bereich der weitestgehend gesetzesgebundenen Judikative auf ein Minimum reduziert ist, während im Bereich der Exekutive  – über die materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhänge hinaus – in Gestalt des Gesetzesvorbehalts regelmäßig noch zusätzliche und nicht zu knapp bemessene Anforderungen an die materiell-direktive Legitimation von administrativen Hoheitsakten gestellt werden. Dies erklärt sich daraus, dass der materiell-direktiven Legitimation eine höhere Wirkungskraft zukommt als der materiell-kontrollativen und daher auch der kompensatorische Effekt eines erweiterten Wirkungskreises materiell-direktiver Legitimation größer ist, als wenn Effektivität und Nachhaltigkeit materiell-kontrollativer Legitimationszusammenhänge gestärkt werden.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

mit zwingend eine nicht kompensierbare Einbuße an exklusiv-perpetueller Legitimation verbindet.

bb) Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit im Verhältnis von materiell-kontrollativer und personeller Legitimation Neben dem Ausgleichsverhältnis zwischen materiell-direktiver Legitimation einerseits und personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimation andererseits muss fernerhin noch die Kompensierbarkeit beziehungsweise Substituierbarkeit im Verhältnis von personeller und materiell-kontrollativer Legitimation erörtert werden. Dies gilt umso mehr, als diese Frage nicht nur im Rahmen dezisionärer, sondern auch im Rahmen revisionärer Legitimation von Bedeutung ist. Das Kompensationsverhältnis von personeller und materiell-kontrollativer Legitimation ist zweistufig zu rekonstruieren. So ist erstens zu berücksichtigen, dass ein Zuwachs an personeller Legitimation den Verlust an materiell-kontrollativer Legitimation, ein Mehr an materiell-kontrollativer Legitimation ein Weniger an personeller Legitimation nicht ausschließlich nur dann kompensieren kann, wenn der kompensierende Legitimationsbeitrag auf derselben oder aber einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist als das zu kompensierende Legitimationsdefizit. Denn anders als im Verhältnis von materiell-direktiver Legitimation einerseits und personeller und materiell-kontrollativer Legitimation andererseits kann insofern nicht von einem Vorrang ihrer Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge ausgegangen werden877. Es ist zum Beispiel durchaus denkbar, dass ein zweifach vermittelter personeller Legitimationsbeitrag eine so geringe Wirkkraft aufweist, dass die von ihm ausgehende Inzitation des dezisions- beziehungsweise revisionsmächtigen Entscheiders zu einer ungleich schwächeren demokratischen Rückbindung führt, als dies bei einem zwar lediglich dreifach vermittelten, dafür aber ungleich wirkkräftigeren materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag der Fall wäre. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Einzelfallanalyse als unabweisbar. In deren Rahmen gilt es zweitens zu beachten, dass ein Mehr an personeller demokratischer Legitimation zwar grundsätzlich geeignet ist, ein Weniger an materiell-kontrollativer Legitimation zu kompensieren. Jedoch darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass der materiell-kontrollativen Legitimation eine prinzipiell höhere Wirkkraft zukommt als der personellen demokratischen Legitimation878. Hieraus folgt, dass ein Verlust an materiell-kontrollativer Legitimation nur dadurch ausgeglichen werden kann, dass demokratische Leistungskraft des personellen Legitimationsbeitrags in besonders massiver Weise gesteigert wird, wo 877

Dazu bereits oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (7) = S. 430. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419.

878

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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hingegen Einbußen an personeller Legitimation auch durch eine vergleichsweise bescheidene Stärkung des materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhangs wettgemacht werden können. In Hinblick auf die wechselseitige Substituierbarkeit ist festzuhalten, dass zwar die personelle durch die materiell-kontrollative Legitimation substituiert werden kann. Dies ist bereits an früherer Stelle dargetan worden879. Hingegen erweist sich die materiell-kontrollative Legitimation ihrerseits als nicht völlig substituierbar. Dies ist allein schon darauf zurückzuführen, dass sich, wie gleichfalls schon erwähnt880, in der materiell-kontrollativen Legitimation die demokratisch an und für sich unverzichtbare exklusive Revisionsmacht des Volks Bahn bricht.

d) Resümee Zusammenfassend bleibt somit festzustellen, dass in Hinblick auf die Er­ zeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus lediglich im Verhältnis der spezifischen Legitimationsformen zwischeneinander Kompensations- und (teilweise) Substitutionsverhältnisse bestehen. Kommt es demgegenüber bei den übrigen für die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus maßgeblichen Faktoren zu demokratischen Defiziten, so lassen sich diese nicht dadurch ausgleichen, dass im Bereich eines anderen legitimationsstiftenden Faktors ein demokratisches Plus erzielt wird. In diesem Fall wird zwar bereichsspezifisch ein Zuwachs an demokratischer Zurechenbarkeit erzielt. Das Gesamtniveau demokratischer Legitimation bewegt sich aber wegen des dadurch nicht kompensierten demokratischen Defizits unterhalb des status quo ante. Darin liegt nun freilich nicht von vornherein ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen ein nicht kompensierter Legitimationsverlust zur Demokratiewidrigkeit führt, wird vielmehr erst im nun folgenden Abschnitt erörtert, in dem die Volkssouveränität als Erzeugung eines hinreichend hohen Niveaus demokra­ tischer Legitimation in den Blick genommen wird.

VI. Volkssouveränität als Erzeugung eines hinreichend hohen Niveaus demokratischer Legitimation Wie sich aus dem Vorstehenden erschließt, schlägt sich die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität, wirklichkeitswissenschaftlich betrachtet, darin nieder, dass in Hinblick auf einen Hoheitsakt ein definites Niveau demokratischer Legitimation erzeugt wird. An diesen Befund schließt sich geradezu zwangsläufig die Frage an, inwieweit die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität auch Rückschlüsse auf 879

Siehe oben Kapitel 6 I. 3. b) = S. 309. Ebd.

880

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das um ihrer selbst willen mindestens zu erreichende Niveau demokratischer Legitimation zulässt. Immerhin gewisse Anforderungen an das Niveau demokratischer Legitimation ließen sich aus der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität ableiten, wenn sie einen im Einzelnen bestimmten Legitimationsmodus voraussetzen würde. Denn aus der konkreten Art und Weise, wie die Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang en detail organisiert ist, kann auf das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, auf den Grad der demokratischen Abgeleitetheit und den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit geschlossen werden. Jedoch basiert die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität gerade nicht auf einem definiten Legitimationsmodus881, sodass sich insofern nicht ermitteln lässt, welche Anforderungen sie an ein hinreichend hohes Niveau demokratischer Legitimation stellt. Im Übrigen wäre selbst dann, wenn die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität den Legitimationsmodus festlegte, immer noch ungeklärt, inwieweit in der Horizontal- und Tiefen­ dimension zur Erzeugung demokratischer Legitimation beigetragen werden muss, damit die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität auch insofern in sozialer Wirklichkeit erwächst. Denn der Legitimationsmodus als spezifische Ausgestaltung des legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs trifft weder eine Aussage über die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung882 noch über deren Normalität883. Gleichwohl steht außer Zweifel, dass Volkssouveränität nicht schon durch jede beliebige Rückbindung hoheitlicher Entscheidungen an das Volk Strukturgestalt annimmt884. Vielmehr bedarf es eines solchen Systems demokratischer Rückkoppelung hoheitlicher Macht, das es als sachlich gerechtfertigt erscheinen lässt, insofern von Volkssouveränität zu sprechen885. Der Zurechnungszusammenhang muss mithin so effektiv886 sein, dass er bei wertender Betrachtung als real demos-kratisch887, als tatsächlich volksherrschaftsbegründend angesehen werden kann888. Vor diesem Hintergrund ist denn auch davon auszugehen, dass die Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität ein hinreichend hohes Legitimationsniveau wesens­mäßig voraussetzt889. Wie effektiv die verschiedenen für das demokratische Legitimationsniveau maßgeblichen Faktoren zur Rückkoppelung der einzelnen Hoheitsakte an den Volkswillen beitragen müssen, damit die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität in 881

Zu diesem Begriff siehe oben Kapitel 6 I. 2. c) = S. 303. Zu diesen oben Kapitel 6 III. = S. 327. 883 Zu dieser oben Kapitel 6 IV. = S. 353. 884 Andernfalls hätte sie, wie sich in Anlehnung an Wegge (Fn. 853), S. 169 formulieren lässt, lediglich symbolischen Charakter. 885 Ähnlich Bröhmer (Fn. 225), S. 39. 886 Tschentscher (Fn. 108), S. 25. 887 In diesem Sinne etwa Pernthaler (Fn. 267), § 54 b). 888 Dutzler (Fn. 1), S. 500. 889 Etwa Kluth (Fn. 17), S. 88. 882

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sozialer Wirklichkeit erwachsen kann, bedarf freilich der Präzisierung. Als zielführend erweist es sich in diesem Zusammenhang, an den doppelten Doppelcharakter der Volkssouveränität anzuknüpfen: Volkssouveränität kann grundsätzlich sowohl als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur Gestalt annehmen und ist dabei niemals nur als Realstruktur, sondern immer auch Strukturziel zu begreifen890. Die reale und zugleich teleologische Strukturgestalt von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur wie auch die als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur lassen nun ihrerseits Konkretisierungsschemata erkennen, mittels derer sich das für die Volkssouveränität unerlässliche Niveau demokratischer Legitimation jeweils bestimmen lässt. Die an denkbar gegenläufige Strukturgestalten von Volkssouveränität anknüpfenden Konkretisierungsschemata unterscheiden sich dabei nur auf den ersten Blick. Der Sache nach aber kongruieren sie und entbinden damit letztlich auch ein Konkretisierungsschema, anhand dessen sich das von der polyvalent-variablen und folglich (entwicklungs-)offenen Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität konstitutiv vorausgesetzte Niveau demokratischer Legitimation allgemein bestimmen lässt. Auch bei der wirklichkeitswissenschaftlichen Konkretisierung von Volkssouveränität als der Erzeugung eines hinreichend hohen Niveaus demokratischer Legitimation wird demnach einmal mehr auf das dialektische Denkverfahren891 zurückgegriffen. Denn die Anforderungen von Volkssouveränität an das demokratische Legitimationsniveau werden insofern zunächst aus rein verbandsorientierter und sodann aus ausschließlich individuumszentrierter Perspektive rekonstruiert. Diese jeweils vereinseitigenden Betrachtungsweisen legen den Blick darauf frei, inwieweit die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität generell an die Realisierung eines bestimmten Legitimationsniveaus anknüpft.

1. Das von der Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur vorausgesetzte Niveau demokratischer Legitimation: Die institutionelle Rekonstruktion Konkretisiert man Volkssouveränität im Licht des verbandsorientierten Ansatzes als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, so liegt es nahe, sie institutionell auszudeuten892, nämlich als grundlegende Vorstellung von staatlicher Ordnung, die zugleich einer sozialen Wirklichkeit893 entspricht894. Die Anforderun 890

Siehe oben Kapitel 5 II. 1. c) = S. 238. Siehe oben Vorbemerkung zu Teil III = S. 179. 892 Zum heuristischen Wert des institutionellen Ansatzes vgl. auch Finger, Europäische Zertifikatmärkte und Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 110 ff. 893 Also einen „soziologischen Bestand“ – so Faber (Fn. 705), § 10 I. 894 Dazu überblicksartig Hofmann, Artikel ‚Institution (II. rechtlich)‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 102 (103 f.). 891

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gen an das Niveau demokratischer Legitimation bestimmen sich in dieser Perspektive danach, was in Hinblick auf diese in Normalität erwachsene Ordnungsvorstellung nicht bloß kontingent, sondern als garantiert anzusehen ist895. In Hinblick auf den Garantiebereich der Institution Volkssouveränität lässt sich dabei zwischen einem Kern- und einem Randbereich differenzieren896. Der Kernbereich umfasst jedenfalls keinen im Einzelnen bestimmten, feststehenden Legitimationsmodus und erst recht kein Optimum an Volkssouveränität. Er enthält vielmehr das Wesenssubstrat und -kondensat von Volkssouveränität897. Aus Sicht des verbandsorientierten Ansatzes sind dies diejenigen Gehalte von Volkssouveränität als einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur, die derart prägend sind, dass, wenn sie tangiert würden, von einer staatsgebietsuniversalen Herrschaft der Staatsnation nicht mehr ernsthaft gesprochen werden könnte898. Insofern wäre der Kernbereich von Volkssouveränität etwa dann in jedem Fall tangiert, wenn innerstaatlich Hoheitsakte in Wirkung erwachsen könnten, die in keiner Weise auf den Volkswillen zurückführbar sind und daher nicht länger der Herrschaft der Staatsnation unterliegen. Für den in diesem Sinne eng zu fassenden Kernbereich der Institution Volkssouveränität gilt, dass er nicht angetastet werden darf. Er genießt absoluten Schutz. Denn mit ihm steht und fällt die gesamte Ordnungsvorstellung Volkssouveränität. Zum Randbereich gehören demgegenüber die verschiedenen tatsächlichen und potenziellen Ausprägungen von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staats­ herrschaftsstruktur, sofern hierdurch nicht bereits – ausnahmsweise – ihre wesensstiftenden Gehalte tangiert sind und damit der Kernbereich berührt ist. Da auch der Randbereich zum Garantiebereich der Institution Volkssouveränität rechnet, genießen die nicht wesensstiftenden Ausprägungen von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur gleichfalls Schutz. Dieser kann jedoch nur relativ wirken, da die Volkssouveränität in der sozialen Wirklichkeit auch mit anderen Gemeinwohlbelangen in Ausgleich gebracht werden muss899. Um die Relativierbarkeit von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur näher bestimmen zu können, muss man sich nun, wie eingangs 895

Es muss mit anderen Worten ermittelt werden, was unverzichtbar zur Leitidee, zur idée directrice der Institution ‚Volkssouveränität‘ zählt (vgl. hierzu Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 30). 896 Und zwar in Anlehnung und Anknüpfung an die Lehre von den institutionellen Garantien, vgl. in diesem Zusammenhang nur BVerfGE 79, 127 (143 ff.) sowie Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3/1, 1988, S. 868 f. und Quaritsch, Artikel „institutionelle Garantie“, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 1351 ff. 897 Dazu – aus grundgesetzlicher Sicht – Wegge (Fn. 853), S. 169 f. 898 Zu den entsprechenden Konkretisierungsansätzen im Rahmen der herkömmlichen Lehre von den institutionellen Garantien siehe Quaritsch (Fn. 896), Sp. 1352. 899 Leitbildhaft kommt dies beispielsweise in den Begriffskonzepten der ‚rechtsstaatlichen Demokratie‘ (Pernthaler [Fn. 267], § 55 b)  oder der ‚Grundrechtsdemokratie‘ (Haverkate [Fn. 102], S. 334) zum Ausdruck.

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angesprochen, ihren Doppelcharakter in Erinnerung rufen. Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur benennt sowohl eine konkrete Realstruktur als auch ein konkretes Strukturziel. Als Realstruktur trifft die im Sinne einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur ausgedeutete Volkssouveränität freilich keine Aussage über ihre Relativierbarkeit, sondern setzt diese voraus beziehungsweise knüpft an sie an. Zu berücksichtigen ist daher, dass Volkssouveränität als nationaldemokratische Herrschaftsstruktur zugleich ein konkretes Strukturziel entbindet. In teleologischer Hinsicht beruht es nämlich auf einer spezifischen Vorstellung von der idealerweise zu erreichenden Verteilung politischer Macht900. Danach soll das nationale Staatsverbandsvolk selbst über die staatliche Herrschaftsentfaltung herrschen901. Hieraus wiederum lassen sich Schlussfolgerungen in Hinblick auf die Relativierbarkeit von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur und mithin auch auf deren Realstruktur ziehen: Jedes institutionell-prozedurale Arrangement, das von jener Vorstellung politischer Machtverteilung abweicht, die im Strukturziel von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur grundgelegt ist, muss eigens durch tragfähige Gemeinwohlgründe gerechtfertigt sein. Da nun freilich bei jeder Lockerung des Zurechnungszusammenhangs zwischen staatlicher Hoheitsbetätigung und demokratischem Staatsvolkswillen von dem der Volkssouveränität eingeschriebenen Machtverteilungsmodell abgewichen wird, ruft jede Absenkung des Niveaus demokratischer Legitimation eine Begründungslast hervor. Nur soweit diese überzeugend abgetragen werden kann, wahrt ein institutionell-prozedurales Arrangement, das von dem als Strukturziel vorgegebenen Machtverteilungsmodell abweicht, die Realstruktur von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur. Die Rechtfertigungslast, die durch das Abweichen von dem die Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur teleologisch prägenden Machtverteilungsmodell ausgelöst wird, ist anhand derjenigen rationalisierenden Kriterien einzulösen, die sich institutionendogmatisch etablieren konnten902: Zunächst ist zu fragen, ob das Abweichen zur Gemeinwohlerfüllung geeignet und unabdingbar ist. Danach wird überprüft, ob dieses Abweichen in Hinblick auf das Strukturziel von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Herrschaftsstruktur vertretbar ist. Insofern ist eine Abwägung geboten. In der vom verbandsorientierten Ansatz angestoßenen institutionellen Sichtweise lassen sich die für die Realstruktur der Volkssouveränität kennzeichnenden Anforderungen an ein hinreichendes Niveau demokratischer Legitimation somit folgendermaßen rekonstruieren: Sie ergeben sich erstens aus den wesensprägenden Gehalten von Volkssouveränität. Jenseits dieser wesensprägenden Gehalte 900 Allgemein zur Demokratie als Prinzip gerechter Machtverteilung Stein, Demokratisierung der Marktwirtschaft, 1995, S. 23. 901 Prototypisch Jestaedt (Fn. 16), S. 204 ff. 902 Dazu nur Stern (Fn. 896), S. 868 ff.

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müssen Abweichungen vom Strukturziel der Volkssouveränität zweitens im Hinblick auf einen gegenläufigen Gemeinwohlgrund geeignet, erforderlich und – im Rahmen wertender Abwägung – auch vertretbar sein; sie sind also der Sache nach am Maßstab der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne zu prüfen, wobei auf der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung die besondere Einschätzungsprä­ rogative des demokratischen (Verfassungs-)Gesetzgebers zu beachten ist903.

2. Das von der Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur vorausgesetzte Niveau demokratischer Legitimation: Die freiheitsrechtliche Rekonstruktion Im individuumszentrierten Paradigma von Demokratie als gesamtgesellschaftlich-materialem Ordnungsprinzip904 wachsen der Volkssouveränität freiheitsrechtliche Konturen zu, avanciert Volkssouveränität zur subjektivrechtlichen Freiheitsgewährleistung. Dass nun neben der eben entwickelten institutionellen Sichtweise von Volkssouveränität auch eine solche freiheitsrechtliche Rekonstruktion von Demokratie Platz greifen kann und beide Konzeptionen zu übereinstimmenden Ergebnissen führen sollen, mag zumindest zunächst verwunderlich klingen. Zweifelhaft könnte dies vor allem deshalb sein, weil der Begriff der ‚institutionellen Garantien‘ dogmengeschichtlich eng mit den Lehren Carl Schmitts verknüpft ist und dieser bekanntlich die Auffassung vertrat, dass „die Struktur solcher Garantien logisch und rechtlich von der eines Freiheitsrechts ganz verschieden ist“905. Carl Schmitt zufolge bestehen institutionelle Garantien nur innerhalb des Staates und sind ihrem Wesen nach begrenzt, während die Freiheitsrechte eine vorstaatliche, prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre gewähren906. Mit diesem in strikter Abgrenzung zu institutionellen Gewährleistungen gewonnenen Verständnis von Freiheitsrechten lässt sich das individuumszentrierte Konzept von Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur freilich nicht in Einklang bringen. Denn hiernach wird der individuelle Freiheits- und Autonomieanspruch immer auch in staatlichen beziehungsweise in staatlicherseits gewährleisteten demokratischen Verfahren verwirklicht und mutiert Demokratie in der Folge zu einem staatlichen modus procedendi realer Freiheit907. Insofern stellt sich die in­dividuelle Freiheitssphäre auch nicht als prinzipiell unbegrenzte, sondern als im Wesentlichen durch demokratische Ausmarchung zu konzedierende dar. Bei 903

Hierzu eingehender auch noch einmal unten Kapitel 6 VI. 2. b) = S. 503. Siehe oben Kapitel 5 I. 3. b) = S. 208. 905 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 170. 906 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 164. 907 Dazu auch Abendroth, Grundgesetz (Fn. 235), S. 76: „So sind die Grundrechte aus liberalen Ausklammerungsrechten gegenüber einer grundsätzlich vom Volk unabhängig gedachten monarchischen Gewalt nunmehr zu demokratischen Beteiligungsrechten an der Willensbildung der öffentlichen Gewalt geworden, die aber auch als solche nur dann wirksam bleiben, wenn sie den alten Inhalt, den des Schutzes der einzelnen Menschen, als Substanz bewahren.“ 904

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Zugrundelegung der Schmittschen Konzeption wäre ein ‚institutionelles‘ Verständnis von Volkssouveränität, das dogmatisch auf der essentiellen Verschiedenheit von Freiheitsgewährleistung und institutioneller Garantie aufbaut, mit dem individuumszentrierten, freiheitsrechtlichen Konzept von Volkssouveränität sowohl konzeptionell als auch im Ergebnis nicht zu vereinbaren. Die nähere Analyse ergibt indes zweierlei. Erstens zeigt sich, dass die von Schmitt skizzierte qualitative Verschiedenheit von Freiheitsgewährleistungen und institutionellen Garantien schwerlich aufrechtzuerhalten ist. Zweitens und vor allem lässt sich belegen, dass die freiheitsrechtliche Sichtweise von Volkssouveränität als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur vorliegend durchaus zu denselben Ergebnissen führt wie die institutionelle Rekonstruktion von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, sich die beiden Rekonstruktionsansätze somit wechselseitig bestätigen.

a) Kein unübersteigbarer Gegensatz zwischen institutionellem und freiheitsrechtlichem Rekonstruktionsansatz Zu seiner strikten Dichotomie zwischen institutioneller und freiheitsrechtlicher Konzeption gelangt Carl Schmitt deshalb, weil er ein denkbar weites Verständnis freiheitsrechtlicher Verbürgungen pflegt908. Die von ihm dezidiert als vorstaatlich begriffenen Freiheitsrechte schöpfen Schmitt zufolge „ihren Inhalt nicht aus irgendwelchen Gesetzen, nicht nach Maßgabe von Gesetzen oder innerhalb der Schranken von Gesetzen“, sondern benennen „Sphären der Freiheit“909. Insofern drängt es sich nachgerade auf, eine strikte Trennlinie zu den staats- und norm­ konstituierten institutionellen Verbürgungen zu ziehen910. Allerdings vermag die Schmittsche Sichtweise schon deshalb nicht zu überzeugen, weil er sein extensives Verständnis der Freiheitsrechte vom „isolierten Einzelmenschen“911 her entwickelt und die ebenfalls freiheitsberufenen Mitmenschen außer Acht lässt912. Bezieht man diese nämlich in die freiheitstheoretischen Überlegungen mit ein, so kann die Freiheit des Einzelnen nicht mehr pauschal vorausgesetzt und die gesetzlich-demokratische Beschränkung beziehungsweise Ausgestaltung von Grundrechten nicht zur prinzipiellen Ausnahme erklärt werden, wie Schmitt dies mit seinem allzu konkretisch verstandenen „Verteilungsprin-

908

Dazu eingehend Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 92 ff. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 163; siehe auch ders., Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140 (167): staatsfreie Sphäre. 910 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 170 ff.; ferner ders., Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (Fn. 909), S. 140 (167 ff.). 911 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 164; vgl. dagegen etwa Neumann (Fn. 410), S. 27 f. 912 Zu diesem Kritikansatz auch Hesse (Fn. 345), Sp. 1112. 909

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zip des bürgerlichen Rechtsstaats“913 tut914. Denn sobald man die Freiheiten Dritter mitbedenkt, die weithin mit der Freiheit des vermeintlich „isolierten Einzelmenschen“ konfligieren, drängt sich ein anderes Verteilungsprinzip auf, nämlich das der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie915. Diesem geht es um die gerechte Verteilung von Freiheitschancen unter den Gesellschaftsgliedern916, welche dadurch ins Werk gesetzt wird, dass die Freiheit des Einzelnen durch demokratisch beschlossene Freiheitsbeschränkungen und -ausgestaltungen mit der Freiheit aller ausgeglichen wird917. Unter Berücksichtigung dieses demokratischen Verteilungsprinzips kann die Grundrechtstheorie denn auch – als spezifisch demokratische918 – an das gemein­ europäische Aufklärungsnaturrecht und insbesondere an die kontraktualistischen Theorien anschließen. Aus diesen Theorien erhellt, dass individuelle Freiheit  – ganz gleich, ob sie in der theoretischen Grundlegung als vorstaatlich oder staatlich bedingt angesehen wird  – jedenfalls realiter der demokratischen Sicherung und Aktualisierung bedarf919. Und weil insofern erst durch die demokratische „Macht des Staates (…) die gleichmäßige Freiheit der einzelnen gewährleistet“ wird920, lässt sich im Ergebnis der von Schmitt postulierte Wesensunterschied zwischen Freiheitsgewährleistung und institutioneller Garantie nicht aufrechterhalten: Ebenso wenig wie die institutionellen Garantien setzen die Freiheitsrechte 913 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 421), S. 164, 166 und 158; auch ders., Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 181 (222). Zutreffend weist Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 309 (314) darauf hin, dass Schmitt insofern eigentlich vom ‚bourgeoisen Rechtsstaat‘ sprechen müsste. 914 Gegen dieses Grundrechtsverständnis wendet sich insofern überzeugend Marx’ Menschenrechtskritik vgl. nur: Zur Judenfrage, in: ders., Die Frühschriften (Landshut [Hrsg.]), 1971, S. 171 (192 ff.). Zu Marx als Klassiker des Verfassungslebens Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 19. 915 Dazu auch Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: DÖV 1975, S. 437 (440 f.); ferner – in gebotener Differenziertheit – Denninger, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, vor Art. 1 Rn. 8 ff. 916 Dazu auch Häberle (Fn. 908), S. 117 ff.; vgl. ferner Denninger (Fn. 723), S. 164 ff. 917 In diesem Sinn auch Bäumlin (Fn. 268), S. 111; ferner Drath, Regierung und Grundrechte, in: ders., Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft, 1977, S.  24 (26 ff.) sowie Schneider, Die Verfassung der Grundrechte, in: Schröder / ders. (Hrsg.), Soziale Demokratie, 1991, S. 13 (15). 918 Zur demokratischen Grundrechtstheorie etwa v. Komorowski / Bechtel (Fn. 292), S. 299 f.; auch Bäumlin (Fn. 21), Sp. 468. 919 Verkannt wird dies von Marx (Fn. 613), S. 22 f. in seiner ansonsten hellsichtigen Kritik der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. 920 So Heller (Fn. 255), S. 286; in diesem Sinne auch Drath (Fn. 917), S. 268; vgl. zur Entwicklung des Menschenrechtsverständnisses von seiner rein liberalen Ausprägung im achtzehnten Jahrhundert als Freiheit vom Staat, über seine demokratische Fortentwicklung im neunzehnten Jahrhundert als Freiheit im Staat bis zu seiner sozialen Dimensionierung als Freiheit durch den Staat im zwanzigsten Jahrhundert: Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen, 1992.

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den Einzelnen mit seiner prinzipiell unbegrenzten Freiheitssphäre als gegeben voraus921. Die konstruktive Differenzierung zwischen den vermeintlich vorstaatlichen Freiheitsrechten sowie den staatlich bedingten institutionellen Garantien verab­ solutiert die ungeschichtliche Fiktion des Naturzustandes der Freiheit922. Somit steht die ‚institutionelle Sichtweise‘ der Volkssouveränität nicht bereits aus grundsätzlichen dogmatischen Gründen in Widerspruch zum freiheitsrechtlich konturierten individuumszentrierten Demokratieverständnis923. Präzisierend sei an dieser Stelle freilich angemerkt, dass sich die Kritik am Schmittschen ‚Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaats‘ auf dessen konkretische, liberalistische Ausdeutung bezieht, demzufolge sich Freiheit als Synonym von Staatsferne darstellt924. Sofern das grundrechtlich-rechtsstaatliche Verteilungsprinzip lediglich eine Verteilung von Argumentationslast bezeichnet, wonach der Einzelne seine Freiheitsbetätigung grundsätzlich nicht vor der Gemeinschaft rechtfertigen muss, der Staat hingegen die Beschränkungen individueller Freiheit zu begründen hat925, liegt dies durchaus auf der Linie dessen, was im Folgenden in freiheitsrechtlicher Rekonstruktion der Volkssouveränität entwickelt wird. Denn insofern wird zwar nicht konkretisch zwischen prinzipiell begrenzten staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten und grundsätzlich unbegrenzter individueller Staatsfreiheit differenziert werden können. Wohl aber wird zu berücksichtigen sein, dass die freiheitsrechtlich rekonstruierte Volkssouveränität ein Strukturziel demokratischer Freiheit entbindet, von dem nur mit hinreichender Begründung abgewichen werden kann.

b) Die freiheitsrechtliche Rekonstruktion im Besonderen Versucht man nach diesen Vorüberlegungen das von der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität konstitutiv vorausgesetzte hinreichende Legitimationsniveau im Sinne des individuumszentrierten Demokratieverständnisses freiheitsrechtlich zu rekonstruieren, so tritt ein Konkretisierungsschema zu Tage, das bis in die Einzelheiten dem oben in institutioneller Perspektive entwickelten Kon­ kretisierungsschema entspricht. So lässt sich auch freiheitsrechtlich zwischen dem unantastbaren Kern- und dem nur relativ geschützten Randbereich der Volkssouveränität unterscheiden. Der Kernbereich umfasst den Wesensgehalt der freiheitsrechtlichen Demokratiever 921

Häberle (Fn. 908), S. 225: „Die Freiheit ist keine vom Recht ausgesparte, außerhalb des Rechts bestehende Freiheit, sondern sie ist Freiheit innerhalb des Rechts.“ 922 Heller (Fn. 255), S. 286. 923 Anders wohl Quaritsch (Fn. 896), Sp. 1354. 924 In diesem Sinn auch die Kritik von Bäumlin (Fn. 268), S. 78. 925 In diese Richtung Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, 2000, S. 190 f.; ferner Denninger, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, vor Art. 1 Rn. 12 f.: „In dubio pro libertate.“

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Teil III: Volkssouveränität und EU

bürgung926, sodass Ausgestaltungen des demokratischen Freiheitsstatus die begriffs- und identitätsprägenden Inhalte von Volkssouveränität unberührt lassen müssen927. Denn wäre der Wesensgehalt freiheitsrechtlicher Verbürgungen nicht in dieser Weise geschützt, drohten die Freiheitsrechte leerzulaufen, was ihrem Sinn und Zweck widerspräche. Bedenkt man weiter, dass sich Volkssouveränität in individuumszentrierter Perspektive als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur darstellt, dürfte ihr Wesensgehalt jedenfalls dann tangiert sein, wenn soziale Machtakte ergehen, die dem Volk nicht einmal indirekt zurechenbar sind, sich also nicht einmal insofern als mittelbarer Ausfluss freiheitlicher Selbstregierung qualifizieren lassen, als sie auf einer vom Volk allgemein gebilligten Machtentfaltung durch private Dritte beruhen. Der Randbereich wird durch diejenigen tatsächlichen und potenziellen Emanationen von Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur konstituiert, die nicht bereits ihrem Wesensgehalt unterfallen. Da freilich die demokratische Freiheit nicht die einzige sozialorganisatorisch zu berücksichtigende Grundwertung ist, muss sie gegebenenfalls relativiert werden, um mit anderen Gemeinwohlzwecken koexistieren zu können928. Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass auch der Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur insofern ein Doppelcharakter eignet, als sie sowohl eine konkrete Realstruktur als auch ein konkretes Strukturziel benennt. Als Realstruktur beschreibt sie einen als Volkssouveränität qualifizierbaren Modus der Machtausübung. Freilich lässt sich die sozialorganisatorische Freiheitsstruktur der Volkssouveränität erst dann als Realstruktur abschließend konkretisieren, wenn vorab die Frage der Relativierbarkeit geklärt ist. Insofern ist ins dogmatische Kalkül zu ziehen, dass der als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur gedeuteten Volkssouveränität ein Strukturziel innewohnt, nämlich ein spezifisches Ideal politischer Machtverteilung929. Hiernach sollen die freiheitsberufenen Individuen derart an der Machtausübung beteiligt werden, dass sie als Ausfluss freiheitlicher Selbstgesetzgebung und individueller Selbstbestimmung gewertet werden kann930. Für die Relativierbarkeit von Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur und damit für deren Realstruktur folgt hieraus, dass sich jede Abweichung von diesem spezifischen Machtverteilungsmodell durch ausreichende Ge 926 Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die Wesensgehaltsgarantie im Sinne der objektiven Theorie und damit als abwägungsresistent ausdeutet – wie hier etwa Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 19 Rn. 9.; anderer Ansicht beispielsweise Hesse (Fn. 221), Rn. 332 ff. Dazu auch unten Kapitel 9 III. 3. = S. 575. 927 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stern (Fn. 896), S. 869. 928 Zur Verfehltheit eines auf seinen demokratischen Gehalt reduzierten Freiheitsbegriffs siehe nur Haverkate (Fn. 102), S. 256. 929 Vgl. etwa Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 11 (28 f.). Allgemein zur Demokratie als Prinzip gerechter Machtverteilung Stein (Fn. 900), S. 23. 930 Dazu lehrreich Haverkate (Fn. 102), 1992, S. 334.

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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meinwohlgründe rechtfertigen lassen muss931. Bei jeder Absenkung des Niveaus demokratischer Legitimation besteht insofern ein ‚Rechtfertigungszwang‘. Diese Begründungslast, die durch Verkürzungen von Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur ausgelöst werden, kann wiederum durch eine rationale Argumentation abgetragen wird: Wie stets bei Freiheitsbeschränkungen müssen diese in Hinblick auf den sie tragenden Gemeinwohlgrund geeignet, erforderlich und im engeren Sinn932 verhältnismäßig sein933. Letzteres lässt sich nur durch Abwägung ermitteln934. Letztlich folgt die freiheitsrechtliche Rekonstruktion des von der Volkssouveränität vorausgesetzten Legitimationsniveaus somit demselben Konkretisierungsschema wie die institutionelle Rekonstruktion. Dies gilt umso mehr, als sich auch der einzige insofern prima vista auszumachende Unterschied zwischen diesen beiden Sichtweisen bei näherem Hinsehen verflüchtigt. So ist zwar einzuräumen, dass die beiden Rekonstruktionsansätze die letzte Kontrollstufe, die bei der dreischrittigen Diskussion der Relativierbarkeit zu durchlaufen ist, zum Teil terminologisch unterschiedlich fassen. Als drittes Rechtfertigungskriterium figuriert bei der institutionellen Sichtweise zumindest partiell die Vertretbarkeit935, während bei der freiheitsrechtlichen Sichtweise durchweg nach der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn936 gefragt wird. Allerdings liegt hierin lediglich ein semantischer Unterschied, wird doch in beiden Fällen der Sache nach letztlich eine Abwägung, das heißt eine ‚Stimmigkeitskontrolle‘937 gefordert. Und sofern der Terminus der Vertretbarkeit eine vergleichsweise weite Einschätzungsprärogative zugunsten derjenigen Instanzen impliziert, die die Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur ausgestalten938, so lässt sich hieraus ebenfalls kein Widerspruch zum Begriff der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn konstruieren. Denn auch bei der Anwendung dieses Verhältnismäßigkeitskriteriums muss im hiesigen Kontext beachtet werden, dass die sozialorganisatorische Freiheitsstruktur um ihrer selbst willen möglichst frei organisierbar sein muss939.

931

Zum Rechtfertigungsbedürfnis von Freiheitsbeschränkungen nur Kriele (Fn.  268), § 56

a). 932

Stein / Frank (Fn. 2), § 30 V 3. Hesse (Fn. 345), Sp. 1122. 934 Siehe Zippelius / Würtenberger (Fn. 150), § 12 III 6 c). 935 Siehe etwa BVerfGE 79, 127 (154); für eine Anwendung des Übermaßverbots auch im Rahmen institutioneller Garantie vgl. indes Stern (Fn. 896), S. 870 f. 936 Siehe Hesse (Fn. 221), Rn. 318 f. 937 Vgl. nur Stein / Frank (Fn. 2) § 30 V 3; zur Unterscheidung zwischen Angemessenheitsund Willkürkontrolle siehe auch v. Komorowski / Bechtel (Fn. 292), S. 500 ff. 938 Herkömmlicherweise wird die Vertretbarkeitskontrolle auf halber Strecke zwischen Evidenzkontrolle und Verhältnismäßigkeitsprüfung angesiedelt (vgl. BVerfGE 50, 290 [333]). 939 Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 (60 ff.). 933

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Teil III: Volkssouveränität und EU

3. Das von der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität konstitutiv vorausgesetzte Legitimationsniveau Unabhängig davon, ob die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität verbandsorientiert im Sinne einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur oder aber individuumszentriert als freiheitsorganisatorische Freiheitsstruktur Gestalt annimmt, und ungeachtet dessen, ob in der Folge das um der Volkssouveränität willen vorauszusetzende Legitimationsniveau institutionell oder aber freiheitsrechtlich bestimmt wird, gelangt man der Sache nach doch zu einem übereinstimmenden Konkretisierungsschema, anhand dessen sich das für die verschiedenförmigen Zurechnungsstrukturen der Volkssouveränität konstitutiv vorauszusetzende Legitimationsniveau einheitlich bestimmen lässt. Dieses Konkretisierungsschema erweist sich als gleichermaßen überzeugend wie leistungsfähig, sodass im Weiteren darauf zurückgegriffen werden wird. Überzeugend ist dieses Konkretisierungsschema vor allem deshalb, weil es die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität flexibel hält, sie gegenüber den sich wandelnden Normativitäten und der sich fortentwickelnden Normalität öffnet, ohne jedoch den Eigen-Sinn, das proprium der Volkssouveränität zu vernachlässigen: Eine Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität kann in allen ihren Dimen­ sionen von dem ihr innewohnenden Strukturziel abrücken, ohne ihre Realstruktur zu zerstören, sofern sich dies rational als begründet erweist und im Übrigen der Kerngehalt der Volkssouveränität nicht tangiert wird. In dieser Perspektive erfüllt der Strukturbegriff der Volkssouveränität just die Anforderungen, die aus Sicht einer modernen Allgemeinen Staatslehre an ihn zu stellen sind. Er erlaubt es, einen Ausschnitt der in stetigem Wandel befindlichen sozialen Wirklichkeit verstehbar zu erfassen940. Das Konkretisierungsschema erweist sich des Weiteren auch als leistungsfähig. Denn die Zweck-Mittel-Relation, die der Sache nach hinter dem Konkretisierungsschema steht, ist nicht ohne Grund ein weit verbreitetes heuristisches Prinzip941. Sie erlaubt es, vergleichsweise nüchtern und sachlich einen komplexen, gegebenenfalls auch emotionsbeladenen Sachverhalt zu strukturieren. Zwar erledigen sich dadurch selbstverständlich nicht die aufgeworfenen Wertungsfragen942. Jedoch lassen sie sich besser abschichten943. Vor diesem Hintergrund sprechen durchgreifende Gründe dafür, das von der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität vorausgesetzte Niveau demokratischer 940

Dazu oben Vorbemerkung zu Teil III = S. 179. Siehe hierzu Hollerbach, Artikel ‚Verhältnismäßigkeit‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1987, Sp. 670 f.; vgl. allerdings auch die ideologiekritische Annäherung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip von Bäumlin / Ridder / Denninger, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 III Rn. 64 ff. 942 Hollerbach (Fn. 941), Sp. 671; Pieroth / Schlink (Fn. 937), Rn. 293. 943 Stern (Fn. 896), S. 929 f. 941

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Legitimation grundsätzlich entsprechend dem vorstehend entwickelten Konkreti­ sierungsschema zu bestimmen. Dieses muss daher nur noch in einer Hinsicht präzisiert werden. So ist zu bedenken, dass das in Rede stehende Konkretisierungsschema bis hierher nur in Hinblick auf die beiden einander diametral entgegenstehenden Konkretisierungen von Volkssouveränität entwickelt worden ist, nämlich zum einen in Ansehung von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur, zum anderen in Bezug auf Volkssouveränität als sozial­organisatorische Freiheitsstruktur. Es entspricht daher dem zugrundegelegten dialektischen Denkverfahren, in einem letzten Schritt das in Rede stehende Konkretisierungsschema synthetisierend für die polyvalent-variable und folglich (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität allgemein zu entfalten. Die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität ist jedenfalls dann in ihrem Kernbereich tangiert, wenn sich in einer ihrer vier Dimensionen Verhältnisse darbieten, die eine demokratische Zurechenbarkeit gebietsgesellschaftlich wirk­ samer Hoheitsakte ausschließen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Hoheitsakt auf dem Territorium eines demokratischen Staatsvolksverbands in Geltung erwächst, ohne dass sich sein Erlass oder Fortbestand zumindest teil- beziehungsweise944 zeitweise auf das betreffende Staatsvolk oder – nach Maßgabe von diesem legitimierter Organisationsbestimmungen  – auf ein sonstiges alle nachhaltig betroffenen Staatsgebietsangehörigen erfassendes demos zurückführen lässt945. Ferner ist der Kernbereich der Volkssouveränität beeinträchtigt, sofern in einer mittelbaren Demokratie nur noch alle zehn Jahre Volkswahlen stattfinden946, die Medien von wenigen (Kapital-)Mächtigen beherrscht und infolgedessen die Meinungsvielfalt nicht mehr gewährleistet ist947 oder wenn es einer Gebietsgesellschaft partout nicht gelingen will, kommunikativ eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit beziehungsweise eine kollektive Identität als demos aus­ zubilden948. In ihrem Randbereich erstreckt sich die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität auf alle jenseits des Kernbereichs angesiedelten Verhältnisse, in denen die demokratische Rückkoppelung sozialer Macht bereits etabliert ist, neu ins Werk gesetzt oder doch zumindest in der einen oder anderen Dimension noch vertieft werden kann. Der Umstand, dass Demokratie insofern nur teilweise reell ist, teilweise aber eben auch bloß virtuell bleibt, offenbart, dass die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität in ihrem Randbereich relativierbar ist. 944

Im Fall von gegen den Staatsvolkswillen zustande gekommenen, aber nach dem Mehrheitsprinzip auch wieder revidierbaren Entscheidungen. 945 Dazu allgemein Hain, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 79 Rn. 83 ff. 946 Vgl. dazu Delannoi, Démocracie, le mot et le critère, in: Esprit, No 240 (2/1998), S. 60 (72). 947 Dazu etwa Wegge (Fn. 853), S. 182 ff. 948 Hierzu beispielsweise Kluth (Fn. 17), S. 41 f.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Mal auf den Doppelcharakter von Volkssouveränität als Realstruktur und Strukturziel zurückzukommen. Als Realstruktur bezieht sich der Zurechnungszusammenhang der Volkssouveränität auf eine in der sozialen Wirklichkeit tatsächlich vorkommende soziale Struktur. Von der Realstruktur der Volkssouveränität werden dabei mitunter auch solche Konstellationen erfasst, in denen an sich dem Randbereich von Volkssouveränität unterfallende Zurechnungszusammenhänge in Hinblick auf gegenläufige Gemeinwohlgründe (teils erheblich) relativiert sind. Um die mit der Realstruktur von Volkssouveränität kompatiblen Relativierungen im Randbereich von Volkssouveränität zu konkretisieren, kann und muss an das der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität gleichfalls innewohnende Strukturziel angeknüpft werden: Auch in ihrer wirklichkeitswissenschaftlich synthetisierenden Deutung als polyvalent-variable und (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur entbindet die Volkssouveränität ein spezifisches Modell politischer Machtverteilung949 als Strukturziel. Danach soll die politische Macht dem Volk und niemandem sonst zurechenbar sein. Jede Abweichung von diesem Strukturziel, mithin also jede Lockerung des demokratischen Zurechnungszusammenhangs in einer der vier Dimensionen von Volkssouveränität erweist sich infolgedessen als rechtfertigungsbedürftig. Rechtfertigen lässt sich die Reduktion demokratischer Zurechenbarkeit und damit die Absenkung des Niveaus demokratischer Legitimation allenfalls in Hinblick auf trag­ fähige Gemeinwohlgründe, und zwar im Wege einer Zweck-Mittel-Relation: Die Beeinträchtigung von Volkssouveränität muss im Hinblick auf den zu verwirk­ lichenden Gemeinwohlzweck geeignet, erforderlich und angemessen sein. Die hier vorgeschlagene Rekonstruktion des von der Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität konstitutiv vorausgesetzten Niveaus demokratischer Legitimation weiß sich einmal mehr den Konzeptionen Hermann Hellers eng verbunden. Dies gilt nicht nur in methodischer Hinsicht, also bezüglich des antithetisch-dialektischen Denkverfahrens. Auch inhaltlich bleibt die hier entwickelte Sichtweise auf Tuchfühlung zum Denken Hermann Hellers. So liegt ihre Pointe in der beschriebenen, dreischrittig zu operationalisierenden Relativität von Volkssouveränität in ihrem Randbereich. Konstitutiv für diesen Relativierungsmodus ist der Doppelcharakter von Volkssouveränität als Realstruktur und Strukturziel. Auf das wirklichkeitswissenschaftliche Erfordernis, Volkssouveränität in diesem Sinne zu duplizieren, hat freilich schon Heller hingewiesen. In seiner ‚Staatslehre‘ betont er zutreffend, die Volkssouveränität sei „keine bloße Fiktion, sondern eine politische Wirklichkeit“950. In ihrer Bedeutung vollständig könne die Volkssouveränität aber nur dann erfasst werden, wenn man sie zugleich „als ein polemisches Prinzip der Machtverteilung im Gegensatz zur Herrschersouveränität“ begreife951. Erst die Rückbesinnung auf das ihr innewohnende und immer ein Stück weit kontrafak­

949

Zur Demokratie als Problem der Machtverteilung vgl. Stein / Frank (Fn. 2), § 8 IV. Heller (Fn. 14), S. 360. 951 Ebd.

950

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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tische Machtverteilungsmodell952 ermöglicht es, die polyvalent-variable, also (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität als Realstruktur umfassend zu rekonstruieren.

VII. Die Volkssouveränität als mehrdimensionale Zurechnungsstruktur: Das Ergebnis der wirklichkeitswissenschaftlichen Rekonstruktion In wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive ist die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität in insgesamt vier Dimensionen aufzufächern. Die Rekonstruktion von Volkssouveränität als mehrdimensionale Zurechnungsstruktur verdankt sich dabei wesentlich dem dialektischen Denkverfahren. Denn dieses erlaubt nicht nur, das verbandsorientierte Verständnis von Volkssouveränität als nationaldemo­ kratischer Staatsherrschaftsstruktur mit seinem individuumszentrierten Verständnis als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur zu vermitteln. Zugleich wird sichergestellt, dass die Volkssouveränität trotz ihres sozialethisch-normativen Gehalts als eine in der politischen Wirklichkeit, also in der Normalität verankerte Zurechnungsstruktur begreiflich bleibt. In ihrer ersten Vertikaldimension als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang nimmt Volkssouveränität durch die Rückkoppelung von Hoheitsakten an den Volkswillen Gestalt an und bricht sich insofern – dem verbandsorientierten Verständnis entsprechend  – strikt hierarchisch von ‚oben nach unten‘ Bahn. Vollständig realisiert wird die Volkssouveränität dabei nur dann, wenn den Hoheitsakten dezisionär eine exklusive und revisionär eine ebenfalls exklusive sowie zusätzlich perpetuelle demokratische Legitimation zuwächst953. Die demnach grundsätzlich exklusiv-perpetuelle Rückbindung der Hoheitsakte an den Volkswillen vollzieht sich in den zeitgenössischen mittelbaren Demokratien typischerweise vielfach vermittelt, und zwar in den spezifischen Legitimationsformen personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation954. Das in Hinblick auf einen bestimmten Hoheitsakt erreichte Niveau demokratischer Legitimation bemisst sich in dieser ersten Dimension nach dem Ausmaß der Ex­ klusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation955, nach dem im Einzelnen differenziert zu bestimmenden Grad der Abgeleitetheit personeller beziehungsweise materieller Legitimation956 sowie nach dem Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit957.

952

In diesem Sinne auch Fisahn (Fn. 324), S. 81. Siehe oben Kapitel 6 I. 1. = S. 253. 954 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. = S. 281. 955 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. a) = S. 392. 956 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405. 957 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) = S. 470.

953

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Die zweite Vertikaldimension von Volkssouveränität, also die als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation, macht begreiflich, weshalb Hoheitsakte auch dann als Ausfluss von Volkssouveränität, nämlich als Ausdruck des aktualen Volkswillens gewertet werden können, wenn sie nicht unmittelbar vom Volk exklusiv-perpetuell legitimiert werden. In den mittelbaren Demokratien heutiger Tage wird die  – dem individuumszentrierten Verständnis von Volkssouveränität entsprechende – immerwährende Beeinflussung des Volkswillens ‚von unten nach oben‘ durch das System magistratischer Repräsentation – ergänzt um das System demokratischer Administration  – erreicht958. Herausragende Bedeutung kommt dabei dem Parlament zu, das strukturell eng an die gebietsgesellschaftlichen Willensbildungen angeschlossen ist und dadurch besonders wirksam zur demokratischen Rückbindung von Hoheitsakten beizutragen vermag. Das um das System demokratischer Administration ergänzte System magistratischer Repräsentation prägt einen ganz bestimmten Legitimationsmodus aus, setzt mithin eine spezifische Ausgestaltung von Volkssouveränität als legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang voraus. Es trägt insofern auch nicht in eigenständiger Weise zum demokratischen Legitimationsniveau bei. Vielmehr deckt sich sein Legitimationsbeitrag mit demjenigen, der in der ersten Vertikaldimension von Volkssouveränität als legitimationsvermittelndem Ableitungszusammenhang erzielt wird959. Damit die aus der Gebietsgesellschaft erwachsenden formellen Wahlakte und informellen Meinungsartikulationen als Ausdruck eines demokratischen Volks­ willens qualifiziert werden können, setzt die Zurechnungsstruktur der Volks­ souveränität in ihrer Horizontaldimension voraus, dass staats- und gesellschaftsorganisatorisch die Bedingungen demokratischer Volkswerdung gewährleistet sind. Dazu zählen in staatsorganisatorischer Hinsicht Freiheit und Gleichheit960, was dem individuumszentrierten Demokratieparadigma entspricht, ferner der Minderheitenschutz961, wofür gerade der verbandsorientierte Ansatz streitet, schließlich auch das Öffentlichkeitsprinzip962. Sinngemäß, das heißt unter Berücksichtigung der verbleibenden Unterschiede zwischen Staat und Gesellschaft, gelten die staatsorganisatorischen Bedingungen der Volkswerdung auch für die Gesellschaftsorganisation963. Das Niveau demokratischer Legitimation wird insofern auch von der demokratischen Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation mitbestimmt964. Ausschlaggebend für die Normalität einer Volkssouveränität etablierenden Zurechnungsstruktur ist nicht zuletzt ihre vorstehend als Normalität demokratischer 958

Siehe oben Kapitel 6 II. = S. 316. Siehe oben Kapitel 6 V. 2. = S. 481. 960 Siehe oben Kapitel 6 III. 1. = S. 328. 961 Siehe oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328. 962 Siehe oben Kapitel 6 III. 3. a) = S. 344. 963 Siehe oben Kapitel 6 III. 2. = S. 337 und Kapitel 6 III. 3. b) = S. 348. 964 Siehe oben Kapitel 6 V. 3. = S. 483.

959

Kap. 6: Die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur

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Volkswerdung apostrophierte Tiefendimension: Demokratie setzt realiter eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit und ein Gefühl, eine Vorstellung kollektiver Identität als demos voraus965. Nun wird zwar durch die institutionellen Rahmenbedingungen, die für die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität heutzutage verticaliter prägend sind, ein sanfter Zwang zur Ausbildung politischer Öffentlichkeit und kommunikativ vermittelter sozialer Integration ausgeübt; ferner gewährleistet die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität horizontaliter Diskursstrukturen, die für Entstehung und Erneuerung demokratischer Öffentlichkeit und demokratischer Kollektividentität von essentieller Bedeutung sind966. Dies aber ist keine Garantie dafür, dass die Volkssouveränität tatsächlich von einer politischen Kultur mitsamt der dazugehörigen Infrastruktur getragen wird, aus der heraus demokratische Öffentlichkeit entsteht und die demokratisch identitäts­ stiftend wirkt. Auch vom Realisierungsumfang dieser sogenannten ‚vorrechtlichen Voraussetzungen‘ von Demokratie wird mithin in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive das Niveau demokratischer Legitimation mitbestimmt967. Nun lässt die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität indes nicht nur Rückschlüsse darauf zu, in welchen Dimensionen die einzelnen Hoheitsakte an den Volkswillen rückgekoppelt werden und wie insofern zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus beigetragen wird. Darüber hinaus wird erkennbar, inwieweit die demokratische Zurechenbarkeit von Hoheitsakten zum Volkswillen in Hinblick auf gegenläufige Gemeinwohlbelange relativiert und mithin das Niveau demokratischer Legitimation abgesenkt werden kann, ohne die Realstruktur von Volkssouveränität aufzuheben968. Dazu ist zwischen dem unantast­ baren Kernbereich von Volkssouveränität und seinem Randbereich zu differenzieren. Der Randbereich, der durch alle tatsächlichen und potenziellen Ausprägungen von Volkssouveränität als Strukturziel konturiert wird, kann seinerseits nach Maßgabe einer Zweck-Mittel-Relation eingeschränkt werden: Die Abweichung von dem durch die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität teleologisch vorgegebenen Machtverteilungsmodell, wonach die Herrschaftsmacht beim Volk und niemandem sonst lokalisiert sein soll, muss im Hinblick auf den zu verwirklichenden Gemeinwohlzweck geeignet, erforderlich und angemessen, im weiteren Sinn also verhältnismäßig sein.

965

Siehe oben Kapitel 6 IV. = S. 353. Siehe oben Kapitel 6 IV. 3. a) = S. 384. 967 Siehe oben Kapitel 6 V. 4. = S. 485. 968 Siehe oben Kapitel 6 VI. = S. 495.

966

512

Teil III: Volkssouveränität und EU

Kapitel 7

G

Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

Dass die Strukturen der Staats- und Volkssouveränität in einem Verhältnis der Korrelation zueinander stehen, ist schon unter mehreren Gesichtspunkten angesprochen worden1. Um dieses wirklichkeitswissenschaftlich näher zu spezifizieren, ist einmal mehr auf das dialektische Denkverfahren2 zurückzugreifen3. In diesem Sinn wird zunächst kurz skizziert, wie sich ihr Verhältnis zur Staatssouveränität darstellt, wenn man die Volkssouveränität allein als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur oder aber ausschließlich als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur begreift, sie also einseitig im Licht der verbandsorientierten beziehungsweise ausschließlich in dem der individuumszentrierten Demokratieparadigmen ausdeutet4. Daran schließt sich unmittelbar eine Kritik dieser vereinseitigenden Betrachtungsweisen an, wobei entsprechend dem dialektischen Denkverfahren sowohl die Normativität als auch die Normalität des Verhältnisses von Staats- und Volkssouveränität ausgemessen wird. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Analyse lässt sich dann sukzessive das Korrelationsverhältnis dieser beiden Strukturen wirklichkeitswissenschaftlich konkretisieren und damit das Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats rekonstruieren.

I. Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität aus der vereinseitigenden Perspektive der verbandsorientierten beziehungsweise individuumszentrierten Demokratieparadigmen: Bestandsaufnahme und Kritik Liegt der Wesenskern der demokratiezentralen Volkssouveränität darin, dass ein Staatsvolk staatsorganisatorisch in der Lage ist, sich herrschaftsförmig selbst zu bestimmen und gegen verbandsexterne Interferenzen zur Wehr zu setzen5, so liegt der Schluss nahe, Volks- und Staatssouveränität vollumfänglich miteinander 1 Nämlich im Rahmen der Einleitung – Einleitung I. 5. c) = S. 66 –, im Zusammenhang mit dem Maastricht-Urteils – Kapitel 1 I. 2. = S. 92 – sowie bei der Beschreibung von Hellers staatstheoretischen Konzeptionen – Kapitel 2 II. 2. c) = S. 144. 2 Siehe oben Vorbemerkung zu Teil III = S. 179. 3 Dies ist allemal zielführender, als das Verhältnis von Volks- und Staatssouveränität als „ambigous“ zu bezeichnen und sich in der Folge von der Souveränität als „an unhelpful doctrine“ zu verabschieden (so aber Newman, Democracy, Sovereignty an the European Union, 1996, S. 6 und 12). 4 Zu diesen divergierenden Demokratieparadigmen vgl. eingehend oben Kapitel 5 I.  = S. 185. 5 Dies entspricht den verbandsorientierten Demokratieparadigmen von Volkssouveränität als Volksherrschaft – Kapitel 5 I. 1. a) = S. 187 –, als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung – Kapitel 5 I. 2. a) = S. 197 –, als staatsorganisatorisch-formaler Ordnungsstruktur – Kapitel 5 I. 3. a) = S. 205 – sowie als exklusiver Nationalsouveränität – Kapitel 5 I. 4. a) = S. 216.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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zu identifizieren. Denn im Licht der verbandsorientierten Demokratieparadigmen, mithin also als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, bricht sich Volkssouveränität in der Souveränität des demokratischen Staates Bahn und manifestiert sich die Staatssouveränität in der Souveränität des Staatsvolks6. Begreift man Volkssouveränität demgegenüber als ein alle machtgeneigten Sozialbeziehungen erfassendes Inklusionsprinzip, aufgrund dessen sich grenzenlos die idealiter herrschaftsfreie Selbstgesetzgebung autonomer, weltbürgerlich gesinnter Individuen realisieren soll7, liegt es fern, Volkssouveränität und Staatssouveränität auch nur teilweise gleichzusetzen. Stattdessen ist in der Perspektive der individuumszentrierten Demokratieparadigmen von einem Spannungsverhältnis zwischen Staats- und Volkssouveränität auszugehen, sucht diese doch tendenziell zu überwinden, was jene ausmacht, nämlich die spezifisch staatliche Herrschaft eines exklusiven Kollektivs über die staatlich radizierte Gebietsgesellschaft. Aus Sicht des individuumszentrierten Ansatzes lässt sich dieses Spannungsverhältnis nach zwei Richtungen hin auflösen, zumindest aber abmildern: Entweder man verabschiedet sich ideologiekritisch vollends von der Staatssouveränität, weil die Vorstellung einer obersten und ausschließlichen Gebietsordnungsgewalt ‚Staat‘8  – angesichts von zahlreichen, ihr faktisch ebenbürtigen gebietsgesellschaftlichen Mächten9 und in Hinblick auf ihre zunehmende übernationale Bedingtheit  – eine die wahren Machtverhältnisse lediglich camouflierende Fiktion darstellt10. Oder aber man akzeptiert nolens volens die in der Normalität nach wie vor ([völker-]rechts-)mächtige Vorstellung souveräner Staatsgewalt11, entkoppelt sie aber völlig von der der Volkssouveränität12.

6 Zur Identifizierung von Staats- und Volkssouveränität in der Phase der französischen Revolution Meister, Artikel ‚Souveränität‘, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, 1990, S. 313 (315). 7 Dies liegt in der Konsequenz der individuumszentrierten Demokratieparadigmen von Volkssouveränität als freiheitlicher Selbstgesetzgebung – Kapitel 5 I. 1. b) = S. 189 –, als Ausdruck individueller Selbstbestimmung – Kapitel 5 I. 2. b) = S. 198 –, als gesamtgesellschaftlichmaterialer Ordnungsstruktur – Kapitel 5 I. 3. b) = S. 208 – sowie als inklusiver Bevölkerungssou­ veränität – Kapitel 5 I. 4. b) = S. 217. 8 Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 (358). 9 Schon Heller (Fn. 8), S. 347 weist darauf hin, dass Kartelle, Trusts und Gewerkschaften kraft ihrer ökonomischen Zwangsmittel nicht selten eine die Staatsgewalt geradezu aushöhlende Macht auszuüben vermögen. 10 Vgl. dazu bereits Marx’ Kritik an Hegels mystifizierendem Souveränitätsdiskurs – Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: ders., Die Frühschriften (Landshut [[ Hrsg.]), 1971, S. 20 (38 ff.). 11 Dagtoglou, Artikel, ‚Souveränität‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl. 1987, Sp. 3155 (3159 ff.). 12 In diese Richtung etwa Roellecke, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  1, 2002, Art. 20 Rn. 150 und 8. 

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Teil III: Volkssouveränität und EU

1. Kritik der Trennungs- und Agoniethese Die einseitige an die individuumszentrierten Demokratieparadigmen anschließende Rekonstruktion des (Un-)Verhältnisses von Staats- und Volkssouveränität führt dementsprechend entweder zu der pragmatischen Annahme, Staats- und Volkssouveränität seien inhaltlich völlig getrennt voneinander zu beurteilen, oder zu der pointierten These, dass sich Überlegungen zur Staatssouveränität wegen der in tatsächlicher Hinsicht beobachtbaren Agonie des souveränen Staates letztlich erübrigen. Indes vermag die Trennungsthese schon rein sprachlich nicht zu überzeugen, nehmen doch Volks- und Staatssouveränität beide die Souveränität in Bezug. Die von der Semantik genährten Zweifel erhärten sich, wenn man sich der ideen­ geschichtlichen Grundlagen dieser beiden Begriffe vergewissert. Insofern ist einmal mehr auf Marsilius von Padua zu rekurrieren. Wie erwähnt, hat dieser mit seiner Deutung der kanonischen Betroffenheits-Formel, wonach dasjenige, was alle angeht, auch von allen beschlossen werden soll, bereits im Mittelalter eine wesentliche Grundlage für das Verständnis von Volkssouveränität gelegt13. Daneben nimmt Marsilius aber auch bereits die später dann vor allem von Jean Bodin im Einzelnen systematisierte14 Idee der Staatssouveränität vorweg und macht dabei zugleich die Zusammenhänge zwischen Volks- und Staatssouveränität apparent15. Wie der Titel seines Hauptwerks ‚Defensor Pacis‘ schon andeutet, entwickelt Marsilius seine politische Theorie ausgehend vom Ideal und Gebot des gesamtgesellschaftlichen Friedens her16. Um diesen erstrebten Friedenszustand zu erreichen, muss der Staat nach Marsilius’ Auffassung über eine echte, nämlich mit Zwangsmacht ausgestattete Rechtsetzungsgewalt verfügen, um denjenigen wider­stehen zu können, „die im Innern die einzelnen stören und von außen die Gemeinschaft zu vergewaltigen versuchen“17. Was Marsilius als zentrales Mit

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Siehe oben Kapitel 5 I. 2. b) = S. 198. Zur Systematisierung der Souveränitätslehre durch Jean Bodin vgl. Goyard-Fabre, Artikel ‚Souveraineté‘, in: Auroux (Hrsg.), Les notions philosophiques, Bd. 2, 1990, S. 2439 (2440), Meister (Fn.  6), S.  314 f. und Quaritsch, Artikel ‚Souveränität‘, in: Ritter / Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 1995, S. 1103 f.; auch Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, in: Müller u. a. (Hrsg.), Festschrift für Eichenberger, 1982, S.  131 (137 f.). Zur historischen Einordnung von Bodins Souveränitätslehre Schilling, Aufbruch und Krise, 1994, S. 341 ff. 15 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund überzeugt es, wenn Sternberger, Die Stadt und das Reich in der Verfassungslehre des Marsilius von Padua, in: ders., Die Stadt als Urbild, 1985, S. 76 (82) im Hinblick auf Marsilius’ Rekonstruktion des weltlichen Gemeinwesens – anachronistisch – von einer „Allgemeinen Staatslehre“ spricht. 16 Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Rausch [Hrsg.]),1985, S. 3 ff. (Teil I /  Kap. I / § 1 ff.); vgl. auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 188. 17 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 18 (Teil I / Kap. IV / § 4); siehe auch Struve, Die Rolle des Gesetzes im ‚Defensor Pacis‘ des Marsilius von Padua, in: Medioevo 1980, S. 355 (363 f.).

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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tel zum Zweck der Friedenssicherung beschreibt, nämlich die nach innen und außen unwiderstehliche Rechtsetzungsgewalt des Staates18, wird Bodin zwei Jahrhunderte später – absolutistisch gewendet19 – als Kern der Souveränität dia­ gnostizieren. Bereits im ersten der ‚Six livres de la République‘ hebt er hervor, dass das Hauptmerkmal der souveränen Majestät und absoluten Gewalt darin bestehe, allen Untertanen ohne deren Zustimmung Gesetze auferlegen zu können20. Im Unterschied zu Bodin verdeutlicht Marsilius freilich zugleich den ebenso simplen wie vielfach verdrängten Konnex zwischen Staats- und Volkssouveränität. Denn wenn es aus Friedenssicherungsgründen eine derartige unwiderstehliche Rechtsetzungsgewalt geben muss, stellt sich zwangsläufig die Frage, wer Träger und maßgebliches Organ dieser Gewalt sein soll: „Aber weil die wahre Erkenntnis oder Findung des Gerechten und Nützlichen und ihres Gegenteils nur dann Gesetz in der letzten und eigentlichen Bedeutung ist, in der es Maßstab für das menschliche Handeln im bürgerlichen Leben wird  – (nur dann), wenn der­ jenige eine zwingende Vorschrift, es zu befolgen, erlassen oder es als solche Vorschrift formuliert hat, kraft dessen Ermächtigung eine Bestrafung der Übertreter erfolgen kann und soll, deswegen muss gesagt werden, wem die Befugnis zusteht, eine solche Vorschrift zu erlassen und deren Übertreter zu bestrafen“21. Eine Antwort auf diese Fragestellung bietet die demokratiezentrale Volkssouveränität. Und diese Antwort gibt auch Marsilius, wobei er – überaus modern – das sich organisiert artikulierende Volk als Träger und maßgebliches Organ souveräner Staatsgewalt diagnostiziert22. Bei Marsilius wird insofern jene Verschränktheit von Staats- und Volkssouveränität apparent23, auf die rund vier Jahrhunderte später Jean-Jacques Rousseau – in pointierter Diktion und kühner Konstruktion – seine Staatstheorie gründen wird24: „… une ville non plus qu’une nation ne peut être légitimement sujette d’une autre, parce que l’essence du corps politique est dans l’accord de l’obéissance et de la liberté, et que ces mots de sujet et de souverain sont des corrélations identiques dont l’idée se réunit sous le seul mot de citoyen“25.



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Vgl. Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1977, S. 62 f. Vgl. dazu auch Schnur, Artikel ‚Bodin‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 1, 7. Aufl. 1987, Sp. 861 (862), der zwar einräumt, dass Bodins Souveränitätslehre die geistige Grundlage des Absolutismus abgegeben habe, zugleich aber davor warnt, Bodin als Apologeten des Absolutismus zu qualifizieren. 20 Bodin, Les six Livres de la République, 1583, S. 222 (Livre Premier / Chapitre X). 21 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 52 ( Teil I, Kap. XII, § 2). 22 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 52 f. (Teil I / Kap. XII / § 3). 23 Dazu auch Syros, The Sovereignty of the Multitude, in: Moreno-Riaño (Hrsg.), The World of Marsilius of Padua, 2006, S. 227 (242 ff.). 24 Dazu auch Newman (Fn. 3), S. 6 f. 25 Rousseau, Du Contrat Social (Burgelin [Hrsg.]), 1992, S. 119 f. (Livre III / Chapitre XIII) (Hervorh. im Original).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Erweist sich insofern bereits die Trennungsthese als wenig überzeugend, so geht die These vom Ende der Souveränität26 erst recht fehl27. Volkssouveränität ohne Staatssouveränität macht nicht nur semantisch wenig Sinn28, sondern ist  – wie nicht zuletzt die ideengeschichtliche Rekonstruktion belegt – auch der Sache nach schwerlich vorstellbar29. Erst die Existenz eines souveränen Staates schafft und wahrt die Friedens-, Rechts- und Exekutionseinheit, die erforderlich ist, damit demos-kratische Entscheidungen in der gesellschaftlichen Normalität durchsetzbar bleiben30. Dass der Staat gegenüber konkurrierenden sozialen Mächten faktisch an Durchsetzungskraft eingebüßt hat, ist deshalb kein Argument für die Verzichtbarkeit, sondern für die notwendige Restitution der – wohlgemerkt nicht machstaatlich, sondern demokratisch legitimen  – Staatssouveränität31. Dass sich der souveräne Staat durch internationale Verträge in hohem Maße bindet und überdies Hoheitsbefugnisse auf transnationale Entitäten überträgt32, ist in erster Linie als Manifestation souveräner Staatlichkeit zu werten33 und trägt auch keineswegs zu deren Destabilisierung, sondern im Gegenteil zu ihrer Konsolidierung bei, wenn



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So dezidiert Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, in: VVDStRL 2004, S. 7 (21): „Der Begriff der Souveränität passt nicht in die neue Struktur des konvergierenden Staats- und Völkerrechts.“ In diesem Sinne auch dies., Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, in: ZaöRV 2004, S. 517 ff.; ferner Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität in Europa, in: JZ 2000, S.1121 (1125 f.), Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007, S.  420 f. und Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, in: Staat 2002, S.  331 (337 ff.). Zumindest in Ansehung des Verhältnisses zwischen EU und Mitgliedstaaten argumentiert auch Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Euro­päische Union?, in: Dreier (Hrsg.) Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 113 (130 f.) in diese Richtung; ebenso Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus Sicht der Mitgliedstaaten, in: EuR 1995, S. 315 (318), ders., Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in ZaöRV 1994, S. 1 (7) sowie – bereits zu einem frühen Zeitpunkt – Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 9/4 ff. Vgl. des Weiteren Czempiel, Die neue Souveränität – ein Anachronismus?, in: Hartwich / Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik V, 1993, S.  145 (147): „Poli­ tologisch gesehen, muß der Begriff der Souveränität generell als überholt gelten.“ Zum Ganzen auch Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, in: Staat 1997, S. 381 ff. 27 Insofern überzeugend Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S.  89 ff. und Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee /  Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 68; auch Schliesky (Fn. 16), S. 506 f. 28 Anderer Auffassung offenbar Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 147 (162), der Souveränität nur mehr als „Selbstbestimmung des einzelnen als Element der Menschenwürde“ zu begreifen bereit ist. 29 So auch Maus, Nationalstaatliche Grenzen und das Prinzip der Volkssouveränität, in: Gräser / Lammert / Schreyer (Hrsg.), Festschrift für Puhle, 2001, S. 11 (23). 30 Fleiner / Fleiner, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, S.  322 sowie Voigt, Zwischen Leviathan und Res Publica, in: ZfP 2007, S. 259 (265). 31 Vgl. dazu auch Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 176 ff. 32 Dazu Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, § 8. 33 Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 1. Kap. / Rn. 43.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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dadurch Probleme, die vom einzelnen Staat nicht bewältigt werden können, von ihm zumindest mit geregelt werden34.

2. Kritik der vollumfänglichen Gleichsetzung von Volks- und Staatsouveränität Die ideengeschichtliche Rekonstruktion am Werk des Marsilius zeigt nun freilich auch den wesentlichen, kategorialen Unterschied zwischen Staats- und Volkssouveränität. Die von ihm noch nicht Staatssouveränität genannte, aber damit bedeutungsidentische, umfassende, zwangsbewehrte Rechtsetzungsgewalt des staatlichen Gemeinwesens ist bei Marsilius ausschließlich Mittel zum Zweck35. Sie dient instrumentell der Friedenssicherung36. Es kann daher auch nicht entscheidend sein, dass eine bestimmte Strukturgestalt von Souveränität erhalten bleibt, solange der mit Souveränitätsstrukturen angestrebte Zweck auf andere Weise angemessen erfüllt wird. So ist in der Normalität der nach außen kooperativen37 und supranationalisierten38, nach innen dezentralisierten39 und ebenfalls kooperativen40 Staatswesen die traditionelle Vorstellung von Souveränität, nämlich das konkretische Bild einer obersten und ausschließlichen Gebietsordnungsgewalt, erheblich relativiert worden41. Dem mit der Souveränität bezweckten Ziel tut dies gleichwohl keinen Abbruch. Denn die Übertragung von Hoheitsgewalt auf supranationale Entitäten oder der Abschluss völkerrechtlicher Verträge tragen zur einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung bei, durch die sich der zwischenstaatliche

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Vgl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 1 III 4 d). Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 43 f. (Teil I / Kap. XI / § 1). 36 Dazu etwa Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 17 II. 37 Dazu etwa Zippelius / Würtenberger (Fn. 34), § 1 III 4 c); auch Grande, Vom Nationalstaat zum transnationalen Politikregime, in: ders. / Prätorius (Hrsg.), Politische Steuerung und neue Staatlichkeit, 2003, S. 283 (293). 38 Volkmann, Relativität des Staates, in: JuS 1996, S. 1058 (1063 f.). 39 Dazu etwa Oebbecke, Artikel ‚Dezentralisation, Dekonzentration‘, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 364 ff., Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 133 ff., Zippelius (Fn. 36), § 23 III., Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 13 Rn. 238 sowie – grundlegend – Kelsen, Staatslehre, 1925, S. 163 ff. 40 Dazu etwa Grimm, Verbände, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2.  Aufl. 1994, § 15; ders., Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  1, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 79 ff.; Mehde, Kooperatives Regierungshandeln, in: AöR 2002, S. 655 ff.; auch Schliesky (Fn.  16), S.  346 ff.; Volkmann, Setzt Demokratie den Staat voraus?, in: AöR 2002, S.  575 (594 f.); Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union, in: DÖV 2003, S. 1009 (1013 f.); ders., Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: KritV 1998, S. 404 (416 f.); Bull, Hierarchie als Verfassungsgebot?, in: Greven /  Münkler / Schmalz-Bruns (Hrsg.), Festschrift für Bermbach, 1998, S. 241 (254 f.). 41 Vgl. etwa Volkmann, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 20 (2. Teil), Rn. 64; Siekmann, Staat und Staatlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Burmeister (Hrsg.), Festschrift für Stern, 1997, S. 342 (343); Walter, Die Folgen der Glo­ balisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVBl. 2000, S. 1 (7).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Friede regelmäßig effektiver schützen lässt als durch unilaterale Maßnahmen42. Sofern innerstaatlich die Organe der souveränen Staatsgewalt Verträge mit einzelnen gesellschaftlichen Akteuren abschließen oder bestimmte Gebietskörperschaften und Selbstverwaltungsträger eine von der souveränen Staatsgewalt unterschiedene öffentliche Gewalt ausüben, kann dies eine verbreiterte Partizipation der Herrschaftsunterworfenen an der realen Herrschaftsausübung bewirken und birgt insofern ein akzeptanz-, mithin also friedensstiftendes Potenzial43. Da die Staatssouveränität nur eine instrumentelle Struktur darstellt, kann sie demnach ohne Substanzverlust relativiert werden, wenn die dadurch verursachte Funktionseinbuße anderweitig kompensiert wird. Demgegenüber stellt sich die Volkssouveränität nicht als lediglich instrumentelle Struktur dar. Auch dies lässt sich recht eindrücklich schon bei Marsilius nachlesen. So trägt er im Rahmen seiner ausführlichen Begründung von Volkssouveränität zwar auch eine instrumentelle Erwägung vor, wenn er sich herrschaftssoziologisch dahin einlässt, dass demokratisch beschlossene Gesetze eher befolgt und hingenommen würden als autokratisch erlassene44. Im Übrigen aber gibt Marsilius zu erkennen, dass er Volkssouveränität zunächst und zuvörderst als Ausfluss eines rechts- und staatsphilosophischen Postulats und in diesem Sinn immer auch als eine substanzielle Struktur begreift. Denn indem Marsilius die Volksgesetzgebung mit der Abwehr freiheitswidriger Tyrannei45, mit dem der Staatsbildung zugrundeliegenden Interesse der Vorteilsmehrung und Nachteilsabwehr46 sowie schließlich mit dem volenti-non-fit-inuria-Gedanken47 begründet, verankert er die Struktur der Volkssouveränität im Grundwert individueller Selbst- und Eigen­ständigkeit. Die Struktur der Volkssouveränität erweist sich bei Marsilius als unmittelbarer Ausfluss personaler Autonomie. Unbeschadet dessen, dass aus den bereits ausführlich dargelegten Gründen eine rein individuumszentrierte Rekonstruktion des Strukturbegriffs der Volkssouveränität unzureichend ist48, offenbaren die Darlegungen Marsilius‘ den kategorialen Unterschied, der zwischen Staats- und Volkssouveränität besteht. Dieser liegt ersichtlich darin, dass die Staatssouveränität die staatliche Ordnung zwar strukturell ermöglicht und erhält, nicht aber an sich schon rechtfertigt, während die Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur im rechts- und staatsphilosophischem Sinne legitimierend49 wirkt. Anders als die Staatssouveränität lässt sich die Volks­ 42 So auch das global-governance-Konzept vgl. Nuscheler, Globalisierung und Global Governance, in: Lutz (Hrsg.), Festschrift für Röhrich, 2000, S. 301 (309 ff.). 43 Dazu etwa Grimm (Fn. 40), § 15 Rn. 5; Hendler, Das Prinzip der Selbstverwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, 1999, § 106 Rn. 67 f. 44 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 56 (Teil I / Kap. XII / § 6); auch Syros (Fn. 23), 247 f. 45 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 56 (Teil I / Kap. XII / § 6). 46 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 56  f. (Teil I / Kap. XII / § 7). 47 Marsilius von Padua (Fn. 16), S. 57 (Teil I / Kap. XII / § 8). 48 Siehe oben Kapitel 5 I. 1. = S. 186. 49 Zu den verschiedenen Legitimationsbegriffen bereits oben Einleitung I. 3. = S. 55.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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souveränität daher auch nicht relativieren und abschwächen, ohne dass es zu Substanzverlusten, nämlich zu Einbußen an dem durch die Demokratie verkörperten materialen Werten kommt. Vor diesem Hintergrund könnte eine Gleichsetzung von Staats- und Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich überhaupt nur dann vorgenommen werden, wenn politisch-praktisch mit jeder Relativierung der instrumentellen Struktur der Staatssouveränität notwendig eine Abschwächung der immer auch substanziellen Struktur der Volkssouveränität, mit jeder Verkürzung von Volkssouveränität eine Beeinträchtigung der Staatssouveränität einherginge. Indes muss der nach außen kooperative und supranationalisierte, nach innen dezentralisierte und kooperative Staat keineswegs undemokratischer sein als ein solcher Staat, der in einem ganz konkreten Sinn nach außen unabhängig, nach innen allgewaltig ist und sich insofern nahtlos ins traditionale Souveränitätsdogma einfügt. Denn durch Kooperation und Supranationalisierung nach außen können die Möglichkeiten des demos, auf transnationale Tatbestände einzuwirken, erweitert werden. Ebenso kann durch die Kooperation des Staates mit einzelnen gebietsgesellschaftlichen Akteuren mitunter das demokratisch Gewollte eher erreicht werden als durch unilaterale Maßnahmen. Vor allem aber gewährleistet die Dezentralisierung, dass gewisse örtlich oder sachinhaltlich begrenzte Machtakte von den dadurch Betroffenen unmittelbarer beeinflusst werden können und insofern ein höheres Maß an Volkssouveränität erreicht wird50. Mithin korreliert die Relativierung der staatlichen Souveränitätsstruktur nicht zwingend mit einer Ab­ schwächung von Volkssouveränität als demokratischer Zurechnungsstruktur. Des Weiteren kommt man wirklichkeitswissenschaftlich nicht umhin einzuräumen, dass eine Reduzierung von Volkssouveränität der Konsolidierung souveräner Staatsmacht gerade zuträglich sein kann. Besonders krasse Beispiele bieten insofern viele aus dem Dekolonisationsprozess hervorgegangene Staaten, die ihre Integrität nur um den Preis mehr oder minder autokratischer Herrschaftsformen zu wahren wussten51. Aber auch der Theorie und Praxis des demokra­ tischen Verfassungsstaats ist es keineswegs fremd, dass ein Rückschnitt der Volkssouveränität zugunsten einer führerschaftlicheren Staatsorganisation postuliert wird, um die souveräne Staatlichkeit vor der Erschütterung durch bürgerkriegsähnliche Zustände zu bewahren. In diese Richtung weisen etwa Hermann Hellers Vorschläge zur Reform der Weimarer Reichsverfassung52. Aber auch die Ablösung der französischen Verfassung von 1946 durch die Verfassung der V. Republik bedeutete eine Einbuße an Volkssouveränität, trug jedoch mit dazu bei, die am 50 Dazu Fisahn, Abgeleitete Demokratie, KritV 1996, S. 267 (276 f.); Maus, Sinn und Bedeutung von Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft, in: KJ 1991, S. 137 (147 ff.). 51 Dazu Hobsbawn, Das Zeitalter der Extreme, 1998, S. 435 ff. 52 Insbesondere Heller, Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 411 (415); vgl. dazu auch Mommsen, Die verspielte Freiheit, 1989, S. 500 f.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Ende der IV. und zu Anfang der V. Republik erschütterte Staatsgewalt zu konsolidieren53. Damit können Staats- und Volkssouveränität, die sich bei theoretischer Betrachtung als kategorial verschieden erweisen, auch in politisch-praktischer Hinsicht auf keinen Fall vollumfänglich miteinander identifiziert werden54. Damit scheidet in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive eine Gleichsetzung von Staatsund Volkssouveränität aus.

II. Zur dialektischen Vermittlung von Staats- und Volkssouveränität Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität lässt sich nach allem nur dia­ lektisch näher bestimmen55. Denn zum einen ist Volkssouveränität ohne Staatssouveränität bis auf Weiteres nicht denkbar. Die prinzipielle Monopolisierung von (Rechts-)Macht erweist sich als unabdingbar, weil nur dadurch geordnete Friedens- und Rechtssysteme denkbar sind und eine Rückbindung von Macht an die Machtunterworfenen auf Dauer gewährleistet werden kann56. Die Multiplikation von Machtzentren57 im über- und innerstaatlichen Bereich ist der realen Volksherrschaft nicht zwingend, sondern nur dann zuträglich, wenn damit die reale Macht aller Machtunterworfenen erweitert wird. Äußerstenfalls kann sie auch in eine undemokratische Fremdbestimmung der Vielen durch einzelne, faktisch besonders durchsetzungsfähige Machtgruppen58 umschlagen59. In diesem Fall bedeutet der Souveränitätsverlust demokratiefeindliche Rekolonialisierung beziehungsweise Refeudalisierung. Zum anderen ist und bleibt die Staatssouveränität eine bloß instrumentelle Struktur60, während Volkssouveränität wirklichkeitswissenschaftlich immer auch

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Dazu Ferro, Histoire de France, 2003, S. 618 ff. Insoweit zutreffend Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: ZfP 1998, S. 267 (275). 55 Diese dialektische Herangehensweise lässt Schliesky (Fn. 7), S. 511 f. vermissen und deshalb ist es auch nicht überzeugend, wenn er Volks- und Staatssouveränität voneinander dissoziiert. 56 Insofern zutreffend Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, in: DVBl. 1999, S. 637 (639 f.). 57 Hierzu auch Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung, in: Staat 1997, S. 189 (202 ff.). 58 Dies gilt insbesondere für die Machtgruppen der Wirtschaft. Wie Stein, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3 II Rn. 49 zutreffend hervorhebt, besteht die größte und gefährlichste innergesellschaftliche Machtkonzentration in der Wirtschaft. 59 Dazu auch Herzog (Fn. 31), S. 181 ff. 60 In diesem Sinne etwa Birnbaum, Einige Probleme mit der Demokratie, in: Münkler /  Llanque / Stepina (Hrsg.), Festschrift für Fetscher, 2002, S.  151 (154 f.), aber auch Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 99.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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als rechts- und staatsphilosophisch postuliert und damit als substanzielle Struktur zu begreifen ist61. Aus dem im Gegensatz zur Volkssouveränität lediglich werkzeughaften Charakter der Staatssouveränität ergibt sich ein wertungsmäßiger Vorrang der Volks- vor der Staatssouveränität62. Dies hat zur Konsequenz, dass das Souveränitätsdogma demokratisch an sich legitimen Entscheidungen letztlich nur insoweit entgegenstehen kann, als diese das Prinzip der Volkssouveränität selbst in Frage stellen. Die in diesem Sinn zu fassende dialektische Verschränktheit von Staats- und Volkssouveränität bildet denn auch den Dreh- und Angelpunkt, wenn im Folgenden das Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats rekonstruiert wird. Diese Rekonstruktion führt zunächst zu der Erkenntnis, dass im demokratischen Verfassungsstaat die Staatssouveränität die Volkssouveränität zwar nur um deretwillen beschränken kann, sie sich aber dennoch ihren relativen Eigenstand gegenüber der Volkssouveränität bewahrt. Im Weiteren kommt dann das traditionsreiche Dilemma zwischen formellem und materiellem Souveränitätsbegriff in den Blick, wird die Bedeutung der Lehre vom pouvoir constituant des Volks für das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität ausgelotet und soll abschließend noch kurz auf die in der Literatur vorherrschende begriffliche Differenzierung zwischen innerer und äußerer Staatssouveränität eingegangen werden.

1. Das Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats Das Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaat ist sinnvollerweise von der Mittel-Zweck-Relation her zu entwickeln, in der die Staats- zur Volkssouveränität steht63. Seine Belastbarkeit lässt sich ausloten, indem man der gerade auch in Hinblick auf die europäische Demokratieproblematik relevanten Frage nachgeht, ob beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen der Abschluss völkerrechtlicher Verträge und insonderheit die völkerrechtsvertragliche Übertragung von Hoheitsbefugnissen die Staats- und / oder die Volkssouveränität strukturwidrig destruiert.



61 Anders offensichtlich Schliesky (Fn. 16), S. 149 ff, der die dienende Funktion der Legitimationsverfahren betont und aufgrund eines funktionalen Herrschaftsverständnisses Demokratie zumindest auch als Herrschaft für das Volk interpretiert. 62 Diese sachlich-nüchterne Begründung des Vorrangs der Volkssouveränität muss dabei strikt von der in der integrationspolitischen Debatte häufiger anzutreffenden, ressentimentgeladenen Einschätzung unterschieden werden, wonach „Streitereien über den Stellenwert der Souveränität“ im Vergleich zu der ungleich wichtigeren Debatte um die europäische Demokratie „zweitrangig“ seien (so etwa Siedentop, Demokratie in Europa, 2000, S. 48). 63 Eine solche Mittel-Zweck-Konstellation konstatiert auch Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 2002, S. 1072 (1074); ebenso Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union – zum Vertrag von Maastricht, in: AöR 1994, S. 207 (232).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

a) Die dialektische Verschränkung von Staats- und Volkssouveränität Ist die instrumentelle Staatssouveränität Mittel zum Zweck der substanziellen Volkssouveränität64, so vermag jene diese nur um ihretwillen zu beschränken. Andernfalls würde die Staatssouveränität aus der Mittel-Zweck-Relation ausscheren, in der sie zur Volkssouveränität steht. Ganz selbstverständlich ist diese These freilich nicht. Schließlich steht die Struktur der Staatssouveränität auch zu sonstigen substanziellen Leitvorstellungen in einem instrumentellen Verhältnis. Zu nennen ist hier zuvörderst das Friedens­ gebot65 und – in Zusammenhang damit – die bei Unfrieden gefährdeten Menschenrechte66. Insofern kann theoretisch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die instrumentelle Struktur der Staatssouveränität die substanzielle Struktur der Volkssouveränität auch um einer anderen substanziellen Vorstellung willen zu relativieren vermag. Voraussetzung hierfür wäre freilich, dass das seinerseits durch das Souveränitätsdogma abgeschirmte substanzielle Konzept im konkreten Fall Vorrang vor der Volkssouveränität genießt. Ein solcher Vorrang kommt freilich allenfalls in Hinblick auf das Friedensgebot und die hierdurch reflexhaft geschützten Menschenrechte in Betracht. Die Staatssouveränität kann der Volkssouveränität daher außer um ihrer selbst willen höchstens noch in Hinblick auf die andernfalls gefährdete Friedens- und Rechtssicherung Grenzen setzen. Dies braucht jedoch nicht weiter vertieft zu werden. Denn das reale Vorhandensein einer gesicherten Friedensund (Menschen-)Rechtsordnung ist immer auch Voraussetzung dafür, dass Volkssouveränität auf Dauer verfangen kann67. Soweit daher die Staatssouveränität der Volkssouveränität um des Friedensgebots und der dadurch gesicherten Menschenrechte willen Grenzen zieht, geschieht dies zugleich auch, um die Struktur der 64 In diese Richtung auch Oeter, Souveränität  – ein überholtes Konzept, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 259 (282): „Die ‚Souveränität‘ erweist sich (…) letztlich als rechtstechnisches Institut, mittels dessen die freie Selbstbestimmung des jewei­ ligen Volkes im Gehäuse seines Staatswesens abgesichert werden soll.“ 65 Vgl. Dagtoglou (Fn. 11), Sp. 3160, der die Souveränität zutreffend als durch ihren Zweck, Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, determiniert und limitiert ansieht. 66 So hat sich denn auch die Pflicht des modernen Staates, vermöge seines Gewaltmonopols die allgemeine Sicherheit rechtsförmig zu gewährleisten, im Zuge verfassungsstaatlicher Entwicklung zur spezifisch grundrechtsbezogenen Schutzpflicht des Staates verdichtet (Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 102 ff.; v. Komorowski, Rückübertragungsansprüche bei zweckverfehlten DDR-Enteignungen?, in: AöR 2001, S. 507 [526]). 67 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel [Hrsg.]), Bd. 6, 1964, S. 125 (156): „… die Macht im Staate, die dem Gesetze Effekt gibt, ist auch unwiderstehlich (irresistibel), und es existiert kein rechtlich bestehendes gemeines Wesen ohne eine solche Gewalt, die allen innern Widerstand niederschlägt, weil dieser einer Maxime gemäß geschehen würde, die, allgemein gemacht, alle bürgerliche Verfassung vernichten und den Zustand, worin allein Menschen im Besitz der Rechte überhaupt sein können, vertilgt würden.“

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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Volkssouveränität zu erhalten. Vor diesem Hintergrund kann folglich daran fest­ gehalten werden, dass die Staats- die Volkssouveränität letztlich nur um dieser selbst willen zu beschränken vermag. Im demokratischen Verfassungsstaat steht die Staatssouveränität (vordergründig) demokratischen Entscheidungen somit nur, aber immerhin dann entgegen, wenn sie zugleich die demokratiezentrale Volkssouveränität selbst unterminieren. Damit ist freilich nicht ausgesagt, dass die instrumentelle Struktur der Staats­ souveränität immer schon dann erschüttert wäre, wenn die substanzielle Struktur der Volkssouveränität verletzt ist. Es wurde bereits dargetan, dass und weshalb sich eine solche vollständige Identifizierung von Staats- und Volkssouveränität verbietet68. Das spezifisch Dialektische der Verschränkung von Staats- und Volkssouveränität liegt also darin, dass die Staatssouveränität im demokratischen Verfassungsstaat zwar nur dann verletzt sein kann, wenn zugleich auch die Volkssouveränität verletzt ist, dass aber nicht jede Verletzung der Volkssouveränität zugleich eine Verletzung der Staatssouveränität impliziert. Das Souveränitätsdogma behält damit auch im demokratischen Verfassungsstaat eine gegenüber der demokratiezentralen Volkssouveränität relativ eigenständige Bedeutung. Es fordert das Vorhandensein einer gebietsuniversal höchsten Rechtsetzungs- und Zwangsgewalt, die als demokratischer Verfassungsstaat Volkssouveränität überhaupt erst ermöglicht69. In Anknüpfung an ein durchaus traditionales Verständnis lässt sich Souveränität daher auch unter den Bedingungen des demokratischen Verfassungsstaats begrifflich als Eigenschaft solcher Entscheidungs- und Wirkungseinheiten fassen, die auf einem bestimmten Gebiet als oberster Normsetzer, insbesondere als pouvoir constituant, fungieren70 und das gebietsuniversale Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt innehalten71.

b) Die dialektische Verschränkung von Staats- und Volkssouveränität in Hinblick auf völkerrechtsvertragliche Bindungen Veranschaulichen lassen sich die Erwägungen zur dialektischen Verschränkung von Staats- und Volkssouveränität, wenn man sie für die Fälle konkretisiert, in denen ein souveräner demokratischer Verfassungsstaat einen herkömmlichen völker­

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Kapitel 7 I. 2. = S. 517. Dazu bereits oben Kapitel 7 I. 1. = S. 514. 70 Zu diesem Aspekt des Souveränitätsdogmas des demokratischen Verfassungsstaats vgl. Beaud, La notion d’État, in: Archives de Philosophie du Droit 1990, S. 119 (125 ff.). 71 Dazu auch die klare Aussage Epplers zum Staat der Zukunft (Auslaufmodell Staat?, 2005, S. 211): „Ohne sein Gewaltmonopol ist die technische Zivilisation des 21. Jahrhunderts nicht lebensfähig.“ Dass das Gewaltmonopol auch unter den Bedingungen von überstaatlicher Zusammenarbeit und Supranationalisierung weiterhin bei den (National-)Staaten verankert ist, betont etwa Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 432 und 442. Siehe insoweit auch Isensee, Salus publica – suprema lex?, 2006, S. 53.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

rechtlichen Vertrag abschließt oder aber völkerrechtsvertraglich in die Übertragung von Hoheitsbefugnissen einwilligt. Kann die Souveränität des demokratischen Verfassungsstaats überhaupt nur dann beeinträchtigt sein, wenn zugleich die Struktur der Volkssouveränität geschädigt ist, so darf sie keinesfalls in (neo-)absolutistischer Manier als Inbegriff einer völkerrechtlich letztlich ungebundenen Staatsgewalt, als Wesensmerkmal einer legibus soluta potestas begriffen werden72. Denn die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität wird normalerweise nicht schon dann verletzt, wenn ein demokratischer Staatsvolksverband auswärtige Angelegenheiten durch einen herkömmlichen völkerrechtlichen Vertrag regelt. Zwar werden völkerrechtsvertragliche Regelungen nicht exklusiv-perpetuell von dem betreffenden Staatsvolk legitimiert. Doch immerhin beruhen die völkerrechtsvertraglichen Regelungen auf einem Zustimmungsakt des Staatsvolks und können von ihm in Einvernehmen mit dem oder den Vertragspartnern auch revidiert werden. Folglich wird durch in auswärtigen Angelegenheiten abgeschlossene völkerrechtsverbindliche Verträge der Kern­ bereich der Volkssouveränität in aller Regel nicht berührt73. Und auch dass das Niveau demokratischer Legitimation bei solchen Regelungen speziell in Hinblick auf das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, aber auch hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit und des Umfangs der Störungsanfälligkeit teilweise erheblich von dem der Volkssouveränität innewohnenden Strukturziel abweicht, stellt eine für auswärtige Angelegenheiten regelmäßig durch die Besonderheiten des völkerrechtlichen Verkehrs gerechtfertigte Relativierung im Randbereich von Volkssouveränität dar74. Des Weiteren nimmt die Struktur der Volkssouveränität auch dann nicht notwendigerweise Schaden, wenn ein Staatsvolksverband durch völkerrechtlichen Vertrag Hoheitsbefugnisse auf eine zwischenstaatliche Einrichtung überträgt und somit seinen Rechtsraum für von dieser erlassene Hoheitsakte öffnet. Denn eine demokratische Rückbindung der überstaatlich generierten Hoheitsakte wird auch in diesen Fällen dadurch erreicht, dass die Übertragung der Hoheitsbefugnisse auf einem dem Staatsvolk zurechenbaren Zustimmungsakt beruht und sie bei Einvernehmen aller Vertragsparteien revidierbar ist75. Zu berücksichtigen ist freilich, dass den überstaatlichen Hoheitsakten aufgrund der Zustimmung des Staatsvolks zu den für die zwischenstaatliche Hoheitsmacht konstitutiven völkerrechtlichen Verträgen ein mitunter verschwindend geringes Maß an dezisionärer demokratischer 72 Dazu etwa Cremer, Europäische Hoheitsgewalt und deutsche Grundrechte, in: Staat 1995, S. 268 (274). 73 Dagtoglou (Fn. 11), Sp. 3163; Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (18): „Zwar stellt jede vertragliche Begründung von Pflichten naturgemäß eine Bindung der Ausübung von Souveränität dar; nicht aber mindert sie den Rechtsstatus der Souveränität.“ 74 Dazu etwa Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: VVDStRL 1978, S. 7 (26 ff.). 75 So auch Hillgruber (Fn. 63), S. 1077 ff.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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Legitimation zuwächst. Denn im Unterschied zu klassischen völkerrechtlichen Verträgen enthalten die in Rede stehenden Gründungs- und Änderungsverträge nicht lediglich fixe Rechtsregeln, sondern schaffen auch und vor allem Kompetenzen für den Erlass solcher Rechtsregeln76. Infolgedessen kann das Staatsvolk bei der Zustimmung zur Übertragung der Hoheitsbefugnisse eventuell nicht vollends abschätzen, wie die supranationalen Instanzen von diesen Regelungsbefugnissen Gebrauch machen werden. Sofern aber völkerrechtsvertraglich die Befugnis zum Erlass von Hoheitsakten eingeräumt wird, deren Inhalt vom Staatsvolk bei seiner Zustimmung zu dem betreffenden völkerrechtlichen Vertrag nicht hinreichend vor­ aussehbar war, entfernt sich das tatsächliche Verfahrensarrangement so weit vom Strukturziel exklusiver dezisionärer demokratischer Legitimation, dass sich diese Relativierung von Volkssouveränität womöglich auch unter Verweis auf die Erfordernisse supranationaler Normgebung nicht mehr rechtfertigen lässt. Äußerstenfalls kann sogar der Kernbereich der Volkssouveränität als verletzt anzusehen sein. Abwenden lässt sich dies freilich dadurch, dass der überstaatliche Hoheitsakt außer über die Zustimmung des Staatsvolks zu den Gründungs- beziehungsweise Änderungsverträgen noch auf andere Weise demokratisch legitimiert wird. Dies kann dergestalt erfolgen, dass der Hoheitsakt noch über andere Kanäle an den nationaldemokratischen Legitimationsquell angeschlossen wird. In Betracht kommt aber auch eine Rückkoppelung des Hoheitsakts an mehrere demoi, die zusammenwirkend staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu erzeugen in der Lage sind. Damit bleibt festzuhalten, dass der Abschluss völkerrechtlicher Verträge wie auch die Übertragung von Hoheitsbefugnissen durchaus in Einklang mit der Volkssouveränität stehen und sich insofern als Ausdruck und Ausfluss von Volkssouveränität darstellen kann. Für die Staatssouveränität, die als instrumentelle Struktur mit der substanziellen Struktur der Volkssouveränität konvergieren muss, folgt hieraus, dass sie der Subordination der Entscheidungs- und Wirkungseinheit ‚Staat‘ unter das auf staatlichen Willenseinigungen beruhende Völkerrecht und die darauf aufbauenden supranationalen Herrschaftsordnungen nicht per se entgegensteht77. Dass die instrumentelle Struktur der Staatssouveränität im Lichte der substanziellen Struktur der Volkssouveränität zu konkretisieren ist, lässt nun freilich nicht den Umkehrschluss zu, jede mit der Volkssouveränität ausnahmsweise unvereinbare Völkerrechtsbindung oder Supranationalisierung verstieße zugleich gegen die Staatssouveränität. Denn der Struktur der Staatssouveränität kommt neben der Struktur Volkssouveränität ein relativer Eigenstand zu78. Zwar kann sie schon aus Rücksicht auf die Volkssouveränität und deren soeben beschriebener Völkerrechts

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Siehe nur Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 6 Rn. 10. Vgl. auch Di Fabio (Fn. 27), S. 34 f.; Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 893 (912). 78 Es besteht mit anderen Worten lediglich eine Teilidentität zwischen Staats- und Volkssouveränität – siehe oben Kapitel 7 I. 2. = S. 517.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

freundlichkeit nicht in (neo-)absolutistischer Manier als letztlich schrankenlose, absolute Gebietsordnungsgewalt konkretisiert werden. Dennoch bleibt sie eigensinnig dem Kerngehalt des herkömmlichen Souveränitätsverständnisses verbunden, wonach mit diesem Terminus die Wesenseigenschaft derjenigen Entscheidungs- und Wirkungseinheit umschrieben wird, die auf einem bestimmten Gebiet als oberste Normsetzerin fungiert und das gebietsuniversale Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt innehält79. Dieses Verständnis entspricht auch durchaus der zumindest in Hinblick auf die substanzielle Struktur der Volkssouveränität zu fordernden Völkerrechtskompa­ tibilität von Staatssouveränität. Denn als zwischenstaatliches Koordinationsrecht80 setzt das Völkerrecht gerade die Existenz staatlicher Einheiten voraus, die als höchste Rechtsgewalt und vermöge ihres Gewaltmonopols81 für die gebietsuniversale Durchsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen zu sorgen vermögen82. Auch widerstreitet es nicht per se dem hier zugrundegelegten, durchaus traditionalen Verständnis von Staatssouveränität, dass es durch völkerrechtliche Vereinbarungen zu sogenannten Hoheitsübertragungen kommt, das heißt, dass die Rechtssetzungsmacht, ja sogar die physische Zwangsmacht des souveränen Staates zugunsten einer entsprechender Machtentfaltung überstaatlicher Entitäten zurückgenommen wird83. Auch derartige Hoheitsübertragungen sind zunächst einmal Ausdruck und Ausfluss der Staatssouveränität84, so wie sie sich grundsätzlich auch als Ausdruck und Ausfluss von Volkssouveränität qualifizieren lassen. Schließlich kann nur eine Gebietseinheit, der die gebietsuniversal höchste Rechtsmacht und das Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt zukommt, andere Entitäten in praktisch wirk­samer Weise dazu ermächtigen, auf ihrem Gebiet Rechtssetzungs- beziehungsweise gegebenenfalls auch physische Zwangsgewalt auszuüben85. Da die staatsgebietswirksame Hoheitstätigkeit der überstaatlichen Machteinheit insofern auf einer völkerrechtsvertraglichen Autorisation beruht und nach Maßgabe Völkervertragsrecht unter bestimmten Umständen auch wieder gelöst werden kann, stellt sie nicht schon an sich das gebietsuniversale Zuhöchstsein der staatlichen Rechtsmacht und das staatliche Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt in Frage

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Heller (Fn. 8), S. 358. Zu dieser Charakterisierung des Völkerrechts Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 8. 81 Dazu auch Siekmann (Fn.  41), S.  354 f.; v. Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrecht­ licher Figuren auf die Europäische Union, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S.  1033 (1039); Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokra­ tischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 66 ff. 82 Ähnlich Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 2002, S. 1072 (1076). 83 Dazu Steinberger, Artikel ‚Sovereignty‘, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public Inter­national Law, Bd. 4, 2000, S. 500 (517). 84 Vgl. dazu auch Beaud (Fn. 70), S. 131; ferner Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, S. 60 f. 85 Siehe dazu auch Di Fabio (Fn. 27), S. 91.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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und lässt sich insofern durchaus mit dem herkömmlichen Verständnis von Staatssouveränität vereinbaren86. Bei Zugrundelegung dieses Verständnisses von Staatssouveränität liegt denn auch auf der Hand, weshalb eine demokratiewidrige Völkerrechtsvereinbarung oder Hoheitsübertragung nicht automatisch auch die Staatssouveränität in Mit­ leidenschaft zieht, eine Verletzung der Volkssouveränität nicht notwendig eine Verletzung der Staatssouveränität zur Folge hat. Denn allein durch den demokratisch unzulänglich legitimierten Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages oder die demokratiewidrige Übertragung bestimmter Hoheitsbefugnisse auf überstaatliche Expertengremien hört ein Staat nicht auf, die gebietsuniversal höchste Rechtssetzungsgewalt und der Gebietsmonopolist legitimer physischer Zwangsgewalt zu sein. Erst der Verlust dieser höchsten und ausschließlichen Gebietsordnungsgewalt markiert das Ende der Souveränität auch eines demokratischen Verfassungsstaats. Die Überlegungen zu den Grenzen, die völkerrechtlichen Verträgen und der Supranationalisierung durch die Prinzipien der Staats- beziehungsweise Volkssouveränität gesetzt werden, bestätigen insofern die These von der dialektischen Verschränktheit dieser beiden Prinzipien und zugleich die hier vorgenommene Rekonstruktion des Souveränitätsdogmas des demokratischen Verfassungsstaats.

2. Formeller und materieller Souveränitätsbegriff: Ein altes Dilemma Das traditionale Verständnis von Staatssouveränität, auf das nach allem auch der demokratische Verfassungsstaat verwiesen bleibt, erweist sich in der Normalität moderner, nach außen und innen geöffneter Staatlichkeit87 als deutlich relativiert: Abgesehen davon, dass Organe der souveränen Staatsgewalt im völkerrechtlichen Verkehr, zunehmend aber auch im innerstaatlichen Bereich rechtsverbindliche Verträge abschließen88, agiert heutzutage neben der souveränen Staatsgewalt überstaatlich und innerstaatlich eine Reihe von Hoheitsträgern, die mit Wirkung für das Gebiet der souveränen Staatsmacht rechtsetzend tätig werden89 und gegebenenfalls auch physische Zwangsgewalt auszuüben vermögen90. Insofern drängt

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In diesem Sinne auch Hillgruber (Fn. 63), S. 1076. Dazu etwa Tomuschat (Fn. 74), S. 16 ff. 88 Zum verwaltungsrechtlichen Vertrag siehe nur Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, § 26. 89 Paradebeispiele für mit unmittelbarer innerstaatlicher Rechtswirkung rechtsetzende Hoheitsträger sind – gleichsam oberhalb der souveränen Staatsmacht – die supranationale EG (vgl. nur Epping, Völkerrechtssubjekte, in: Ipsen [Hrsg.], Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 6 Rn. 15 ff.) und  – sozusagen unterhalb  – die Länder eines Bundesstaats (vgl. Fleiner / Fleiner, [Fn. 30], S. 551). 90 Vgl. insbesondere die Verordnung (EG) Nr.  1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003 L 1, S. 1) und dort vor allem die in Art. 20 geregelten Nachprüfungsbefugnisse der Kommission.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

sich die Frage nachgerade auf, was unter diesen Bedingungen den auch für den demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Kern des traditionellen Souveränitätsbegriffs ausmacht. Inwieweit muss der Staat, um als souverän gelten zu können, die gebietsuniversal höchste Rechtsgewalt und Inhaber des Monopols physischer Zwangsgewalt sein, wenn sich doch  – schon der Volkssouveränität wegen – jede allzu konkretische Betrachtungsweise verbietet? Im Sinne des dialektischen Denkverfahrens lassen sich auch insoweit wieder zwei idealtypische Sichtweisen unterscheiden. Die Rede ist vom formellen und vom materiellen Souveränitätsverständnis, die sich beide auch schon in Bodins insoweit grundlegendem Werk nachweisen lassen. Der demokratische Verfassungsstaat kann sich nun allerdings nicht die Auffassung Bodins zu eigen machen, der  – als Herold des französischen Absolutismus  – letztlich für das materielle Souveränitätsverständnis optiert. Vielmehr gründet das Souveränitätsdogma des demo­kratischen Verfassungsstaats auf der dialektischen Vermittlung von formellem und materiellem Souveränitätsverständnis.

a) Formelles und materielles Souveränitätsverständnis Staatssouveränität kann, wie gesagt, nach der formellen oder aber nach der materiellen Seite hin konkretisiert werden91. Dabei wird in dem einen Fall mehr die Normativität, in dem anderen Fall mehr die Normalität von Staatssouverä­nität betont. So lässt sich bei rein formeller Betrachtung darauf abstellen, dass die Souveränität eines Staates so lange Bestand hat, wie die innerstaatliche Wirksamkeit nicht (allein) vom Staat gewillkürten Rechts beziehungsweise die legitime Ausübung nichtstaatlicher physischer Gewalt normativ auf eine staatliche Autorisation aktuell rückführbar ist92. Anders formuliert: Die zumindest formelle Ableitbarkeit aller gebietsgesellschaftlich wirksamen Rechts- und Zwangsakte von der Gebietsordnungsgewalt genügen für deren Souverän-Sein93. In ausschließlich materieller Perspektive mag man demgegenüber zu dem Schluss gelangen, dass Souveränität normaliter einen bestimmten Kernbestand an spezifischen Hoheitsbefugnissen voraussetzt, hinsichtlich deren Ausübung sich ein Staat Dritten gegenüber weder vertraglich noch auf andere Weise in relevanter Weise beschränken darf94. Souveränität begreift sich in dieser Perspektive als ein in ganz bestimmter Weise geschnürtes Bündel materieller Hoheitsbefugnisse95.

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Dazu auch Peters (Fn. 39), S. 127 ff.: der doppelte Souveränitätsbegriff. In diese Richtung Baldus (Fn. 26), S. 390 ff. 93 Vgl. Seiler (Fn. 81), S. 103. 94 In diese Richtung etwa Steiger (Fn. 26), S. 343 ff. 95 Dazu auch Kelsen (Fn.  39), S.  109 ff.: Souveränität als Rechtsinhaltsbegriff. Vgl. auch Siekmann (Fn. 41), S. 356 f.

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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Veranschaulichen lassen sich diese beiden idealtypischen Sichtweisen wiederum am Beispiel der von einem souveränen Staat eingegangen völkerrechtlichen Bindungen beziehungsweise der von ihm vorgenommenen Übertragungen von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen. Bei Zugrundelegung des formellen Ansatzes erweisen sich völkerrechtliche Verträge und Hoheitsübertragungen solange als mit der Staatssouveränität kompatibel, wie sich die zwischenstaatlichen Verpflichtungen beziehungsweise die Ermächtigungen zu staatsgebietswirksamer Hoheitstätigkeit nicht von ihrer völkerrechtlichen Grundlage ablösen und daher nach Maßgabe des Völkerrechts zumindest im Konsens mit den Vertragspartnern auch revidieren lassen96. Denn unter diesen Voraussetzungen bleiben die aus den völkerrechtsvertraglichen Verbindlichkeiten beziehungsweise der überstaatlichen Hoheitsausübung innerstaatlich erwachsenden Rechts- und Zwangsakte formaliter auf einen Akt genuin staatlicher Autorisation aktuell rückführbar. Lediglich dann, wenn die völkerrechtlichen Verpflichtungen des souveränen Staates gegenüber seinem Vertragspartner formell in staatsrechtliche Beziehungen zwischen nicht souveränem Gliedstaat und souveränem Bundesstaat umgewandelt werden, der vordem souveräne Staat durch formellen Akt der supranationalen Entität konstitutionell einverleibt wird, findet nach dieser Betrachtungsweise die Staatssouveränität ein Ende. Denn mit der Ablösung des nicht (allein) vom Staat gesetzten Rechts beziehungsweise des nicht staatlichen physischen Zwangs von ihrer völkerrechtsvertraglichen Basis ist deren formelle Ableitbarkeit von der Gebietsordnungsgewalt Staat nicht länger gewahrt97. In der Perspektive des materiellen Ansatzes hingegen tun völkerrechtliche Verpflichtungen, vor allem aber auch Hoheitsübertragungen auf supranationale Organisationen der Staatssouveränität solange keinen Abbruch, wie der Staat hierdurch nicht in der materiellen Ausübung bestimmter zentraler Hoheitsbefugnisse beschränkt wird. Wird freilich der Kernbereich staatshoheitlicher Betätigungsfreiheit durch völkerrechtliche Verpflichtungen oder Hoheitsübertragungen in relevanter Weise verkürzt, so endet nach dem materiellen Ansatz die souveräne Staatlichkeit selbst dann, wenn das die Souveränität verkörpernde Bündel von Hoheitsrechten gleichsam zufällig aufgeschnürt wurde und der Souveränitätsverlust als solcher gar nicht beabsichtigt, vielleicht sogar höchst unerwünscht war. In Reinform lässt sich freilich keiner dieser beiden Ansätze ernsthaft aufrechterhalten98. Bei einem bloß formellen Verständnis der Staatssouveränität wäre in extremis davon auszugehen, dass ein Staat, der durch völkerrechtlichen Vertrag

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Vgl. in diesem Zusammenhang auch Zuleeg, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV /  EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 1 EGV Rn. 15, der berechtigte Kritik an der These des Maastricht-Urteils übt, wonach sich aus dem Souveränitätsprinzip ein Recht der Bundesrepublik Deutschland ableiten soll, die Europäische Union auch gegen den Willen der anderen Mitgliedstaaten und trotz fortbestehender Vertragsgrundlage zu verlassen. 97 Hierzu etwa Gading, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates – das Ende staatlicher Souveränität?, 1996, S. 187 f. 98 Peters (Fn. 39), S. 128. 

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Teil III: Volkssouveränität und EU

sämtliche Hoheitsrechte auf eine überstaatliche Instanz übertragen hat, dennoch souverän bleibt, weil die innerstaatliche Wirksamkeit der überstaatlichen Hoheitsakte normativ als vom Staat aktuell autorisiert angesehen werden kann99. Als nudum ius aber muss die Staatssouveränität den ihr im demokratischen Verfassungsstaat eignenden instrumentellen Zweck, nämlich die Realisierung von Volkssouveränität zu gewährleisten, verfehlen. Denn ein in dieser Weise entmachteter Staat vermag nicht mehr zur Sicherung von Frieden und Recht und damit auch nicht länger zur Normalität demokratischer Machtentfaltung beizutragen. Ihrem Sinn und Zweck nach kann die Staatssouveränität daher nicht in dem rein formellen Paradigma ausgedeutet, nicht nur als zumindest formelle Ableitbarkeit aller staatsgebietlich wirksamen Rechts- und Zwangsakte von der Gebietsordnungs­ gewalt interpretiert werden. Allerdings darf die Staatssouveränität auch nicht mit einer bestimmten Fülle von Hoheitsgewalt, mit einem in spezifischer Weise geschnürten Bündel materieller Hoheitsbefugnisse gleichgesetzt werden100. Denn die Staatssouveränität ist und bleibt ein Werkzeug. Da sich aber nicht allgemein-abstrakt, sondern immer nur situativ sagen lässt, inwiefern die Relativierung von Staatssouveränität friedens­ stiftend beziehungsweise destabilisierend wirkt, ist es nicht möglich, abschließend einen bestimmten Kreis von Hoheitsrechten zu bestimmen, der für die demokratiezentrale Volkssouveränität konstitutiv ist. Vielmehr muss mit Blick auf die jeweilige historisch gewordene und insoweit singuläre Staatsrealität überlegt werden, welche Änderungen in Machtstruktur und -verteilung zur Erosion der Entscheidungs- und Wirkungseinheit ‚demokratischer Verfassungsstaat‘ führen, um daraus gleichsam ex negativo ableiten zu können, was die – demokratisch ge­wendete – Staatssouveränität im Kern ausmacht. Anders als man vermuten mag, ist das hier beschriebene Dilemma, nämlich die Unzulänglichkeit sowohl des formellen wie auch des materiellen Souveränitätsverständnisses, nicht erst seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts virulent geworden. Vielmehr lässt es sich bis in die ideengeschichtlichen Anfänge des Souveränitätsdogmas zurückverfolgen. Bemerkenswerterweise haben schon bei Jean Bodin formelles und materielles Souveränitätsverständnis ihren Niederschlag gefunden. So stellt er einerseits fest, dass die Souveränität dem Abschluss von für den Souverän verbindlichen Verträgen nicht entgegensteht101  – gleichviel, ob es sich um Verträge mit Untertanen oder mit Fremden handelt102. An späterer Stelle seiner ‚Six livres‘ hebt er sogar in einem ausführlichen Kapitel die be­



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Vgl. Seiler (Fn. 81), S. 103. Auf die damit verbundenen Schwierigkeiten weist zutreffend Baldus (Fn. 26), S. 389 hin. 101 Auf Bodins Ausführungen zu den völkerrechtlichen Verträgen weist im Rahmen seiner souveränitätstheoretischen Überlegungen auch Beaud (Fn. 70), S. 131 hin. Siehe ferner Steiger (Fn. 26), S. 335 f. sowie Kokott (Fn. 26), S. 18. Allgemein zu Bodins Beitrag zum Völkerrecht knapp Nussbaum, A Concise History of the Law of Nations, 2. Aufl. 1954, S. 77 f. 102 Bodin (Fn. 20), S. 152 (Livre Premier / Chapitre VIII). 100

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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sondere Bedeutung speziell der völkerrechtlichen Vertragstreue hervor103, ohne freilich nochmals deren systematisch-dogmatischen Bezug zur Souveränität näher zu bestimmen. Des Weiteren legt Bodin dar, dass eine Einräumung von Herrschaftsbefugnissen der Souveränität selbst dann nicht widerstreitet104, wenn die übertragene Macht „est souveraine, & sans exception d’un seule article de regale “105. Voraussetzung ist lediglich, dass in formeller Hinsicht klargestellt ist, dass es sich um eine bloße Ermächtigung beziehungsweise Bevollmächtigung, also um eine Autorisation durch den Souverän handelt106. Andererseits konkretisiert Bodin die Souveränität aber auch dadurch, dass er die hierfür konstitutive oberste Rechtsetzungsgewalt in eine Reihe ganz konkreter Hoheitsbefugnisse auffächert. Diese reichen vom Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, über das Begnadigungsrecht bis hin zur Befugnis, den Münzfuß zu bestimmen oder den Untertaneneid einzufordern107. Staatspolitisch gibt er den Rat, „de iamais n’ottroyer marque de souveraineté au subiect, & moins encore à l’estranger“108. Die Souveränität nimmt in dieser Perspektive ersichtlich als In­ begriff definiter Machtbefugnisse Gestalt an. Die ‚Six livres‘ lassen nun freilich auch Rückschlüsse darauf zu, in welche Richtung Bodin das Dilemma zwischen formellem und materiellem Souveränitätsverständnis im Zweifel aufgelöst sehen will. Ungeachtet des hohen Werts, den er als Angehöriger der Gruppe der ‚politiques‘109 der Vertragstreue beimisst, geht Bodin im zentralen110 8. Kapitel des Ersten Buchs davon aus, dass der souveräne Fürst vertragliche Bindungen anfechten darf, wenn diese seine souveränen Hoheitsrechte verkürzen111. Ferner kann der Souverän dem mit Hoheitsbefugnissen Beliehenen die Macht nehmen oder sie aussetzen, „tant & si longuement qu’il luy plaira“112.

103

Bodin (Fn. 20), S. 718 ff. (Livre Cinquième / Chapitre VI); dazu auch Behre, Volkssouveränität und Demokratie, 2004, S. 28 sowie Quaritsch, Souveränität, 1986, S. 51 f. 104 Bodin (Fn. 20), S. 123 ff. (Livre Premier / Chapitre VIII). 105 Bodin (Fn. 20), S. 127 (Livre Premier / Chapitre VIII). 106 Siehe Bodin (Fn.  20), S.  127 f. (Livre Premier / Chapitre VIII). Auf diesen Zusammenhang macht zutreffend auch Roellecke, Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: Murswiek / Storost / Wolff (Hrsg.), Festschrift für Quaritsch, 2000, S. 15 (17) aufmerksam. 107 Bodin (Fn. 20), S. 223 f. (Livre Premier / Chapitre X). 108 Bodin (Fn. 20), S. 235 (Livre Premier / Chapitre X). 109 Dazu Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: Fenske u. a. (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, 1992, S. 296; auch Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (50 ff.) und Schilling (Fn. 14), S. 341. 110 Auch Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2002, S.  376 spricht insofern vom entscheidenden Kapitel. Kratochwil, Souveränität und Moderne, in: Jachtenfuchs / Knodt (Hrsg.), Regieren in internationalen Institutionen, 2002, S. 29 (30) spricht vom „locus classicus für den Durchbruch des Vokabulars der Souveränität“. 111 Bodin (Fn. 20), S. 133 f. (Livre Premier / Chapitre VIII). 112 Bodin (Fn. 20), S. 123 (Livre Premier / Chapitre VIII).

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Dass Bodin damit letztlich für das materielle Souveränitätsverständnis, für die Identifizierung von Souveränität mit einer Fülle von Hoheitsgewalt optiert, kann angesichts seiner ganz auf die Rechtfertigung der monarchie royale113 hin aus­ gerichteten Souveränitätsdoktrin nicht verwundern. Für den demokratischen Verfassungsstaat indes bietet der unvermittelte Rückgriff auf das materielle Souveränitätsdogma, wie eben begründet, keinen gangbaren Lösungsweg.

b) Dialektische Vermittlung von formellem und materiellem Souveränitätsverständnis Jedenfalls im demokratischen Verfassungsstaat bedarf es nach allem der dialektischen Vermittlung zwischen formellem und materiellem Souveränitätsverständnis114. Den Ausgangspunkt bildet dabei das formelle Souveränitätsverständnis. Es verleiht dem Souveränitätsdogma die Flexibilität, die nicht nur dem rein instrumentellen Charakter der Staatssouveränität entspricht, sondern auch ihre An­ passung an sich wandelnde Verhältnisse im inner- und überstaatlichen Bereich ermöglicht. Dass auch Bodin in seinem Souveränitätskapitel zunächst auf diejenigen Zusammenhänge zu sprechen kommt, die das formelle Souveränitätsverständnis ausmachen, erweist sich dabei als durchaus aufschlussreich: Um sein Souveränitätsdogma überhaupt als eine nicht nur in der Normativität, sondern zugleich auch in der zeitgenössischen Normalität verankerte Rechtsidee behaupten zu können, musste Bodin zuallererst die Frage beantworten, wie sich dieses Dogma mit der im frühneuzeitlichen Prozess der Nationalstaatswerdung neu an Bedeutung gewinnenden Bündnis- und Vertragspolitik verträgt und vor allem wie es sich mit der – trotz machtvoll aufstrebenden Königtums – noch längst nicht überwundenen Dezentrierung hoheitlicher Befugnisse in Einklang bringen lässt. Die Antwort hierauf fand er in dem, was hier als formelles Souveränitätsverständnis angesprochen wird115. Ganz ähnlich verhält es sich heutzutage, da die Staaten in einem immer enger werdenden Netz bi- und multilateraler Vertragsbeziehungen stehen und die weitgehende Zentrierung hoheitlicher Gewalt beim souveränen Nationalstaat, die zu Zeiten Bodins noch bevorstand, bereits wieder rückläufig ist116. Auch diesen realen Entwicklungen kann jedenfalls im Ausgangspunkt eher Rechnung getragen werden, wenn man Souveränität nicht konkretisch als Inbegriff bestimmter substanzieller Hoheitsrechte begreift, sondern hierfür die zumindest formelle Ab­ 113

Vgl. hierzu auch Goyard-Fabre (Fn. 14), S. 2440. In diese Richtung auch Barbato, Souveränität im neuen Europa, S. 38 ff. 115 Siehe oben Kapitel 7 II. 2. a) = S. 528. 116 Dazu Petersson / Schröder, Souveränität und politische Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 103 (129 ff.). 114

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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leitbarkeit aller gebietsgesellschaftlich wirksamen Rechts- und Zwangsakte von einer Gebietsordnungsgewalt ausreichen lässt. Wenn im Ausgangspunkt an das formelle Souveränitätsverständnis angeknüpft wird, so liegt dies indes nicht nur daran, dass die Souveränität – in Hinblick auf ihren instrumentellen Charakter und den von ihr zu verarbeitenden historischen Wandel – flexibel gehalten werden soll. Dies folgt zugleich, ja zuvörderst aus der substanziellen Struktur, dem die Staatssouveränität zu dienen bestimmt ist. Denn die Volkssouveränität setzt voraus, dass das Staatsvolk grundsätzlich frei darin ist, wie es die ihm eingeräumten Hoheitsbefugnissen ausübt. Insbesondere muss es prinzipiell dem Staatsvolk überlassen sein, wie es als Träger des pouvoir constituant auf seinem Hoheitsgebiet die Ausübung öffentlicher Gewalt organisiert, damit im Ergebnis eine seinem Willen gemäße Volksherrschaft ins Werk gesetzt wird117. Andernfalls nämlich ist das Volk nicht Trägerin der Staatssouveränität und dient diese nicht der Volkssouveränität. Infolgedessen setzt die substanzielle Struktur der Volkssouveränität ein Souveränitätsverständnis voraus, dass es dem Staatsvolk prinzipiell erlaubt, als Träger der pouvoirs constitués, aber auch des pouvoir constituant die staatliche Rechtsetzungs- und physische Zwangsgewalt durch vertragliche Bindungen zu beschränken oder im Hinblick auf die innerstaatliche Machtausübung Dritter einzuschränken118. Insofern entspricht der Volkssouveränität das formelle Souveränitätsverständnis. Dass nicht (allein) vom Staat gesetzte Rechts- und Zwangsakte die Souveränität einer Gebietsordnungsgewalt unbeeinträchtigt lassen, sofern ihre innerstaatlichen Wirkungen normativ auf eine staatliche Autorisation aktuell rückführbar sind, vermag freilich nur dann und insoweit zu überzeugen, als der mit dem Prinzip der Staatssouveränität verfolgte Zweck auch tatsächlich weiterhin erreicht wird. Wo eine rein formell verstandene Souveränität dazu führen würde, dass auf dem Staatsgebiet die effektive Rechtsdurchsetzung nicht länger gewährleistet ist und infolgedessen auch die vom Staatsvolk etablierte Volksherrschaft beeinträchtigt wird, läuft das formelle Souveränitätsverständnis instrumentell leer und muss daher durch das materielle wenn nicht substituiert, so doch ergänzt werden119. Die Prinzipien der Staats- und Volkssouveränität setzen daher in materieller Hinsicht immer auch eine hinreichend effektive Staatsgewalt voraus120. 117 Völkerrechtlich wird dieser Aspekt der Volkssouveränität anerkanntermaßen durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker verbürgt, vgl. Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2007, § 36 Rn.  2 ff. Kritisch zur Verknüpfung von (völkerrechtlicher) Souveränität und effektiver Herrschaftsgewalt Kempen, Einige Bemerkungen zum völkerrechtlichen Begriff der Souveränität, in: Dörr u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schiedermair, 2001, S. 783 (787 ff.). 118 Vgl. auch Di Fabio (Fn. 27), S. 92. 119 In diese Richtung auch Peters (Fn. 39), S. 128 sowie Seiler (81), S. 136. 120 Katz, Staatsrecht, 16. Aufl. 2005, Rn. 26, Schweitzer (Fn. 80), Rn. 579 und Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2004, Rn. 83; vgl. auch Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 99.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Dabei dürfen freilich keine überzogenen Anforderungen an die Effektivität der höchsten Gebietsordnungsgewalt121 gestellt werden. Dies ergibt sich im demokratischen Verfassungsstaat schon aus dem spezifischen Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität. Denn, wie eben dargelegt, fällt es insoweit dem Staatsvolk zu, die höchste Gebietsordnungsgewalt auszuüben und mithin auch zu organisieren. Allzu forsche und weitreichende Ableitungen aus dem Effektivitätsvorbehalt indes könnten diese unmittelbar aus der Struktur der Volkssouveränität erwachsende Kompetenzzuweisung konterkarieren. Die Effektivitätsvorgabe122 darf im demokratischen Verfassungsstaat daher nicht zum Vorwand genommen werden, den demokratisch legitimen Träger der Staatssouveränität und insonderheit des pouvoir constituant ohne Not in seinen Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Einem formellen Verständnis der Staatssouveränität steht der Effektivitätsvor­ behalt daher nur insoweit entgegen, als ansonsten evidentermaßen die staatliche Friedens- und Rechtsordnung zerbrechen würde123. Somit lässt sich festhalten, dass der Souveränitätsbegriff des demokratischen Verfassungsstaats ein gemischt formell-materieller ist124. Dabei gilt um der Volkssouveränität willen der Grundsatz, dass der Begriff der Staatssouveränität so formell wie möglich und so materiell wie nötig zu konkretisieren ist125.

3. Staatssouveränität, Volkssouveränität und pouvoir constituant des Volks Die Erwägungen zum gemischt formell-materiellen Souveränitätsbegriff lassen nun auch nüchterne Rückschlüsse darauf zu, wann ein Staat seine Souveränität einbüßt. Aus der Verschränkung der Staats- mit der Volkssouveränität ergibt sich in diesem Zusammenhang, dass der Souveränitätsverlust dann keine strukturwidrige Durchbrechung von Staatssouveränität beinhaltet, sondern vielmehr als deren Mani­festation zu begreifen ist, wenn er auf einem Souveränitätsverzicht des über seinen politischen Status als souveränes Staatsverbandsvolk disponierenden demos beruht. Denn dass das Volk als Träger des pouvoir constituant über seinen politischen Status verfügen kann, stellt eine weitere, bislang noch unbehandelte 121 Zur Bedeutung des Effektivitätsvorbehalts in völkerrechtsgeschichtlicher Rückschau Oeter (Fn. 64), S. 271. 122 Dazu auch Risse / Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, in: APuZ 2007, 20–21, S. 3 (4). 123 Zum Konnex zwischen völkerrechtlichem Vorbehalt einer effektiven Staatsgewalt und der Friedensfunktion des Völkerrechts Doehring (Fn. 120), S. 83. 124 Dafür auch Peters (Fn. 39), S. 129: „Wegen der misslichen Implikationen beider Extrempositionen müssen die legalistische und die realistische Sichtweise kombiniert werden.“ 125 Dieser Grundsatz weiß sich der Forderung Häberles verpflichtet, wonach die Normativität und Normalität von Souveränität in korrelativer Zuordnung zu betrachten ist (Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 374).

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Bedeutungsschicht von Volkssouveränität dar. In dieser Perspektive wird sich dann auch zeigen, dass der pouvoir constituant des Volks das missing link zwischen Staats- und Volkssouveränität bildet126.

a) Souveränitätsverlust und Souveränitätsverzicht Vor dem Hintergrund des gemischt formell-materiellen Souveränitätsbegriffs ist davon auszugehen, dass der Souveränitätsverlust in zwei grundsätzlichen Konstellationen eintritt. Er ist zum einen dann gegeben, wenn sich bestimmte gebiets­ gesellschaftlich wirksame Rechts- und Zwangsakte nicht einmal mehr formell von der bislang souveränen Gebietsordnungsgewalt ableiten, wenn also die innerstaatliche Wirksamkeit bestimmter nicht staatlicher Rechts- und Zwangsakte, statt normativ auf eine staatliche Autorisation aktuell rückführbar zu sein, nunmehr formell in der Autorität einer staatsfremden Entität gründet; zum anderen tritt der Souveränitätsverlust ein, sobald die Staatsgewalt und infolgedessen die staatliche Rechtsund Friedensordnung ihre Effektivität materiell eingebüßt haben127. Veranschaulichen lässt sich der so typisierbare Souveränitätsverlust anhand des nun schon mehrfach bemühten Falls der völkerrechtlichen Bindungen beziehungsweise der Übertragung staatlicher Hoheitsgewalt auf supranationale Institutionen. Danach ist Souveränitätsverlust zum einen beispielsweise dann gegeben, wenn die Staatssouveränität im Rahmen etwa eines Fusionsvertrags oder durch Übertragung des pouvoir constituant formell aufgegeben wurde128. Zum anderen kann sich der Tatbestand des Souveränitätsverlusts theoretisch129 etwa auch dergestalt erfüllen, dass im Gefolge völkerrechtlicher Bindungen beziehungsweise supranationaler Integration die materielle Basis von Staatssouveränität entfällt, weil wegen widerstreitender Normbefehle, konkurrierender Machtträger und schwindender Akzeptanz der Herrschaftsunterworfenen eine effektive Rechtsdurchsetzung durch den Staat dauerhaft unmöglich wird130. Festzuhalten ist freilich, dass sich im demokratischen Verfassungsstaat der Staatssouveränitätsverlust nicht notwendig als strukturwidrige Verletzung von Staatssouveränität darstellt. Dies folgt aus der bereits besprochenen dialektischen Verschränktheit von Staatssouveränität und Volkssouveränität. Aus dieser ergibt 126

Hierzu auch Kempen (Fn. 117) 794 f. In diese Richtung auch Hobe (Fn. 71), S. 443 ff. 128 Dazu etwa Steinberger (Fn. 83), S. 512; auch Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 244 ff. 129 Theoretisch deshalb, weil die dem Verlusttatbestand insoweit entsprechende Fallgestaltung historisch präzedenzlos ist und sich auf absehbare Zeit auch nicht verwirklichen dürfte. 130 Anders als bei den jüngsten Beispielen des failed state (vgl. Epping [Fn. 89] § 5 Rn. 11, v. Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit, 2007, S. 3 f. sowie Risse / Lehmkuhl [Fn. 122], S. 4) würde der Zerfall des Staates also weniger durch die Verhältnisse im Innern des staatlichen Gemeinwesens als vielmehr durch seine Einbindung in den überstaatlichen Raum herbeigeführt. 127

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Teil III: Volkssouveränität und EU

sich nämlich, dass im demokratischen Verfassungsstaat die Staatssouveränität überhaupt nur dann verletzt sein kann, wenn zugleich die Volkssouveränität verletzt ist131. Daher steht es der instrumentellen Struktur der Staatssouveränität auch nicht schon per se entgegen, wenn im Zuge des demokratischen Prozesses die staatliche Souveränität formell zugunsten anderer souveräner Entitäten aufge­ geben wird, es in diesem Sinn zu einem Souveränitätsverzicht kommt. Denn zur Volkssouveränität gehört es nicht nur, dass sich das souveräne Volk hinsichtlich der ihm zustehenden Ausübung der obersten Gebietsordnungsgewalt binden beziehungsweise zurücknehmen kann. Hinzu tritt, dass es über die oberste Gebietsordnungsgewalt insgesamt und mithin auch über den eigenen politischen Status als souveränes Volk frei disponieren kann.

b) Dispositionsbefugnis des Volks über seinen politischen Status Die für das Verständnis von Staats- und Volkssouveränität insofern elementare Dispositionsbefugnis des Volks über seinen politischen Status verdient es, näher erörtert zu werden.

aa) Verfügungsgewalt des demos über sich selbst – allgemeine Erwägungen Dass der demokratische Souverän über sich selbst verfügen kann, ergibt sich zunächst aus seinem Souverän-sein. Denn wenn das Volk souverän ist, dann kann es an sich durch nichts und niemanden gehindert sein, die ihm zustehende Gebietsordnungsgewalt zu übertragen. Mit Bodin lässt sich insofern ein Vergleich zwischen demos-kratischer Autonomie und Privatautonomie ziehen: So wie der Eigen­tümer sein Eigentum ganz einfach und allein aus Freigiebigkeit verschenken kann, ist es auch dem Inhaber der Souveränität grundsätzlich unbenommen, diese einem anderen zu übertragen132. Des Weiteren fügt es sich sowohl in die verbandsorientierten wie in die individuumszentrierten Demokratieparadigmen ein, dass Volkssouveränität immer auch die demokratische Entscheidungsgewalt des souveränen Volks über seine politische Existenz mit umfasst. Denn stimmt ein souveränes Volk dem Beitritt der eigenen Herrschaftsorganisation zu einem anderen Staat zu, so kann dies prin­ zipiell als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung133 gewertet werden, auch wenn sich dadurch der Status des Volks fundamental verändert. Erst recht passt ein solcher Beitritt zum individuumszentrierten Demokratieparadigma. Danach kommt 131

Siehe oben Kapitel 7 II. 1. b) = S. 523. Bodin (Fn.  20), S.  128 (Livre Premier / Chapitre VIII). Dazu vertiefend Kratochwil (Fn. 110), S. 34 ff. 133 Zu diesem Demokratieparadigma siehe oben Kapitel 5 I. 2. a) = S. 197. 132

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dem demokratischen Kollektiv ohnehin kein Eigenwert zu, sondern ist Mittel zum Zweck individueller Selbstbestimmung134. Dass die souveräne Gebietsordnungsgewalt nunmehr einer anderen Entität zustehen soll, erweist sich daher als gänzlich unproblematisch, sofern die Glieder der Gebietsgesellschaft  – in Hinblick auf eine bessere Erfüllung ihrer individuellen Interessen – der Übertragung zugestimmt haben.

bb) Der pouvoir constituant des Volks Die These von der freien Dispositionsbefugnis des demos über den eigenen politischen Status führt letztlich zur Normativität und Normalität des pouvoir constituant des Volks135. Diese ist der Volkssouveränität wesensmäßig eingeschrieben. Der demos-kratische pouvoir constituant bezieht sich auf eine zweite Bedeutungsschicht von Volkssouveränität136, die sowohl in historischer wie auch in theore­ tischer Rekonstruktionsperspektive gleichsam unterhalb ihrer hauptsäch­lichen Bedeutungsschicht als Zurechnungsstruktur liegt. Kern der wirklichkeitsmächtigen Vorstellung vom pouvoir constituant des Volks ist, dass diesem die volle Verfügungsgewalt über Ordnung und Struktur des gebietsgesellschaftlichen Zusammenlebens und -wirkens zusteht137. Die gebietsuniversale Wirkungs- und Entscheidungseinheit selbst hat mit anderen Worten „aucun droit qui n’apartienne à la volonté commune“138. In Hinblick darauf muss es dem Volk dann aber auch möglich sein, als legitimen Träger des pouvoir constituant den Beitritt zu einem anderen als souveräner Staat organisiertem Volk zu beschließen139. Indessen lässt sich der modernen ‚Gründungsakte‘ des pouvoir constituant des Volkes140, dem V. Kapitel aus Emmanuel Sieyès141 berühmter Schrift ‚Was ist der Dritte Stand‘, naheliegenderweise noch nichts darüber entnehmen, dass das Volk auch in dem Sinne über den eigenen Status verfügen können soll, dass es ihn zur Disposition stellt. Denn am Vorabend der französischen Revolution ging es dem 134

Zu diesem Demokratieparadigma siehe oben Kapitel 5 I. 2. b) = S. 198. Vgl. dazu auch schon Marx, Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: ders., Die Frühschriften (Landshut [Hrsg.]), 1971, S. 20 (67 f.). 136 Siehe dazu bereits oben Kapitel 6 = S. 249. 137 Vgl. insofern Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 7. 138 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État (Champion [Hrsg.]), 1888, S. 66 (Chapitre V). 139 Siehe in diesem Zusammenhang auch Henke, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes in Lehre und Wirklichkeit, in: Staat 1968, S. 165 (172), der zutreffend hervorhebt, dass das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht der Völker nichts anderes als der völkerrechtliche Aspekt der verfassunggebenden Gewalt ist. 140 Vgl. Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 3 II; auch Grimm (Fn. 40), Rn. 29 und eingehender Winterhoff, Verfassung  – Verfassunggebung  – und Verfassungsänderung, 2007, S. 26 ff. und 126 f. 141 Zu Sieyès siehe Fenske, Politisches Denken von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, in: ders. u. a. (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, 1992, S. 383 ff. 135

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Teil III: Volkssouveränität und EU

Abbé Sieyès um die Konstituierung der souveränen französischen Nation als pouvoir constituant, nicht um die Frage staatlicher Selbstaufgabe. Hinzu tritt, dass sich Sieyès gegen die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lehren vom Herrschaftsvertrag absetzen musste, die der Sache nach zwar eine ursprüngliche Verfassunggebung des Volkes vorsahen, einen neuerlichen gestalterischen Zugriff des Volkes auf die politische Rahmenordnung jedoch allenfalls in besonderen Aus­ nahmesituationen gestatteten142. Vor diesem Hintergrund sah sich Sieyès sogar veranlasst, den pouvoir constituant des Volks für unveräußerlich zu erklären143: Die Nation könne das Recht nicht verlieren, ihren Willen zu ändern, sobald ihr Interesse es verlange144. Allerdings müssen diese und vergleichbare Äußerungen in dem angerissenen historischen Kontext ausgedeutet werden145. Sie richten sich gegen die Unveränderbarkeit der innerstaatlichen Ordnung, die Petrifizierung der gebietsgesellschaftlichen Machtverhältnisse146, schließen es aber nicht aus, dass sich das Volk kraft seines pouvoir constiuant einem anderen souveränen Volk als dessen Gliedstaatsvolk anschließt. Im Gegenteil: Die argumentativen Begründungsansätze, die Sieyès für seine Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes liefert, stimmen letztlich und der Sache nach mit denen überein, die soeben allgemein für die These ins Feld geführt worden sind, dass das Volk auch über seinen Status als souveränes Volk verfügen können muss. So begründet Sieyès die Ungebundenheit der Nation als pouvoir constituant in Anlehnung an das privatrechtliche Denkmuster damit, dass der ursprüngliche Gemeinschaftswille zwar die pouvoirs constitués verpflichten könne, sich aber nicht selbst Pflichten aufzuerlegen vermöge. Denn so Sieyès’ rhetorische Frage: „Qu’est-ce qu’un contrat avec soi même“147 Dass es der Nation an einem kontrahierungsfähigen Partner fehlt, schließt es freilich bei privatrechtsanaloger Betrachtung gerade nicht aus, dass sie auf den ihr zustehenden pouvoir constituant verzichtet, ihn derelinquiert148. Dass Sieyès auch diese Möglichkeit pauschal ausscheidet, ist demnach allein dem dargelegten historischen Kontext, keineswegs aber seinem konstruktiven Grundansatz geschuldet. Die Ungebundenheit der Nation und ihres pouvoir constituant rechtfertigt der Abbé Sieyès fernerhin aus der – doppelten – Fiktion, dass Nationen als im Naturzustand befindliche Individuen zu begreifen seien und daher wie diese einen unbeschränkten Willen hätten149. Geht man freilich von dieser Fiktion aus, drängt es 142

Vgl. dazu auch Müller, Wer ist das Volk, 1997, S. 20. Sieyès (Fn. 138), S. 66 (Chapitre V). 144 Sieyès (Fn. 138), S. 69 (Chapitre V). 145 Zu diesem auch Merkel, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1996, S. 164 ff. 146 Deutlich Sieyès (Fn. 138), S. 73 f. (Chapitre V). 147 Sieyès (Fn. 138), S. 69 (Chapitre V). 148 Die Dereliktion ist ein einseitiges Verfügungsgeschäft (§ 959 BGB). 149 Sieyès (Fn. 138), S. 69 f. (Chapitre V).

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sich nachgerade auf, dass sich eine Nation vermöge ihres unbeschränkten pouvoir constituant mit anderen Nationen verbinden kann und damit unter Verlust dieses unbeschränkten pouvoir constituant aus dem Zustand unbeschränkter, aber eben auch wilder verbandlicher Selbstbestimmung herauszutreten vermag150. Zwar schließt Sieyès selbst es am Vorabend der Französischen Revolution noch aus, dass eine Nation jemals aus dem Naturzustand heraustreten wird151. Doch liegt auch hierin keine konstruktive Notwendigkeit. Vielmehr erweist sich Sieyès insofern als seiner Epoche Kind, wenn er den Nationalstaat als Endprodukt der Geschichte begreift152. Sein konstruktiver Ansatz indes steht einer demos-kratischen Überwindung des Nationalstaats zugunsten einer anderen souveränen Entität ebenso wenig entgegen wie das ihm strukturell entsprechende verbandsorientierte Demokratieverständnis153. Ein weiteres zentrales Argument dafür, dass der pouvoir constituant der Nation keinen rechtlichen Bindungen unterworfen ist, schöpft Sieyès schließlich aus dessen vertragstheoretischer Rekonstruktion. Der pouvoir constituant beruhe originär auf der Willenseinigung assoziationswilliger Individuen und kenne daher keine andere Autorität als die Nation. Bekräftigend fügt Sieyès in dem ihm eigenen unnachahmlichen Stil hinzu: „Nous ne parlons pas ici brigandage ni domination, mais association légitime, c’est à dire volontaire et libre.“154 In dieser Perspektive, die ja auch dem indviduumszentrierten Demokratieverständnis zugrundeliegt, sind die individuellen Glieder der Nation in keiner Weise gehindert, kraft ihrer originären verfassunggebenden Gewalt ihre Assoziationsbedingungen gänzlich neu zu definieren und sich infolgedessen auch einer umfassenderen Assoziation anzuschließen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Sieyès zwar interessengeleitet die Verfügungsgewalt des demos über sich selbst ausschließt, diese aber durchaus auf der konstruktiven Linie seiner Lehre vom pouvoir constituant des Volks liegt.

c) Der pouvoir constituant des Volks als missing link zwischen Staats- und Volkssouveränität Es zeigt sich nach allem, dass ein vom Staatsvolk als Träger des pouvoir constituant legitimierter Souveränitätswechsel mit der Volks- und mithin auch der Staatssouveränität vereinbar ist. Zugleich wird deutlich, dass ein vom pouvoir con 150 Ebenso wie auch die Individuen im Gesellschaftsvertrag ihr unbegrenztes Recht auf alles verlieren, dafür aber die liberté civile erringen, vgl. Rousseau (Fn. 25), S. 43 f. (Livre I / Chapitre VIII). 151 Sieyès (Fn. 138), S. 69 (Chapitre V). 152 Dazu nochmals Meister (Fn. 6), S. 315. 153 Dazu, dass das verbandsorientierte Demokratieverständnis eine Überwindung des Nationalstaats nicht schon per se ausschließt, sondern lediglich strenge Voraussetzungen hieran knüpft, vgl. bereits oben Kapitel 5 I. 1. a) = S. 187 und Kapitel 5 I. 4. a) = S. 216. 154 Sieyès (Fn. 138), S. 69 (Chapitre V).

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stituant des Staatsvolks nicht legitimierter Souveränitätswechsel mit der demo­ kratiezentralen Volkssouveränität kollidiert, der Staatssouveränitätsfall in diesem Fall zum Volkssouveränitätsfall avanciert und von einer strukturwidrigen Durchbrechung sowohl der Volks- als auch der Staatssouveränität auszugehen ist. In dieser Perspektive erweist sich das mit dem pouvoir constituant ausgestattete Staatsvolk als das eigentliche missing link zwischen Staats- und Volkssouveränität155: Die  – weil relativ eigenständig  – an sich zu unterscheidenden Strukturen der Staats- und Volkssouveränität fallen dann und insoweit zusammen, als mit der Staatssouveränität auch die Integrität des Staatsvolks als Träger des pouvoir constituant verletzt ist. Diese These bestätigt sich, wenn man die zweite Alternative des Staatssouveränitätsfalls näher betrachtet. Zerfällt infolge der Erschütterung der Staatsgewalt die Rechts- und Friedensordnung, so ist nicht nur die Staatssouveränität strukturwidrig beeinträchtigt. Hinzu tritt die strukturwidrige Durchbrechung der Volkssouveränität speziell in ihrer Bedeutungsschicht als Gewährleistung des pouvoir constituant des Volkes. Denn unter den genannten Bedingungen besitzt das Staatsvolk ersichtlich nicht mehr jene umfängliche Verfügungsgewalt über Ordnung und Struktur des gebietsgesellschaftlichen Zusammenlebens und -wirkens, wie sie die Normativität des demos-kratischen pouvoir constituant normaliter voraussetzt. Auch in der Perspektive des sozusagen materiellen Souveränitätsfalls erhellt insofern, dass ein effektiver pouvoir constituant nicht nur die maßgebliche Eigenschaft eines souveränen Staates, sondern zugleich conditio sine qua non des volks­souveränen Staats-demos ist und ein handlungsfähiger pouvoir constituant in Trägerschaft des Staatsvolks demzufolge das missing link zwischen Staats- und Volkssouveränität darstellt.

4. Innere und äußere Staatssouveränität Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass das herkömmliche Souveränitätsverständnis auch im demokratischen Verfassungsstaat seine prinzipielle Bedeutung beibehält. Souveränität charakterisiert und postuliert danach eine Wirkungs- und Entscheidungseinheit, die auf einem bestimmten Gebiet als oberste Normsetzerin, vor allem also als pouvoir constituant fungiert und die das gebietsuniversale Monopol legitimer Zwangsgewalt innehält; dafür genügt es im demokratischen Verfassungsstaat, wenn sich die gebietsgesellschaftlich wirksamen Normen und physischen Zwangsakte formell von der souveränen Wirkungs- und Entscheidungseinheit ableiten, sofern nicht die Reduktion der ihr in materieller Hinsicht verbleibenden Normsetzungs- und Zwangsbefugnisse die effektive156 gebietsuniversale Durchsetzung der geltenden Rechts- und Friedensordnung gefähr 155

In diese Richtung auch Quaritsch (Fn. 14), S. 1108. Vgl. Risse / Lehmkuhl (Fn. 122), S. 4.

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Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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det157. Der so gefasste Souveränitätstatbestand bestimmt integraliter sowohl die innerstaatlichen Verhältnisse als auch den Kontakt des Staates nach außen158. Demgegenüber wird in der gängigen Staatslehre sehr viel stärker der Unterschied zwischen innerer und äußerer Souveränität betont159; die innere Souveränität nimmt dort als innerstaatliche Kompetenz-Kompetenz Gestalt an, die äußere Souveränität als rechtliche Unabhängigkeit nach außen sowie als Völkerrechtsunmittelbarkeit160. Diese Konzeption vermag schon deshalb nicht wirklich zu überzeugen161, weil sie die Staatssouveränität allein von ihren normativen Folgen her zu konkretisieren sucht und damit der Frage nach ihren immer auch in der Normalität zu suchenden Voraussetzungen ausweicht162. Denn dass einem Staat innerstaatlich die höchste Entscheidungsgewalt zukommt, er auswärtigen Staaten nach Maßgabe des Völkerrechts von gleich zu gleich begegnet, sagt eben noch nichts darüber aus, wie er tatsächlich beschaffen sein muss, damit diese Folgen eintreten. Dieser von der herkömmlichen Staatslehre geflissentlich umgangene Machtaspekt von Souveränität ist vorstehend unter dem Gesichtspunkt des hier sogenannten materiellen Souveränitätsverständnisses problematisiert und bei der Rekonstruktion des Souveränitätsdogmas des demokratischen Verfassungsstaats in der Gestalt des Effektivitätsvorbehalts berücksichtigt worden163. Des Weiteren verstellt die Aufspaltung der Staatssouveränität in eine innere und äußere Souveränität den Blick darauf, dass es sich bei der Staatssouveränität um einen einheitlichen Tatbestand handelt164. Eben weil Souveränität die Wesens­ eigenschaft einer jedenfalls formell zu höchst stehenden und materiell hinreichend effektiven Gebietsordnungsgewalt bezeichnet, steht ihr innerstaatlich die sogenannte Kompetenz-Kompetenz zu und ist sie nach außen hin nur dem koor 157

Ähnlich Peters (Fn. 39), S. 129 f.: „Souveränität ist (…) zu definieren als rechtlich höchste, unabgeleitete, unabhängige, einheitliche und ausschließliche Kompetenz zur Regelung eines Grundtatbestandes an Inhalten in Verbindung mit der tatsächlichen Macht, diese auch durch­ zusetzen.“ 158 In diesem Sinne auch Quaritsch (Fn. 103), S. 64 f. sowie Seiler (Fn. 81), S. 217. 159 Vgl. zum Beispiel Epping (Fn. 89), § 5 Rn. 8; Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 97 (123 f.); Gading (Fn. 97), S. 185. Zu der neu in die politikwissenschaftliche Diskussion eingeführten Unterscheidung zwischen legaler und materieller Souveränität Eppler (Fn. 71), S. 214 ff. 160 Vgl. dazu nur Hillgruber (Fn. 63), S. 1074; Steiger (Fn. 26), S. 335. 161 Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Souveränität wird auch von Peters (Fn. 39), S. 127 als eher gering eingestuft. Skeptisch gegenüber dieser Differenzierung auch Häberle (Fn. 125), S. 366 und 374. 162 Dies verkennt Schmitz (Fn. 128), S. 189 f. 163 Siehe dazu auch Beaud, La Puissance de l’État, 1994, S. 17 : „En effet, la souveraineté interne, qui signifie la domination à l’intérieur du territoire, présuppose la souveraineté internationale qui exclut le pouvoir de domination d’un Etat tiers, de même que la souveraineté internationale imlique la souveraineté interne pour pouvoir être effective.“ 164 Dazu auch Beaud (Fn. 70), S. 119 (132) sowie James, The Practice of Sovereign Statehood in Contemporary International Society, in: Jackson (Hrsg.), Sovereignty at the Millenium, 1999, S. 35 (42). Zur völkerrechtsgeschichtlichen Perspektive Oeter (Fn. 64), S. 272.

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Teil III: Volkssouveränität und EU

dinierenden Völkerrecht unterworfen165. Dass sich innere und äußere Souveränität insofern aus demselben, in Normativität und Normalität verankerten Tatbestand speisen, verbietet jede kategoriale Unterscheidung zwischen diesen beiden Facetten von Staatssouveränität166.

III. Das gemischt formell-materielle Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats: Das Ergebnis der dialektischen Vermittlung von Staats- und Volkssouveränität Ebenso wenig wie sich der für die Volkssouveränität kennzeichnende Volksbegriff oder die ihr inhärente Zurechnungsstruktur wirklichkeitswissenschaftlich allein vom verbands- oder aber individuumszentrierten Demokratieverständnis herleiten lassen, darf ihr Verhältnis zur Staatssouveränität allein im Rahmen eines dieser vereinseitigenden Paradigmen ausgedeutet werden. Infolgedessen lassen sich Staats- und Volkssouveränität weder völlig identifizieren, noch können sie gänzlich voneinander isoliert betrachtet werden. Vielmehr stehen Staatsund Volkssouveränität im demokratischen Verfassungsstaat in einer Mittel-ZweckRelation. Daraus lassen sich drei souveränitätsdogmatische Gleichungen ableiten. Erstens: Ohne höchste Gebietsordnungsgewalt kann es weder Staats- noch Volks­ souveränität geben. Zweitens: Da es an der Volkssouveränität gebricht, wenn nicht das Staatsvolk die höchste Gebietsordnungsgewalt und insbesondere den pouvoir constituant autonom zu betätigen vermag, kann die Staatssouveränität als bloß instrumentelles Prinzip dem demokratischen Prozess nur dort Grenzen setzen, wo zugleich die Volkssouveränität selbst verletzt zu werden droht. Drittens: Als eine gegenüber der substanziellen Struktur der Volkssouveränität relativ verselbstständigte instrumentelle Struktur, kann die Staatssouveränität zwar nur dann strukturwidrig verletzt sein, wenn selbiges für die Volkssouveränität gilt; jedoch löst (längst) nicht jede strukturwidrige Verletzung der Volkssouveränität eine solche der Staatssouveränität aus.

165 So im Ergebnis auch der Souveränitätsbegriff von Abendroth, Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2006, S. 181 (276). 166 In diesem Sinne Heller, Die Souveränität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 31 (141) (hierzu Fiedler, Die Wirklichkeit des Staates als menschliche Wirksamkeit, in: Abermeier u. a. [Hrsg.], Oberschlesisches Jahrbuch, Band 2, 1995, S. 149 [164]). Vgl. ferner auch Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 17 Rn. 24, der ebenfalls betont, dass äußere und innere Souveränität „zwei Aspekte einer Sache“ seien, aber dennoch an dieser begrifflichen Unterscheidung festhält. Begrifflich zutreffend spricht Breitenmoser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, in: ZaöRV 1995, S. 951 8981 f.) von der „sowohl über eine Aussen- als auch eine Innenseite verfügende Souveränität“ (in diese Richtung auch Seiler [Fn. 81], S. 69).

Kap. 7: Das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität

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Als Resultat dieser souveränitätsdogmatischen Gleichungen lässt sich die Staatssouveränität als Wesenseigenschaft einer Wirkungs- und Entscheidungseinheit charakterisieren, die auf einem bestimmten Gebiet als oberste Normsetzerin, insonderheit als pouvoir constituant fungiert und das Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt innehält. Nun kann eine wirklichkeitswissenschaftliche Analyse der Staatssouveränität freilich nicht bei diesem eher begriffsdogmatischen Verständnis stehen bleiben. Vielmehr drängt sich in wirklichkeitswissenschaftlicher Perspektive die Frage auf, was unter dem gebietsuniversalen Zuhöchstsein der Normsetzungs- und der gebietsuniversalen Monopolisierung der Zwangsgewalt konkret zu verstehen ist. Auch insofern verbietet sich jede Vereinseitigung – sei es nach der Normativität oder aber nach der Normalität hin. Vielmehr erweist sich bei dialektisch vermittelnder Betrachtungsweise allein ein solches Souveränitätsverständnis als dem demokratischen Verfassungsstaat angemessen, das die formelle Ableitbarkeit aller gebietsgesellschaftlich wirksamen Normen und Hoheitsakte von der Gebietsordnungsgewalt für deren Souverän-Sein genügen lässt, wenn und soweit die damit eventuell verbundene materielle Schwächung der Gebietsordnungsgewalt nicht die Durchsetzung der Rechtsordnung und damit auch den Vollzug demokratisch legitimierter Entscheidungen verunmöglicht. Das dergestalt im dialektischen Denkverfahren entwickelte Souveränitätsdogma des demokratischen Verfassungsstaats bewährt sich auch dort, wo es den Fall des Souveränitätsverlusts dogmatisch einzuhegen gilt. Dem gemischt formell-materiellen Souveränitätsverständnis entspricht, dass der Souveränitätsverlust sowohl dann eintritt, wenn sich die bis dato souveräne Gebietsordnungsgewalt formell ihrer Souveränität begibt oder wenn sie nicht mehr hinreichend effektiv ist, um die staatliche Rechts- und Friedensordnung aufrecht zu erhalten. Die für den demokratischen Verfassungsstaat kennzeichnende Mittel-Zweck-Relation zwischen Staatsund Volkssouveränität manifestiert sich darin, dass der skizzierte Staatssouveränitätsverlust (nur) dann keine Verletzung von Staats- und Volkssouveränität nach sich zieht, wenn das Staatsvolk als Träger des pouvoir constituant sich zu einem – formellen – Souveränitätsverlust entschlossen hat. Die Gewährleistung eines hinreichend handlungsfähigen pouvoir constituant in der Trägerschaft des Staatsvolks bildet demnach im demokratischen Verfassungsstaat das missing link zwischen den insofern teilidentischen Strukturen der Staats- und Volkssouveränität. Das dem demokratischen Verfassungsstaat adäquate Souveränitätsdogma prägt demnach in sozusagen organischer Zusammenhänglichkeit sowohl die innerstaatlichen Verhältnisse als auch die Verhältnisse des Staates zu anderen souveränen Staaten. Insofern erweist es sich denn auch als eher missverständlich, wenn zwischen äußerer und innerer Souveränität differenziert wird. Denn damit wird die Einheitlichkeit des Tatbestands der Souveränität verwischt.

Teil IV

Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung als grundgesetzliche Verpflichtung Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Vorbemerkung: Vom wirklichkeitswissenschaftlichen zum normwissenschaftlichen Begriff der Volkssouveränität Vorbemerkung

In Teil III ist die Volkssouveränität unter Heranziehung des dialektischen Denkverfahrens als wirklichkeitswissenschaftlicher Strukturbegriff entfaltet worden. Dass die einzelnen Bedeutungsschichten dieses demokratiezentralen Begriffs aus der besonderen Perspektive der Allgemeinen Staatslehre rekonstruiert wurden, hat für die nunmehr zu leistende normwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den für die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung maßgeblichen Grundgesetzbestimmungen eine doppelte Konsequenz. Zum einen verbietet sich jeder normwissenschaftlich unvermittelte Rückschluss von der wirklichkeitswissenschaftlich begriffenen Volkssouveränität auf die im Grundgesetz positivierte Volkssouveränität1. Dies folgt zwingend aus der für das positive Recht charakteristischen ‚relativen Eigenständigkeit‘ gegenüber der außerjuridischen Normalität und Normativität. Zwar kann die ‚relative Eigenständigkeit‘ des positiven Rechts wirklichkeitswissenschaftlich analysiert werden. Jedoch darf die mit der relativen Autonomie positiven Rechts korrelierende normwissenschaftliche Methode nicht unmittelbar durch die wirklichkeitswissenschaftliche substituiert werden, weil andernfalls die für das positive Recht fundamentale relative Eigenständigkeit destruiert würde. Damit ist zum anderen ein normwissenschaftlich vermittelter Rückgriff auf die wirklichkeitswissenschaftlich erzielten Erkenntnisse aber keineswegs ausgeschlossen2. Gerade allgemein und abstrakt gehaltene Fundamentalnormen, wie sie mit der grundgesetzlichen Demokratienorm auch hier in Rede stehen, lassen sich allein von dem für die normwissenschaftliche Methode zentralen Erkenntnisgegenstand, nämlich vom Normtext her, nur unzureichend erschließen3. Daher kön

1



2



Siehe oben Einleitung II.= S. 72. Siehe oben Vorbemerkung zu Teil III = S. 179. 3 Vgl. auch v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 19 ff.

Vorbemerkung

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nen und müssen die vorstehend angestellten staatstheoretischen Überlegungen in die normwissenschaftliche Konkretisierungsarbeit einfließen4. Dies wird dadurch erheblich erleichtert, dass sich die staatstheoretischen Rekonstruktionen als normwissenschaftlich unmittelbar anschlussfähig erweisen5. Dies gilt sowohl für die insofern verwandte Terminologie als auch für die in dieser Begriffssprache entfalteten Inhalte der demokratiezentralen Struktur der Volkssouveränität. Nach Maßgabe der normwissenschaftlich anerkannten Auslegungskriterien und unter Beachtung ihrer Rangfolge kann, darf und soll daher bei der Konkretisierung der internen Vorgaben, denen der europäische Hoheitsverband aus Sicht der EU-spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes zu genügen hat, auf die entsprechenden staatstheoretischen Erkenntnisse zurückgegriffen werden. Um näherhin zu bestimmen, welche Anforderungen das  GG an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung stellt, lassen sich mithin die Erwägungen fruchtbar machen, die im Licht der Allgemeinen Staatslehre zum demokratischen Volksbegriff6 und zur Volkssouveränität als Zurechungsstruktur7 angestellt worden sind. Teil IV gliedert sich in drei Kapitel. Zunächst soll der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes lokalisiert werden8. Denn der maßgebliche Normtext bildet in normwissenschaftlicher Perspektive den Anfangs- und Endpunkt der Konkretisierungsarbeit9. Sind die europaspezifischen Demokratiebestimmungen normtextuell erst einmal verortet, werden in einem zweiten und dritten Überlegungsschritt die beiden ersten Demokratieprobleme aus dem staatstheoretischen Teil normwissenschaftlich analysiert. So soll erörtert werden, ob die europaspezifischen Demokratienormen des Grundgesetzes eine vom Staatsvolk abgeleitete Legitimation von EG-Normsetzungsakten fordern oder ob sie auch originär europäische Demokratiestrukturen genügen lassen10. Dahinter verbirgt sich die staatstheoretisch bereits eingehend behandelte Frage nach dem demokratieadäquaten Volksverständnis. Des Weiteren wird zu untersuchen sein, welche kon

4 Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, S. 79: „Es besteht (…) kein Widerspruch, sondern das Verhältnis der wechselseitigen Ergänzung zwischen einer aufgeklärt positivistisch verfahrenden Staatsrechtslehre und einer neuen Staats- und Verfassungstheorie.“ 5 Dies ist umso bedeutsamer, als die Volkssouveränität nach dem zutreffenden Urteil von Morlok, Demokratie und Wahlen, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 559 (560), „dogmatisch überraschend wenig ausgearbeitet worden ist und in der Rechtslehre wie in der Rechtsprechung eher eine randständige Rolle spielt“. Diese Beobachtung ist im Übrigen auch von politikwissenschaftlicher Seite gemacht worden (Voigt, Zwischen Leviathan und Res Publica, in: ZfP 2007, S. 259 [265]): „Die Volkssouveränität scheint in der aktuellen Diskussion der deutschen Staatsrechtslehrer praktisch keine Rolle mehr zu spielen.“ 6 Dazu oben Kapitel 5 = S. 182. 7 Siehe oben Kapitel 6 = S. 249. 8 Siehe unten Kapitel 8 = S. 546. 9 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 I 1 a). 10 Siehe unten Kapitel 9 = S. 562.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

kreten Anforderungen das Grundgesetz an die demokratischen Legitimationszusammenhänge im Bereich der EG-Normsetzung stellt11. Insofern geht es um die konkrete, bereichsspezifische Ausgestaltung der grundgesetzlichen Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur.

Kapitel 8

H

Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes Kap. 8: Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des GG

EU-spezifische Demokratieanforderungen lassen sich sowohl aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG als auch aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit 79 Abs. 3, 20 Abs. 1, 2 GG ableiten. Beide Demokratievorgaben beziehen sich auch auf Normsetzungsakte der EG.

I. Die EU-spezifische Demokratienorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Die teleologisch abgesicherte Normtextanalyse ergibt, dass Art.  23 Abs.  1 Satz 1 GG insofern demokratische Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung stellt, als er die Partizipation der Bundesrepublik und seiner Organe am europäischen Integrationsprozess unter den Vorbehalt stellt, dass europäische Hoheitsakte demokratischen Anforderungen genügen.

1. Normtextbefund In Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG heißt es unter anderem: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen (…) Grundsätzen (…) verpflichtet ist …“ Diese Grundgesetznorm geht insofern von einer Verpflichtung der noch näher zu definierenden Europäischen Union auf demokratische Grundsätze aus. Da es sich bei Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG um eine grundgesetzliche Bestimmung handelt, ist dem Textbefund nach mangels entgegenstehender Indizien davon auszugehen, dass die EU spezifisch grundgesetzlichen Demokratieanforderungen und nicht etwa einer vom Grundgesetz in Bezug genommenen gemeinschaftsrechtlichen, völkerrechtlichen oder gemeineuropäischen Demokratienorm genügen muss1.

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1

Siehe unten Kapitel 10 = S. 688. Damit ist aber natürlich nicht gesagt, dass die Europäische Union exakt denselben grundgesetzlichen Strukturvorgaben unterworfen ist wie die Bundesrepublik Deutschland (vgl. nur Heyde, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, 2002, Art. 23 Rn. 21 f.; Classen, in:

Kap. 8: Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des GG

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Dass die Verpflichtung des Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG nicht als Aufforderung formuliert, sondern als bloße Feststellung abgefasst ist, steht dem Ergebnis der Wortlautinterpretation nicht entgegen. Der systematische Vergleich mit Art.  20 Abs. 1 GG belegt, dass gerade auch bei grundgesetzlichen Fundamentalnormen aus stilistischen Gründen2 auf den modalen Infintitiv mit ‚zu‘ und ‚haben‘ oder ‚sein‘3 beziehungsweise auf Modalverben4 verzichtet wird5, auch wenn bei deren Verwendung der imperative Charakter deutlicher zum Ausdruck käme6. Der Normtext indiziert insofern, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG eine EU-spezifische Demokratiebestimmung normiert. Allerdings enthält der Wortlaut auch eine gewisse Einschränkung. Denn die Demokratieverbürgung steht in einem Relativsatz. Dieser umschreibt attributiv die Eigenschaften derjenigen Europäischen Union, auf die der Hauptsatz Bezug nimmt. Die in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG formulierte EU-spezifische Demokratienorm kann daher dem Wortlaut nach nicht in dem Sinne verabsolutiert werden, dass die EU von Grundgesetzes wegen stets und immer demokratischen Grundsätzen genügen müsste. Vielmehr ist die EU-spezifische Demokratienorm des Grundgesetzes auf diejenige Europäische Union syntaktisch relativiert, an der die Bundesrepublik mitwirkt und an der sie – ausweislich der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG gleichfalls enthaltenen Staatszielbestimmung7  – „zur Verwirklichung eines vereinten Europas“ auch mitwirken soll. Dem Wortlaut nach ist die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes damit in eine ‚Sofern‘-Formel eingekleidet: Die EU muss um des Grundgesetzes willen demokratischen Anforderungen genügen, ‚sofern‘ die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der EU an dem europäischen Einigungsprozess teilnehmen dürfen soll. Dem Textbefund zufolge normiert Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG eine zwar grundgesetzlich verbindliche, in ihrer Geltung aber relativierte EU-spezifische Demokratienorm8. Diese vermag auch durchaus Anforderungen an die EG-Normsetzung zu stellen. Denn die EG stellt sich als Teil der von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in Bezug v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd.  2, 5. Aufl. 2005, Art.  23 Rn.  20). Die staatsbezogenen Demokratieanforderungen speisen sich mit anderen Worten aus derselben Rechtsquelle wie die europabezogenen, haben aber nicht zwingend denselben Inhalt. 2 Zu dem bei der Abfassung von Rechtstexten zu beachtenden Stil immer noch grundlegend Montesquieu, De l’esprit des lois (Goldschmidt [Hrsg.]), Bd.  2, 1979, S.  302 (Livre XXIX / Chapitre XVI): „Le style en doit être concis. Les douze table sont un modèle de précision: les enfants les apprennent par cœur.“ 3 Beispiel: Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG. 4 Beispiel: Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. 5 Vgl. auch Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 327. 6 Dazu Dudenredaktion (Hrsg.), Die Grammatik, 1998, Rn. 306. 7 Magiera, Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, in: Jura 1994, S. 1 (8) sowie Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 5. 8 Vgl. dazu auch Rojahn, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 23 Rn. 17.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

genommenen Europäischen Union dar9. Darunter ist nämlich das durch den EUV konstituierte, im Zuge des europäischen Einigungsprozesses aber auch wieder von ihm ablösbare10 Rechtsgebilde zu verstehen11. Dieses erfasst gemäß Art.  1 UAbs. 3 EUV bis auf Weiteres auch die EG. Die hier vorgeschlagene Konkretisierung des Rechtsbegriffs Europäische Union im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bedarf freilich der näheren Begründung12. Denn zumindest bei vordergründiger Normtextlektüre kommen auch zwei andere Interpretationen in Betracht. So könnte, wenn in Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG von Europäischer Union die Rede ist, einerseits auch nur die EU gemeint sein, wie sie durch den EUV begründet und näherhin bestimmt wird13. In diesem Fall wäre zwar die EG-Normsetzung derzeit von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG gegenständlich erfasst. Jedoch würde diese Grundgesetzbestimmung im Falle einer Vertragsablösung obsolet. Andererseits könnte Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG auch auf die Europäische Union als Endziel des Integrationsprozesses abzielen14, denn dem Wortlaut nach lässt sie sich auch als eine erst noch zu entwickelnde Ausformung des vereinten Europas begreifen15. In dieser Interpretationsalternative wäre die EG-Normsetzung gegenwärtig nicht von dem EU-spezifischen Demokratiepostulat des Grundgesetzes erfasst. Bei genauerer Wortlautexegese zeigt sich jedoch rasch, dass mit Europäischer Union in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nur das durch den EUV konstituierte, im Zuge des europäischen Einigungsprozesses jedoch von ihm ablösbare Rechtsgebilde gemeint sein kann16. Denn zum einen erschließt sich aus dem bestimmten Artikel, der dem Rechtsbegriff der Europäischen Union vorgeschaltet ist, und der Großschreibung des normalerweise klein zu schreibenden Adjektivs ‚Europäische‘, dass insofern nicht nur eine erst noch zu entwickelnde europäische Union als finaler

9 Jarass (Fn. 18), Rn. 3; auch Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 1 EUV Rn. 9–15.  10 Rojahn (Fn. 19), Rn. 6a; auch Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, II Rn. 24. 11 So auch Heyde, 50 Jahre deutsche Gesetzgebung im Lichte des europäischen Einigungsprozesses, in: ders. / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 13 (22). 12 Zu den Unsicherheiten bei der Auslegung dieses Rechtsbegriffs: Lerche, Zur Position der deutschen Länder nach dem neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 753 (754). 13 Dagegen auch Scholz, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 23 Rn. 12. 14 So Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen EuropaArtikel des Grundgesetzes, in: DVBl. 1993, S. 936 (944). 15 Entsprechend dem Zielbegriff des ‚vereinten Europas‘ in der Grundgesetzpräambel, vgl. dazu Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 38. 16 In diesem Sinn dezidiert auch Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Staat 1993, S. 191 (195); Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 23 Rn. sowie Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 39 ff.

Kap. 8: Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des GG

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Endpunkt des europäischen Einigungsgeschehens angesprochen ist17. Aus diesen grammatischen Details erhellt vielmehr, dass eine ganz bestimmte Europäische Union gemeint ist, und zwar diejenige, die den entsprechenden Eigennamen trägt. Und dies ist die durch den EUV begründete EU. Zum anderen lässt Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG gleich an zwei Stellen den evolutiven Charakter dieser Europäischen Union hervortreten, was ihrer Relativierung auf den EUV widerstreitet. So heißt es im Normtext, dass „zur Verwirklichung“ eines vereinten Europas die Bundesrepublik an der „Entwicklung“ der EU mitwirkt18. Bestätigt wird das Ergebnis der grammatischen Auslegung, der zufolge sich Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG auch auf eine im Verlauf des Integrationsprozesses vom  EUV abgelöste Europäische Union bezieht, durch die systematische. In Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nämlich tritt die EU ebenfalls als ein sich dynamisch fortentwickelndes Gemeinwesen und nicht statisch als Anfangs- oder Endzustand des europäischen Integrationsprozesses in Erscheinung. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bezeichnet daher, wenn er von der Europäischen Union spricht, in der Tat das durch den EUV zwar gegründete, jedoch zu rechtsförmig ablaufenden Metamorphosen fähige Gemeinwesen. Vor diesem Hintergrund indes kann, wie gesagt, davon ausgegangen werden, dass sich die Demokratieanforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG auch auf die EG-Normsetzung beziehen.

2. Teleologie Angesichts des eindeutigen Normtextbefunds könnten allenfalls gewichtige teleologische Gründe19 dagegen sprechen, dass Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG eine EU-spezifische Demokratiebestimmung normiert und demokratische Anforde­ rungen auch an die EG-Normsetzung stellt. Insofern könnte man es als zweifelhaft ansehen, ob es überhaupt Sinn und Zweck einer grundgesetzlichen Norm sein kann, rechtliche Anforderungen an die EU beziehungsweise die EG-Normsetzung zu stellen. Dem könnte widersprechen, dass das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich eine gegenüber dem nationalen (Verfassungs-)Recht autonome Rechtsord-



17 Im Ergebnis so auch Streinz (Fn. 27), Rn. 19, der darauf hinweist, dass die Strukturanforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bereits jetzt gelten und sich nicht auf ein angestrebtes Endstadium beziehen. 18 Wenn Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG auf die „Entwicklung der Europäischen Union“ abstellt, so korrespondiert dies damit, dass auch der EUV – etwa in dem zentralen Art. 1 Abs. 2 EGV – verschiedentlich auf das Fortschreiten der europäischen Integration abstellt (in diesem Sinn auch Pernice [Fn. 27] Rn. 44). 19 Zur Apologie der teleologischen Auslegung vgl. Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, in: ZRP 2007, S. 213 (216).

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

nung20 darstellt, der EuGH das Vertragsrecht der EU deshalb gar als Verfassung21 bezeichnet22. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirft somit in telelogischer Hinsicht die prinzipielle Frage auf, ob das Grundgesetz nach seiner Regelungskonzeption sinnvoller Weise rechtsverbindliche Ansätze eines EU-spezifischen Verfassungsrechts aus sich heraus entbinden kann23. Bei genauerer, differenzierender Analyse ist dies im Ergebnis zu bejahen24. Als Dreh- und Angelpunkt des zwar grundgesetzlich normierten, aber EU-bezogenen Verfassungsrechts fungiert dabei die grundgesetzliche Integrationsnorm: Werden unter der Herrschaft des Grundgesetzes Verfassungsorgane oder Teile von ihnen in Hinblick auf den EG-Normsetzungsprozess tätig, so bleiben sie gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an das Verfassungsrecht gebunden25 und können nur nach dessen Maßgabe von einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes entbunden werden. Eine verfassungsrechtlich sanktionierte Freistellung von bestimmten Grundgesetznormen ergibt sich für die Verfassungsorgane dabei typischerweise aus der jeweils gültigen Integrationsnorm26. Daraus ergibt sich wiederum, dass deutsche Verfassungsorgane oder Teile von ihnen (erst) dann nicht mehr im Prozess europäischer Normsetzung aktiv werden dürfen, wenn dieser die verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Bahnen verlässt, wie sie regelmäßig in der einschlägigen Inte-

20 Vgl. EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) (Costa / E. N. E. L.). Dazu eingehend auch Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 22 ff.; ferner Bleckmann / Pieper, Rechtsquellen, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: Juni 2007, B. I. Rn. 2 f.; Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 181 Rn. 5 und Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Isensee, 2007, S. 875 (880). 21 Zum Verfassungsbegriff allgemein Grimm, Artikel ‚Verfassung‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 633. 22 So hat der EuGH bereits in der Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 Rn. 3 (Les Verts / Europäisches Parlament) den EG-Gründungsvertrag als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft bezeichnet. Aber auch das BVerfG bezeichnete den EWGV bereits frühzeitig als „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ (E 293 [296]). Hierzu auch Schwarze, Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, in: DVBl. 1999, S. 1677 (1681); v. Komorowski, Europarechtskonforme Beiladungspraxis im Normenkontrollverfahren, in: BayVBl. 2003, S.  360 (361); Pechstein (Fn. 20), Rn. 27 f.; König, Gesetzgebung, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 2 Rn. 1; Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, S. 99 ff.; nuancierend Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 237 f.; vertiefend Möllers, Christoph: Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 (36 ff.). 23 Zur Existenz eines ‚nationalen Europaverfassungsrechts‘ allgemein Huber, Recht der Europäischen Intregration, 2.  Aufl. 2002, § 4 Rn.  1; auch Öhlinger, Verfassungsrechtliche Grundlagen der EU-Mitgliedschaft Österreichs, in: Hummer / Obwexer, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, 2006, S. 17 (28): ‚staatliches Unionsverfassungsrecht‘. 24 So im Ergebnis auch die ganz herrschende Meinung, vgl. nur Claasen (Fn. 12), Rn. 7, 22 ff.; Rojahn (Fn. 19), Rn. 17 ff.; Scholz (Fn. 24), Rn. 54 ff. 25 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 56 VIII 4. 26 Vgl. Heyde (Fn. 12), Rn. 67.

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grationsnorm vorgezeichnet sind27. Insofern kann die EG-Normsetzung jedenfalls mittelbar, nämlich aufgrund der Verfassungsgebundenheit der an ihr beteiligten deutschen Verfassungsorgane, verfassungsrechtlichen Schranken unterliegen, die in der einschlägigen Integrationsnorm vorgegeben sind28. Ungeachtet der unter bestimmten Umständen verfassungswidrigen Beteiligung deutscher Staatsorgane können EG-Normsetzungsakte aber auch unmittelbar an grundgesetzliche Grenzen stoßen. Außer Frage steht dabei, dass das Grundgesetz gemeinschaftsrechtliche Akte nicht einfach ipso iure derogieren kann. Eine noch so europarechtsskeptische Interpretation des Verhältnisses von nationalem Verfassungs- und europäischem Gemeinschaftsrecht wird niemals zu dem Ergebnis gelangen können, das nationale Verfassungsrecht eines einzigen Mitgliedstaats entscheide absolut über die Gültigkeit von Normen, die von der aus fünfzehn Verfassungsstaaten konstituierten EG erlassen wurden29. Allerdings lässt sich das Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht dahingehend ausdeuten, dass das Gemeinschaftsrecht nur kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung und nur nach deren Maßgabe im Geltungsbereich der nationalen Verfassung Anwendung findet, Wirkkraft entfaltet und in gebietsbezogen-relativer Gültigkeit erwächst30. Diesem Deutungsmuster folgt ersichtlich auch das Grundgesetz mit seiner Integrationsnorm in Art. 23 Abs. 1 GG. Denn nach dessen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG – früher: Art. 24 Abs. 1 GG – beruht die Rechtsmacht der EG, für die Bundesrepublik wirksame Normen zu setzen, auf der ‚Übertragung von Hoheitsrechten‘31. Insofern geht das Grundgesetz davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht (nur) aufgrund einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung, nämlich nach Maßgabe der Integrationsnorm, Wirkkraft für die Bundes­ republik entfalten kann32.

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Hingegen beansprucht nationales Verfassungsrecht keinesfalls Geltung auch für die Organe der Gemeinschaft  – siehe dazu nur Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 27. 28 Vgl. Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (421); Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 69; auch Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 31. 29 Das Recht der Europäischen Union steht mit anderen Worten nicht unter dem generellen Grundgesetzvorbehalt (Herdegen, „Föderative Grundsätze“ in der Europäischen Union, in: Cremer u. a. [Hrsg.], Festschrift für Steinberger, 2002, S. 1193 [1195]), 30 Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Grundgesetz, in: Hailbronner / Ress / Stein (Hrsg.), Festschrift für Doehring, 1989, S. 63 (66). 31 Zum Terminus der Übertragung etwa Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 55. Rechtsvergleichend Nicolaysen, EU-Mitgliedstaaten: Ein neues verfassungsrechtliches Verhältnis?, in: Bruha / Nowak, Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 17 (22 f.). 32 Dazu etwa Wahl, Internationalisierung des Staates, in: Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 193 (195); Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 60; ausführlich Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 20 ff. und 36 ff.

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Mittels der Integrationsnorm können dann freilich auch die materiellen Wirksamkeitsvoraussetzungen von EG-Normen grundgesetzlich definiert werden. Denn selbst wenn man diese ‚Übertragung von Hoheitsrechten‘ in besonders EU-freundlicher Auslegungsperspektive als quasidingliche, materiale Übertragung von Rechtsmacht deutete33, könnten verfassungsrechtliche Vorgaben an den Übertragungsakt geknüpft sein. Schließlich könnte auch in dieser Perspektive der Übertragungsakt – um im Bild zu bleiben – unter einer Potestativbedingung des Inhalts stehen, dass die EU sich nicht über die materiellrechtlichen Vorgaben hinwegsetzt. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass nach der Regelungskonzeption des Grundgesetzes die gebietsbezogen-relative Geltung von EG-Normen für die Bundesrepublik allein aus dem Grundgesetz abgeleitet wird und infolgedessen auch von grundgesetzlichen Bestimmungen abhängig gemacht werden kann. Dem Grundgesetz zufolge können EG-Normsetzungsakte folglich grundsätzlich auch insofern verfassungsrechtlichen Schranken unterworfen sein, als es um ihre Wirkkraft, ihre gebietsbezogen-relative Gültigkeit auf dem Territorium der Bundes­ republik Deutschland geht34. Somit kann das Grundgesetz seiner Regelungskonzeption zufolge grundsätzlich auch das europäische Verfassungsrecht regeln, allerdings mit Wirkung allein für die Bundesrepublik35. Operationalisiert wird das europäische Verfassungsrecht durch die staatsverfassungsrechtlichen Integrationsvorbehalte. Es widerspricht nicht seinem Sinn und Zweck als grundgesetzlicher Norm, wenn Art. 23 Abs. 1 Satz  1  GG, der einen solchen Integrationsvorbehalt enthält, dahin interpretiert wird, er normiere ein EU-spezifisches Demokratieprinzip und bestimme infolgedessen auch die europäische Normsetzung. Vielmehr bestätigen die teleologischen Überlegungen die bereits aus der Textanalyse gewonnene Interpretation, wonach Art.  23 Abs.  1 Satz  1 eine EU-spezifische Demokratienorm enthält, diese allerdings in ihrer Geltung relativiert ist. Dies gilt umso mehr, als die ‚Sofern‘-Formel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die eben geschilderte Wirkweise des staatsver­ fassungsrechtlichen Integrationsvorbehalts auch textuell schon andeutet.

33 Dagegen zu Recht etwa Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 149 f. oder Petersson / Schröder, Souveränität und politische Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 103 (137). Vgl. ferner allgemein Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 72  f. 34 Hierzu nur Zippelius / Würtenberger (Fn. 36), § 56 VIII 3 a) sowie Jarass (Fn. 18), Rn. 35 ff. 35 Zutreffend weist Grimm, Vertrag oder Verfassung, in: ders. u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S.  9 (14) darauf hin, dass nationales Verfassungsrecht keinesfalls Geltung für die Organe der Gemeinschaft beanspruchen kann.

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II. Die EU-spezifische Demokratienorm des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG Ebenso wie Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG stellt auch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG die Teilnahme der Bundesrepublik am europäischen Einigungsprozess unter Demokratievorbehalt und formuliert insofern normative Erwartungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung36. Hierfür sprechen freilich weniger die grammatisch-systematischen, als vielmehr die – letztlich durchgreifenden – entstehungsgeschichtlichen und vor allem teleologischen Interpretationselemente.

1. Wortlaut Aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG folgt für die Begründung der EU sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, dass der in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG festgeschriebene Grundsatz der Demokratie nicht berührt werden darf37. Mit Europäischer Union ist dabei die durch den EUV begründete, entwicklungsfähige Union gemeint, die als solche die EG mit umfasst. Dies ergibt sich entsprechend aus den bereits im Rahmen von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG angestellten Überlegungen38. Im Kontext von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG liegt diese Interpretation sogar noch näher, denn durch die Worte ‚Begründung‘ und ‚Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen‘ erweist sich der Bezug zu der durch den EUV gegründeten und damit auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruhenden39 EU als noch offenkundiger. Im Unterschied zu Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG lässt sich im Fall von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG nun freilich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut erschließen, ob mit dieser Regelung normative Anforderungen an die demokratische Legitimität der EU und infolgedessen auch an die EG-Normsetzung gestellt werden sollen oder nicht. Zwar konstruieren auch diese Normen einen Zusammenhang zwischen grundgesetzlichen Demokratieanforderungen und EU. Doch bleibt unklar, ob dieser Zusammenhang wie bei Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG darin besteht, dass speziell in Hinblick auf die EU demokratische Anforderungen gestellt werden. Denn vom Normtext her betrachtet, wäre es auch denkbar, dass diese Bestimmungen lediglich verhindern sollen, dass im Gefolge des europäischen Einigungsprozesses die innerstaatlichen Demokratiestrukturen beeinträchtigt oder gar zerstört werden40. Ob Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in

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Vgl. nur Uhrig (Fn. 43), 2000, S. 131 ff. Heyde (Fn. 12), Rn. 61 ff. 38 Siehe oben Kapitel 8 I. 1. = S. 546. 39 Dazu nur Pechstein (Fn. 20), Rn. 5. 40 In diesem Sinn ist womöglich Classen (Fn. 12), Rn. 34 zu verstehen.

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Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG rechtliche Anforderungen auch an die demokratische Legitimität speziell der EU stellt, bedarf daher der näheren Untersuchung. Art. 20 Abs. 1 GG, auf den Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG via Art. 79 Abs. 3 GG verweist, betrifft expressis verbis nur die innerstaatliche, die bundesrepublikanische Demokratie. In Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, auf den gleichfalls verwiesen wird, ist von der demokratischen Staatsgewalt die Rede. Die EU freilich ist nach allgemeiner Ansicht erst in der Staatswerdung begriffen41 und übt daher jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Staatsgewalt aus42. Der Wortlaut scheint insofern dafür zu sprechen, dass sich Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG lediglich auf die Demokratiestruktur der Bundesrepublik Deutschland bezieht, deren Normen mithin als rein innerstaatlich wirkende Verfassungsbestandsklausel zu deuten sind43. In dieselbe Richtung weist der Wortlaut der Ewigkeitsklausel, der in der hier interessierenden Verweisungskette den Konnex zwischen EU und der Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG etabliert. So garantiert Art. 79 Abs. 3 GG – über die allgemeine Verbürgung des Art. 20 Abs. 1 GG hinaus – zwei föderale Eigen­ schaften speziell der Bundesrepublik Deutschland44. Dies könnte den Schluss nahelegen, dass Art.  79 Abs.  3  GG tatsächlich eine ausschließlich innerstaatliche Schutzrichtung hat. Hierfür spricht auch, dass sich das von Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommene Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ohne Weiteres auf die EU übertragen lässt. Denn die EU ist, wie gesagt, noch nicht zum Staat geronnen. Überdies verstieße eine lediglich vom (materiell) verfassungsändernden Integrationsgesetzgeber sanktionierte Bundesstaatswerdung der EU gegen das Grundgesetz, weil die Bundesstaatswerdung Europas auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland zum Souveränitätsverlust führen würde45, indes nur das deutsche Volk als Träger des pouvoir constituant 41 Melchior, Perspektiven und Probleme der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Antalovsky / ders. / Puntscher Riekmann u. a. (Hrsg.), Integration durch Demokratie, 1997, S. 11 (38). Auch Wagener / Eger / Fritz, Europäische Integration, 2006, S. 120 ff.; Schockweiler, Le prétendu déficit démocratique de la communauté, in: Journal des tribunaux / Droit Européen 1994, S. 25 (26); Breitenmoser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, in: ZaöRV 1995, S. 951 (988 ff.). 42 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 147. 43 Vgl. hierzu auch Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 57. 44 Zu diesen Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2.  Aufl. 2006, Art.  79 III Rn. 21 ff. 45 Dass sich mit der Bundesstaatswerdung der EU zwingend ein Souveränitätsverlust auf Seiten des EU-Mitgliedstaats Bundesrepublik Deutschland verbindet, lässt sich nicht allein aus dem Bundesstaatsbegriff ableiten. Denn entgegen einer in der Literatur weit verbreiteten Auffassung (vgl. etwa v. Welck, Die Bundesländer und die Einheitliche Europäische Akte, 1991, S. 5) setzt Bundesstaatlichkeit nicht begriffsnotwendig die Souveränität des Bundesstaats voraus. Vielmehr zeichnet sich ein Bundesstaat allein dadurch aus, dass erstens sowohl dem

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grundgesetzlich zum Souveränitätsverzicht befugt ist46. Auch diese Zusammenhänge streiten für eine Interpretation von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG im Sinne einer rein innerstaatlich wirkenden Verfassungsbestandsklausel. Eindeutig ist der Wortlaut freilich nicht47. Zwar trifft Art.  20 Abs.  1  GG in der Tat nur eine Aussage über die bundesrepublikanische Demokratie. Gleichwohl ist es mit dem Wortlaut des Art.  23 Abs.  1 Satz  3  GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 GG nicht schlechthin unvereinbar anzunehmen, diese Bestimmungen normierten eine EU-spezifische Demokratienorm48. Denn diese Regelung lässt sich wortlautkonform durchaus dahingehend interpretieren, der in Art. 20 Abs. 1 GG normierte demokratische Charakter des Staats Bundesrepublik Deutschland bewähre sich gerade darin, dass seine Organe bei der Einordnung in das überstaatliche Gemeinwesen EU dafür Sorge tragen, dass auch diese demo­ kratischen Anforderungen genügt. Des Weiteren ist auch die verengende, grammatisch auf den Terminus der Staatsgewalt in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG abstellende Interpretation der von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ausgehenden Verweisungskette keineswegs alternativlos. Denn erstens besitzen die grundgesetzlichen Staatsfundamentalsätze49 wie Art. 20 Abs. 2 Satz  1  GG insgesamt prinzipienhaften Charakter50. Dieser Zug ins Grundsätzliche wird durch den Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG, der als Verweisungsnorm dem Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in dem hier interessierenden Normzusammenhang vorgeschaltet ist, noch verstärkt51. Von daher überschreitet es nicht die Wortlautgrenze, wenn vorliegend die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Volkssouveränitätsnorm aus dem auf die Bundesrepublik Deutschland relativierten Bedeutungszusammenhang gelöst und als hochgradig abstrakte Normativbestimmung begriffen

Gesamtstaat als auch den Gliedstaaten Staatsqualität zukommt und sich zweitens die Beziehungen zwischen Gesamtstaat einerseits, Gliedstaaten andererseits nicht nach Völkerrecht, sondern allein nach Bundesverfassungsrecht richten. In dieser allein zutreffenden Perspektive kann es daher durchaus einen (nicht souveränen) Bundesstaat im (souveränen) Bundesstaat geben. Dies ändert freilich nichts daran, dass die Bundesstaatswerdung der EU auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls zu einem Souveränitätsverlust führt. Denn wenn die rechtlichen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur EU nicht länger auf Völkerrecht, sondern auf Unionsverfassungsrecht beruhen, kann die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr als allein dem völkerrechtlichen Koordinationsrecht unterworfene gebietsuniversal höchste Normsetzungsmacht angesehen werden und fehlt es ihr insofern an einer den Wesenseigenschaften eines souveränen Staats. 46 Dazu oben Kapitel 7 II. 3. = S. 534 sowie vertiefend unten Kapitel 14 III. = S. 1247. 47 Im Ergebnis wie hier Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der EU, in: EuR 1999, S. 133 (146 ff.). 48 So auch Erberich, Ein Parlament ohne Stimme, in: Scherzberg / Pieper (Hrsg.), Deutschland im Binnenmarkt, 1994, S. 207 (210). 49 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (D) Rn. 86. 50 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Einf.) Rn. 12 51 Vgl. den Normtext: „… die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze“.

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wird, der gegebenenfalls auch die überstaatliche Hoheitsgewalt an die demokratische Form bindet52. Dafür streitet zweitens auch, dass nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen muss. Diese normtextuelle Akzentuierung könnte im Rahmen des erwähnten Normzusammenhangs als Indiz dafür gewertet werden, dass dem Grundgesetz nach wirklich alle hoheitliche Gewalt – neben der des Bundes und der Länder eben auch die der überstaatlichen Hoheitsträger – vom Volk auszugehen hat53. Dass im Parlamentarischen Rat zunächst der Vorschlag gemacht wurde, das Prinzip der Volkssouveränität mit der Formulierung ‚Alle Hoheitsgewalt geht vom Volke aus‘ zu umschreiben, diese Formulierung dann aber allein seiner vermeintlich obrigkeitsstaatlichen Konnotation wegen nicht übernommen wurde54, unterstreicht die These, wonach man dem Terminus ‚Staatsgewalt‘ im Rahmen der Grundgesetzinterpretation nicht allzu große Bedeutung bei­messen darf55. Schließlich erweist sich auch die an die bundesstaatlichen Verbürgungen des Art.  79 Abs.  3  GG anknüpfende Argumentation als nicht zwingend. So unterscheiden sich die beiden ersten Varianten des Art. 79 Abs. 3 GG schon sprachlich vom übrigen Regelungsgehalt der Ewigkeitsklausel. Insofern nötigt der Wortlaut nicht dazu, aus der tatsächlich rein innerstaatlich ausgerichteten Schutzrichtung von Art. 79 Abs. 3 1. und 2. Variante GG darauf zu schließen, dass die Ewigkeits­ klausel auch im Übrigen lediglich die innerstaatlichen Verhältnisse betrifft. Freilich hilft diese Argumentation nicht weiter, sofern es die durch Art.  79 Abs. 3 3. und 4. Variante GG in Bezug genommene bundesstaatliche Verbürgung des Art. 20 Abs. 1 GG betrifft. Insofern ist einzuräumen, dass es zumindest derzeit ausgeschlossen ist, die EU unmittelbar am Maßstab des Bundesstaatsprinzips zu messen, weil die EU (noch) kein Bundesstaat geworden ist56 und es, staatsverfassungsrechtlich betrachtet, ohne Intervention der verfassunggebenden Gewalt auch gar nicht werden kann. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Art. 20 Abs. 1 GG nicht für sich allein steht, sondern letztes Glied der von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG über Art. 79 Abs. 3 GG verlaufenden Verweisungskette ist. Im Rahmen einer solchen Verweisungskette kann der in Bezug genommenen Norm grundsätzlich ein 52 Ebenso Veil, Volkssouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S. 73; anderer Ansicht Sommermann (Fn. 31), Rn. 147 sowie Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene im Lichte des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in: EuR 1995, S. 21 (24 ff.). 53 Im Ergebnis vorsichtig in diese Richtung Dreier (Fn. 60), Rn. 48. Dagegen Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 206 f. 54 Vgl. JöR 1951, S. 196. 55 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: APuZ 2007, 10, S. 24: „Die EU übt Staatsgewalt aus, ohne selbst ein Staat zu sein.“ (Hervorh. AvK) 56 So auch – wenngleich etwas überschießend – Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 6 Rn. 8.

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modifizierter Bedeutungsgehalt zuwachsen, wenn die unter Berücksichtigung aller Interpretationselemente zu konkretisierende Verweisungskette Entsprechendes ergibt. Ohne an dieser Stelle Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 GG bereits umfassend ausdeuten zu wollen, ist immerhin in Hinblick auf den Wortlaut anzumerken, dass in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, also am Anfang der Verweisungskette, von wesentlichen Änderungen der EU die Rede ist. Vor diesem Hintergrund ist es grammatisch durchaus angängig, das bundesstaatliche Prinzip im Rahmen des von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ausgehenden Normzusammenhangs sinngemäß auf die EU anzuwenden, nämlich – wie in Art. 23 Abs. 1 Satz  1  GG  – als allgemein föderale Strukturvorgabe57. Mithin braucht Art.  79 Abs. 3 GG in seiner 3. und 4. Variante nicht notwendig eine rein innerstaatliche Geltung zugeschrieben zu werden. Aus dem Wortlaut allein ergibt sich insofern keine abschließende Antwort auf die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG als rein innerstaatliche Verfassungsbestandsklausel zu interpretieren ist oder ob diese Bestimmungen möglicherweise auch normative Aussagen zur rechtlich geforderten demokratischen Legitimität der EU treffen.

2. Systematik Die systematische Auslegung könnte es nahelegen, Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG als europabezogene Struktursicherungsklausel zu qualifizieren und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG demgegenüber

57 Mit einer entsprechenden Argumentation ließe sich, rein grammatisch betrachtet, auch begründen, weshalb weder die Relativierung der Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 GG auf die Bundesrepublik Deutschland noch der Bezug der Volkssouveränitätsnorm des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf die Staatsgewalt der Annahme zu widersprechen brauchen, dass Art. 23 Abs. 1 Satz  3  GG in Verbindung mit Art.  79 Abs.  3, 20 Abs.  1 und 2  GG eine europaspezifische Demokratienorm entbindet. Denn auch insofern könnte man geltend machen, dass Art.  20 Abs.  1 beziehungsweise Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG am Ende einer Verweisungskette stehen, was eine Modifikation des Regelungsgehalts dieser Bestimmungen bewirken kann. Wenn vorstehend dennoch nicht auf dieses vom Wortlaut her tragende Argumentationsmuster zurückgegriffen wird, so hängt dies damit zusammen, dass es die Verweisungskette des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG bei Berücksichtigung aller Interpretations­elemente allein im Hinblick auf das Bundesstaatsprinzip zulässt, zwischen den Anforderungen an die innerstaatliche Verfassungsordnung und denen an die Gemeinschaftsrechtsordnung zu differenzieren. Hingegen werden namentlich die in Art.  20 Abs.  1 und 2 Satz  1  GG verankerten Demokratieverbürgungen richtigerweise vollumfänglich von Art.  23 Abs. 1 Satz 3 in Ver­bindung mit Art. 79 Abs. 3 GG erfasst. Insofern sieht man sich bei der Konkretisierung der euro­paspezifischen Demokratienorm zwar nicht schon aus grammatischen Gründen, wohl aber aus anderen Gründen unmittelbar auf Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG zurückverwiesen. Daher kam es auch schon bei der vorstehenden grammatischen Interpretation darauf an, zu belegen, weshalb es selbst bei isolierter Betrachtung von Art. 20 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG grammatisch vertretbar ist, hieraus Anforderungen an die EU abzuleiten.

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als innerstaatliche Verfassungsbestandsklausel zu interpretieren58. Würde nämlich Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG demokratische Grundsätze nicht nur innerstaatlich, sondern auch in Hinblick auf die EU gewährleisten, so würde dadurch lediglich eine bereits in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG festgeschriebene Verpflichtung wiederholt. Vor allem aber würde es im Bereich des Grundrechtsschutzes zu Wertungswidersprüchen kommen, wenn man Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht als bloß innerstaatliche Verfassungsbestandsklausel begriffe. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nämlich stellt im Grundrechtsbereich strengere Anforderungen als Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 1 Abs. 1 GG59: Während Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, schützt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art.  1 Abs.  1  GG die Grundrechte lediglich in ihrem Menschenwürdegehalt60. Dieser prima-facie-Widerspruch würde vermieden, wenn Art.  23 Abs.  1 Satz 3 GG als bloß innerstaatlich wirkende Verfassungsbestandsklausel ausgelegt würde. Die systematische Interpretation scheint insofern dafür zu sprechen, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG keine Anforderungen an die demokratische Legitimität der EU beziehungsweise der EG-Normsetzung stellt. Allerdings lassen sich auch systematische Gegenargumente finden. Pleonas­ tische Formulierungen finden sich im Grundgesetz auch an anderer Stelle. Der hier in Rede stehende Art. 20 Abs. 1 GG selbst befleißigt sich einer redundanten Diktion, wenn es heißt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein (…) Bundesstaat.“ Nach herrschender Ansicht legt sowohl der Staatsname als auch die nähere Bezeichnung als Bundesstaat die Bundesrepublik auf einen föderalen Aufbau fest61. Auch der im Rahmen der systematischen Interpretation aufgezeigte Wertungswiderspruch lässt sich auflösen, wenn man den Grundrechtsschutz gemäß Art.  23 Abs. 1 Satz 1 GG als den aktuell gültigen begreift und den nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 1 Abs. 1 GG als unaufgebbare Minimalgarantie auffasst. Die systematische Auslegung gibt damit keine abschließendbefriedigende Antwort auf die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung

58 In diesem Sinne etwa Breuer (Fn. 39), S. 421 ff.; Classen (Fn. 12), Rn. 7; Pernice (Fn. 27), Rn. 91; auch Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S. 1081 (1082). 59 So zutreffend Classen (Fn. 12), Rn. 51. 60 Zur Garantie der Menschenwürde durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ausführlich Hain, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd.  2, 5. Aufl. 2005, Art.  79 Rn.  59 ff., auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S.  245. Zum Unterschied zwischen dem Wesens- und dem Menschenwürdegehalt eines Grundrechts v. Komorowski, Rückübertragungsansprüche bei zweckverfehlten DDR-Enteignungen?, in: AöR 2001, S. 507 (557 f.). 61 In diesem Sinne etwa Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (B) Rn. 17.

Kap. 8: Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des GG

559

mit Art. 79 Abs. 3, 1 Abs. 1 GG Anforderungen an die Demokratie in der EU formuliert oder nicht.

3. Entstehungsgeschichte Die Motive zu Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG geben ihrerseits ebenfalls keinen Aufschluss darüber, ob diese Vorschrift in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG nur die innerstaatliche Demokratie vor substanziellen Eingriffen schützen oder ob sie darüber hinaus eine demokratischen Anforderungen genügende Struktur der EU sicherstellen soll. Allerdings fehlt es auch an Hinweisen darauf, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Einfügung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG von der in diesem Zusammenhang bis dahin ganz herrschenden Meinung hätte abrücken wollen. In Hinblick auf Art.  24 Abs.  1  GG alter Fassung, der bis zur Schaffung des Art.  23  GG neuer Fassung als verfassungsrechtliche Grundlage des europäischen Integrationsprozesses fungierte, waren sich Rechtsprechung und Lehre indes ganz überwiegend darin einig, dass alle hierauf gegründeten Hoheitsübertragungen jedenfalls durch die Ewigkeitsklausel begrenzt seien62. Die Ewigkeitsklausel wurde hierbei dahin interpretiert, dass sie nicht nur die staatlichen Grundstrukturen schütze, sondern in zumindest analoger Anwendung63 auch demokratische Strukturen im Rahmen zwischenstaatlicher Einrichtungen postuliere64. Dafür, dass diese bisher herrschende Auffassung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG aufgegeben werden sollte, gibt es, wie gesagt, keinerlei Indizien. Im Gegenteil wird man mit gutem Grund annehmen können, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG die bisher herrschende Auffassung zu Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 positivieren sollte65.

62 Dazu etwa Pieper, Quo vadis Grundgesetz – Gedanken zur Lage der Verfassung im europäischen Integrationsprozeß, in: Coen (Hrsg.), Festschrift für Bleckmann, 1993, S. 197 (207 f.) sowie Magiera (Fn. 18), S. 3 f. 63 So etwa Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Fiedler / ders. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Geck, 1989, S. 625 (671); auch Tomuschat, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Stand: September 2007, Bd. 5, Art. 24 Rn. 31. 64 Hierzu etwa Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 1069; vgl. auch schon Kruse, Strukturelle Kongruenz und Homogenität, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Festschrift für Kraus, 1954, S. 112 (125). 65 Vgl. auch Zippelius / Würtenberger (Fn. 36), 2005, § 55 I 2: „… stellt sich Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG (…) als Ausdruck und Bestätigung der ohnedies bestehenden Verfassungsbindung des Gesetzgebers bzw. der völkerrechtlichen Gewalt dar.“; ferner Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 4 Rn.  15; Kirchner / Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760 (762); König, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht – ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, in: ZaöRV 1994, S. 17 (21); Diehr, Die Bewahrung der demokra­ tischen und föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Integra­ tionsprozeß, 1998, S. 31; Kirchhof (Fn. 39), Rn. 52.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

4. Teleologie Dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2  GG nicht nur die Grundstrukturen der Bundesrepublik Deutschland schützt, sondern auch in Hinblick auf die EU normative Vorgaben statuiert, ergibt sich schlüssig erst aus der telelogischen Interpretation von Art.  79 Abs.  3  GG. Die Ewigkeitsklausel bringt zum Ausdruck, dass bestimmte Strukturen staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung der Verfügungsmacht der pouvoirs constitués ent­zogen sein sollen66. Diesen sind in dieser Hinsicht verfassungsrechtlich unübersteigbare Grenzen gesetzt. Infolgedessen würde es dem Sinn und Zweck des Art. 79 Abs.  3  GG widersprechen, könnten die pouvoirs constitués die vom pouvoir constituant verfügte Verpflichtung auf die fraglichen Strukturen dadurch leichthin umgehen, dass sie Hoheitsmacht auf die EU übertragen beziehungsweise im Rahmen der europäischen Organe handeln67. Denn schon ihrer fundamentalen Be­ deutung willen darf Art. 79 Abs. 3 GG nicht als ohne Weiteres überspielbar und damit tendenziell leer laufend interpretiert werden. Um seines eigenen telos willen bezieht sich die Struktursicherungsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG also nicht nur auf die innerstaatliche Verfassungsordnung, sondern – soweit und solange die Bundesrepublik Deutschland in diese eingebunden ist  – zugleich auch auf die Gemeinschaftsrechtsordnung68. Wenn daher die von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ausgehende Verweisungskette auch die Ewigkeitsklausel deklaratorisch in Bezug nimmt und diese einen Konnex zwischen EU einerseits sowie Demokratieprinzip andererseits etabliert, so kann dieser Normenzusammenhang angesichts der Zwecksetzung von Art. 79 Abs. 3 GG keinesfalls im Sinne einer rein binnenwirksamen Verfassungsbestandsklausel gedeutet werden69. Vielmehr gebietet es die Teleologie des Art. 79 Abs. 3 GG, die in Rede stehende Verweisungskette dahin zu interpretieren, dass diese Bestimmungen auch rechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimität der EU formulieren. Dabei gilt es insbesondere zu erinnern, dass es durchaus dem Sinn und Zweck einer grundgesetzlichen Bestimmung entsprechen kann, rechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimität der EU im Allgemeinen und an die der EG-Normsetzung im Besonderen zu normieren: Die Verfassungsorgane, die an dem europäischen Einigungsprozess gestaltend partizipieren, sind nur nach Maßgabe des Verfassungsrechts von sonstigen verfassungsrechtlichen Bindungen frei

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Dazu Hain (Fn. 71), Rn. 31 ff. So im Ergebnis auch Tomuschat (Fn.  74), Rn.  31; vgl. auch schon Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, in: Staat 1978, S. 27 (29). 68 Vgl. Pieper (Fn. 73), S. 208. In diese Richtung bereits Kruse (Fn. 75), S. 122 sowie Kraus, Das Erfordernis struktureller Kongruenz zwischen der Verfassung in der Europäischen Ver­ teidigungsgemeinschaft und dem Grundgesetz, in: Freiherr v. d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2 / Halbbd. 2, 1953, S. 545 (552 f.). 69 In diesem Sinne etwa Scholz (Fn. 24), Rn. 55

Kap. 8: Der Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des GG

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gestellt70; die EG-Normsetzungsakte können innerstaatlich nur in dem vom Verfassungsrecht gesetzten Rahmen Wirksamkeit erlangen, denn ihre Geltung für die Bundesrepublik Deutschland beruht staatsverfassungsrechtlich letztlich auf einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung71. Vor diesem Hintergrund ist es daher prinzipiell denkbar, dass das im Grundgesetz fixierte Staatsverfassungsrecht ein europäisches Verfassungsrecht entbindet. In teleologischer Perspektive offenbart sich nach allem, dass die in Art.  23 Abs. 1 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Verpflichtung der EU auf demokra­ tische Strukturen durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG tendenziell verstärkt wird. Existierte Art. 23 Abs. 1 GG nicht, der eine demokratiekompatible EU und eine hinreichende demokratische Legitimation der EG-Normsetzung fordert, so käme der nach der jetzigen Regelung lediglich für den Sonderfall wesentlicher Änderungen deklaratorisch in Bezug genommene Art. 79 Abs. 3 GG unmittelbar zum Tragen. Wie zur Zeit des Art. 24 GG alter Fassung72 würde der Art.  79 Abs.  3  GG die aktuell gültige Integrationsnorm unter Vorbehalt stellen und in der Folge ein europäisches Verfassungsrecht aus sich heraus entbinden: Art.  79 Abs.  3  GG würde selbst die Stabilisierungsfunktion wahrnehmen, die nunmehr vor allem Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG, aber ergänzend auch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG zukommt73.

III. Zusammenfassende Würdigung Resümierend kann festgehalten werden, dass Wortlaut und Systematik von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG Zweifel daran nähren, ob sich aus dieser Verweisungskette rechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimität der EU und somit auch der EG-Normsetzung ableiten. Die genetisch-normgeschichtliche, vor allem aber die teleolo­ gische Auslegung ergeben indes, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG ebenso wie Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG im Rahmen seines spezifischen Anwendungsbereichs die demokratische Legitimität der

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Vgl. Heyde (Fn. 12), Rn. 6 f. Vgl. bereits Friauf, Zur Problematik rechtstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, in: DVBl. 1964, S. 781 (785 f.); ferner Heyde (Fn. 12), Rn. 68. Dies muss im Übrigen auch anerkennen, wer der bundesverfassungsgerichtlichen Lehre folgt, wonach Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland vom Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes abhängen (BVerfGE 89, 155 [190]). Denn das Zustimmungsgesetz beruht seinerseits auf der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 2 (ebd., S. 191 f.). Hierzu auch Jarass (Fn. 18), Rn. 32 sowie Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 4 Rn. 27. 72 Dazu etwa Arndt / Reismann, Schriftsatz vom 14.  Juni 1953, in: Freiherr v. d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2 / Ergänzungsbd., 1958, S. 182 (219). 73 In diese Richtung Veil (Fn. 63), S. 76.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

EG-Normsetzung von Verfassungs wegen einfordert. Da weder die Wortlautinterpretation noch die systematische Auslegung zwingend sind, ist der normgeschichtlichen und teleologischen Argumentation zu folgen. Das Grundgesetz stellt somit in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 wie auch in seinem Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Anforderungen an die demokratische Legitimation der EU-Hoheitsgewalt und damit auch an die EG-Normsetzung, indem es die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am europäischen Integrationsprozess unter einen entsprechenden Demokratievorbehalt stellt74.

Kapitel 9

I

Das Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

Nachdem die EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes lokalisiert sind, kann nunmehr eingehend untersucht werden, wie sich das deutsche Verfassungsrecht zu dem ersten der drei zentralen Probleme verhält, die sich im Hinblick auf das europäische Demokratieprojekt stellen. Vermögen nur die vom deutschen Staatsvolk vermittelten Legitimationsbeiträge das EU-spezifische Demokratiepostulat des Grundgesetzes zu erfüllen oder lässt dieses auch die vom – gegebenenfalls dezentrierten  – Unions-demos ausgehende Legitimation gelten? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich nur durch sorgsame Interpretation des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG sowie des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG entwickeln. Dazu soll zunächst ein knapper Überblick über die in der Literatur vorherrschenden Interpretationsansätze gegeben werden, bevor dann sukzessive das relevante Normmaterial ausgedeutet wird. Dabei wird sich letztlich zeigen, dass auch aus der Sicht des positiven Verfassungsrechts die eigentliche Schwierigkeit darin liegt, die Struktur der Volkssouveränität zutreffend zu erfassen. Bei der normwissenschaftlichen Konkretisierung des in diesem Zusammenhang zentralen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG wird – methodisch vermittelt1 – auf die wirklichkeitswissenschaftlich erzielten Ergebnisse des staatstheoretischen Teils zurückzugreifen sein.

74 So wohl auch Scholz (Fn. 24), Rn. 55, wenn er schreibt, dass Abs. 1 Satz 1 von Art. 23 GG in Ansehung seines Abs. 3 Satz 1 „eine mehr klarstellende als konstituierende Regelung“ darstelle. 1 Zu diesem Erfordernis Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 34; siehe auch Schnapp, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 5.

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

563

I. Interpretationsansätze in der Literatur Bei den in Kapitel 4 dargestellten Modellen demokratischer Legitimation2 handelt es sich, wie erwähnt, keineswegs um rein politikwissenschaftliche, sondern um auch von der Rechtswissenschaft vertretene Konzeptionen. Die deutschen Staats- und Europarechtslehrer, die eines dieser Modelle propagieren, gehen dabei ausdrücklich oder stillschweigend davon aus, dass gerade die von ihnen verfochtene Vorstellung den grundgesetzlichen Vorgaben Rechnung trägt. Entsprechend den drei dargestellten Legitimationsmodellen lassen sich daher auch drei Deutungsmuster in Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 GG unterscheiden, die denn auch voneinander sehr verschiedene Antworten auf die Frage nach der grundgesetzlichen Zulässigkeit originär europäischer Demokratiestrukturen geben. Die Pluralität der vertretenen Interpretationsansätze begreift sich vor dem Hintergrund des in Kapitel 3 referierten Forschungsstandes3: Die allgemeine staatsrechtliche Verunsicherung in Bezug auf die grundgesetzlichen Anforderungen an die europäische Integration führt dazu, dass Art. 23 Abs. 1 GG keine einheitliche Interpretation erfährt. Die mit der letzten integrationsrechtswissenschaftlichen Welle hochgespülte Meinungsgruppe4 vertritt die Auffassung, dass mit Art. 23 Abs. 1 GG ausschließlich eine im Wesentlichen von den Mitgliedstaaten getragene Willensbildung vereinbar, eine originär europäische Legitimationsstruktur hingegen grundgesetzwidrig sei5. Sie beruft sich dabei vor allem auf Art.  23 Abs.  1 Satz  3  GG. Die Volkssouveränität, die gemäß Art.  23 Abs.  1 Satz  3  GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 2 Satz 1 GG auch im Prozess der europäischen Integration zur unaufgebbaren Essentiale des Grundgesetzes gehöre, erfordere es, dass das demokratische Letztentscheidungsrecht des deutschen Volks in Bezug auf jeden europäischen Hoheitsakt gewahrt bleibe6. Eine ununterbrochene, ununterbrechbare Legitimationskette müsse das deutsche Staatsvolk mit allen Trägern hoheitlicher Gewalt verbinden, also auch mit den EU-Organen7. Selbstredend könnten zwar EU-Hoheitsakte nicht allein und ausschließlich vom deutschen Volk ausgehen. Allerdings dürfe es von Verfassungs wegen keinen einzigen EU-Hoheitsakt geben, der nicht zumindest auch vom Willen des deutschen Volks sanktio-



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Siehe oben Kapitel 4 = S. 168. Siehe oben Kapitel 3 = S. 155. 4 Nettesheim, Demokratisierung der EU und Europäisierung der Demokratietheorie, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 143 (176) spricht insofern von der „Hard-Core“-Fraktion. 5 Prototypisch Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 55. 6 Stöcker, Die Unvereinbarkeit der Währungsunion mit der Selbstbestimmungsgarantie in Art.  1 II  GG, in: Staat 1992, S.  495 (515 f.); Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 4 Rn. 35. 7 Huber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrationsprozeß, in: StWiss 1992, S. 349 (360 f.).

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

niert ist8. Ein qualitatives Umschlagen von deutscher Volkssouveränität in eine vom Grundgesetz her nicht mehr gedeckte europäische Volkssouveränität sei dann zu gewärtigen, wenn das Europäische Parlament in wichtigen Politikbereichen der EU gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten den demokratischen Prozess positiv gestalten könne9. Allenfalls ein negatives Vetorecht könne dem Euro­ päischen Parlament aus der Sicht des Grundgesetzes im Verlauf des Integrationsprozesses zuwachsen10. Diesem Interpretationsansatz11 nach wäre also nur das Modell mittelbarer Legitimation mit Art. 23 Abs. 1 GG vereinbar. Der Hauptvertreter der Theorie vom Zweckverband funktionaler Integration12 hat sich zwar niemals eingehender mit den demokratischen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG beziehungsweise – genauer – des Art. 24 Abs. 1 GG alter Fassung in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG auseinandergesetzt. Doch hat er zu verstehen geben, dass das Verfassungsrecht es in Hinblick auf die demokratische Legitimität der EU genügen lasse, wenn ein hinreichend bestimmtes, parlamentarisch beschlossenes Zustimmungsgesetz zu den Integrationsverträgen existiere und im Übrigen die in den überstaatlichen Gremien tätigen nationalen Staatsvertreter der Kontrolle durch ihre Heimatparlamente unterworfen seien13. Ansonsten erweise sich das Grundgesetz als durchaus offen für originär europäische Demokratiestrukturen14. Insofern wird freilich nicht etwa an eine Stärkung des Europäischen Parlaments gedacht, das als ungeeignet angesehen wird, demokratische Legitimation zu vermitteln15. Vielmehr herrscht aus Sicht der Zweckverbandstheorie die Auffassung vor, dass die grundgesetzlichen Demokratievorstellungen nicht zwangsläufig und ausschließlich auf überlieferte Gestaltungsformen nationaler Verfassungen fixiert seien; schließlich gehe es um die demokratische Legitimierung einer ganz neuartigen Entität zu supranationaler Wahrnehmung bislang staatlicher Aufgaben16. Die aufgrund der Zunahme von Mehrheitsentscheidungen auch aus Sicht der Zweckverbandstheorie verfassungs 8 Vgl. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 125 (142): „Allerdings bleibt festzuhalten, daß die mitgliedstaatlichen Völker jeweils nur ihre eigene Staatsgewalt legitimieren, werden diese nun in den Grenzen des Staates oder darüber hinaus supranational mitwirkend tätig. Aus nationalstaatlicher Perspektive gehört dazu die These, daß jede im Staat ausgeübte Hoheitsgewalt staatlich vermittelt und damit durch das Staatsvolk legitimiert zu sein hat.“ 9 Huber (Fn. 7), S. 361. 10 Huber, Maastricht – ein Staatsstreich?, 1993, S. 41 f. 11 Zu seiner Rekonstruktion auch Weiler, The State „über alles“, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 2, 1995, S. 1651 (1663). 12 Nämlich Hans Peter Ipsen (zu ihm Quaritsch, Hans Peter Ipsen zum Gedenken, in: AöR 1998, S. 1 ff.). Zur Zweckverbandstheorie siehe auch schon oben Kapitel 4 II. = S. 173 sowie vertiefend unten Kapitel 12 = S. 1008. 13 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, Rn. 6/47. 14 Ipsen (Fn. 13), Rn. 54/101 ff. 15 Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 (435 ff.). 16 Ipsen (Fn. 15), S. 434 f.

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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rechtlich prekär werdende mittelbare Ableitung demokratischer Legitimation17 soll durch Expertokratie18 und Gemeinwohlorientiertheit, durch so bezeichnete „legitimierende Demokratie-Elemente eigenen Maßes“19 kompensiert werden. Die wohl noch überwiegende Meinung20 geht schließlich davon aus, dass das Grundgesetz eigenständige demokratische Strukturen auf EU-Ebene zulässt und diese bei fortschreitender Integration auch normativ einfordert21. Diese Ansicht, die sich vor allem auf den Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG stützt, hält ins­ besondere eine mit der Integration Schritt haltende Stärkung des Europäischen Parlaments für geboten. Denn die von den nationalen Parlamenten herrührenden sogenannten mittelbaren Legitimationsbeiträge würden zusehends schwächer, sodass das daraus erwachsende Legitimationsdefizit durch eine verstärkte Mit­ wirkung des Europäischen Parlaments kompensiert werden müsse22. Nach noch herrschender Meinung ist auf Dauer nur mehr ein auf doppelter Legitimations­basis gründendes Demokratiemodell mit dem Grundgesetz kompatibel.

II. Art. 23 Abs. 1 GG und das Subjekt der europäischen Demokratie: Ein erster interpretatorischer Zugriff Ob originär europäische Demokratiestrukturen zur Erfüllung der europaspezifischen Demokratieanforderungen des Grundgesetzes beizutragen vermögen, hat die deutsche Rechtsdoktrin nach allem noch nicht einmütig entschieden. Umso wichtiger erscheint eine methodisch konzise Konkretisierung des facettenreichen Art. 23 Abs. 1 GG. In diesem Zusammenhang haben die Überlegungen zum Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes ergeben, dass sowohl Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG als auch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG in den Blick zu nehmen sind23. Vereinseitigungen nach der einen oder anderen Regelung hin, wie sie bei der Darstellung der bislang vertretenen Interpretationsansätze sichtbar geworden sind24, verbie

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Vgl. Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, in: EuR 1994, S. 1 (13). Dazu allgemein Denninger, Demokratieprinzip und Verfassung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 129 (135). 19 So Ipsen, Die europäische Integration in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Baur / Müller-Graff / Zuleeg (Hrsg.), Festschrift für Börner, 1992, S. 163 (172). 20 Nettesheim (Fn. 4), S. 177 spricht von der moderaten Fraktion, zu der er auch das BVerfG rechnet. 21 Prototypisch: Scholz, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd.  3, Stand: Juni 2007, Art. 23 Rn. 57 f. 22 Dies entspricht auch der Maastricht-Rechtsprechung des BVerfG (E 89, 155 [184]). Vgl. fernerhin Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVBl. 2000, S. 1 (9). 23 Siehe oben Kapitel 8 I. = S. 546 und Kapitel 8 II. = S. 553. 24 Siehe soeben Kapitel 9 I. = S. 563.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

ten sich. Schließlich enthalten beide Regelungen für die EU aktuell gültige grund­ gesetzliche Demokratienormen. Nun wird sich im Folgenden zeigen, dass beide europaspezifischen Demokratienormen an sich den interpretatorischen Schluss nahelegen, dass die grund­ gesetzlichen Demokratieanforderungen nicht allein durch nationaldemokratische, sondern auch durch originär europäische Legitimationsbeiträge erfüllt werden können25. Allerdings stehen diese ersten normwissenschaftlichen Konkretisierungen unter dem Vorbehalt, dass sich aus Art.  79 Abs.  3  GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG keine veränderungsfeste Verbürgung von Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur ableitet26. Im Ergebnis führt der erste interpretatorische Zugriff auf Art. 23 Abs. 1 GG folglich zu einer normwissenschaftlichen Problemeinkreisung: Wer als Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie in Betracht kommt, hängt letztendlich vom Regelungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG ab.

1. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG spricht dafür, dass das GG originär europäische Demokratiestrukturen keineswegs ausschließen will. Denn der Relativsatz, der die Verpflichtung auf demokratische Grundsätze enthält, ist, wie bereits dargelegt27, unmittelbar auf die EU bezogen. Es geht insofern dem Wortlaut nach um eine genuin europäische, EU-spezifische Demokratiestruktur. Eine Beschränkung auf vom deutschen Staatsvolk hergeleitete Legitimationsbeiträge erscheint insofern vom Wortlaut her eher fernliegend28. Dieses Ergebnis der Wortlautinterpretation müsste nun freilich gegebenenfalls unter systematischen Gesichtspunkten korrigiert werden, wenn gemäß Art.  79 Abs. 3 GG in Verbindung mit 20 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG die demokratiezentrale Volkssouveränität in ihrer Bedeutungsvariante als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur zum veränderungsfesten Kernbestand des Grundgesetzes rechnete. Denn Art.  79 Abs.  3  GG in Verbindung mit Art.  20 Abs.  1 und 2  GG gilt von seinem Sinn und Zweck her auch für die EU, sofern denn die Bundesrepublik Deutschland durch ihre pouvoirs constitués an der EU mitwirkt und mitwirken soll29. Gehörte nun die als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur zu begreifende Volkssouveränität zum unverbrüchlichen Kernbestand des Grund

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Siehe unten Kapitel 9 II. 1.= S. 566 und Kapitel 9 II. 2. = S. 568. Siehe unten Kapitel 9 II. 3. = S. 570. 27 Siehe oben Kapitel 8 I. = S. 546. 28 In diese Richtung wohl auch Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 52. 29 Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 24 Rn. 50; so auch schon Erler, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, in: VVDStRL 1960, S. 7 (40).

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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gesetzes, so wäre es selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber unmöglich ge­wesen, durch die Einfügung von Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG originär europäische Demokratieformen als Ersatz oder auch nur als demokratisch wirksame Ergänzung der nationalstaatlich vermittelten Legitimation vorzusehen. Unter diesen Umständen müsste Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungskonform dahin interpretiert werden, dass unter der Herrschaft des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland nur an einer solchen EU mitwirken darf, in der die politische Willensbildung im Wesentlichen von den Mitgliedstaaten getragen und mithin die nationale Volkssouveränität auch im überstaatlichen Bereich gewahrt wird30. Aus Gründen der darstellerischen Klarheit und ihrer besonderen Bedeutung wegen soll die komplexe Frage nach der normativen Reichweite des Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG an dieser Stelle freilich noch unerörtert bleiben31. Die Entstehungsgeschichte des Art. 23 Abs. 1 GG neuer Fassung bestätigt ihrerseits das Ergebnis der Wortlautinterpretation, wonach bei der Verpflichtung der EU auf eine demokratische Grundstruktur durchaus an eine genuin europäische Legitimation gedacht werden kann. So heißt es im Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes in Art. 23, 24, 28, 88, 115e GG, dass beim derzeitigen Stand der Integration die mit dem Maastrichter Vertrag erreichte Stärkung des Europäischen Parlaments der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 formulierten „Verpflichtung auf demokratische Grundsätze“ genüge, dass aber weitergehende Integrationsschritte „entsprechende Änderungen der institutionellen Rahmenbedingungen in der EU verlangen“ könnten32. Insofern geht der Gesetzesentwurf von einem rechtlichen Konnex zwischen der Demokratieverpflichtung und der Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments aus. Das Europäische Parlament aber ist, wie bereits angesprochen33 und an späterer Stelle noch zu vertiefen34, nur im Rahmen originär europäischer Demokratiestrukturen als legitimationsfähig anzusehen. Denn als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur ließe sich die Volkssouveränität nur dann über das Europäische Parlament ins Werk setzen, wenn dessen Beschlüsse notwendig voraussetzten, dass zumindest die Mehrheit der einem mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingent angehörenden Parlamentarier ihm zugestimmt haben und die mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente überdies national homogen wären. Beides ist freilich derzeit und war spätestens seit dem Maastricht-Vertrag, in Hinblick auf dessen Ratifikation der Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG grundgesetzlich verankert wurde35, nicht mehr der Fall. Vor diesem Hintergrund legt die Entstehungsgeschichte den Rückschluss nahe, dass der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG formulierten Verpflichtung der EU auf demokratische

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In diese Richtung Huber (Fn. 6), § 4 Rn. 35 ff. Dazu eingehend unten Kapitel 9 III. = S. 571. 32 BT-Drs. 12/3338, S. 6. 33 Siehe oben Kapitel 4 I. = S. 170. 34 Siehe unten Kapitel 11 I. 2. b) = S. 879. 35 Vgl. Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 23 Rn. 2.

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Grundsätze auch im Rahmen originär europäischer Demokratiestrukturen Rechnung getragen werden kann. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG steht demnach originär euro­ päischen Demokratiestrukturen nicht entgegen.

2. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG Der Regelungsgehalt dieser Verweisungskette ist nicht darauf beschränkt, lediglich nach innen die demokratische Identität der grundgesetzlichen Ordnung im Prozess des europäischen Einigungsprozesses zu wahren; darüber hinaus soll diese Verweisungskette sicherstellen, dass die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und vertraglichen Fortentwicklung der EU nur mitwirkt, sofern diese demokratischen Grundsätzen genügt36. Auch in Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG stellt sich daher die Frage, ob diese Bestimmungen lediglich eine von den nationalen Staatsvölkern hergeleitete demokratische Legitimation gelten lassen oder ob hiernach auch originär europäische Legitimationsstrukturen mit dem Grundgesetz kompatibel sind. Der Wortlaut als äußerste Auslegungsgrenzen ziehendes Interpretationselement erlaubt keine eindeutigen Schlüsse. Sofern Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG auf ihn verweist, lässt sich aus Art. 20 Abs. 1 GG zwar eine EU-spezifische Demokratienorm wortlautkonform dergestalt ableiten, dass sich die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer Staat von Verfassungs wegen nur dann in den europäischen Hoheitsverband einbinden lassen darf, wenn dieser demokratische Grundstrukturen aufweist37. Freilich liefert dieser Interpretationsansatz keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass nur ein nationaldemokratisches Legitimationsmodell, nicht aber auch originär europäische Demokratiestrukturen mit dem Grundgesetz vereinbar wären. Bei rein grammatischer Interpretation besagt fernerhin auch Art.  23 Abs.  1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 2 GG nicht mehr, als dass die demokratiezentrale Volkssouveränität nicht nur für die innerstaatliche Demokratie von Belang ist, sondern auch die EU der Volkssouveränität Rechnung tragen muss. Über die konkrete strukturelle Ausformung der Volkssouveränität werden keine Worte verloren. Insbesondere fehlen Hinweise darauf, dass aus der Sicht des Grundgesetzes nur solche Legitimationsformen mit dem EU-spezifischen Prinzip der Volkssouveränität kompatibel sind, die von den nationalen Staatsvölkern, im konkreten Fall vom deutschen Volk, ausgehen und auf sie zurückführen. Dass es im Rahmen des Art. 20 Abs. 2 GG an einer präziseren Umschreibung des demokratischen Legitimationssubjekts fehlt, ist sogar eher ein Indiz dafür, dass originär

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Siehe oben Kapitel 8 II.= S. 553. Siehe oben Kapitel 8 III. = S. 561.

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europäische Demokratiestrukturen, die auf einem europäischen demos aufbauen, grundgesetzlich statthaft sind. In systematischer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass sich der Regelungsgehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG teilweise mit dem des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG überschneidet. Soweit Kongruenz besteht, ist das Gebot der Widerspruchsfreiheit zu wahren38. Dies streitet dafür, Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Anlehnung an das für Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG entwickelte Ergebnis39 dahingehend auszulegen, dass aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht bloß ein mittelbar an die nationalen Staatsvölker anknüpfendes Demokratiemodell für die EU in Betracht kommt, sondern auch jedes andere, sofern es nur ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau generiert. Die systematische Interpretation des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG bestätigt somit das Ergebnis der Wortlautauslegung. Allerdings steht dieses systematische Argument unter dem Vorbehalt, dass Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG tatsächlich jenes offene Demokratieverständnis impliziert, das seine normtextgestützte Auslegung nahelegt. Schließlich wurde bereits darauf hingewiesen, dass die von Wortlaut und Geschichte des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG suggerierte Auslegung revidiert werden müsste, wenn die demokratiezentrale Volkssouveränität gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 GG zwingend als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur auszulegen wäre und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG insofern auch von der Ewigkeitsklausel gemäß Art. 79 Abs. 3 GG erfasst würde40. Wäre die Konzeption von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur veränderungsfest und hätte diese Konzeption füglich auch nicht durch den verfassungsändernden Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG modifiziert werden können, so müsste der vom Wortlaut her offene Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungskonform dahin reduziert werden, dass er nur die mittelbar vom deutschen Staatsvolk ausgehenden Legitimationszusammenhänge für demokratisch im Sinne des Grundgesetzes erachtet. In diesem Fall freilich wäre auch der mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG teilidentische Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG im Sinne des Modells mittelbarer Legitimation zu interpretieren, zumal er seinerseits ausdrücklich auf Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verweist. Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG bleibt abschließend anzumerken, dass die Motive, wie bereits erwähnt41, schon keine Auskunft darüber geben, ob Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG überhaupt Anforderungen an die demokratische Struktur der EU stellt. Insofern ergibt sich aus den Motiven erst recht nichts in Hinblick auf die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG eine an 38 Schneider / Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006, S. 90 ff.; auch Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, in: Verw. 2000, S. 241 (275 f.). 39 Dazu eben Kapitel 9 II. 1. = S. 566. 40 Siehe oben Kapitel 9 II. = S. 565. 41 Siehe oben Kapitel 8 II. 3. = S. 559.

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dere als nationaldemokratische Legitimation der EU zulässt. Allerdings haben in den Parlamentsdebatten, die der Grundgesetzänderung in Art. 23 GG vorangingen, die führenden Vertreter aller im Bundestag vertretenen Fraktionen die Demokratisierung der EU durch Stärkung des Europäischen Parlaments gefordert42 und damit einer originär europäischen Legitimation das Wort geredet. Teilweise geschah dies unter ausdrücklicher Inbezugnahme des Art. 23 GG43. Insofern widerstreitet die Entstehungsgeschichte der Annahme, Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG stehe einer originär europäischen Legitimation der EU entgegen.

3. Der Regelungsgehalt von Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG als normativer Kern des Subjektsproblems Im ersten interpretatorischen Zugriff streiten die beiden europaspezifischen Demokratienormen, die in Art.  23 Abs.  1  GG eingelassen sind, ganz überwiegend dafür, dass aus grundgesetzlicher Sicht auch das  – zentrierte oder dezen­ trierte  – Unions­volk als Quell demokratischer Legitimation fungieren kann. Allerdings steht und fällt diese Normkonkretisierung mit der Annahme, dass die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verbürgte Volkssouveränität nicht zwingend im Sinne einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur interpretiert werden muss44. Schließlich erstreckt sich Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG seinem Anwendungsbereich nach auch auf die Fälle, in denen grundgesetzlich verfasste Organe Hoheitsrechte auf die EU übertragen oder an dieser mitwirken45. Folglich könnte der nachträglich ins Grundgesetz eingefügte Art. 23 Abs. 1 nichtig sein, weil und sofern er gegen Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verstößt46. Müsste daher die in Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verankerte Volkssouveränität verfassungsnotwendig im Sinne einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur gedeutet werden, wäre  – um seine Nichtigkeit zu verhindern – Art. 23 Abs. 1 GG geltungserhaltend dahin zu interpretieren47, 42 Vgl. Abg. Dr. Kinkel (BT-Prot. 12/110, S. 9319); Abg. Wieczorek-Zeul (BT-Prot. 12/126, S. 10815), Abg. Dr. Modrow (BT-Prot. 12/126, S. 10820); Abg. Dr. Hellwig (BT-Prot. 12/126, S. 10874); Abg. Dr. Schily (BT.Prot. 12/126, S. 10875). 43 Vgl. Abg. Wieczorek-Zeul (BT-Prot. 12/126, S. 10815); Abg. Dr. Modrow (BT-Prot. 12/126, S. 10820). 44 Vernachlässigt wird der Zusammenhang mit Art. 79 Abs. 3 GG von Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der EU, in: EuR 1999, S. 133 ff. 45 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 55 I 1 c). 46 Hierzu auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 271. Zum verfassungswidrigen Verfassungsrecht vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 79 III Rn. 14; Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 22 Rn. 26. 47 Bryde, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  3, 4./5. Aufl. 2003, Art.  79 Rn.  29 nennt dies die „Art.  79 III konforme Auslegung“ verfassungsändernder Gesetze.

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dass vom zentrierten oder dezentrierten Unionsvolk keine grundgesetzlich relevanten Legitimationsbeiträge ausgehen. Damit lässt sich die Frage nach dem Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie dahingehend einkreisen, dass ihre Beantwortung letztlich durch den Regelungsgehalt von Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG präjudiziert wird.

III. Der Schutzumfang des Art. 79 Abs. 3 GG als Vorfrage Die Auslegung des Art. 23 Abs. 1 GG hat ergeben, dass sich letztlich erst aus Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG entwickeln lässt, wer als Subjekt der grundgesetzlich postulierten europäischen Demokratie in Betracht kommt48. Die Suche nach dem Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie führt insofern mitten ins Herz des Grundgesetzes, nämlich zu seiner Ewigkeitsklausel sowie seinen fundamentalen Demokratie­normen. Um zu klären, ob gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 Satz  1  GG nur die vom deutschen Staatsvolk vermittelte Legitimation europäischer Hoheitsakte interessiert oder auch originär europäischen Demokratiestrukturen verfassungsrechtliche Relevanz zukommt, muss zunächst näher auf das Verhältnis der Ewigkeitsklausel zu den durch sie unter Schutz gestellten Demokratieverbürgungen eingegangen werden. Gleichsam als Vorfrage ist zu prüfen, ob Art. 79 Abs. 3 GG das durch Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG Verbürgte vollumfänglich schützt oder ob der verfassungsändernde Gesetzgeber unterhalb der Schwelle des Art.  79 Abs.  3  GG Modifikationen an den Gewährleistungen von Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG vornehmen darf. Der Schutzumfang des Art. 79 Abs. 3 GG ist nämlich determinierend für die weitere juristische Analyse: Schützt Art. 79 Abs. 3 GG die in Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz  1  GG verankerte demokratiezentrale Volkssouveränität vollumfänglich, so entscheidet bereits die Konkretisierung von Art.  20 Abs.  1, Abs.  2 Satz  1  GG darüber, ob ein hiernach womöglich ausschließlich nationaldemokratisch-staatsherrschaftliches Verständnis von Volkssouveränität veränderungsfest ist. Denn wenn die Ewigkeitsklausel Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 vollumfänglich schützt und die dort verankerte Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur zu deuten ist, verletzt jedes Abweichen hiervon automatisch die Ewigkeitsgarantie. Lassen sich die von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Demokratie­ normen indes unter besonderen Umständen sachgerecht modifizieren, so muss die Frage danach, ob die allfällige Konkretisierung der demokratiezentralen Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur gemäß Art.  79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zum veränderungsfesten Bestand des Grundgesetzes gehört, zweischrittig beantwortet werden. Zunächst wäre zu untersuchen, ob Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG Volkssouveränität als national

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Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571.

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demokratische Staatsherrschaftsstruktur normiert. Bejahendenfalls wäre zu unter­ suchen, ob dieses in den – relativierten – Geltungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG fällt oder ob – etwa wegen der Eigenart des europäischen Integrationsprozesses – durch Verfassungsänderung die grundgesetzlich an sich als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur ausgeprägte Volkssouveränität bereichsspezifisch modifiziert werden kann, ohne dass dadurch verfassungswidriges Verfassungsrecht49 begründet wird. Die Frage danach, ob Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG vollumfänglich durch Art.  79 Abs.  3  GG geschützt wird, erweist sich damit als eine zwingend zu erörternde Vorfrage. Erst wenn sie geklärt ist, lässt sich im Weiteren dogmatisch schlüssig entwickeln, inwieweit sich der grundgesetzlichen Volkssouveränität veränderungsfeste Vorgaben im Hinblick auf das Subjekt der grundgesetzlich ge­ forderten europäischen Demokratie entnehmen lassen.

1. Die Umstrittenheit des Schutzumfangs von Art. 79 Abs. 3 GG Art. 79 Abs. 3 GG, für den es nur wenige verfassungsrechtliche Vorbilder gibt50, knüpft inhaltlich an die zur Zeit der Weimarer Republik überaus kontrovers geführte Diskussion an, ob in der Demokratie der verfassungsändernde Gesetzgeber durch die Verfassung materiellrechtlich gebunden werden kann51. Mit Art. 79 Abs. 3 GG hat der Grundgesetzgeber diese zentrale Streitfrage positivrechtlich im Sinne der damaligen Mindermeinung entschieden. Vor diesem verfassungsgeschichtlichen Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass sich die Staatsrechtswissenschaft noch heutzutage schwertut mit dieser ebenso ungewöhnlichen wie problematischen Norm. Ihr Schutzumfang ist in der Folge umstritten geblieben. Eine vermeintlich restriktive Auslegung steht dem angeblich extensiven Deutungsmuster gegenüber52. Allerdings tragen diese interpretativen Ansätze samt ihrer jeweiligen Bezeichnung eher zur Verwirrung als zu einer Verklarung des normativen Gehalts der Ewigkeitsgarantie bei. Die angeblich restriktive Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG hält zwar einerseits nicht alles, was in Art. 1 und 20 GG steht, für unantastbar, suggeriert jedoch andererseits, dass Art. 79 Abs. 3 GG zum Teil mehr schützt, als die in Bezug genommenen Rechts

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Zu dieser Kategorie v. Münch, Staatsrecht I. 6. Aufl. 2000, Rn. 99 ff. Der wohl älteste Vorläufer der Ewigkeitsklausel findet sich in Art.  112 Abs.  1 Satz  3 der Norwegischen Verf. von 1814. Danach dürfen Verfassungsänderungen „keineswegs den Grundsätzen dieser Verfassung widersprechen, sondern lediglich Modifikationen in einzelnen Bestimmungen betreffen, die nicht den Geist dieser Verfassung verändern …“ Dazu Evers, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 8, Stand: September 2007, Art. 79 Abs. 3 Rn. 23. 51 Ridder, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art. 79 Rn. 6 ff. sowie Bryde (Fn. 47), Rn. 24. 52 Vgl. Bryde (Fn. 47), Rn. 28.

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sätze erkennen lassen53. Das vermeintlich extensive Deutungsmuster will auf der einen Seite die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Prinzipien vollumfänglich garantiert wissen, betont auf der anderen Seite indes, dass nur die von Art.  79 Abs. 3 GG ausdrücklich in Bezug genommenen Grundsätze geschützt sind54. Eine sorgsame normwissenschaftliche Analyse des Art. 79 Abs. 3 GG erweist sich vor diesem Hintergrund als unumgänglich.

2. Wortlaut Fasst man den Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG in Hinblick auf die hier inter­ essierende Thematik zusammen, so besagt diese Verfassungsnorm, dass eine Änderung des Grundgesetzes, durch die der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG niedergelegte Grundsatz der Volkssouveränität berührt wird, verfassungsrechtlich unzulässig ist. Die vom Bundesverfassungsgericht55 angeführte Meinungsgruppe interpretiert dies dahingehend, dass die Volkssouveränität nur grundsätzlich nicht berührt werden dürfe, dass aber in Einzelfällen eine sachgerechte Modifikation ausnahmsweise in Betracht komme56. Insofern verstieße es beispielsweise nicht notwendig gegen Art. 79 Abs. 3 GG, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG Demokratieanforderungen formuliert hätte, die die durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Ausformung von Volkssouveränität modifiziert57. Denn Art. 79 Abs. 3 GG garantiert Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nach dieser Auffassung nicht vollumfänglich58. Diese restriktive Interpretation des Art. 79 Abs. 3 GG ist mit seinem Wortlaut indes schwerlich zu vereinbaren. Denn immerhin erklärt Art. 79 Abs. 3 GG eine Grundgesetzänderung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber schon dann für unzulässig, wenn die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze auch nur be

53 Prototypisch insofern Dreier (Fn.  46), der sich einerseits für eine eher restriktive Aus­ legung ausspricht (Rn. 14), andererseits aber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insgesamt und ohne Abstriche der Ewigkeitsklausel subsumiert (Rn. 53). 54 Prototypisch Murswiek, Zu den Grenzen der Abänderbarkeit von Grundrechten, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 28, der zwar der extensiven Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG anhängt (Rn. 32 ff.), zugleich aber deutlich macht, weshalb die Unantastbarkeitsklausel das Verhältnismäßigkeitsprinzip keinesfalls zur Gänze und differenzierungslos dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht (Rn. 100 ff.). 55 Vgl. grundlegend E 30, 1 (24); ferner E 94, 12 (34), 109, 279 (310). 56 Zippelius / Würtenberger (Fn. 45), § 6 III 2 d). Dagegen – nachgerade klassisch – Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1970, in JZ 1971, S. 145 (149 f.). 57 In diesem Sinne etwa Rubel, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Bd.  2, 2002, Art.  79 Rn. 37 f. 58 Eindeutig in diesem Sinn Badura, Verfassungsänderung, -wandel, -gewohnheitsrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 160 Rn. 26; so letztlich auch Huber (Fn. 7), S. 22 ff.

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rührt werden59. Es bedarf also dem Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG nach nicht einmal einer besonders tiefgreifenden Verletzung oder eines schwereren Eingriffs, um die dieser Vorschrift inhärente Änderungssperre zu aktivieren60. Vielmehr genügt es bereits, wenn die in Art. 20 GG normierten Grundsätze tangiert sind. Insofern deutet der Wortlaut darauf hin, dass das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG festgeschriebene Prinzip der Volkssouveränität besonders intensiv geschützt ist, und dies bedeutet: vollumfänglich61. Dass sachgerechte Modifikationen der durch Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommenen Grundsätze zulässig sein sollen, widerstreitet dem Wortlaut noch unter einem weiteren Gesichtspunkt. Schließlich heißt es in Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich, dass Änderungen, durch die die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig sind. Wie süffisant bemerkt wurde62, genügt schon ein flüchtiger Blick in den Duden, um festzustellen, dass die vermeintlich zulässigen Modifikationen semantisch nichts anderes als Änderungen bedeuten. Und just diese sind dem klaren Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG nach verboten. Für eine abweichende Auslegung ließe sich daher allenfalls ins Feld führen, dass in Art.  79 Abs.  3  GG lediglich von den zu schützenden Grundsätzen des Art.  20  GG die Rede ist63. Im Ergebnis vermag aber auch dieser Hinweis nicht zu überzeugen. Denn mit dieser Terminologie wird lediglich berücksichtigt, dass in Art.  20  GG konkretisierungsbedürftige Staatsfundamentalnormen prinzipienhaft formuliert wurden64. Diese Wortwahl bedeutet aber nicht, dass den grund­ gesetzlichen Strukturentscheidungen im Rahmen des Art.  79 Abs.  3  GG ein nur mehr eingeschränkt-bedingter, eben bloß grundsätzlicher Schutz eingeräumt wäre65. Art. 79 Abs. 3 verbietet seinem Wortlaut nach nicht nur die grundsätzliche Preisgabe der in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze, sondern eine Veränderung dieser Grundsätze schlechthin. Hätte der Grundgesetzgeber einen lediglich grundsätzlichen Schutz im Auge gehabt, so hätte er dies auch so zum Ausdruck gebracht. Bei einem anderen in Art. 79 Abs. 3 GG für änderungsfest erklärten Verfassungsgut, der Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung, hat er den nur prinzipiellen, grundsätzlichen, aber eben nicht vollumfänglichen Schutz denn auch expressis verbis zum Ausdruck gebracht66. Hinzu tritt, dass Art. 20 Abs. 1 GG schon derart prinzipienhaft formuliert ist, dass es nur schwer vorstellbar ist, dass dort neben essentiellen Grundsätzen auch

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Ebenso Evers (Fn. 50), Rn. 150. In diese Richtung auch Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, 1996, S. 58. 61 Murswiek (Fn. 54), Rn. 36; Denninger, Staatsrecht 2, 1979, S. 84. 62 Ridder (Fn. 51), 36. 63 In diesem Sinne Rubel (Fn. 57), Rn. 27. 64 So auch Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 79 Rn. 7. 65 So aber beispielsweise Rux, Landes-Staatsangehörigkeit und politische Willensbildung, in: ZAR 2000, S. 177 (178). 66 Siehe hierzu Evers (Fn. 50), Rn. 218.

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unwesentliche ‚Nicht-Grundsätze‘ normiert sein sollen67. Genau dies aber suggeriert die Gegenmeinung, wenn sie erklärt, Art. 79 Abs. 3 GG erfasse nur den substanziellen Kern von Art. 20 GG68. Der Wortlaut spricht insofern insgesamt dafür, dass Art.  79 Abs.  3  GG den Art. 20 GG und somit auch das dort normierte Prinzip der Volkssouveränität vollumfänglich garantiert.

3. Systematik In systematischer Hinsicht ist für eine restriktive Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG, wonach Modifikationen der dort in Bezug genommenen Grundsätze unter besonderen Umständen statthaft sein können, dessen Charakter als verfassungsrechtliche Ausnahmevorschrift angeführt worden69. Des Weiteren wird systematisch auf die strukturverwandte Formel in Art. 19 Abs. 2 GG verwiesen und daran erinnert, dass auch die Wesensgehaltsgarantie herrschender Auffassung zufolge einen bloß relativen Schutz biete70. Schließlich wird auf den in Art. 79 Abs. 3 GG selbst angelegten systematischen Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip abgestellt. Eine extensive Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG, der zufolge diese Norm vollumfänglich die durch sie in Bezug genommenen Grundsätze garantiere, würde, so der Einwand der herrschenden Meinung, zu einer vollständigen Juridifizierung der Verfassungsentwicklung führen, wie sie mit der Volkssouveränität und der Idee des demokratischen Verfassungsstaats unvereinbar sei71. Im Ergebnis vermögen diese systematischen Überlegungen indes nicht zu überzeugen. Dass es sich bei Art. 79 Abs. 3 GG um eine periphere und daher eng zu interpretierende Ausnahmevorschrift handeln soll, wird seinem Regelungs­gehalt nicht gerecht72. Vielmehr steht Art.  79  GG samt seinem dritten Absatz in dem durchaus zentralen Grundgesetzabschnitt über die Gesetzgebung des Bundes und liefert die praktisch hoch bedeutsamen Kriterien für die Abgrenzung zwischen einfacher und verfassungsändernder Gesetzgebung (Abs. 1 und 2)73 sowie zwischen verfassungsändernder Gesetzgebung und Verfassunggebung (Abs. 3)74. Hinzu tritt, dass Art. 79 Abs. 3 GG insofern eine deutlich verfahrensrechtliche Dimension auf

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Vgl. Lücke, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 79 Rn. 29. In diesem Sinne etwa Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, F Rn. 65. 69 Weichenstellend BVerfGE 30, 1 (25); vgl. auch Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein (Begr.), Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 79 Rn. 37; Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991, S. 448 f.; Degenhart, Direkte Demokratie auf Bundesebene nach dem Grundgesetz, in: Stern / Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 87 (45). 70 BVerfGE 30, 1 (24). 71 Bryde (Fn. 47), Rn. 28; v. Münch (Fn. 49), S. 97. 72 So im Ergebnis auch Häberle (Fn. 56), S. 150. Ebenso Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 70 ff. 73 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 152. 74 Vgl. Dreier (Fn. 46), Rn. 14.

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weist. Auch dies spricht dagegen, ihn zur eng auszulegenden Ausnahmevorschrift zu stilisieren und damit die Grenzen seines Anwendungsbereichs verschwimmen zu lassen. Denn als auch verfahrensrechtlich bedeutsame Norm kann und darf Art. 79 Abs. 3 GG nicht zu den rein materiellen Grundgesetzbestimmungen gerechnet werden, die um der Offenheit des politischen Prozesses willen grundsätzlich eng auszulegen sind; vielmehr muss er als organisationsrechtliche Norm einer möglichst klaren, voraussehbaren und insofern rationalen Auslegung zugänglich sein75. Der Hinweis auf Art.  19 Abs.  2  GG greift ebenfalls nicht durch76. Zwar ist die Parallele zwischen der Unantastbarkeit des grundrechtlichen Wesensgehalts nach Art. 19 Abs. 2 GG und der durch Art. 79 Abs. 3 GG verfügten Unberührbarkeit der Staatsfundamentalprinzipien unverkennbar77. Indes sprechen auch im Fall des Art. 19 Abs. 2 GG die besseren Argumente dafür, die Wesensgehaltsgarantie78 im Sinne der absoluten Theorie zu verstehen79. Insoweit freilich spricht der systematische Seitenblick auf den strukturanalogen Art. 19 Abs. 2 GG dafür, dass auch Art. 79 Abs. 2 GG die von ihm Bezug genommenen Grundsätze absolut schützt. Im Ausgangspunkt durchaus überzeugend ist es hingegen, wenn die für die restriktive Auslegung von Art. 79 Abs. 3 GG streitende Auffassung argumentativ auf das Demokratieprinzip verweist80. Zu Recht wird insofern nämlich auf die drohende verfassungsrechtliche Paradoxie hingewiesen, wenn auch um des Demokratieprinzips willen die Verfassungsordnung durch Art.  79 Abs.  3  GG umfassend perenniert würde und infolgedessen der demos seine Definitionsmacht über die gebietsgesellschaftlichen Zustände in großem Umfang einbüßte81. Zu einer im oben skizzierten Sinne restriktiven Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG zwingt diese im Ansatz zutreffende Überlegung indes nicht. Vielmehr kann und muss den demokratischen Einwänden gegen eine allzu große Rigidität der Verfassung schon bei der Konkretisierung von Art. 20 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG Rechnung getragen werden82. Art. 79 Abs. 3 GG nimmt das in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltene Demo­ 75 Zu der zwischen materiellen und prozeduralen Verfassungsverbürgungen differenzierenden Verfassungstheorie vgl. v. Komorowski / Bechtel, Gesetzgebungs- oder Justizstaat, in: Becker / Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2006, S. 282 (299 f.); siehe auch Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 82 ff. und 278 ff. 76 So im Ergebnis auch Häberle (Fn. 56), S. 150. 77 Dazu zutreffend Kirchhof (Fn. 5), Rn. 83; vgl. des Weiteren Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: Benda / ders. / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 12 Rn. 115. 78 Zu dieser auch v. Komorowski, Rückübertragungsansprüche bei zweckverfehlten DDREnteignungen?, in: AöR 2001, S. 507 (533 ff.). 79 So etwa Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 19 Rn. 9; ausführlich Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, 2000, S. 151 ff. 80 Skeptisch gegenüber diesem Argument allerdings Wegge (Fn. 60), S. 60 f. 81 In diese Richtung beispielsweise Rubel (Fn. 57), Rn. 26. 82 Zutreffend Pieroth (Fn.  64), Rn.  7: „Die Wahrung der Volkssouveränität ist schon eine Aufgabe der Interpretation der Art. 1 und 20, nicht erst des Art. 79 Abs. 3.“

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kratieprinzip sowie insbesondere die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Volkssouveränität zwar vollumfänglich, aber eben auch exklusiv in Bezug. Es ist daher vom Normtext des Art.  79 Abs.  3  GG her nicht nur nicht geboten, sondern unstatthaft, die unter Bestandsschutz gestellte generelle und unbedingte Entscheidung für Demokratie und Volkssouveränität dadurch zu überfrachten, dass sie mit Regelungsgehalten aufgeladen wird, die in anderen demokratiefunktionalen Bestimmungen des Grundgesetzes normiert sind, aber von den demokratischen Fundamentalnormen nicht zwingend vorausgesetzt werden83. Einer restriktiven Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG bedarf es insofern deshalb nicht, weil dem diesem Interpretationsansatz zugrundeliegenden demokratischen Anliegen schon bei der Konkretisierung der von der Ewigkeitsklausel in Bezug genommenen Grundsätze Rechnung getragen werden kann und muss84. Demokratie und Volkssouveränität zu wahren, ist somit in jeder Hinsicht bereits dem Interpreten des Art. 20 GG, nicht erst dem des Art. 79 Abs. 3 GG aufgegeben85.

4. Entstehungsgeschichte Prima facie unterstützt die Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 GG86 denjenigen Interpretationsansatz, der es genügen lässt, wenn den in dieser Norm in Bezug genommenen Grundsätzen zumindest allgemein Rechnung getragen wird. Die Überlegungen des Parlamentarischen Rats waren geprägt von der Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und der Machtübertragung im Jahre 193387. Daher sollte etwaigen künftigen Revolutionen durch Art.  79 Abs.  3  GG von vornherein „die Maske der Legalität“88 vom Gesicht gerissen werden89. Dies spricht dafür, dass die Väter und (nur) vier Mütter90 des Grundgesetzes mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht so sehr den Schutz der Verfassung gegen im Einzelfall zweifelhafte Maßnahmen des demokratischen Gesetzgebers bezweckten; vielmehr woll 83 Zu Recht betont Pieroth (Fn. 64), Rn. 7, dass es möglich ist, zwischen Demokratiegehalten zu differenzieren, die nur der Verfügungsmacht des einfachen Gesetzgebers entzogen sind und solchen, über die sich nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber hinwegsetzen kann. 84 Kritisch Bryde (Fn. 75), S. 244. 85 In diesem Sinne auch Hain, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.2, 5. Aufl. 2005, Art. 79 Rn. 32. 86 Dazu etwa Hain (Fn. 72), S. 46 ff. 87 Murswiek (Fn. 54), Rn. 17; ders., Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999, S. 16; Maurer (Fn. 46), § 20 Rn. 20; Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden ?, in: NJW 1993, S. 38 (39). Instruktiv zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der Machtübertragung durch die zeitgenössische Staatsrechtswissenschaft Evers (Fn. 50), Rn. 15 ff. 88 So die Formulierung des Abg. Dr. Dehler im Parlamentarischen Rat (JöR 1951, S. 586). 89 Dazu auch Grimm, Artikel ‚Verfassung‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 633 (640); Denninger (Fn. 61), S. 82. 90 Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel (vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2000, S. 1283).

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ten sie verhindern, dass ein systematischer Umsturz der verfassten Ordnung jemals wieder als verfassungslegal würde bezeichnet werden können. Der historische Bedeutungsgehalt des Art.  79 Abs.  3 als ‚Revolutionsverbot‘91 oder ‚Revolutionsentlarver‘92 könnte als Hinweis darauf gewertet werden, dass diese – im Übrigen bereits während ihrer Genese umstrittene93 – Norm die in Bezug genommenen Verfassungsverbürgungen nicht vollumfänglich schützt. Andererseits enthält die Entstehungsgeschichte einen deutlichen Hinweis dar­ auf, dass die im Rahmen der Wortlautinterpretation herausgearbeitete semantische Unterscheidung zwischen der bloß grundsätzlich geschützten Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und den vollumfänglich geschützten Grundsätzen des Art.  20  GG vom Grundgesetzgeber durchaus beabsichtigt war94. Da freilich der Terminus ‚Grundsätze‘ der einzige sprachliche Anhaltspunkt für einen gegenüber den in Bezug genommenen Grundsätzen reduzierten Schutzumfang des Art. 79 Abs. 3 GG ist, wiegt dieser entstehungsgeschichtliche Hinweis besonders schwer. Durch die Entstehungsgeschichte bestätigt werden im Übrigen auch die Überlegungen zum systematischen Zusammenhang zwischen Art. 79 Abs. 3 GG und dem Demokratieprinzip. Durch Art.  79 Abs.  3  GG wird im Endeffekt ein nicht unmaßgeblicher Teil  der gebietsgesellschaftlichen Ordnung gegenüber dem demokratischen Prozess abgeschottet und gegen Änderungswünsche des demokratischen Gesetzgebers immunisiert. Dies steht, wie gesagt, in einem unleugbaren Spannungsverhältnis zur historisch überkommenen Volkssouveränität. Die diesbezüglich vorgeschlagene Lösung, den – vollumfänglichen – Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG auf die ausdrücklich in Bezug genommenen Grundsätze zu beschränken, findet in der Entstehungsgeschichte insofern Widerhall, als eine Ausweitung der bestandsgeschützten Verfassungssätze über Art. 1 und 20 GG hinaus mehrmals abgelehnt wurde95 und insbesondere auf die noch im Herrenchiemseer Entwurf vorgesehene verfassungsrechtliche Unterschutzstellung der reichlich vagen freiheitlich-demokratischen Grundordnung96 verzichtet wurde.



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Dazu Bryde (Fn. 75), S. 240. Zu dieser entstehungsgeschichtlichen Ausrichtung des Art. 79 Abs. 3 GG vgl. JöR 1951, S. 585 f.; dazu auch Wiegandt, Methodische Bedenken zur Entscheidungsfindung des BVerfG im Bereich der Außenpolitik, in: NJ 1996, S. 113 (114). 93 Vgl. Hain (Fn. 85), Rn. 30. 94 Vgl. JöR 1951, S. 585. 95 Dagegen steht lediglich die – freilich isoliert gebliebene – Äußerung des Abg. Dr. Katz, der davor warnt, aus der Ewigkeitsklausel zu schlussfolgern, dass alle hiervon nicht erfassten Normen abänderbar seien (vgl. JöR 1951, S. 586). 96 Vgl. Art. 108 HChE.

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5. Teleologie Zugunsten der restriktiven Deutung von Art. 79 Abs. 3 GG, wonach die Unterschutzstellung grundgesetzfundamentaler Strukturen durch die Ewigkeitsklausel deren Modifizierbarkeit nicht ausschließen soll, ließe sich in teleologischer Hinsicht anführen, dass diese Verfassungsbestimmung ihrem Sinn und Zweck nach mitunter auch der von den grundgesetzlichen pouvoirs constitués getragenen Integration der Bundesrepublik Deutschland in supranationale Entitäten Grenzen setzen soll97. Dies könnte deswegen für die restriktive Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG sprechen, weil nach verbreiteter Auffassung die Strukturvorgaben des Art. 20 GG allenfalls modifiziert auf überstaatliche Institutionen wie namentlich die EU angewendet werden können98. Freilich lässt sich die  – zutreffende  – These, dass Art.  79 Abs.  3  GG auch im Rahmen supranationaler Integration gewahrt werden muss, durchaus mit dem grundgesetzlich indizierten extensiven Verständnis der Ewigkeitsklausel in Einklang bringen. Denn sofern man die Strukturnormen des Art. 20 GG eng auslegt, was auch schon demokratierechtlich geboten ist99, gibt es keinen Grund anzu­ nehmen, dass diese Strukturvorgaben prinzipiell nur modifiziert auf überstaatliche Entitäten anwendbar wären. Dem lässt sich auch nicht entgegen halten, dass einzelne in Art. 20 GG niedergelegte Grundsätze zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich nur modifiziert auf die EU anwendbar sind. So ist zwar zu bedenken, dass – wie an späterer Stelle noch eingehend zu erörtern sein wird – Art. 20 GG nach derzeitiger Verfassungsrechtslage die staatliche Souveränität speziell der Bundesrepublik Deutschland garantiert. Hieraus folgt zum einen, dass die bundesstaatliche Strukturnorm derzeit nur sinngemäß als allgemeine föderale Strukturvorgabe in Hinblick auf die EU wirksam werden kann100. Zum anderen fordert Art. 20 GG in Ansehung der EU nicht exakt das, was er bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig gewährleistet, nämlich ihre Staatssouveränität101. Daraus kann allerdings gerade nicht geschlussfolgert werden, Strukturvorgaben des Art.  20  GG wären generell nur modifiziert auf überstaatliche Institutionen anwendbar. Schließlich hängen die angesprochenen Abweichungen von dem rein inner­staatlichen Regelungsgehalt ausschließlich damit zusammen, dass Art. 20 GG besagte Staatssouveränitätsnorm entbindet: Allein aus ihr ergibt sich, dass die Bundesrepublik ihrer Staatssouveränität nur durch einen Souveränitätsverzicht des bundesdeutschen pouvoir constituant verlustig gehen darf und dem

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Siehe oben Kapitel 8 II. 4. = S. 560. Zum Beispiel Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 23 Rn. 21 oder Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 23 Rn. 20. 99 Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 1. 100 Dazu auch unten Kapitel 10 III. 5. c) = S. 854. 101 Dazu auch unten Kapitel 14 = S. 1219.

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entsprechend ein Integrationsfortgang zu verhindern ist, bei dem die EU ohne entsprechenden Verzichtsakt des deutschen Staatsvolks die Rechtsbeziehungen zu ihren Mitgliedstaaten  – in Ablösung von den bisherigen völkerrechtsvertraglichen Grundlagen – nach bundesstaatlichem Muster konstitutionalisiert oder aber sonst wie (föderal-)staatliche Souveränität für sich beansprucht. Dass Art. 20 GG insofern nicht ausnahmslos exakt dieselben Strukturanforderungen an die EU stellt wie an die Bundesrepublik Deutschland, ist demzufolge in Art. 20 GG selbst angelegt. Vor diesem Hintergrund sieht sich die Hypothese wider­ legt, die Geltung von Art. 79 Abs. 3 auch für überstaatliche Kontexte setze prinzipiell die Modifizierbarkeit der von ihm in Bezug genommenen Grundsätze voraus.

6. Weitere Interpretationselemente Der verfassungs- sowie der interpretationsgeschichtliche Auslegungsgesichtspunkt sprechen eher für ein restriktives Verständnis des Art. 79 Abs. 3 GG, wonach dieser letztlich nur bei prinzipieller Preisgabe der in Art. 20 GG normierten Grundsätze einschlägig sein soll. Verfassungsrechtsgeschichtlich lässt sich diese enge Deutung von Art.  79 Abs.  3  GG auf die bereits erwähnte wissenschaftliche Auseinandersetzung der Weimarer Staatsrechtslehre zurückführen102. Denn der Parlamentarische Rat hat sich mit Art. 79 Abs. 3 GG ersichtlich jener Richtung anschließen wollen, für die gemeinhin der Name Carl Schmitt steht103. Schmitt ist zwar nicht der Entdecker beziehungsweise Erfinder der dem Art.  79 Abs.  3  GG zugrundeliegenden Ver­ fassungstheorie104, wohl aber ihr wirkmächtigster Herold105. Mit dieser Einschränkung versehen, mag man Art. 79 Abs. 3 GG denn auch als positivrechtlichen Niederschlag der Lehre Carl Schmitts bezeichnen106. Schmitt vertrat die Auffassung, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber zwar Verfassungsgesetze erlassen könne, die Verfassung als Ganze hingegen seiner verfassungsändernden Gewalt entzogen sei107. Als Verfassung verstand er das Resultat 102

Zu dieser Auseinandersetzung auch Stern (Fn. 73), S. 165 f. Vgl. Badura (Fn. 68), F Rn. 64. Hochhuth (Fn. 79), S. 447 bezeichnet Art. 79 Abs. 3 GG sogar ausdrücklich als den „Carl-Schmitt-Artikel“. 104 Auch im Rahmen der Weimarer Diskussion ist die Schmittsche Theorie nicht präzedenzlos (in diesem Sinne auch Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes [Fn. 87], S. 20 mit Fn. 21). 105 Vgl. Ridder (Fn. 51), Rn. 7. 106 In diesem Sinne etwa Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S.  43. Dagegen freilich mit beachtlichen Argumenten Dreier (Fn.  46), Rn.  3. Nuanciert: Bryde (Fn.  47), Rn.  25; Murswiek, Die verfassung­ gebende Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S.  171 ff.; Hain (Fn. 72), S. 45 f. 107 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 25 ff. 103

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einer politischen Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt, durch die ein bestimmter politischer Zustand, eine politische Existenzform begründet wird108. Mit dieser Konzeption ist die Interpretation der grundgesetzlichen Ewigkeitsnorm im Sinne einer vollumfänglichen Sicherung konkreter positivrechtlicher Bestimmungen nur schwer vereinbar. Für Schmitt ist es tendenziell widersinnig, die bewahrenswerte Substanz der Verfassung als einer politischen Entscheidung auf konkrete Verfassungsrechtssätze relativieren zu wollen, sind diese doch bloß Funktion, nicht aber Identitätskern der Verfassung109. Was zählt, ist der Schutz der Verfassung im Ganzen. Nicht einzelne Verfassungsnormen, sondern die zum verfassungsgemäßen Zustand verfestigten grundlegenden politischen Entscheidungen sind Carl Schmitt zufolge „für eine positive Jurisprudenz das Ausschlaggebende und das eigentlich Positive“110. Dieses Denken hat seinen interpretationsgeschichtlichen Niederschlag in der Abhörentscheidung des BVerfG gefunden111. Hiernach schützt Art. 79 Abs. 3 GG die „Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen“112, verewigt also einen bestimmten politischen Zustand beziehungsweise ein konkretes politisches System. Indem das BVerfG denselben juristischen Ausgangspunkt wählt wie Carl Schmitt, verfällt es auch in dessen fragwürdige Dialektik: Art. 79 Abs. 3 GG verbietet, so das BVerfG, „eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze“113, hindert den verfassungsändernden Gesetzgeber jedoch nicht daran, selbst „elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren114. Eben weil das BVerfG einen von positivrechtlichen Verbürgungen tendenziell abgelösten politischen Zustand beziehungsweise ein bestimmtes tendenziell über- und außerpositives System zum Schutzobjekt des Art. 79 Abs. 3 GG erklärt, kann es die Durchbrechung der dort expressis verbis in Bezug genommenen Rechtssätze billigen. Denn wenn die in der Ewigkeitsnorm ausdrücklich in Bezug genommenen Rechtssätze demnach allein um eines bestimmten politischen Zustands oder Systems willen gelten, erweisen sich ihre Durchbrechungen jedenfalls dann als gerechtfertigt, wenn diese zustandsadäquat, systemimmanent sind. Die insofern sowohl durch die Verfassungs- als auch durch die Interpretationsgeschichte nahegelegte restriktive Auslegung des Art.  79 Abs.  3  GG führt nun freilich zu Ergebnissen, die dem Interpretationsprinzip der funktionellen Richtigkeit115 diametral entgegenstehen. So ist zu berücksichtigen, dass die letztinstanzliche Wahrung und Durchsetzung von Art.  79 Abs.  3  GG nach der Kompetenz 108

Schmitt (Fn. 107), S. 23. Schmitt (Fn.  107), S.  27; dazu die Kritik von Römer, Geltung und Wirksamkeit ver­ fassungsrechtlicher Normen, in: Z. 2004, Nr. 58, S. 8 (13 f.). 110 Schmitt (Fn. 107), S. 25. 111 BVerfGE 30, 1 ff. 112 BVerfGE 30, 1 (24). 113 BVerfGE 30, 1 (24). 114 BVerfGE 30, 1 (25); kritisch dazu v. Münch (Fn. 49), Rn. 97: „schwammige Aussage“. 115 Maurer (Fn. 46), § 1 Rn. 63. 109

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ordnung des Grundgesetzes dem BVerfG aufgegeben ist116. Dies bedingt zwar Friktionen mit der Volkssouveränität, die einen fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang und daher – unter den Bedingungen repräsentativer Demokratie – eine vollumfängliche und jederzeitige Entscheidungs- sowie Revisionsbefugnis des (verfassungsändernden) Gesetzgebers hinsichtlich der gebietsgesellschaftlichen Ordnung fordert117. Indes ist die grundgesetzliche Volkssouveränität eine durch den pouvoir constituant originaire verfassungsstaatlich reglementierte118. Die aus der Verfassung abgeleitete, verfassungsändernde Gewalt des Volkes stellt sich demzufolge nicht als originär-ungebundene, sondern als ­pouvoir constituant constitué dar119. Wenn daher im demokratischen Verfassungsstaat eine rechtsprechende Gewalt den verfassungsändernden Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlich normierten Grenzen gemahnt, so mag dies einem urtümlichen Verständnis von Volkssouveränität widerstreiten120. Im Verfassungsstaat indes ist insofern lediglich ein Spannungsverhältnis zu konstatieren, dem im Wege einer funktionell richtigen Interpretation Rechnung getragen werden kann121. Dementsprechend müssen  – wie in systematischer und entstehungsgeschicht­ licher Perspektive bereits erwähnt – die von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Demokratienormen des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ihrerseits restriktiv ausgelegt werden und dürfen nicht mit sämtlichen demokratierechtlichen Teilgehalten des grundgesetzlichen Demokratiekonzepts aufgeladen werden. Denn nur dann kann das BVerfG seiner Funktion gerecht werden, indem es den verfassungsändernden Gesetzgeber daran hindert, die ihm vom Verfassunggeber gesetzten äußersten Grenzen zu überschreiten. Hingegen vermag das BVerfG diese Rechtsprechungsaufgabe nicht zu erfüllen, wenn die verfassungsrechtlichen Schranken, welche dem pouvoir constituant constitué gesetzt sind, durch ein positiv-rechtlich nicht länger eingehegtes Ordnungsdenken überspielt werden, wie dies ausweislich seiner Verfassungs- und Interpretationsgeschichte bei einer im beschriebenen Sinne restriktiven Deutung von Art. 79 Abs. 3 GG droht. Denn dann besteht die akute, kaum abwendbare Gefahr, dass das BVerfG aus der ihm funktionell zugewiesenen Rolle fällt, in dem es – statt die vom demokratischen pouvoir constituant gezogenen Grenzen durchzusetzen – diese nach Gutdünken selbst festsetzt. Die Interpretationsregel der funktionellen Richtigkeit spricht insofern dafür, Art. 79 Abs. 3 GG nicht restriktiv im Sinne einer relativierbaren und damit unbestimmbaren, sondern extensiv als eine tatsächlich unberührbare, unantastbare und insofern fixe Grenze für den pouvoir constituant constitué zu begreifen122. 116

Vgl. Maurer (Fn. 46), § 20 Rn. 9. Dazu Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 34 Rn.42 ff. 118 Murswiek (Fn. 54), Rn. 16. 119 Stern (Fn. 73), S. 152; Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 90 (104). 120 Vgl. v. Komorowski / Bechtel (Fn. 75), S. 282. 121 Dazu Simon (Fn. 117), Rn. 48 ff. 122 Im Ergebnis gleich Murswiek (Fn. 54), Rn. 39. 117

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7. Abschließende Stellungnahme Der Wortlaut des Art. 79 Abs.3 GG streitet eindeutig, seine systematische Einbettung ganz überwiegend dafür, die grundgesetzliche Ewigkeitsklausel in dem Sinne extensiv zu deuten, dass sie die von ihr in Bezug genommenen Grundsätze vollumfänglich schützt und eine relativierende Durchbrechung dieser Grundsätze unter keinen Umständen zulässt123. Die übrigen, ohnedies nachrangigen Inter­ pretationselemente stehen dieser Sichtweise nicht entgegen. Zu berücksichtigen ist freilich, dass die von Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommenen Verfassungsgrundsätze zwingend eng auszulegen sind124. Dies haben vor allem die Auslegungskriterien der Systematik, der Entstehungsgeschichte sowie der funktionellen Richtigkeit ergeben. Absolut zu wahren ist demnach nicht eine konkrete politische Ordnung, in der die durch Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Grundsätze verwirklicht sind, sondern diese selbst. Dies bedeutet nun zwar nicht, dass sich die Verfassungsgrundsätze des Art. 1 und 20 GG allein aus sich selbst und ohne Rücksicht auf die Verfassungsordnung im Übrigen bestimmen ließen. Jedoch ist zu beachten, dass Verfassungsgrundsätze nur im Wege konsequenter Abstraktion aus der bestehenden Verfassungsordnung entwickelbar sind. Auch insofern unterscheidet sich die hier favorisierte extensive Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG von der restriktiven: Zum einen erstreckt diese, wie bereits erwähnt, den Geltungsbereich des Art.  79 Abs.  3  GG vielfach auch auf von der Ewigkeitsklausel nicht ausdrücklich erfasste Verfassungsvorgaben. Zum anderen und vor allem führt der restriktive Ansatz dazu, dass der Ewigkeitsgehalt der Verfassung nicht im Wege der Abstraktion, sondern durch Konkretion bestimmt wird. Nach dem restriktiven Auslegungsansatz muss nämlich gewissermaßen gegenständlich bestimmt werden, was von einer bestimmten Ordnung übrig bleiben muss, damit sie noch als menschenwürdig, demokratisch, republikanisch, sozial­ staatlich, bundesstaatlich et cetera qualifiziert werden kann. Dies hat zur Konsequenz, dass die Frage nach der Beeinträchtigung des Ewigkeitsgehalts der Ver­ fassung aus einer gewissen Distanzlosigkeit heraus beantwortet werden muss: Man muss sich ganz konkret, unmittelbar am emotionsbeladenen Fall überlegen, ob hier schon der Kerngehalt der Verfassung tangiert. Demgegenüber schafft es Distanz, wenn man zunächst versuchen muss, abstrakte Regeln aus der konkreten Verfassungsordnung zu abstrahieren, bevor man die politische Wirklichkeit an diesen durch Abstraktion gewonnenen Normen misst. Auch insofern dürfte mit der hier befürworteten Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG ein Gewinn an juridischer Rationalität verbunden sein, wie sie gerade bei einer derart politischen Norm wie der Ewigkeitsgarantie unverzichtbar ist.

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So auch Murswiek (Fn. 54), Rn. 43 und Wegge (Fn. 60), S. 57 ff. In diesem Sinne auch Fromont, Europa und nationales Verfassungsrecht nach dem ­ aastricht-Urteil, in: JZ 1995, S. 800 (802). M 124

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IV. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Sitz der grundgesetzlichen Subjektsproblematik Im ersten interpretatorischen Zugriff haben Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 3 GG er­ geben, dass die Antwort auf die Frage nach dem Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie davon abhängt, welche Struktur von Volkssouveränität Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verbürgt125, ob Volkssouveränität danach etwa nur als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur Gestalt annehmen kann und mithin also nur das deutsche Staatsvolk oder gegebenenfalls auch der Unions-demos Volk im Sinne der grundgesetzzentralen Volkssouveränität sein kann. Da fernerhin dargelegt wurde, dass und weshalb Art.  79 Abs.  3  GG die Grundsätze des Art.  20  GG vollumfänglich schützt126, ist für die grundgesetzlichen Anforderungen an das Legitimations­ subjekt der EG-Normsetzung letztlich allein auf Art. 20 Abs. 1 und 2 GG abzustellen127. Wer Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie sein kann, entscheidet mithin die in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verbürgte Volkssouveränitätsnorm und das ihr eigene Volksverständnis128. Wie nachstehend im Einzelnen dargelegt wird, liefert der Normtext von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG insofern freilich keine abschließende Antwort. Er lässt in seiner sprachlichen Offenheit129 lediglich den Rückschluss zu, dass die Subjektsproblematik weniger im vergleichsweise weit gefassten ersten Absatz von Art. 20 GG als vielmehr im ersten Satz seines zweitens Absatzes zu verorten ist. Für die weitere normwissenschaftliche Analyse hat dies zur Konsequenz, dass die grundgesetzsystematischen sowie entstehungs-, interpretations- und verfassungsgeschichtlichen Determinanten speziell von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ermittelt werden müssen. Dabei erweist es sich als zweckmäßig, diesen verschiedenen Bestimmungsfaktoren im Licht der – dialektisch angelegten – staatstheoretischen Überlegungen zum demokratischen Volksverständnis nachzuspüren.

1. Die normtextuelle Offenheit von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG Bei vordergründiger Lektüre des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG mag es als nachgerade selbstverständlich erscheinen, dass das grundgesetzliche Prinzip der Volkssouveränität die Rückbindung aller hoheitlichen Gewalt an das nationale Staatsvolk for 125

Siehe oben Kapitel 9 II. = S. 565. Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571. 127 Dagegen Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (240). 128 Anderer Ansicht Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (D), Rn. 48; Spieß, Sozialer Dialog und Demokratieprinzip, 2005, S. 141 f. 129 Vgl. auch Frank, Ausländerwahlrecht und Rechtsstellung der Kommune, in: KJ 1990, S. 290 (296 und 297); Veil, Volkssouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S. 53, Bugiel (Fn. 69), S. 29 ff. und Wegge (Fn. 60), 1996, S. 13. 126

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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dert130. Denn wird gerade die Bundesrepublik Deutschland und kein anderes Gemeinwesen in Art. 20 Abs. 1 GG als demokratischer Staat verfasst, so liegt auf den ersten Blick nichts näher, als dass allein das Volk dieser Bundesrepublik Deutschland zur Herrschaft über sein Staatsterritorium berufen ist131. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, demzufolge alle Staats-Gewalt vom Volk ausgehen soll. Auch insofern liegt der konnotative Schluss nahe, dass nur die vom Staats-Volk vermittelte Legitimation durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 sank­ tioniert ist132. Bei näherem Hinsehen allerdings erweisen sich diese ad-hoc-Auslegungen als wenig überzeugend. Zumindest aber wird man sie nicht als zwingend bezeichnen können. So enthält sich Art. 20 Abs. 1 GG jeder näheren Aussage über das grundgesetzlich geforderte Subjekt demokratischer Legitimation133. Die Bundesrepublik Deutschland wird lediglich auf das Demokratieprinzip festgelegt. Damit ist zwar ohne Weiteres und auch ohne Rücksicht auf Art. 20 Abs. 2 die demokratiezentrale Volkssouveränität mit verbürgt. Wie diese zu konkretisieren und welches Volksverständnis ihr zugrundeliegt, lässt sich aus Art. 20 Abs. 1 GG im Wege bloß grammatischer Interpretation indes nicht herleiten134. Insoweit führt freilich auch Art. 20 Abs. 2 GG nicht weiter, der in bereichsspezifischer135 Konkretisierung von Art.  20 Abs.  1  GG eine ausdrückliche Verbürgung von Volkssouveränität enthält136. Art. 20 Abs. 2 GG ist semantisch so weit, dass sein demos-Begriff nicht nur das Staatsvolk zu erfassen vermag, sondern zugleich ein europäisches Volk, ferner auch Kommunal-, Verbands-, Betriebsvölker et cetera. Dass im Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG weder die Staatsgewalt noch das demokratische Legitimationssubjekt mit dem Attribut ‚deutsch‘ ver­sehen ist, die Staatsgewalt vielmehr durch die Beifügung des Partikels „alle“ pluralisiert wird, ist überdies angetan, eine auf das nationale Staatsvolk relativierte Wortlautauslegung von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG nachhaltig in Frage zu stellen137. Namentlich der Umstand, dass der demos schlicht als politisch wirksa 130 In diesem Sinne dezidiert Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, in: Schwab u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mikat, 1989, S. 705 (718 ff.); auch Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, 1976, S. 26. 131 In diese Richtung etwa Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 207. 132 In diesem Sinne Maurer (Fn. 46), § 7 Rn. 23. 133 So bereits Zuleeg, Grundrechte für Ausländer, in: DVBl. 1974, S. 341 (349). 134 Siehe dazu auch Lege, Das Verfassungsrecht zwischen Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: DVBl. 2007, S. 1053 (1060 und 1063). 135 Es geht insoweit ausschließlich um die Demokratie im hoheitlichen Bereich – dazu näher unten Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588. 136 Vgl. Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 1; Maurer (Fn. 46), § 7 Rn. 20. 137 Vorsichtiger Emde (Fn. 1), S. 323 f.; gänzlich anderer Ansicht Isensee, Kommunalwahlrecht für Ausländer aus der Sicht der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen und der Bundesverfassung, in: KritV 1987, S. 300 f.

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mer Legitimationsquell und nicht als National- oder Kulturvolk Erwähnung findet, spricht eher dafür, dass auch andere Völker als das bundesdeutsche Staatsvolk als Subjekt grundgesetzlich geforderter Legitimationsbeiträge in Betracht zu ziehen sind138. Somit lässt sich dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG letztlich keine Fixierung auf ein ganz bestimmtes, enges Volksverständnis entnehmen139. Rein semantisch betrachtet, liegt diesen grundgesetzlichen Fundamentalnormen ein denkbar weites Verständnis von Volkssouveränität zu Grunde. Anknüpfend an den staatstheoretischen Teil, der Volk sowie Volkssouveränität als polyvalentvariable Begriffe entwickelt und Volkssouveränität im Übrigen als mehrdimensionale Zurechnungsstruktur entfaltet140, kann die grundgesetzliche Volkssouveränität in Anbetracht des Normtexts griffig als (entwicklungs-)offene demokratische Zurechnungsstruktur beschrieben werden141.

2. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als eigentlicher Sitz des Subjektsproblems Die These von der normtextuellen Offenheit des Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG darf freilich nicht zu Missverständnissen führen. Sie meint keineswegs, dass zwischen der allgemeinen Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 GG und der in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG nochmals speziell verankerten Volkssouveränität alle inhaltlichen Unterschiede eingeebnet wären. Vielmehr erhellt aus der genaueren Analyse dieser beiden Demokratieverbürgungen, dass in Hinblick auf das hier interessierende Subjektproblem Art.  20 Abs.  2 Satz  1 sedes materiae ist.

a) Die Demokratieverbürgung des Art. 20 Abs. 1 GG Bei der in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Demokratienorm handelt es sich um eine auf höchster Abstraktionsstufe angesiedelte142, sämtliche Staatsorgane adressierende Verfassungsnorm. In ihrer primären Bedeutungsdimension als Staatsstrukturnorm gibt sie verbindlich, aber in überaus genereller Form vor, dass das 138 In diese Richtung auch Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  3, 3. Aufl. 2005 § 46 Rn. 7. 139 So auch Oeter, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluß von der Wahlberechtigung, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 30 (38) sowie Frank (Fn. 129), S. 293. 140 Siehe oben Kapitel 5 = S. 182 und Kapitel 6 = S. 249. 141 Zur Offenheit des grundgesetzlichen Demokratieprinzips lediglich Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, 1986, S. 109. 142 Vgl. allgemein Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 3.

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Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland eine Demokratie sein soll143. Sie verlangt mit anderen Worten, dass auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland demokratische Verhältnisse herrschen. Dazu bedarf es insbesondere einer hinreichend effektiven Struktur der Volkssouveränität144. Daneben beinhaltet die Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 GG in ihrer sekun­ dären Regelungsdimension eine rechtsverbindliche, allerdings inhaltlich gleichfalls überaus weit gefasste Staatszielbestimmung145. Denn ungeachtet des zugrundegelegten Demokratieverständnisses entbindet die grundgesetzliche Demokratienorm immer auch eine leitbildhafte Zielvorstellung politischer Machtverteilung generell146. Danach soll der demos über die im Gemeinwesen ausgeübte Herrschaftsmacht verfügen. Diese Zielvorstellung zu verwirklichen, ist der Staat Bundesrepublik Deutschland befugt und verpflichtet147. Insofern ist nun freilich zu berücksichtigen, dass Staatszielnormen dem Rechtsanwender typischer Weise nicht nur bezüglich der Auswahl der Mittel zur Zielverwirklichung, sondern auch hinsichtlich der Konkretisierung des regelmäßig unpräzis gefassten Ziels eine weite Einschätzungsprärogative zuerkennen148. Die Staatszielnorm ‚Demokratie‘ bildet insofern keine Ausnahme. Im Gegenteil: Die inhaltliche Stoßrichtung der Staatszielbestimmung ‚Demokratie‘ ist nach richtiger Auffassung so unbestimmt, dass seine Konkretisierung weitestgehend den verfassten Gewalten vorbehalten bleibt149. Der genauere Inhalt des grundgesetzlichen Staatsziels ‚Demokratie‘ hängt nämlich davon ab, wie man das grundgesetzliche Demokratieverständnis konkretisiert. Dabei ist anknüpfend an die staatstheoretischen Überlegungen zu bedenken, dass sich die auch für die grundgesetzliche Demokratienorm zentrale Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur, aber auch als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur konkretisieren lässt150. Dementsprechend kann eine Staatszielbestimmung, wie sie Art.  20  GG normiert, inhaltlich durch die prinzipielle Lokalisierung politischer Macht beim nationalen Staatsvolk, bei den freiheitsberufenen Individuen oder aber beim polyvalent-variablen Volk geprägt sein. Dabei impliziert die letzte Variante eine überaus weite Gestaltungsfreiheit für die verfassten Gewalten. Sofern daher im Folgenden, angelehnt an die Ergebnisse der staatstheoretischen Vor 143 Dazu allgemein Herzog, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 20 I, Rn. 7 ff. 144 Sachs (Fn. 142), Rn. 12. 145 Dazu auch Thieme, Demokratie, in: DÖV 1998, S. 751 ff. Anderer Ansicht Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 88 ff. 146 In diese Richtung auch Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002, S. 321. 147 Volkmann, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 20 (2. Teil), Rn. 37 f. 148 Zippelius / Würtenberger (Fn. 45), § 5 III 3 c. 149 In diesem Sinne Volkmann (Fn. 147), Rn. 41. 150 Siehe oben Kapitel 5 II. 1. b) = S. 236.

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überlegungen, der Nachweis geführt wird, dass sich unter dem Grundgesetz Volkssouveränität als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur darstellt und folglich auch dem damit korrelierenden Staatsziel eine weitgehende Gestaltungsoffenheit eignet, so verblasst die unmittelbare Steuerungskraft des ohnehin schon sehr unbestimmten Staatsziels ‚Demokratie‘ merklich. Verfassungsrechtlich bedeutsam bleibt die Staatszielnorm ‚Demokratie‘ aber dennoch, und zwar vor allem als Gestaltungsermächtigung, ferner als Gestaltungsauftrag sowie als Auslegungs­ faktor151.

b) Die Demokratieverbürgung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 im Vergleich Von der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierten Volkssouveränität unterscheidet sich die Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG freilich nicht schon durch die eben beschriebene Doppelnatur als Staatsstruktur- und Staatszielbestimmung152. Denn auch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG formuliert zwar primär strukturelle Anforderungen an die Ausübung von Staatsgewalt153. Sekundär entbindet er indes ebenfalls eine Zielbestimmung. Denn nicht anders als die allgemeine Demokratie­ norm des Art. 20 Abs. 1 GG gibt auch das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG speziell verbürgte Prinzip der Volkssouveränität leitbildhaft ein spezifisches Machtverteilungsmodell vor, wonach allein das Volk – sei es das nationale Staatsvolk, die freiheitsberufenen Individuen oder ein polyvalent-variabler demos – herrschen soll. Dieses immer auch ein Stück weit kontrafaktische Machtverteilungsprinzip dauerhaft zu verwirklichen, ist dem grundgesetzlich verfassten Staat als Ziel vor­ gegeben154. Dabei ist allerdings wiederum zu berücksichtigen, dass die unmittelbare Direktivkraft dieser Staatszielbestimmung schwach ist. Denn wie bei Staatszielbestimmungen typisch155 trifft auch die des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG keine annähernd klaren Vorgaben. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die für die Zielerreichung gebotene Mittelauswahl. Auch die Konkretisierung des die zwingenden Strukturvorgaben von Art. 20 Abs. 2 GG transzendierenden Staatsziels der Volkssouveräni 151

Mit diesem vergleichsweise unscharfen Regelungsprofil nähert sich das Staatsziel ‚Demokratie‘ der Staatsaufgabe ‚Demokratie‘ an, die ebenfalls in Art. 20 Abs. 1 GG verankert ist. Da die Staatsaufgabe ‚Demokratie‘ freilich keine über das Staatsziel ‚Demokratie‘ hinausreichenden Regelungsgehalte entbindet, soll es nachstehend im Wesentlichen unerörtert bleiben. – Zur Demokratie als Aufgabe aus philosophischer Sicht Ryffel, Menschenrechte und Demokratie, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 83 (94). 152 Eigentlich handelt es sich sogar um eine Tripelnatur. Doch soll die tertiäre Bedeutungsdimension, nämlich die der Staatsaufgabe, im Folgenden nicht vertieft werden (vgl. bereits Fn. 151 sowie auch Fn. 156). 153 Dazu nur Schnapp (Fn. 1), Rn. 18 ff. 154 Vgl. dazu auch Fisahn (Fn. 146), S. 321. 155 Vgl. Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20a Rn. 17; auch ders., Umweltrecht und Grundgesetz, in: Verw. 2000, S. 241 (263).

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tät ist verfassungsrechtlich nur schwach determiniert. Dies gilt insbesondere dann, wenn man – wie im Folgenden noch eingehend zu begründen – Volkssouveränität im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte begreift. Denn dann obliegt die Staatszielkonkretisierung in weiten Teilen dem Gesetzgeber. Vor diesem doppelten Hintergrund erschöpft sich der verfassungsrechtliche Regelungsgehalt auch des Staatsziels ‚Volkssouveränität‘ im Wesentlichen darin, den Staat zur Förderung von Volkssouveränität zu ermächtigen, einen entsprechenden Gestaltungsauftrag zu formulieren und im Übrigen als Auslegungsfaktor zu wirken156. Ein erster Unterschied zwischen der Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 GG und der durch Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG geschützten Volkssouveränität ist indes in dem unterschiedlichen Abstraktionsniveau zu sehen. Die Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 GG zeichnet sich, wie gesagt, durch ein hohes Maß an Generalität aus. Aufgrund dieser spezifischen Normstruktur ist Art. 20 Abs. 1 als tendenziell offene, weiche, gegenüber widerstreitenden Verfassungsaussagen relativ flexible Vorgabe zu begreifen. Dies gilt nicht nur für seine sekundäre Bedeutungsdimension als Zielbestimmung, bei der dem Rechtsanwender aus den dargelegten Gründen eine überaus weite Einschätzungsprärogative zusteht. Auch im Hinblick auf seine primäre Bedeutungsdimension als Strukturbestimmung führt die tatbestandliche Unbestimmtheit des Art. 20 Abs. 1 GG dazu, dass er insofern vor allem als rechtsverbindliche, aber situativ anpassungsfähige leitbildhafte Strukturvorstellung und nur in besonders gelagerten Fällen als äußerste Grenzen ziehende Rahmenvorgabe fungiert. Mithin ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass Art.  20 Abs. 1 GG in seiner Bedeutungsdimension als Strukturbestimmung mitunter sehr konkrete Einzelvorgaben entbindet; dies ist ausnahmsweise der Fall, wenn die leitbildhafte Strukturvorstellung der Demokratie bei Lücken im System der Verfassungseinzelnormierungen zur lückenschließenden Auffangnorm gerinnt157 oder die Rahmenvorgabe der Demokratie bestimmte Regelungen als zum änderungsfesten Kern des Grundgesetzes gehörig ausweist158. Hauptsächlich aber stellt das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG in seiner primären Bedeutungsdimension als Strukturbestimmung eine  – vor allem interpretationslenkende  – allgemeine und infolgedessen inhaltlich vergleichsweise geschmeidige strukturelle Leitvorstellung dar159. Demgegenüber lassen sich dem im Vergleich zu Art. 20 Abs. 1 GG tatbestandlich deutlich bestimmteren Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in seiner primären Bedeu 156

Ergänzend hinzuweisen ist, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG außer einer Staatsziel-, auch eine Staatsaufgabenbestimmung normiert. Da diese verfassungsrechtlich nur als Gestaltungs­ ermächtigung sowie als Auslegungsfaktor bedeutsam ist und sich insofern in Regelungs­ gehalten erschöpft, die auch der Staatszielbestimmung ‚Volkssouveränität‘ eignen, braucht die Staatsaufgabe ‚Volkssouveränität‘ im Folgenden indes nicht näher erörtert zu werden. 157 Maurer (Fn. 46), § 6 Rn. 7. 158 Sommermann (Fn. 145), Rn. 4. 159 Dreier in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Einf. Rn. 14.

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tungsdimension als Staatsstrukturnorm inhaltlich ungleich präzisere und insofern auch rigidere Vorgaben entnehmen160. Schon hieraus erhellt, dass das Grundgesetz die demokratiezentrale Volkssouveränität in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG durchaus unterschiedlich normiert. Denn auch wenn die allgemeine Demokratie­ norm des Art. 20 Abs. 1 GG die Volkssouveränität notwendig mit umfasst, so stellt diese sich insofern als Element einer tendenziell offenen, weichen, gegenüber widerstreitenden Verfassungsaussagen relativ flexiblen Vorgabe dar. Demgegenüber ergibt sich aus der ganz anderen Normstruktur des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, dass die Volkssouveränität insofern nicht hauptsächlich als lediglich interpretationslenkende generelle Leitvorstellung, sondern primär als strikt zu befolgende Strukturvorgabe gilt161. Dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG überdies auch als Staatszielbestimmung wirkt und insoweit – ähnlich wie die Staatszielbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG – den Rechtsanwendern einen großen Spielraum sowohl bei der Auswahl der zielverwirklichenden Mittel als auch und vor allem bei der Konkretisierung des Ziels an sich belässt, darf über diesen grundlegenden, normstrukturell bedingten Unterschied zwischen Art. 20 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinwegtäuschen. Ein weiterer Unterschied zur allgemeinen Demokratienorm des Art. 20 Abs. 1 GG ist darin zu sehen, dass sich die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte und dort mit vergleichsweise hoher normativer Bindungskraft ausgestattete Struktur der Volkssouveränität ausdrücklich nur auf die ‚Staatsgewalt‘ bezieht. Da der Wortlaut die äußerste Grenze der Verfassungsinterpretation markiert162, trifft Art. 20 Absatz 2 Satz 1 GG eine unmittelbare Regelung ausschließlich im Hinblick auf die Ausübung hoheitlicher Gewalt163. Der (weitere)  Bereich der ‚sozialen Demokratie‘164, das heißt die Übertragung von Volkssouveränität auf den Bereich nichthoheit­licher sozialer Macht165, wird von Art. 20 Abs. 2 Satz 1  GG demnach nicht direkt normiert. Zwar schließt eine solche interpretatorische Relativierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf den Bereich der Hoheitsausübung nicht aus, dass diese Verfassungsbestimmung mittelbar auch die Ausübung nichthoheitlicher Macht determiniert, wenn und soweit dies für die unmittelbar gebotene Rückbindung aller hoheitlichen Gewalt an das Volk von Relevanz ist166. Indes bleibt auch in diesem Fall die demokratische Legitimation allein hoheit­ 160

Vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: September 2007, Art. 20 II, Rn. 33; Emde (Fn. 1), 1991, S. 39. 161 Insoweit zutreffend Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 65 und 69. 162 Dazu etwa Zippelius / Würtenberger (Fn. 45), § 7 I 4 a); anders Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Einl. Rn. 7. 163 Insofern zutreffend Herzog (Fn. 160), Rn. 51. 164 Dazu etwa Kittner, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd.  1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 45. 165 Stein, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3 II Rn. 48 ff. 166 Dazu näher unten Kapitel 10 II. 4. b) = S. 708.

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licher Gewalt der eigentliche und maßgebliche Regelungszweck des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG167. Hingegen lässt die im Vergleich zu Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG weniger rigide allgemeine Demokratiebestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG die Volkssouveränität unmittelbar auch auf die gesellschaftliche Sphäre überwirken168. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn man Art. 20 Abs. 1 GG nicht im Lichte des verbandsorientierten Demokratieverständnisses ausdeutet169. Denn interpretiert man die auch in Art. 20 Abs. 1 GG allgemein verbürgte Volkssouveränität vom individuumszentrierten Ansatz her oder aber – wofür der im Folgenden unterbreitete Vorschlag zur Grundgesetzauslegung streitet  – als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur, so wächst ihr auch für den gesellschaftlichen Bereich unmittelbare verfassungsrechtliche Bedeutung zu170. Dies gilt in erster Linie für die Staatszielbestimmung des Art.  20 Abs.  1  GG. Diese rechtfertigt es zumindest, dass Staatsorgane Ver­ fahrensarrangements errichten oder doch jedenfalls absichern, aufgrund derer die sozialer Macht Unterworfenen in einer als demokratisch zu qualifizierenden Weise an der Ausübung dieser Macht teilhaben171. Doch auch als Staatsstrukturbestimmung verbürgt Art. 20 Abs. 1 GG einen Kern von sozialer Demokratie172.

c) Art. 20 Abs. 2 Satz 1 als sedes materiae Für die hier interessierende demokratische Legitimation von EG-Hoheitsakten bleibt allerdings der normativ bindungsstärkere Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG maßgebend173. Wie bereits dargelegt174, kann der in dieser Verfassungsbestimmung verwandte Begriff der ‚Staatsgewalt‘ sprachlich175 und entstehungsgeschichtlich im allgemeinen Sinne von ‚Hoheitsgewalt‘ verstanden werden176. Teleologisch strei 167

Insofern zutreffend Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 204, § 24 Rn. 24. 168 Dagegen freilich die ganz herrschende Meinung, vgl. nur Herzog (Fn. 143), Rn. 45 ff. 169 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. a) = S. 205. 170 Siehe oben Kapitel 5 I. 3. b) = S. 208. 171 Dazu etwa Abendroth, Das Grundgesetz, 3. Aufl. 1972, S. 67 f. 172 Grundlegend Stein (Fn. 165), Rn. 44 ff. 173 Anderer Ansicht Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (241) 174 Siehe oben Kapitel 8 II. 1. = S. 553. 175 Denn zumindest in einem funktionalen Sinne übt auch die Union ‚Staatsgewalt aus‘ – so zutreffend Oeter, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, S. 69 (72). 176 Die im Parlamentarischen Rat anstelle des Begriffs ‚Staatsgewalt‘ zunächst vorgeschlagenen Termini ‚alle Gewalt‘ beziehungsweise ‚Hoheitsgewalt‘ wurden nicht etwas deshalb unberücksichtigt gelassen, weil sie als zu weit und ausgreifend empfunden worden wären; ausschlaggebend war vielmehr, dass sie womöglich falsch hätten konnotiert werden können, nämlich in einem obrigkeitlichen Sinne oder entsprechend der faschistischen Sprachpraxis (JöR 1951, S. 196).

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ten durchgreifende Gründe für dieses weite Begriffsverständnis: Es wäre mit dem Sinn und Zweck von Art.  79 Abs.  3  GG nicht vereinbar, wenn durch Hoheitsübertragungen die zentrale Bestimmung des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG faktisch ausgehöhlt werden könnte177. Diese Gefahr aber bestünde, wenn Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG nicht auch für die nichtstaatliche, aber staatsgebietsrelevante Hoheitsausübung gelten würde. Denn dann wäre jedenfalls der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht gehindert, Hoheitsbefugnisse auf solche Entitäten zu übertragen, deren Machtentfaltung mit den Anforderungen der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG strikt vorgegebenen Volkssouveränität nur unzureichend übereinstimmt. Zwar wäre eine Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf demokratisch gänzlich illegitime Machtträger auch in dieser Auslegungsvariante nicht statthaft. Schließlich könnte man immer noch auf das allgemeine Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG rekurrieren, um im Hinblick auf die Betätigung hoheitlicher Gewalt auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einen Demokratievorbehalt herzuleiten. Der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als strikt verbindliche Vorgabe normierten Volkssouveränität indessen käme unter diesen Voraussetzungen kein Ewigkeitswert mehr zu. Dies aber lässt sich mit Sinn und Zweck des Art. 79 Abs. 3 GG, der eben den gesamten Art.  20  GG und nicht bloß seinen ersten Absatz unter Schutz stellt, schwerlich in Einklang bringen. Daher muss sich aus grundgesetzlicher Sicht jede auf Hoheitsübertragungen beruhende hoheitliche Machtausübung im Geltungsbereich des Grundgesetzes an Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG messen lassen178. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als eigentlicher Sitz des Subjektsproblems. Sein Volksbegriff entscheidet darüber, wer Subjekt der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie sein kann. Dass auch die Gesamtheit der EU-Angehörigen Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sein kann, wäre dann zu bejahen, wenn Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG die grund­ gesetzliche Volkssouveränität  – durchaus im Einklang mit dem Wortlaut  – als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte normativ kon­ kretisierte.

177

Im Ergebnis gleich Stern (Fn. 73), S. 535 f. So im Ergebnis auch Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 57 f.; Kaufmann (Fn. 161), S. 71 und 425 ff.; Storost, „… dem Frieden der Welt zu dienen“, in: Murswiek / ders. / Wolff (Hrsg.), Festschrift für Quaritsch, 2000, S.  31 (44); Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, in: DVBl. 1999, S. 637 (643 f. und 649). Anderer Ansicht etwa Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene im Lichte des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungs­ gerichts, in: EuR 1995, S. 21 (24 ff.) und Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 74. 178

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3. Konsequenzen für die weitere normwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Subjektsproblem Als von seiner sprachlichen Gestalt her offene Fundamentalnorm ist der für das hier interessierende Subjektsproblem zentrale Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG in ein komplexes, auf den ersten Blick vielfach widersprüchliches Netz von inhalts­ bestimmenden Bezüglichkeiten eingebettet. Welches Volksverständnis Art.  20 Abs. 2 Satz 1 GG zugrundeliegt, hängt beispielsweise ab vom systematischen Verhältnis zum Sozialstaatsprinzip oder zu Art.  146  GG, von der genetischen Prägung durch diese oder jene zeitgeschichtliche Auffassung, von der Rezeption unterschiedlichster verfassungsgeschichtlicher Traditionen. Indes wurde vorstehend bereits methodisch wie inhaltlich vorgesorgt, um dieses verwickelte Netz von Bezüglichkeiten zu entwirren und strukturiert den rechtlich maßgeblichen Bezugsrahmen von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zu rekonstruieren. Nicht hintergehbarer Ausgangspunkt für die normwissenschaftliche Analyse des Subjektsproblems ist demnach die Problemabschichtung nach rangmäßig unterschiedlich zu bewertenden Auslegungskriterien179. Nachdem der Wortlaut sich als nicht weiter ergiebig erweist, kommt es folglich zunächst auf die Grundgesetzsystematik, ferner auf die Entstehungsgeschichte und zuletzt auf die sonstigen Interpretationselemente an. Daneben wird sich weisen, dass innerhalb dieser verschiedenen Auslegungs­ perspektiven durchaus unterschiedliche, gegenläufige Deutungsmöglichkeiten in Betracht kommen. Eben weil Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in ein komplexes Netz inhaltsbestimmender Bezüglichkeiten gestellt ist, können sich auf den verschiedenen Auslegungsebenen widersprüchliche Deutungsimpulse ergeben. Diese wiederum lassen sich letztlich auf die beiden im staatstheoretischen Teil entwickelten idealtypischen Grundkonzeptionen von Volkssouveränität und die daran anknüpfenden Demokratieparadigmen zurückführen. Auch die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Volkssouveränität stellt sich daher nur teilweise als eine dem verbands­ orientierten Demokratieverständnis und seinen Paradigmen verbundene nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur dar; teilweise lässt sie sich hingegen im Sinne des individuumszentrierten Ansatzes und der ihn ausprägenden Demokratieparadigmen als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur begreifen. Deshalb ist es möglich, für die normwissenschaftliche Analyse des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf die wirklichkeitswissenschaftlichen Überlegungen zum demokratischen Volks­ verständnis zurückzugreifen. Um das Subjektsproblem normwissenschaftlich aufzubereiten, kann und soll mithin das traditionelle Auslegungsprogramm mit der bereits vorstrukturierten staatstheoretischen Diskussion um das demokratieadäquate Volksverständnis  – 179

Vgl. dazu auch Müller, Wer ist das Volk?, 1997, S. 41: „Taucht ‚Volk‘ in Normtexten auf, also vor allem in Verfassungsurkunden, so ist es als juristisches Tatbestandsmerkmal ernst­ zunehmen und lege artis zu interpretieren.“

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methodisch stimmig – verschränkt werden. Dabei wird sich im Ergebnis zeigen, dass sich auch der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nur als polyvalentvariabler begreifen lässt, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG insofern als (entwicklungs-) offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte normative Gestalt annimmt.

V. Das Volksverständnis des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in grundgesetzsystematischer Perspektive Wegen des Vorrangs der normtextbezogenen Interpretationselemente180 und der relativen textuellen Offenheit des einschlägigen Grundgesetzartikels selbst181 kommt der systematischen Auslegung eine zentrale, vorrangige Rolle bei der normwissenschaftlichen Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zu182. Insofern muss besonders sorgsam auf den grundgesetzsystematischen Bezugsrahmen eingegangen werden, aus dem heraus der Volksbegriff des Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG, das grundgesetzliche Verständnis von Volkssouveränität positivrechtliche Kontur gewinnen. Handelt man den grundgesetzsystematischen Bezugsrahmen anhand der wirklichkeitswissenschaftlich erörterten Problemstellungen ab, offenbart sich indes schon bald, dass auch der Verfassungstext durchaus gegenläufigen Demokratieparadigmen folgt und sich von daher in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG schon normtextuell ein vereinseitigendes Volksverständnis, eine reduktive Konzeption von Volkssouveränität verbietet183.

1. Das Herrschaftsproblem in grundgesetzsystematischer Perspektive Die Demokratiekonzeption des Grundgesetzes ist stark herrschaftszentriert. Unverkennbar weist das Grundgesetz aber auch Spuren des gegenläufigen Demokratieparadigmas auf, das sich am Leitbild der freiheitlichen Selbstgesetzgebung orientiert.

a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Volksherrschaft Deutlicher Beleg für die Herrschaftszentriertheit des Grundgesetzes ist, dass es die demokratische Staatsform nahezu ausschließlich als mittelbare Demokratie ausgestaltet hat184. Der demokratischen Leitidee einer Identität von Herrschen 180

Siehe oben Einleitung II. = S. 72. Siehe oben Kapitel 9 IV. 1. = S. 584. 182 So im Ergebnis auch Saalfrank (Fn. 178), S. 50. 183 Vgl. des Weiteren Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 (61). 184 Hierzu – ohne dass man sich seine weitergehenden Schlussfolgerungen zu eigen machen muss – Jestaedt (Fn. 131), S. 166 ff. 181

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den und Beherrschten, wie sie in direktdemokratischen Verfahrensprozeduren Gestalt annimmt, misst das Grundgesetz insofern einen geringen Stellenwert bei185. Das Grundgesetz entfaltet Demokratie und Volkssouveränität nicht nach dem Leitbild der Herrschaftsfreiheit, sondern primär als eine herrschaftliche Organisa­ tionsform, im Rahmen derer führerschaftlich186 die staatliche Willens- und Entscheidungseinheit erzeugt wird. Das insofern deutlich zum Ausdruck gelangende Verständnis von Volkssouveränität als Volksherrschaft legt es aus den bereits ausführlich dargelegten Gründen nahe, das durch die Staatsangehörigkeit bestimmte Staatsvolk als Subjekt der Demokratie zu qualifizieren: Weil die Staatsangehörigen durch ihre besonderen Loyalitätspflichten die Staatsherrschaft erhalten, sollen auch sie allein demokratisch an ihr teilhaben187. Dieser herrschaftliche Aspekt der grundgesetzlichen Demokratie spiegelt sich einschließlich seiner demokratietheoretischen Implikationen auch in den Regelungen über den promessorischen Amtseid188 der obersten Magistrate wider. Gemäß Art. 56 Satz 1 und 64 Abs. 2 müssen der Bundespräsident189 sowie die Mitglieder der Bundesregierung vor Amtsantritt versprechen, zum Wohle der Geführten zu handeln und das Recht zu achten. Derartige Versprechenseide haben Könige und Fürsten seit der Antike abgelegt190. Als eigentliche verfassungsgeschichtliche Vorbilder der grundgesetzlichen Eidesnormen sind indes die landesherrlichen Versprechungen in den deutschen Territorien sowie die Eidespflichten des ursprünglich monarchischen Staatsoberhaupts anzusehen, die in den Urkunden fast aller konstitutionellen Monarchien seit 1791 verankert waren191 und  – mutatis mu­tandis  – auch in die republikanische Weimarer Reichsverfassung übernommen wurden192. Aus diesen verfassungsgeschichtlichen Zusammenhängen erhellt auch die zentrale Funktion der Amtseide. Durch die Eidesleistung wird den Untertanen signalisiert, sie könnten sich auf die Treue der – ursprünglich monarchischen – Staatsführer verlassen und darauf vertrauen, dass sich deren Herrschaftsgewalt nicht nur in den ihr gesetzten äußersten Grenzen hält, sondern überdies den 185 Pointiert Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 3 ff. Vgl. ferner Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 204 ff. und Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S. 44. 186 Vgl. Böckenförde (Fn.  167), Rn.  49, der vom grundgesetzlichen Regierungsprinzip der ‚Führerschaft‘ spricht. 187 Dazu Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 122. 188 Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 56 Rn. 3. 189 Zum Amtseid des Bundespräsidenten vgl. nur Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 51 ff. 190 Friesenhahn, Der politische Eid, 1979, S. 35. 191 Friesenhahn (Fn. 190), S. 37 f. 192 Art.  42 WRV  – dazu auch Jekewitz, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativ­ kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art. 56 Rn. 1.

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Belangen, dem Wohl des Volkes dient193. Wenn daher das Grundgesetz das Institut der Eidespflichten rezipiert und man dies nicht sogleich als bloßes verfassungsgeschichtliches Relikt abtun will194, so lassen sich die Art. 56 und 64 Abs. 2 GG als Indizien dafür interpretieren, dass das Grundgesetz von einer prinzipiellen Trennung von Herrschenden und Beherrschten ausgeht und im Übrigen dem ins Mittelalter zurückreichenden Gedanken eines trusteeship der Führer195 anhängt. Insofern scheint das Grundgesetz nicht nur – ganz im Sinne des dezidiert volksherrschaftlichen Demokratieparadigmas  – dem aus dem individuumszentrierten Demokratieverständnis ableitbaren Postulat der Herrschaftsfreiheit eine deutliche Absage zu erteilen. Zugleich deutet sich an, dass die Herrschaftsausübung durch Magistrate dem Grundgesetz zufolge eine ganz spezifische personale Basis aufweist. Denn das Treueversprechen, das die Herrschaftsorgane ablegen, steht in engem Zusammenhang zur besonderen Loyalitätspflicht der Verbandsangehörigen196. Verfassungsgeschichtlich liegt dies auf der Hand. Zwischen den landesherrlichen Versprechungen in den deutsche Territorien und der Huldigung durch die Untertanen bestand ein unmittelbarer Konnex197. Nach der paradigmatischen französischen Verfassung von 1791 war davon auszugehen, dass der französische König abgedankt hatte und füglich keinen Gehorsam (mehr) verlangen konnte, wenn er den Amtseid nicht leistete oder ihn widerrief198. Vor diesem Hintergrund suggeriert das grundgesetzliche Institut des Amtseids, dass sich die Herrschaft der demokratischen Magistrate in einem auch personal und nicht bloß territorial definierten Rahmen entfalten soll. Im Zweifel ist dies der Rahmen, den der nationalstaatliche Herrschaftsverband abgibt, denn hier korrespondiert die besondere Loyalitätspflicht der Verbands-, nämlich der Staatsangehörigen mit der ihnen gegenüber obliegenden Schutzpflicht des Verbands199 und folglich auch seiner 193 Vgl. etwa Barley, Das Kommunalwahlrecht für Ausländer nach der Neuordnung des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG, 1999, S. 32. 194 Darum, dem Eid neben dem moralisch-ethischen auch einen aktuellen rechtlichen Sinn abzugewinnen, bemüht sich Fink (Fn. 188), Rn. 7. 195 Hierzu etwa Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  3, 3. Aufl. 2005, § 34 Rn. 30; auch Isensee (Fn. 187), Rn. 131. 196 Dazu etwa Birkenheier (Fn. 130), S. 66 f. 197 Siehe dazu nur Schilling, Aufbruch und Krise, 1994: „In der Epoche des Ständestaates hatten sich beim Regierungsantritt eines neuen Herrschers Stände und Landesherr gegenseitig Treue zu schwören. Der Fürst, der auf die Erbhuldigung seiner Stände angewiesen war, hatte die alten Rechte und Privilegien des Landes zu bestätigen.“ Im Frühkonstitutionalismus wird die Huldigung dann an die Ablegung des Verfassungseids gekoppelt. Prototypisch hierfür ist § 10 der württembergischen Verfassungsurkunde vom 25. September 1819: „Der Huldigungseid wird dem Thronfolger erst dann abgelegt, wenn Er in einer den Ständen des Königreichs auszustellenden feierlichen Urkunde die unverbrüchliche Festhaltung der Landes-Verfassung bei Seinem Königlichen Worte zugesichert hat.“ 198 Chapitre II / Section Première / Art. 5 der frz. Verf. Von 1791: „Si un mois après l’invitation du Corps législatif, le roi n’a pas prêté serment, ou si, après l’avoir prêté, il le rétracte, il sera censé avoir abdiqué la royauté.“ 199 Dazu nur Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2004, Rn. 51.

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Magistrate. Art. 56 GG bestätigt diese Sichtweise expressis verbis, denn der Eid der höchsten demokratischen Magistrate erstreckt sich allein auf das ‚Deutsche Volk‘200. Diese spezifische Ausrichtung demokratischer Herrschaft auf die nationalen Staatsangehörigen hin legt den (Umkehr-)Schluss nahe, dass auch nur diese zur demokratischen Herrschaftsteilhabe berufen sind201. Angesichts dieser grundgesetzsystematischen Zusammenhänge lässt sich der – vorläufige – Eindruck gewinnen, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Rückbindung aller gebietsgesellschaftlich wirksamen Herrschaftsgewalt an die Angehörigen des nationalstaatlichen Herrschaftsverbands fordert, er Volkssouveränität also als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur normiert. Dass sich Volkssouveränität danach nur im nationalstaatlichen Rahmen erzeugen lässt, steht dem Verständnis von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 als (entwicklungs-)offener Zurechnungsstruktur ersichtlich entgegen.

b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als freiheitliche Selbstgesetzgebung Freilich lässt sich Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG aus grundgesetzsystematischer Sicht nicht nur im Paradigma von Volkssouveränität als Volksherrschaft entfalten. So gestalten die staatsorganisationsrechtlichen ‚Ausführungsbestimmungen‘ des Grundgesetzes Volkssouveränität zwar strikt nach dem Modell mittelbarer Demokratie aus202. Doch in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG steht das Plebiszit grundsätzlich gleichberechtigt neben den Entscheidungsformen repräsentativer Demokratie203. Des Weiteren hat das Grundgesetz in Art. 21 GG die besondere verfassungsrechtliche Funktion der Parteien und damit der Sache nach eine zeitgemäße Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie anerkannt204. Nicht zuletzt wegen dieser 200 Vgl. Bleckmann, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, in: NJW 1990, S. 1397 (1399); Jestaedt (Fn. 131), S. 210; Murswiek, Parlament, Kunst und Demokratie, in: Dörr u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schiedermair, 2001, S. 211 (220 ff.); auch Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 32. 201 So im Ergebnis beispielsweise Birkenheier (Fn. 130), 1976, S. 33 sowie Isensee (Fn. 187), Rn. 38. 202 Dazu nur Hofmann, Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 129 f. 203 Darauf weist überzeugend Abendroth (Fn.  171), S.  78 ff. hin; ebenso Thedieck, Demo­ kratietheorien und Grundgesetz, in: JA 1991, S.345 (349), Merkel, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1996, S. 113, Degenhart (Fn. 69), S. 89 und Wegge (Fn. 60), S. 148; offensichtlich auch Huber (Fn. 10), S. 14. Nuanciert zurückhaltend Hofmann (Fn. 202), S. 144 f. Gänzlich anderer Ansicht freilich zum Beispiel Jestaedt (Fn.  131), S.  166; auch Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, S. 359 (361); Thieme (Fn. 145), S. 752. 204 Grundlegend Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 78 ff.; ders., Zum Begriff und Wesen der Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 142 ff. (zu Leibholz’

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parteiendemokratischen Ausrichtung ist auch die hinter dem Modell unmittelbarer Demokratie stehende Idee einer Identität von Herrschenden und Beherrschten und damit das demokratische Paradigma freiheitlicher Selbstgesetzgebung dem Grundgesetz keineswegs fremd205. Dies wiederum stützt die vom Wortlaut her durchaus vertretbare These206, dass Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG Volkssouveränität gerade nicht als strikt nationaldemokratische Herrschaftsstruktur ausprägt, sondern eine speziell für Hoheitsakte geltende (entwicklungs-)offene demokratische Zurechnungsstruktur formuliert, die mitunter auch auf die tendenzielle Identität von hoheitlich Regierenden und hoheitlich Regierten abzielt und insofern mit dem Verständnis von Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur in Einklang steht. Gegen die rein herrschaftszentrierte Ausdeutung von Volkssouveränität im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG spricht weiterhin und vor allem der zentrale Stellenwert207, den das Grundgesetz der Menschenwürde einräumt208. Nicht ohne Grund steht die Menschenwürde an der Spitze des Grundgesetzes209 und strahlt von dort auf die gesamte Verfassungsrechtsordnung und nicht etwa nur auf den Grundrechtsteil aus210. In Art. 1 Abs. 1 GG heißt es, dass alle staatliche Gewalt verpflichtet ist, die unantastbare Menschwürde zu achten und zu schützen. Alle staatliche Gewalt steht damit im Dienste der Menschenwürde. Damit wird aber auch die Volkssouveränität in den Dienst der Menschenwürde gestellt211, denn die von Verfassungs wegen zwingend menschenwürdefunktionale Staatsgewalt ist ihrerseits gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG Ausfluss der Volkssouveränität. Indem das Grundgesetz Menschenwürde und Volkssouveränität systematisch ver-

Modell der parteienstaatlichen Demokratie vgl. etwa knapp und prägnant Thedieck [Fn. 203], S. 349; ausführlicher Reichel, Das demokratische Offenheitsprinzip und seine Anwendung im Recht der politischen Parteien, 1996, S. 54 ff. sowie Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982, S. 135 ff.); in diesem Sinne auch Abendroth (Fn. 203), S. 81; ders., Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft, 1953, S.  6 f.; ders., Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie, in: GMH 1952, S. 641 (643). Skeptisch Hofmann (Fn. 202), S. 132 f. 205 Dagegen freilich schon Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, 1973, S. 24. 206 Siehe oben Kapitel 9 IV. 1. = S. 584. 207 Dazu auch Hain (Fn. 72), 1999, S. 212 ff. 208 Schliesky (Fn. 46), S. 679 f.; Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 30; auch Delbrück, Das Staatsvolk und die „Offene Republik“, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 776 (790). 209 Vgl. auch Frank (Fn.  129), S.  298 und Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemo­ kratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: StWiss 1994, S. 305 (322). 210 Grundlegend dazu Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 56 ff. 211 In diesem Sinne etwa v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 31 ff.; vgl. ferner Saalfrank (Fn. 178), S. 53, der freilich andere Konsequenzen aus diesem grundgesetzsystematischen Befund zieht.

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schränkt212, erwächst die ideengeschichtliche Vorstellung freiheitlicher, das heißt tendenziell herrschaftsfreier Selbstgesetzgebung in Normativität213. Diese für das interpretatorische Verständnis von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG so zentrale These verdient es, vertieft zu werden. Wesentlicher Kerngedanke des ansonsten so facettenreichen und schwerlich auf ein bestimmtes homogenes Theoriekonzept relativierbaren Menschenwürdebegriffs214 ist die Vorstellung autonomen Menschseins215. Ganz gleich, ob Menschwürde als naturrechtlich vorgegebener Wert an sich216 oder als verfehlbare Leistung individueller Identitätsbildung217 zu begreifen ist, beruht das Recht auf Menschenwürde essentiell darauf, dass der Mensch sich selbstbestimmt und eigenverantwortlich in die Welt hinein entwerfen können soll218. Daher widerspricht es nach der berühmten Objektformel grundsätzlich der Menschenwürde, wenn der Mensch zum bloßen Objekt im Staat, zum bloßen Objekt bestehender Herrschaftszusammenhänge gemacht wird219. Unter den Bedingungen moderner Staatlichkeit wächst zusehends die Gefahr, dass der Einzelne immer häufiger zum bloßen Gegenstand staatlicher (oder gesellschaftlicher) Macht wird; zugleich nimmt die Angewiesenheit des Einzelnen auf den Staat zu, denn nur herrschaftliche Gemeinwesen sind potenziell in der Lage, die knapper werdenden ökonomischen und ökologischen Ressourcen gerecht zu verteilen und damit die realen Voraussetzungen menschlicher Autonomie zu gewährleisten220. Damit verweist die grundgesetzliche Menschenwürde auf dasjenige Problem, das der Sache nach, allerdings unter anderen sozioökonomischen und politischen Voraussetzungen, bereits die Kontraktualisten des Aufklärungsnaturrechts beschäf-

212 Dazu zum Beispiel Blanke, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 34 (40 f.). 213 In diese Richtung Schliesky (Fn. 46), S. 272 sowie Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 11 (28 f.); kritisch Jestaedt (Fn. 131), 1993, S. 507 f. 214 Zur Konkretisierung des Menschenwürdesatzes auch v. Komorowski (Fn. 78), S. 558 f. 215 BVerfGE 44,187 (228): „… denn die unverlierbare Würde des Menschen besteht gerade darin, dass er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“ Vgl. auch Maihofer (Fn. 77), Rn. 106. 216 Prototypisch: Robbers, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 1 Rn. 8 ff. 217 Prototypisch: Podlech, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 1 Abs. 1 Rn. 11; kritisch Kunig, in: v. Münch / ders. (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 13. 218 Vgl. Enders, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  1, Stand: September 2007, Art. 1 Rn. 31. Auch Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, in: AöR 1993, S. 353 (355): „Gleichwohl besteht zwischen diesen beiden juristischen Mitgift- und Leistungstheorien kein fundamentaler Gegensatz. Denn sie beruhen letztlich auf dem Prinzip der Personenhaftigkeit des Menschen, der Subjektivität des Individuums und d. h.: auf dem Prinzip der Autonomie des einzelnen (…).“ 219 BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 115, 118 (153). 220 Benda, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht, in: ders. / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 6 Rn. 17 f.

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tigte: Wie lässt sich menschliche Autonomie, die gleiche Freiheit aller221, die Menschenwürde im Prozess unumgänglicher Vergemeinschaftung bewahren?222 Dies geschieht zum einen durch die Abwehr menschenunwürdiger Übergriffe insbesondere des Staates auf Grundlage der Grund- und Menschenrechte, als deren Basisnorm die Menschwürde zu Recht firmiert223. Da angesichts der rasanten ökonomischen und ökologischen Entwicklungen die realen Voraussetzungen autonomer, menschenwürdiger Lebensgestaltung – heute, stärker denn je – durch das Gemeinwesen und in ihm ständig von Neuem geschaffen werden müssen, greifen die regelmäßig auf Abwehr staatlicher Eingriffe gerichteten und grundsätzlich nur reaktiv wirkenden Grund- und Menschenrechte für sich allein gesehen zu kurz. Dies gilt selbst dann, wenn mittlerweile infolge eines Wandels des dogma­ tischen Verständnisses von Grundrechten224 diese zugleich eine objektive Wertordnung verkörpern, „die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt“225. Denn selbst bei Zugrundelegung dieses Grundrechts­ verständnisses226 können die realen Voraussetzungen menschenwürdiger Lebensgestaltung nur in besonderen Einzelfällen, nicht aber generell-kontinuierlich gewährleistet werden227. Menschliche Autonomie muss daher zum anderen auch in den politischen Prozessen selbst bewahrt werden, in denen die unverzichtbaren realen Vorausset­ zungen menschlicher Autonomie beständig aktualisiert werden228. Dies geschieht durch demokratische Teilhabe an diesen Herrschaftsprozessen, denn sie verhindert tendenziell, dass der Mensch zum Objekt im Staat wird229. Insofern wird 221

Vgl. dazu auch Meyer, Soziale Demokratie und Globalisierung, 2002, S. 68. Dazu nochmals Rousseau, Du Contrat Social (Burgelin [Hrsg.]), 1992, S.  38 f. (Livre I / Chapitre VI) – siehe auch schon oben Kapitel 5 I. 1. b) = S. 189. 223 Häberle (Fn. 210), Rn. 56 ff. 224 Dazu etwa auch Grimm, Artikel ‚Verfassung‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 633 (641). 225 BVerfGE 39, 1 (41). Zur Einordnung dieser Grundrechtsdogmatik in die allgemeine Grundwertedebatte Kardinal Lehmann, Artikel ‚Grundwerte‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl. 1987, Sp. 1131 (1134). 226 Dazu überblicksweise Hesse, Artikel ‚Grundrechte‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 2, 7. Aufl. 1987, Sp. 1111 (1116 f.) sowie eingehend Enders (Fn. 218), vor Art. 1 Rn. 62 ff. 227 Denn dem Gesetzgeber wie auch der vollziehenden Gewalt kommt bei der Gewährleistung dieser grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte ein weiter Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsbereich zu (so ausdrücklich BVerfGE 77, 170 [214 f.]). 228 Drath, Regierung und Grundrechte, in: ders., Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft, 1977, S. 24 (29): „Menschenrechte bedingen Menschenwürde; diese kann aber heute nicht mehr gewährleistet werden durch Freiheit vom Staat, sondern im Gegenteil durch Maßnahmen des Staates.“ Siehe ferner auch Denninger (Fn. 18), S. 134. 229 Vgl. zu diesem Menschenwürdebezug der Demokratie Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grund­ge­ setz,Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 167; in gemeineuropäischer Perspektive hierzu Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 270 ff. 222

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die Volkssouveränität von der Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde erfasst, die ihrerseits zur Basisnorm auch der Volkssouveränität avanciert230. Die von der grundgesetzlichen Systematik suggerierte Menschenwürdefunktionalität von Volkssouveränität besteht also darin, dass sie eine Form der Machtausübung vorsieht, die Autonomie und Menschenwürde nicht nur nicht entgegensteht, sondern ihr tendenziell sogar förderlich ist231. Dieser systematische Zusammenhang zwischen dem Recht auf Menschenwürde und dem Prinzip der Volkssouveränität232 wird dadurch noch verstärkt, dass das Grundgesetz beide Bestimmungen in Art. 79 Abs.  3  GG mit Ewigkeitsgehalt ausgestattet hat233. Das Grundgesetz schlägt in­ sofern in der Tat systematisch eine Brücke zu den am Ideal der Herrschafts­freiheit ausgerichteten Paradigma von Volkssouveränität als freiheitlicher Selbstgesetz­ gebung.

c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen Aus dem Vorstehenden ist nun freilich nicht der übereilte Schluss zu ziehen, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nur mehr im Sinne des individuumszentrierten Verständnisses von Volkssouveränität auszulegen wäre und jeder Regierte zwingend einen Anspruch auf aktuelle Teilhabe an der Regierung haben müsste. Stattdessen verdeutlicht der grundgesetzsystematische Nachweis gegenläufiger Demokratieparadigmen, dass sich eine einseitige Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG – sei es als nationaldemokratische Herrschaftsstruktur, sei es als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur – nicht aufrechterhalten lässt. Vielmehr stellt sich die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte dar, der es nicht per se widerstreitet, wenn in Ergänzung nationalstaatlicher Volksherrschaft neue Demokratiestruk 230

Häberle (Fn. 210), Rn. 67 ff. Vgl. Abendroth (Fn. 171), S. 75; ferner Bryde, Stellungnahme des Landtags von Schleswig-Holstein, in: Isensee / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 238 (256). 232 Dazu Sterzel, Die Einheit von Grundrechtsidee und Demokratieprinzip des Grundgeset­ zes, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 156; Zu­leeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, in: Staat 1978, S. 27 (31); Gusy / Ziegler, Der Volksbegriff des Grundgesetzes, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 222 (228); Blanke, Antidemokratische Effekte der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie, in: KJ 1998, S. 452 (457). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Kritik von Hofmann (Fn. 218), S. 363 f. an den unter Verfassungsjuristen gängigen Menschenwürdeverständnissen, an denen er hauptsächlich „die Vernachlässigung der staatsstrukturellen Bedeutung der Menschenwürdegarantie“ bemängelt. 233 Siehe auch Kadelbach, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 2007, S. 7 (9): „Autonomie, verstanden als individuelle und demokra­ tische Selbstbestimmung, steht, wie in jedem Verfassungsstaat, im Zentrum des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 1, 20, 79 Abs. 3 GG).“ 231

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turen entstehen, die etwa der demokratischen Leitvorstellung freiheitlicher Selbstgesetzgebung folgen234. Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG bezeichnet in dieser grundgesetzsystematischen Perspektive eine Personenmehrheit, die alle in relevanter Weise von den Hoheitsakten einer Herrschaftsorganisation betroffenen Individuen erfasst und im Übrigen dadurch charakterisiert wird, dass jedes ihrer Glieder als selbst an der hoheitlichen Herrschaftsausübung beteiligt angesehen werden kann und die hoheitliche Herrschaftsorganisation just dadurch auf Dauer konsolidiert erscheint235.

2. Das Subjektsproblem in grundgesetzsystematischer Perspektive Eine Reihe systematischer Gesichtspunkte spricht dafür, dass das Grundgesetz Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung begreift. Diese können aber nicht in dem Sinne als abschließend verstanden werden, dass ein Rückgriff auf das gegenläufige Paradigma, das Volkssouveränität als Ausfluss individueller Selbstbestimmung deutet, grundgesetzsystematisch ausgeschlossen wäre.

a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Ausdruck kollektiver Selbstbestimmung Der demos, das Subjekt demokratischer Legitimation, wird in Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG zwar nicht näher präzisiert. Jedoch erwecken andere grundgesetz­liche Bestimmungen den Eindruck, Volk im Sinne des Grundgesetzes sei generell als ein organisch handlungsfähiges, national dimensioniertes und ethnisch homo­genes Kollektiv zu begreifen236. Mit Rücksicht auf die systematische Einheit der Verfassung237 könnte dieser anderen Grundgesetzbestimmungen eigene Volksbegriff auch auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG überwirken238. 234 In diesem Sinne auch Menzel, Legitimation staatlicher Herrschaft durch Partizipation Dritter?, 1980, S. 84. 235 In diese Richtung des Weiteren Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 119 ff.; Holzmann, Das Kooperationsprinzip, 2006, S. 187 f.; Hain (Fn. 72), S. 325 ff.; Zuleeg, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Präambel Rn. 20; Frank (Fn. 129), S. 298 f.; dagegen entschieden: Jestaedt (Fn. 131), S. 216 ff.; Murswiek (Fn. 200), S. 217 f.; Dederer (Fn. 185), S. 200 ff. 236 Dagegen dezidiert Zuleeg, Juristische Streitpunkte zum Kommunalwahlrecht für Ausländer, in: Sieveking u. a. (Hrsg.), Das Kommunalwahlrecht für Ausländer, 1989, S. 113 (119). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die empirischen Hinweise von Winkler, Artikel ‚Migration‘, in: Honecker u. a. (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 1076 f. zur ethnischen Heterogenität der deutschen Nachkriegsgesellschaft. 237 Zu diesem Auslegungsgrundsatz nur Maurer (Fn. 46), § 1 Rn. 61. 238 So etwa Jestaedt (Fn. 131), S. 209.

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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So liegt der Präambel, Art. 1 Abs. 2 GG sowie dem Schlussartikel239 ein klar organizistischer Volksbegriff240 zu Grunde. Die Präambel beschreibt das Volk als von einem Willen beseelt und als verantwortliches Wesen241. In Art. 1 Abs. 2 GG geht das Grundgesetz davon aus, das Volk sei bekenntnisfähig242. In Art. 146 GG schließlich gilt das Volk dem Grundgesetz als zu freier Entscheidung befähigt243. Diese personifizierende Diktion, durch die dem Volk als überpersönlicher Entität eine anthropomorphe Gestalt zuerkannt wird, suggeriert, dass das Volk dem Grundgesetz nach mehr darstellt als einen Zusammenschluss von Individuen unter einem gemeinsamen Rechtsgesetz. Volk ist danach nicht bloß organisierte Vielheit, sondern vorgegebene, handlungsfähige Einheit244. Der Zusammenschluss freier und gleicher Menschen ist eine notwendige, offensichtlich aber keine hin­reichende Bedingung, um auf ihn den grundgesetzlichen Volksbegriff anwenden zu können: Als bloße Vertragsgemeinschaft ist das Volk noch kein lebendiges Ganzes, als das es die genannten Grundgesetzbestimmungen in organizistischer Tradition beschreiben. Zum handlungsfähigen Kollektiv wird das Volk dabei anscheinend als Nation245. In den genannten Grundgesetzbestimmungen wird das Volk ausnahmslos als ‚deutsches Volk‘ angesprochen246. Dass das die Nationalität benennende Attribut ganz überwiegend groß geschrieben wird, weist darauf hin, dass das Grund­ gesetz an diesen Stellen in der Tat von einer begrifflichen Einheit von Volk und 239 Prototypisch für die systematisch an diesen Grundgesetzvorschriften anhebenden Interpre­ tationen des Volksbegriffs in Art. 20 Abs. 2 GG siehe Scholz, Verfassungswidriges Ausländerwahlrecht, in: Maurer (Hrsg.), Festschrift für Dürig, 1990, S. 367 (377): „Der Begriff des ‚Volkes‘ ist in diesem Sinne unmittelbar staatsrechtlich verfaßt; es handelt sich um das deutsche Staatsvolk als Grundelement des deutschen Staates und deutscher (nationaler) Volkssouve­ ränität.“ 240 Zur Kritik am organizistischen Volksverständnis allgemein Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 (262 ff.); dazu auch Sartori, Demokratie­ theorie, 1992, S. 32. 241 Zur rechtlichen Relevanz der Verantwortungsformel differenzierend Murswiek, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Präambel Rn. 199. 242 Zur juristischen Bedeutung des ‚Sich-Bekennens‘ Zuleeg, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 1 Abs. 2, 3 Rn. 6. 243 Zu Satz  2 der Präambel und seiner verfassungsrechtlichen Funktion siehe allgemein Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2004, Präambel Rn. 75 ff. 244 Vgl. Isensee (Fn. 187), Rn. 120 ff. 245 Vgl. etwa Kirchhof (Fn. 178), S. 643: „Zu der rechtlich vorgefundenen Wirklichkeit, die der Staat zu achten und auszugestalten hat, gehört das Staatsvolk, die Nation, die den konkreten Verfassungsstaat rechtfertigt, seine Aufgaben und Maßstäbe bestimmt. Der Staat ist die Körperschaft des Staatsvolkes, der Staatsangehörigen, die dank einer gemeinsamen Geschichte, einer sie verbindenden Kultur, einer Zusammengehörigkeit in politischen und wirtschaftlichen Anliegen den Willen zu einer Solidargemeinschaft haben.“ Siehe in diesem Zusammenhang auch Isensee (Fn. 187), Rn. 123 ff. 246 Vgl. speziell zur Präambel auch Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. / Schäfer / Tietmeyer, Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Aufl. 1994, S, 63 (79).

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Nation ausgeht247. Es ist demnach offensichtlich die nationale Dimension, die dem Volk jene Subjektsqualität vermittelt, die in der Präambel, in Art. 1 Abs. 2 GG und dem Schlussartikel unterstellt wird. Die Unterscheidung zwischen dem Volk als Summe seiner Teile und dem Volk als handlungsfähiger Nation zeigt sich besonders deutlich in der ursprünglichen Fassung der Präambel248. Hieß es dort, dass das Deutsche Volk auch für die Deutschen gehandelt habe, denen die Mitwirkung am Grundgesetz versagt geblieben sei, so erhellt hieraus, dass dem Grundgesetz zufolge das deutsche Volk als Nation nicht mit der Gesamtheit seiner Glieder vermengt werden darf249. Volk im Sinne der genannten grundgesetzlichen Vorschriften ist demnach die eine deutsche Nation. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage, welcher Nationenbegriff diesen Vorschriften zugrunde liegt. Gemeinhin wird grob zwischen zwei Grundbegriffen von Nation differenziert250. Während der eine Nation vornehmlich als politische Bekenntnisgemeinschaft fasst251, ist der andere tendenziell ethnischkulturell determiniert252. Anders als das französische Volk in der Verfassungspräambel von 1958253 definiert sich das deutsche Volk in Präambel und Schlussartikel nicht über das Bekenntnis zu politischen Leitideen wie Menschenrechte und Nationalsouveränität, sondern über die geschichtlichen Zusammenhänge, in die es als ‚Kulturrasse‘254 gestellt ist255. Nation im Sinne der genannten Vorschriften ist da-

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In diesem Sinne Isensee, Antragsschrift vom 9. Juni 1989 zu den Anträgen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 32 BVerfGG, in: ders. / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 3 (18). 248 Dazu auch Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 27 f. 249 Vgl. auch Kirchhof (Fn. 246), S. 79. 250 Dazu nur Buchheim, Das Prinzip ‚Nation‘ und der neuzeitliche Verfassungsstaat, in: ZfP 1995, S. 60 ff.; Smith, National identity and the idea of European unity, in: International Affairs, 1992, S. 55 (61); Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, 1999, S. 131 ff.; Dellavalle, Für einen normativen Begriff von Europa, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Die Europäische Union, 1993, S.  237 (244 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2002, S.  654 ff.; Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 934 ff. 251 Delbrück (Fn. 208), S. 783 ff. Prototypisch Renan, Qu’est-ce qu’une Nation?, in: Forest, Qu’est-ce qu’une Nation?, 1991, S. 31 (42): „L’homme n’est esclave ni de sa race, ni de sa langue, ni de sa religion, ni du cours des fleuves, ni de la direction des chaînes de montagnes. Une grande agrégation d’hommes, saine d’esprit et chaude de cœur, crée d’une conscience morale qui s’appelle une nation.“ 252 Delbrück (Fn. 208), S. 780 f.  253 Dort heißt es: „Le Peuple français proclame solennellement son attachement aux droits de l’homme et aux principes de la souveraineté nationale tels qu’ils ont été définis par la Déclaration de 1789, confirmée et complétée par le préambule de la Constitution de 1946.“  254 Heller (Fn. 240), S. 259. 255 In diese Richtung Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, in: DÖV 1988, S. 437 (441); siehe auch Fleiner, Verfassungsgrundsätze für einen multikulturellen Staat, in: Hammer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Öhlinger, 2004, S. 234 f.

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mit der historisch und kulturell gewachsene Zusammenschluss gerade des deutschen Volks als Ethnos256. Diese Einschätzung sieht sich vor allem durch Art. 116 Abs. 1 GG bestätigt257. Der Volksbegriff, der in dieser Vorschrift als Partikel des zusammengesetzten Substantivs ‚Volkszugehörigkeit‘ auftaucht, ist klar ethnisch konturiert258. Denn mit deutscher Volkszugehörigkeit meint Art. 116 Abs. 1 GG eindeutig die Zugehörigkeit zum deutschen Volk als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft, der Flüchtlinge und Vertriebene selbst dann angehören, wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen259. In Art. 116 Abs. 1 GG hängt das Grundgesetz insofern dem ‚östlichen‘ Nationenbegriff260 nach: Art. 116 Abs. 1 GG zufolge ist nämlich nicht allein die Zugehörigkeit zum Staat als politischem Verband, die Zugehörigkeit zur Staatsnation konstitutiv für die grundgesetzliche Deutscheneigenschaft. Vielmehr lässt sich Deutschsein hiernach auch völkisch begründen, aus der Zugehörigkeit zur ethnisch relativ homogenen Kulturnation ableiten261. Dies legt – prima facie – den Schluss nahe, dass das Grundgesetz Nation und Volk als Ethnos begreift262.

b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Ausdruck individueller Selbstbestimmung Würde Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG allein von diesem organischen, nationalen und ethnischen Volksbegriff bestimmt, so wäre es grundgesetzsystematisch wohl nicht angängig, Volkssouveränität als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte auszulegen, die Volks-Herrschaft immer auch als Ausdruck und Ausfluss individueller Selbstbestimmung gelten lassen will. Vielmehr dürfte Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG ausschließlich als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur zu verstehen sein, die die Selbstbestimmung eines bestimmten, ge 256 Bleckmann (Fn. 200), S. 1399; Beaud, Le droit de vote des étrangers, in: Rev. fr. Droit adm. 1992, 409 (417); Stöcker, Nationales Selbstbestimmungsrecht und Ausländerwahlrecht, in: Staat 1989, S.  71 (90); vgl. dazu auch Dederer (Fn. 185), S.  174 f.; ferner Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein (Begr.), Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 16 Rn. 11. 257 So auch Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen, 2. Aufl. 1994, S. 68 f.; ders., Die offene Republik, 1991, S. 61 f. 258 Delbrück (Fn. 208), S. 780 f.; auch Morlok, Demokratie und Wahlen, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 559 (577). 259 Dazu näher Vedder, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 4./5. Aufl. 2003, Art. 116 Rn. 43 ff. 260 Zu diesem beispielsweise Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen (Fn. 257), S. 33 ff.; auch Dellavalle (Fn.  250), S.  246 ff., der freilich vom objektiv-substantialistischen Nationbegriff spricht – im Unterschied subjektiv-voluntaristischen. 261 In diese Richtung Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 23 f. 262 Dahingehend etwa Oberndörfer, Die offene Republik (Fn. 257), S. 61; im Ergebnis zu Recht kritisch gegenüber dieser Annahme Schliesky (Fn. 46), S. 273.

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schichtlich gewordenen Kollektivs gebietet. Allerdings geht das Grundgesetz nicht insgesamt von einem derart geschlossenen, holistischen Volksbegriff aus. Vielmehr weist diese Doktrin zahlreiche Brüche auf, die das erzielte Auslegungsergebnis relativieren. Zunächst fragt sich, ob der organizistische Volksbegriff, wie er in den angeführten Verfassungsbestimmungen figuriert, repräsentativ ist für das gesamte Grundgesetz. Zweifel hieran nährt schon die Präambel selbst. Volk wird dort zwar als überindividueller Organismus beschrieben, der willens- und handlungsfähig ist. Doch hat es neuerdings seine Stellung als alleiniges Subjekt demokratischer Selbstbestimmung eingebüßt. So heißt es in Satz 2 der 1990 neu gefassten Präambel, dass die Deutschen als Individuen und nicht das deutsche Volk als transpersonale Einheit die Wiedervereinigung erreicht haben263. Gegenüber der ursprünglichen Fassung der Präambel, in der das ‚ganze Deutsche Volk‘ als Adressat des Wiedervereinigungsgebots figurierte, ist in der Neufassung der Präambel der organizistische Volksbegriff der Präambel insoweit atomisiert worden. Diese Modifikation stellt freilich keine vollständige Umwertung der bisherigen Präambel und des ihr eigenen Volksverständnisses dar. Wäre dies der Fall, so könnte die vom verfassungsändernden Gesetzgeber herrührende Neufassung nicht ohne Weiteres zur Interpretation des veränderungsfesten Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG herangezogen werden264. Jedoch enthält schon der ursprüngliche Präambeltext Durchbrechungen eines streng holistisch-organizistischen Volksbegriffs. Bereits in seinem ersten Satz ist von der Verantwortung des Deutschen Volkes vor den Menschen die Rede. Das überindividuelle Deutsche Volk ist kein Selbstzweck, sondern ist in seinem Wirken bedingt durch die Verwiesenheit auf die Menschen und ihre unhintergehbare Würde265. Auf den grundgesetzlichen Volksbegriff trifft insofern Hermann Hellers an die Adresse der Organismustheorien gerichtete Vorwurf gerade nicht zu, dass diese regelmäßig „das Bild eines überpersönlichen Lebenszusammenhangs“ fingierten, „der über das personale Tun und Treiben hinweg die einzelnen nur als seine blinden Werkzeuge benützt und nur als seine vollziehenden Organe gelten läßt“266. Das Kollektiv Volk wird in der Präambel nicht verabsolutiert, sondern steht im Dienst der Menschen. Insofern spiegelt die Präambel im Besonderen den zentralen Stellenwert wider, der dem Recht auf Menschenwürde, wie dargelegt, auch nach der Systematik des Grundgesetzes im Allgemeinen zukommt267. 263 Zur Frage, was mit den Begriffen „Deutsches Volk“ beziehungsweise „die Deutschen“ in den Sätzen 1, 2 und 3 der Präambel gemeint ist, vgl. kontrovers einerseits Murswiek (Fn. 241), Rn. 307 und andererseits Dreier (Fn. 243), Rn. 81. 264 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Pieroth (Fn. 64), Rn. 12. 265 Dazu überzeugend Häberle (Fn. 210), Rn. 63. 266 Heller (Fn. 240), S. 192. 267 Zutreffend weist Kunig, in: v. Münch / ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  1, 5. Aufl. 2000, Präambel Rn. 19 darauf hin, dass die in Rede stehende Präambelpassage durch die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG gewissermaßen wieder aufgenommen wird.

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Dies spricht gegen eine organizistische Verkürzung des grundgesetzlichen Volksbegriffs268. Der politisch handlungsfähige Volksverband bleibt dem Grundgesetz nach essentiell eine Zwecksetzung der ihn konstituierenden menschlichen Glieder269. Er steht überdies in der Verantwortung auch für die außerhalb des Verbands gebietsansässigen Menschen270. Ein rein organizistisch-holistischer Volksbegriff ist mit dem Grundgesetz daher nicht vereinbar271. Des Weiteren ist vor dem Hintergrund der Gesamtverfassung zu überlegen, ob der grundgesetzliche Volksbegriff ein strikt nationaler ist und die Volkssouveränität demzufolge auf den nationalstaatlichen Bezugsrahmen relativiert ist, wie die Präambel, Art. 1 Abs. 2 GG und der Schlussartikel dies auf den ersten Blick suggerieren. Als systematisches Argument für einen offenen, die nationale Engführung überwindenden Volksbegriff und infolgedessen auch für eine entwicklungsoffene Konzeption von Volkssouveränität werden in der Literatur häufig die Normen bemüht, aus denen gemeinhin die Europaoffenheit des Grundgesetzes beziehungsweise das grundgesetzliche Prinzip offener Staatlichkeit272 abgeleitet werden273. Die Argumentation aus Präambel und den Art.  23 bis 25  GG ist indes nur von bedingter systematischer Überzeugungskraft. Offene Staatlichkeit, insbesondere auch nach Europa hin, setzt nicht denknotwendig eine Auflösung oder auch nur eine Modifikation des nationalstaatlich inspirierten Volksverständnisses voraus. Eine Eingliederung in überstaatliche Strukturen ist schließlich auch dann möglich, wenn die demokratischen Entscheidungsrechte im Wesentlichen bei den nationalen Staatsvölkern verortet bleiben274. Die das Grundgesetz charakterisierende Europaoffenheit, das grundgesetzspezifische Prinzip offener Staatlichkeit lassen den womöglich national konturierten Volksbegriff und das damit einhergehende nationalstaatliche Verständnis von Volkssouveränität nicht ipse iure obsolet werden. Spricht die Präambel von dem vereinten Europa, dem zu dienen dem deutschen Volk grundgesetzlich aufgetragen ist, so ist dies lediglich ein Indiz dafür, 268

Bryde, Integrationsverzicht als Verfassungsgebot?, in: StWiss 1990, S. 202 (216). Häberle (Fn. 210), Rn. 65. 270 Dies folgt nach zutreffender Ansicht aus Satz 1 der Präambel (so etwa Rühmann, in: Umbach / Clemens [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 1, 2002, Rn. 19 und 21; anderer Ansicht allerdings Dreier [Fn. 243], Rn. 35 und wohl auch Murswiek [Fn. 241], Rn. 211). 271 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Heller (Fn. 240), S. 263: „Die bedenklichste Verwirrrung ist in der Staatslehre dadurch entstanden, daß seit Rousseau und der Romantik dem Volk als Nation eine Volkspersönlichkeit zugeschrieben und diese sowohl mit Gefühl und Bewußtsein wie auch mit politischem Willen und politischer Handlungsfähigkeit ausgestattet wurde.“ 272 Grundlegend Vogel (Fn. 106); siehe auch Wahl: Internationalisierung des Staates, in: Bohnert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 193 (194 f.) sowie Magiera, Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, in: Jura 1994, S. 1 (2). 273 Vgl. zum Beispiel Bryde (Fn. 209), S. 320 f.; Wallrabenstein (Fn. 250), S. 157; Blanke (Fn. 232), S. 460; Frank (Fn. 129), S. 295 f.; Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungs­ organisation, 1999, S. 168. 274 Immerhin geht eine ganze Reihe von Autoren davon aus, dass selbst die hoch integrierte EU nationaldemokratisch legitimiert wird und von Grundgesetzes wegen auch nur national­ demokratisch legitimiert werden darf – prototypisch Kaufmann (Fn. 161), S. 425 ff. 269

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dass das Grundgesetz eine postnationale Demokratieoption entbindet. Dieses Indiz freilich wird in der Präambel gleich in doppelter Hinsicht relativiert. Zum einen steht das Staatsziel eines vereinten Europas unter dem Vorbehalt gleich­ berechtigter Teilhabe des deutschen Volkes275. Dies könnte man dahin interpretieren, dass die Letztentscheidungsbefugnis bei einem intergouvernementalen Organ276 verortet sein muss277. Zum anderen ist das Staatziel eines vereinten Europas ein grundgesetzliches, sodass es sich nur nach Maßgabe des Grundgesetzes verwirklichen lässt. Normierte das Grundgesetz Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, so wäre dies bei der Operationalisierung des Staatsziels Europas zu berücksichtigen. Näheren Aufschluss kann in diesem Zusammenhang daher erst die genetische Auslegung erbringen. Hätte der Grundgesetzgeber bereits ein Europa mit eigenständigen, originären Demokratiestrukturen ins Auge gefasst, so könnte aus dem systematischen Zusammenhang mit dem Staatsziel Europa und dem Art. 24 GG alter Fassung auf eine tendenziell immer auch schon postnationale Demokratiekonzeption geschlossen werden, weil dann Demokratie dem Grundgesetz zufolge nicht zwingend eine nationalstaatliche wäre278. Die rein systematische Betrachtung lässt eine solche Interpretation indes nicht zu. Mit dem systematischen Hinweis auf die Europaoffenheit und das Prinzip offener Staatlichkeit lässt sich das in Präambel, Art. 1 Abs. 2 GG und Schlussartikel suggerierte nationale Verständnis von Volkssouveränität lediglich hinterfragen, nicht aber schlüssig widerlegen. Bleibt zuletzt noch zu erörtern, inwieweit der grundgesetzliche Volksbegriff ethnisch-kulturelle Homogenität voraussetzt. Als kardinales systematisches Argument fungiert in diesem Zusammenhang Art.  116 Abs.  1  GG: Diese Bestimmung definiert Volk und Nation prima facie ethnisch. Es stellt sich die Frage, ob dies auf den Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 ausstrahlt und es infolge­ dessen zu einer Amalgamierung von ethnos und demos kommt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indes, dass bereits die These, Art. 116 Abs. 1 GG konstruiere Volk und Nation als unumkehrbar monolithischen Ethnos, durchgreifendem Zweifel begegnet. Ohnedies erweisen sich Rückschlüsse vom systematisch randständigen Art. 116 Abs. 1 GG auf den demos im Sinne des grundgesetzentralen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als letztlich nicht haltbar. 275

Dazu beispielsweise Murswiek (Fn. 241), Rn. 243. Wie – im Kontext der EG – dem Rat (zu dessen Einordnung als intergouvernementales Organ siehe nur Schmidt, Die Europäische Union in der Vergleichenden Politikwissenschaft, in: Lauth (Hrsg.), Vergleichende Regierungslehre, 2002, S. 156 [161]). 277 So etwa Kaufmann (Fn.  161), 1997, S.  429; auch Scholz (Fn.  239), S.  377. Dagegen Cremer (Fn. 178), S. 32. 278 In diese Richtung zum Beispiel Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, 56 (59): „Der Verzicht auf ein Legitimationsvermittlungsmonopol wird für die Bundesrepublik Deutschland bereits in der Präambel des Grundgesetzes angesprochen (…) und durch Art. 24 Abs. 1 operationalisiert.“ 276

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So steht Art. 116 Abs. 1 GG unter dem Vorbehalt „anderweitiger gesetzlicher Regelung“279. Dies bedeutet, dass selbst der einfache Gesetzgeber jederzeit den Status des Deutschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit abschaffen kann, also denjenigen Status, der an die Zugehörigkeit zum deutschen Volk im ethnischen Sinne anknüpft280. Damit erweist sich die Relativierung des deutschen Volks auf den Ethnos als überaus prekär281. In diese Richtung weist auch die systematische Stellung des Art. 116 Abs. 1 GG im neunten Abschnitt des Grundgesetzes, der insbesondere Übergangsbestimmungen für die Zeit nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs normiert. Art. 116 Abs. 1 GG stellt eine solche Übergangsregelung dar282, denn er löst die in dieser Zeit dringende Frage, wie die aus Osteuropa geflohenen oder ausgewiesenen Volksdeutschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit staatsrechtlich zu behandeln sind. Die ethnische Dimension des Volksbegriffs in Art. 116 Abs. 1 GG steht somit als Übergangsregelung unter einfachem Gesetzesvorbehalt, weil sie der Sache nach unter einem historischem Vorbehalt steht: Die Berücksichtigung ethnischer Gesichtspunkte bei der Bestimmung der Deutscheneigenschaft hat seinen Grund in einer geschichtlich einma­ ligen Situation. Vor dem Hintergrund millionenfachen Flüchtlings- und Vertriebenenelends entsprach es der vom Grundgesetz beschworenen Verantwortung vor den Menschen, diesen vom Schicksal besonders hart getroffenen Personengruppen eine gesicherte Rechtsstellung zu verschaffen283. Diese besonderen, singulären historischen Zusammenhänge verbieten es, aus dieser Norm weitergehende Rückschlüsse auf die Essenz der grundgesetzlichen Volkssouveränität und des grund­ gesetzlichen Volksbegriffs zu ziehen284. Hiergegen spricht des Weiteren auch die untergeordnete Stellung des Art. 116 Abs. 1 GG und des dort aufscheinenden Volksbegriffs im Kontext der Gesamtverfassung. Denn erstens normiert diese Verfassungsbestimmung, wie erwähnt, seinem sachlichen Kern nach lediglich situativ bedingtes Übergangsrecht. Zweitens wird der von ihr angeschlagene ethno-nationale Ton allenfalls in der Präambel und dem Schlussartikel aufgenommen, findet aber ansonsten im Grundgesetz keinen Widerhall. Dass eine derart periphere Verfassungsnorm den Regelungsgehalt einer solch fundamentalen Verfassungsentscheidung, wie Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sie darstellt, bestimmen soll, erscheint als eher fernliegend. Als symptomatisch kann in diesem Zusammenhang gelten, dass der Parlamentarische Rat bei Erlass des 279 Dazu zutreffend Rittstieg, Juniorwahlrecht für Inländer fremder Staatsangehörigkeit, in: NJW 1989, S. 1018 (1019). 280 Vedder (Fn. 259), Rn. 9. 281 Noch pointierter in diesem Sinne Sacksofsky, Mehrfache Staatsangehörigkeit – ein Irregulare?, in: ders. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 317 (335). 282 Dazu auch Dederer (Fn. 208), S. 175 f. 283 Dazu ferner Thieme (Fn. 145), S. 754. 284 Grundsätzlich anderer Auffassung Hillgruber (Fn.  261), Rn.  24; im Ergebnis wie hier Rittstieg, Stellungnahme der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Isensee /  Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 394 (406).

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Wahlrechts für den ersten Bundestag die Wahlberechtigung nicht auf alle Deutschen im Sinne von Art. 116 GG ausgeweitet hat285. Der Grundgesetzgeber selbst hat insofern keine Notwendigkeit gesehen, den demokratische Legitimation vermittelnden (Wahl-)Demos mit dem Ethnos zu identifizieren. Auch dieser entstehungsgeschichtliche Kontext bestätigt, dass der randständige Art. 116 Abs. 1 GG für die Konkretisierung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nur bedingt herangezogen werden kann286. Dem Grundgesetz eignet demnach kein strikt organizistischer, nationaler, ethnozentrischer Volksbegriff287. Es besteht im Hinblick auf das Subjektsproblem grundgesetzsystematisch kein Anlass, die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität in ein nationalstaatliches Korsett einzuschnüren288. Zwar beschreibt das Grundgesetz das Volk durchaus als historisch gewachsenen Generationenzusammenhang, als geschichtlich gewordene Nation und politisch handlungsfähige Einheit289. Die Vorstellung vom Volk als Schicksalsgemeinschaft ist dem Grundgesetz insofern keineswegs fremd290. Doch wie sich schon im allerersten Satz  des Grundgesetzes zeigt, bleiben Volk und Volkssouveränität un­ hintergehbar auf den personalen Menschen, auf das zur Selbstbestimmung berufene Individuum bezogen291. Seine Rechte sind die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, wie dies auch das deutsche Volk in Art.  1 Abs.  2  GG feierlich bekennt292 und sich dadurch selbst in entscheidender Hinsicht relativiert293. Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, durch die das Volk als Einheit politisch wirksam wird, sind dem Grundgesetz zufolge an die Grundrechte gebunden, die in ihrer Mehrzahl unmittelbar und im Fall der DeutschenGrundrechte zumindest im Rahmen von Art.  2 Abs.  1  GG294 als Menschen‑

285

Vgl. dazu auch Meyer (Fn. 138), Rn. 8. So im Ergebnis auch Holzmann (Fn. 235), S. 187 f. 287 Ebenso Wallrabenstein (Fn. 250), S. 147 ff. und Möllers, Der Staat als Argument, 2000, S. 408. 288 Rittstieg (Fn. 279), S. 1019. 289 In diese Richtung auch Zuleeg (Fn. 235), Rn. 1 ff. 290 Der gegen jedwede Form von Nationalismus gefeite Carlo Schmid hat den Begriff der ‚Schicksalsgemeinschaft‘ in den Debatten des Parlamentarischen Rats verwendet, vgl. JöR 1951, S.  44. In der unmittelbaren Nachkriegszeit spiegelte dieser Begriff reale Erfahrungen wider, so dass ihm ein konkreter Inhalt beigelegt werden konnte. Als der Begriff der Schicksalsgemeinschaft in den siebziger und achtziger Jahren erneut in die verfassungspolitische Diskussion der Bundesrepublik eingeführt wurde, besaß er vor dem Hintergrund einer individualisierten Wohlstandsgesellschaft kaum noch Realitätsgehalt und mutierte in der Folge zum ideologischen Kampfbegriff. 291 Bryde (Fn. 183), S. 63. 292 Darauf weist auch Oberndörfer, Die offene Republik (Fn. 257), S. 60 hin. 293 Vgl. auch Zuleeg (Fn. 236), S. 119; gegen diese Interpretation von Art. 1 Abs. 2 GG: Isensee (Fn. 247), S. 30 294 Zu dem nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrechtsschutz für Ausländer im Schutzbereich der Deutschen-Grundrechte vgl. statt aller Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 2 Rn. 10. 286

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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rechte295 Geltung beanspruchen. Damit findet das Volk als politisch handlungs­ fähiges Kollektiv seinen Sinn und Zweck, aber auch seine Grenzen in der Organisation menschenwürdigen Lebens, das im Kern den unveräußerlichen Anspruch auf Autonomie, Subjektsein und damit auf individuelle Selbstbestimmung beinhaltet.

c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen Nicht zuletzt aus dieser systematischen Verwiesenheit des grundgesetzlichen Volksbegriffs und damit auch der grundgesetzlichen Volkssouveränität auf das im Grundgesetz gleichfalls positivierte Autonomiepostulat folgt, dass unter der Herrschaft des Grundgesetzes kollektive und individuelle Selbstbestimmung einander nicht widerstreiten dürfen, sondern in Einklang miteinander gebracht werden müssen296. Im demokratischen Verfassungsstaat ist dies durch eine ideelle und in der Folge auch normative Abschottung der kollektiven gegen die individuelle Selbstbestimmung nicht erreichbar. Da die Normalität individueller Selbstbestimmung im demokratischen Verfassungsstaat nur bedingt durch eine verfassungsrechtlich garantierte Grundrechtsordnung gewährleistet werden kann, müssen die zur Selbstbestimmung berufenen Individuen an Verfahren kollektiver Selbstbestimmung teilhaben297. Denn durch Partizipation an Kollektivdezisionen bricht sich individuelle Selbstbestimmung Bahn und können zugleich wirkungsvoll die Voraussetzungen individueller Selbstbestimmung aktualisiert werden. Demgegenüber kann das Abschottungsmodell tendenziell dazu führen, dass sich kollektive Selbstbestimmung auf Kosten individueller Selbstbestimmung verwirklicht. Angesichts dieser auch grundgesetzsystematisch angelegten normativen Zusammenhänge darf bei der Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das individuumszentrierte Demokratieverständnis nicht einfach beiseite geschoben, die paradigmatische Vorstellung vom selbstbestimmten Individuum als Subjekt der Volkssouveränität nicht ohne Weiteres außer Acht gelassen werden. Insoweit nimmt die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität als eine (entwicklungs-)offene demokratische Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte Gestalt an, die auch andere Kollektive als das nationale Staatsvolk als tauglichen Quell demokratischer Legitimation anerkennt, sofern sich in und durch sie die Leitvorstellung individueller Selbstbestimmung verwirklicht298. Volk im 295

Der Annahme, dass die Menschenrechte der Ausländerinnen und Ausländer im Bereich der Deutschen-Grundrechte zumindest nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet sind, widerspricht freilich Wallrabenstein (Fn. 250), S. 73 ff., insbesondere S. 84: „Erst durch die Staatsangehörigkeit entfalten Menschenrechte ihre volle Wirkung.“ 296 In diese Richtung auch Raufer, Die legitime Demokratie, 2005, S. 269. 297 Dazu eingehend und überzeugend Bäumlin, Lebendige oder gebändigte Demokratie?, 1978, S. 101 ff. 298 So im Ergebnis auch Wallrabenstein (Fn. 250), S. 159.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG stellt sich vor diesem Hintergrund als mit Hoheitsgewalt ausgestatteter Personenverband dar, dessen Kollektiventscheidungen von seinen Angehörigen hingenommen werden, weil die Art und Weise der Entscheidungsfindung dem Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung hinreichend Rechnung trägt.

3. Das Problem von Geltungserstreckung und Geltungsgehalt in grundgesetzsystematischer Perspektive Dass Volkssouveränität sich nicht lediglich vom freien Individuum her recht­ fertigt, sondern notwendig auch vom autonomen Menschen her konstruiert werden muss, steht in einem Spannungsverhältnis zur Lieblingsthese der deutschen Staatsrechtslehre299, wonach das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ein grundsätzlich antinomisches sei300. Diese These ist auch nach Erlass des Grundgesetzes die in Deutschland herrschende geblieben301. Sie suggeriert ein Demokratieverständnis, demzufolge Volkssouveränität eine genuin staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur darstellt und als solche einen deutlichen Kontrapunkt zur vermeintlich rein gesellschaftsspezifischen Ordnungsidee der Freiheit und Autonomie302 setzt303. Tatsächlich lassen sich dem Grundgesetz bedenkenswerte systematische Indizien für ein solches Demokratieparadigma entnehmen. Aber auch insofern gilt: Es existieren im Verfassungstext auch zahlreiche Kontraindikationen. Das demokratische Paradigma der Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich- materiale Ordnungsstruktur ist dem Grundgesetz keineswegs fremd.

299 Weitergehend, aber nicht minder zutreffend bezeichnet Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen, 1969, S. 83 den Gegensatz von Staat und Gesellschaft, von öffentlicher und privater Sphäre als das „typusbestimmende Strukturmerkmal des deutschen Verfassungsdenkens seit Hegel“. 300 Prototypisch Jestaedt (Fn. 131), S. 180 ff. 301 Offensiv wird die Trennung von Staat und Gesellschaft etwa von Wolff, Das Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip, in: Festschrift Quaritsch, 2000, S. 73 (81 f.), Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, S. 70 f. und Klein (Fn. 185), S. 7 f. vertreten. Anderer Ansicht zum Beispiel Reichel (Fn. 204), S. 115. Zu den historischen Hintergründen zuletzt Lege, Das Verfassungsrecht zwischen Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: DVBl. 2007, S. 1053 (1055). 302 Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 31 Rn. 33. 303 Prototypisch Kahl, Die rechtliche Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Jura 2002, S. 721 (723). Eine eigenwillige Kritik an dieser herrschenden Lehre übt Schachtschneider (vgl. zum Beispiel: Die Republik der Völker Europas, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, 2005, S. 423 [429 ff.]). Aus marxistischer Sicht wird festgestellt: „In der Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland wird der Begriff der Volkssouveränität von den herrschenden Lehrmeinungen entweder verdrängt oder von seinen sozialen Wurzeln gelöst und damit formalisiert“ (Meister, Artikel ‚Souveränität‘, in: Sandkühler [Hrsg.], Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, 1990, S. 313 [315]).

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als staatsorganisatorisch-formale Ordnungsstruktur Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 normierte Volkssouveränität steht am Anfang eines neuen Abschnitts. Systematisch betrachtet schlägt Art. 20 GG ein neues Grund­ gesetzkapitel auf. Während im vorangegangenen Abschnitt von den die gesellschaftliche Sphäre schützenden Individualgrundrechten die Rede ist, beginnt mit der Staatsfundamentalnorm des Art. 20 GG der Grundgesetzteil mit den staatsorganisatorischen Regelungen304. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG hat in diesem Zusammenhang die Funktion, die demokratische Ausübung von Staatsgewalt in genereller Hinsicht zu regeln305. Die nachfolgenden, wohlgemerkt rein staatsorganisatorischen Vorschriften306 bestimmen sodann im Einzelnen die konkrete Ausgestaltung der grundgesetzlichen Struktur der Volkssouveränität307, lassen aber zugleich normative Rückschlüsse auf die Generalnorm des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zu. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität erscheint dieser Systematik nach als auf den Bereich des Staates beschränkt308, bezieht sie ihren Regelungshalt doch aus der Abstraktion des staatsorganisationsrechtlich konkret normierten Demokratiemodells des Grundgesetzes. Dieser systematische Zusammenhang streitet dafür, die Volkssouveränitätsnorm des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG dahingehend auszudeuten, dass sie ausschließlich die Rückbindung aller gebietsgesellschaftlich wirksamen hoheitlichen Gewalt an das nationale Staatsvolk fordert309. Für einen durch den Dualismus von Staat und Gesellschaft geprägten Demokratiebegriff lassen sich als weiteres grundgesetzliches Indiz die Grundrechtsartikel über die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit heranziehen. Wie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung zu Recht betont, sind diese Freiheitsrechte für den demokratischen Prozess von elementarer Bedeutung310. Gerade deshalb ist es so bemerkenswert, dass diese demokratiefunktionalen Grundrechte nicht als allgemeine 304 Zu dieser Lesart – freilich noch bezogen auf die WRV – Schmitt, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S.  181 (192). Dagegen Heller (Fn. 240), S. 389: „In Wahrheit bedingen sich die Tendenz zur planmäßigen, rechtstaatlichen Organisation der Staatsgewalt und die auf Freiheitsverbürgung gerichtete Tendenz wechselseitig. ‚Plan‘ und ‚Freiheit‘ stehen nur dann zueinander im Gegensatz, wenn sie als wesenlose Abstraktionen begriffen werden. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit muß die menschliche Freiheit immer organisiert werden.“ Ebenso Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 309 (318): „… es wird infolge der redaktionellen Zweiteilung der Verfassung der enge Zusammenhang übersehen, in dem die Grundrechte mit dem ersten, organisatorischen Teil der Verfassung stehen.“ 305 Vgl. Kahl (Fn. 303), S. 729. 306 Dazu auch Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, in: DÖV 1983, S.1 (9). 307 Siehe Emde (Fn. 1), S. 39 ff. 308 Klein (Fn. 185), S. 7 f.; Jestaedt (Fn. 131), S. 172 f.; Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, in: AöR 1991, S. 329 (347). 309 So zum Beispiel Gersdorf (Fn. 185), S. 44 ff. 310 Hierzu mit weiteren Nachweisen Fisahn (Fn.  146), S.  301 ff.; auch Menzel (Fn.  234), S. 65.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Menschenrechte, sondern als Deutschenrechte formuliert sind311. Sie scheinen die These zu belegen, dass das grundgesetzliche Prinzip der Volkssouveränität ein staatsorganisatorisches Prinzip ist, für das die gesellschaftliche Ordnungsstruktur der Menschenrechte gerade nicht gilt312. Denn wenn diejenigen Grundrechte, die zu Recht als demokratiekonstitutiv bezeichnet werden, nicht als Menschenrechte gewährt sind, sondern von der Staatsangehörigkeit beziehungsweise der Deutschen­ eigenschaft abhängig gemacht werden, so deutet dies darauf hin, dass sich die grundgesetzlich verbürgte Struktur der Volkssouveränität deutlich gegen die essentiell menschenrechtlichen Ordnungsstrukturen der Gesellschaft abhebt313. Die durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Volkssouveränität scheint insofern einer individuumszentrierten Rekonstruktion als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur unzugänglich zu sein, bei der entscheidend auf die menschenrechtlichen Freiheitsvorstellungen und deren grundgesetzliche Basisnorm, die Menschenwürde, abgestellt wird. Stattdessen präsentiert sich die grundgesetzliche Demokratie als Demokratie der Deutschen im konkreten Staat Bundesrepublik Deutschland und scheint die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur ausgedeutet werden zu müssen.

b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als gesellschaftlich materiale Ordnungsstruktur Die auf dem Dualismus von Staat und Gesellschaft basierende staatsorganisatorische Ausdeutung der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm lässt sich verfassungssystematisch allerdings nicht durchhalten. Denn der Verfassungstext liefert deutliche Anhaltspunkte dafür, dass Volkssouveränität nach dem Grund­ gesetz zugleich auch als gesamtgesellschaftliche materiale Ordnungsstruktur positivrechtlichen Niederschlag gefunden hat. Bevor freilich diese der Trennungsthese widerstreitenden grundgesetzlichen Normzusammenhänge im Einzelnen entwickelt werden, bedarf es vorab – schon um Missverständnissen vorzubeugen – einer nochmaligen Vergewisserung hinsichtlich des für die demokratiezentrale Volkssouveränität maßgeblichen Normtexts.

aa) Normtextuelle Rückversicherung Wie bereits dargelegt, bedarf es einer klaren Unterscheidung zwischen der Staatsstruktur- und Staatszielbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG, dem sich lediglich eine sehr generalisierte Verbürgung von Volkssouveränität entnehmen lässt, 311

Siehe Zippelius / Würtenberger (Fn. 45), § 18 II 1.  In diesem Sinne etwa Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 1974, S. 49 (99) sowie Bleckmann (Fn. 200), S. 1399. 313 Siehe auch Bleckmann (Fn. 255), S. 440. 312

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und der demgegenüber deutlich rigideren Vorgabe des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, die sich mit ihrer Garantie der Volkssouveränität indes nur auf die demokratische Legitimation von öffentlicher Gewalt einschließlich der hier interessierenden EGNormsetzung bezieht314. Diese normtextuelle Differenz ist zu beachten, wenn die diversen grundgesetzlichen Ausprägungen von Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich-materialer Ordnungsstruktur im Rahmen systematischer Norminterpretation verarbeitet werden. Soweit sich nämlich im Folgenden herauskristallisiert, dass das Grundgesetz normative Aussagen über die Teilhabe an nichthoheitlicher sozialer Macht trifft, bezieht sich dies unmittelbar nur auf die allgemeine Demokratienorm des Art. 20 Abs.  1  GG. Für die Konkretisierung der in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG geregelten Volkssouveränität ist diese Regelungsdimension des Art. 20 Abs. 1 GG freilich deshalb von  – mittelbarer  – Bedeutung, weil sie den Schluss zulässt, dass dem Grundgesetz insgesamt ein die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft transzendierendes Demokratiekonzept zugrundeliegt. Im Hinblick darauf nämlich braucht und darf auch die Volkssouveränität im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG nicht als strikt staatsorganisatorisch-formales Prinzip begriffen werden. Vielmehr kann und muss sie aus grundgesetzsystematischen Gründen zugleich im Licht der vermeintlich rein gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen der Freiheit und Autonomie konkretisiert werden, unter deren Eindruck und Einfluss der demokratische Volksbegriff zu einem polyvalent-variablen mutiert. Anders formuliert: Wenn Art. 20 Abs. 1 GG die demokratiezentrale Volkssouveränität als eine auch gesamtgesellschaftlich-materiale Ordnungsstruktur verbürgt, so lässt sich die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Volkssouveränität nicht exklusiv als nationaldemokratische Herrschaftsstruktur ausdeuten. Vielmehr weist dann notwendig auch die Volkssouveränität nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zugleich Züge einer sozialorganisatorischen Freiheitsstruktur auf und entpuppt sich infolgedessen einmal mehr als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte. In­ sofern ist dann aber auch kein Grund ersichtlich, weshalb es neben dem nationalen Staatsvolk nicht auch andere demokratische Subjekte geben sollte. Wie weiter zu zeigen sein wird, sieht sich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG grundgesetzsystematisch indes nicht nur mittelbar zu jenem individuumszentrierten Demokratieparadigma in Bezug gesetzt, das Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich-materiale Ordnungsstruktur entfaltet. Vielmehr lässt sich dieses Konzept durchaus auch für bestimmte Bereiche der Staatsorganisation und mithin für die Ausübung auch von Hoheitsgewalt grundgesetzlich belegen. Denn dieser wächst nach dem Grundgesetz Legitimation nicht nur und nicht zwingend nur vom nationalen Staatsvolk zu, sondern in tendenzieller Umsetzung von Volkssouveränität als sozialorganisatorischer Freiheitsstruktur auch von anderen demokratischen Völkern315. Die Grundgesetzsystematik lässt damit auch unmittelbar den Rückschluss 314

Siehe oben Kapitel 9 IV. 2. = S. 586. Grundlegend Herzog (Fn. 160), Rn. 54 ff.; dagegen etwa Emde (Fn. 1), S. 322 ff.

315

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zu, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte verkörpert. Im Rahmen der normtextuellen Vergewisserung sei abschließend auch noch einmal daran erinnert, dass Art. 20 Abs. 1 GG – anders als Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG – nur ausnahmsweise konkrete Regelungen vorgibt316. Soweit daher im Folgenden die Trennungsthese falsifiziert wird, indem dargetan wird, dass das grundgesetzliche Demokratiekonzept den engen staatsorganisatorischen Rahmen überschreitet, so darf dies nicht zu dem dogmatischen Kurzschluss verleiten, das Grundgesetz gebiete eine vollumfängliche Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft317. Ohne dies hier im Einzelnen erörtern zu können und zu müssen, ist stattdessen festzuhalten, dass Art. 20 Abs. 1 GG hinsichtlich der Verwirklichung ‚sozialer Demokratie‘318 im gesellschaftlichen Raum eher direktive, denn imperative Bedeutung zukommt319. Art.  20 Abs.  1  GG lässt sich insofern vor allem die folgende normative Aussage entnehmen: Gewährleisten Träger staatlicher Gewalt, dass die Ausübung sozialer Macht innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre durch Formen demokratischer Ausmarchung gebändigt wird, so erweist sich der Staat insofern als demokratischer und erfüllt die ihm vom Verfassunggeber auferlegte Strukurbeziehungsweise Zielvorgabe in besonderem Maße. Soweit es freilich um die Verwirklichung ‚sozialer Demokratie‘ im Hinblick auf hoheitliche Gewalt geht, findet nicht bloß die allgemeine Staatsstruktur- und -zielbestimmung des Art.  20 Abs. 1 GG Anwendung, sondern avanciert die deutlich konkretere Regelung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zum maßgeblichen Prüfungsmaßstab.

bb) Der Topos von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Wendet man sich nach diesen präliminaren Überlegungen erneut dem nach herrschender Meinung angeblich schon in der Grundgesetzsystematik angelegten dogmatischen Dualismus von Staat und Gesellschaft zu, so zeigt sich rasch, dass bereits der grundgesetzliche Topos der freiheitlich-demokratischen Grund 316

Siehe oben Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588. In diesem Sinne auch Groß, Grundlinien einer pluralistischen Interpretation des Demokratieprinzips, in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 93 (100). 318 Meyer (Fn. 221), S. 13: „Als wissenschaftlicher Begriff bezeichnet soziale Demokratie im Unterschied zur liberalen Demokratie ein politisches Gemeinwesen, das nicht nur demokratisch verfasst ist, sondern die politische Verantwortung für die soziale Sicherung der Würde des Einzelnen in seinen ökonomischen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen übernimmt, also im Kern die zentralen Postulate und Grundwerte – freilich nicht umstandslos auch die Verfahren und Methoden – der Demokratie gleichermaßen für den wirtschaftlich-sozialen Bereich gelten lässt und diesen damit der gestaltenden politischen Gesamtverantwortung unterstellt.“ 319 Zur sozialen Demokratie als „Auftrag“ des Grundgesetzes, vgl. etwa Brandt, Die zweite Bewährungsprobe, in: ders., Berliner Ausgabe, Bd. 7, 2001, S. 94 (102); vgl. auch ders., Er­ innerungen, 1989, S. 272. 317

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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ordnung320 Zweifel an der herkömmlichen Trennungsthese nährt321. Dieser Topos hat sich positivrechtlich in unmittelbarer systematischer Nachbarschaft zu den fundamentalen Demokratienormen des Grundgesetzes niedergeschlagen322, und zwar bemerkenswerterweise sowohl im Grundrechts-323 als auch im staatsorganisatorischen Teil324. In diesem Topos ist die vermeintlich gesellschaftliche Ordnungsstruktur der Autonomie und Freiheit sowie die angeblich rein staatsorganisatorische Struktur der Demokratie systematisch zu einer die Trennung von Staat und Gesellschaft überspielenden materialen Ordnungsidee zusammengespannt325. Angesichts dieses verfassungstextuellen Befunds fällt es schwer anzunehmen, die staatliche und die gesellschaftliche Sphäre sowie die ihnen eigenen Ordnungsstrukturen seien rechtlich strikt voneinander getrennt326. Davon freilich geht die überwiegende Meinung aus. Sie räumt zwar ein, dass Staat und Gesellschaft funktional interdependent sind327: Der demokratisch organisierte Staat dient demnach der Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit und ist seinerseits auf die Vorformung des politischen Willens im gesellschaftlichen Freiheitsraum angewiesen. Gleichwohl hält die herrschende Auffassung daran fest, dass Staat und Gesellschaft verschiedene Funktionssysteme benennen, denen spezifische Ordnungsstrukturen eignen, und sich deshalb nicht aus einem einheit­ lichen Prinzip heraus erklären lassen328. Diese These freilich wird durch den Topos der freiheitlich-demokratischen Grundordnung insofern erschüttert, als er eine Staat und Gesellschaft überwölbende soziale Ordnungseinheit suggeriert, die gesamthaft durch eine einheitliche Leitstruktur reguliert wird. Eine solche Staat und Gesellschaft überwölbende soziale Entität benennt das Grundgesetz im Übrigen bereits in seinem ersten Artikel, wo von den auf Menschenrechten gründenden 320

Dazu etwa v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 111 ff. In diese Richtung auch Sterzel (Fn. 232), S. 157 f.; siehe ferner Preuß (Fn. 299), S. 150 und Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 298 ff. 322 Eine nähere Definition von freiheitlich-demokratischer Grundordnung gibt das Grundgesetz allerdings nicht (v. Oertzen, Freiheitlich-demokratische Grundordnung und das Rätesystem, in: ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, 2004, S. 385 [388]). 323 Art. 18 Satz 1 GG. 324 Art. 21 Abs. 2 Satz 1 und 91 Abs. 1 GG. 325 In diese Richtung weist auch das vom Parlamentarischen Rat schließlich berücksichtigte Petitum des Abgeordneten Dr. Heuß, nicht von der ‚freiheitlichen oder demokratischen Grundordnung‘ zu sprechen, wie dies in der grundgesetzgebenden Diskussion angeregt worden war. Seinen Einwand begründete der nachmalige Bundespräsident bezeichnenderweise wie folgt (zitiert nach JöR 1951, S. 175): „Dann kommt einer auf die nahe liegende Idee, daß ‚demokratisch‘ und ‚freiheitlich‘ nicht identische Begriffe sind. (…) Es werden hier die Dinge anti­ thetisch gesehen. Sie sollen aber im Volksbewußtsein in eins zusammenfließen.“ 326 Vgl. auch Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 14, der zutreffend betont, dass „in Art. 18 und 21 mit Recht nicht von einer ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ des Staates die Rede ist“. 327 Jestaedt (Fn. 131), 1993, S. 182. 328 Zum Beispiel Hennis, Demokratisierung, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, 1973, S. 26 ff. 321

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‚menschlichen Gemeinschaften‘ die Rede ist329. Dieser systematische Zusammenhang wiederum verdeutlicht, dass die im Topos der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufscheinende einheitliche Ordnungsstruktur, die das gesamte grundgesetzlich verfasste Gemeinwesen prägt, menschenrechtlich fundiert und konturiert ist330.

cc) Die grundgesetzlichen Konkretionen der Sozialstaatsidee Bereits dem grundgesetzlichen Topos der freiheitlich-demokratischen Grundordnung lassen sich nach allem erste Indizien dafür abgewinnen, dass sich die grundgesetzliche Volkssouveränität nicht nur nicht auf den staatlichen Bereich beschränken lässt, sondern darüber hinaus auch durch die vermeintlich nur für die gesellschaftliche Sphäre charakteristische menschenrechtliche Ordnungsstruktur mitgeprägt wird. Diese Sichtweise bestätigt sich vor allem dann, wenn man die grundgesetzliche Demokratie von den grundgesetzlichen Konkretionen der Sozial­ staatsidee331 her ausleuchtet.

(1) Die Sozialstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG Art.  20 Abs.  1  GG entbindet nicht nur eine Demokratie-, sondern zugleich auch eine Sozialstaatsnorm332. Der Sozialstaat strebt tendenziell nach sozialer Gerechtigkeit333, das heißt nach dem Abbau sozialer Ungleichheiten334. Diesem Staatsziel335 kann dadurch entsprochen werden, dass sich alle staatlichen, national-demokratisch legitimierten Organe bei sämtlichen ihrer Maßnahmen an der Zielvorstellung einer material gerechten Gesellschaft orientieren und dement­ sprechend eine materiell sozialstaatswidrige Betätigung unterlassen336. So verstan 329 Siehe dazu auch Zippelius, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Art.  1 Abs.  1 u. 2 Rn.  107: „In der Aussage, daß die Menschenrechte die Grundlage ‚jeder‘ Gemeinschaft sind, klingt die Einsicht durch, daß die gegenseitige Achtung von Menschenrechten und insbesondere die Menschenwürde auch die Grundlage privater Gemeinschaftsbeziehungen ist.“ 330 Ebenso Sterzel (Fn. 232), S. 167. 331 Vgl. dazu jüngst Bull, Sozialstaat  – Krise oder Dissens, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 57 ff.; klassisch Ridder (Fn. 326), S. 3 ff. 332 Dazu überzeugend Kittner (Fn. 164), Rn. 22 ff. 333 BVerfGE 5, 85 (198); auch Scholz, Sozialstaat und Globalisierung, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 611 (614); Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozial­ versicherung, 2000, S. 289; Römer (Fn. 109), S. 17; Kisker, Grenzen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, 1984, S. 12; v. Münch (Fn. 49), Rn. 291. 334 BVerfGE 35, 348 (355 f.); Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 21 II.; vgl. auch v. Komorowski (Fn. 78), S. 559 f. 335 Zippelius / Würtenberger (Fn. 45), § 13 I 1.  336 In diesem Sinne etwa Scholz (Fn. 333), S. 615 ff.

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den lässt sich das Sozialstaatsprinzip ohne Weiteres mit dem Dualismus von Staat und Gesellschaft und damit einhergehend mit der Deutung der grundgesetzlichen Demokratie und Volkssouveränität als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur in Einklang bringen337. Allerdings sind die durch Art.  20 Abs.  1  GG gebundenen Staatsorgane nicht darauf beschränkt, das grundgesetzliche Sozialstaatsziel allein durch Maßnahmen zu verwirklichen, die materiell ein Plus an sozialer Gerechtigkeit bedeuten338. Vielmehr ist es namentlich dem Gesetzgeber unbenommen, durch die Errichtung beziehungsweise die Absicherung demokratischer Strukturen speziell im gesellschaftlichen Bereich, aber auch durch die Verwirklichung alternativdemokra­tischer Entscheidungsgefüge innerhalb des Staates zum Abbau sozialer Ungleichheiten beizutragen. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass verfahrensmäßig eine gerechte, das heißt tendenziell gleiche Repräsentanz der Protagonisten innergesellschaftlicher Verteilungskämpfe sichergestellt und in der Folge auf eine diskursiv-prozedurale Erzeugung des bonum commune gebaut wird339. Mithin kann der grundgesetzlichen Sozialstaatsnorm immer auch dadurch Rechnung getragen werden, dass im gesellschaftlichen Bereich – etwa im Bereich der Betriebs- und Unternehmensverfassung  –, aber auch auf der Ebene des Staates  – zum Beispiel im Rahmen der Sozialversicherungen  – demokratische Verfahrensarrangements getroffen werden, in denen Volkssouveränität als gesamtgesellschaftlich-materiale Ordnungsstruktur Gestalt annimmt340. Dieses Verständnis der grundgesetzfundamentalen Sozialstaatsnorm freilich widerstreitet einem auf der Antinomie von Staat und Gesellschaft aufbauenden Demokratieverständnis341. Die der sozialen Staatszielnorm innewohnende Tendenz, die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu befördern und innerstaatlich alternativdemokratische Entscheidungsstrukturen zu ermöglichen, lässt sich auch unmittelbar am Verfassungstext festmachen. Gemäß Art. 15 GG, der an grundgesetzsystematisch prominenter Stelle eine nicht unwesentliche342 Facette des grundgesetzlich gewollten Sozialstaats ausprägt343, können zum Zwecke der Vergesellschaftung 337

Vgl. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 209 (233 ff.). 338 In diesem Sinne auch Menzel (Fn. 234), S. 68 f. 339 Vgl. dazu auch Preuß (Fn. 299), S. 139. 340 Abendroth, Staatsverfassung und Betriebsverfassung, in: Sultan / ders., Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie, 1955, S. 103 (107 f.).; ders. (Fn. 171), S. 67 f.; ders., Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Bergstraesser, 1954, S. 279 (280 f. und 291 f.); ders., Zur Funktion der Gewerkschaften (Fn. 204), S. 642 f.; ders., Diskussionsbeitrag, ­VVDStRL 1954, 85 (87 f.). Anderer Ansicht beispielsweise Axer (Fn. 333), S. 289 f. 341 Abendroth, Diskussionsbeitrag (Fn.  340), S.  89; vgl. auch Völtzer, Der Sozialstaats­ gedanke in der Weimarer Reichsverfassung, 1992, S. 70. 342 Kittner (Fn.  164), Rn.  52 bezeichnet die Sozialisierungsoption des Art.  15  GG als die „spektakulärste Ausprägung“ des Sozialstaatsprinzips. 343 Preuß (Fn. 299), S. 145.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

neben der Verstaatlichung auch andere Formen der Gemeinwirtschaft begründet werden. In diesen Fällen bleibt das private Eigentum an Produktionsmitteln zwar erhalten, die Verfügungsgewalt darüber indes wird demokratisiert344. Art. 15 GG bestätigt insofern als Teilkonkretion des grundgesetzlichen Sozialstaatskonzepts dessen den gesellschaftlichen Bereich erfassenden Demokratisierungsimpuls345. Fernerhin können Produktionsmittel gemäß Art. 15 GG natürlich auch dergestalt vergesellschaftet werden, dass sie in Gemeineigentum überführt werden. Dies bedeutet freilich nicht, dass in diesen Fällen allein das Staatsvolk über das ‚Ob‘ sowie das ‚Wie‘ bestimmter Produktionsprozesse entscheiden darf und muss. Vielmehr bietet das Grundgesetz insofern die vom Verfassunggeber bewusst geschaffene Möglichkeit, die vergesellschafteten Industrien von Selbstverwaltungskörperschaften verwalten zu lassen, deren Entscheidungsgremien pluralistisch besetzt werden346. Das in Art.  15  GG teilkonkretisierte Sozialstaatsmodell des Grundgesetzes zeichnet sich insofern nicht nur dadurch aus, dass es den demokratischen Gedanken auf die Gesellschaft erstreckt, sondern auch dadurch, dass es alternative Demokratiekonzepte aus dem gesellschaftlichen in den staatlichen Bereich importiert347. Betrachtet man ergänzend die dogmengeschichtlichen Grundlagen der in Art. 20 Abs. 1 GG prinzipal niedergelegten Sozialstaatsnorm348, so steht seine demokratische Komponente sogar im Vordergrund. Für Heller, der den Sozialstaatsgedanken erstmals unter den Bedingungen demokratischer Verfassungstheorie und -praxis konkretisiert hat349, bedeutet „die soziale Idee (…) die folgerichtige Fort 344

Etwa Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 15 Rn. 2; dezidiert Dopatka, Darstellung und Kritik der herrschenden Auslegung des Art. 15 GG, in: Winter (Hrsg.), Sozialisierung von Unternehmen, 1976, S. 156 (171): „Ohne Art. 15 könnte im Grundgesetz nicht schlechthin von einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat die Rede sein (…).“ 345 In diesem Sinne auch Abendroth, Der demokratische und soziale Rechtsstaat als politischer Auftrag, in: ders., Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, 1975, S. 179 (188 f.). – Es bestätigt sich insofern auch, dass eine verfassungsjuristische Beschäftigung mit Art. 15 GG selbst dann Sinn macht und keineswegs ‚futuristisch‘ ist, wenn es – wie gegenwärtig – an ernsthaften, politisch erfolgversprechenden Sozialisierungsbestrebungen fehlt (in diesem Sinne bereits Dopatka [Fn. 344], S. 158). 346 Vgl. etwa Art.  74 Abs.  1 Nr.  15  GG (dazu JöR 1951, S.  525 f.; vgl. auch Umbach /  Clemens, in: dies. [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 74 Rn. 84, die zutreffend hervor­ heben, dass diese Verfassungsbestimmung – wiewohl der Bund von ihr noch keinen Gebrauch gemacht habe  – nichts von ihrer verfassungsrechtlichen Legitimation verloren habe)  sowie Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG (dazu JöR 1951, S. 649). 347 Allgemein dazu, dass der soziale Rechtsstaat zu einer wechselseitigen Durchdringung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre führt: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, Rn. 210. 348 Dass die dogmengeschichtlichen Grundlagen des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips bei Hermann Heller zu suchen und finden sind, betonen auch Stein / Frank (Fn. 334), § 21 I. Siehe ferner Römer (Fn. 109), S. 19 f. 349 Dazu auch Kotzur, Die Demokratiedebatte in der deutschen Verfassungsrechtslehre, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, S. 351 (385 f.). Zu den politik­ strategischen Hintergründen von Hellers Konzeption des sozialen Rechtsstaats vgl. Luthardt,

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führung der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie“350. Der Sache nach erscheint ihm die Verknüpfung von Sozialstaatsprinzip und demokratischem Verfahren auch gerade deshalb als gerechtfertigt, weil ‚das Soziale‘ ein reichlich vager Terminus ist und daher letztlich nur „in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschen ermittelt“ werden kann351. Wenn Heller darlegt, dass sich der  – von ihm vornehmlich als sozialer Rechtsstaat352 bezeichnete – Sozialstaat durch Demokratie verwirklicht, so meint er damit nicht nur, dass die Staatsgesetzgebung, wenn sie denn demokratisch organisiert ist, tendenziell gerechte Gesetze hervorbringt353. Sozialstaat bedeutet für ihn insbesondere auch Demokratisierung der Wirtschaft durch Schaffung und Förderung gemeinwirtschaftlicher Strukturen354, aber auch Anreicherung der Staatsorganisation durch rätedemokratische Strukturelemente355 und Organismen sozialer sowie ökonomischer Selbstverwaltung356. Für Hermann Heller, den geistigen Vater des grundgesetzlichen Sozialstaatsmodells357, erweisen sich mithin die Übertragung des demokratischen Prinzips auf den gesellschaftlichen Bereich und die Um­gestaltung der staatlichen ‚Formaldemokratie‘ im Sinne der gesamtSozialdemokratische Verfassungstheorie in der Weimarer Republik, 1986, S. 42 ff. sowie Völtzer (Fn. 341), S. 300 f. 350 Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 281 (291); auch ders., Rechtsstaat oder Diktatur, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 435 (448). Vgl. auch Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 1 (30): „Zweifellos ist das Ideal möglichster wirtschaftlicher Gleichheit ein demokratisches. Und daher erst die Sozialdemokratie eine vollkommene Demokratie.“ Dazu auch Meyer (Fn. 221), S. 25 f., 46 ff. sowie Albrecht Das Treffen auf Newfoundland, in: ders. / Goldschmidt / Stuby (Hrsg.), Die Welt zwischen Recht und Gewalt. Internationale Sozialordnung, Völkerrecht und Demokratie, 2003, S. 279 (286 f.). 351 Vgl. BVerfGE 8, 86 (198). 352 Hierzu überzeugend Maus, Hermann Heller und die Staatsrechtslehre der Bundesrepublik Deutschland, in: Müller / Staff (Hrsg.), Staatslehre in der Weimarer Republik, 1985, S. 194 ff.; vgl. aber auch Robbers, Hermann Heller, 1983, S. 68 ff. – Vgl. in diesem Zusammenhang ferner das KPD-Urteil, wo die ‚soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaates‘ zum grundgesetzlichen Ideal erklärt wird (BVerfGE 5, 85 [198]). 353 Dazu Heller, Rechtsstaat oder Diktatur (Fn. 350), S. 450. Zu diesem Aspekt auch Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: dies., Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 11 (38); auch Meinck, Rechtsnorm und allgemeiner Rechtsgrundsatz, in: Müller / Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, S. 621 (652). 354 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur (Fn. 350), S. 458; Heller (Fn. 350), S. 313. Zutreffend weist Blau, Hermann Heller, in: DuR 1976, S. 120 (140) darauf hin, dass Heller stark von den zur Zeit der Weimarer Republik von SPD und Gewerkschaften vertretenen wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen geprägt war (ebenso ders., Sozialdemokratische Staatslehre in der Weimarer Republik, 1980, S. 206 ff.). 355 Heller (Fn. 350), S. 313 ff. 356 Heller, Rechtsstaat oder Diktatur (Fn. 350), S. 458. Dazu auch Waser, Nationaler Kultursozialismus oder Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, in: Müller / Staff (Hrsg.), Der so­ ziale Rechtsstaat, 1984, S. 521 (531). 357 In diesem Sinn Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates (Fn. 340), S. 281 f.; ferner Robbers (Fn. 352), S. 124 f.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

gesellschaftlich-materialen Demokratieidee als wesentliche Merkmale der Sozial­ staatswerdung358. Es kann daher nicht verwundern, dass die grundgesetzliche Vorgabe des Sozialstaats auch in der Verfassungswirklichkeit weithin dadurch operationalisiert worden ist, dass im gesellschaftlichen Bereich demokratische Strukturen errichtet worden sind, wie dies insbesondere bei der Betriebs- und Unternehmensverfassung der Fall ist359, oder dass für den Bereich hoheitlicher Betätigung alternativdemokratische Entscheidungseinheiten geschaffen wurden, wie dies bei den vielfältigen Formen nichtkommunaler Selbstverwaltungskörperschaften zu beobachten ist360. Zugang zu diesen Partizpationsstrukturen, etwa im Bereich der Betriebsverfassung oder der Sozialversicherungen, haben dabei grundsätzlich alle betroffenen Glieder der Gebietsgesellschaft, auch diejenigen, die dem nationalen Staatsverband nicht angehören361. Wohl schon aus historischen Gründen haben die Architekten des deutschen Sozialstaats darauf verzichtet, die Segnungen des Sozialstaatsprinzips auf die ‚Volksgenossen‘ zu relativieren beziehungsweise ‚volksfremde‘ Glieder der Gebietsgesellschaft aus dem Sozialstaat auszuschließen. Vor diesem Hintergrund spricht der grundgesetzsystematisch unmittelbar angelegte, dogmengeschichtlich belegbare und in der Verfassungswirklichkeit widergespiegelte Zusammenhang mit der grundgesetzfundamentalen Sozialstaatsnorm dafür, dass die grundgesetzliche Demokratie nicht nur auf die nationaldemokratische Legitimation staatlicher Herrschaftsgewalt ausgerichtet ist, sich nicht auf Staatsvolk und Staatsgewalt relativieren lässt362. Vielmehr entbindet das Grundgesetz ein über den engen Bereich genuin staatlicher Betätigung hinausweisendes, tendenziell an der Betroffenheitsformel orientiertes Legitimationsprinzip der Demokratie363. Die grundgesetzliche Sozialstaatsnorm lässt sich, anders formuliert, nicht auf das eingangs skizzierte, rein materielle Verständnis reduzieren, mit dem die Interpretation der grundgesetzlichen Demokratienormen als Gewährleistun 358

Dazu Waser (Fn. 356), S. 530 ff. Zur Statthaftigkeit des Rückgriffs auf die einschlägigen Texte des ‚Klassikers‘ Hermann Heller bei der Grundgesetzinterpretation vgl. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, S. 19. 359 Zur demokratischen Dimension von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen siehe etwa Däubler, Das Arbeitsrecht I, 1990, Rn. 16. 360 Zu ihnen etwa Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 96 Rn. 78 f. 361 Dazu Tschentscher (Fn. 235), S. 99 f.; auch Zuleeg, Zur Verfassungsmäßigkeit der Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer in Nordrhein-Westfalen, in: KritV 1987, S. 322 (324 f.); ders. (Fn. 236), S. 124 sowie Rittstieg, Wahlrecht für Ausländer, 1981, S. 16. Dagegen allerdings Papier, Kommunalwahlrecht für Ausländer unter dem Grundgesetz, in: StWiss 1990, S. 202 (208 f.). 362 So aber zum Beispiel Jestaedt (Fn. 131), S. 172 f.; wie hier Bryde (Fn. 209), S. 319 f. 363 In diese Richtung auch Bryde, Personalvertretung in der parlamentarischen Demokratie, in: Becker / Bull / Seewald (Hrsg.), Festschrift für Thieme, 1993, S. 9 (21); dagegen vehement Isensee (Fn. 247), S. 25 f.; kritisch auch Heusser, Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, 2001, S. 32 ff.

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gen einer nationaldemokratischen Staatsherrschaftsstruktur noch vereinbar wäre. Die stattdessen indizierte prozedurale, also demokratische Lesart der grundgesetzlichen Sozialstaatsnorm bestätigt vielmehr die These von der auch gesamtgesellschaftlich-materialen Regelungsdimension der grundgesetzlichen Demokratienormen364. Für die Volkssouveränität als Kernbestandteil der grundgesetzlichen Demokratienormen bedeutet dies allgemein, dass sie nicht exklusiv die Herrschaft eines bestimmten Staatsvolks verbürgt, sondern darüber hinaus als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur an der Idee einer gerechten, das heißt tendenziell gleichen Verteilung sozialer Macht innerhalb der gesamten Gebietsgesellschaft ausgerichtet bleibt365. Für die systematische Interpretation speziell der in Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG besonders normierten Volkssouveränität hat das skizzierte Sozialstaatsverständnis, wie schon erwähnt, eine doppelte Relevanz366: Zum einen lässt die von dorther begründete Geltungserstreckung des demokratischen Prinzips auf die gesellschaftliche Sphäre für den allein auf die Ausübung von Hoheitsgewalt bezogenen Art.  20 Abs.  2 Satz1  GG den mittelbaren Schluss zu, dass sich aus Gründen der Einheit der Verfassung auch dessen Verständnis von Volkssouveränität nicht in striktem Gegensatz zu den individuumszentrierten Demokratieparadigmen konkretisieren lässt367. Zum anderen lässt sich in Anbetracht des grundgesetzlichen Sozialstaatsmodells und seiner Ausprägungen aber auch unmittelbar belegen, dass die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG speziell für den Bereich der Hoheitsausübung fixierte Volkssouveränität ihrem Geltungsgehalt nach nicht gegen die Ordnungsstrukturen der gesellschaftlichen Sphäre abgeschottet werden darf.

(2) Die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG Dass es dem grundgesetzlichen Sozialstaatsgedanken entspricht, wenn die Demokratienormen des Art. 20 GG immer auch von der essentiell menschenrechtlichen Ordnungsstruktur der Gesellschaft her erschlossen wird, lässt sich in einem weiteren grundgesetzsystematischen Überlegungsschritt noch vertiefen: Subjektivrechtliches Pendant zur grundgesetzlichen Sozialstaatsnorm ist die Koalitionsfreiheit368. 364

Kritisch diesem Ansatz gegenüber Hain (Fn. 72), S. 321 ff. Dies wird vielfach vernachlässigt – etwa auch von Britz / Schmidt, Die institutionalisierte Mitwirkung der Sozialpartner an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1999, S. 467 (490 f.). 366 Dagegen vehement Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 165 (191): „Das sozialstaatliche Bekenntnis hat vor allem keine institutionelle Bedeutung.“ 367 Somit täuscht sich Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, in: Schwab u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mikat, 1989, S. 705 (736), wenn er behauptet, die Zusammensetzung des Staatsvolks sei kein sozialstaatliches Thema. 368 In diese Richtung auch Kittner, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 9 Abs. 3 Rn. 28 und 81. 365

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Beide Rechtsinstitute haben sich unter den besonderen Bedingungen der Indus­ triegesellschaft im Verlauf der sozialen Kämpfe des 19.  und 20.  Jahrhunderts herausgebildet369 und bezwecken die Herstellung relativer sozialer Gerechtigkeit, das heißt den Abbau von sozialen Ungleichheiten. Mit ihnen haben sich wichtige Kampfziele der historischen Arbeiterbewegung verwirklicht370. Trotz seiner insofern besonderen historischen Entstehungsbedingungen und ungeachtet seiner sozialen Bedeutungsdimension ist das Grundrecht der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz strukturell gleichwohl als liberales Freiheitsrecht verfasst worden371. Es verleiht den lohnabhängig Beschäftigten und ihren spezifischen Vereinigungen372, aber auch den Kapitaleignern und deren Organisationen373 Abwehrrechte374, die sich allerdings nicht nur gegen den Staat, sondern gegen jedermann richten können. Das im vorliegenden Kontext eigentlich Relevante ist freilich nicht ihre unmittelbare Drittwirkung375, sondern der Umstand, dass sich im bloß abwehrrechtlichen Gewährleistungsmodus der grundgesetzlichen Koalitionsfreiheit ihr freiheitsverbürgender und -begründender Menschenwürdegehalt noch nicht in vollem Umfang offenbart.  Bereits in den Debatten des Parlamentarischen Rats hat Carlo Schmid zu Recht darauf hingewiesen, dass „man gerade diese Bestimmung nicht allzu sehr unter individualistischen Kriterien sehen“ dürfe376. Der Freiheits- und Menschenwürde­ gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG zeigt sich erst dann zur Gänze, wenn nach seinem sozialen Sinn und Zweck gefragt wird. Die wohlgemerkt als Menschenrecht abgefasste Koalitionsfreiheit soll ihrer historischen, aber auch gegenwärtigen Zweckbestimmung nach vor allem den einzelnen lohnabhängig Beschäftigten rechtlich in die Lage versetzen, sich zusammenzuschließen und durch freie Koalitionsbildung eine ungebremste Fremdbestimmung vonseiten der sozial regelmäßig mächtigeren Kapitaleigner zu verhindern377. Durch die menschenrechtlich gefasste Koa­ litionsfreiheit werden mit anderen Worten die Assoziationen der lohnabhängig Beschäftigten abgesichert, aufgrund derer diese ihre Arbeitsbedingungen mit 369

Zutreffend heißt es bei Heller (Fn. 350), S. 314 im Hinblick auf Art. 159 WRV: „Um die Koalitionsfreiheit, die Arbeitseinstellungen erst wirksam, weil für die Gesamtwirtschaft gefährlich machten, hat die Handarbeiterschaft am heißesten gekämpft.“ 370 Dazu auch Keßler, Die Koalitionsfreiheit als Funktionselement der Eigentumsgarantie, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 182 (196 ff.). 371 So dezidiert auch Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2. Aufl. 2000, § 112 Rn 13.  372 Unter Rekurs auf Entstehungsgeschichte und Grundgesetzsystematik begründen Däubler / Hege, Koalitionsfreiheit, 1976, Rn. 87, weshalb Art. 9 Abs. 3 GG primär ein Grundrecht der lohnabhängig Beschäftigten ist. 373 Siehe dazu Däubler (Fn. 359), Rn. 114. 374 Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 9 Rn. 43 f. 375 Zu dieser Zippelius / Würtenberger (Fn. 45), § 27 III 1 f). 376 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 571. 377 Grundlegend  Kittner (Fn.  368), Rn.  23 ff.; vgl. ferner Alain Touraine, Qu’est-ce que la démocratie, 1994, S. 22.

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zugestalten und ihr je individuelles Anrecht auf ein selbstbestimmt-autonomes, menschen­würdiges Leben kollektiv zu verteidigen beziehungsweise durchzusetzen vermögen378. Freiheitsstiftend wirkt Art. 9 Abs. 3 GG vor diesem Hintergrund also nicht nur und nicht einmal zuvörderst durch die Einräumung der Koalitionsfreiheit selbst. Entscheidend ist vielmehr, dass die Koalitionsfreiheit Organisationsbedingungen schafft, unter denen sich die lohnabhängig Beschäftigten zu (gegen-)mächtigen Personenverbänden zusammenschließen können, und dadurch die Schaffung sowie Sicherung individueller Freiheitssphären befördert379. Indem Art.  9 Abs. 3 GG organisationsrechtlich die machtvolle Durchsetzung des allen Grundrechten ideell zugrundeliegenden Anrechts auf ein selbstbestimmt-autonomes, menschenwürdiges Leben flankiert380, wird innerhalb des heutigen Arbeits- und Wirtschaftsprozesses ein Grad an tatsächlichem Grundrechtsschutz generiert, wie er – trotz Drittwirkung der Grundrechte – allein durch gerichtlichen, auf Abwehr ungerechtfertigter Grundrechtsverkürzungen beschränkten Rechtsschutzes nicht zu erreichen wäre. Insofern lässt das Grundrecht der Koalitionsfreiheit besonders deutlich erkennen, dass sich Demokratie nicht als aliud zur menschenrechtlich konturierten Ordnungsstruktur der Gesellschaft darstellt, sondern immer auch unmittelbar als Ausfluss dieser Ordnungsstruktur begreifbar ist. Denn das Grundrecht der Koalitionsfreiheit entbindet in der sozialen Realität ein organisatorisches Arrangement, das sich bei näherem Hinsehen als demokratisches entpuppt381: Es ermöglicht die Entstehung gewerkschaftlicher (Gegen-)Macht. An dieser sind alle Individuen zu partizipieren befugt, die von der die betrieblichen und überbetrieb­ lichen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betreffenden gewerkschaftlichen (Gegen-)Macht in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffen werden, nämlich alle lohnabhängig Beschäftigten382. Dass die Arbeitgeber nicht an der gewerkschaftlichen (Gegen-)Macht partizipieren dürfen383, obwohl sie davon gleichfalls, wenn auch in anderer Weise nachhaltig betroffen werden, ist in Hinblick auf ihre Autonomieansprüche deshalb nicht zu beanstanden, weil sie in ihrer auf die gewerkschaftliche (Gegen-)Macht stoßenden Verfügungsmacht nicht nur durch die Koalitionsfreiheit, sondern vor allem durch die Wirtschaftsgrundrechte hinreichend in ihrem Selbststand geschützt sind. Die Autonomieansprüche des Rests der Bevölkerung, der ebenfalls durch gewerkschaftliche Gegenmacht betroffen werden kann, werden insofern gewahrt, als die Ausübung gewerkschaftlicher Gegenmacht

378

Dazu eingehend auch Keßler (Fn. 370), S. 182 ff. Däubler (Fn. 359), Rn. 108. 380 Siehe Däubler / Hege (Fn. 372), Rn. 70. 381 Dazu auch Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 7. Aufl. 1977, S. 174 f. 382 Vgl. Kittner (Fn. 368), Rn. 27; Däubler (Fn. 359), Rn. 16. 383 Zum Grundsatz der Gegnerfreiheit: BVerfGE 50, 290 (367 f. und 373). 379

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durch das von ihnen legitimierte Gesetzesrecht eingehegt ist und eingehegt werden kann384. Die Koalitionsfreiheit als besonderes, nämlich postliberales Grundrecht385 bestätigt damit eindrücklich die demokratische Grundrechtstheorie, anhand derer sich indes auch die klassischen Freiheitsrechte entfalten lassen386. Die unter den spezifischen Bedingungen der Industriegesellschaft entstandene Koalitionsfreiheit offenbart, dass der dem Grundrechtssystem ideell zugrundeliegende Jedermannsanspruch auf freiheitliche Selbstbestimmung und ein menschenwürdiges Leben in unserer komplexer werdenden, durch vielfache Abhängigkeiten gekennzeichneten gesellschaftlichen Realität vielfach nur noch durch die demokratische Teilhabe an solchen Machtorganisationen eingelöst werden kann, welche die für den Einzelnen relevanten Lebensbereiche konkret (mit-)gestalten387. In dieser Perspektive wird apparent, dass Demokratie nicht eine äußere, äußerliche Bedingung von Menschenrechten ist, sondern Demokratie tendenziell immer auch Menschenrecht ist, weil sich Menschenrechte zunehmend nur mehr demokratisch durch­ setzen lassen. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, das der Struktur nach ein liberales Freiheitsrecht, der sozialen Funktion nach aber immer auch und vor allem ein demokratisches Teilhaberecht der lohnabhängig Beschäftigten ist, erweist sich als symptomatisch für das demokratische Grundrechtsparadigma, aber dadurch auch für das menschenrechtliche Demokratieparadigma.

(3) Resümee Die objektiv- sowie subjektivrechtlichen Konkretionen der Sozialstaatsidee im Grundgesetz liefern insofern durchgreifende systematische Argumente dafür, dass sich die grundgesetzlichen Demokratienormen durchaus auf die gesellschaftliche Sphäre erstrecken und inhaltlich immer auch als Ausprägung der menschenrechtlich konturierten Ordnungsstruktur der Gesellschaft begriffen werden können. Vor diesem Hintergrund lassen sich denn auch jene eingangs dieses Abschnitts angeführten systematischen Erwägungen entkräften, die auf den ersten Blick dafür zu sprechen scheinen, dass die grundgesetzlichen Demokratienormen durch den Dualismus von Staat und Gesellschaft sowie die Antinomie ihrer respektiven Ordnungsstrukturen geprägt werden388. 384 Zu den möglichen gesetzgeberischen Begrenzungen der Koalitionsfreiheit vgl. nur Jarass (Fn. 374), Rn. 50 f. 385 Siehe auch Kittner (Fn. 368), Rn. 26. 386 Dazu bereits oben Kapitel 6 VI. 2. a) = S. 501 und – für das Grundgesetz – unten Kapitel 9 V. 3. c) = S. 629. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch Smend (Fn. 304), S.  319 im Rahmen seinen Überlegungen zu einer postliberal-demokratischen Grundrechts­ theorie just bei der Koalitionsfreiheit ansetzt. 387 Vgl. Abendroth (Fn. 171), S. 74 f.; Schneider (Fn. 213) S. 29 f.; Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 49. 388 Siehe oben Kapitel 9 V. 3. b) cc) (1) = S. 618.

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Dass sich die grundgesetzlichen Demokratienormen des Art. 20 GG, auch wenn sie im staatsorganisatorischen Abschnitt des Grundgesetzes geregelt sind, nicht auf die Rückbindung nationalstaatlicher Hoheitsgewalt an das deutsche Staatsvolk relativieren lassen, sondern geltungsmäßig auch andere Formen von Demokratie umgreifen, ergibt sich demnach vor allem aus der grundgesetzlichen Ausprägung der Sozialstaatsidee389. Das grundgesetzliche Sozialstaatsmodell steht aus den im Einzelnen dargelegten Gründen für die im Rahmen des deutschen Verfassungsrechts gegebene Option, eigenständige, vom staatsvolkzentrierten Modell abweichende Demokratiestrukturen zu errichten, und zwar sowohl im gesellschaftlichen Bereich wie auch im staatlichen Bereich390. Indem das Grundgesetz Demokratie- und Sozialstaatsprinzip über Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG auf seiner höchsten Geltungsstufe als grundsätzlich gleichrangige Fundamentalentscheidungen zusammenspannt, gebietet es eine Interpretation der grundgesetzlichen Demokratienormen, die diesen Gewährleistungen und Optionen der Sozialstaatsnorm nicht widerspricht. Bei einer auf dem Dualismus von Staat und Gesellschaft aufbauenden, rein nationalstaatlichen Deutung der grund­ gesetzlichen Demokratienormen wäre dies indessen der Fall.

dd) Die Grund- und Menschenrechtsfunktionalität der Demokratie Die an Art. 8 und 9 Abs. 1 GG anknüpfende Argumentation zugunsten einer rein nationalstaatlichen Deutung der grundgesetzlichen Demokratienormen vermag ebenfalls nicht zu überzeugen391. Sie wird bereits dadurch abgeschwächt, dass das für den demokratischen Prozess ebenfalls maßgebliche Grundrecht der Meinungsfreiheit gerade nicht als Deutschengrundrecht, sondern als von der Nationalität abgekoppeltes allgemeines Bürgerrecht gefasst ist392. Hinzu kommt, dass nach heute ganz herrschender Auffassung grundsätzlich auch Nichtdeutsche über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit genießen393. 389 Gegen die hier verfochtene, dezidiert sozialstaatliche Interpretation des Grundgesetzes vgl. etwa Di Fabio (Fn. 301), S. 54 ff. 390 Vgl. auch Preuß (Fn. 299), S. 147: „Ist der ‚soziale Rechtsstaat‘ danach ein politisches Gemeinwesen, das die Möglichkeit eröffnet, die materiellen und ideellen Existenzbedingungen einer Gebietsbevölkerung unter Einhaltung rechtlicher Prozeduren politischer Planungs-, Lenkungs- und Kontrollgewalt zu unterstellen oder – konkret für die Bundesrepublik gesprochen – produktive private Besitzstände unter demokratisierte öffentliche Kontrolle zu bringen, so läßt sich daraus (…) folgern, daß das Grundgesetz den Institutionenstaat als den Monopolisten für das Politische endgültig entthront hat.“ 391 So auch, wenngleich mit anderer Begründung, Weigl, Verfassungsrechtliche Aspekte eines Wahlrechts für Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Kommunalwahlrechts 1992, S. 9. 392 Dies sieht auch Leisner, Das Volk?, 2005, S. 168, selbst wenn er hieraus andere Schlussfolgerungen zieht. 393 Frühzeitig schon in diesem Sinne Zuleeg (Fn.  133), S.  344 f.; auch Rittstieg (Fn.  361), S. 14 und Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch

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Die These, dass die demokratiefunktionalen Grundreche grundgesetzlich den Deutschen vorbehalten seien und das grundgesetzliche Demokratieprinzip aus diesem Grund nationalstaatlich zu relativieren sei, lässt sich insofern schwerlich aufrechterhalten394. Dies gilt im Übrigen schon deshalb, weil sie die vom Grundgesetz her gebotene (Neu-)Bestimmung des Verhältnisses von Menschenwürde und Menschenrechten einerseits und Demokratie andererseits außer Acht lässt. Denn aus dieser resultiert nicht nur, dass Grundrechte demokratiefunktional sind395. Nach der dem modernen Verfassungsstaat adäquaten und nach allem auch grundgesetzlich indizierten demokratischen Grundrechtstheorie396 erweist sich volkssouveräne Herrschaft ihrerseits als menschenwürde- und menschenrechtsfunktional397. Die entsprechende Zwecksetzung und Schutzrichtung von Demokratie und Volkssouveränität leuchtet in Art. 1 Abs. 1 deutlich auf. Schon deshalb ist eine strenge Trennung von staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien unstatthaft und eine Ausweitung demokratischer Teilhaberechte auf alle, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes um Menschenwürde ringen, nicht grundsätzlich ausgeschlossen398. Dass Art. 1 GG und Art. 20 GG in Art. 79 Abs. 3 GG gemeinsam höchste grundgesetzliche Weihen erlangt haben und gleichsam zum einheitlichen Geltungsgrund des Grundgesetzes avancieren konnten, ist ebenfalls ein deutlicher systematischer Hinweis darauf, dass menschenrechtliche Autonomie und Demokratie sich nicht bloß formaläußerlich wechselseitig voraussetzen und bedingen399, sondern material-inhaltlich verschränkt sind400. Darin liegt ja auch der bereits thematisierte Kern des Topos von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung401, der in dieser Perspektive

des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 5 Rn. 53 und Sachs, Die Freiheit der Versammlung und Vereinigung, in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  4/1, 2006, S.  1070 (1238 und 1320). Vgl. ferner für Art. 8 etwa Kunig, in: v. Münch / ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2000, Art. 8 Rn. 7 und für Art. 9 beispielsweise Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 9 Rn. 10 sowie die Gegenmeinung von Löwer, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 9 Rn. 5. 394 Dies muss auch Birkenheier (Fn. 130), S. 42 f. einräumen. 395 Dazu etwa Bäumlin, Artikel ‚Demokratie (I. juristisch)‘, in: Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 458 (467 f.); Emde (Fn. 1), S. 35; Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 17 ff.; kritisch Isensee, Grundrechte und Demokratie, in: Staat 1981, S. 161 (172 f.). 396 Zur demokratischen Grundrechtstheorie siehe bereits oben Kapitel 6 VI. 2. a) = S. 501 und Kapitel 9 V. 3. b) cc) (2) = S. 623 sowie v. Komorowski / Bechtel (Fn. 75), S. 299 f. 397 Abendroth (Fn. 171), S. 74 f.; Sterzel (Fn. 232), S. 167; Schneider (Fn. 213), S. 29 f.; aber auch Wolff (Fn. 301), S. 88. Kritisch diesem Ansatz gegenüber freilich Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 241 (258 ff.). 398 Ähnlich Holzmann (Fn. 235), S. 188 und 191. 399 In diesem Sinne aber Kahl (Fn. 303), S. 723. 400 Vgl. Schneider, Die Verfassung der Grundrechte, in: Schröder / ders. (Hrsg.), Soziale Demokratie. Das Grundgesetz nach 40 Jahren, 1991, S. 13 (22 f.). 401 Siehe oben Kapitel 9 V. 3. b) bb) = S. 616.

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fast beiläufig aus seinem anwendungsgeschichtlich überwiegend repressiven Bedeutungszusammenhang402 gelöst wird.

c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen Nach allem präsentiert sich der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ausgeprägte Grundsatz der Volkssouveränität wiederum als (entwicklungs-)offene demokratische Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte, die gerade auch unter den Bedingungen moderner Sozialstaatlichkeit neben dem Staatsvolk auch die verschiedenartigsten Verbands-, Betriebs-, Gremien-, Gewerkschaftsvölker als Subjekt demokratischer Legitimation akzeptieren kann403. Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG erfasst im Hinblick auf das erkenntnisleitende Problem der Geltungserstreckung und des Geltungsgehalts von Volkssouveränität jeden Hoheitsmacht ausübenden Personenverband, sofern an dessen Machtausübung alle hiervon in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen partizipieren und sich der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Machtteilhabe als mit ihren respektiven Selbstbestimmungsansprüchen kompatibel erweist404.

4. Das Problem der externen Geltungsdimension in grundgesetzsystematischer Perspektive Bei grundgesetzsystematischer Betrachtung lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass das Grundgesetz das demokratische Paradigma exklusiver ‚Nationalsouveränität‘ rezipiert, indem es ein Junktim zwischen Staatsangehörigkeit und demokratischen Teilhaberechten etabliert405. In dieser Perspektive präsentiert sich die grundgesetzliche Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur und begreift sich der grundgesetzliche Volksbegriff im Sinne von Staats(angehörigen)volk406. Ausschließlichkeit gesteht das Grundgesetz diesem Demokratieparadigma aber nicht zu. 402

Dazu zornig Ridder, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 21 Abs. 2 Rn. 42 ff. 403 Grundsätzlich anderer Auffassung Di Fabio, Demokratie im System des Grundgesetzes, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 77 (90). 404 Dagegen etwa Kisker (Fn. 333), S. 11 f. 405 So Schink, Kommunalwahlrecht für Ausländer?, in: DVBl. 1988, S. 417 (422); wohl auch Wegge (Fn. 60), S. 159 f.; gegen ein solches Junktim Hain (Fn. 72), S. 325 ff. 406 In diesem Sinne dezidiert Kirchhof, Die Einheit des Staates in seinen Verfassungsvoraussetzungen, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Die Einheit des Staates, 1998, S. 51 (54 f.); ders., Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S.  893 (910 ff.); auch Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 2003, S. 117 (135) sowie Stöcker (Fn. 6), S. 88.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

a) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ Für eine Rezeption des demokratischen Paradigmas exklusiver Nationalsouveränität durch das Grundgesetz könnte Art. 16 Abs. 1 GG sprechen407. Danach darf die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden. Es wird vertreten, dass dieses Grundrecht in seiner objektivrechtlichen Geltungsdimension eine institutionelle Garantie der Staatsangehörigkeit enthält, der zufolge Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG zugleich auch die typischerweise mit der Staatsangehörigkeit verbundene Rechtsund Pflichtenstellung schützt408. In dieser Perspektive entpuppt sich Staatsangehörigkeit als ein spezifischer Inbegriff bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten409, der insbesondere auch das – exklusive – Recht der Staatsangehörigen auf demokratische Partizipation erfasst410. Unter diesem Blickwinkel stünde es in einem verfassungssystematischen Widerspruch zur institutionellen Garantie des Art. 16 Abs. 1 GG, wenn Volkssouveränität als sozial­organisatorische Freiheitsstruktur konkretisiert und in diesem Sinne für die verfassungsdogmatische Ablösbarkeit demokratischer Teilhaberechte von der Staatsangehörigkeit plädiert würde. Für die Amalgamierung von Staatsangehörigkeit und der hierfür traditionell charakteristischen Rechte-und-Pflichten-Stellung sowie für ein daraus ableitbares grundgesetzliches Junktim zwischen Staatsangehörigkeit und demokratischen Teilhaberechten411 könnte des Weiteren insbesondere Art.  33 Abs.  1  GG sprechen412. Danach soll jeder Deutsche in jedem Bundesland die gleichen staats­ bürgerlichen Rechte und Pflichten haben. Hier wird die Deutscheneigenschaft, die regelmäßig durch die Staatsangehörigkeit vermittelt wird, nochmals ausdrücklich mit den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten in Zusammenhang gebracht413. Die gleiche staatsbürgerliche Rechte-und-Pflichten-Stellung stellt sich in dieser 407

In diesem Sinne etwa Isensee (Fn.  130), S.  735 ff.; vgl. auch Hillgruber (Fn.  261), Rn. 22. 408 Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat  – wechselseitige Bedingtheit, in: Stober (Hrsg.), Festschrift für Roellecke, 1997, S.  137 (142); ders. (Fn.  247), S.  39 ff.; wohl auch Murswiek (Fn.  241), Rn.  242; grundlegend Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, 1995, S. 221 ff. Dagegen etwa Rittstieg, Stellungnahme der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, in: Isensee / Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 394 (403 f.). 409 Randelzhofer, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd.  2, Stand: Juni 2007, Art.  16 Abs. 1 Rn. 9. 410 In diese Richtung auch Klein, Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie des Grundgesetzes, in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, 2006, S. 78 (80); Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 164 f.; Ziemske (Fn. 408), S. 327 f. 411 Für dieses Junktim etwa auch Murswiek (Fn.  200), S.  217 sowie Kirchhof (Fn.  5), Rn. 89. 412 In diesem Sinne etwa Schink (Fn. 405), S. 421; Papier, Verfassungsfragen des kommunalen Ausländerwahlrechts, in: KritV 1987, S. 309 (311 f.). 413 Papier (Fn. 361), S. 204.

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Bestimmung als Ausfluss der einen deutschen (Bundes-)Staatsangehörigkeit dar, sodass es sich aufzudrängen scheint, auch das demokratische Teilhaberecht als zentrales staatsbürgerliches Recht auf die Staatsangehörigen zu relativieren414. Von systematischer Relevanz sind im hier interessierenden Zusammenhang des Weiteren diejenigen Grundgesetznormen, die wie Art. 33 Abs. 2 GG oder Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG die Ausübung öffentlicher Ämter mit der Deutscheneigenschaft in Verbindung bringen415. Die Deutscheneigenschaft wird ihrerseits regelmäßig durch die Staatsangehörigkeit vermittelt416. Wenn insofern speziell Staatsangehörige im demokratischen Staat zur Magistratur und zur sonstigen hoheitlichen Amtsausübung berufen sind, so liegt der Schluss nahe, dass die Mitwirkung im Staat insgesamt und damit auch die demokratische Teilhabe grundsätzlich an die Staatsangehörigkeit gebunden sind417. Diese systematische Argumentation erweist sich vor allem dann als schlüssig, wenn man Abraham Lincolns grund­legende Umschreibung repräsentativer Demokratie als Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk erinnert418. Fordert die demokratiezentrale Volkssouveränität nämlich nicht bloß eine Regierung für das Volk, sondern eine Regierung durch das Volk, so liegt der Schluss nahe, dass die Repräsentanten des Volkes ihrerseits Volksangehörige sein müssen. Wird die demokratische Hoheitsausübung daher von Staatsangehörigen wahrgenommen, so legt die von Lincoln geprägte grundlegende Demokratiekonzeption in der Tat den Umkehrschluss nahe, dass das zu demokratischer Teilhabe berufene Volk seinerseits als Summe der Staatsangehörigen zu fassen ist, Staatsangehörigkeit (beziehungsweise Deutscheneigenschaft) somit dem Grundgesetz zufolge Vorbedingung demokratischer Partizipation ist419. Eine notwendige Anknüpfung demokratischer Teilhabe an die Staatsangehörigkeit420 könnte schließlich noch der bereits erwähnte Amtseid des Bundespräsidenten nahelegen, der auch von den Mitgliedern der Bundesregierung geleistet werden muss421. Die Schwörenden verpflichten sich dort dem Wohl des maßgeblich durch die Staatsangehörigkeit konturierten deutschen Volkes. Insofern handelt der Amtseid, um in Lincolns Terminologie zu bleiben, vom government for the people. Geht man nunmehr in Anknüpfung an Lincolns klassische Begriffsbildung davon aus, dass das government for the people sowie das government of the people 414

So offensichtlich auch Brosius-Gersdorf (Fn. 200), S. 32 f. Bleckmann (Fn. 255), S. 439 und Isensee (Fn. 312), S. 95. 416 Vgl. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004; Rennert, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 116 Rn. 10. 417 In diesem Sinne etwa Isensee (Fn. 130), S. 722. 418 Lincoln, Gettysburg Address 19 November 1863, 1994, S. 9 (Faksimile). Übernommen wurde die Gettysburg-Formel auch von Art. 2 Abs. 5 frz. Verf., wo es in Bezug auf die Republik heißt: „Son principe est: gouvernement du peuple, par le peuple et pour le peuple.“ Vertiefend zur Lincolnschen Formel Sartori (Fn. 240), S. 43 ff.; ferner Giegerich (Fn. 250), S. 951 f. 419 Vgl. Grawert (Fn. 416), Rn. 59. 420 Dafür letztlich auch Oeter (Fn. 139), S. 37 ff. 421 Vgl. Art. 56 sowie Art. 64 Abs. 2 GG. 415

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und by the people eine unauflösbare Einheit bilden, so suggeriert der Amtseid den Schluss, dass nur Staatsangehörige zum demos gehören, demokratische Teilhaberechte an die Staatsangehörigkeit geknüpft sind422.

b) Die grundgesetzliche Volkssouveränität als inklusive ‚Bevölkerungssouveränität‘ Ungeachtet dieser bedenkenswerten Indizien zwingt die Grundgesetzsystematik nicht dazu, die demokratiezentrale Volkssouveränität als exklusive ‚Nationalsouveränität‘ zu begreifen. Als überaus problematisch erweist sich bereits der geschilderte interpretatorische Ansatz, das grundrechtlich gesicherte Verbot des Entzugs der Staatsangehörigkeit material aufzuladen423. Denn seinem klaren Wortlaut nach verbietet Art. 16 Abs. 1 GG lediglich die Entziehung der Staatsangehörigkeit. Mangels sonstiger Präzisierungen ist mit Staatsangehörigkeit zunächst nichts anderes gemeint, als dass ein Individuum der Personalhoheit eines bestimmten Staates unterliegt424. Insofern ist die Staatsangehörigkeit zunächst und vor allem „ein rechtlicher Grundzustand (status)“425. Über diesen sogenannten Bereitschaftsstatus426 hinaus setzt die Staatsangehörigkeit verfassungsnormativ nur diejenigen Rechte und Pflichten der Staatsangehörigen voraus, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Personalhoheit stehen, mithin also als Ausfluss des wechselseitigen Schutz- und Treueverhältnisses zwischen Staat und Staatsangehörigen qualifiziert werden können427. Dazu gehört etwa das Recht428 des Staatsangehörigen auf diplomatischen Schutz429 oder das auf Aufnahme in den Heimatstaat430. Darüber hinausgehende bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte sind mit dem Status der Staatsangehörigkeit beziehungsweise mit dem dadurch begründeten Rechtsverhältnis nicht unmittelbar verbunden431. 422 Zur Kritik am grundgesetzsystematischen Rückgriff auf Art. 56 GG etwa Breer, Die Mitwirkung von Ausländern an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch Gewährung des Wahlrechts, 1982, S. 67. 423 Vgl. dazu eingehend Rittstieg (Fn. 361), S. 50 ff. 424 Siehe dazu auch Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 541. 425 Heller (Fn. 350), S. 292. 426 Dazu Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 24 ff. 427 Wie hier Becker, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 16 Rn. 23; anderer Ansicht Masing, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 16 Rn. 40. 428 Dieses Recht besteht nur national-, nicht aber völkerrechtlich, vgl. Schweitzer (Fn. 424), Rn. 544a. 429 BVerfGE 37, 217 (241); v. Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit, 2007, S. 10 ff.; Grawert (Fn. 416), Rn. 42. 430 Becker (Fn. 427), Rn. 23. 431 Uerpmann, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht im demokratischen Staat, in: StWiss 1995, S. 3 (6) sowie Becker (Fn. 427), Rn. 20.

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Hierfür spricht auch der Entstehungszusammenhang des Art.  16 Abs.  1  GG. Mit dieser Bestimmung wollte der Parlamentarische Rat die angemessene Lehre aus der jüngst zurückliegenden Vergangenheit ziehen. Zu Gesetzen wie dem vom 14.  Juli 1933 über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit432 sollte es nie mehr kommen können. Der Entstehungsgeschichte nach zu urteilen, bezieht sich der Begriff der Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 16 Abs. 1 GG auf die rechtliche Beziehung zum Staatsverband und meint nicht einen Inbegriff von Rechten und Pflichten. Dafür streitet fernerhin die grundgesetzsystematische Einbettung dieser Norm. Nur bedingt überzeugt dabei freilich das in der Literatur vorgetragene Argument, wonach schon deshalb kein unauflösbarer Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und bestimmten (staats-)bürgerlichen Rechten gegeben sei, weil das Grundgesetz bestimmte Rechte und Pflichten  – wenn überhaupt  – nur an die Deutscheneigenschaft knüpfe, die ihrerseits über die Staatsangehörigkeit hinausgehe433. Denn da Art.  116 Abs.  1  GG, das die Deutscheneigenschaft normiert, lediglich provisorisches Übergangsrecht enthält und die herkömmliche Idee der Staatsangehörigkeit nicht dauerhaft ersetzen soll434, ist es nicht von vornherein abwegig anzunehmen, dass dort, wo das Grundgesetz Deutschenrechte normiert, die betreffenden Rechte integraliter mit der deutschen Staatsangehörigkeit verknüpft werden. Entscheidend gegen ein material extensiv aufgeladenes Verständnis der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 16 Abs. 1 GG spricht grundgesetzsystematisch allerdings, dass das Grundgesetz in Spezialregelungen ausdrücklich bestimmt, wann die deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung für die Ausübung von bürger­ lichen und staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten sein soll435. Die Staatsangehörigkeit ist insofern der grundgesetzlichen Regelungskonzeption nach denkbarer Anknüpfungspunkt, nicht aber Inbegriff bestimmter (staats-)bürgerlicher Rechte und Pflichten. Dass die grundgesetzlich geregelte Staatsangehörigkeit nicht mit den an sie anknüpfenden Rechten und Pflichten vermengt werden darf, führt dabei auch keineswegs zum inhaltlichen Leerlauf dieses Rechtsinstituts. Wie gesagt, zählen nach der hier vertretenen Auffassung immerhin die unmittelbaren rechtlichen Ausformungen des – völkerrechtlich anerkannten436 – Schutz- und Treue­ verhältnisses, in dem Staat und Staatsangehöriger zueinander stehen, zu den inte­ grierenden Normativelementen der grundgesetzlichen Staatsangehörigkeit437. Eine darüber hinausgehende inhaltliche Anreicherung des Instituts der Staatsangehörigkeit ist grundgesetzlich indes nicht angezeigt. Hiergegen spricht ferner, 432

RGBl. I, S. 480. Zu diesem Gesetz v. Münch (Fn. 429), S. 68 ff. So Randelzhofer (Fn. 409), Rn. 9. 434 Siehe dazu etwa Rennert (Fn. 416), Rn. 7. 435 Insoweit zutreffend Randelzhofer (Fn. 409), Rn. 9. 436 Dazu Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2007, § 25 Rn. 2 f. 437 Becker (Fn. 427), Rn. 20.

433

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dass das Grundgesetz  – im Unterschied etwa zur Weimarer Reichsverfassung  – keine umfassende, auf Staatsangehörige relativierte bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte- und Pflichtenstellung kennt. So sind, wie schon angesprochen, alle im Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte – zumindest über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG – menschenrechtlich verbürgt und werden folglich nicht mehr wie zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung als dem Grundsatz nach ‚staatsmitgliedschaftliche Bürgerrechte‘438 gewährt439. Selbst die zur Zeit der Weimarer Verfassung wichtigste, „edelste Grundpflicht der Deutschen“, die Wehrpflicht440, ist unter dem Grundgesetz als Jedermannspflicht ausgestaltet441. Während also unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung (staats-)bürgerliche Rechte sowie Pflichten überwiegend durch die Staatsangehörigkeit vermittelt wurden und insofern einiges dafür sprach, den Rechtsinhalt der Staatsangehörigkeit durch die eine klar umrissene staatsbürgerliche Rechten- und Pflichtenstellung rechtsinhaltlich zu bestimmen442, hat sich die Regelungslage mit Erlass des Grundgesetzes grundlegend geändert. Denn es existiert grundgesetzlich kein derartiger umfassender Kodex von Rechten und Pflichten, der ausschließlich für die Staatsangehörigen Geltung beanspruchen würde. Aus diesem Grund darf die grundgesetzliche Staatsangehörigkeit nicht als umfassende Rechte-und-Pflichtenstellung interpretiert werden. Aus dem Verbot, die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, kann demnach auch nicht gefolgert werden, dass es grundgesetzwidrig sei, staatsbürgerliche Rechte und damit auch demokratische Teilhaberechte auf Nichtstaatsangehörige zu übertragen443. Art. 16 Abs. 1 GG lässt sich nicht als Beleg dafür ins Feld führen, dass dem Grundgesetz das demokratische Paradigma exklusiver ‚Nationalsouveränität‘ zugrundeliegt. Mit Blick auf seinen Sinn und Zweck widerspricht dieses Auslegungsergebnis auch nicht der Regelung des Art.  33 Abs.  1  GG. Diese Verfassungsbestimmung soll als spezieller Gleichheitssatz die Gleichbehandlung aller Deutschen in allen Bundesländern gewährleisten444; sein telos ist es hingegen nicht, die Ausübung von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten auf Deutsche zu beschränken445. Die Gleichstellung von deutschen Staatsangehörigen und Nichtdeutschen in Hinblick auf die Gewährung politischer Teilhaberechte könnte daher allenfalls 438

Giese, Deutsches Staatsrecht, 1930, S. 108; differenzierend Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, S. 510 ff. 439 Dies entsprach dem Vorbild der Paulskirchenverfassung von 1849 (Hofmann [Fn. 218], S. 355). 440 Heller (Fn. 350), S. 302; vgl. ferner Giese (Fn. 438), S.108. 441 So die herrschende Meinung, vgl. nur Brunn, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grund­gesetz, Bd.  1, 2002, Art.  12a Rn.  6; anderer Ansicht Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  1, 2. Aufl. 2004, Art. 12a Rn. 18. 442 Vgl. Giese (Fn. 438), S. 107. 443 Im Ergebnis gleich Masing (Fn. 427), Art. 16 Rn. 77. 444 Dollinger / Umbach, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  1, 2002, Art.  33 Rn. 22. 445 Weigl (Fn. 391), S. 29; Uerpmann (Fn. 431), S. 15; auch Bleckmann (Fn. 255), S. 438.

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mit Art. 3 GG kollidieren446. Indes ist nicht erkennbar, dass sich die Stellung und Situation eines Staatsangehörigen so sehr von der eines Nichtdeutschen unterscheidet, dass eine Ungleichbehandlung dieser beiden gebietsgesellschaftlichen Personenkreise im Hinblick auf ihre politischen Partizipationsrechte ausnahmslos geboten wäre447. Dies gilt umso mehr, als es das Grundgesetz im Rahmen der allgemeinen Regeln des Völkerrechts448 zulässt, Ausländern selbst die schwerwiegendste und potenziell folgenreichste Pflicht aufzuerlegen, die einen Staatsangehörigen treffen kann, nämlich die Wehrpflicht449. Als wesentlich verschieden lassen sich Staatsangehörige und Staatsfremde daher nur dann qualifizieren, wenn man von einer die Staatsfremden exkludierenden ‚substanziellen Gleichheit‘ der Staatsangehörigen ausgeht und damit letztlich eine nach „völkisch-nationalen Grundsätzen“450 bestimmbare Gleichheit meint451. Eine solche auf der Gleichartigkeit des Volks aufbauende und einen Gegensatz zum Begriff der Menschheit konstruierende Vorstellung demokratischer Gleichheit452 freilich ist mit dem demos-Begriff des Grundgesetzes, wie er bis hierher schon entfaltet wurde und im Folgenden noch weiter entwickelt wird, nicht vereinbar. Er kann demzufolge eine Ungleichbehandlung von Staatsangehörigen und Staatsfremden daher auch nicht imperativ einfordern. Dem grundgesetzlichen Gleichheitsgrundsatz, der bezeichnenderweise als Menschenrecht und nicht wie noch unter der Weimarer Verfassung als staatsmitgliedschaftliches Bürgerrecht verfasst ist453, widerspricht es daher nicht schon grundsätzlich, wenn Staatsangehörige und Staatsfremde in Hinblick auf die demokratische Teilhabe gleich behandelt werden. Für die Amalgamierung von Staatsangehörigkeit und politischen Partizipa­ tionsrechten sollen des Weiteren diejenigen Vorschriften sprechen, die den Zugang zu den öffentlichen Ämtern mit der Deutscheneigenschaft und damit in der Sache grundsätzlich mit der Staatsangehörigkeit in Verbindung bringen454. Sofern sich diese Argumentation auf Art. 33 Abs. 2 GG stützt, geht sie indes schon deshalb fehl, weil die dortige Inbezugnahme speziell der Deutschen keineswegs den

446

So etwa Isensee (Fn. 247), S. 42 ff. Dazu eingehend Rittstieg (Fn. 284), S. 409 ff. 448 Dazu etwa Gornig, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 12a Rn. 32. 449 So die herrschende Meinung, vgl. nur Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein (Begr.), Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 12a Rn. 4; anderer Ansicht Heun (Fn. 441), Rn. 18. 450 Vgl. Ziff. I der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 26.07.1933 (RGBl. I, S. 538): „Ob eine Einbürgerung als nicht erwünscht anzusehen ist, beurteilt sich nach völkischnationalen Grundsätzen.“ 451 Vgl. Schmitt (Fn. 107), S. 228 ff., vor allem 231 ff. 452 Vgl. Schmitt (Fn. 107), S. 234. 453 Dazu auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rn. 6. 454 Dagegen etwa Uerpmann (Fn. 431), S. 15. 447

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Sinn und Zweck hat, Nichtdeutsche von der Ausübung öffentlicher Ämter fern­ zuhalten455. Damit kommt nur mehr ein argumentativer Rekurs auf Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht, wonach der Bundespräsident Deutscher sein muss. Aus dieser vereinzelten Vorschrift wird man indes schwerlich den weitreichenden Rückschluss ziehen können, dass wenn schon der nach der grundgesetzlichen Regelung protokollarisch höchste Magistrat Deutscher sein muss, politische Partizipation grundsätzlich über die Deutscheneigenschaft und damit regelmäßig über die Staatsangehörigkeit vermittelt werden muss. Dies gilt umso mehr, als sich aus dem Umstand, dass lediglich beim Bundespräsidenten die Deutscheneigenschaft von Verfassungs wegen vorgesehen ist, auch der entgegengesetzte Umkehrschluss ziehen lässt, nämlich dass in Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG die Ausnahme von der Regel normiert wird456. Für einen solchen Umkehrschluss spricht, dass es durchaus Sinn macht, gerade beim Bundespräsidenten auf der Deutscheneigenschaft zu beharren und bei anderen Magistraten flexibler zu sein. Denn der Bundespräsident wird zu Recht als integrierender pouvoir neutre charakterisiert, der als Wahrer von Einheit und gewisser Kontinuität fungiert457. Einheit und Kontinuität erwachsen dem Grundgesetz zufolge nun gerade auch aus dem historisch und kulturell gewachsenen nationalen Volkszusammenhang, dem das Grundgesetz durchaus – relative – Bedeutung beimisst458. Es ist insoweit keineswegs widersprüchlich, wenn der Zugang zum obersten Staatsamt von der Deutscheneigenschaft abhängig gemacht wird, indessen das passive Wahlrecht im Hinblick auf andere Staatsämter und erst recht das aktive Wahlrecht auch auf Nichtdeutsche erstreckbar sein soll. Denn den anderen Magistraten sowie den Stimmbürgern kommt anders als dem Bundespräsidenten nicht die primäre Funktion zu, die Staatseinheit zu repräsentieren459. Vielmehr sind sie im Unterschied zum Bundespräsidenten in gesellschaftliche Auseinandersetzungen gestellt, aus denen heraus Volkssouveränität erzeugt wird. Resümierend lässt sich daher feststellen, dass diejenigen Regelungen, in denen – wie in Art. 33 Abs. 1 und 2 GG sowie in Art. 54 Abs. 1 Satz 2 GG – der Zugang 455

So auch Uerpmann (Fn. 431), S. 15 sowie Masing, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 33 Rn. 40. 456 Dagegen freilich Isensee (Fn. 247), S. 20 und Birkenheier (Fn. 130), S. 83 f. 457 Hemmrich, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 4./5. Aufl. 2001, Art.  54 Rn. 2; in diese Richtung weist auch die Entstehungsgeschichte vgl. Stern (Fn. 90), S. 1316 ff. sowie Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 8 Rn. 64; kritisch hinsichtlich der Charakterisierung als pouvoir neutre zum Beispiel Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2. Aufl. 2006, Art. 54 Rn. 23 f.; v. Münch (Fn. 49), Rn. 785 sowie Nettesheim (Fn. 189), Rn. 24. 458 Vgl. etwa Zuleeg (Fn. 235), Rn. 1 ff. 459 Zur Repräsentationsfunktion des Bundepräsidenten eingehend Nettesheim (Fn.  189), Rn. 31 ff.

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zur Magistratur und die Deutscheneigenschaft miteinander in Zusammenhang gebracht werden, nicht dazu zwingen, von einer grundgesetzlichen Amalgamierung von Staatsangehörigkeit und demokratischen Partizipationsrechten auszu­ gehen. Von vornherein mit großer Skepsis ist dem auf den Amtseid des Bundespräsidenten abstellenden Interpretationsansatz zu begegnen, da hier aus einer peripheren, verfassungsrechtlich und -theoretisch nur schwer konkretisierbaren460 Vorschrift weitgehende Folgerungen abgeleitet werden sollen. Hinzu kommt, dass die Entstehungsgeschichte einer nationalstaatlichen Ausdeutung dieser Vorschrift eher entgegensteht. Der Herrenchiemseer Entwurf nämlich sah lediglich generell eine Eidesleistung auf das Grundgesetz vor461. Dass der Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rats dann doch auf die Formulierung der Weimarer Reichsverfassung462 zurückgriff463, bedeutet nicht, dass man sich absichtlich von der verfassungsstaatlichen Konzeption des Herrenchiemseer Entwurf ab- und einer nationalstaatlicheren Formulierung zuwenden wollte. Vielmehr sollte der sozusagen verfassungspatriotische Ansatz des Herrenchiemseer Konvents dadurch noch verstärkt werden, dass der Weimarer Eid mit dem Zusatz ins Grundgesetz auf­genommen wurde, dass das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes nicht nur gewahrt, sondern verteidigt werden müssten464. Der traditionale Art. 56 GG, der seinem Sinn und Zweck nach überhaupt keine verfassungsrechtlichen Wirkungen zeitigen, sondern allenfalls religiöse beziehungsweise ethische Bindungen bewirken soll465, ist daher insgesamt wenig geeignet, um hieraus das dem Grundgesetz vermeintlich inhärente demokratische Paradigma exklusiver ‚Nationalsouveränität‘ herzuleiten. Dass das Grundgesetz Staatsangehörigkeit und politische Teilhaberechte amalgamiert hätte, lässt sich an seiner Systematik insofern schwerlich belegen466. Diese Einschätzung bestätigt sich, wenn man ergänzend noch Art. 38 und Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG heranzieht. In dem Grundgesetzartikel über die Wahlrechtsgrundsätze und die Rechtsstellung der Abgeordneten fehlt jeder Hinweis darauf, dass demokratische Teilhabe an die Staatsangehörigkeit gebunden wäre467. Stattdessen wird die Allgemeinheit des Wahlrechts verfassungsrechtlich konsekriert, derjenige Wahlrechtsgrundsatz also, mit dem die Inklusionsansprüche der ehedem von der politischen Teilhabe ausgeschlossenen gebietsgesellschaftlichen Bevölkerungs 460

Dazu Fink (Fn. 188), Rn. 6. JöR 1951, S. 408. 462 Vgl. Art. 42 Abs. 1 WRV; dazu etwa Anschütz (Fn. 438), Art. 41 Anm. 1 ff. 463 JöR 1951, S. 408 f. 464 JöR 1951, S. 409. 465 Dazu Fink (Fn. 188), Rn. 2 und 6 f. 466 Zweifelnd auch Schliesky (Fn. 46), S. 274. 467 Darauf weisen zutreffend van Ooyen, Demokratische Partizipation statt „Integration“, in: ZfPol 2003, S 601 (619) sowie Breer (Fn. 422), S. 69 hin. Gegen diese Betrachtungsweise argumentiert Birkenheier (Fn. 130), S. 30 f. 461

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gruppen und -schichten gerechtfertigt und späterhin durchgesetzt wurden468. Ansonsten wird die Konkretisierung dieses für die grundgesetzliche Ordnung zentralen politischen Teilhaberechts dem einfachen Gesetzgeber überantwortet. Darin spiegelt sich die Überzeugung wider, „daß das Wahlrecht und die Regelung der Wahlreform nicht in eine Verfassung oder ein Grundgesetz hineingehören, weil sie einer lebendigen Entwicklung vorbehalten sein müssen“469. Dieser verfassungsrechtliche Befund lässt sich schwer mit der Vorstellung exklusiver ‚National­ souveränität‘ vereinbaren. Weniger durchschlagend, aber dennoch von Interesse ist im hiesigen Zusammenhang Art.  28 Abs.  1 Satz  3  GG, der das Konzept einer auf der nationalen Staatsangehörigkeit aufbauenden Demokratiekonzeption zumindest prima facie in Frage stellt470. Denn hiernach sind auch Staatsfremde zur Wahl einer staatlichen Volksvertretung471 berufen, scheint demokratische Teilhabe tendenziell von der Staatsangehörigkeit dissoziabel zu sein472 und nimmt die grundgesetzliche Volkssouveränität insofern tendenziell als sozialorganisatorisches Freiheitsprinzip Gestalt an. Allerdings muss das Argument aus Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG in Hinblick auf systematische Auslegung des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG unter zwei Gesichtspunkten relativiert werden. Erstens handelt es sich bei Art.  28 Abs.  1 Satz  3  GG um eine erst nachträglich ins Grundgesetz aufgenommene Bestimmung473. Insofern könnte es sich womöglich um verfassungswidriges Verfassungsrecht474 handeln. Zweitens lässt sich Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG womöglich auch dahingehend interpretieren, dass es mit einem auf dem nationalstaatlichen Ex­ klusionsprinzip gründenden Demokratieparadigma kompatibel bleibt. So könnte geltend gemacht werden, dass ein durch Verfassungsänderung eingeführtes kommunales Ausländerwahlrecht für Unionsbürger als unterhalb der Schwelle des Art. 79 Abs. 3 GG angesiedelte Modifikation des an sich veränderungsfesten Demokratieprinzips im Sinne von Art. 20 GG zu qualifizieren sei475. Freilich widerstreitet diese Auslegung der hier entwickelten Auffassung, wonach die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG die Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen des Art. 20 GG vollumfänglich unter Bestandsschutz stellt476. 468

Zur Zwecksetzung des Wahlrechtsgrundsatzes der Allgemeinheit der Wahl siehe nur Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 64. 469 So der Abg. Dr. Seebohm (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 48). 470 In diesem Sinne auch Holzmann (Fn. 235), S. 190. 471 Dazu, dass die Gemeinden dem Staat und nicht der Gesellschaft zuzuordnen sind, vgl. v. Komorowski, Äußerungsrecht der kommunalen Volksvertretungen und gemeindliche Verbandskompetenz, in: Staat 1998, S. 122 (131 ff.). 472 Allgemein zu Art.  28 Abs.  1 Satz  3  GG Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 78 ff. 473 Dreier (Fn. 472), Rn. 24; zur Entstehungsgeschichte Schunda, Das Wahlrecht von Unionsbürgern bei Kommunalwahlen in Deutschland, 2003, S. 108 ff. 474 Zu dieser Kategorie vgl. nur v. Münch (Fn. 49), Rn. 99. 475 Dazu beispielsweise Schunda (Fn. 473), S. 121 ff. 476 Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571.

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c) Dialektische Vermittlung der durch das Grundgesetz rezipierten gegenläufigen Demokratieparadigmen Im Ergebnis bleibt nach allem festzuhalten, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG dem grundgesetzsystematischen Kontext nach jedenfalls nicht als Ausdruck exklusiver ‚Nationalsouveränität‘ gewertet und insofern auch nicht als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur ausgedeutet werden kann. Stattdessen präsentiert sich die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG fixierte Volkssouveränität wiederum als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte, die nicht notwendig an das Staatsangehörigenvolk als Zurechnungssubjekt anknüpft. Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst nicht notwendig nur die Summe der Staatsangehörigen, sondern nach Maßgabe demokratisch legitimer (Re-)Organisationsbestimmungen auch sonstige Personen, sofern ihre nicht bloß passagere Machtbetroffenheit eine Beteiligung an der Machtausübung unter Autonomie­ gesichtspunkten als gerechtfertigt erscheinen lässt477.

5. Volkssouveränität und Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als polyvalent-variable Strukturbegriffe: Das Ergebnis der grundgesetzsystematischen Interpretation Die Ergebnisse der normtextbezogenen und daher vorrangig beachtlichen systematischen Interpretation des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG decken sich mit den Er­kenntnissen, die durch die wirklichkeitswissenschaftliche Rekonstruktion von demokratiezentaler Volkssouveränität und demokratischem Volksbegriff erzielt wurden. Denn abgesehen davon, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nur von der Ausübung von Hoheitsgewalt handelt und insofern den Bedeutungsgehalt von Volkssouveränität nicht erschöpfend erfasst, zeigt sich, dass die grundgesetzliche Volkssouveränität und der grundgesetzliche Volksbegriff ebenfalls polyvalent-variabel sind. Grundgesetzsystematisch stehen Volkssouveränität und Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gleichermaßen im Zeichen der verbandsorientierten wie auch der individuumszentrierten Demokratieparadigmen. Die in Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG normierte Volkssouveränität lässt sich daher weder einseitig als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur478 noch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur, sondern zutreffend allein als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur konkretisieren. Dementsprechend benennt Volk im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG denjenigen  – typischerweise, aber nicht notwendig nationalstaatlich organisierten – Personenverband, an dessen zumindest auch im Geltungsbereich des Grundgesetzes wirksamen hoheitsrechtlichen Betätigung alle hiervon in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen zu partizipieren befugt sind und sonstige Individualbetroffene nur insofern von der Teilhabe an der 477

So im Ergebnis auch Zuleeg (Fn. 133), S. 347 und Hain (Fn. 72), S. 325 ff. Zur Kritik an diesem Ansatz etwa Blanke (Fn. 212), S. 42 ff.

478

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Hoheitsmacht ausgeschlossen bleiben, als sich dies mit ihren Autonomieansprüchen verträgt; fernerhin müssen in diesem Personenverband die Autonomie­ ansprüche der Partizipationsbefugten ebenfalls hinreichend gewahrt sein und sich die fragliche hoheitliche Machtentfaltung schließlich immer auch normaliter auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen der Partizipationsbefugten zurückführen lassen.

VI. Das Volksverständnis des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in entstehungsgeschichtlicher Perspektive Die differenzierte systematische Analyse hat ergeben, dass sich die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität nicht nur von den verbandsorientierten Demokratieparadigmen her entwickeln, sondern sich immer auch aus Richtung der individuumszentrierten Demokratiemuster konkretisieren lässt. Dies bedeutet, dass die im Geltungsbereich des Grundgesetzes wirksam werdende Hoheitsgewalt nicht ausnahmslos auf das national konturierte Staatsvolk der Bundes­republik rückführbar sein muss, sondern auch durch andere Völker legitimiert sein kann, sofern sich diese nach einem die Autonomieansprüche der Herrschaftsunterworfenen respektierenden Modus organisieren. Originär europäische Demokratiestrukturen sind daher der systematischen Analyse zufolge mit dem Grundgesetz durchaus vereinbar. Bestätigt sehen sich diese Ergebnisse systematischer Grundgesetzinterpretation durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes479. Sie lässt den Schluss zu, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes Demokratie nicht nur als ein nationalstaatliches Projekt verstanden, sondern sich durchaus auch für die europäische Ebene eigenständige Demokratiestrukturen vorgestellt haben. Ferner und vor allem erhellt aus der Genese des Grundgesetzes, dass die systematisch nachgewiesenen Elemente individuumszentrierter Demokratieparadigmen, durch die ein auf den Nationalstaat relativiertes Demokratieverständnis aufgesprengt wird, durchaus auf der Linie dessen liegen, was der Parlamentarische Rat diskutierte. Bevor diese verschiedenen genetischen Zusammenhänge skizziert werden, ist indes vorab jenen vereinzelten entstehungsgeschichtlichen Hinweisen nachzugehen, die – bei isolierter Betrachtung – den Schluss auf ein nationalstaatlich konturiertes Prinzip der Volkssouveränität nahelegen könnten. 1. Eine rein verbandsorientierte Konzeption von Volkssouveränität im Parlamentarischen Rat? Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet Äußerungen des spiritus rector des Parlamentarischen Rats herangezogen werden, um entstehungsgeschichtlich den Nachweis für ein vermeintlich rein verbandsorientiertes, nationalstaat­liches 479

Anderer Ansicht Weigl (Fn. 391), S. 7 f.; Emde (Fn. 1), S. 324.

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Demokratieverständnis des Parlamentarischen Rats zu führen480. Schließlich wird Carlo Schmid insofern für eine Demokratiekonzeption in Anspruch genommen, die ihm als europäischem Föderalisten481 und Sozialdemokraten482 beileibe fern lag. Gleichwohl wird in der Auseinandersetzung um den grundgesetzlichen Volksbegriff immer wieder auf die unwidersprochen gebliebene483 Äußerung des Vorsitzenden des Hauptausschusses verwiesen484, wonach als letzte irdische Gewalt im Staat das konkret lebende Volk, die Summe der jeweils lebenden einzelnen Deutschen fungiere485. Damit ist indes noch nicht positiv ausgesagt, dass eine andere als die nationalstaatliche Ausprägung von Volkssouveränität mit dem Grundgesetz schlechthin unvereinbar wäre. Denn es geht insofern expressis verbis lediglich um die Letzt-, nicht um die Alleinentscheidungsgewalt, also um den pouvoir constituant des Volkes, nicht um die demokratische Organisation der pouvoirs constitués. Ferner und vor allem spricht der Kontext, in dem die Äußerung gefallen ist, gegen die Annahme, Schmid habe die demokratiezentrale Volkssouveränität grundsätzlich auf das nationalstaatliche Volk relativieren wollen. Vielmehr scheint es ihm ganz im Gegenteil ein Anliegen gewesen zu sein zu verdeutlichen, dass Volkssouveränität auf dem Konsens von Menschen, von Einzelpersonen, beruht und gerade nicht exklusiv auf historisch-traditionell verfestigte kollektive Entitäten radizierbar ist486. Zu konstatieren bleibt freilich, dass Schmid wie selbstverständlich487 vom deutschen Volk als Subjekt der Volkssouveränität ausgegangen ist. Es muss daher entstehungsgeschichtlich näherhin geklärt werden, ob die Selbst-Verständlichkeit der Schmidschen Äußerung nicht doch einen normativen Kern enthält oder ob sie lediglich durch die seinerzeitige Normalität bedingt war, in der sich Volkssouveränität nun einmal als ein vorwiegend nationalstaatliches Phänomen darstellte. Des Weiteren hat Carlo Schmid in dem hier besonders interessierenden integrationspolitischen Zusammenhang wiederholt das Recht des deutschen Volkes auf nationale Selbstbestimmung als Kern des demokratischen Prinzips ausgemacht488. Im Rahmen genetischer Interpretation könnten diese Aussagen ebenfalls als Indizien für eine strikt nationalstaatliche Prägung des grundgesetzlichen Prin-

480

So etwa Isensee (Fn. 130), S. 719. Dazu Weber, Carlo Schmid, 1998, S. 319 ff., 417 ff. 482 Instruktiv Hennis, Carlo Schmid und die SPD, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Carlo Schmid und seine Politik, 1997, S. 16 ff. 483 Darauf weisen namentlich Isensee (Fn. 130), S. 719 und Papier (Fn. 361), S. 205 hin. 484 Isensee (Fn. 247), S. 18; Schink (Fn. 405), S. 420; Papier (Fn. 412), S. 311; Birkenheier (Fn. 130), S. 24. 485 JöR 1951, S. 199. 486 Vgl. JöR 1951, S. 198 f. 487 Isensee (Fn. 130), S. 719 spricht in diesem Zusammenhang von einer aufschlussreichen Beiläufigkeit. 488 Vgl. Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 174; Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 374. 481

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zips der Volkssouveränität gewertet werden489. Allerdings nährt auch hier die kontextuelle Lektüre der betreffenden Äußerungen erhebliche Zweifel daran, ob tatsächlich einem derartigen Demokratieparadigma das Wort geredet werden sollte. Denn selbst wenn Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat Demokratie als „Übernahme der vollen Verantwortung durch ein Volk, für alles was geschieht“, definiert und dabei der Realität entsprechend das deutsche Volk vor Augen hat, so erblickt er hierin gerade keinen Widerspruch zu neuartigen, umfassenden Formen übernationalstaatlicher Integration490 und damit wohl auch nicht zu einer entsprechend weiten Fassung der grundgesetzlichen Demokratienormen. Beschreibt er im Hauptausschuss Demokratie ferner „als die politische Form, in der ein Volk seinen Willen zur Selbstachtung – und der Achtung anderer – zum Ausdruck bringt“491, so verwehrt er sich damit lediglich gegen ein Ruhrstatut, das einseitig wesentliche Teile der deutschen Wirtschaft internationalisiert und den Deutschen nicht einmal effektive demokratische Mitsprache gewährt492; eine auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit gründende umfängliche Internationalisierung der Wirtschaft hält Schmid indes wie fast alle anderen Mitglieder des Hauptausschusses493 für erstrebenswert und bezeichnet eine derartige Kooperation „im Sinne genossenschaftlichen Zusammenwirkens aller Betroffenen“ sogar als Voraussetzung für die von der Sozialdemokratie seit jeher geforderte Sozialisierung und Demokratisierung der Schwerindustrie494. Die genetischen Belege für ein vermeintlich strikt nationalstaatliches Demokra­ tiekonzept des Grundgesetzes erweisen sich insofern als prekär495. Dies erklärt vielleicht, weshalb diejenigen, die die grundgesetzliche Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur verstanden wissen wollen, die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes für gewöhnlich stillschweigend überge­hen oder bisweilen sogar als belanglos abtun496. Da nach der hier vertretenen Auffassung dem entstehungsgeschichtlichen Interpretationselement aber erhebliche Bedeutung zukommt497, genügt es vorliegend nicht, lediglich die entstehungsgeschichtlichen Indizien für eine rein verbandsorientierte Demokratiekonzeption zu 489

Dazu etwa Murswiek (Fn. 241), Rn. 217. Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 174. 491 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 374. 492 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S.  373 ff. Vgl. dazu auch Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 388 f. 493 Vgl. hierzu die Stellungnahmen der einzelnen Fraktionen zum Ruhrstatut – Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 379 (Abg. Dr. Strauß), S. 380 (Abg. Dr. Schäfer), S. 382 (Abg. Dr. Seebohm), S. 383 und S. 383 (Abg. Wessel); eine grundsätzlich andere Einschätzung traf lediglich der Abg. Renner (S. 383 ff.). 494 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 374. 495 Vgl. auch Wiegandt (Fn. 92), S. 115. 496 Bleckmann (Fn. 255), S. 438. 497 Siehe oben Einleitung II = S. 72: Vorrang der grammatischen, systematischen sowie genetischen Interpretationselemente vor sonstigen Elementen der Normkonkretisierung. In diesem Sinne auch Stein, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Einl. II Rn. 58 ff. 490

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erschüttern. Darüber hinaus muss positiv belegt werden, dass die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm – auch entstehungsgeschichtlich betrachtet – den Nationalstaat transzendiert.

2. Der Parlamentarische Rat und die Schaffung originärer Demokratiestrukturen auf europäischer Ebene Wie bereits angesprochen498, zeichnet sich das Grundgesetz seit jeher durch eine relative Europaoffenheit aus499: Bevor der verfassungsändernde Gesetzgeber in Art.  23 Abs.  1 GG die bereits erörterte500 europaspezifische Demokratienorm verankerte, war der ebenfalls schon erwähnte Art. 24 GG die maßgebliche Inte­ grationsnorm501. Freilich lassen diese Bestimmungen bei rein systematischer Betrachtung nicht den hinreichend sicheren Schluss zu, dass das Grundgesetz originär demokratische Strukturen auf europäischer Ebene gestattet502. Es können ihnen insofern allenfalls Indizien dafür entnommen werden, dass das Grundgesetz originär europäische Demokratiestrukturen gestattet. Diese Indizien würden sich freilich dann zu einem veritablen Beleg für die grundsätzliche Statthaftigkeit genuin europäischer Demokratiestrukturen verdichten, wenn nicht nur der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Normierung von Art.  23 Abs.  1  GG, sondern bereits der Grundgesetzgeber bei Abfassung seiner Vorgängervorschrift eigenständige postnational-überstaatliche Demokratiestrukturen im Auge gehabt hätte. Denn dann müsste Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG, der aus den dargelegten Gründen Anforderungen auch an die demokratische Legitimation der EU stellt, dahingehend konkretisiert werden, dass er die Rückbindung europäischer Hoheitsgewalt an andere Legitimationssubjekte als das deutsche Staatsvolk 498

Siehe oben Kapitel 9 V. 2. b) = S. 605. Dazu nur Badura (Fn. 68), D Rn. 143 ff. 500 Siehe oben Kapitel 8 = S. 546. 501 Als Vater dieser Verfassungsbestimmung wird vielfach Carlo Schmid angesehen (etwa von Hennis [Fn. 482], S. 25). 502 Schließlich könnte der veränderungsfeste Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG das deutsche Staatsvolk als ausschließliches Subjekt hoheitlicher Gewalt normiert haben. Dieser These steht in systematischer Hinsicht keineswegs entgegen, dass Art. 23 Abs. 1 GG nach seinem Wortlaut, seiner Systematik und seiner Entstehungsgeschichte in die entgegengesetzte Richtung weist. Denn die neue Integrationsnorm ist ein Werk des verfassungsändernden Gesetzgebers. Dieser aber durfte sich nicht über die änderungsfesten Regelungen des Grundgesetzes hinwegsetzen. Und auch der bereits im ursprünglichen Verfassungstext normierte Art. 24 Abs. 1 GG läuft einer staatsvolkzentrierten Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht schon unter systematischen Gesichtspunkten zwingend zuwider. Denn die ursprüngliche Integrationsnorm ist auch mit einem strikt nationalstaatlichen Demokratieverständnis vereinbar. Die dort vorgesehene Übertragung von Hoheitsgewalt könnte nämlich in Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG seit jeher unter dem Vorbehalt gestanden haben, dass dem deutschen Staatsvolk ein demokratisch hinreichender Einfluss auf die Ausübung der transnationalen Hoheitsgewalt verbleibt. 499

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nicht generell ausschließt. Als entscheidend erweist sich somit die Frage, welches Europa den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats vorschwebte: ein strikt staatenbündisches Europa, mit dem eine nationalstaatliche Konzeption von Volkssouveränität ohne Weiteres vereinbar wäre, oder die Vereinigten Staaten von Europa mit originär europäischen Demokratiestrukturen, was eine postnationale Interpretation des Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG nahelegte. Aus den Verfassungsmaterialien geht hervor, dass niemand im Parlamentarischen Rat daran dachte, einzelne, besonders intensive Formen europäischer Integration von Verfassungs wegen auszuschließen503. Der Parlamentarische Rat war sich zwar offensichtlich nicht im Klaren darüber, zu welchen politischen Strukturen der europäische Einigungsprozess letztlich führen würde504. So ist von einem „größeren Verband der Gesamtverantwortung“ die Rede505. „Als einen übernatio­ nalstaatlichen Staatenbund auf föderalistischer Ebene“506 will man das künftige Europa aufbauen. Manch einem gerät das Europa der Zukunft gar zum „großen Vaterland“507. Diese überaus vagen Umschreibungen verdeutlichen, dass der Parlamentarische Rat in der Tat keine positive Vorstellung von den konkreten Formen des europäischen Zusammenschlusses hatte und haben konnte. Jedoch gingen die Mitglieder des Parlamentarischen Rats darin konform, dass der deutsche Staat durch das Grundgesetz in einem bisher unbekannten Ausmaß „in eine neu gegliederte überstaatliche politische Welt“ hinein geöffnet508 und dass namentlich die europäische Einigung intensivste Formen der Zusammenarbeit mit sich bringen werde509. Dies spricht dafür, dass ein Europa mit originären und nicht bloß vom Nationalstaat abgeleiteten Demokratiestrukturen durch das Grundgesetz jedenfalls nicht ausgeschlossen werden sollte510. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass der Parlamentarische Rat das allgemeine Europabewusstsein der frühen Nachkriegszeit511 teilte. Bereits ein flüchtiger Blick in die ersten Programme bundesrepublikanischer Parteien verdeutlicht, dass sich die seinerzeit maßgeblichen politischen Kräfte darin einig waren, dass 503

So auch Schliesky (Fn. 46), S. 451; auch Stern (Fn. 90), S. 1304. In diesem Sinne auch Lenz, Maastricht und das Grundgesetz, in: Letzgus u. a.(Hrsg.), Festschrift für Helmrich, 1994, S. 269 (275). 505 Abg. Dr. Heuss (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 43). 506 Abg. Dr. Seebohm (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 48). 507 Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 71). 508 So die Formulierung des Abg. Dr. Schmid in seinem einführenden ‚Bericht über die dem Parlamentarischen Rat gestellte Aufgabe an Hand der Vorarbeiten‘ (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 15). 509 Dazu auch Schwarze, Ist das Grundgesetz ein Hindernis auf dem Weg nach Europa?, in: JZ 1999, S. 637 (638). 510 In diesem Sinne auch Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, in: ZaöRV 1995, S. 659 (706 f.). 511 Zu diesem Loth, Die Europa-Bewegung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, in: Herbst / Bührer / Sowade (Hrsg.), Vom Marshallplan zur EWG, 1990, S. 63 f.; auch Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 1 Rn. 13 ff. 504

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die Bundesrepublik Deutschland in die allerdings im Einzelnen nicht näher konkretisierten Vereinigten Staaten von Europa hineinwachsen müsse512. Diese Idee eines Vereinigten Europas hatte während der Kriegsjahre sowie in der unmittel­ baren Nachkriegszeit in verschiedenen Verfassungsplänen Gestalt angenommen513. Die betreffenden Entwürfe variierten zwar im Einzelnen mitunter erheblich und gaben bisweilen auch nur sehr vage Auskunft über die Finalität des europäischen Einigungsprozesses. Gemeinsam war ihnen jedoch, dass sie eine europäische Legislative forderten und hierfür jedenfalls eine direkt gewählte Parlamentskammer vorsahen514. Sämtliche Europapläne der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, denen im Kern auch die Mitglieder des Parlamentarischen Rats anhingen, gingen insofern von zumindest teilweise originär europäischen Demokratiestrukturen aus. Diese geschichtlichen Umstände lassen den Schluss zu, dass der Parlamentarische Rat, indem er das Grundgesetz ausdrücklich auf das werdende Europa hin öffnete, auch originär europäische Demokratiestrukturen zulassen wollte, sie jedenfalls nicht ausschließen wollte. Dafür streitet ferner, dass die Arbeit am Grundgesetz zu einem Zeitpunkt begann, als die Verfechter des europäischen Gedankens mit dem großen EuropaKongress im Haag515 und der sich daran anschließenden Gründung der Europäischen Bewegung516 den Höhepunkt ihres politischen Einflusses erreicht hatten. Die Europäische Bewegung, an der auch namhafte Abgeordnete des Parlamentarischen Rats beteiligt waren517, ging davon aus, dass Europa politisch nach und nach geeint werden müsse, wobei die Form des europäischen Zusammenschlusses vielfach offen gelassen wurde. Allerdings war man sich darin einig, dass die 512 Ziff. V der Politischen Leitsätze der SPD (1946): „Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt die Vereinigten Staaten von Europa, eine demokratische und sozialistische Föderation europäischer Staaten.“ (zitiert nach Kunz / Maier / Stammen [Hrsg.], Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 296); Ziff. VI 2 des Grundsatzprogramms der CSU (1946): „Im Rahmen der Völkerfamilie ist Europa eine übernationale Lebensgemeinschaft. Wir treten ein für die Schaffung einer europäischen Konföderation zur gemeinsamen Wahrung und Weiterführung der christlich-abendländischen Kultur.“ (Ebd., S. 216). Ziff. 2 der Programmatischen Richtlinien der F. D. P. (1946): „Das neue Reich des deutschen Volkes soll sobald wie möglich in die werdende Organisation der Menschheit eingegliedert werden. Die Vereinigten Staaten von Europa sollen für die Vereinigten Staaten der Erde die festeste Stütze sein.“ (Ebd., S. 415). Vgl. auch Ziff. I des Hamburger Manifests der CDU (1957): „Sie (die CDU) fordert deshalb (…) die wirtschaftliche und politische Einigung der Völker Europas in Freiheit und Selbstbestimmung.“ (Ebd., S. 80). – Zum Ganzen auch Stillemunkes, The discussion on European Union in the German Occupation Zones, in: Lipgens / Loth (Hrsg.), Documents in the History of European Integration, Bd. 3, 1988, S. 441 ff. 513 Siehe dazu die Dokumentation bei Lipgens, 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung, 1986, S. 30 ff. und 210 ff. 514 So die zutreffende Beobachtung von Lipgens (Fn. 513), S. 31 und 205. 515 Oppermann (Fn. 511), § 1 Rn. 4; vertiefend Loth, Der Weg nach Europa,1990, S. 58 ff. 516 Loth (Fn. 515), S. 59 f. 517 Insbesondere Konrad Adenauer, Heinrich v. Brentano, Thomas Dehler, Theodor Heuss, Paul Löbe, Anton Pfeiffer, Carlo Schmid, Adolf Süsterhenn (dazu im Einzelnen Loth [Fn. 511], S. 66 ff.).

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Bewältigung der Probleme ungleich intensivere Formen des Zusammenschlusses erfordern würde als ein loser Staatenbund herkömmlicher Prägung518. Und Konsens dürfte auch darüber bestanden haben, was Carlo Schmid im Juni 1949 in der Schriftenreihe des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung für die „Vereinigten Staaten von Europa“ forderte519: Sie werden „ein Parlament brauchen, und dieses Parlament sollte nicht aus Delegationen der nationalen Parlamente bestehen, sondern dieses Parlament sollte europäisch gewählt werden, das heißt, direkt, allgemein und gleich vom Volke Europas.“ Bezeichnend ist ferner, dass schon ein Jahr nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ein interfraktioneller Entschließungsantrag angenommen wurde, der sich für einen verfassungsrechtlich auf Art.  24  GG zu stützenden Bundespakt aussprach520 – und dies bei nur vier Gegenstimmen521. Der Europäische Bundespakt sollte insbesondere „eine übernationale Bundesgewalt schaffen, die sich auf allgemeine, unmittelbare und freie Wahlen gründet und über gesetzgebende, ausübende und richterliche Kompetenzen verfügt“522. Dies lässt in Anbetracht des engen zeitlichen Zusammenhangs zu den Verfassungsberatungen den Rückschluss zu, dass auch schon der Parlamentarische Rat ein Demokratieverständnis vertrat, das sich Volkssouveränität nicht nur als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur vorzustellen vermag, sondern auch andere demokratische Legitimationszusammenhänge anerkennt als die auf das nationale Staatsvolk zurückführenden523. Nach allem sprechen durchgreifende Argumente dafür, dass der Parlamentarische Rat den Europäischen Einigungsprozess nicht dadurch präjudizieren wollte, dass er dem Grundgesetz eine holistisch-geschlossene Konzeption nationalstaat­ licher Volkssouveränität zugrunde legt und das vereinte Europa grundgesetzlich auf eine das nationale Staatsvolk fokussierende Demokratiestruktur festlegt.

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Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 49. Zitiert nach Lipgens (Fn. 513), S. 272. 520 BT-Prot. 1/2836. Dazu auch Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: Goydke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Remmers, 1995, S. 195 f.; Giegerich (Fn. 250), S. 1403 ff.; Lemmens, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und die Integration der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 59; Blanke, Essentialia des Entwurfs eines Verfassungsvertrages für Europa, in: Stern / Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, 2005, S. 37 (51). 521 Lediglich die Abgeordneten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) stimmten gegen den Bundespakt, da sie darin „ein Hilfsmanöver für die amerikanische Politik auf europäischem Boden“ vermuteten (so der Abg. Fisch [BT-Prot. 1/2836]). 522 BT-Drs. I/1193. 523 In diesem Sinne auch Schneider, EU als Staatenverbund oder als multinationale ‚Civitas Europae‘, in: Randelzhofer / Scholz / Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Grabitz, 1995, S. 171 (690 f.). 519

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3. Parlamentarischer Rat und polyvalent-variabler Volksbegriff Angesichts der vorstehend skizzierten entstehungsgeschichtlichen Zusammenhänge lässt sich die These, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normiere Volkssouveränität in veränderungsfester Weise als strikt nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, schwerlich aufrechterhalten524. Allerdings ließe sich nach wie vor eine Art modifizierter Nationalstaatsthese vertreten, der zufolge Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG lediglich für den eng umgrenzten Bereich des Vereinten Europas ein Abgehen von seiner ansonsten auf den Nationalstaat relativierten Demokratiekonzeption gestatte525. Demnach wäre die rein verbandsorientierte Demokratiekonzeption zwar nicht insgesamt veränderungsfest. Sie wäre aber die Regel. Abweichungen hiervon müssten die Ausnahme bleiben. Insofern dürfte es etwa auch im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses nicht zu einer Umkehrung des Regel-AusnahmeVerhältnisses in dem Sinne kommen, dass der Schwerpunkt hoheitlichen Handelns in die originär europäischen Demokratiestrukturen verlagert wird. Dies entspräche im Übrigen auch dem interpretatorischen Ergebnis, das man erzielen würde, wenn man Art. 79 Abs. 3 GG entgegen der hier vertretenen Auffassung als bloß grundsätzliche Bestandsschutznorm auslegte, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG hingegen streng nationaldemokratisch ausdeutete. Denn in dieser Perspektive könnte in Hinblick auf den verfassungsändernden Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG davon ausgegangen werden, dass im Rahmen dieser Vorschrift das eigentlich strikt nationalstaatliche Demokratiekonzept des Grundgesetzes unterhalb der Schwelle des Art. 79 Abs. 3 GG systemimmanent modifiziert werden darf526. Eine solche gemäßigt nationalstaatliche Ausdeutung von Art. 79 Abs. 3  GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG steht freilich in Widerspruch zum Ergebnis der grundgesetzsystematischen Analyse. Denn hierdurch wurde offen gelegt, dass das Grundgesetz durchaus auch das individuumszentrierte Demokratieverständnis rezipiert hat. Dieses stellt sich in systematischer Perspektive auch nicht etwa nur als Ausnahme von der Regel, sondern als dem verbandsorientierten Demokratiekonzept ebenbürtig dar. Insbesondere nimmt bei systematischer Betrachtung ein polyvalent-variabler Volksbegriff normative Gestalt an, wie er sich selbst mit einer moderat nationaldemokratischen Ausdeutung der Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG schwerlich in Einklang bringen lässt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die systematische Verschränkung von verbandsorientiertem und individuumszentriertem Demokratiekonzept nicht vielleicht doch schon entstehungsgeschichtlich belegbar ist, sodass auch in gene­ tischer Perspektive der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG letzten Endes als polyvalent-variabler erscheint. In der Tat lassen sich der Entstehungsgeschichte deutliche Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Volkssouveränität unter der Herrschaft des Grundgesetzes 524

So auch Meyer (Fn. 138), Rn. 7. Anderer Ansicht freilich Veil (Fn. 129), S. 82. In diese Richtung ist wohl Schönberger (Fn. 426), S. 452 ff. zu verstehen. 526 In diesem Sinne etwa Kirchhof (Fn. 5), Rn. 55.

525

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immer auch im Sinne der individuumszentrierten Demokratiekonzeption als Ausfluss menschenrechtsverbürgter Autonomie zu begreifen ist. Dies lässt sich in allgemeiner Hinsicht ausgehend vom berühmten Art.  1 Abs.  1  GG des Herrenchiemseer Entwurfs entwickeln. Dort heißt es bekanntlich: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“527. Auf dieser bekenntnishaft formulierten staatsphilosophischen Grundkonzeption basiert auch das Grundgesetz528. Denn dass Art. 1 Abs. 1 HChE nicht ins Grundgesetz übernommen wurde, ist wohl auf seine vermeintlich anspruchslose Formulierung, jedenfalls aber nicht auf die darin zum Ausdruck kommende Ordnungsvorstellung zurückzuführen. Diese nämlich zieht sich wie ein roter Faden durch die Verhandlungen des Parlamentarischen Rats. Stellvertretend für viele andere Belegstellen mag hier der Hinweis auf die entstehungsgeschichtlich zentrale Rede genügen, mit der Carlo Schmid als Vorsitzender des Hauptausschusses am 6. Mai 1949 das Grundgesetz zur zweiten Lesung ins Plenum einbrachte. Schmid führte unter anderem aus: „Letztlich ist der Staat dazu da, die äußere Ordnung zu schaffen, deren die Menschen zu einem auf der Freiheit des Einzelnen beruhenden Zusammenlebens bedürfen. Aus diesem Auftrag allein stammt letztlich die Legitimität seiner Macht.“529. Damit greift Schmid sinngemäß die staatsphilosophische confessio des Art.  1 Abs. 1 HChE auf und erklärt sie hinsichtlich des Grundgesetzes für maßgeblich. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass unter dem Grundgesetz die Organisation ‚Staat‘ und mithin auch seine grundlegenden Organisationsstrukturen der individuellen Freiheit und Würde im Rang nachgehen, ihnen gegenüber eine dienende Funktion haben530. Somit bleibt auch die grundgesetzliche Volkssouveränität auf diese entstehungsgeschichtlich angezeigte Legitimitätsbasis des grundgesetzlich verfassten Gemeinwesens rückverwiesen, nämlich auf die Autonomie eines jeden Einzelnen531. Bereits schon diese allgemeinen genetischen Zusammenhänge streiten dafür, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG immer auch im Licht des individuumszentrierten Demokratieverständnisses ausgeleuchtet und als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur konkretisiert werden kann und muss. Der allgemeinen entstehungsgeschichtlichen Betrachtung zufolge darf die grundgesetzliche Volkssouveränität nicht allein vom nationaldemokratischen Verband und erst recht nicht in dogmatisiertem Widerspruch zu den individuellen Autonomieansprüchen konkretisiert werden. Diese allgemeine Einschätzung verfestigt sich, wenn man im Besonderen berücksichtigt, dass entstehungsgeschichtlich nicht etwa nur diejenigen Demokratieparadigmen relevant geworden sind, die dem verbandsorientierten Demokratieverständnis zuzuordnen sind. Die das individuumszentrierte Demokratieverständnis 527

JöR 1951, S. 48. Dazu etwa Denninger, Staatsrecht I, 1973, S. 11 ff. 529 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 171. 530 Häberle (Fn. 210), Rn. 57. 531 Dazu auch Hesse (Fn. 393), Rn. 6.

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ausprägenden Paradigmen lassen sich ebenfalls grundgesetzgeschichtlich belegen, wodurch sich jede vereinseitigende Deutung des in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG vorausgesetzten Verständnisses von Volkssouveränität und Volk verbietet. So war der Grundgesetzgeber der demokratischen Idee freiheitlicher Selbstgesetzgebung keineswegs abgeneigt. Dass jeder Bürger in gleicher Weise an dem Zustandekommen des Gesetzes teilhaben müsse, wurde als volksstaatliches Postulat bezeichnet532. Ebenso wurde die Streitfrage, ob Demokratie wesensmäßig als mittelbare oder aber als unmittelbare zu denken sei, entdramatisiert und zur bloßen „Zweckmäßigkeitsfrage“ erklärt, „bei der das quantitative Element den Ausschlag wird geben müssen“533. Des Weiteren liefern die Grundgesetzmaterialien Anhaltspunkte für die These, dass Demokratie immer auch als Ausdruck individueller Selbstbestimmung zu begreifen ist. Zwar findet schon der spezifisch historischen Situation wegen das kollektive Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes besondere Erwähnung534. Doch kommt daneben auch der individuelle Anspruch auf politische Partizipation zum Tragen. Der Abgeordnete Süsterhenn macht deutlich, dass die Menschenwürde die reale Möglichkeit haben müsse, sich „in das Leben hinein, auch in das politische Leben hinein auszuwirken und zu entfalten“535. Er begründet dies mit der spezifischen geistigen Ausrichtung des Grundgesetzes, die er „in dem Gedanken der Freiheit und der Menschenwürde“ erblickt536. Ferner enthält das Grundgesetz seiner Entstehungsgeschichte nach eine klare Option zugunsten alternativer, also nicht ausschließlich auf das Staatsvolk relativierter Demokratiestrukturen, und zwar insbesondere im Bereich der Wirtschaft. Zwar verzichteten die Grundgesetzgeber darauf, durch strikt verbindliche Direktiven eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialordnung definitiv festzuschreiben537. Eine solche inhaltliche Präzisierung scheiterte nicht nur daran, dass die verfassungspolitischen Ziele der im Parlamentarischen Rat vertretenen bürgerlichen und sozialistischen Parteien zu weit auseinander klafften538. Hinzu kam, dass die Ent 532

Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 13). Ebd. 534 Vgl. dazu etwa JöR 1951, S. 22 f. 535 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 72 (alle Hervorh. AvK). 536 Ebd. 537 BVerfGE 4, S. 7 (17 f.); zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes eingehend Ridder (Fn. 387), S. 94 ff.; hierzu auch Keßler (Fn. 370), S. 182 (185 und 192), Dopatka (Fn. 344), S. 202 und Däubler (Fn. 359), Rn. 106 f. Nun ist zwar nicht zu verkennen, dass die kapitalistische Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland zwischenzeitlich in großem Umfang durch völker- und europarechtliche Bestimmungen rechtlich abgesichert wird (dazu nur Römer [Fn. 109], S. 24 ff.). Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes bleibt hiervon jedoch unberührt. 538 Siehe hierzu Abendroth, Über den Zusammenhang von Grundrechtssystem und Demokratie, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 249 (255) sowie Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands, 1990, S. 32 f. 533

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wicklungen des künftigen Wirtschaftslebens dem Parlamentarischen Rat bei Erlass des Grundgesetzes weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht er- und verfassbar erschienen539. Der Verzicht des Parlamentarischen Rats, die Sozialordnung inhaltlich zu determinieren und beispielsweise wirtschaftsdemokratische Strukturen verfassungsunmittelbar zu verankern540, bedeutet freilich nicht, dass der Grundgesetzgeber sich gegen eine Demokratisierung der Wirtschaft ausgesprochen hätte. Vielmehr hat er die Operationalisierung des Demokratieprinzips im Wirtschaftsbereich dem Gesetzgeber überantwortet541, indem er im Grundrechtsteil entsprechende Eingriffsermächtigungen, im staatsorganisatorischen Teil  adäquate Kompetenznormen verankert hat. Das weitestgehende Instrument zur Schaffung wirtschaftsdemokratischer Strukturen enthält Art.  15  GG542. Daneben ist aber auch auf Art.  87 Abs.  3  GG zu verweisen543. Die dort vorgesehenen ‚neuen bundesunmittelbaren Körperschaften‘ sollten ihrer Entstehungsgeschichte nach die Möglichkeit eröffnen, namentlich im Bereich der Montanindustrie demokratisch-genossenschaftliche Selbstverwaltungskörperschaften zu errichten544. Nach allem ist der Grundgesetzgeber erkennbar davon ausgegangen, dass das Grundgesetz wirtschaftsdemokratische Strukturen zulässt und Demokratie nicht im ausschließlich staatsvolkzentrierten Sinne verfasst545. Denn wenn beispielsweise ein gemäß Art. 15 GG verstaatlichtes Unternehmen durch ein pluralistisch besetztes Selbstverwaltungsgremium im Sinne von Art. 87 Abs. 3 GG geleitet werden können soll, dann liegt dem ein anderes Demokratie- und Volksverständnis zu Grunde, als es das auf das Staatsvolk relativierte Verständnis von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG glauben machen will546. Das demokratische Paradigma exklusiver ‚Nationalsouveränität‘, das die ausschließende und ausschließliche Staatsangehörigkeit zur Voraussetzung demokratischer Teilhabe erklärt547, muss sich mit der im Parlamentarischen Rat ebenfalls unwidersprochen gebliebenen Äußerung Carlo Schmids auseinandersetzen, der sich aus einem proeuropäischen Impetus heraus gegen eine exklusive Staatsange 539

Siehe dazu Abg. Dr. Heuss (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 44). 540 Mußgnug (Fn. 457), Rn. 59 f. 541 Siehe dazu Abg. Dr. Heuss (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 44). 542 Hierzu etwa Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 216). 543 Kritisch Schmidt, Die demokratische Legitimationsfunktion der parlamentarischen Kontrolle, 2007, S. 270. 544 Siehe beispielsweise Abg. Hoch (Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 195 und 447). 545 Dagegen Jestaedt (Fn. 131), S. 503. 546 Siehe dazu auch schon oben Kapitel 9 V. 3. b) cc) (1) = S. 618. 547 Paradigmatisch Isensee, Am Ende der Demokratie – oder am Anfang?, 1995, S. 58; ders. (Fn. 247), S. 14 ff.

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hörigkeit wandte: „Gerade wenn man europäisch denkt, wenn man über den Nationalstaat hinausdenkt, dann sollte man – ich will mich übertrieben ausdrücken – die mehrfache Staatsangehörigkeit geradezu begünstigen; jedenfalls sollte man sie nicht ausschließen“548. Die entstehungsgeschichtlich suggerierte verfassungsrechtliche Zulässigkeit der mehrfachen Staatsangehörigkeit549 erschüttert massiv denjenigen argumentativen Ansatz, der politische Teilhabe deshalb an die Staatsangehörigkeit koppelt, weil nur die ausschließliche und damit unentrinnbare personale Zugehörigkeit zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft die ethische Legitimation des demokratischen Wahlrechts ergebe550. Das demokratische Paradigma exklusiver ‚Nationalsouveränität‘ lässt sich mit anderen Worten dann schwerlich aufrechterhalten, wenn mit dem verfassungspolitischen Postulat der Mehrfachstaatsangehörigkeit oder auch nur mit deren verfassungsrechtlichen Statthaftigkeit551 das nationalstaatliche Ausschlussprinzip klar aufgegeben wird. Das Paradigma exklusiver ‚Nationalsouveränität‘ und die damit einhergehende Relativierung demokratischer Bürgerrechte auf die Staatsangehörigen sieht sich aber nicht nur durch die Äußerung des Deutsch-Franzosen Carlo Schmid in Frage gestellt. Selbst der hochkonservative DP-Abgeordnete Seebohm formuliert seine klare „Ablehnung des nationalstaatlichen Prinzips“ und betont, „daß, geistig gesehen, die Grundlage eines Staates nicht allein in der Existenz eines Staatsvolkes begründet ist, sondern in einer bestimmten Gemeinschaft im Rahmen der Evolution der Menschheit“552. Eine zwingende Koppelung der politischen Teilhabe an die Nationalität, das Verbot einer tendenziell menschenrechtlichen Anknüpfung sind mit dieser entstehungsgeschichtlich belegten Geisteshaltung nicht zu vereinbaren. Nach allem zeigt sich, dass nicht nur die allgemeine und grundlegende Ausrichtung des Grundgesetzes am Individuum und seiner Würde entstehungsgeschichtlich für einen polyvalent-variablen Volksbegriff in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG streitet. Hierfür spricht fernerhin und nicht zuletzt, dass die dem verbandsorientierten Demokratieverständnis verbundenen Demokratieparadigmen entstehungsgeschichtlich keineswegs Ausschließlichkeit für sich beanspruchen können, sondern sich der Sache nach auch das individuumszentrierte Demokratieverständnis mit seinen Paradigmen in den diversen Debatten des Parlamentarischen Rats und infolgedessen auch in den Normen des Grundgesetzes niedergeschlagen hat. 548 Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 581). 549 Zum Phänomen der mehrfachen Staatsangehörigkeit, die sich im praktischen Regelfall als „nur“ doppelte Staatsangehörigkeit darstellt, eingehend v. Münch (Fn. 429), S. 159 ff. 550 So aber etwa Isensee (Fn. 130), S. 11 f. und Weigl (Fn. 391), S. 12. Zutreffende Kritik am in der juristischen Literatur vielfach ideologisch, ja mystisch überhöhten Topos der Schicksalsgemeinschaft Rittstieg, Staatsangehörigkeit und Minderheiten in der transnationalen Industriegesellschaft, in: NJW 1991, S.1383 (1385). 551 Dazu eingehend Sacksofsky (Fn. 281), S. 317 ff. 552 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 8.

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VII. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungsgeschichtlicher Perspektive Dass Volkssouveränität und Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG unter dem Einfluss gegenläufiger Demokratieverständnisse stehen und daher als polyvalent-variable Verfassungsbegriffe konkretisiert werden müssen, zeigt sich auch in verfassungsgeschichtlicher Perspektive. So steht das Grundgesetz verfassungsgeschichtlich zum einen zweifellos in der gemeineuropäischen Tradition des Nationalstaats, in deren Kontext die demokratiezentrale Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur ausgeformt worden ist553. Dabei ist in Deutschland nicht zuletzt wegen der verspäteten Nationalstaatswerdung554 ein ethnisch-kulturell dimensioniertes Nationalstaatsverständnis wirksam geworden. Unter diesem verfassungsgeschichtlichen Blickwinkel lässt sich Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG unschwer dem verbandsorientierten Demokratiekonzept und den hierfür charakteristischen Paradigmen zuordnen. Doch auch wenn bei der verfassungshistorischen Interpretation des Art.  20 Abs. 2 Satz 1 GG die spezifisch nationalstaatlichen Rahmenbedingungen moderner Volkssouveränität nicht außer Acht gelassen werden dürfen, muss zum anderen berücksichtigt werden, dass die demokratische Herrschaftsform das Ergebnis von Verfassungskämpfen ist, in denen bislang unterdrückte beziehungsweise unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen und -schichten gegen die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse aufbegehrt haben. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sieht sich insofern eingeschrieben in die Geschichte sozialer Emanzipation, die sich nicht zuletzt in der zunehmenden Partizipation immer größerer Bevölkerungskreise an der Ausübung hoheitlicher, aber auch sonstiger sozialer Macht Bahn gebrochen hat555. In dieser verfassungsgeschichtlichen Perspektive lässt sich die grundgesetzliche Volkssouveränität umstandslos als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur konkretisieren556. Für die deutsche Verfassungsgeschichte lässt sich dieser sozusagen emanzipatorisch-partizipative Entwicklungsstrang besonders anschaulich am Beispiel der Ja-

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So zutreffend Emde (Fn. 1), S. 324; in diesem Sinne auch Murswiek (Fn. 200), S. 217; ders., Was vom Wiedervereinigungsgebot übrig blieb, in: Ipsen / Schmidt-Jorzig (Hrsg.), Festschrift für Rauschning, 2001, S. 57 (71 f.); Breer (Fn. 422), S. 66 und Dederer (Fn. 185), 2004, S. 195. Vernachlässigt wird dieses Erbe von Tschentscher (Fn. 235) 114 ff. 554 Möllers, Artikel ‚Nationalstaat‘, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 1601 (1603). 555 Stein (Fn. 165), Rn. 1 ff. 556 Insofern sieht man sich denn auch an die These von Maihofer (Fn. 77), Rn. 9 erinnert, dass sich bei der „Rückbesinnung auf die geschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln der Theorie der Demokratie in unserer Epoche der Moderne auch verfassungsrechtliche Einsichten erschließen können, die nicht nur der geschichtlichen Erinnerung Wert sind, sondern aus denen sich höchst gegenwärtige Forderungen ergeben könnten, an ein auch und gerade nach den Prinzipien der Demokratie noch unerfülltes Grundgesetz.“

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kobiner-Verfassungen belegen557. Diese markieren den Beginn der modernen demokratischen Verfassungsgeschichte Deutschlands558, die insoweit – anders als in mancher späteren Phase  – noch unter dem beherrschenden Einfluss der für den westlichen Demokratietypus prägenden Ideen steht559. Im Hinblick darauf, dass mit dem Grundgesetz der (Wieder-)Anschluss sowohl an die deutsche wie auch an die westliche demokratische Verfassungstradition gesucht wurde560, kommt den Jakobiner-Verfassungen  – trotz ihrer relativen Wirkungslosigkeit  – für die ver­ fassungsgeschichtliche Interpretation grundgesetzlicher Bestimmungen wie der des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG besondere Bedeutung zu561.

1. Die nationalstaatliche Demokratie als verfassungsgeschichtliches Erbe des Grundgesetzes Die neuere europäische Verfassungsgeschichte steht unter dem beherrschenden Eindruck des Nationalstaats, der sich seit der Französischen Revolution unaufhaltsam Bahn gebrochen hat562. In dem von ihm gesetzten politischen und sozialen Rahmen hat das Prinzip der Volkssouveränität, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr durchsetzte, seine moderne Fassung erhalten. Nation, Demokratie und Staat amalgamierten zu einer unauflösbaren Einheit, die demokratiezentrale Volkssouveränität gewann Gestalt als staatliche Herrschaft der Nation. Für die deutsche Verfassungsgeschichte lässt sich diese Entwicklung an jenen beiden Konstitutionen ablesen, die die wesentlichen Marksteine der nicht 557 Zu Geschichte der deutschen Jakobiner allgemein Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern, 1984; überblicksartig Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation, 1994, S. 527 f. Texte deutscher Verfassungsentwürfe, die dem Jakobinertum zuordenbar sind, finden sich bei Dippel (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland, 1991. 558 Zu dieser – nicht unumstrittenen – Periodisierung Wesel, Mehr Demokratie wagen!, in: Die Zeit vom 31.03.1995, S. 65; ferner Lamprecht, Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, 2001, S. 13 ff. sowie Haasis, Gebt der Freiheit Flügel, Bd. 1, 1988, S. 13. – Als das „erste Demokratieexperiment (…) auf deutschem Boden“ bezeichnet Hofmann, Ein Staat für alle, in: Die Zeit vom 31.10.2007, S. 48 die ‚Mainzer Republik‘ (wohl in Anknüpfung an Schweigard, Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein, 2005, S. 15). 559 Dazu grundlegend Dippel, Der Verfassungsdiskurs im ausgehenden 18. Jahrhundert und die Grundlegung einer liberaldemokratischen Verfassungstradition in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland, 1991, S. 7 ff.; ferner Schmidt, Das Volk bestimmt, in: Die Zeit vom 20.05.1999, S. 86. 560 So etwa Hesse, Verfassungsentwicklung, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 3 Rn. 16 sowie Bryde (Fn. 209), S. 317. 561 Vgl. dazu – wenn auch mit inhaltlich gewiss anderer Stoßrichtung – Hennis (Fn. 205), S. 9: „Die Ausklammerung eines vermeintlich irrelevant gewordenen Stoffs mag der Begriffsbildung zu Eindeutigkeit und Prägnanz verhelfen, läuft aber Gefahr, wesentliche Begriffs­ elemente zu übersehen.“ Vgl. ferner Wesel (Fn. 558), S. 65. 562 Breer (Fn. 422), S. 64 ff.

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eben langen demokratischen Verfassungstradition Gesamtdeutschlands bilden. Die Paulskirchenverfassung, die als Ganzes bloß Entwurf geblieben ist, legitimiert sich aus dem pouvoir constituant der deutschen Nation563. Die dort vorgesehene demokratische Zweite Kammer setzt sich nach § 93 zusammen aus „den Vertretern des deutschen Volkes“. Verfassungsmäßige Rechte erkennt die erste Verfassung des deutschen Gesamtstaats grundsätzlich nur Deutschen zu. Ähnlich verhält es sich im Fall der Weimarer Reichsverfassung, durch die sich das Prinzip der Volkssouveränität auch für Deutschland in seiner ganzen juristischen Bedeutung durchgesetzt hat564. Das deutsche Volk fungiert als pouvoir constituant, der Reichstag setzt sich gemäß Art.  20 WRV „aus den Abgeordneten des deutschen Volkes“ zusammen565. Mit der Paulskirchenverfassung und der Weimarer Reichsverfassung schließt die deutsche insofern an die gemeineuropäische Verfas­ sungsentwicklung an, als das nationale mit dem demokratischen Projekt verschmilzt566. Für die deutsche Verfassungsgeschichte kommt als Besonderheit hinzu, dass anders als in dem verfassungstheoretisch modellbildenden Fall Frankreichs die deutsche Nation nicht aus einer staatlich bereits verfassten Bevölkerung hervorgegangen, sie sich ihrer selbst also nicht als Staatsnation bewusst geworden ist. Vielmehr hatte sich in Deutschland die Kulturnation schon längst ausgebildet, als 1871 die nationalstaatliche Einheit von oben – wenn auch wohl in Übereinstimmung mit der überwiegenden nationalen öffentlichen Meinung  – durchgesetzt wurde. Während in Frankreich die Nation der Idee nach vornehmlich als staatlich verfasste Bekenntnisgemeinschaft autonomer Individuen begriffen wurde, hat sich die deutsche Nation – bedingt durch die verspätete Nationalstaatsgründung – zunächst in einem vor- beziehungsweise außerstaatlichen Kontext entwickelt und ist in der Folge als Kultur- und Abstammungsgemeinschaft verstanden worden. Dies erklärt zu einem Gutteil, weshalb der deutsche Nationalstaat, als er letztlich aus der Taufe gehoben wurde, in sehr viel stärkerem Maße ethnisch-kulturell geprägt war, als dies der westeuropäischen Verfassungstradition entsprach. Diese Prägung musste sich in der Folge auch auf das im nationalstaatlichen Rahmen entfaltete demokratische Prinzip auswirken: Der politische demos und das Volk im ethnischkulturellen Sinne wurden in eins gesetzt567, sodass Demokratie tendenziell zur staatlichen Herrschaft des ethnisch-kulturell homogenen Volkes mutierte. Seine wohl einflussreichste Darstellung hat dieses spezifisch deutsche Verständnis natio­ nalstaatlicher Demokratie bei Carl Schmitt gefunden, der in seiner Verfassungs 563

Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 90 (97); Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – und Verfassungsänderung, 2007, S. 37 ff. 564 Böckenförde (Fn. 563), S. 97. 565 Dazu Winterhoff (Fn. 563), S. 43 f. 566 So im Ergebnis auch Papier (Fn.  412), S.  310, ders. (Fn.  361), S.  204 f. und Jestaedt (Fn. 131), S. 208. 567 Vgl. hierzu Heller (Fn. 240), S. 263 f.

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lehre Demokratie aus der ‚substantiellen Gleichartigkeit des Volks‘ heraus ent­ wickelt hat568. Der für das Demokratieverständnis insofern überaus folgenreiche spezifisch deutsche Nationbegriff scheint auch in den beiden für das Grundgesetz maßgeb­ lichen demokratischen Verfassungen von 1848 und 1920 durch. In § 188 der Pauls­ kirchenverfassung wie auch in Art.  113 WRV werden ethnische Minderheiten unter besonderen verfassungsrechtlichen Schutz gestellt569. Damit geraten diese Verfassungen zum einen in tendenziellen Widerspruch speziell zum französischen Nationverständnis. Denn dieses leugnet bis heute die Existenz von Ethnien oder nationalen Minderheiten, weil sich die Nation nach dieser Konzeption ausschließlich aus den im Staatsverband zusammengeführten autonomen Individuen zusammensetzt und deren auch nur partielle Mediatisierung durch partikulare Ethnien nicht akzeptieren kann. Zum anderen belegen diese verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Minderheitenschutzes aber auch positiv und nicht bloß ex negativo, dass die demokratischen Vorgängerverfassungen des Grundgesetzes der Vorstellung eines ethnischkulturell konturierten Nationalstaats anhängen: Idealtypisch betrachtet, bedarf es des verfassungsmäßigen Schutzes für nationale Minderheiten (nur), wenn der Nationalstaat den Zweck hat, der Bewahrung und Entfaltung der ethnisch-kulturellen Eigenarten des Mehrheitsvolks zu dienen570. Unter diesen Bedingungen muss der vom Nationalstaat ausgehende Assimilationsdruck schon um des Nationalstaats willen durch Minderheitenschutz kompensiert werden, will man verhindern, dass die nationalen Minderheiten zur Sezession getrieben werden und die staatliche Einheit dadurch zerstört wird. Dagegen gefährdet Minderheitenschutz idealiter den Nationalstaat, wenn dieser auf der je gleichen Freiheit aller seiner Glieder aufbaut und daher von seinem Selbstverständnis her jede Ungleichbehandlung aufgrund ethnischer, kultureller oder sozialer Zugehörigkeiten verhindern muss. Diese – wohlgemerkt idealtypisierende – Betrachtung legt es nahe, dass sich mit der Verankerung des Minderheitenschutzes in den demokratischen Vorgängerverfassungen des Grundgesetzes ein ethnisch-kulturelles Nationalstaatsverständnis der Verfassunggeber offenbart.  Eine Analyse der jeweiligen Zeitumstände bestätigt diese Einschätzung. Die parlamentarischen Debatten, die in den Nationalversammlungen von Frankfurt und Weimar der verfassungsrechtlichen Fixierung des Minderheitenschutzes vor­ ausgegangen sind, lassen den Zusammenhang zwischen ethnisch-kulturell aufgeladener Nationalstaatlichkeit und Minderheitenschutz deutlich erkennen. So beschloss die Frankfurter Nationalversammlung im Oktober 1848 mit breiter 568

Schmitt (Fn. 107), S. 223 ff. Zum Zusammenhang zwischen Nationalstaatlichkeit, Konstitutionalismus und Minderheitenschutz Jäger, Artikel ‚Mehrheit, Mehrheitsprinzip‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 1082 (1084 f.) sowie Murswiek (Fn. 241), Rn. 222. 570 Dazu auch Marko, Autonomie und Integration, 1995, S. 217 f. 569

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Mehrheit, den deutschen Bundesstaat auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips zu begründen571 und bekräftigte dies im Hinblick auf die österreichische Frage nachdrücklich: „Kein Theil des deutschen Reiches darf mit nichtdeutschen Ländern zu einem Staate vereinigt werden“572. Zuvor schon hatte sie sich freilich mit den Forderungen nichtdeutscher Volksgruppen auseinandersetzen müssen, die zum damaligen Zeitpunkt auf deutschem Staatengebiet gebietsansässig waren573. Als diese den Anspruch erhoben, sich ihrerseits  – entsprechend dem Nationalitätsprinzip  – autonom zu organisieren, lehnte die Nationalversammlung dies zwar aus nationalstaatlichen Erwägungen ab. Jedoch sah sie die Notwendigkeit, in einem auf dem Nationalitätsprinzip basierenden Gemeinwesen die Belange der nationalen Minderheiten  – gleichsam kompensatorisch  – durch spezifische Rechte abzusichern. Dementsprechend blieben etwa im August 1848 die Versuche Welsch-Tiroler Abgeordneter erfolglos, für „die zwei italienischen Kreisbezirke Trient und Roveredo, sowohl rücksichtlich des Provinziallandtages, als der politischen und justitiellen Verwaltung, eine von den deutschen Kreisen der Provinz Tyrol unabhängige, ihrer Nationalität entsprechende Organisation zu erlangen“574. Stattdessen wurden die Welsch-Tiroler durch „die große Mehrheit“ der Nationalversammlung allgemein auf die wenige Monate später in § 58 des Grundrechtsgesetzes verfassungsrechtlich niedergelegten Minderheitenrechte verwiesen575. Der Konnex zwischen ethnisch-kulturell dimensioniertem (Selbst-)Verständnis von Nationalstaat und Staatsnation und der Gewährung von Minderheitenrechten scheint auch in den Diskussionen der Weimarer Nationalversammlung durch. Dort hatte etwa der Abgeordnete Dr. Cohn – letztlich erfolglos – eine noch stärkere Verankerung des Minderheitenschutzes verlangt, weil er der Ansicht war, dass man nur dann einen effektiven Schutz deutscher Minderheiten in anderen Staaten würde einklagen können576. Hinter diesem do-ut-des-Gedanken verbirgt sich wiederum die für die deutsche Verfassungsgeschichte prägende Idee einer ethnischkulturell konturierten Nation, aufgrund derer selbst „jene Deutschen außerhalb unserer Grenzen kraft ihres Willens, zu uns zu gehören, auch uns angehören dürfen und müssen“577. 571

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 1998, S. 656. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 1848, S. 2918. 573 Allgemein zu den nationalpolitischen Konflikten, die die Revolution von 1848/49 belasteten, Nipperdey (Fn. 571), S. 624 ff. 574 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 1848, S. 1547. 575 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 1848, S. 1559. 576 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, 1920, S. 1571. 577 Abg. Dr. Cohn (Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, 1920, S. 1573). 572

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Mithin lassen die beiden demokratischen Verfassungen, die dem Grundgesetz historisch vorausgegangen sind, gerade auch durch ihre Regelungen zum Minderheitenschutz ein Nationverständnis erkennen, das in Abweichung vom westlichen, insbesondere vom französischen Nationbegriff eine prononcierte ethnisch-kulturelle Komponente aufweist578. Insofern zeigt sich Folgendes: Gerade die spezifisch deutsche Tradition demokratischer Verfassungsstaatlichkeit fügt sich nahtlos in das verbandsorientierte Demokratieverständnis ein, das die Volkssouveränität als umfassende staatliche Herrschaft der nationalen Staatsangehörigen begreift579. Volk im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG scheint in dieser verfassungsgeschichtlichen Perspektive nur als das nationale Staatsvolk der Deutschen denkbar zu sein, wobei sich die Zugehörigkeit zu diesem deutschen Volk zwingend nach dem – offenbar veränderungsfest im Grundgesetz verankerten – ius sanguinis bestimmt.

2. Zur Relativierbarkeit der an das verfassungsgeschichtliche Erbe des demokratischen Nationalstaats anknüpfenden Grundgesetzinterpretation Einer Interpretation von Art.  20 Abs.  2 Satz  1 GG, die an die deutsche Nationalstaatstradition anknüpft, lässt sich nicht schon entgegenhalten, das Grund­ gesetz habe mit dieser verfassungsgeschichtlich wirkmächtigen Überlieferung ein für allemal gebrochen. Die Analyse insbesondere der ursprünglichen Präambelfassung sowie ferner auch die der Art. 1 Abs. 2, 116 und 146 GG hat vielmehr ergeben, dass im Grundgesetz zwar eine gewisse Relativierung nationalstaatlicher Konzeptionen stattgefunden hat, nicht aber ein wirklicher Bruch mit dem nationalstaatlichen Erbe erfolgt ist. Der Anspruch, die „nationale und staatliche Einheit zu wahren“, der schon den Verfassungsvätern von 1848 so wichtig war, hat im Grundgesetz ebenso seinen Niederschlag gefunden wie die Verantwortung für die Deutschen außerhalb des aktuellen staatlichen Territoriums, die der Abgeordnete Cohn in der Weimarer Nationalversammlung beschworen hat. Angesichts dieses normtextuellen Befunds verbietet es sich, bei der verfassungshistorischen Konkretisierung des grundgesetzlichen Prinzips der Volkssouveränität die geschilderten Verfassungstraditionen einfach auszublenden und den überaus geschichtsträchtigen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als, verfassungshistorisch betrachtet, sozusagen revolutionäre Norm zu fingieren. Stattdessen müssen jene verfassungsgeschichtlichen Interpretationselemente, die der grundgesetzlichen Volkssouveränität den Charakter eines nationaldemokratischen Herrschaftsprinzips anzuverwandeln scheinen, 578

Zu den verschiedenen Nationbegriffen auch Möllers (Fn. 554), Sp. 1601 f. und Masing, Wandel im Staatsangehörigkeitsrecht vor den Herausforderungen moderner Migration, 2001, S. 73 f. Speziell zum deutschen Nationbegriff begriffsgeschichtlich Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation, 1994, S. 55 ff. 579 So auch Schink (Fn. 405), S. 420; vgl. vertiefend Quaritsch (Fn. 306), S. 3 ff.

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durch eine gegenläufige, alternative verfassungsgeschichtliche Norminterpretation relativiert werden580. Dabei ist Folgendes zu berücksichtigen: Die vom Verfassungstext diktierte Absage an die Fiktion einer verfassungsgeschichtlichen Stunde Null bedeutet keineswegs, dass einseitig an diejenigen historisch überkommenen verfassungsrecht­ lichen Vorstellungen angeknüpft werden müsste, die sich  – wie die Vorstellung der nationalstaatlichen Demokratie – in der Vergangenheit als besonders durchsetzungsstark erwiesen haben. Vielmehr muss der gerade auch in der ursprünglichen Präambel zum Ausdruck kommende Wille zum relativen Neubeginn in die verfassungsgeschichtliche Interpretation des grundgesetzlichen Prinzips der Volkssouveränität einfließen. Schließlich sollte mit dem Grundgesetz eine ‚neue Ordnung‘ geschaffen werden – und zwar anders als in dem der Grundgesetzgebung vorhergehenden Zeitabschnitt in Verantwortung vor Gott und den Menschen sowie im Rahmen eines sich vereinigenden Europas. Für die verfassungsgeschichtliche Normkonkretisierung bedeutet dies, dass verstärkt diejenigen verfassungshistorischen Bezüge freigelegt werden müssen, auf denen dieser relative Neubeginn gründet. Dies führt in der Folge dazu, dass auch im Rahmen der verfassungs­ historischen Interpretation die grundgesetzlichen Demokratienormen nicht mehr nur im Sinne der in den letzten beiden Jahrhunderten so einflussreichen Nationalstaatsidee und mithin verbandsorientiert konkretisiert werden dürfen. Vielmehr finden zugleich jene in der europäischen und deutschen Verfassungsgeschichte durchaus belegbaren Demokratievorstellungen interpretativ Berücksichtigung, die auf die durch Demokratie vermittelte umfängliche Freiheitsgewährleistung, auf ihre Menschenwürdefunktionalität hinweisen und Volkssouveränität infolgedessen gemäß den individuumszentrierten Demokratieparadigmen als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur erstehen lassen.

3. Die grundgesetzliche Volkssouveränität als Ergebnis von Freiheits- und Verfassungskämpfen Wendet man sich zunächst wiederum der europäischen Verfassungsgeschichte und hier insbesondere der französischen zu, so erkennt man unschwer, dass die im Gefolge der Französischen Revolution propagierte Idee der Nationalsouveränität vor allem auch dazu diente, auf agitatorisch-propagandistisch wirksame Weise die real erstrebte sozioökonomische und politische Umwälzung der absolutistischfeudalen Machtstrukturen ideell zu legitimieren. Dazu wurde die nach wie vor wirkmächtige Souveränitätsdoktrin aus ihrem absolutistischen Bedeutungszusammenhang gelöst, das Volk beziehungsweise die Nation als Träger der Souveräni-

580

In diesem Sinne auch Schmidt-Jortzig, Stellungnahme der Landesregierung SchleswigHolstein, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 196 (206).

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tät deklariert und somit anschaulich gemacht, weshalb die überkommenen Machtstrukturen keinen Bestand mehr haben könnten. Hieraus erhellt, dass die heute demokratiezentrale Volkssouveränität, historisch betrachtet, keineswegs konkretisch auf eine bestimmte nationalstaatliche Herrschaftsform relativiert werden kann, sondern sich in der insoweit exemplarischen Geschichte Frankreichs als ein von revolutionären Freiheitsbewegungen getragenes ideelles Gegenprinzip zum Herrschaftsregiment des ancien régime entfaltet hat. Die Volks- beziehungsweise Nationalsouveränität und auch die nationale Idee entpuppen sich als politisch-soziale Postulate der bürgerlichen Emanzipations­ bewegung, die hiermit ihre Forderungen nach persönlicher Freiheit und realer Machtteilhabe befördern wollte. In dieser verfassungsgeschichtlichen Entwicklungslinie stellt sich Volkssouveränität als ein – unter agitatorischen Gesichtspunkten überaus effektives – Prinzip dar, das die freiheitskonstitutive Partizipation immer weiterer Bevölkerungskreise an der politischen und sozialen Machtentfaltung einfordert. Aus Sicht der paradigmatischen französischen Verfassungsgeschichte fügt sich die Volkssouveränität mithin umstandslos in das individuumszentrierte Demokratiekonzept ein, während die Bezüge zum verbandsorientierten Demokratieverständnis verblassen. Aber auch aus Sicht der spezifisch deutschen Verfassungsgeschichte lässt sich – etwa am Beispiel der Paulskirchenverfassung und ihrer Entstehung581 – eine dem individuumszentrierten Demokratiekonzept verbundene Version von Volkssouveränität rekonstruieren. Die Paulskirchenverfassung ist vor dem Hintergrund einer allgemeinen, multikausal bedingten Legitimationskrise entstanden, die im Vormärz immer deutlichere Konturen angenommen hatte, begünstigt durch den gemein­ europäischen Freiheitskampf in der Revolution von 1848 offen ausbrach und auf eine Neuordnung des Herrschafts- und Gesellschaftssystems hindrängte582. In der Paulskirchenverfassung versuchte die bürgerliche Bewegung ein neues legitimatorisches Fundament für die nachrevolutionäre Ordnung zu entwickeln. Besondere Bedeutung maßen die Verfassungsväter dabei den Grundrechten zu. Nicht ohne Grund hat sich die Frankfurter Nationalversammlung in den ersten fünf Monaten ihres Bestehens vor allem mit dem Grundrechtskatalog beschäftigt. Dieser wurde im Dezember 1848 im Grundrechtsgesetz vorab in Kraft gesetzt583, während die Reichsverfassung insgesamt bloß Entwurf geblieben ist. Das Grundrechts­gesetz der Nationalversammlung formulierte nicht nur die klassischen Freiheits- und Eigentumsrechte, sondern beseitigte überdies auch die letzten Relikte der Feudalordnung und kodifizierte schließlich in seinen letzten Artikeln die Grundprinzipien liberaldemokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Insofern weist es deutlich in Richtung des individuumszentrierten Demokratiekonzepts. Denn dem klaren Regelungskonzept des Frankfurter Grundrechtsgesetzes zufolge ist Demokratie von 581

Zum Ringen um die Paulskirchenverfassung Stern (Fn. 90), S. 239 ff. Hierzu grundlegend Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, 1987, S. 660 ff. 583 Dazu Stern (Fn. 90), S. 256.

582

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den individuellen, grundrechtlich gewährten Freiheiten nicht abtrennbar, vielmehr ist sie integrierender Teil dieser Freiheiten. Der individuellen Freiheit widersprechen gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse ebenso wie ein obrigkeitlicher Staat. Das Frankfurter Grundrechtsgesetz und der mit ihm identische sechste Abschnitt der Frankfurter Paulskirchenverfassung setzen durch Schaffung volksherrschaftlicher Strukturen, das heißt durch die Überwindung der ungleichen gesellschaftlichen Machtverteilung und durch demokratische Verfassungsstaatlichkeit den unverletzlichen Anspruch auf individuelle Freiheit für den Bereich der niemals gänzlich überwindbaren sozialen Abhängigkeiten ins Werk. Der Frankfurter Grundrechtskatalog belegt insofern gerade auch für die deutsche Verfassungsgeschichte, dass das liberale Freiheitspostulat und die demokratischen Partizipa­ tionsansprüche von Beginn an aufeinander bezogen waren, die damit bezweckte Umwälzung der überkommenen Ordnung auch in Deutschland das Kernanliegen der bürgerlich-liberalen Emanzipationsbewegung darstellte. Dass Freiheit 1848 in diesem umfänglichen, demokratische Teilhabe mit um­ fassenden Sinn verstanden wurde, wird auch in den Debatten der Nationalversammlung deutlich. In der ansonsten sehr zurückhaltenden, von Revolutionsfurcht geprägten Rede des rechtsliberalen Abgeordneten Beseler, der als Berichterstatter des Verfassungsausschusses die Grundrechte ins Plenum einbrachte, wird eine wesentliche Funktion der Grundrechte darin gesehen, dass „die Bevormundung entfernt werden (soll), die von oben her auf Deutschland“ lastet584. Die Grundrechte wurden von den Abgeordneten der Nationalversammlung gerade nicht als vom paternalistischen Obrigkeitsstaat verliehene bloße Abwehrrechte angesehen, sondern bewusst als Vehikel für eine Transformation von Staat und Gesellschaft in Richtung auf mehr individuelle Freiheit und Machtteilhabe konzipiert585. In der abschließenden Debatte zum Einführungsgesetz der Grundrechte des Deutschen Volkes betont der katholisch-konservative Freiburger Abgeordnete Buß, der im Übrigen ähnlich wie Beseler mit der befürworteten Grundrechtsgewährung „den Schlund der Revolution schließen“ wollte586, dass sich durch die Einfügung des Grundrechtskatalogs in die überkommenen einzelstaatlichen Ordnungen die dort angelegte Machtverteilung entscheidend ändern wird: „… die Verfassung der einzelnen Länder wird dadurch wesentlich alterirt, ganze Theile der Verfassung werden verwandelt, und das Gewicht der entscheidenden Momente stellt sich um“587. Aus diesen Äußerungen politisch rechts stehender Abgeordneter erhellt, dass es der Nationalversammlung insgesamt und nicht nur seiner demokratischen Minder 584 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 1848, S. 702. 585 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht hebt Wehler (Fn. 582), S. 745 zutreffend hervor, dass die Grundrechte von 1848 einen „materiellen Verfassungsauftrag“ enthüllten, „dessen Zielvorgaben weitreichende Vorentscheidungen über den Charakter der deutschen Konstitution implizierten“. 586 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden National­ versammlung zu Frankfurt am Main, 1848, S. 4322. 587 Ebd.

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heit darum ging, die herrschenden Verhältnisse in Richtung auf mehr reale Freiheit, also auf eine umfängliche Emanzipation und Partizipation machtunterworfener, aber bislang machtloser Bevölkerungsteile umzugestalten. Das in Text und Systematik des Grundgesetzes aufscheinende individuumszentrierte Demokratieverständnis steht in dieser verfassungsgeschichtlichen Entwicklungslinie. Dass das demokratische Prinzip im Kontext der deutschen Verfassungsgeschichte immer auch als Ausfluss menschenrechtsverbürgter Autonomie begriffen werden muss, bestätigt nicht zuletzt die Weimarer Reichsverfassung. In deren zweitem Hauptteil, im Grundrechtsteil, werden im fünften Abschnitt Bestimmungen über das Wirtschaftsleben getroffen588, die das Modell einer in der Weimarer Realität allerdings vielfach unerfüllt gebliebenen ‚sozialen Demokratie‘ entwerfen589. Als wichtigste Bestimmungen sind zu nennen: erstens die Sozialisierungsbestimmung des Art.  156 WRV, die unter anderem gemeinwirtschaftliche Unternehmensformen auf der Grundlage demokratischer Selbstverwaltung vorsieht; zweitens Art. 165 WRV, der den rätedemokratischen Traditionen verpflichtet ist590; drittens die Vorschrift über die Sozialversicherungen in Art. 161 WRV, die ein „umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten“ normiert. Mit diesen Bestimmungen wird jene verfassungsgeschichtliche Entwicklung fortgeschrieben, in die sich auch schon die erste demokratische Verfassung Gesamtdeutschlands einreihen lässt: Ebenso wie die bürgerliche Bewegung des 19. Jahrhunderts zur Durchsetzung ihrer Kernforderung nach autonomer, bevormundungsfreier Lebensgestaltung eine gewisse politische Teilhabe für unabdingbar erachtete und dies in der Paulskirchenverfassung zum Ausdruck brachte, forderte die Arbeiterbewegung zur Erfüllung ihrer Freiheitsansprüche den Ausbau der politischen zur sozialen Demokratie und setzte sich in der Weimarer Nationalversammlung für entsprechende Verfassungsbestimmungen ein591. Dass die wirtschaftsdemokratischen Bestimmungen der Weimarer Reichsver­ fassung tatsächlich der Emanzipation durch Partizipation dienen sollten und insofern wie schon die parallele Entwicklung zur Zeit der Paulskirchenverfassung die verfassungsgeschichtliche Verankerung des individuumszentrierten Demokratieverständnisses bestätigen, belegen recht eindrücklich die Ausführungen des Berichterstatters des für wirtschaftsdemokratische Fragen zuständigen Verfas 588

Zu diesen Anschütz (Fn. 438), S. 697 ff. Hierzu insbesondere Völtzer (Fn.  341), S.  294 ff.; auch Abendroth (Fn.  345), S.  182 ff.; ferner Schneider, Historisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Krise von Weimar, in: Luthardt / Söllner (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus, 1989, S. 27 (32 ff.). 590 Vgl. Stern (Fn. 90), S. 57; zu den Gründen, weshalb Art. 165 WRV nicht in Verfassungswirklichkeit erstarkt ist: Fraenkel, Kollektive Demokratie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1999, 343 (349 ff.). 591 Zur Verwirklichung von Eduard Bernsteins Transformationsmodell durch die Weimarer Verfassung Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 133 f. Siehe auch Anschütz (Fn. 438), S. 697, der zum fünften Abschnitt der ‚Grundrechte und Grundpflichten‘ anmerkt: „Kein Teil der Verfassung zeigt so ausgeprägt sozialistische Züge wie dieser.“ 589

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sungsausschusses der Nationalversammlung: Der „Mensch will aufhören, Maschinenteil zu sein, nur Auge und Hand, er will endlich Mensch werden und seine Lebenssphäre“ erweitern592. Darin liegt für Hugo Sinzheimer die verfassungspolitische Zielvorgabe. Umgesetzt wird diese Zielvorgabe, so Sinzheimer, „durch den Gedanken, daß in der Demokratie der Rätegedanke verwirklicht werden soll“593. Auch der Verfassungstext selbst gibt zu erkennen, dass Demokratie als Verwirklichungsbedingung individueller Freiheit angesehen wird. Indem die Weimarer Reichsverfassung in Art. 151 „die Ordnung des Wirtschaftslebens“ auf das „Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ festlegt und in den nachfolgenden, speziell in den drei genannten Artikeln eine deutliche Option für eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft formuliert, zeigt sich einmal mehr, dass der demokratischen Verfassungstradition Deutschlands das individuumszentrierte Demokratiekonzept keineswegs fremd ist. Die Paulskirchenverfassung sowie die Weimarer Reichsverfassung, in deren demokratischen Tradition das Grundgesetz steht, deuten somit sowohl von ihrer Entstehungsgeschichte als auch von ihrem Normtext her darauf hin, dass Demokratie die Funktion hat, die – der deutschen Tradition nach – in der Menschenwürde wurzelnden Ansprüche auf gleiche Freiheit, auf autonomes Menschsein zu operationalisieren. Insofern braucht und darf die Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG im Zuge der verfassungsgeschichtlichen Interpretation nicht nur nach dem Vorbild der historisch überlieferten nationalstaatlichen Demokratie als nationaldemokratische Herrschaftsstruktur ausgedeutet, sondern muss vor dem Hintergrund der demokratischen Freiheits- und Verfassungskämpfe immer zugleich auch als sozialorganisatorische Freiheitsstruktur begriffen werden.

4. Das demokratische Erbe der Jakobiner-Verfassungen im Besonderen Noch viel deutlichere Spuren als in den Verfassungen der Frankfurter Pauls­ kirche und der Weimarer Nationalversammlung hat das individuumszentrierte Demokratieverständnis freilich in einigen anderen, allzu lang vernachlässigten Dokumenten der deutschen Verfassungsgeschichte hinterlassen. Die Rede ist von jenen erst in jüngerer Zeit wieder intensiver diskutierten Verfassungsentwürfen aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, die inspiriert von den französischen Revolutionsverfassungen594 und im unmittelbaren geographischen Einflussbereich der 592 Abg. Dr. Sinzheimer (Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, 1920, S. 1791). 593 Ebd. 594 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an einen Zeitgenossen der Französischen Revolution, der in ihr eine „Begebenheit unserer Zeit“ erblickte, welche die „moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweiset“  – Kant, Streit der Fakultäten, in: ders., Werke in sechs Bänden (Weischedel (Hrsg.), Bd. 6, 1964, S. 261 (357).

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Französischen Revolution von unterschiedlichen Exponenten der deutschen bürgerlichen Bewegung angefertigt wurden595. Ein interpretatorischer Rückgriff auf diese Verfassungsentwürfe ist, wie schon angedeutet, insofern gerechtfertigt, als das Grundgesetz verfassungsgeschichtlich einen relativen Neuanfang markiert. Hierzu passt der interpretatorische Rekurs auf die Verfassungsentwürfe gleich in doppelter Hinsicht. Wie dies gerade auch die ursprüngliche Präambelfassung verdeutlicht, es aber auch in ihrer aktuellen Version noch nachklingt, soll mit dem Grundgesetz zwar kein Schlussstrich unter die genuin deutsche Staats- und Verfassungsgeschichte gesetzt, wohl aber verantwortungsbewusst ein neues, demokratisches Kapitel deutscher Verfassungsgeschichte aufgeschlagen werden596. Dem entspricht es, wenn bei der Interpretation grundgesetzlicher Bestimmungen im Licht der deutschen Verfassungsgeschichte ein besonderes Augenmerk gerade auf diejenigen, häufig disparaten und fragmentarischen Ideen und Projekte gerichtet werden, die als Ausdruck der durchaus vorhandenen deutschen demokratischen Verfassungstradition gewertet werden können597. Nun normieren die genannten, im Kielwasser der französischen Revolution entstandenen Verfassungsentwürfe Grundvorstellungen demokratischer Verfassungsstaatlichkeit598. Sie stellen sich insofern, auch wenn sie niemals nachhaltig in Normalität erwachsen sind, als wichtige Wegmarken einer bis zum Grundgesetz reichenden, vielfach gebrochenen deutschen demokratischen Verfassungstradition dar599. Hinzu tritt, dass diese Verfassungsentwürfe im größeren Zusammenhang eines Europa und Nordamerika erfassenden Verfassungsdiskurses stehen. Nachdem die gemeineuropäische Aufklärung über ein Jahrhundert lang die Ideen von Freiheit und legitimer Herrschaft theoretisch entfaltet hatte, waren diese Vorstellungen in der amerikanischen und französischen Revolution geschichtsmächtig geworden600. Unter diesem Eindruck und auf der Grundlage der aus den Revolutionen hervorgegangenen Verfassungstexten begannen die im Entstehen begriffenen bürgerlichen Öffentlichkeiten zahlreicher europäischer Länder, sich mit der Verfassungsfrage zu beschäftigen und die theoretischen Einsichten des Aufklärungsnaturrechts

595

Dazu etwa Wesel (Fn. 558), S. 65 f.; auch Hofmann (Fn. 558), S. 48. Vgl. Zuleeg (Fn. 235), Rn. 1. 597 Hierzu etwa auch Schweigard (Fn. 558), S. 14: „Die Jakobiner stehen heute in der Tradition der deutschen Demokraten. Auf den frühen Versuch, die Demokratie auszuprobieren, können die Deutschen stolz sein.“ 598 Siehe dazu auch Lamprecht (Fn. 558), S. 149: „Schlägt man indessen einen größeren Bogen und fragt nach Kontinuitäten jakobinischer Rechtsvorstellungen bis in das 20.  Jahrhundert, so findet man zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen jakobinischen Regeln des ausgehenden 18. Jahrhunderts und denen des Grundgesetzes (…) .“ 599 Vgl. Dippel (Fn. 559), S. 32 f. 600 Dazu eingehend Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 11 ff. 596

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auf eine tatsächliche oder potenzielle Verfassungspraxis zu übertragen601. In dieser Perspektive repräsentieren die hier in Rede stehenden Verfassungsentwürfe also nicht nur die deutsche demokratische Verfassungstradition, sondern die der westlichen Welt generell602. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint ein interpretatorischer Rekurs auf die Verfassungsentwürfe gerechtfertigt603. Denn der relative Neuanfang, den das Grundgesetz markiert und bei der Verfassungsinterpretation zu reflektieren ist, beruht – wie sich erneut vor allem aus der Präambel ergibt – gerade auch auf der Betonung des europäischen Gedankens. Dieser wiederum wird gerade von jener gemeinsamen verfassungsstaatlichen Tradition des Westens getragen, in die sich die Verfassungsentwürfe unmittelbar einfügen. Als Zeugnissen sowohl der deutschen als auch der gemeineuropäischen demokratischen Verfassungstradition kommt den genannten Verfassungsentwürfen für die Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nach allem einiges interpretatorisches Gewicht zu604. Wie bereits angesprochen, liegen sie auf der Linie der individuumszentrierten Demokratiekonzeption und der sie ausprägenden Demokratieparadigmen605. So bestätigt Joseph Rendlers ‚Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pflichten des Menschen, zur Gründung des bürgerlichen Glücksstandes …‘606, dass die Idee der Volks- und Nationalsouveränität, verfassungsgeschichtlich betrachtet, nicht auf die Einheit von Staat, Volk und Nation abzielt, sondern die Fürstensouveränität delegitimieren und ein an der gleichen Freiheit aller orientiertes Herrschaftssystem rechtfertigen soll. „Weil bei einer Menge Menschen gleiche Gewalt ist, so kann“, heißt es bei Rendler, „nur die Vereinigung aller einzelnen Gewalten eine Allgewalt ausmachen, folglich nur das gesamte Volk den höchsten Rang und also nur es allein das Majestätsrecht haben“607. Die Idee der Volks-Souveränität sprengt die Freiheit und Gleichheit widerstreitende Souveränität absolutistischer Prägung auf, atomisiert sie, um sie anschließend als eine im Hinblick auf die gleiche Freiheit aller legitime Herrschaft zu rekonstruieren. Dass die Volks-Majestät mithin nicht als Herrschaft eines geschichtlich gewordenen Volks, sondern immer nur von dem je individuellen Menschenrecht auf freiheitliche Selbstgesetzgebung her begriffen werden kann, kommt auch in der unter dem – mutmaßlichen – Pseudonym Erdmann Weber608 herausgegebenen Schrift 601

Allgemein zur Reaktion der deutschen Intellektuellen auf die französische Revolution Möller (Fn. 557), S. 522 ff. 602 Dippel (Fn. 559), S. 10 ff. 603 Und just dadurch wird die „Archäologie der demokratischen Frühzeit“ (Haasis [Fn. 558], S. 21) unmittelbar gegenwartsrelevant. 604 Zur Volkssouveränität in den jakobinischen Verfassungsentwürfen Lamprecht (Fn. 558), S. 118 ff. 605 Zu den theoretischen Grundlagen des deutschen Jakobinismus Grab (Fn. 557), S. 42 ff. 606 Text von Joseph Rendlers ‚Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pflichten des Menschen, zur Gründung des bürgerlichen Glücksstandes …‘, in: Dippel (Fn. 557), S. 51 ff.; dazu Lamprecht (Fn. 558), S. 90 ff. 607 Siehe dort: V. Artikel / 11. Erklärung (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 51 [54]). 608 Dippel (Fn. 559), S. 17.

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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‚Teutschlands neue Konstituzion‘609 deutlich zum Ausdruck: „Unveräußerlich ist das Theilnehmungsrecht des Menschen an der Gesetzgebung; denn der Zwang, Gesezen zu gehorchen, an denen man keinen Theil hat, die bloß die Willkühr eines einzelnen diktirte, ist baarer Unsinn“610. Unter diesem Blickwinkel ist es denn auch nicht angängig, demokratische Teilhaberechte allein davon abhängig zu machen, ob jemand von Seiten des Herrschafts- und Zwangsverbands durch das Privilegium der Verbandszugehörigkeit geadelt ist oder nicht. „Ein ganzes Volk oder Staat ist nichts anderes als vergsellte Menschen (…); diese verändern durch ihre Vergsellung ihre Natur keineswegs“, heißt es wie selbstverständlich beim Kleriker Joseph Rendler611. Folgerichtig gilt den ‚Grundlinien‘ des seinerzeitigen Adjunkten der philosophischen Fakultät der Universität zu Wittenberg, Wilhelm Traugott Krug612, denn auch jeder als Bürger, „der ein Interesse an der Wahl haben kann“613. Und in dem anonymen „Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, wie sie in Deutschland taugen möchte“614 reicht es für das Erlangen der deutschen Bürgerschaft schon aus, dass der Betreffende „einen Nahrungszweig hat, republikanisch denkt … und sich um die Menschheit, um die Sache der Freiheit und Gleichheit verdient gemacht und sich niemals als Feind des deutschen Freistaats bewiesen hat“615. Die jakobinischen Verfassungsentwürfe zeugen somit gerade auch insofern vom individuumszentrierten Demokratieverständnis, als sie die demokratiezen­ trale Volkssouveränität im Paradigma nicht der exklusiven ‚Nationalsouveränität‘, sondern der inklusiven ‚Bevölkerungssouveränität‘ entfalten. Dieser These lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass beispielsweise in dem anonymen ‚Entwurf 609

Text der Schrift ‚Teutschlands neue Konstituzion‘, in: Dippel (Fn. 557), S. 147 ff. § 50 (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 173). In dieselbe Richtung weisen Wilhelm Trautgott Krugs ‚Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik …‘ (Text von Krugs ‚Grund­linien zu einer allgemeinen deutschen Republik …‘, in: Dippel [Fn. 557], S.  114 ff.; dazu Lamprecht [Fn. 558], S. 92 ff.), wenn es hier heißt: „Der Bürger des Staates kann dieser gesetz­gebenden Macht, die ihm als einem freien Wesen zukommt, nicht entsagen, noch sich dem Willen eines anderen unterwerfen, wenn er sich nicht zu einer bloßen Maschine, zu einem Thiere herabwürdigen will…“ (siehe dort: V. [S. 129 f.]). 611 XII. Artikel / 46. Erklärung (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 51 [65]). 612 Zu Krug etwa auch Wesel (Fn. 558), S. 65 f. 613 Siehe dort: IV. (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 114 [126]). 614 Text des „Entwurfs einer republikanischen Verfassungsurkunde, wie sie in Deutschland taugen möchte“, in: Dippel (Fn. 557), S. 177 ff.; dazu Schmidt (Fn. 559), S. 86 sowie Lamprecht (Fn. 558), S. 85 ff. 615 Siehe dort: Dritter Teil / Zweiter Abschnitt / Ziff.  3 Buchst.  g (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 177 [192 f.]). Zu den parallelen Bestimmungen der Französischen Verfassung von 1793 vgl. Maus, Nationalstaatliche Grenzen und das Prinzip der Volkssouveränität, in: Gräser / Lammert / Schreyer (Hrsg.), Festschrift für Puhle, 2001, S. 11 (14); Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: KritV 1998, S. 404 (409); Breer (Fn. 422), S. 64; Frank (Fn. 129), S. 295; Thränhardt, Allgemeines Wahlrecht und Ausschluß von der Wahlberechtigung, in: Davy (Hrsg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, 1999, S. 15 (17). 610

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

einer republikanischen Verfassungsurkunde‘616 das demokratische Bürgerrecht als exklusives Recht abgefasst ist und daher als deutscher Bürger nicht in Betracht kommt, „wer in einem anderen Staate Bürger ist und auf dieses Bürgerrecht nicht Verzicht getan hat“617. Denn diese Ausschließlichkeit ist mit der Exklusivität der Staatsangehörigkeit, auf der das nationalstaatliche Demokratieparadigma aufbaut, schwerlich vergleichbar. Die auf Blut und / oder Boden gründende Staatsangehörigkeit kann vom Individuum in der Regel nicht beeinflusst werden, während das demokratische Bürgerrecht nach seiner frühkonstitutionellen Konzeption an die je individuelle Gesinnung geknüpft ist. Dies zeigt sich etwa darin, dass auch den im Inland Geborenen oder von Inländern Abstammenden aus Gesinnungsgründen das Bürgerrecht entzogen werden kann618. Dass das demokratische Bürgerrecht in den frühkonstitutionellen Verfassungsentwürfen exklusiv ist, hat seinen Grund denn auch just in der Gesinnungsfrage. Angesichts der realen Gegebenheiten seiner Zeit musste der Autor eines revolutionär-republikanischen Verfassungsentwurfs davon ausgehen, dass der eigene Freistaat isoliert sein würde innerhalb einer ansonsten der überkommenen Herrschaftsordnung verpflichteten europäischen Staatenwelt. Schließlich stand auch das verfassungstheoretisch modellbildende revolutionäre Frankreich im ersten Koalitionskrieg allein der Phalanx der europäischen Großmächte gegenüber619. Vor diesem Hintergrund musste das Festhalten an einer alten Staatsbürgerschaft oder der Erwerb einer neuen Staatsbürgerschaft dem Autor eines republikanischen Verfassungsentwurfs als Mangel an Gesinnungstreue erscheinen. Bei ‚Doppelstaatern‘ bestand wegen der historischen Zeitumstände der generelle Verdacht, dass sie Gesinnungen hegen, „die nicht mit den Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit übereinstimmen“620. Die Exklusivität des demokra­ tischen Bürgerrechts in den jakobinischen Verfassungen widerspricht vor diesem Hintergrund nicht dem demokratischen Paradigma der inklusiven ‚Bevölkerungssouveränität‘. Insgesamt belegt der Rekurs auf die jakobinischen Verfassungsentwürfe, was sich bereits bei der Auseinandersetzung mit der Paulskirchenverfassung sowie der Weimarer Reichsverfassung herauskristallisiert hat, nämlich dass das individuumszentrierte Demokratieverständnis durchaus zu jener demokratischen Verfassungstradition rechnet, an das mit dem Grundgesetz auch angeknüpft werden 616

Siehe oben Fn. 614. Siehe dort: Dritter Teil / Zweiter Abschnitt / Ziff. 4 Buchst. g (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 177 [192 f.]). Vgl. dazu die vergleichbare Regelung in der ‚Konstitution für die Stadt Köln‘ (Text der ‚Konstitution‘, in: Dippel [Fn. 557], S. 68 ff.; dazu Lamprecht [Fn. 558], S. 78 ff.) des Advokaten Christian Sommer (zu ihm Wolfrum, Christian Sommer, 1995; auch Wesel [Fn. 558], S. 65 f.), wo es heißt: „Das Bürgerrecht geht verloren … durch Entweichung aus der Stadt, und Ansiedlung in einem andern Lande.“ (siehe dort: Art. 5 Ziff. 1 [S. 70]). 618 Dazu nochmals die ‚republikanische Verfassungsurkunde‘: Dritter Teil / Zweiter Abschnitt / Ziff. 4 Buchst. a und c (vgl. Dippel [Fn. 557], S. 177 [193]). 619 Dazu etwa Möller (Fn. 557), S. 532 ff. 620 Vgl. die ‚republikanische Verfassungsurkunde‘: Dritter Teil / Zweiter Abschnitt / Ziff.  4 Buchst. a (Dippel [Fn. 557], S. 177 [193]). 617

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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soll. Darf Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG folglich nicht allein von dem geschichtlich so wirkmächtigen Erbe der nationalstaatlichen Demokratie her gedeutet werden, so erweist sich die aus der Grundgesetzsystematik gewonnene, entstehungsgeschichtlich bestätigte Interpretation als zutreffend: Volkssouveränität und Volk im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG sind als polyvalent-variable Rechtsbegriffe zu verstehen. In der Konsequenz dieses Begriffsverständnisses liegt die Ausdeutung der in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG niedergelegten Volkssouveränität als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte und begreift sich das Volk im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG als ein typischerweise, aber nicht notwendig nationalstaatlich organisierter Personenverband, der alle Individuen erfasst, die von seinen im Geltungsbereich des Grundgesetzes wirksamen Hoheitsakten vergleichbar nachhaltig betroffen werden, und der diese Individuen dergestalt an der verbandlichen Hoheitsausübung beteiligt, dass ihre Autonomieansprüche als erfüllt angesehen werden können und genau dadurch die vielheitlich bewirkte verbandliche Machtentfaltung auf Dauer als konsolidiert erscheint.

VIII. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in verfassungstheoretischer Perspektive Wie dargelegt, scheint in der Präambel, Art.  1 Abs.  2  GG und dem Schlussartikel ein organizistischer, nationaler und ethnozentrischer Volksbegriff auf621. Die systematische Analyse indes hat ergeben, dass sich allein deswegen eine vom verbandsorientierten Demokratieverständnis abweichende Auslegung von Art. 20 GG nicht verbietet. Bestätigt sieht sich das Ergebnis der systematischen Überlegungen durch die entstehungs- und verfassungsgeschichtliche Interpretation. Es fragt sich jedoch, ob der auf das Deutschtum abstellende Volksbegriff der genannten Vorschriften nicht unter einem anderen, nämlich verfassungstheore­ tischen Gesichtspunkt womöglich doch auf die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm überwirkt und zu einer am verbandsorientierten Demokratieverständnis ansetzenden Auslegung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nötigt.

1. Notwendige Identität von Volk als Träger des pouvoir constituant und als Träger der pouvoirs constitués? Präambel, Art. 1 Abs. 2 und Art. 146 GG, in denen expressis verbis vom Volk der Deutschen die Rede ist, beziehen sich auf das Volk als Träger des pouvoir constituant622. Demgegenüber bezieht sich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in erster Linie auf 621

Siehe oben Kapitel 9 V. 2. a) = S. 602. Vgl. Jestaedt (Fn. 131), S. 209; zur Lehre von der verfassunggebenden Gewalt allgemein Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes (Fn. 87), S. 24 ff. 622

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

das Volk als Träger der pouvoirs constitués623. Allerdings stellt die verfassunggebende Gewalt des Volkes, verfassungshistorisch und -theoretisch betrachtet, eine wesentliche Bedeutungsdimension der in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG normierten Volkssouveränität dar624. Die Relativierung des pouvoir constituant auf das Deutsche Volk könnte es daher nahelegen, die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG primär angesprochene konstituierte Gewalt – trotz des offenen Wortlauts – ebenfalls auf das Deutsche Volk rückzubeziehen625. Eine solche vollständige Identifizierung von Volk als Träger des pouvoir constituant und als Träger des pouvoir constitué626 steht nicht nur in der Traditionslinie der bisherigen Verfassungsgeschichte und -theorie627. Gegen Differenzierungen zwischen dem Volk als verfassungsschöpfender Gewalt und dem Volk als Träger der verfassten Gewalt spricht prima facie auch, dass das Deutsche Volk in diesem Fall de facto die Möglichkeit verlieren könnte, seinen pouvoir constituant in rechtsförmigen Verfahren zu aktivieren. Da solche Verfahren nämlich im Regelfall von den pouvoirs constitués eingeleitet werden und ein personell vom pouvoir constituant verschiedener pouvoir constitué womöglich keinerlei Interesse daran haben könnte, dem pouvoir constituant wieder alleinige Definitionsgewalt einzuräumen, ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass der verfassungsrechtlich verankerte pouvoir constituant des deutschen Volkes faktisch leerliefe, wenn das deutsche Volk nicht auch gleichzeitig als Träger des pouvoir constitué fungierte. Insofern könnte es doch geboten sein, den Volksbegriff der Präambel, des Art. 1 Abs. 1 GG und des Art. 146 GG einerseits und den des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG andererseits einheitlich im Sinne des verbandsorientierten Demokratieverständnisses als Deutsches Volk zu begreifen628. Demgegenüber bleibt jedoch festzuhalten, dass das Volk als Träger des pouvoir constituant und das Volk als Träger der pouvoirs constitués unterschiedliche verfassungsrechtliche Funktionen erfüllen, die in der klassischen Verfassungstheorie auch klar benannt worden sind629. So hat Sieyès trennscharf zwischen den konstituierten Gewalten, deren Macht auf die Geschäfte der Regierung beschränkt sind, und dem auf die Regelung außerordentlicher Umstände beschränkten pouvoir constituant unterschieden630. Vor diesem Hintergrund ist es verfassungstheoretisch jedenfalls nicht schon von vornherein ausgeschlossen, dass der Volksbegriff je nach 623

Siehe nur Sachs (Fn. 142), Rn. 28. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 21 f. 625 In diesem Sinne etwa Murswiek (Fn. 241), Rn. 142; ders., Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes (Fn. 87), S. 36; Isensee (Fn. 137), S. 301; Schink (Fn. 405), S. 420 f.; Papier (Fn. 361), S. 205; auch Bleckmann (Fn. 200), S. 1399 sowie ders. (Fn. 255), S. 438 f. 626 Prototypisch Kirchhof (Fn. 5), Rn. 73. 627 Dazu nur  – wie selbstverständlich  – Stern (Fn.  73), S.  151; siehe auch Böckenförde (Fn. 563), S. 104. 628 In diesem Sinne etwa Hillgruber (Fn. 261), Rn. 19. 629 Auf der im Grundgesetz vorgenommenen terminologischen Unterscheidung zwischen ‚Deutschem Volk‘ als Verfassunggeber und dem ‚Volk‘ als Träger der verfassten Gewalt beharrt auch Breer (Fn. 422), 1982, S. 67. 630 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État (Champion [Hrsg.]), 1888, S. 67 f. (Chapitre V). 624

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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der vom Volk konkret zu erfüllenden Funktion variieren kann. Dass das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt in Verfassungsgeschichte und -lehre regelmäßig mit dem Volk als Träger der verfassten Gewalt identifiziert wurde, könnte auch bloß situativ durch die besondere geschichtliche Realität des geschlossenen Nationalstaats bedingt sein, wie er insbesondere im zentralistischen Frankreich verwirklicht wurde. Der geschlossene Nationalstaat setzt, wie der Sache nach bereits dargelegt631, Staats- und Volkssouveränität in eins und fordert von daher die tatsächlich-materielle und nicht etwa nur theoretisch-formelle Monopolisierung aller Rechtsetzungsgewalt im einheitlichen Nationalstaat und in dem einen Volk. Die Gleichsetzung von Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt und Volk als Träger der verfassungsändernden Gewalt drängt sich unter diesen besonderen Voraussetzungen nachgerade auf. Im Grundgesetz indes hat der Idealtypus des geschlossenen Nationalstaats eine Reihe von Brüchen erfahren632. So bricht bereits die vom Grundgesetz normierte bundesstaatliche Ordnung, nämlich die grundgesetzlich vorausgesetzte Existenz von Bundesstaaten mit eigenständigen Teilvölkern633, mit der für das Modell des geschlossenen Nationalstaats typischen Vorstellung tatsächlich-materieller Monopolisierung aller Rechtsetzungsgewalt bei dem einen Staat und seinem einen Volk634. Hinzu tritt die in der Präambel und den Art. 23 ff. GG zum Ausdruck gelangende „offene Staatlichkeit“635. Diese beinhaltet gleichfalls eine klare Absage an die Konzeption vom geschlossenen Nationalstaat, wonach Recht in tatsächlich-materieller Hinsicht allein vom Staat und seinem einen demos erzeugt werden könne: Die Art. 23 und 24 GG ermöglichen es zwischenstaatlichen Institutionen, Recht zu setzen636. Selbst wenn man deren Rechtsetzungskompetenz – zu Unrecht – dergestalt konstruiert, dass hier – bezogen auf das deutsche Staatsgebiet – dinglich übertragene deutsche Rechtsetzungsgewalt ausgeübt würde637, bleibt es dabei, dass nicht das eine deutsche Volk alleine sie ausübt.

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Siehe oben Kapitel 5 I. 4. a) = S. 187. Dazu Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1999, § 172 Rn. 2 ff. 633 Siehe bereits BVerfGE 1, 14 (50); vgl. ferner Rux (Fn. 65), S. 178. 634 Möllers (Fn. 554), Sp. 1603 weist zutreffend darauf hin, dass unter anderem die föderale Entstehung des deutschen Staates dagegen spreche, Deutschland ohne weiteres dem Typus des Nationalstaats zuzuordnen. 635 Grundlegend hierzu immer noch Vogel (Fn. 106); ferner Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 47 ff., Stoll, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, DVBl. 2007, S. 1064 (1068) sowie v. Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda / Maihofer / Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 4 Rn. 39 ff. 636 Siehe nur Tomuschat (Fn. 632), Rn. 1 ff. 637 Siehe oben Kapitel 8 I. 2. = S. 549. 632

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Wenn somit das Grundgesetz eine Ordnung entwirft, in der die hoheitliche Rechtsetzungsgewalt  – anders als im geschlossenen Nationalstaat  – nicht materiell-tatsächlich bei ein und demselben nationalen Staatvolk verankert zu sein braucht, so nötigt nicht schon das konkrete, historisch gewordene Verfassungsmodell dazu, das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt vollständig mit dem Volk als Träger der verfassten Gewalt zu identifizieren. Eine inhaltlich gleichläufige Konkretisierung des Volksbegriffs der Präambel, des Art 1 Abs. 1 sowie des Art. 146 GG einerseits und dem des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG andererseits wäre somit lediglich dann geboten, wenn es trotz funktionaler Differenz bei verfassungstheoretischer Betrachtung zwingende Gründe dafür gäbe, das Volk als Träger des pouvoir constituant und das Volk als Träger der pouvoirs constitués gleich­ zusetzen.

2. Die drohende Entwertung der verfassungsschöpfenden Gewalt als zwingender Grund für die Identifizierung von Volk als Träger des pouvoir constituant und als Träger der pouvoirs constitués? Als zwingender Grund für die Identifizierung von Volk als Träger des pouvoir constituant einerseits und als Träger der pouvoirs constitués andererseits kommt lediglich die bereits angedeutete Erwägung in Betracht, dass bei einer Differenzierung zwischen diesen beiden Funktionen von Volk im demokratischen Sinn die verfassunggebende Gewalt faktisch ausgehebelt werden könnte. In der Tat ist nicht völlig unwahrscheinlich, dass die pouvoirs constitués auf Dauer die rechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant verhindern, wenn die verfasste Gewalt nicht vom selben Volk getragen wird wie die verfassunggebende Gewalt und das Volk als Träger der verfassten Gewalt im Falle der Verfassunggebung mit einer Majorisierung rechnen muss638. Allerdings widerstreitet diese mögliche Folge eines funktional differenzierten Volksbegriffs nicht der verfassungstheoretischen Lehre vom Volk als pouvoir constituant. Diese besagt nämlich nur, dass der Akt der Verfassunggebung demokratisch legitimiert sein muss und dass die pouvoirs constitués die Grundsatzentscheidungen des Volks als pouvoir constituant wahren müssen. Dass der pouvoir constituant von Verfassungs wegen jederzeit mobilisierbar sein müsste, ergibt sich hieraus nicht. Im Gegenteil: Eine Verfassung ist ihrem telos nach auf Kontinuität ausgerichtet639. Insofern ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass die Verfassung Verfahren zur Aktivierung des pouvoir constituant vorsieht; teleologisch liegt es freilich mindestens ebenso nahe, dass eine Verfassung dem pouvoir constituant die verfassungslegale Betätigung erschwert, um dadurch die Verfassungskontinuität zu wahren640. Vor diesem Hintergrund ist es verfassungstheoretisch ohne Weiteres angängig, wenn durch die Differenzierung vom Volk als 638

In diesem Sinne etwa Birkenheier (Fn. 130), S. 32 f. Siehe nur Stern (Fn. 73), S. 86 f. 640 Zur abgestuften Zeitfestigkeit speziell des Grundgesetzes Kirchhof (Fn. 5), Rn. 78.

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Träger des pouvoir constituant und vom Volk als Träger der pouvoirs constitués im praktischen Ergebnis verhindert wird, dass sich der pouvoir constituant betätigt. Diese verfassungstheoretischen Überlegungen wiegen im vorliegenden Zusammenhang umso schwerer, als sie sich durch das positive Verfassungsrecht bestätigt sehen können. Denn entgegen dem ersten Anschein ist das Grundgesetz dem pouvoir constituant gegenüber reserviert eingestellt. Konkrete Verfahren, im Rahmen derer der pouvoir constituant ausgeübt werden könnte, sieht das Grundgesetz expressis verbis auch in den Art. 145 f. GG nicht vor641. Teilweise wird daher sogar vertreten, dass der pouvoir constituant unter der Herrschaft des Grundgesetzes und im Einklang mit diesem überhaupt nicht aktivierbar wäre642. Auch wenn diese These im Hinblick auf die insoweit klare Regelung des Art.  146  GG und die zweite, sekundäre Bedeutungsschicht des Art. 20 Abs.1 und Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu halten ist643, lässt sich eine tendenzielle Zurückhaltung des Grundgesetzes im Hinblick auf eine neuerliche Betätigung der verfassunggebenden Gewalt gleichwohl nicht leugnen. Eine faktische Beeinträchtigung respektive Behinderung des pouvoir constituant, wie sie mit der Ausdifferenzierung des grundgesetzlichen Volksbegriffs unter Umständen einhergeht, liegt daher durchaus auf der Linie des Grundgesetzes. Dies gilt jedenfalls für die Verfassungslage nach der Wiedervereinigung. Vor 1990 mag das Wiedervereinigungsgebot644 einer Auflösung der traditionellen Identität zwischen Volk als Träger des pouvoir constituant und Volk als Träger der pouvoirs constitués entgegengestanden haben645. Immerhin sollte das Grundgesetz ursprünglich nur eine Übergangszeit bis zur Wiedererlangung der staatlichen und nationalen Einheit regeln646. Die pouvoirs constitués waren diesem Staatsziel von Verfassungs wegen in besonderer Weise verpflichtet647. Das Grundgesetz ging seiner Regelungskonzeption nach davon aus, dass die für die Übergangszeit verfassten Gewalten schon bald wieder abgelöst werden sollten, und zwar durch vom gesamtdeutschen pouvoir constituant ins Leben gerufene gesamtdeutsche pouvoirs constitués648. In dieser besonderen Situation existierte insofern möglicherweise eine besondere verfassungsrechtliche Verpflichtung dafür, die Einheitlichkeit 641 Vgl. Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8.  Aufl. 2006, Art.  146 Rn.  3; Kirn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 4./5. Aufl. 2003, Art. 146 Rn. 14. 642 Dagegen zutreffend Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 146 Rn. 9 ff. 643 Dazu eingehender unten Kapitel 14 = S. 1219. 644 Dazu BVerfGE 36, 1 (17 f.) sowie Murswiek, Was vom Wiedervereinigungsgebot übrig blieb (Fn. 553), S. 58 f. und ders., Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes (Fn. 87), S. 39 ff. 645 In diesem Sinne wohl auch Barley (Fn. 193), S. 29. 646 Zu diesen Zusammenhängen Abendroth, Deutsche Einheit und europäische Integration in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, in: Europa-Archiv 1951, S. 4385 ff. 647 Vgl. nur Kunig (Fn. 267), Rn. 9. 648 Siehe dazu auch Arndt / Reismann, Schriftsatz vom 14. Juni 1953, in: Freiherr v. d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2 / Ergänzungsbd., 1958, S. 182 (202 f.).

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des Trägers der verfassungsschöpfenden Gewalt und des Subjekts der verfassten Gewalt zu wahren649. Das Staatsziel der Wiedervereinigung bedeutete nämlich eine rechtliche Inpflichtnahme der pouvoirs constitués650. Diese sollten von Ver­ fassungs wegen dafür Sorge tragen, dass möglichst rasch die Bedingungen eintreten, unter denen das gesamte deutsche Volk in die Lage versetzt wird, sich in freier Selbstbestimmung kraft seiner verfassunggebenden Gewalt eine Verfassung zu geben651. Die pouvoirs constitués hatten insofern infolge des Wiedervereinigungsgebots eine gegenüber dem pouvoir constituant tendenziell dienende Funktion652. Diese wäre potenziell gefährdet gewesen, wenn auch Nichtdeutsche an den pouvoirs constitués teilgehabt hätten, weil jene womöglich weniger Interesse an einer baldigen Wiedervereinigung gehabt hätten653. In dieser besonderen Situation wäre es daher möglicherweise grundgesetzwidrig gewesen, Nichtdeutschen demokratische Teilhaberechte einzuräumen654. Mit der Vollendung der deutschen Einheit indes wurde diese besondere Verfassungslage beseitigt. Die pouvoirs constitués haben keine derartige dem pouvoir constituant tendenziell dienende Funktion mehr. Die verfasste Gewalt ist nicht mehr von Verfassungs wegen angehalten, auf ein baldiges Tätigwerden des pouvoir constituant hinzuwirken. Damit mangelt es jedenfalls an einem besonderen verfassungsrechtlichen Grund, der dazu zwänge, die Träger verfassungsschöpfender und verfasster Gewalt vollends in eins zu setzen655.

3. Rechtfertigende Gründe für eine Dissoziierung des Volks als Träger des pouvoir constituant vom Volk als Träger der pouvoirs constitués Die für das Grundgesetz verifizierten verfassungstheoretischen Überlegungen haben ergeben, dass eine Differenzierung zwischen Volk als Träger des pouvoir constituant und Volk als Träger der pouvoir constitués durchaus statthaft ist. Für diese Sichtweise spricht nicht zuletzt ein teleologischer Gesichtspunkt. Es kann 649

Birkenheier (Fn. 130), S. 33. Dazu auch Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: Bender u. a. (Hrsg.), Festschrift für Redeker, 1993, S. 131 (135 f.). 651 Vgl. nur BVerfGE 5, 85 (127 f.). 652 Dazu auch v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 146 Rn. 7. 653 Dies mag man Isensee (Fn. 130), S. 721 f. sowie ders. (Fn. 247), S. 19 f. konzedieren. 654 Dagegen freilich mit beachtlichen Argumenten Bryde (Fn. 231), S. 261 ff. 655 Dass mit der Wiedervereinigung die zuvor möglicherweise rechtlich indizierte Beschränkung von Demokratie auf Volk und Nation aufgehoben wurde, spiegelt im Übrigen auch die insofern überaus illustrative Änderung in Art. 23 GG wider: Der neue Europaartikel 23 GG ersetzt die Norm, die ehedem einen von zwei grundgesetzkonformen Wegen zur deutschen Einheit wies, und zwar den letztlich tatsächlich beschrittenen. Damit wird augenfällig, dass mit der Wiedervereinigung die Hürden, die weitgehenden Formen postnationaler Integration bis dato im Wege standen, endgültig beseitigt worden sind. 650

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sich nämlich mitunter als durchaus sinnvoll und zweckmäßig erweisen, das Volk als Träger des pouvoir constituant vom Volk als Träger der pouvoirs constitués zu dissoziieren656. Denn schließlich entscheidet die verfassungsschöpfende Gewalt mit der Verfassunggebung darüber, um welche wesentlichen Normen und Werte sich ein Gemeinwesen über mehrere Generationen hinweg657 organisieren soll658; demgegenüber bestimmen die pouvoirs constitués das politische Alltagsgeschehen659. Vor diesem Hintergrund ist es angängig, die Teilhabe am pouvoir constituant an engere Voraussetzungen zu koppeln als die Partizipation an den pouvoirs constitués660. Immerhin soll eine Verfassung zumindest ihrem regelmäßigen Geltungsanspruch nach mehr als eine Generation überdauern und steht insofern in einem die einzelnen Herrschaftsunterworfenen übersteigenden historischen und kulturellen Zusammenhang. Demnach scheint es gerechtfertigt zu sein, die verfassungsschöpfende Gewalt demjenigen gewachsenen Kollektiv zu überantworten, das aufgrund seines kulturellen und historischen Erbes eine nationale Gemeinschaft bildet und deswegen in besonderem Maße dazu berechtigt erscheint, die womöglich schicksalhafte Entscheidung der Verfassunggebung zu treffen. Geht es hingegen im Rahmen der verfassten politischen Ordnung um die Bewältigung politischer Alltagsarbeit, um das immer auch aus der Gebietsgesellschaft herrührende plébiscite de tous les jours, ist nicht ohne Weiteres einzusehen, weshalb hieran nicht auch die Menschen teilhaben sollen, die keine derart enge, nationalitätsvermittelte Be­ ziehung zu dem betreffenden Verfassungsstaat haben661. Insofern kann sich eine Differenzierung zwischen Volk als Träger des pouvoir constituant und Volk als Träger der pouvoirs constitués als zweckrichtig und sinnvoll darstellen662. Für den Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, der sowohl das Volk als Träger des pouvoir constituant als auch das Volk als Träger der pouvoirs constitués erfasst, lässt sich in dieser verfassungstheoretisch informierten Perspektive nur der nun schon mehrfach gezogene Schluss ziehen, nämlich dass er als polyvalentvariabler zu begreifen ist.

656 Zur differenzierenden Konkretisierung des demos-Begriffs auch Müller, Wer ist das Volk, 1997, S. 60. 657 Zu dem sich aus Sicht demokratischer Verfassungstheorie stellenden Problem, inwieweit die Generation des Verfassunggebers künftige Generationen binden kann, vgl. Murswiek (Fn. 106), S. 217 ff. 658 Zur Funktion der Verfassung, einem Gemeinwesen überpersonale Kontinuität und dadurch Stabilität zu verleihen, Hesse (Fn. 347), Rn. 31. 659 Zu diesem können freilich auch Verfassungsänderungen gehören, und zwar in dem vom Verfassunggeber zugelassenen Umfang. Die verfassungsändernde Gewalt gehört als pouvoir constituant constitué zu den pouvoirs constitués, nicht zum pouvoir constituant (vgl. auch Bryde [Fn. 75], S. 246 f.). 660 Im Ergebnis gleich Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 493. 661 Dazu auch Maus (Fn. 615), S. 14. 662 Anderer Ansicht Jestaedt (Fn. 131), S. 209.

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IX. Der Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in der Perspektive der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik Recht ist immer auch das, was die Rechtsdogmatik aus ihm macht663. Bei der Konkretisierung einer Verfassungsnorm können die bisherigen dogmatischen Bemühungen daher nicht außer Acht gelassen werden. Im Fall grundgesetzlicher Normen gilt dies in besonderem Maße für die bundesverfassungsgerichtliche Dogmatik, da dem BVerfG nach der vom Grundgesetz etablierten Funktionenordnung in der Rechtspraxis eine herausragende Bedeutung für die Verfassungskonkretisierung zukommt664. Allerdings stellt sich nach der hier zugrundegelegten normwissenschaftlichen Methode auch die Dogmatik des BVerfG lediglich als – zudem nachrangiges – Interpretationselement dar665. Entscheidungen des BVerfG binden die am Rechtsstreit Beteiligten666 sowie überdies alle Staatsorgane667, mitunter sogar private Dritte668, nicht aber die normwissenschaftliche Verfassungskonkretisierung669. Die Bedeutung der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik für die normwissenschaftliche Verfassungskonkretisierung erwächst namentlich aus ihrer inneren Konsequenz und Stringenz. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Rechtsprechung des BVerfG zu der hier interessierenden Frage nach dem Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG670, so erweist sie sich bei näherer Analyse als deutlich ambivalenter, als dies vielfach unterstellt wird. Eine vertiefende Aus­ einandersetzung mit der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik erscheint daher geboten, da die Konsistenz der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik mit darüber entscheidet, wie stark sie im Rahmen der Normkonkretisierung zu gewichten ist. 663

Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rn. 325. Zur „Interpretationsmacht“ des BVerfG nuanciert Voßkuhle, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 93 Rn. 33. 665 Siehe oben Einleitung II. = S. 72. 666 Hierzu und zum Folgenden Meyer, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 4./5. Aufl. 2003, Art. 94 Rn. 16 ff. 667 § 31 Abs. 1 BVerfGG. 668 § 31 Abs. 2 BVerfGG. 669 Dies ist auch durchaus zweckmäßig. Denn das BVerfG selbst wird – jenseits der Rechtskraft – durch seine Entscheidungen nicht gebunden (allgemein zur – im Ergebnis abzulehnenden – Bindung der obersten Gerichte an ihre eigene Rechtsprechung siehe Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 139 ff.). Die insofern denkbare Abkehr des BVerfG von seiner eigenen Rechtsprechung lässt es daher als sinnvoll erscheinen, sich auch dort weiterhin um eine methodisch und inhaltlich zutreffende Verfassungskonkretisierung zu bemühen, wo das BVerfG bereits gesprochen hat. Oder wie Abendroth (Fn. 538), S. 257 es mit der ihm eigenen Schärfe formuliert: „Über die Anerkennung der Rechtskraft der Entscheidung im Einzelfall hinaus kann die jeweilig herrschende Ideologie der Verfassungsrichter die Interpretation des Grundgesetzes nicht binden.“ 670 Allgemein zur Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie vgl. den knappen Überblick bei Bull, Hierarchie als Verfassungsgebot?, in: Greven / Münkler / SchmalzBruns (Hrsg.), Festschrift für Bermbach, 1998, S. 241 (243 ff.). 664

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1. Die Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht In den Urteilen zum kommunalen Ausländerwahlrecht671 hat das BVerfG seine dezidiert holistisch-nationalstaatliche Sicht der demokratiezentralen Volkssouve­ ränität, mithin also seine Verbundenheit mit dem hier sogenannten verbands­ orientierten Demokratieverständnis erstmals in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht672. So entwickelt das BVerfG in der Entscheidung zum kommunalen Ausländerwahlrecht des Landes Schleswig-Holstein673 im Zuge einer vorrangig systematischen Interpretation aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG674, dass nur die umfassende Herrschaft des deutschen Volkes, das nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen gemäß Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen gebildet wird, als verfassungsmäßiger Ausdruck der grundgesetzlichen Volkssouveränität gewertet werden kann675. Vor diesem dogmatischen Hintergrund erklärt das BVerfG das schleswig-holsteinische Gesetz, durch das einzelnen nationalen Gruppen von Ausländern das kommunale Wahlrecht eingeräumt werden sollte, wegen Verstoßes gegen Art.  28 Abs.  1 Satz  2  GG für verfassungswidrig. Den Verstoß gegen Art.  28 Abs.  1 Satz  2  GG erblickt das BVerfG dabei in dem Umstand, dass der in dieser Bestimmung verwandte Volksbegriff der grammatischen, systematischen, teleologischen und rechtsgeschichtlichen Interpretation zufolge mit dem vorstehend normierten Volksbegriff des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG identisch sei und es dem Landesgesetzgeber füglich nicht anheimgestellt werden könne, durch Änderungen des Kommunalwahlrechts das Wahlrecht sowie die Wählbarkeit von Ausländern festzuschreiben676. Gleichzeitig lässt das BVerfG allerdings am Ende seiner Entscheidung in einem obiter dictum  – gänzlich unvermittelt und ohne jede Begründung677  – durchblicken, dass aus seiner Entscheidung keineswegs der Schluss zu ziehen sei, dass das zum Zeitpunkt der Entscheidung auf Gemeinschaftsebene bereits erörterte und mittlerweile verwirklichte kommunale Ausländerwahlrecht speziell für EU-Bürger678 Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein könne679.

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Eingehend dazu etwa Wallrabenstein (Fn. 250), S. 103 ff. So auch Delbrück (Fn. 208), S. 781; im Einzelnen Marko (Fn. 570), S. 223 ff. 673 BVerfGE 83, 37 ff. 674 Kritisch gegenüber diesem interpretatorischen Ansatz Seibert, Kommunales Wahlrecht für Ausländer grundgesetzwidrig?, in: Däubler-Gmelin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Mahrenholz, 1994, S. 657 ff. 675 Zustimmend beispielsweise Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, in: JZ 1993, S. 594 (598). 676 BVerfGE 83, 37 (53 ff.). 677 So ausdrücklich Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: StWiss 1995, S. 155 (168). 678 Vgl. Art.  19  EGV und Art.  28 Abs.  1 und Art.  28 Abs.  1 Satz  3  GG (dazu eingehend ­Barley, [Fn. 193]). 679 BVerfGE 83, 37 (59). In diesem Sinne auch schon Papier (Fn. 412), S. 314. 672

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Diese Argumentation ist in der Literatur als dogmatisch unklar680, überraschend681, ja völlig unlogisch682 gebrandmarkt worden683. In der Tat erscheint es bereits auf den ersten Blick als widersprüchlich, dass der durch Art. 79 Abs. 3 GG jeder Veränderung entzogene Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine strikt nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur normieren, diese über Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG auch auf die Kommunalverfassungen ausstrahlen und dennoch ein durch Verfassungsänderung ermöglichtes Kommunalwahlrecht für bestimmte Nichtdeutsche grundgesetzkonform sein soll684. Allerdings ist, wie bereits erwähnt685, verschiedentlich der Versuch unternommen worden, diesen augenscheinlichen dogmatischen Widerspruch aufzulösen, ohne das vom BVerfG ganz offensichtlich vertretene verbandsorientierte Demokratieverständnis in Frage stellen zu müssen686. So ist die Verfassungsmäßigkeit eines kommunalen Ausländerwahlrechts bisweilen vom Interpretationsprinzip praktischer Konkordanz her entwickelt worden687. Geht man mit guten Gründen davon aus, dass ein durch EU-Recht veranlasstes kommunales Ausländerwahlrecht zumindest der EU-Bürger dem seit Anfang an im Grundgesetz fixierten Bekenntnis zu einem vereinten Europa Rechnung trägt, so könnte das Interpretationsprinzip praktischer Konkordanz womöglich entsprechende Modifikationen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG rechtfertigen688. Denn ohne eine solche Modifikation würde die demokratiezentrale Volkssouveränität einseitig dem Staatsziel eines vereinten Europas Schranken setzen, der erstrebenswerte optimale Ausgleich zwischen den konfligierenden Verfassungsgütern würde verfehlt. Freilich setzt diese Sichtweise voraus, dass die in Art. 79 Abs. 3 GG unter Bestandsschutz gestellten Grundsätze wie der des Art. 20 Abs. 2 Satz  1  GG modifizierbar sind689. Weshalb dies zu verneinen, wurde an früherer Stelle bereits ausführlich dargetan690. Eine praktische Konkordanz unterhalb der Schwelle des Art.  79 Abs.  3  GG, durch die der an sich im Sinne des ver 680

Vgl. dazu etwa v. Simson / Schwarze (Fn. 635), Rn. 99. Beaud (Fn. 256), S. 418. 682 Vgl. Hofmann (Fn. 677), S. 168: „Hat Recht allgemein wenig mit Logik zu tun, so kann Richterrecht ihr offenbar völlig entraten.“ 683 Dazu auch – süffisant – Meyer (Fn. 138), Rn. 9. Ferner Autexier, Le traité de Maastricht et l’ordre constitutionnel allemand, in: RFDC 1992, S. 625 (627) sowie Schunda (Fn. 473), S. 121. 684 In diese Richtung, wenngleich zurückhaltender in der Formulierung, auch Hobe, Das Staatsvolk nach dem Grundgesetz, in: JZ 1994, S. 191 (193). 685 Siehe oben Kapitel 9 V. 4. b) = S. 632. 686 In diese Richtung etwa Vogelsang, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 28 Rn. 61 ff.; auch Schönberger (Fn. 426), S. 450 ff. 687 In diesem Sinn beispielsweise Huber (Fn. 6), Rn. 49; ders. (Fn. 10), S. 24 f.; vgl. hierzu auch Autexier (Fn. 683), S. 638. 688 In diese Richtung etwa Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S.  157 f.; auch Niedermeyer-Krauß, Kommunalwahlrecht für Ausländer und Erleichterung der Einbürgerung, 1989, S. 136 ff. 689 So etwa auch Schunda (Fn. 473), S. 136 f. 690 Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571. 681

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bandsorientierten Demokratieverständnisses zu begreifende Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in Hinblick auf das Staatsziel eines vereinten Europas partiell abgeändert werden dürfte, erweist sich insofern als verfassungsrechtsdogmatisch wenig überzeugend. Des Weiteren wäre zu überlegen, ob sich der Widerspruch zwischen dem nach Ansicht des BVerfG strikt nationalstaatlichen Prinzip der Volkssouveränität und dem seines Erachtens durch Verfassungsänderung gleichwohl einführbaren Kommunalwahlrecht für Ausländer nicht dergestalt auflösen lässt, dass man den veränderbaren Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG als sedes materiae begreift und die zu klärende Problematik dadurch aus dem Bannkreis des Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG herausverlagert. Für ein solches Verständnis der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Ausländerwahlrecht hat im Nachhinein der in dieser Sache als Berichterstatter fungierende Verfassungsrichter plädiert691. Und in der Tat begründet das BVerfG seine Entscheidung gegen ein kommunales Ausländerwahlrecht damit, dass ‚Volk‘ in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG dieselbe Bedeutung habe wie in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Verdikt des BVerfG basiert mithin auf der Konkretisierung speziell des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, nicht auf einer prinzipiellen Argumentation aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Vor diesem dogmatischen Hintergrund könnte das BVerfG dem Vorwurf des Selbstwiderspruchs entgehen, wenn eine Verfassungsänderung denkbar wäre, durch welche lediglich diejenigen Regelungszusammenhänge verändert werden, die die in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehene bürgerschaftliche Parti­zipation im Sinne nationalstaatlicher Demokratie konturieren. Demgegenüber dürfte diese Verfassungsänderung die in Art.  20 Abs.  2 Satz  1 normierte Volks­ souveränität, die nach Auffassung des BVerfG im Sinne des verbandsorientierten Demokratieverständnisses zu begreifen ist, nicht berühren. Eine personelle Erweiterung der ehedem auf deutsche Staatsangehörige beschränkten Gemeinde- beziehungsweise Kreisvölker wäre in Hinblick auf eine nationaldemokratisch ausgedeutete Volkssouveränität dann von vornherein unproblematisch, wenn die Kommunen keine Staatsgewalt ausübten692. De consti­ tutione lata freilich hat das BVerfG einer Zuordnung der Kommunen zur gesellschaftlichen Sphäre stets widersprochen693. Doch selbst wenn die kommunale Selbstverwaltung durch Verfassungsänderung wieder ‚vergesellschaftet‘ werden könnte694 und ein durch Verfassungsänderung eingeführtes kommunales Auslän 691

Böckenförde (Fn. 167), Rn. 27 mit Fn. 51. Dagegen etwa v. Komorowski (Fn. 471) und Frank, Ausländerwahlrecht und Rechtsstellung der Kommune, in: KJ 1990, S. 290 (300). Auch Bleckmann (Fn. 255), S. 440 hält diese Vorstellung für nachgerade „grotesk“. 693 BVerfGE 38, 258 (270); 47, 253 (272). Dazu eingehend Beaud (Fn. 256), S. 419 f.; auch Papier (Fn.  412), S.  312, Isensee (Fn.  247), S.  33 f. sowie Niedermeyer-Krauß (Fn.  688), S. 26 ff. und 128. 694 Für eine Abkoppelbarkeit des Gemeindevolks von Staat-demos offensichtlich Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1982, S. 50. 692

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derwahlrecht dies bewirken würde, bliebe es dabei, dass die Gemeinden im Bereich der Auftragsangelegenheiten695 mit Staatsgewalt ‚beliehen‘ wären. Insofern würde sich weiterhin das Problem stellen, inwiefern zumindest die in diesem Bereich ausgeübte kommunale Entscheidungsmacht den Legitimationsanforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung trägt. Um seine obiter dictu aufgestellte These stimmig zu begründen, der zufolge ein kommunales Ausländerwahlrecht für Unionsbürger durch Verfassungsänderung eingeführt werden darf, muss das BVerfG somit zwei Prämissen dogmatisch konsistent verarbeiten können: erstens, dass Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur zu verstehen ist; zweitens, dass die Kommunen immer auch Staatsgewalt ausüben. Nur wenn eine verfassungsrechtliche Verankerung des Kommunalwahlrechts für EG-Ausländer denkbar ist, die diesen beiden Prämissen Rechnung trägt, fügt sich das obiter dictum in die übrige Entscheidung ein und ist das nationalstaatliche Demokratieparadigma des BVerfG dogmatisch konzise. Gleichsam ex negativo lässt sich in Hinblick auf die formulierten Prämissen konstatieren, dass das Wahlrecht von Gemeinde- und Kreiseinwohnern ohne deutsche Staatsangehörigkeit jedenfalls dann auszuschließen wäre, wenn den kommunalen Entscheidungsakten, mit denen Staatsgewalt ausgeübt wird, ihre demokratische Legitimität im Sinne des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG allein oder auch nur wesentlich aus der bürgerschaftlichen Legitimation zuwüchse. Wären die kommunalen Volksvertretungen der exklusive beziehungsweise essentielle Quell demokratischer Legitimation auf Kommunalebene, so müssten dem nationalstaatlich-verbandsorientierten Demokratieverständnis des BVerfG zufolge auch die Gemeinde- und Kreisräte ausschließlich vom deutschen Volk bestellt werden696. Positiv ergibt sich somit aus den genannten Prämissen, dass nach der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik eine Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer nur dann möglich wäre, wenn auch unabhängig von der gemeinde- und kreisbürgerschaftlichen Partizipation, die unter diesen Bedingungen nach Auf­fassung des BVerfG keine demokratische Legitimation bewirken kann, für den einzelnen von der Kommunalverwaltung ausgeübten Akt der Staatsgewalt eine ausreichende nationaldemokratische Legitimation gewährleistet bliebe697. Nun werden die Kommunen selbst in reinen Selbstverwaltungsangelegenheiten im Rahmen parlamentsbeschlossener Landes- und Bundesgesetze tätig und wachen (mittelbar) volksberufene Amtsträger vermöge der Rechtsaufsicht über deren Einhaltung698. Auch ohne Rücksicht auf die Partizipation des Gemeinde- bezie 695

Dazu nur BVerfGE 78, 344 (348). Insofern konsequent Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, in: DÖV 1988, S. 437 (442). 697 In diese Richtung etwa Sommermann (Fn. 145), Rn. 153 und 155. 698 Vgl. etwa Seibert (Fn. 674), S. 666 und Breer (Fn. 422), S. 110. 696

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hungsweise Kreisvolks sind insofern sogar die eigenverantwortlich getätigten Entscheidungsakte der Kommunen bis zu einem bestimmten Grade demokratisch vom Staatsvolk her legitimiert. Allerdings fehlt es jedenfalls an der vom nationalen demos herrührenden personellen demokratischen Legitimation kommunaler Entscheidungsakte699. Ob eine solche verzichtbar ist, wird in der Entscheidung zum kommunalen Ausländerwahlrecht des Landes Schleswig-Holstein ebenso wenig beantwortet wie die Frage, ob womöglich eine kompensatorische Rechtfertigung der nationaldemokratischen Defizite durch die nach Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts zwar nationaldemokratisch irrelevante, aber zumindest doch ähnlich konturierte ‚mitgliedschaftlich-partizipatorische‘ Mitwirkung der kommunalen Volksvertretungen in Betracht kommt. Würde man diese Fragen mangels entgegengesetzter Hinweise im Entscheidungstext bejahen, so wäre trotz prin­ zipiell nationalstaatlichen Demokratieverständnisses durch eine Veränderung des Art.  28 Abs.  1 Satz  2  GG erreichbar, dass auch Nichtdeutsche bei Kommunal­ wahlen wahlberechtigt und wählbar sind. Unter diesen Voraussetzungen wäre das Urteil des BVerfG zum kommunalen Ausländerwahlrecht einschließlich seines obiter dictum schlüssig. Allerdings darf dieses Urteil nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss in Zusammenhang mit der am selben Tag von denselben Richtern getroffenen Entscheidung zum Ausländerwahlrecht bei den Hamburger Bezirksbeiratswahlen gelesen werden700. Diese Entscheidung erging zwar für den Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung. Da aber de constitutione lata auch die Kommunen Staatsgewalt ausüben und dies  – bezogen auf die Auftragsangelegenheiten  – auch de constitutione ferenda im Fall einer Vergesellschaftung der Selbstverwaltungsaufgaben der Fall wäre, sind die dort getroffenen Feststellungen auf die Problematik des kommunalen Ausländerwahlrechts übertragbar. Diese Entscheidung belässt es nun nicht bei der Aussage, dass Wahlen, bei denen Ausländer wahlberechtigt sind, keine demokratische Legitimation im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG vermitteln können. Darüber hinaus betont das BVerfG, dass Akte der Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur materiell vom deutschen Volk her legitimiert, sondern grundsätzlich auch personell an das deutsche Volk rückgekoppelt sein müssten. Ausnahmen hiervon seien allenfalls dann denkbar, wenn die Zuständigkeit eines personell nicht legitimierten Entscheidungsträgers auf einen eng begrenzten wenig bedeutsamen Bereich gerichtet sei und außerdem einem umfassenden Evokations- oder Letztentscheidungsrecht eines übergeordneten Organs unterliege701. Der Aufgabenbereich der Kommunen indes ist gerade nicht eng begrenzt und nebensächlich. Dies gilt auch dann, wenn man 699 Vom nationalen Staatsvolk her wächst den betreffenden Entscheidungsakten lediglich materiell-direktive und materiell-kontrollative Legitimation zu  – siehe auch Sommermann (Fn. 145), Rn. 155. 700 Zur Schlüsselstellung dieser Entscheidung für die Ausbildung der Demokratiekonzeption des 2. Senats des BVerfG siehe Bryde (Fn. 209), S. 316 f. 701 BVerfGE 83, 60 (74).

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allein die Auftragsangelegenheiten in den Blick nimmt, die als Bereich hoheit­ licher Betätigung übrig blieben, wenn die reinen Selbstverwaltungsangelegenheiten qua Verfassungsänderung dem gesellschaftlichen Bereich zugeschlagen würden702. Auf die zweite Voraussetzung, die an Ausnahmen vom Gebot personeller nationaldemokratischer Legitimation zu stellen ist, kommt es insofern gar nicht mehr an. Aus dem Urteil des BVerfG zur Beteiligung von Ausländern an den Hamburger Bezirksbeiratswahlen erschließt sich insofern, dass die Karlsruher Richter jedenfalls für die in Auftragsangelegenheiten ergehenden Entscheidungsakte der Kommunen wegen des veränderungsfesten Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG eine personelle Rückbindung an das Staatsvolk fordern. Damit zeigt sich, dass das kommunale Ausländerwahlrecht nach der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik eben doch kein Problem allein des Art. 28 GG, sondern durchaus in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verortet ist. Das BVerfG bleibt damit aber auch eine Antwort auf die Frage schuldig, wie angesichts des von ihm vertretenen strikt verbandsorientierten Demokratieverständnisses ein kommunales Ausländerwahlrecht durch Grundgesetzänderung einführbar sein soll, ohne dass der demokratiezentrale Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG tangiert wird. Die genauere Analyse bestätigt den prima facie gewonnenen Eindruck, dass die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum kommunalen Ausländerwahlrecht letztlich an dogmatischen Widersprüchlichkeiten leidet. Würde das BVerfG sein eigenes strikt verbandsorientiertes Demokratieverständnis ernst nehmen, müsste es das mittlerweile ins Grundgesetz eingefügte kommunale Ausländerwahlrecht für EU-Bürger eigentlich für verfassungswidrig erklären703. Denn infolgedessen werden tagtäglich staatliche Hoheitsentscheidungen getroffen, die nach dem dogmatischen Grundverständnis des BVerfG einer hinreichenden demokratischen Legitimation im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG entbehren. Der einzige Ausweg, der dem BVerfG zur dogmatischen Begründung eines Nebeneinanders von strikt verbandsorientiertem Demokratieverständnis und kommunalem Ausländerwahlrecht zu bleiben scheint, ist die bereits mehrfach erwähnte Konstruktion, dass die Beteiligung speziell von EU-Bürgern an Kommunalwahlen als unterhalb der Schwelle der Ewigkeitsklausel angesiedelte und durch die Europa­offenheit des Grundgesetzes gerechtfertigte Modifikation von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG zu begreifen sei704. Allerdings erweist sich auch dieser vermeintliche Ausweg bei Lichte betrachtet als dogmatische Sackgasse, weil Art. 79 Abs. 3 GG die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Volkssouveränität vollumfänglich unter Schutz stellt. Der Versuch des BVerfG, sein strikt verbandsorientiertes Demokratieverständnis mit den unabwendbaren integrations­ 702 Vgl. dazu Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art.  28 Rn.  52 mit Fn. 217. 703 Vgl. in diesem Sinne auch Hain (Fn. 72), S. 329. 704 So auch Huber (Fn. 6), § 4 Rn. 49 f.

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politischen Erfordernissen in Einklang zu bringen, hat in seiner Rechtsprechung zum kommunalen Ausländerwahlrecht zu einer in sich unstimmigen Dogmatik geführt705.

2. Das Maastricht-Urteil Auch im Maastricht-Urteil hat es das BVerfG nicht vermocht, die Spannung zwischen seinem im Kern verbandsorientierten Demokratieverständnis und den Herausforderungen des europäischen Einigungsprozesses dogmatisch adäquat zu bewältigen. Vielmehr erweist sich das Maastricht-Urteil als dogmatisch am­ bivalent706. Denn es erweckt zunächst den Eindruck, als ob das Grundgesetz Demokratie auch in Ansehung der europäischen Legitimationszusammenhänge als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur begreift. Allerdings schiebt sich alsbald ein zweites, gegenläufiges Demokratieverständnis neben das verbands­ orientierte. Wie beide Demokratiekonzeptionen dogmatisch koexistieren können sollen, ist nicht ersichtlich. Den demokratierechtlichen Ausgangspunkt der Maastricht-Entscheidung bildet Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG707. Den veränderungsfesten Kern der demokratiezentralen Volkssouveränität bestimmt das BVerfG im Sinne des verbandsorientierten Ansatzes als umfassende Rückkoppelung der Staatsgewalt an das Staatsvolk708. Für die demokratische Legitimation überstaatlicher Hoheitsgewalt leitet das BVerfG hieraus ab, dass auch diese zwingend vom Volk auszugehen hat. Da es das BVerfG im Maastricht-Urteil ganz bewusst vermeidet, die Unionsbürgerschaft als europäisches Volk anzusprechen, liegt der Schluss nahe, dass mit dem die überstaatlichen Legitimationszusammenhänge tragenden Volk nur die je einzelnen Staatsvölker oder allenfalls noch ein auf ab­ sehbare Zeit kaum zu erwartendes europäisches Staatsvolk gemeint sein können. Dafür, dass das BVerfG die in Art.  79 Abs.  3  GG in Verbindung mit Art.  20 Abs. 1 und 2 GG veränderungsfest verbürgte Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur konkretisiert, spricht des Weiteren, dass diese nur dann verfangen soll, wenn ein bestimmtes Mindestmaß staatlicher Machtfülle vorhanden ist. Demokratische Volkswerdung sei nur möglich, wenn dem Staat hinreichend bedeutsame eigene Aufgabenfelder verbleiben709. Nun ist freilich zum einen zu berücksichtigen, dass das BVerfG dem Euro­ päischen Parlament bereits gegenwärtig eine stützende, in Zukunft freilich noch 705 Dazu Rinken, Demokratie als Organisationsform der Bürgergesellschaft, in: Bovenschulte (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 2001, 223 (228). 706 Hierzu und zum Folgenden auch schon eingehend oben Kapitel 1 I. 4. = S. 96. 707 BVerfGE 89, 155 (182). 708 Ebd. 709 BVerfGE 89, 155 (186).

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

bedeutsamer werdende Funktion für die demokratische Rückbindung von europäischen Hoheitsakten zuerkennt710. Zwar widerstreitet dies nicht notwendig dem verbandsorientierten Demokratieverständnis. Denn schließlich spricht das BVerfG das Europäische Parlament als Repräsentation der Staatsvölker an711, was durchaus auf der Linie seiner ansonsten vertretenen staatsvolkzentrierten Demokratiekonzeption liegt. Allerdings ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das BVerfG das Europäische Parlament im Weiteren nicht mehr nur als Organ der Staatsvölker, sondern auch als das der Unionsbürger beziehungsweise der Bürger der Mitgliedstaaten anspricht712. Insofern erweckt das BVerfG den Anschein, als ob eben gerade nicht nur die einzelnen Staatsvölker als demokratisches Legitimationssubjekt in Betracht kommen, sondern auch andere Personenmehrheiten. In dieser Perspektive scheint in Hinblick auf die EU-spezifischen Legitimationszusammenhänge das verbandsorientierte durch das individuumszentrierte Demokratieverständnis verdrängt zu sein. Zum anderen fällt auf, dass die dem verbandsorientierten Demokratieverständnis entsprechende Auffassung, wonach die demokratiezentrale Volkssouveränität nur im Kontext eines hinreichend mächtigen Staates verfangen kann, im Maastricht-Urteil unter einem ausdrücklichen Vorbehalt steht. Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht müssen dem Bundestag laut Entscheidungstext nur deshalb verbleiben, weil gegenwärtig noch primär die Staatsvölker über die nationalen Parlamente der Gemeinschaftsgewalt die demokratische Legitimation vermittelten und deswegen der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt seien713. Zwar ließe sich auch dieser Vorbehalt noch mit dem Verständnis von Demokratie als nationaldemokratischer Staatsherrschaftsstruktur in Einklang bringen. Schließlich könnte man den Vorbehalt dahingehend auslegen, dass es (erst) dann auf nationaler Ebene keiner staatlichen Substanz mehr bedürfe, wenn die EU zum Staat mit eigenem Unionsvolk geworden ist, das seinerseits „Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt“714 ist. Allerdings liegt es in Hinblick auf den Urteilstext eher fern, den Vorbehalt in diesem, das verbandsorientierte Demokratieverständnis wahrenden Sinn zu verstehen. Der Urteilstext spricht viel 710

BVerfGE 89, 155 (184 f.). BVerfGE 89, 155 (184): „Indessen wächst mit dem Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft die Notwendigkeit, zu der über die nationalen Parlamente vermittelten demokratischen Legitimation und Einflußnahme eine Repräsentation der Staatsvölker durch ein europäisches Parlament hinzutreten zu lassen, von der ergänzend eine demokratische Ab­ stützung der Politik der Europäischen Union ausgeht.“ (Hervorh. AvK) 712 BVerfGE 89, 155 (184 f.): Dort ist zunächst noch von der „Repräsentation der Staats­ völker“ die Rede; unmittelbar danach heißt es dann freilich, dass „die von den Unionsbürgern ausgehende Einflußnahme (…) in dem Maße in eine demokratische Legitimation der euro­ päischen Institutionen einmünden“ könne, „in dem bei den Völkern der Europäischen Union die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.“ 713 BVerfGE 89, 155 (186). 714 Ebd. 711

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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mehr dafür, dass der Vorbehalt bereits dann zurückgedrängt wird, wenn der von der noch nicht zum Staatsvolk erstarkten Unionsbürgerschaft ausgehenden und über das Europäische Parlament vermittelten demokratischen Legitimation deshalb ein größeres Gewicht beigemessen werden kann, weil dieser Legitimationsstrang nach der institutionell-organisatorischen Seite sowie in Hinblick auf seine soziale Infrastruktur entsprechend gestärkt worden ist. In dieser Perspektive freilich ist der demokratische Volksbegriff gerade nicht auf das Vorhandensein von Staatlichkeit rückverwiesen, sondern hängt stattdessen im Sinne des individuumszentrierten Demokratieverständnisses davon ab, dass ein die Partizipation der herrschaftsunterworfenen Unionsbürger operationalisierendes, sozial tragfähiges Verfahrensarrangement vorhanden ist. Nach allem zeigt sich am Maastricht-Urteil, wie schwer es dem BVerfG fällt, sein verbandsorientiertes Demokratieverständnis auch in Hinblick auf die EU durchzuhalten. Denn entwirft Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2  GG Volkssouveränität veränderungsfest als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, lässt sich schwerlich erklären, wie die europäische Hoheits­ gewalt aus Sicht des Grundgesetzes an andere Legitimationssubjekte demokratisch rückgekoppelt werden könnte als an die nationalen Staatsvölker oder allenfalls noch an ein europäisches Staatsvolk und wie die europäische Demokratie anders generiert werden könnte als aus genuin staatlichen Zusammenhängen heraus. Dies gilt selbst dann, wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung davon ausgeht, dass die Ewigkeitsklausel die Verbürgungen des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG nicht vollumfänglich, sondern nur grundsätzlich und modifizierbar in Bezug nimmt. Denn der Staatsvolks- beziehungsweise Staatsbezug der Demokratie erweist sich in dieser Blickrichtung als ein Grundsatz des Demokratieprinzips, der zwar in seiner konkreten Ausgestaltung, nicht aber selbst modifiziert werden kann. Das BVerfG freilich kann sich nicht durchringen, die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dem von ihm eigentlich verfochtenen verbandsorientierten Demokratieverständnis ergeben. Mit eher vagen Hinweisen sucht es, die von ihm im Ausgangspunkt unterstellte Staatsvolks- und Staatsbezogenheit von Demokratie in Hinblick auf die europäischen Legitimationszusammenhänge abzumildern. Dies ist der Sache nach nur allzu verständlich, entbehrt aber letztlich der dogmatischen Konsistenz.

3. Das individuumszentrierte Demokratieverständnis in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Wie schon in den Urteilen zur demokratischen Partizipation von Ausländern an Kommunalwahlen kommt es somit auch im Maastricht-Urteil zu einem dogmatisch unvermittelten Nebeneinander von strikt verbandsorientiertem Demokratieverständnis und damit inkompatiblen Konzessionen an integrationspolitische Erfordernisse. Diese dogmatisch unbefriedigende Situation wird das BVerfG nur

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

überwinden können, wenn es sein strikt verbandsorientiertes Demokratieverständnis zugunsten eines immer auch individuumszentrierten Demokratiekonzepts auflockert. Dazu bedarf es keiner völligen Kehrtwende. Vielmehr finden sich, wie bereits angedeutet715, in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur durchaus Ansatzpunkte für ein solches alternatives Demokratieverständnis716. Man wird sogar behaupten können, dass bis zu ihrer nationaldemokratischen Wende, die nicht von ungefähr mit dem Epochenbruch Ende der achtziger Jahre korreliert717, die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung dem individuumszentrierten Demokratieverständnis stärker verbunden zu sein schien als dem verbandsorientierten718. Im Solange-I-Judikat719 rechnet, wie ebenfalls schon angesprochen720, das Fehlen „eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments“ zu den tragenden Gründen des Beschlusses721. Dies kann nur dahin interpretiert werden, dass das BVerfG es ursprünglich für zulässig und sogar für geboten hielt, auf europäischer Ebene eigenständige, nicht bloß mittelbar-abgeleitete Demokratiestrukturen zu schaffen. Der Gedanke, dass unter dem Grundgesetz nur die Staatsvölker überstaatliche Hoheitsakte demokratisch legitimieren könnten, liegt dem Solange-I-Beschluss ersichtlich fern. Dogmatisch interessant an dieser Entscheidung ist ferner, daß das BVerfG hier einen Konnex zwischen Grundrechtsschutz und Demokratie herstellt. Die die Entscheidung tragende Richtermehrheit scheint in dem Fehlen demokratischer Strukturen ein Indiz für unzureichenden Grundrechtsschutz zu sehen722. Anders gewendet bedeutet dies, dass das BVerfG in dieser Entscheidung von einer Grundrechtsfunktionalität des demokratischen Prinzips ausgeht, Demokratie als ope­ rationalisierten Grundrechtsschutz723 begreift. Darin indes offenbart sich klar ein individuumszentriertes Verständnis von Demokratie – und dies zudem im hier interessierenden sachlichen Zusammenhang der demokratischen Legitimation der EU. Das in der Solange-I-Entscheidung aufscheinende individuumszentrierte Demokratieverständnis steht in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur nun keineswegs isoliert. Gerade in der Frühzeit des BVerfG, aber auch noch in der Judikatur der siebziger Jahre wurden Demokratie und Volkssouveränität vom 715

Siehe oben Kapitel 1 II. 2. b) = S. 110. Im Ergebnis gleich Sterzel (Fn. 232), S. 163 ff.; Bryde (Fn. 209), S. 322; Rittstieg (Fn. 284), S. 406. 717 Vgl. Bryde (Fn. 268), S. 217. 718 So auch Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (368). 719 BVerfGE 37, 271. 720 Siehe oben Kapitel 3 I. = S. 155. 721 Dazu auch Saalfrank (Fn. 178), S. 101 ff. 722 BVerfGE 37, 271 (280). 723 Zur Grundrechtsfunktionalität der Demokratie siehe auch schon oben Kapitel 9 V. 3. b) dd) = S. 627. 716

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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Indivi­duum, seiner Menschenwürde und seinen Menschenrechten her entwickelt724. Volk und Nation waren nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Ära ein Stück weit diskreditiert, die Rückbesinnung auf den Einzelmenschen tat Not. Hinzu kamen neue Gefahren menschenwürdewidrigen Kollektivismus und freiheitswidriger Herrschaft. Diese Erfahrungen mündeten in bundesverfassungsgerichtliche Aussagen, die die einzelnen paradigmatischen Facetten des individuumszentrierten Demokratieverständnisses aufnehmen725. In der KPD-Entscheidung wird die Würde des Menschen als oberster Wert der freiheitlichen Demokratie bezeichnet726. Aus dem in der Menschenwürde ver­ ankerten Anspruch auf autonome Persönlichkeitsentfaltung folgert das BVerfG „für den politisch-sozialen Bereich (…), daß es nicht genügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von ‚Untertanen‘ zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken“727. In diesen Zeilen beschreibt das BVerfG die freiheitliche Demokratie gerade nicht als Herrschaft eines überindividuellen Kollektivs, sondern im Sinne freiheitlicher Selbstgesetzgebung und individuellpluralistischer Selbstbestimmung728. Demokratie erwächst in diesen Zeilen aus der allen Menschen gewährten und nicht den Deutschen allein vorbehaltenen Menschenwürde729. Fast zwanzig Jahre später greift das BVerfG diese Demokratiekonzeption wieder auf, und zwar erneut in Hinblick auf Verfassungsfragen der Parteiendemokratie. Das BVerfG betont, dass die bundesrepublikanische Demokratie – trotz ihrer verfassungsrechtlich sanktionierten Wehrhaftigkeit – „doch primär auf die freie, selbstbestimmte (Art. 1 Abs. 1 GG) Integration aller politischen Meinungen und Kräfte und durch die Grundwerte der Verfassung angelegt sei“730. Auch in dieser Entscheidung erweist sich Demokratie wesenhaft als Ausdruck der in der Menschenwürde verankerten individuellen Selbstbestimmung. Dass sich individuumszentriertes Demokratieverständnis besonders deutlich in Entscheidungen des BVerfG zur Parteiendemokratie niedergeschlagen hat731, kann nicht wirklich verwundern. Schließlich nimmt der die Parteiendemokratie 724

Die wesentlichen Entwicklungslinien der Demokratierechtsprechung des BVerfG werden überzeugend von Tschentscher (Fn. 235), S. 28 ff. nachgezeichnet. 725 Dazu auch v. Bogdandy, Demokratisch, demokratischer, am demokratischsten, in: Bohnert (Hrsg.), Festschrift für Hollerbach, 2001, S.  363 (370 f.)  – speziell in Hinblick auf den 1. Senat des BVerfG; ferner Bryde (Fn. 231), S. 255 f. 726 BVerfGE 5, 85 (204); ähnlich auch BVerfGE 65, 1 (41), das Wert und Würde der Person in den Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung stellt. 727 BVerfGE 5, 85 (204 f.). 728 Zu den entsprechenden Demokratieparadigmen siehe oben Kapitel 5 I. 1. b) = S. 189 und Kapitel 5 I. 2. b) = S. 198. 729 Hierzu auch Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, S. 104 f. 730 BVerfGE 40, 287 (291). 731 Hierzu eindrücklich und mit weiteren Nachweisen Fisahn (Fn. 146), S. 301 ff.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

konstituierende Art. 21 GG den Topos der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausdrücklich in Bezug. Wie dargestellt732, suggeriert dieser Topos erstens schon vom Wortlaut her die sachliche Verwobenheit von freiheitlicher Autonomie und Demokratie; zweitens schlägt er als gesamtgesellschaftliches Leitbild systematisch den Bogen zu Art. 1 Abs. 1 GG, in dem ebenfalls von einem auf die Gesamtgesellschaft bezogenen menschenrechtlichen Reglungsprinzip die Rede ist. Die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur stellt insofern nicht nur einen allgemeinen dogmatischen Beleg für die hier vertretene These dar, wonach das Grundgesetz auch das individuumszentrierte Demokratiekonzept rezipiert hat. Darüber hinaus wird die im Zuge systematischer Interpretation gewonnene Erkenntnis bestätigt, wonach sich aus dem anwendungsgeschichtlich vorwiegend repressiven Topos der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ein einheitliches, emanzipatorisches Ordnungskonzept ableitet, das sich umfassend auf die vermeintlich strikt getrennten Funktionskreise von Staat und Gesellschaft erstreckt. Auch in dieser besonderen Perspektive präsentiert sich die grundgesetzliche Volkssouveränität nicht länger als strikt nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur, sondern als immer auch sozialorganisatorische Freiheitsstruktur.

4. Der Beitrag der bundesverfassungsgerichtlichen Dogmatik zur Interpretation des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG: Ein Resümee Dem BVerfG ist es in seiner jüngeren Rechtsprechung nicht gelungen, das von ihm favorisierte nationaldemokratische Verständnis von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG mit den verfassungsrechtlichen Konzessionen dogmatisch in Einklang zu bringen, die es in Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess zu machen bereit war733. Weshalb Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG einerseits strikt als Gesamtheit der Deutschen zu interpretieren ist, andererseits aber gegebenenfalls auch die Unionsbürgerschaft erfassen soll, lassen die Karlsruher Richter sowohl in den Entscheidungen zum kommunalen Ausländerwahlrecht als auch im Maastricht-Urteil dogmatisch ungeklärt734. Der Versuch, diesen dogmatischen Widerspruch dadurch aufzulösen, dass man die integrationspolitisch motivierten Abweichungen vom an sich für verbindlich erklärten verbandsorientierten Demokratieverständnis als unterhalb der Schwelle von Art. 79 Abs. 3 GG angesiedelte Modifikation von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ausweist, vermag gleich in zwei­facher Hinsicht nicht zu überzeugen. Denn neben den dogmatischen Erwägungen, die gegen eine Modifizierbarkeit der durch Art.  79 Abs. 3 GG in Bezug genommenen Struktur- und Zielbestimmungen sprechen, ist des Weiteren zu berücksichtigen, dass nach dieser Konstruktion das Verständnis von Volkssouveränität als nationaldemokratische Staatsherrschaftsstruktur weiterhin die Regel bleiben müsste. 732

Siehe oben Kapitel 9 V. 3. b) bb) = S. 616. In diesem Sinne auch Nettesheim (Fn. 4), S. 178. 734 So auch Bryde (Fn. 209), S.321.

733

Kap. 9: Subjekt der grundgesetzlich geforderten Demokratie

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Überhaupt nur unter dieser Voraussetzung ließe sich die These aufrechterhalten, dass, obwohl der Regelungsbereich eines nach Art.  79 Abs.  3  GG geschützten Grundsatzes gemäß Art. 1 und 20 GG tangiert ist, ausnahmsweise doch kein Verstoß gegen die Ewigkeitsklausel vorliegt. Indes kann die Durchbrechung des nationalstaatlichen Demokratieverständnisses heute schwerlich noch als Ausnahme von der Regel angesehen werden. Hiergegen spricht schon, dass der kommunalen Hoheitstätigkeit, die auch bei Zugrundelegung der bundesverfassungsgerichtlichen Sichtweise nicht länger als allein durch das nationale Staatsvolk determiniert angesehen werden kann, beileibe keine Ausnahmestellung zukommt. Vor diesem Hintergrund bleibt die jüngere bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Volksbegriff dogmatisch unbefriedigend. Dies gilt umso mehr, als sich die Karlsruher Richter damit in tendenziellen Widerspruch zu ihrer früheren Rechtsprechung gesetzt haben, die noch ganz vom individuumszentrierten Demokratieverständnis geprägt war. Angesichts dieser dogmatischen Unzulänglichkeiten erweist sich der Rekurs auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung für die normwissenschaftliche Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als nicht wirklich weiterführend. Stattdessen sind ihre inneren Widersprüche einerseits, ihre Ambivalenzen andererseits zu betonen und daraus der Schluss zu ziehen, dass die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung dem bis hierher entwickelten Verständnis von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als entwicklungsoffener Zurechnungsstruktur bei normwissenschaftlicher Betrachtungsweise nicht entgegensteht735.

X. Zusammenfassende Würdigung Die normwissenschaftliche Antwort auf die Frage, wer als Subjekt der grund­ gesetzlich geforderten europäischen Demokratie in Betracht kommt, hat bei Art. 23 Abs. Satz 1 GG und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs.1 und 2 GG anzusetzen. Die schrittweise Analyse dieses Norm­ materials ergibt, dass sich letztlich am Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG entscheidet, inwieweit nach dem Grundgesetz außer dem deutschen Staatsvolk auch das – zentrierte oder auch dezentrierte – Unionsvolk als tauglicher Quell demokratischer Legitimation angesehen werden kann. Denn die Vorgaben des Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG gelten auch für die überstaatliche Hoheitsausübung, sofern diese im Geltungsbereich des Grund­gesetzes Rechtswirkungen zeitigen soll. Da fernerhin Art. 79 Abs. 3 GG die Grundsätze der Art. 20 GG vollumfänglich unter Bestandsschutz stellt und innerhalb des Art. 20 sein Absatz 2 die gegenüber Absatz 1 weitergehenden Bindungen entfaltet, avanciert Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG konsequenterweise zum normativen Sitz des Subjektproblems. 735

Im Ergebnis ähnlich Rinken (Fn. 705), S. 230 ff.

688

Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Besondere Bedeutung kommt bei der strikt normwissenschaftlichen Interpretation von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG der grundgesetzsystematischen Interpretation zu. Dies folgt einerseits aus dem Vorrang der normtextgebundenen Interpreta­ tionselemente sowie andererseits aus dem offenen Wortlaut auch des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG selbst. Die an die Überlegungen aus dem staatstheoretischen Teil anknüpfende grundgesetzsystematische Rekonstruktion von Art.  20 Abs.  2 Satz  1 GG führt im Ergebnis zu einem polyvalent-variablen Verständnis von Volkssouveränität und Volk. Danach stellt sich das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Prinzip der Volkssouveränität als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte dar. Dementsprechend umfasst Volk im Sinne von Art.  20 Abs. 2 Satz 1 GG Volk nicht nur den demokratischen Staatsvolksverband als Herrschaftsorganisation der Staatsangehörigen, sondern nach Maßgabe von ihm legitimierter (Re-)Organisationsbestimmungen auch jeden anderen hoheitliche Macht ausübenden Personenverband, sofern insofern gleichfalls unterstellt werden kann, dass an seiner  – zumindest auch  – staatsgebietswirksamen Machtausübung alle von ihr in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Individuen zu partizipieren befugt sind und sich der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Teilhabe an dieser Machtentfaltung in Hinblick auf deren Autonomieansprüche als vertretbar erweist; dass fernerhin die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten ebenfalls hinreichend gewahrt sind und dass sich die fragliche Machtentfaltung schließlich immer auch normaliter auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen der Partizipationsbefugten zurückführen lässt736. Diese Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sieht sich letztlich auch durch die übrigen Interpretationselemente bestätigt. Dies hat im hier näher interessierenden Zusammenhang zur Konsequenz, dass aus Sicht des Grundgesetzes neben dem deutschen Staatsvolk grundsätzlich auch die Unionsbürgerschaft als taugliches demokratisches Legitimationssubjekt in Betracht kommt, und zwar sowohl als zentrierter als auch als dezentrierter Unions-demos.

Kapitel 10

J

Anforderungen des Grundgesetzes an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Dass das Grundgesetz rechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung stellt, ist bereits dargelegt worden. Die entsprechenden Vorgaben ergeben sich aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG sowie aus Art. 23

736 In diese Richtung auch Zuleeg, Verfassungsmäßigkeit der Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer (Fn. 361), S. 324.

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

689

Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG1. Ebenfalls geklärt wurde, dass von Grundgesetzes wegen auch das  – zentrierte oder auch dezentrierte  – Unionsvolk als demokratisches Legitimationssubjekt in Betracht kommt2. Das Grundgesetz enthält mit anderen Worten keine definitive Fest­legung auf das Modell mittelbarer demokratischer Legitimation3. Nachdem insoweit das Vorhandensein einer europaspezifischen Demokratienorm konstatiert und bereits eine der von ihr aufgeworfenen Rechtsfragen geklärt wurde, ist im Folgenden zu erörtern, welche Anforderungen das Grundgesetz im Einzelnen in Hinblick auf die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung stellt. Indes sind die Sprachdaten, aus denen die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung zu entwickeln sind, nicht sonderlich aufschlussreich. Da Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG entsprechend anwendbare Art. 20 Abs. 1 GG lediglich eine allgemeine Verpflichtung auf eine demokratische Struktur enthalten, verkörpert der von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG gleichfalls ausdrücklich in Bezug genommene Art. 20 Abs. 2 Satz GG den einzigen inhaltlich vergleichsweise gehaltvollen Ansatzpunkt für die normwissenschaftliche Konkretisierungsarbeit: Art. 20 Abs. 2 GG zufolge wird die grundgesetzliche Demokratie modal durch die in seinem Satz  1 allgemein vorgegebene und in Satz 2 näher ausgeprägte Struktur der Volkssouveränität determiniert. Schon bei erster, kursorischer Lektüre des Normtexts drängt sich demnach auf, dass sich die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung allein aus der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG normativ verankerten Volkssouveränität ableiten. Dieser erste Eindruck erweist sich, wie zu zeigen sein wird, auch bei genauerer Analyse als zutreffend. Steht Art. 20 Abs. 2 GG als vollumfänglich verbindlicher und zugleich inhaltlich abschließender grundgesetzlicher Prüfungsmaßstab für die EG-Normsetzung erst einmal fest, macht es Sinn, im Weiteren zunächst die allgemeinen Grundzüge des durch Art. 20 Abs.  2  GG normativ vorgegebenen Legitimationskonzepts zu ergründen. Dabei lässt sich  – normwissenschaftlich vermittelt  – auf die staatstheoretischen Überlegungen zur Volkssouveränität als mehrdimensionaler Zurechnungsstruktur zurückgreifen. In Anknüpfung daran können dann in einem zweiten Schritt die besonderen Anforderungen entwickelt werden, die sich aus dem in Art. 20 Abs. 2 GG vorgegebenen Legitimationskonzept für die demokratische Legitimation speziell der EG-Normsetzung ergeben.



1



2



Siehe oben Kapitel 8 = S. 546. Siehe oben Kapitel 9 = S. 562. 3 Dazu näher unten Vorbemerkung zu Teil V = S. 862.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

I. Die Zurechnungsnorm des Art. 20 Abs. 2 GG als vollumfänglich verbindliche und zugleich inhaltlich abschließende Vorgabe an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung Die Überlegungen zum Sitz der EU-spezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes haben ergeben, dass sich die demokratische Legitimation der EGNormsetzung mitunter nach Art. 20 Abs. 2 GG richtet. In Hinblick auf die Subjektsproblematik wurde dabei bereits dargelegt, weshalb diese Bestimmung in vollumfänglich-unmodifizierter Weise auch auf EG-Normsetzungsakte anzuwenden ist4. Dass Art. 20 Abs. 2 GG am Ende einer von Art. 79 Abs. 3 GG ausgehenden Verweisungskette steht, lässt danach gerade nicht den Rückschluss zu, die grundgesetzliche Verbürgung der Volkssouveränität formuliere in Hinblick auf die EG-Normsetzung lediglich analog anzuwendende und insofern bloß unvollständig-modifiziert geltende Vorgaben. Die insoweit maßgeblichen Zusammenhänge seien nachstehend kurz rekapituliert. Noch nicht eingehender erörtert wurde bislang, ob Art. 20 Abs. 2 GG die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung erschöpfend normiert oder ob er lediglich Mindestanforderungen formuliert und insofern inhaltlich hinter den Demokratievorgaben zurückbleibt, die sich insbesondere aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben5. Für Letzteres scheint zumindest auf den ersten Blick der Umstand zu sprechen, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG via Art. 79 Abs. 3 GG auf Art. 20 Abs. 2 GG verweist. Diese systematische Nähe zur Ewigkeitsklausel könnte den Schluss nahelegen, dass Art.  20 Abs.  2 in seinen Sätzen 1 und 2 GG lediglich einen veränderungsfesten Teilgehalt der ansonsten inhaltlich weiter gehenden europaspezifischen Demokratienorm darstellt. Die These, wonach sich die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung abschließend aus Art. 20 Abs. 2 GG ergeben, bedarf vor diesem Hintergrund einer näheren Begründung.

1. Art. 20 Abs. 2 GG als im Hinblick auf die EG-Normsetzung vollumfänglich bindende Zurechnungsnorm Bei der eingehenden Analyse des Subjekts der grundgesetzlich geforderten europäischen Demokratie wurde gezeigt, dass die Ewigkeitsklausel des Art.  79 Abs.  3  GG die in Art.  1 und 20  GG niedergelegten Grundsätze vollumfänglich schützt6. An dieses normwissenschaftlich sorgsam hergeleitete Interpretations

4



5

Siehe oben Kapitel 9 IV. = S. 584.­ Zu dieser Problematik auch schon Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Euro­ päischen Parlaments, 1995, S. 61 ff., allerdings noch bezogen auf Art. 24 GG. 6 Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571.

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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ergebnis ist anzuknüpfen, wenn es zu begründen gilt, weshalb die Zurechnungsnorm des Art. 20 Abs. 2 GG in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte ebenfalls vollumfänglich zur Anwendung kommt: Stellt Art. 79 Abs. 3 GG aus den darlegten Gründen die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze vollumfänglich unter Bestandsschutz, so ergibt sich aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit 79 Abs. 3 und 20 Abs. 2 GG für den Fall einer Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU oder einer vergleichbaren Regelung, dass nicht nur der spezifische Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG strikt gewahrt werden muss, sondern das gesamte in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG entfaltete demokratische Legitimationskonzept7. Dementsprechend darf von Grundgesetzes wegen durch Vertragsänderung zu keiner EG-Normsetzung ermächtigt werden, die gegen die Vorgaben des unmodifiziert und unmodifizierbar verbindlichen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG verstößt8. Die vom Grundgesetz verfügte strikte Rückanbindung an die in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG fixierte Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität beschränkt sich dabei wohlgemerkt nicht nur auf die Fälle der Vertragsänderung. Vielmehr muss auch der in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG normierte Integrationsvorbehalt verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass die Bundesrepublik überhaupt nur an einer solchen EU mitwirken darf, die in demokratischer Hinsicht zumindest die Legitimationsanforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG erfüllt9. Denn da Art. 79 Abs. 3 GG den in Art. 20 Abs. 2 GG niedergelegten Grundsatz der Volkssouveränität integral unter Bestandsschutz stellt, durfte sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Normierung des Demokratievorbehalts des Art.  23 Abs.  1 Satz 1 GG nicht in Widerspruch zur Zurechnungsnorm des Art. 20 Abs. 2 GG setzen. Insofern gelten dieselben Erwägungen, wie sie in Hinblick auf den in Art. 23 Abs.  1 Satz  1  GG vorausgesetzten demos-Begriff angestellt wurden, der daher ebenfalls verfassungskonform im Licht des für die europäischen Legitimationszusammenhänge vollumfänglich verbindlichen Volksbegriffs des Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG konkretisiert werden musste10. Aus dem in diesem Sinn verfassungskonform auszulegenden Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG folgt nach allem, dass deutsche Amtsträger dann nicht am Erlass von EG-Normsetzungsakten mitwirken dürfen, wenn dieser dem in Art. 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG im Einzelnen normierten demokratischen Legitimationskonzept widerstreitet. Schließlich muss auch ein gegen den Willen deutscher Amtsträger und damit ohne ihre Mitwirkung erlassener EG-Normsetzungsakt sämtliche Vorgaben des

7

Dagegen Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 5. Aufl. 2005, Art. 23 Rn. 20. 8 Anderer Ansicht die wohl herrschende Meinung  – vgl. etwa Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4.  Aufl. 2007, Art.  23 Rn.  84 in Verbindung mit Rn.  20 ff. oder Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 28 in Verbindung mit 7 f. 9 Dazu etwa Brockmeyer, in: Schmidt / Bleibtreu (Begr.), Grundgesetz, 10.  Aufl. 2004, Art. 23 Rn. 6. 10 Siehe oben Kapitel 9 III. 5. = S. 579.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Art. 20 Abs. 2 GG wahren, wenn und soweit er auf dem Gebiet der Bundesrepublik in verfassungsrechtlich sanktionierter Geltung erwachsen soll. Denn ausweislich Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG beruht die Rechtsetzungsmacht der EG in grundgesetzlicher Perspektive auf der Übertragung von Hoheitsrechten11. Derartige Ermächtigungen indes stehen, wie bereits dargetan wurde12, unter dem Vorbehalt des Art. 79 Abs. 3 GG und mithin auch unter dem, dass der wegen Art. 79 Abs. 3 GG vollumfänglich beachtliche Art. 20 Abs. 2 GG auf europäischer Ebene strikt gewahrt wird. EG-Normsetzungsakte, die dem Vorbehalt des integral verbindlichen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG nicht Rechnung tragen, können aus verfassungsrechtlicher Sicht auf deutschem Territorium keine Geltung beanspruchen13. Vor diesem dreifachen Hintergrund ergibt sich, dass die Zurechnungsregel des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG vollumfänglich auch für die EG-Normsetzung gilt14.

2. Art. 20 Abs. 2 GG als im Hinblick auf die EG-Normsetzung inhaltlich abschließende Zurechnungsnorm Dass Art. 20 Abs. 2 GG die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokra­ tische Legitimation der EG-Normsetzung abschließend regelt und sich insbesondere aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG keine weitergehenden Vorgaben ergeben, ist – anders als die eben behandelte Frage nach dem Umfang der durch Art. 79 Abs.  3  GG in Verbindung mit Art.  20 Abs.  2  GG bewirkten Rechtsbindung der EG-Normsetzung  – auch der Sache nach nicht schon an früherer Stelle geklärt worden. Insbesondere lässt sich daraus, dass Art. 20 Abs. 2 GG auch im Hinblick auf die EG-Normsetzung vollumfängliche, also unmodifizierte Geltung zukommt, nicht ableiten, dass grundgesetzlich keine darüber hinausgehenden Demokratievorgaben existierten. Insofern bedarf die These, der zufolge Art. 20 Abs. 2 GG die demokratischen Vorgaben an die EG-Normsetzung abschließend regelt, einer eingehenderen normwissenschaftlichen Vergewisserung. Wenn das Grundgesetz mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG eigens eine europaspezifische Demokratienorm bereitstellt, so könnte dies zunächst dafür sprechen, dass die aus dieser Bestimmung erwachsenden demokratischen Anforderungen über die des Art.  20 Abs.  1 Satz  1 und 2  GG hinausgehen. Zwar wird die demokratische Struktur, die die EU verwirklichen muss, damit die Integrationsorgane der Bundesrepublik Deutschland an ihr mitwirken dürfen, nirgends im Grundgesetz ausdrücklich präzisiert15. Doch wäre die Demokratievorgabe des Art.  23 Abs.  1

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Hierzu nur Jarass (Fn. 8), Rn. 18. Siehe oben Kapitel 8 II. 4. = S. 560. 13 Vgl. hierzu Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 56 VIII 3 a). 14 Anderer Ansicht etwa Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, in: AöR 1991, S. 329 (339 f.). 15 Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 23 Rn. 20.

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Satz  1  GG womöglich überflüssig, wenn sie inhaltlich nicht weiter reichte als Art. 20 Abs. 2 GG. Schließlich ist es deutschen Staatsorganen schon wegen des Vorrangs der Verfassung verboten, an einer supranationalen Organisation mitzuwirken, wenn diese die ihr  – verfassungsrechtlich gesehen – von der Bundesrepublik unter dem Vorbehalt von Art. 79 Abs. 3 GG delegierte Hoheitsmacht überschreitet, indem sie gegen die Vorgaben des Art. 20 Abs. 2 verstößt16. Hinzu tritt, dass Art.  20 Abs.  2  GG als integraler Bestandteil der Ewigkeits­ garantie auf ein (noch) hinreichend hohes Legitimationsniveau abzielt17. Er markiert, was Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nochmals unterstreicht, die aus grundgesetzlicher Sicht äußerste demokratierechtliche Grenze der europäischen Integration18. Dies könnte ebenfalls dafür sprechen, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG höhere Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung stellt als die veränderungsfeste Auffangnorm des Art. 20 Abs. 2 GG19. Der näheren Analyse halten diese Erwägungen freilich nicht stand20. So ist zunächst zu erinnern, dass der grundgesetzliche Normtext keine präzisierenden Ausführungen dazu enthält, was unter den in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in Bezug genommenen demokratischen Grundsätzen zu verstehen ist. Vom Verfassungstext her können diese daher, wie erwähnt, überhaupt nur von Art. 20 Abs. 2 GG her mit Inhalt gefüllt werden21. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass pleonastische Normierungen dem Grundgesetz keineswegs fremd sind22. Wenn sich daher die Bindung der Integrationsorgane an die Vorgaben des Art. 20 Abs. 2 GG auch auf anderem Wege als über Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG herleiten lassen, so zwingt dies keineswegs dazu, dieser Verfassungsbestimmung um jeden Preis einen alternativen Bedeutungsgehalt abgewinnen zu müssen. Dies gilt umso mehr, als Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG eine demokratierechtliche Vorgabe des Grundgesetzes unmittelbar klarstellt23, die bislang nur auf eher verschlungenen interpretatorischen Wegen herleitbar war24.



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Zippelius / Würtenberger (Fn. 13), § 56 VIII 4. Vgl. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000, S.  166 ff.; Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 4.  Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 9. 18 Siehe Brockmeyer (Fn. 9), Rn. 17. 19 In diesem Sinn etwa Brosius-Gersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der EU, in: EuR 1999, S. 133 (165). 20 Im Ergebnis wie hier Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Staat 1993, S. 191 (199). 21 In diese Richtung auch Oppermann / Classen, Europäische Union: Erfüllung des Grund­ gesetzes, in: APuZ 1993, B 28, S. 11 (14). 22 Siehe bereits oben Kapitel 8 II. 2. = S. 557 23 Scholz, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 23 Rn. 54. 24 Dazu etwa Streinz (Fn. 8), Rn. 3 sowie v. Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 4 Rn. 59.

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Dass Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG seinem Inhalt nach auf den Regelungsgehalt des Art.  20 Abs.  2  GG beschränkt ist, steht auch durchaus in Einklang mit seiner Entstehungsgeschichte. Denn der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte mit Art.  23  GG den Fortgang des europäischen Integrationsprozesses verfassungsrechtlich denjenigen Vorgaben unterwerfen, die das BVerfG in ständiger Rechtsprechung bereits unter dem verfassungsrechtlichen Regime des Art.  24  GG entwickelt hatte25. Danach sollte es der Bundesrepublik und ihren Organen verfassungsrechtlich untersagt sein, durch Mitwirkung an der EU, und zwar speziell im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten, „die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben“26. Auch wenn es die Ewigkeitsgarantie nicht ausdrücklich erwähnt, ist das BVerfG insofern ersichtlich davon ausgegangen, dass die Mitwirkung deutscher Staatsorgane am europäischen Integrationsprozess immerhin, aber eben auch nur durch Art. 79 Abs. 3 GG beschränkt ist27. Denn dieser umschreibt expressis verbis den Identitätskern der Verfassung. Wenn daher der verfassungsändernde Gesetzgeber mit Art. 23 Abs. 1 GG die bis dahin ergangene bundesverfassungsrechtliche Rechtsprechung festschreiben wollte28, ergibt sich daraus für die demokratischen Anforderungen des Art. 23 Abs.  1 Satz  1  GG, dass sie inhaltlich denen von Art.  79 Abs.  3  GG in Verbindung mit Art. 20 GG und damit speziell auch denen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG entsprechen29. Dafür, dass Art.  23 Abs.  1 Satz  1  GG keine über Art.  20 Abs.  2  GG hinaus­ reichenden Demokratievorgaben formuliert, streitet schließlich auch das teleo­ 25 Vgl. auch Di Fabio (Fn.  20), S.  199: „… insofern stellt sich der (…) erste Satz  des Art. 23 GG als eine Art Solange-Entscheidung im großen Stil dar.“ 26 BVerfGE 73, 229 (375 f.). Dazu auch Herdegen, Europäisches Gemeinschaftrecht und die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz, in: EuGRZ 1989, S. 309 (311 f.) sowie Magiera, Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union, in: Jura 1994, S. 1 (3). 27 So auch die herrschende Lehre zu Art.  24  – vgl. Bleckmann, Zur Funktion des Art.  24 Grundgesetz, in: Hailbronner / Ress / Stein (Hrsg.), Festschrift für Doehring, 1989, S. 63 (67 f.). 28 Vgl. dazu die Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission (BT-Drs. 12/ 6000, S. 20 f.). 29 Unzweideutig insofern der Plenarbeitrag des Abg. Dr. Möller (BT-Prot. 12/126, S. 10867), der zu den durch die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verbürgten Grundsätzen ausführt: „Wohl aber soll durch die Nennung dieser Grundsätze die Bundesregierung darauf verpflichtet werden, im weiteren Integrationsprozeß den Kernbereich unserer Verfassungsordnung zum Maßstab ihrer Politik zu machen und für das vereinte Europa die Grundprinzipien, die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes niedergelegt sind, anzustreben.“ Ebenso der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 24, 28, 88, 115e): „Die Strukturklausel begrenzt das in der Staatszielbestimmung angesprochene Mitwirkungsziel auf eine Europäische Union, die in ihren elementaren Strukturen den durch das Grundgesetz geformten Kernprinzipien des Staates ‚Bundesrepublik Deutschland‘ entspricht, wie sie durch Art. 79 Abs. 3 GG vor Veränderungen auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschützt sind“ (BT-Drs. 12/3338, S. 6). Unklar hingegen Breuer, Die Sackgasse des neuen Euro­ paartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (419).

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logische Interpretationselement. Es würde nämlich zu Wertungswidersprüchen führen, wenn Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG höhere Anforderungen an die demokra­ tische Legitimation von EU-Hoheitsakten stellte, als Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 GG. In diesem Fall wäre es nämlich denkbar, dass es zu einer gemäß Art. 23 Abs.1 Satz 3 GG verfassungsrechtlich statthaften Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU kommt, die Integrationsorgane aber wegen Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG daran gehindert wären, an dieser mitzuwirken. Dieses argumentum ad absurdum ist ein weiterer Beleg dafür, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG hinsichtlich seiner Demokratieanforderungen mit den demokratischen Anforderungen des von Art. 79 Abs. 3 GG vollumfänglich in Bezug genommene Art. 20 Abs. 2 GG kongruiert. Damit sieht sich die These, dass Art. 20 Abs. 2 GG die Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung inhaltlich erschöpfend normiert, normwissenschaftlich bestätigt.

II. Das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG niedergelegte Konzept demokratischer Legitimation Die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung erschöpfen sich nach allem in den Vorgaben des vollumfänglich-unmodifiziert anwendbaren Art. 20 GG. Umso wichtiger erscheint es, diese vordergründig so lapidar anmutenden Verfassungsbestimmungen sorgsam zu analysieren.

1. Volkssouveränität als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG postuliert, dass alle Staatsgewalt vom Volk auszugehen hat30. Damit wird nicht nur das Volk als Träger und Legitimationssubjekt des pouvoir constituant identifiziert31. Vielmehr besitzt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG dar-



30 Zutreffend bemerkt Meyer, Repräsentation und Demokratie, in: Dreier (Hrsg.) Rechtsund staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 99 (104): „Schöner und zugleich einfacher als mit dem Satz ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus‘ (Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG) kann man das Prinzip der Volkssouveränität nicht aus­drücken.“ 31 Der Annahme, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auch den pouvoir constituant des demos verbürgt, widerspricht beispielsweise Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S.  156 ff. Wie hier zum Beispiel: Saalfrank (Fn.  5), S.  50, Veil, Volksouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S.  54 und Dederer, Korporative Staatsgewalt, 2004, S. 178 f. Für die auch in dieser Abhandlung vertretene Auffassung spricht nicht zuletzt, dass die verfassunggebende Gewalt der Volkes die „Quintessenz der Volkssouveränität“ ist (so Voigt, Zwischen Leviathan und Res Publica, in: ZfP 2007, S. 259 [265]).

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über hinaus einen genuin demokratischen Regelungsgehalt32: Nicht ohne Grund steht diese Verfassungsvorschrift systematisch zwischen dem Bekenntnis zur demokratischen Staatsstruktur und der verfassungsrechtlichen Präzisierung dessen, wie die Staatsgewalt vom Volk ausgeübt werden kann und soll. In diesem das althergebrachte Prinzip der Volkssouveränität definitiv demokratisierenden Kontext gebietet Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, dass jeder einzelne Hoheitsakt vom Volk her­ rühren muss33. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Volkssouveränität nimmt in­sofern als legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang Gestalt an34.

a) Zurechenbarkeit durch exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation Für den durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG vorgegebenen legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang genügt es nicht, wenn der Hoheitsakt irgendwie vom Volk herrührt. Indem Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG lediglich das Volk und keinen anderen Machtträger als Ausgangspunkt der Hoheitsgewalt benennt, stellt er zugleich klar, dass grundsätzlich allein der demos Zurechnungssubjekt hoheitlicher Maßnahme sein soll35. Die demokratische Legitimation muss insofern eine prin­ zipiell exklusive sein. Des Weiteren reicht es nicht aus, dass die Hoheitsmacht, kraft derer ein bestimmter Hoheitsakt erlassen wird, irgendwann ihren formellen Ausgang vom Volk genommen hat. Die präsentische Formulierung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG stellt vielmehr klar, dass die Äußerungen der Hoheitsgewalt dem Volk aktuell zurechenbar sein müssen. Insoweit setzt Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG einen fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang voraus und postuliert eine grundsätzlich exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation von Hoheitsakten36. Bestätigt wird diese Sichtweise durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Auch dort ist im Präsens davon die Rede, dass niemand anderes als das Volk die Staatsgewalt

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Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 182 f.; auch Rösch, Geheimhaltung in der rechtsstaatlichen Demokratie, 1999, S. 42. 33 Rinken, Demokratie als Organisationsform der Bürgergesellschaft, in: Bovenschulte (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 2001, 223 (230); Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 333 ff.; Saalfrank (Fn. 5), S. 54; Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 165; Schmidt, Die demokratische Legitimationsfunktion der parlamentarischen Kontrolle, 2007, S. 29 f.; Brosius-Gersdorf (Fn. 19), S. 135. 34 Dazu auch Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 84 ff.; Möllers, Der Staat als Argument, 2000, S. 291. 35 Vgl. auch Bauer, Demokratie in Europa, in: ders. / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 1 (2) sowie Jestaedt (Fn. 31), S. 159. 36 Siehe dazu den zutreffenden Hinweis von Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 8 III 1: „Die ausschließliche Ausübung durch das Volk selbst muss (…) ernst genommen werden und darf nicht etwa im Sinne einer bloßen Fiktion oder Symbolik verstanden werden, weil sonst das demokratische Prinzip selbst zur bloßen Fiktion würde.“

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ausübt. Insofern wird ebenfalls eine exklusiv-perpetuelle demokratische Legitimation grundsätzlich aller Hoheitsakte gefordert37. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG sehe eine lediglich punktuelle Ausübung der Volksherrschaft vor, nämlich nur anlässlich von Wahlen und Abstimmungen. Denn auch soweit vom Volk geschiedene Organe hoheitlich tätig werden, bleibt es dem in­ sofern klaren Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zufolge dabei, dass die Staatsgewalt vom Volk ausgeübt wird – und zwar in diesem Fall nicht durch Wahlen und Abstimmungen, sondern eben durch besondere Organe. Die perpetuelle Rückkoppelung an das Volk wird also gerade nicht in Frage gestellt, sondern ausdrücklich vor­ausgesetzt38. Speziell im hiesigen Zusammenhang stellt sich nun freilich die weitergehende Frage, ob beziehungsweise inwieweit die durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG postulierte Exklusivität demokratischer Legitimation auch dann gewahrt werden kann, wenn mehrere demoi gemeinsam über Erlass und Fortbestand der legitimationsbedürftigen Hoheitsakte entscheiden. Immerhin ist in staatstheoretischer Hinsicht bereits sorgsam begründet worden, dass auch ein von mehreren Völkern kondo­ minierter Hoheitsakt exklusiv demokratisch legitimiert sein kann39. Und in der Tat lässt sich die insofern schrittweise entwickelte staatstheoretische Argumentation in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auch in normwissenschaftlicher Perspektive nachvollziehen. Dies soll im Folgenden näher dargetan werden.

aa) Art. 20 Abs. 2 GG und die demoi-kratische Erzeugung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität Art.  20 Abs.  2  GG liegt, wie bereits ausgeführt, ein polyvalent-variabler und damit (entwicklungs-)offener Strukturbegriff von Volkssouveränität und Volk zu Grunde. Unter Volk begreift Art. 20 Abs. 2 GG nicht nur den Staatsvolksverband, sondern nach Maßgabe von ihm legitimierter (Re-)Organisationsbestimmungen auch jeden anderen in die Ausübung hoheitlicher Macht involvierten Personenverband, soweit insofern gleichfalls unterstellt werden kann, dass an seiner – zumindest auch – staatsgebietsrelevanten Machtentfaltung alle hiervon vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen zu partizipieren befugt sind und sich der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener von der Machtteilhabe mit deren Auto­ nomieansprüchen verträgt, dass fernerhin die Autonomieansprüche der Partizipationsbefugten hinreichend gewahrt sind und dass sich die fragliche Machtentfaltung schließlich immer auch normaliter auf den in funktionierenden Verständigungsprozessen vereinheitlichten Willen der Partizipationsbefugten zurückführen lässt40. In dieser Perspektive kommt als Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG nicht nur

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Ebenso Emde, Die demokratische Legitimation, 1991, S. 327. Dazu ein- und nachdrücklich auch Abendroth, Das Grundgesetz, 3. Aufl. 1972, S. 79 f. 39 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (2) = S. 274. 40 Siehe oben Kapitel 5 II. 2. a) = S. 197.

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das deutsche Staatsvolk als Summe der Deutschen gemäß Art. 116 GG in Betracht, sondern etwa auch Landesvölker oder die demoi von Selbstverwaltungskörperschaften41. Zugleich erhellt aus dem Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 GG, dass die verschiedenen von diesen demoi erzeugten Volkssouveränitäten durchaus in Beziehung zueinander stehen. Insbesondere eignet allen Volkssouveränitäten dasselbe territorial-personelle Substrat, bezwecken sie doch durchweg immer, dass an den einem Volksverband zurechenbaren und zumindest auch staatsgebietlich wirksamen Hoheitsakten alle hiervon vergleichbar betroffenen Individuen, also auch alle in vergleichbarer Weise nachhaltig betroffenen Staatsgebietsangehörigen partizipieren und nur diejenigen Staatsgebietsangehörigen von der Teilhabe an der Hoheitsmacht ausgeschlossen sein dürfen, bei denen dies unter Autonomiegesichtspunkten als vertretbar erscheint. Vor diesem Hintergrund offenbart sich, dass Art. 20 Abs. 2 GG eine mitunter dezentrierte, aber dennoch staatsgebietseinheit­ liche Volkssouveränität normiert. Vermögen nun neben dem Staatsvolk auch andere von diesem anerkannte Völker zur Verwirklichung der in Art. 20 Abs. 2 GG postulierten staatsgebietseinheit­ lichen Volkssouveränität beizutragen, drängt sich der Schluss auf, dass ein Hoheitsakt mitunter auch dann als Ausfluss derselben, nämlich staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität angesehen und mithin als exklusiv legitimiert qualifiziert werden kann, wenn sein Erlass und Fortbestand von mehreren demoi im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG gemeinsam beherrscht wird. Davon geht augenscheinlich auch das Grundgesetz aus. Denn dessen Organisationsbestimmungen sehen vielfach eine gemeinschaftliche Hoheitsausübung mehrerer demoi vor, ohne dass darin ein Widerspruch zu dem exklusive demokratische Legitimation postulierenden Art. 20 Abs. 2 GG gesehen würde. So wurde der Sache nach bereits angesprochen, dass weite Bereiche der Bundesgesetz- und -verordnungsgebung dem Grundgesetz zufolge durch Bundesvolk und Landesvölker kondominiert werden42. Die betreffenden bundesrechtlichen Normsetzungsakte werden insofern sowohl an das Bundesstaatsvolk als auch an die Gesamtheit der Landesstaatsvölker rückgebunden43. Nach der Systematik des Grundgesetzes ist dies gleichwohl und ohne Weiteres als Ausfluss der in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Volkssouveränität zu werten und steht mithin auch in Einklang mit dem Gebot exklusiver demokratischer Legitimation. Entsprechendes lässt sich in Hinblick auf körperschaftliche Hoheitsakte feststellen. Denn die Körperschaftsvölker üben ihre Befugnisse von Grundgesetzes wegen notwendig im Rahmen der Gesetze aus44. Infolgedessen sind ihre Hoheits 41 Zu Letzteren vgl. etwa Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 154 ff. 42 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. 43 Dazu etwa Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 726 ff. 44 Siehe dazu nur Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rn. 44 a.

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akte typischerweise nicht nur an den Willen des Körperschaftsvolks, sondern zumindest über materielle Legitimationszusammenhänge auch an Bundes- und / oder Landesstaatsvolkswillen rückgebunden45. Dass dies dem in Art. 20 Abs. 2 GG niedergelegten Strukturerfordernis der Volkssouveränität und mithin dem Postulat grundsätzlich exklusiver demokratischer Legitimation zuwiderliefe, wird sich dem Grundgesetz schwerlich entnehmen lassen. Dies wird man schließlich auch nicht insofern annehmen können, als das Grundgesetz den im Bundesrat vertretenen Landesstaatsvölkern die Befugnis einräumt, den Bundesratspräsidenten zu wählen46. Das Grundgesetz geht mithin davon aus, dass sich das hoheitliche Zusammenwirken unterschiedlicher Völker jedenfalls in bestimmten Fällen mit der Strukturanforderung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität und mithin auch mit der exklusiver demokratischer Legitimation verträgt. Diesem Argumentationsgang lässt sich nicht entgegenhalten, es gehe in den geschilderten Konstellationen überhaupt nicht um das Zusammenwirken unterschiedlicher Völker, weil die genannten Untervölker Teil des Staatsvolks seien. Zuzugeben ist zwar, dass die Angehörigen der Landesvölker – wiewohl nicht schon zwingend47, aber doch zumindest typischerweise – zugleich Angehörige des Bundesvolks sind. Doch ungeachtet der hier verneinten Frage, ob sich das demoi-kratische Zusammenwirken der Landes­völker zu einem lediglich besonderen Handlungsmodus des Bundesvolks verharmlosen lässt48, lässt sich dann immer noch nicht erklären, wie die Selbstverwaltungs­völker als Fraktion des Bundesvolks darstellbar sein sollen49: Denn ihre personelle Zusammensetzung ist eine andere als die des Bundesvolks, mit dem es nur eine – große – gemeinsame Menge aufweist. Insofern erweist sich die These durchaus als begründet, dass das Grundgesetz das hoheitliche Zusammenwirken unterschiedlicher Völker unter besonderen Voraussetzungen mit der Vorstellung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität als kompatibel ansieht. Die Erklärung für diesen Befund ist bereits im staatstheore­tischen Teil dieser Arbeit geliefert worden. Danach kann ein von meh

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Vgl. Pieroth (Fn. 17), Rn. 10a. Vgl. Art. 52 Abs. 1 GG. 47 Für die grundgesetzliche Situation ergibt sich dies bereits daraus, dass nach der Streichung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 8 GG im Jahre 1994 die Regelung der Landesstaatsangehörigkeit in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fällt und diese Kompetenz leerlaufend wäre, wenn die Landesstaatsangehörigkeit zwingend mit der Bundesstaatsangehörigkeit übereinstimmte (so allerdings Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.] Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 16 Rn. 33; wie hier Rux, Landes-Staatsangehörigkeit und politische Willensbildung, in: ZAR 2000, S. 177 [179 ff.]). 48 In diesem Sinne etwa Grzeszick, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd.  3, Stand: September 2007, Art. 20 IV Rn. 91. So auch schon Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 389. 49 Es bleibt dann tatsächlich nur mehr die Möglichkeit, den Selbstverwaltungsvölkern den demokratischen Volkscharakter schlechthin abzusprechen, wie die herrschende Meinung dies tut – vgl. statt aller Sachs (Fn. 44), Rn. 44.

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reren demoi beherrschter Hoheitsakt als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität und also auch als exklusiv dezisionär legitimiert qualifiziert werden, sofern dieses Kondominium die Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn wahrt50.

bb) Exklusive demokratische Legitimation trotz demoi-kratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis im Geltungsbereich des Grundgesetzes Dass sich die Erwägungen, die im staatstheoretischen Teil  zur demoi-kratischen Erzeugung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität angestellt wurden, für das Grundgesetz verifizieren lassen, soll speziell für die hier interessierende Exklusivität dezisionärer demokratischer Legitimation noch weiter vertieft werden. So ist, wie dargelegt, in der Perspektive staatstheoretischer Dogmatik davon auszugehen, dass ein von mehreren Völkern gemeinsam beherrschter Hoheitsakt exklusiv demokratisch legitimiert ist, wenn die unterschiedlichen Völker erstens nach Maßgabe von durch den Staatsvolksverband legitimierten Organisationsbestimmungen zusammenwirken und zweitens die zusammenwirkenden demoi – jeweils für sich betrachtet als zentrierter demos oder doch zumindest als Völkergesamtheit, als dezentrierter demos  – alle Individuen an ihrer Machtentfaltung partizipieren lassen, die von dem Hoheitsakt in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen werden, und sonstige Individualbetroffene nur insoweit von der demokratischen Macht­teilhabe ausschließen, als sich dies mit ihren Autonomieansprüchen verträgt51. Für das Grundgesetz sieht sich diese staatstheoretische Dogmatik nun nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass sie schlüssig zu erklären vermag, weshalb sich auch das zustimmungsbedürftige Bundesgesetz, der neben dem Körperschafts- vom Staatsvolk beherrschte Hoheitsakt einer Selbstverwaltungskörperschaft sowie die allein vom Bundesrat getroffene Entscheidung über die Person des Bundesratspräsidenten, in die von Art. 20 Abs. 2 GG geforderte staatsgebietseinheitliche Volks­souveränität einfügen und sich infolgedessen als exklusiv legitimiert entpuppen: Diese demoi-kratischen Kondominate beruhen zum einen auf vom demokra­tischen pouvoir constituant oder aber als von demokratischen pouvoirs constitués legitimierten Organisationsbestimmungen; zum anderen und vor allem aber werden in allen drei Konstellationen die aus auf demokratierechtlichen Betroffenheitsformel ableitbaren Anforderungen an die Strukturgestalt von Volk im demokra­tischen Sinn gewahrt52.

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Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) bb) = S. 264. Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) dd) = S. 279. 52 Diese Zusammenhänge vernachlässigt Böckenförde, wenn er schreibt, „‚Volk‘ in ‚den Ländern und ‚Volk‘ im Bund sind im bundesstaatlichen System vielmehr voneinander getrennte, je originäre und staatsrechtlich nicht vermittelte Legitimationskörper. Wenn deshalb Ländervertreter oder Länderorgane an der Ausübung der Bundesstaatsgewalt mitentscheidend beteiligt sind, in welchen Verfahren auch immer, liegt darin von der Bundesstaatsgewalt her ge-

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So ist festzustellen, dass sowohl das Bundesvolk als zentrierter Bundes-demos wie auch die Gesamtheit der Landesvölker als dezentrierter Bundes-demos jeweils alle Individuen an ihrer respektiven Mitherrschaft partizipieren lassen, die von den Zustimmungsgesetzen vergleichbar nachhaltig betroffen werden. Denn sowohl das Bundesvolk als auch die Gesamtheit der Landesvölker als dezentrierter Bundesdemos setzen sich aus den Angehörigen des Bundesstaats zusammen. Diese indes werden deshalb durch jedes beliebige Zustimmungsgesetz vergleichbar nachhaltig betroffen, weil ein solches nicht isoliert steht, sondern in die von Bund und Ländern gemeinsam betriebene gesamtstaatliche Politik und den von ihnen erstrebten gesamtstaatlichen Interessenausgleich hinein vernetzt ist. Soweit sich die Zustimmungsgesetze indes als Ausfluss einer gesamtstaatlichen Politik und eines gesamtstaatlichen Interessenausgleichs darstellen, werden die Bundesstaatsangehörigen hiervon in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen. Aufgrund ihres staatsangehörigkeitsrechtlichen Näheverhältnisses zum Staat werden sie hiervon im Übrigen auch in qualitativ anderer, nämlich nachhaltigerer Weise betroffen als die übrigen Staatsgebietsangehörigen. Letzteres erklärt nicht nur, weshalb Bundesvolk und Gesamtheit der Landesvölker als dezentrierter Bundes-demos tatsächlich alle von den Zustimmungsgesetzen in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffenen Individuen erfassen. Zugleich lässt sich in dieser Perspektive begründen, dass es die Autonomieansprüche der Staatsgebietsangehörigen ohne Staatsangehörigkeit nicht ungerechtfertigt beeinträchtigt, wenn sie trotz allfälliger Individualbetroffenheit von der Partizipation an der Zustimmungsgesetzgebung ausgeschlossen bleiben. Aber nicht nur im Fall von Zustimmungsgesetzen sieht sich die an den Betroffenheitsmodus anknüpfende Partizipationsstruktur realisiert, die von jedem kondominalen Hoheitsakt gewahrt werden muss, wenn er der Strukturgestalt von Volk im demokratischen Volk genügen, als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität qualifizierbar sein und infolgedessen in exklusiver demokratischer Legitimation erwachsen soll. Diese Partizipationsstruktur findet sich des Weiteren auch in den grundgesetzlich als verfassungskonform vorausgesetzten Konstellationen, in denen Hoheitsakte einer Selbstverwaltungskörperschaft zugleich von Körperschafts- und Staatsvolk beherrscht werden. Denn sowohl das Körperschafts- als auch das Staatsvolk erfassen alle vergleichbar nachhaltig von dem gemeinsamen Hoheitsakt betroffenen Individuen und beteiligen nur diejenigen Individualbetroffenen nicht an ihrer jeweiligen Machtentfaltung, bei denen dies in Hinblick auf ihre Autonomieansprüche vertretbar erscheint. Im Fall des Körperschaftsvolks ergibt sich dies daraus, dass eine Körperschaft von Grundgesetzes wegen überhaupt nur dort mit der hoheitlichen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben betraut werden darf, wo gerade ihre eigenen Angelegenheiten und das heißt mit Blick auf ihre mitgliedschaftliche Struktur die gemein­ sehen eine Beteiligung fremder, weil nicht im demokratischen Legitimationszusammenhang zur Aktivbürgerschaft des Bundes stehender politischer Kräfte.“ (Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: ders.; Staat Nation Europa, 1999, S. 183 [199 f.]).

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

samen Angelegenheiten gerade der Angehörigen des Körperschaftsvolks betroffen sind53. Dies lässt den Schluss zu, dass Hoheitsakte einer Körperschaft auch dort, wo sie unter Mitwirkung des Staatsvolksverbands erlassen und in Geltung erhalten werden, die Angehörigen des Körperschaftsvolks vergleichbar nachhaltig und zugleich anders betreffen als die übrigen Staatsvolks- beziehungsweise Staats­ gebietsangehörigen. In diesem Umstand wird man auch eine unter Autonomie­ gesichtspunkten hinreichende Rechtfertigung dafür sehen können, dass abgesehen von den Mitgliedern der Körperschaft keine weiteren Individualbetroffenen an deren Machtentfaltung teilhaben54. Für das Staatsvolk gelten der Sache nach dieselben Erwägungen, wie sie hinsichtlich der Zustimmungsgesetzgebung entwickelt wurden. Die Angehörigen des Staatsvolksverbands werden von dem unter seiner Mitwirkung erlassenen körperschaftlichen Hoheitsakt deshalb vergleichbar nachhaltig betroffen, weil sich dieser Hoheitsakt einschreibt in die umgreifenden Bemühungen von Staatsvolksverband und Körperschaft, eine gesamtstaatlich verantwortbare Politik, einen gesamtstaatlich tragbaren Interessenausgleich zu definieren. Da fernerhin die Annahme immerhin vertretbar ist, dass Staatsvolksangehörige durch die gesamtstaatlich verfolgte Politik, durch den gesamtstaatlich verfolgten Interessenausgleich nachhaltiger betroffen werden als Staatsgebietsangehörige ohne Staatsvolkszugehörigkeit, kann erstens davon ausgegangen werden, dass das Staatsvolk alle von den in Rede stehenden körperschaftlichen Hoheitsakten vergleichbar Betroffenen erfasst. Zweitens erweist sich der Ausschluss der Staatsgebietsangehörigen von der Machtentfaltung in dieser Perspektive als autonomiekonform. Damit ist abschließend noch auf die Wahl des Bundesratspräsidenten durch den Bundesrat einzugehen. An der von ihr getroffenen Personalentscheidung lässt die im Bundesrat repräsentierte Gesamtheit der Landesstaatsvölker alle Individuen teilhaben, die von ihr vergleichbar nachhaltig betroffen werden, nämlich alle Bundesvolksangehörigen. Denn auch eine solche Personalentscheidung ist einge­bettet in die von den Landesstaatsvölkern gemeinsam verfolgte Politik und in den von ihnen gemeinsam bezweckten gesamtstaatlichen Interessenausgleich, der die Bundesvolksangehörigen vergleichbar nachhaltig und zugleich in spezifisch anderer Weise betrifft als die übrigen Staatsgebietsgebietsangehörigen. Demzufolge ist auch die Beschränkung der Teilhabebefugnisse auf die Angehörigen der Völkergesamtheit und mithin auf die Bundesvolksangehörigen als autonomiekompatibel zu charakterisieren. Nach allem sieht sich für Art. 20 Abs. 2 GG normwissenschaftlich bestätigt, was im Rahmen staatstheoretischer Dogmatik entwickelt wurde: Auch wenn mehrere

53 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 174. 54 Allgemein zu der im Fall von Selbstverwaltungsstrukturen stets mit zu bedenkenden Gleichheitsproblematik Hendler, Das Prinzip der Selbstverwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 4, 1999, § 106 Rn. 49.

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demoi gemeinsam über Erlass und Fortbestand der legitimationsbedürftigen Hoheitsakte entscheiden, kann dies durch Art. 20 Abs. 2 GG postulierte Exklusivität demokratischer Legitimation gewahrt bleiben, sofern denn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss das Zusammenwirken der demoi auf einem vom Staatsvolksverband gebilligten institutionell-prozeduralen Regime beruhen; zweitens müssen die zusammenwirkenden demoi – jeweils für sich betrachtet oder doch zumindest als Völkergesamtheit, als dezentrierter demos – alle vom gemeinschaftlich verantworteten Hoheitsakt vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen an ihrer jeweiligen Machtausübung beteiligen, ohne sonstige Individualbetroffene auto­ nomiewidrig hiervon auszuschließen.

b) Zurechenbarkeit durch spezifische Legitimationsformen Sein Satz 2 ist für die Rekonstruktion des in Art. 20 Abs. 2 niedergelegten Konzepts demokratischer Legitimation nicht nur insofern von Belang, als er das Postulat einer grundsätzlich exklusiv-perpetuellen Legitimation von Hoheitsakten postuliert. Vielmehr offenbaren sich insofern zugleich auch die Besonderheiten des durch Art.  20 Abs.  2  GG vorgegebenen fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs: Das dauerhafte Ausgehen aller Akte öffentlicher Gewalt vom Volk kann in der Regel nur durch eine mittelbar-indirekte Rückbindung realisiert werden. Just deswegen heißt es in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz GG ausdrücklich, dass die Volksherrschaft immer auch durch besondere Organe ausgeübt wird und werden muss55. Fragt man sich daran anknüpfend, wie der – gegebenenfalls über zahllose Organe verlaufende – fortwährend legitimationsvermittelnde Ableitungszusammenhang konkret ins Werk gesetzt wird, so fällt der Blick zunächst auf Art. 20 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz GG, der zwei spezifische Formen der Legitimation unterscheidet56. Danach kann ein Hoheitsakt offenbar dadurch an das Volk rückgekoppelt werden, dass er von einem Amtsträger erlassen wurde, der vom Volk ausgewählt wurde57. Des Weiteren kann die demokratische Allgemeinheit eine Hoheitsentscheidung auch selbst treffen und sie dadurch in der Sache legitimieren58. Insofern unterscheidet Art. 20 Abs. 2 GG zwischen personeller und materieller demokratischer Legitimation von Hoheitsakten59. Im Rahmen mittelbarer Demokratie lassen sich auf die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz GG ausdrücklich angesprochene

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Saalfrank (Fn.  5), S.  51 sowie Voßkuhle / Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, in: JZ 2002, S. 673 (675). 56 Dies übersieht Emde (Fn. 37), S. 327 ff. 57 Vgl. Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, 1996, S. 230. 58 Schmidt-Aßmann (Fn. 14), S. 329 (355 und 357). 59 So auch Jestaedt (Fn. 31), S. 267 sowie Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 77.

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Art und Weise allerdings nur wenige, wenn auch besonders bedeutsame Hoheitsakte legitimieren. In der Regel wird die demokratische Legitimation im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz GG organschaftlich vermittelt60. Dabei kommen freilich ebenfalls die urtümlich bereits in Art.  20 Abs. 2 Satz  2 1.  Halbsatz GG vorgegebenen spezifischen Legitimationsformen zum Tragen, also die personelle sowie die materielle Legitimation61.

2. Volkssouveränität als Prozess dauerhafter demokratischer Legitimation Aus den im staatstheoretischen Teil im Einzelnen dargelegten Gründen62 führen die grundgesetzlich in Art.  20 Abs.  2 Satz  2 1.  Halbsatz  GG aufscheinenden spezifischen Legitimationsbeiträge nicht schon eo ipso dazu, dass sich der durch Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG geforderte fortwährend dauerhafte Ableitungszusammenhang tatsächlich verwirklicht. Denn abgesehen vom überaus seltenen Fall volksunmittelbarer personeller und materieller demokratischer Legitimation kann ein Hoheitsakt überhaupt nur dann aufgrund personeller und materieller Legitimationsbeiträge als aktuell vom Volk herrührend angesehen werden, wenn die Amtsträger, die die personellen und materiellen Legitimationsbeiträge leisten, den Volkswillen zu vergegenwärtigen in der Lage sind. Art. 20 Abs. 2 GG entbindet indessen normativ jenes System magistratischer Repräsentation, das in staatstheoretischer Perspektive für die wirk-liche Zu­ rechnungsstruktur der Volkssouveränität beschrieben worden ist63. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei, wie gesehen, dem Prinzip regelmäßig wiederkehrender Wahlen zu64. Dieses Prinzip findet sich in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz 1. Alternative  GG ausdrücklich verbürgt; seine präsentische Formulierung kehrt den notwendig repetitiven Charakter von Wahlen deutlich hervor65. Dass das nach allem auch grundgesetzlich geforderte System magistratischer Repräsentation zwischen deren verschiedenen Akteuren – Parlamentariern, sonstigen magistratischen Repräsentanten et cetera  – differenziert, spiegelt sich in

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Dazu auch Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 398. Vgl. nur Pieroth (Fn. 17), Rn. 9a f. sowie Brosius-Gersdorf (Fn. 33), S. 135 f. 62 Siehe oben Kapitel 6 I. 4. = S. 314. 63 Insofern ist im Ergebnis auch die an Art. 20 Abs. 2 GG geübte Kritik zurückzuweisen, dass die Volkssouveränität hier „zum zweiten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte trotz gegenteiliger Beteuerung vom wirklichen Volk abgetrennt“ werde, „indem sie als aus- beziehungsweise weggehend begriffen“ werde (so aber Mittermaier / Mair, Demokratie, 1995, S.  181). Denn es bleibt dabei: „Auch die Volkssouveränität kann ohne repräsentative Befugnisse nicht verwirklicht werden.“ (Müller, Das imperative und das freie Mandat, 1966, S. 234). 64 Vgl. auch Wegge (Fn. 57), S. 214 ff.; ferner Huber, Maastricht – ein Staatsstreich?, 1993, S. 22; auch Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, 1954, S. 26. 65 So im Ergebnis auch Sommermann (Fn. 53), Rn. 159.

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gewisser Hinsicht in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz GG wider. Denn diese Bestimmung betont die Verschiedenheit der die Demokratie ins Werk setzenden Organe66.

3. Staats- und gesellschaftsorganisatorische Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung Das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG angelegte Konzept demokratischer Legitimation erschöpft sich nicht in den beiden (Teil-)Aspekten eines fortdauernd legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhangs einerseits67 sowie eines permanenten Legitimationsprozesses andererseits68. Darüber hinaus bedarf es einer als Volk qualifizierbaren Personenmehrheit, die im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Zurechnungssubjekt aller hoheitlichen Gewalt und gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz  2  GG als entscheidungsfähiges Kollektiv beziehungsweise als Träger besonderer Organe zu fungieren vermag. Insofern setzt Art.  20 Abs.  2 GG unaus­ gesprochen, aber gleichwohl normativ verbindlich, jene staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen demokratischer Volkswerdung voraus, auf die die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität aus den im staatstheoretischen Teil dargelegten Gründen wesensmäßig angewiesen ist69. Dazu zählen die Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger70, die Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung in den gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen71 sowie die staats- sowie gesellschaftsorganisatorischen Publizitätsanforderungen72.



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Vgl. Sachs (Fn. 44), Rn. 35. Siehe oben Kapitel 10 II. 1. = S. 695. 68 Siehe oben Kapitel 10 II. 2. = S. 704. 69 Dazu eingehend Wegge (Fn. 57), S. 169 ff. Die Hineinnahme des gesellschaftsorganisa­ torischen Unterbaus in die grundgesetzliche Demokratienorm markiert einen Unterschied zur unter dem Grundgesetz herrschenden Demokratielehre – vgl. Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002, S. 216 f. 70 Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005 § 46 Rn. 7. 71 Vgl. Rösch (Fn.  32), S.  44 f. und Saalfrank (Fn.  5), S.  50; auch Hesse, Rundfunk zwischen demokratischer Willensbildung und dem Zugriff der EG, in: JZ 1993, S. 545 (548) sowie Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Perels (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 11 (29.). 72 Denninger, Demokratieprinzip und Verfassung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S.  129 (139); auch Reichel, Das demokratische Offenheitsprinzip und seine Anwendung im Recht der politischen Parteien, 1996, S. 110 ff., Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, § 5 Rn. 152 und Rösch (Fn. 32), S. 42 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch das an der Grenzlinie zwischen Staat und Gesellschaft ange­ siedelte Publizitätserfordernis des Art.  21 Abs.  1 Satz  3  GG (dazu Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 21 Rn. 27).

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4. Die Normalität demokratischer Volkswerdung Worin die Normalität demokratischer Volkswerdung liegt, ist im Rahmen des staatstheoretischen Teils in aller Ausführlichkeit entwickelt worden73. Im Rahmen der Interpretation von Art. 20 Abs. 2 GG muss nunmehr ergründet werden, in welchem Umfang dieser Normalität auch positive, nämlich grundgesetzliche Qualität zukommt. Dabei ist die relative Eigenständigkeit des positiven Rechts zu beachten74. Mithin muss der Einbau der wirklichkeitswissenschaftlich erschlossenen Normalität demokratischer Volkswerdung in die positive Demokratienorm des Art.  20 Abs.  2  GG normwissenschaftlich vermittelt erfolgen. Dies hat, wie im Folgenden entwickelt wird, zur Konsequenz, dass nur ein Minimum an demokratischer Normalität zu der durch Art. 20 Abs. 2 GG als Strukturnorm zwingend eingeforderten positiven Normalität rechnet75. Allerdings erschöpft sich die durch Art. 20 Abs. 2 GG gewährleistete positive Normalität nicht in diesem Minimum an demokratischer Normalität. Denn Art. 20 Abs. 2 GG lässt die Normalität demokratischer Volkswerdung auch in ihrer Regelungsdimension als Staatszielnorm in Positivität erwachsen. Als Staatszielbestimmung indes bezieht sich Art. 20 Abs. 2 GG auf ein Optimum an demokratischer Normalität76.

a) Die Normalität demokratischer Volkswerdung als Regelungsgehalt der Staatsstrukturnorm des Art. 20 Abs. 2 GG Inwieweit eine bestimmte Normalität positivrechtlich gilt, muss in Anschauung der verschiedenen normwissenschaftlichen Interpretationselemente entschieden werden77. Dabei kommt generell den normtextbezogenen Interpretationselementen eine vorrangige Bedeutung zu. Nicht hintergehbarer Ausgangspunkt für die normwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Normalitätsproblematik ist daher der Wortlaut von Art.  20 Abs.  2  GG. Dieser setzt in seiner primären Bedeutungsdimension als Staatsstrukturnorm unverkennbar voraus, dass real ein Volk existieren muss, das unmittelbar oder über seine Organe die Staatsgewalt auszuüben vermag. Dabei handelt es sich ohne jeden Zweifel um eine positivrechtliche Anforderung. Denn durch eine Rückbindung tatsächlicher Hoheitsmacht an ein irreales, kontrafaktisches Volk könnte der Sinn und Zweck der grundgesetzlichen Demokratienorm, wirk-liche Volkssouveränität zu gewährleisten, ersichtlich nicht erfüllt werden. Zur positiven Normalität des Art.  20 Abs.  2  GG gehört es daher, dass die Realbedingungen demokratischer Volkswerdung jedenfalls in nuce vorhanden

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Siehe oben Kapitel 6 IV. = S. 353. Dazu oben Vorbemerkung zu Teil III = S. 179. 75 Siehe unten Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706. 76 Siehe unten Kapitel 10 II. 4. b) = S. 708. 77 Siehe oben Einleitung II. = S. 72.

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sind78. Mithin muss ein mit Hoheitsaufgaben betrauter Personenverband, um als Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG qualifizierbar zu sein, in eine maßgeblich von seinen Angehörigen gebildete Öffentlichkeit eingebettet sein, die in quantitativer wie qualitativer Hinsicht ausreichend leistungsfähig ist, um die verbandlichen Entscheidungen zu beeinflussen und zu kontrollieren; des Weiteren müssen, damit ein Personalverband als demos gewertet werden kann, dessen Angehörige durch eine kollektive Identität miteinander verbunden sein, muss ein bestimmter Grad sozialer Integration erreicht werden79. Soweit eine dieser beiden Realbedingungen oder auch beide völlig entfallen, fehlt es jedenfalls an der durch Art. 20 Abs. 2 GG positivrechtlich vorausgesetzten Normalität demokratischer Volkswerdung. Allerdings genügt bereits ein Minimum an realer demokratischer Öffentlichkeit beziehungsweise realer kollektiver Identität, um die von Art. 20 Abs. 2 GG als Staatsstrukturnorm eingeforderte positive Normalität bejahen zu können. Dies ergibt sich aus der normwissenschaftlichen Interpretation von Art. 20 Abs. 2 GG, die den Einbau der Normalität in das positiv geltende Recht steuert. Denn die normwissenschaftliche Interpretation dieser grundgesetzlichen Demokratievorgabe hat ergeben, dass die dort normierte Volkssouveränität als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur, der in der Volkssouveränitätsnorm verwandte Terminus des Volks als polyvalent-variabler Strukturbegriff zu verstehen ist. Damit ist gemeint, dass sich Volkssouveränität und Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG nicht auf einen historisch ein für allemal gewordenen, mithin also statischen demos beziehen, sondern auf eine gegenüber dem sozialen Wandel geöffnete Struktur der politischen Wirklichkeit. Normwissenschaftlich betrachtet muss Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG demnach dahingehend interpretiert werden, dass es sich immer wieder von Neuem konstituieren, Teilvölker aus sich entlassen, Anschluss an Obervölker suchen kann. Dann aber dürfen die zwingenden Anforderungen an die positive Normalität demokratischer Volkswerdung nicht überspannt werden, sondern muss es positivrechtlich genügen, wenn ein Minimum an demokratischer Öffentlichkeit beziehungsweise kollektiver Identität real vorhanden ist. Dass Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG in seiner primären Regelungsdimension als Staatsstrukturnorm die Normalität demokratischer Volkswerdung als bloßes Minimum in Positivität erwachsen lässt, erscheint des Weiteren auch deshalb als gerechtfertigt, weil die normativ vorgegebene Struktur der Volkssouveränität in Hinblick auf die reale Volkswerdung eine eigentümliche, allerdings überaus wirksame und nachhaltige normalisierende Kraft entfaltet. Dies ist im staatstheoretischen Teil  im Einzelnen dargelegt worden80: Die (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität fordert die normative Gewährleistung just solcher 78 Die grundgesetzliche Demokratienorm fordert um ihrer Geltung willen auch in ihrer Tiefendimension ein „institutionelles Dasein“ (Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 132). 79 Zu diesem Ergebnis gelangt man, wenn man die oben Kapitel 6 IV. 3. a) = S. 384 herge­ leiteten Realvoraussetzungen demokratischer Volkswerdung als Minimalanforderungen fasst. 80 Siehe etwa oben Kapitel 6 IV. 3. c) = S. 388.

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diskursiver Kommunikationsstrukturen, die für die Realisierung demokratischer Öffentlichkeit wie auch für die (Re-)Produktion kollektiver Identität konstitutiv sind. Speziell durch das System magistratischer Repräsentation, in dem sich das Prinzip der Volkssouveränität in den Flächenstaaten heutiger Tage normativ Bahn bricht, werden jene Verständigungsprozesse realiter initiiert und massiv gefördert, ohne die auf Dauer weder eine ausreichend intensive demokratische Öffentlichkeit verfangen, noch eine hinreichend tragfähige kollektive Identität erhalten werden kann. Vor diesem Hintergrund beruht es denn auch keineswegs auf un­ reflektierter Normalitätsvergessenheit oder exzessivem Positivismus, wenn die aus Art.  20 Abs.  2  GG als Strukturnorm ableitbaren positivrechtlichen Anforderungen an die Realbedingungen demokratischer Volkswerdung auf ein Minimum reduziert werden. Damit bleibt zu klären, ab wann das durch die Strukturnorm der Volkssouveränität verfassungsrechtlich garantierte Minimum an demokratischer Normalität unterschritten ist. Die von Art. 20 Abs. 2 GG als Strukturnorm zwingend voraus­ gesetzten Realien demokratischer Volkswerdung werden dann nicht mehr eingelöst, wenn die Fragmentarisierung demokratischer Öffentlichkeit so weit fortgeschritten ist, dass selbst wesentliche Entscheidungen des Hoheitsverbands keinen nennenswerten Widerhall mehr in einer netzwerkartig strukturierten öffentlichen Meinung finden und / oder die soziale Desintegration ein solches Ausmaß angenommen hat, dass eine wachsende Zahl von Angehörigen des (vermeintlichen) Volks nicht länger bereit ist, die kollektiven Entscheidungen hinzunehmen. Nur solange dieses Minimum an realer demokratischer Volkswerdung nicht unterschritten wird, gilt die von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Staatsstrukturnorm zwingend geforderte und in diesem Sinne positive Normalität als gewahrt.

b) Die Normalität demokratischer Volkswerdung als Regelungsgehalt der Staatszielnorm des Art. 20 Abs. 2 GG Als Staatsstrukturbestimmung lässt Art. 20 Abs. 2 GG nur ein Minimum an demokratischer Normalität in Positivität erwachsen. Die von Art. 20 Abs. 2 GG als Staatsstrukturbestimmung zwingend vorausgesetzte positive Normalität wird daher immer nur in extrem gelagerten Situationen thematisch werden. Umso bedeutsamer ist, dass Art. 20 Abs. 2 GG die Normalität demokratischer Volkswerdung überdies als verfassungskräftiges Staatsziel normiert hat. Normwissenschaftlich lässt sich dies folgendermaßen begründen. Seinem normativen Schwerpunkt nach enthält Art.  20 Abs.  2 Satz  1 GG eine – vergleichsweise rigide  – Strukturbestimmung81. Er formuliert insofern Anforderungen an die demokratische Rückbindung der im Geltungsbereich des Grundgesetzes aus 81 So zutreffend Herzog, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 20 II Rn. 3.

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geübten Hoheitsgewalt. Diese sind strikt verbindlich. In diesem Zusammenhang ist auch die eben entwickelte Verfassungsgarantie zu verstehen, wonach ein Minimum an demokratischer Normalität von Verfassungs wegen zwingend gewährleistet sein muss. Dadurch wird sichergestellt, dass der verfassungsrechtlich strikt gebotene demokratische Zurechnungszusammenhang realiter überhaupt verfängt. Indes erschöpft sich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in seiner Bedeutungsdimension als Staatsstrukturbestimmung und damit korrelierend auch nicht in der Verbürgung eines Minimums an demokratischer Normalität. Er entbindet zugleich eine rechtlich verbindliche Staatszielbestimmung. Denn die Volkssouveränitätsnorm des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normiert nicht nur strukturelle Vorgaben an die Ausübung hoheitlicher Gewalt. Zugleich nimmt sie normativ eine immer auch kontrafaktische Zielvorstellung politischer Machtverteilung in Bezug, der zufolge die gebietsgesellschaftlich wirksame hoheitliche Macht umfänglich beim Volk verankert sein soll82. Insofern wächst dann aber auch denjenigen Realbedingungen demokratischer Volkswerdung positivrechtliche Bedeutung zu, die Art. 20 Abs.  2 Satz  1  GG nicht schon als Strukturnorm verbürgt. Denn um das immer auch kontrafaktische Machtverteilungsmodell der Demokratie zielgemäß zu verwirklichen, bedarf es – wie die wirklichkeitswissenschaftlichen Überlegungen ergeben haben  – des Entgegenkommens einer demokratischen Normalität. Daher fordert die in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgte Volkssouveränität als Staatszielbestimmung, dass auch auf der Ebene der Normalität weitestmöglich dazu beigetragen wird, dass sich das demokratische Machtverteilungsmodell realisiert. Mithin zielt Art. 20 Abs. 2 GG als Staatszielbestimmung darauf ab, dass die Realbedingungen demokratischer Volkswerdung optimiert werden. In diesem Sinn bezweckt Art. 20 Abs. 2 GG in seiner Regelungsdimension als Staatszielbestimmung ein Optimum an demokratischer Normalität und nicht wie in seiner Regelungsdimension als Staatsstrukturbestimmung ein Minimum. Zu berücksichtigen ist freilich, dass die Staatszielbestimmung Volkssouveränität, im Rahmen derer die Normalität demokratischer Volkswerdung als Optimierungsgebot in Positivität erwächst, nur eine geringe Regelungskraft besitzt. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass speziell dem Gesetzgeber bei der Verwirklichung verfassungsrechtlich vorgegebener Staatsziele allgemein eine weite Einschätzungsprärogative zuerkannt wird83, und zwar sowohl bezüglich der Auswahl der zielverwirklichenden Mittel und des Zeitpunkts der Zielverwirklichung als auch im Hinblick auf die Konkretisierung der inhaltlich typischerweise unbestimmten Zielvorgabe84. Hinzu tritt zum anderen, dass sich Art. 20 Abs. 2 GG – wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt  – als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur speziell für Hoheitsakte darstellt und insofern auch eine gestaltungs

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Zur Demokratie als Problem der Machtverteilung allgemein Stein / Frank (Fn. 36), § 8 IV. Dazu nur Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20a Rn. 17. 84 Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 5 Rn. 34.

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offene Zielvorstellung entbindet85. Vor diesem Hintergrund erfasst die Staatszielbestimmung des Art. 20 Abs. 2 GG die Normalität demokratischer Volkswerdung positivrechtlich im Wesentlichen als Gestaltungsermächtigung, ferner als Gestaltungsauftrag sowie im Übrigen als Auslegungsgesichtspunkt. Verfassungsrechtlich folgenlos ist diese positive Normalität indes keineswegs. Gegenüber Privaten, die sich unter Berufung auf kollidierende Grundrechte gegen öffentliche Maßnahmen wenden, die der demokratiefördernden Lebenswelt-, Diskurs- und Öffentlichkeitspflege dienen, kann der Staat zu seiner Rechtfertigung darauf verweisen, dass er zur Optimierung demokratischer Normalität ermächtigt und verpflichtet ist. Mit derselben Argumentation lassen sich fernerhin gegebenenfalls die gegenläufigen Wertungen anderer Staatsstruktur- beziehungsweise Staatszielbestimmungen überwinden. Dies kann im Ergebnis überaus weitreichende Folgen haben, wenn man bedenkt, dass demokratische Lebenswelt-, Diskurs- und Öffentlichkeitspflege insbesondere auch den Zweck verfolgen kann, die Systemimperative Geld und Macht zurückzudrängen86. So kann sich der Gesetzgeber unter Berufung auf die positive Normalität demokratischer Volkswerdung als Staatziel etwa auch auf den insoweit verfassungsrechtlich grundsätzlich legitimen Standpunkt stellen, dass zur effektiven Rückkoppelung hoheitlicher Macht an das Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine weitere Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft erforderlich ist87. Zwar regelt Art.  20 Abs. 2 Satz 1 GG, wie dargelegt88, nicht unmittelbar die ‚soziale Demokratie‘89. Doch haben die wirklichkeitswissenschaftlichen Überlegungen gezeigt, dass die Normalität demokratischer Volkswerdung entscheidend davon abhängt, dass auf breiter Basis hinreichend qualitätsvolle Diskurse Platz greifen. Denn dadurch werden die beiden Elementarvoraussetzungen auch der bloß hoheitsgewaltbezogenen Demokratie – nämlich kollektive Identität und demokratische Öffentlichkeit – er­ halten90. Durch Demokratisierungsmaßnahmen lässt sich insofern jene Diskursgesellschaft optimieren, auf die Volkssouveränität auch als Zurechnungsstruktur nur für hoheitliche Gewalt realiter verwiesen ist91. Infolgedessen steht es in Einklang

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Siehe oben Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588. Zur Gefährdung demokratischer Normalität durch Geld und Macht siehe oben Kapitel 6 IV. 3. b) = S. 387. 87 Im Ergebnis so auch Stein / Frank (Fn. 36), § 8 IV. 88 Siehe oben Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588. 89 Zur Begriffsgeschichte der ‚sozialen Demokratie‘ beispielsweise Conze, ‚Demokratie‘ in der modernen Bewegung, in: Brunner / ders. / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  1, 5. Aufl. 1997, S.  873 (886 ff.). Vgl. auch Leibholz, Gesellschaftsordnung, Verbände, Staatsordnung, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1974, S. 326 (339). Eine unzutreffende Entgegensetzung von ‚sozialer‘ und ‚sozialistischer Demokratie‘ findet sich bei Sartori, Demokratietheorie, 1992, S.  18: Sartori verkennt, dass nicht nur die sozialistische, sondern auch eine effektive soziale Demokratie ganz wesentlich auf einen Staat angewiesen ist, der in der Gesellschaft demokratische Arrangements ein- und durchsetzt. 90 Siehe oben Kapitel 6 IV. 3. a) = S. 384. 91 Auf diese Zusammenhänge hat der Sache nach schon Fraenkel, Kollektive Demokratie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1999, 343 (352) hingewiesen.

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mit der Gestaltungsermächtigung und dem Gestaltungsauftrag, die Art. 20 Abs. 2 Satz  1  GG als Staatsziel entbindet, wenn der Staat Wirtschaft und Gesellschaft demokratisiert, weil und soweit er damit die Normalität demokratischer Volkswerdung befördert. Und eingedenk dieser demokratisierungsfreundlichen Ver­ fassungsrechtslage müssen dann auch Kollisionen – etwa mit Grundrechten oder auch mit anderen Staatstruktur- und Staatszielbestimmungen – bewältigt werden.

5. Volkssouveränität als Erzeugung eines hinreichend hohen Legitimationsniveaus Inwieweit im Rahmen des in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 GG niedergelegten Konzepts demokratischer Legitimation zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus92 beigetragen wird, braucht hier nicht in aller Ausführlichkeit dargelegt zu werden. Denn insoweit kann im Wesentlichen auf die Erwägungen verwiesen werden, die im staatstheoretischen Teil angestellt wurden93. Eine eingehendere Analyse setzt hingegen die Beantwortung der Frage voraus, welche konkreten Anforderungen die in Art.  20 Abs.  2 Satz  1 und Satz  2  GG verbürgte Strukturnorm der Volkssouveränität an das zu verwirklichende Niveau demo­kratischer Legitimation stellt. Insofern ist zunächst grundlegend zwischen den Vertikaldimensionen sowie der Horizontaldimension von Volkssouveränität einerseits und andererseits ihrer Tiefendimension zu differenzieren. Schließlich ist in Hinblick auf die Normalität demokratischer Volkswerdung dargetan worden, dass die grundgesetzliche Strukturnorm der Volkssouveränität insofern lediglich ein Minimum an demokratischer Normalität fordert und schützt94. Anders als bei der Tiefendimension verhält es sich indes, wie zu zeigen sein wird, im Rahmen der anderen Regelungsdimensionen von Volkssouveränität. Bei diesen genügt nicht schon ein Minimum an demokratischer Legitimation, um die zwingenden An­forderungen zu erfüllen, die Art. 20 Abs. 2 GG als Staatsstrukturnorm formuliert. Denn insofern stellt die Staatsstrukturnorm der Art. 20 Abs.  2  GG auf ein nicht bloß minimales, sondern hinreichend hohes Legitimationsniveau ab95. Um dieses näher zu bestimmen, kann auch im Rahmen der von Art.  20 Abs.  2  GG verbürgten Strukturnorm im Prinzip auf das im staatstheoretischen Teil  entwickelte Konkretisierungsschema zurückgegriffen werden96. Freilich ergibt sich die Besonderheit, dass die staatsorganisatorischen Bestimmungen des Grundgesetzes ein Niveau demokratischer Zurechenbarkeit erkennen lassen, das

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Dazu nur Voßkuhle / Sydow (Fn. 55), S. 675. Siehe oben Kapitel 6 V. = S. 390. 94 Siehe oben Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706. 95 Vgl. hierzu etwa auch Saalfrank (Fn. 5), 1995, S. 50; Dederer (Fn. 31), S. 160 ff.; Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, in: EuR 2001, S. 809 (816). 96 Siehe oben Kapitel 6 VI. = S. 495.

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als verfassungsrechtlich a priori ausreichend angesehen werden muss. Dies bedeutet, dass Abweichungen vom immer auch kontrafaktischen Machtverteilungsmodell der Demokratie bei der Konkretisierung der durch Art. 20 Abs. 2 GG verbürgten Strukturnorm der Volkssouveränität überhaupt erst dann begründungsbedürftig werden, wenn sie das durch die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen determinierte Niveau demokratischer Legitimation unterschreiten97. Wird nun, um daran anknüpfend die Gewährleistungsgehalte der durch Art. 20 Abs. 2 GG verbürgten Volkssouveränität konkretisieren zu können, aus einschlägigen Verfassungseinzelbestimmungen das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation rekonstruiert, so sind diejenigen Legitimationszusammen­ hänge auszublenden, die sich unmittelbar aus der Geltung beziehungsweise der Revisibilität der Verfassung ergeben. Es interessiert mit anderen Worten nur die Zurechenbarkeit unter der Herrschaft des Grundgesetzes, nicht die Zurechen­ barkeit durch das Grundgesetz.

a) Die Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus Auch im normativen Kontext des Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt sich das Niveau demokratischer Legitimation zunächst und zuvörderst nach dem Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation98. Je mehr volksfremde Entscheidungsträger am Erlass eines Hoheitsakts beteiligt sind, desto geringer ist das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation; je mehr volksfremde Machtträger an der demokratischen Revisionsmacht teilhaben und je unabänderlicher eine einmal getroffene Entscheidung aus Sicht des legitimationsstiftenden demos ist, desto kleiner ist das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation. Fernerhin korreliert das demokratische Legitimationsniveau mit dem Grad demokratischer Abgeleitetheit eines Hoheitsakts99. Dieser wird außer durch die schiere Länge des Ableitungszusammenhangs und die Reichweite der spezifischen Legitimationsbeiträge vor allem noch durch deren Wirkkraft und  – damit zusammenhängend – durch den Charakter des Legitimationsmittlers determiniert. Beispielsweise vermittelt eine vom unmittelbar volksberufenen Parlament aus­ gehende materiell-direktive Legitimation ein ungleich höheres Maß an Volkssouveränität im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als die materiell-kontrollative Legitimation, die durch die Überwachung eines gleichfalls unmittelbar vom Volk gewählten (Kommissions-)Präsidenten bewirkt werden kann. 97 Zur Spezifizierung der Volkssouveränität durch verfassungsrechtliche Einzelnormen Morlok, Demokratie und Wahlen, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 559 (563). 98 Vgl. hierzu aus staatstheoretischer Sicht oben Kapitel 6 V. 1. a) = S. 392. 99 Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405.

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Das Niveau demokratischer Legitimation wird außerdem durch den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit determiniert100. Dieser bestimmt sich danach, inwieweit ein Hoheitsakt durch die störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhänge erfasst wird und wie störungsanfällig die betreffenden revisionären Legitimationszusammenhänge sind. Soweit etwa bestimmte Verwaltungsakte wegen bestehender Vertrauensschutzregeln101 allein dadurch revisionär legitimiert werden, dass der Gesetzgeber unter Aufhebung der fraglichen Vertrauensschutzregeln die Aufhebung oder Modifikation der betreffenden Verwaltungsakte anzuordnen vermag, fällt der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit größer aus, als wenn die Vertrauensschutzregeln nicht bestünden und von daher neben dem Gesetzgeber auch der Administrative Revisionskompetenz zukäme. Denn in der zuletzt genannten Konstellation wird der Verwaltungsakt nicht nur durch die vom Gesetzgeber, sondern zugleich auch durch die von der Administrative ausgehende revisionäre Legitimation geprägt. Da nun die Administrative typischerweise in einem verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis zu dem legitimationsbedürftigen Verwaltungsakt steht, wovon beim Gesetzgeber nicht ausgegangen werden kann, ist die von der Verwaltung zusätzlich bewirkte revisionäre Legitimation weniger störungsanfällig als die vom Gesetzgeber ausgehende. In­ folgedessen verringert sich der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, soweit ein Verwaltungsakt außer vom Gesetzgeber zusätzlich von der Administrative revisionär legitimiert wird. Des Weiteren hängt das Niveau demokratischer Legitimation auch in grund­ gesetzlicher Perspektive davon ab, inwieweit die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung den Anforderungen von Freiheit und Gleichheit genügen102. Werden etwa bei Wahlen und Abstimmungen im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz GG Minderheitenstimmen stärker gewichtet als die der Mehrheit, wird dadurch das Niveau demokratischer Legitimation gesenkt, weil dies der Gleichheit der Wahl Abbruch tut. Nimmt der Staat – um ein weiteres Beispiel zu nennen – Regelungen teilweise zurück, die dem Erhalt einer pluralen Medienlandschaft dienen, so beeinträchtigt er die unter den Bedingungen der modernen Informationsgesellschaft zwingend institutionell zu gewährleistende Freiheit und Gleichheit gesellschaftlicher Diskussionsprozesse und trägt dadurch zu einer Abnahme des demokratischen Legitimationsniveaus ab. Nach dem in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG niedergelegten Konzept bemisst sich das Niveau demokratischer Legitimation schließlich noch danach, in welchem Umfang die Realbedingungen demokratischer Volkswerdung verwirklicht sind. So erreichen Hoheitsakte ein besonders hohes Niveau demokratischer Legitimation, wenn sie aus einer Gebietsgesellschaft heraus demokratisch legitimiert 100

Hierzu oben Kapitel 6 V. 1. c) = S. 470. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 79 Rn. 86 ff. 102 Siehe oben Kapitel 6 V. 3. = S. 483. 101

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werden, die de facto durch eine besonders leistungsfähige demokratische Öffentlichkeit und ein hohes Maß an kollektiver Identität innerhalb des demos gekennzeichnet ist. Nach allem lassen sich in Hinblick auf die Erzeugung eines bestimmten Niveaus demokratischer Legitimation keine Unterschiede zwischen den staatstheoretischen Überlegungen und den an Art. 20 Abs. 2 GG orientierten positivrechtlichen Erwägungen ausmachen. Abweichendes gilt auch nicht hinsichtlich der Tiefendimension von Volkssouveränität. Insbesondere kann nicht angenommen werden, dass die graduellen Unterschiede demokratischer Legitimation, die ihre Ursache im Bereich der Normalität demokratischer Volkswerdung haben, von der positiven Normalität des Art. 20 Abs. 2 GG überhaupt nicht erfasst werden. Zwar trifft es zu, dass die in Art. 20 Abs. 2 GG enthaltene Staatsstrukturnorm den normalitätsbedingten Niveauunterschieden demokratischer Legitimation keine weitergehende Relevanz beimisst. Denn als Staatsstrukturnorm fordert Art. 20 Abs. 2 GG lediglich ein Minimum an demokratischer Normalität103. Solange dieses gewahrt bleibt, ist es für die Strukturbestimmung des Art. 20 Abs. 2 GG unerheblich, ob die Funktions- und Leistungsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit sich abschwächt oder im Gegenteil verstärkt wird und ob die Bindungskraft der den Volksgliedern gemeinsamen kollektiven Identität zu- oder abnimmt. Indes normiert Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auch eine Staatszielbestimmung, die auf ein Optimum an demokratischer Normalität hin ausgerichtet ist104. Insofern werden die graduellen Unterschiede demokratischer Legitimation, die ihre Ur­ sache im Bereich der Normalität demokratischer Volkswerdung haben, durchaus von der positiven Normalität des Art. 20 Abs. 2 GG erfasst. Ein Beispiel: Je massiver die Funktions- und Leistungsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit be­ einträchtigt ist und je geringer die Bindungskraft der den Volksgliedern kollektiven Identität ausfällt, desto stärker wiegt die aus Art. 20 Abs. 2 GG ableitbare Staatszielbestimmung in der Kollision mit gegenläufigen Verfassungsgütern. Es bleibt also dabei, dass die Vorstellungen, die Art.  20 Abs.  2  GG in Hinblick auf die Erzeugung eines bestimmten Niveaus demokratischer Legitimation voraus-setzt, mit den im staatstheoretischen Teil  dazu angestellten Überlegungen kongruieren. Bleibt abschließend nur mehr darauf hinzuweisen, dass sich auch im Rahmen von Art. 20 Abs. 2 GG Legitimationseinbußen, die in Hinblick auf den einen demokratischen Erzeugungsfaktor zu registrieren sind, nur in sehr beschränktem Maße durch andernorts erzielte Legitimationszuwächse kompensieren lassen105. Denn die verschiedenen Determinanten des nach Maßgabe von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG erzeugten demokratischen Legitimationsniveaus sind ganz überwiegend inkommensurabel. Abweichendes gilt nur im Hinblick auf die Legitimations(unter)formen. Personelle, materiell-direktive und materi 103

Siehe oben Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706. Siehe oben Kapitel 10 II. 4. b) = S. 708. 105 Dazu eingehend oben Kapitel 6 V. 5. b) = S. 489.

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ell-kontrollative Legitimation stehen in einem grundsätzlichen Kompensationsverhältnis. Denn aus Art. 20 Abs. 2 GG lässt sich insofern nichts Abweichendes ableiten.

b) Anforderungen der in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgten Strukturnorm der Volkssouveränität an das Niveau demokratischer Legitimation Aus Art. 20 Abs. 2 GG lässt sich ein anspruchsvolles Legitimationskonzept ableiten, im Rahmen dessen in spezifischer Weise zur Erzeugung eines demokra­ tischen Legitimationsniveaus beigetragen wird. Hingegen gibt die grundgesetz­ liche Volkssouveränitätsnorm nicht unmittelbar vor, welches Legitimationsniveau konkret erreicht werden soll, damit die Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 GG als Staatsstrukturnorm erfüllt werden106. Insofern bedarf es einer genaueren norm­ wissenschaftlichen Analyse. Die aus der Strukturnorm des Art. 20 Abs. 2 GG ableitbaren Anforderungen an das Niveau demokratischer Legitimation sind nun freilich schon insofern konkre­ tisiert worden, als es die – demnach positive – Normalität demokratischer Volkswerdung anbelangt. Insofern ist klargestellt worden, dass Art. 20 Abs. 2 GG als Strukturnorm nur ein Minimum an demokratischer Normalität fordert107. Allerdings lässt dies keineswegs den Schluss zu, dass die Strukturnorm des Art.  20 Abs. 2 GG es auch in Hinblick auf den legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang sowie die staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvolle Volkswerdung bei einem Minimum an demokratischer Legitimation bewenden lassen will. Denn dass die Strukturnorm des Art. 20 Abs. 2 GG nur ein Minimum an demokratischer Normalität fordert, beruht auf Erwägungen, die sich nicht auf die anderen Dimensionen von Volkssouveränität übertragen lassen: Wenn Art.  20 Abs.  2  GG als (entwicklungs-)offene Zurechnungsstruktur und als Sitz eines polyvalent-variablen Volksbegriffs es normativ ermöglicht, dass der demos sich immer wieder neu formieren, Teilvölker aus sich entlassen und Anschluss an Obervölker suchen darf, dann wäre es selbstwidersprüchlich, wenn Art.  20 Abs. 2 GG mehr als minimale Anforderungen an die Normalität demokratischer Volkswerdung stellte. Denn diese muss erst wachsen108. Hingegen ist insofern nicht ersichtlich, weshalb auch die Anforderungen an das staats- und gesellschaftsorganisatorische Demokratiearrangement auf ein Minimum reduziert sein sollten. Dies gilt umso mehr, als sich die bloß minimalen Vorgaben des Grundgesetzes an die demokratische Normalität des Weiteren auch dadurch begründet sehen, dass das von der Volkssouveränitätsnorm eingeforderte staats- und gesellschafts 106

Etwa auch Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union, 2004, S. 45. Siehe oben Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706. 108 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, S. 231 f. 107

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organisatorische Demokratiearrangement ihrerseits die demokratische Normalität fördert109. In dieser Perspektive lässt sich erst recht kein tragfähiger Grund dafür finden, dass Volkssouveränität in ihren anderen Regelungsdimensionen auf ein legitimatorisches Minimum reduziert sein sollte. Richtigerweise ist daher davon auszugehen, dass die durch Art. 20 Abs. 2 GG gewährleistete Strukturnorm der Volkssouveränität in Hinblick auf den legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang sowie die staats- und gesellschaftsorganisatorisch voraussetzungsvolle Volkswerdung kein bloß minimales, sondern ein hinreichend hohes Niveau demokratischer Legitimation fordert110. Es widerspräche dem Sinn und Zweck dieser für das Grundgesetz zentralen Staatsstrukturbestimmung, wenn in den betreffenden Dimensionen jede noch so lockere, eben minimale Rückkoppelung hoheitlicher Entscheidungen an das Volk die Niveau­ anforderungen von Art.  20 Abs.  2  GG erfüllen könnte111. Jedenfalls in teleolo­ gischer Perspektive kann daher nicht bezweifelt werden, dass Art. 20 Abs. 2 GG als Strukturnorm unhintergehbare Anforderungen an ein hinreichend hohes demokratisches Legitimationsniveau stellt112.

c) Konkretisierung des durch Art. 20 Abs. 2 GG als Strukturnorm geforderten hinreichend hohen Legitimationsniveaus Im Ausgangspunkt lässt sich in negativer Hinsicht feststellen, dass sich das durch Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG geforderte hinreichend hohe Legitimationsniveau nicht mit demjenigen deckt, das durch die einzelnen verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes für die verschiedenen Akte grundgesetzlich verfasster Gewalt konkret festgelegt wird113. Namentlich systematische Erwägungen sprechen dagegen, das durch die verschiedenen Einzelvorschriften entfaltete grundgesetzliche Legitimationsniveau integraliter in die Verbürgung des Art.  20 Abs. 2 Satz 1 GG hinein zu interpretieren. So ist zu berücksichtigen, dass Art. 20 Abs.  2 Satz  1  GG zu den durch Art.  79 Abs.  3  GG geschützten Verfassungs­ 109 Vgl. dazu auch Habermas, Braucht Europa eine Verfassung?, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S. 154 (189), der den „Witz des Republikanismus darin“ sieht, dass „die Formen und Verfahren des Verfassungsstaates mit dem demokratischen Legitimationsmodus zugleich eine neue Ebene des sozialen Zusammenhalts erzeugen“. 110 Hierzu auch Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 139 f.: „Demokratische Legitimation im Sinne des Grundgesetzes (…) verlangt, dass das Volk die politische Herrschaftsgewalt auch selbst kontrolliert und dadurch selbst herrscht, statt nur pe­ riodische Anstöße zu seiner Beherrschung zu liefern.“ 111 So im Ergebnis auch Di Fabio, Demokratie im System des Grundgesetzes, in: Brenner /  Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 77 (83) sowie Brosius-Gersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 31 f. 112 In diese Richtung auch Rinken (Fn. 33), S. 230 und Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, 1998, S. 231 f. 113 Dazu auch Sachs (Fn. 44), Rn. 14.

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bestimmungen rechnet. Mithin würde der Gestaltungsspielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers massiv eingeschränkt, wenn er bei Reformen der im Grundgesetz verankerten demokratischen Arrangements als an das durch grundgesetzliche Detailvorschriften spezifizierte Legitimationsniveau gebunden angesehen werden müsste114. Zwar wäre dem verfassungsändernden Gesetzgeber auch insofern kein ganz bestimmter Legitimationsmodus vorgegeben. Wegen der überaus ein­geschränkten Kompensationsmöglichkeiten im Verhältnis der einzelnen Legitimationsfaktoren untereinander115 könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber dennoch keine einschneidenderen Verfassungsreformen vornehmen, wenn er sich an das im Grundgesetz verwirklichte Legitimationsniveau halten müsste. Die Relativierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf das im Grundgesetz im Einzelnen verwirklichte demokratische Legitimationsniveau würde folglich die Differenz nivellieren, die das deutsche Verfassungsrecht seiner klaren Systematik nach zwischen der Gesamtheit der grundgesetzlichen Vorschriften einerseits und seiner veränderungsfesten Essenz andererseits trifft116. Dies gilt insbesondere, wenn auch keineswegs ausschließlich dann, wenn man Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG – wie hier – als vollumfänglich von Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ansieht117. Denn dann bestünde für den verfassungsändernden Gesetzgeber überhaupt keine Möglichkeit, das grundgesetzlich vorgezeichnete demokratische Legitimationsniveau auch nur bereichsweise ohne  – sowieso nur selten mögliche  – Kompensation zu unterschreiten. Der grundgesetzsystematisch klar angelegte Unterschied zwischen den einzelnen verfassungsrechtlichen Verbürgungen sowie dem durch Art. 79 Abs. 3 GG verfügten Ewigkeitsschutz würde in dieser Perspektive nahezu völlig eingeebnet. Daher ist gerade auch im Hinblick auf die hier favorisierte Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG davon auszugehen, dass das von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geforderte demokratische Legitimationsniveau nicht mit dem vom Grundgesetz im Einzelnen fixierten identifiziert werden darf. Dies deckt sich mit der schon an früherer Stelle gewonnenen Erkenntnis, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG reduktiv zu deuten ist118. Wenn sich die von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG entbundenen Anforderungen an ein hinreichend hohes Legitimationsniveau demzufolge nicht mit denjenigen decken, die sich aus den diversen grundgesetzlichen Einzelnormierungen ableiten, so darf dies freilich nicht zu fehlsamen Gegenschlüssen verleiten. Insbesondere leitet sich daraus nicht ab, dass das im Grundgesetz konkret normierte Legitimationsniveau für die Bestimmung des durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Strukturnorm geforderten Niveaus demokratischer Legitimation ohne Belang wäre. Vielmehr 114

Schnapp, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 4./5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 14. Großzügiger freilich Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 [D] Rn. 118. 116 Hierzu eingehend Stern (Fn. 43), S. 113 ff. 117 Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571. 118 Siehe zusammenfassend oben Kapitel 9 III. 7. = S. 583. 115

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bleibt mangels anderweitiger normativer Anhaltspunkte eine normwissenschaftlich orientierte Konkretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf das im Grund­ gesetz konkret entfaltete Legitimationsniveau verwiesen. Dieses darf zwar, wie gesagt, nicht integraliter in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG hineingelesen werden. Es bietet jedoch einen unverzichtbaren Ansatzpunkt, um das durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geforderte Maß an demokratischer Legitimation zu bestimmen. So bildet das im Grundgesetz im Einzelnen entfaltete Legitimationsniveau in jedem Fall die Obergrenze dessen, was Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Staatsstrukturnorm fordern kann. Mehr als die Wahrung desjenigen Legitimationsniveaus, das die Verfassungseinzelvorschriften im Einzelnen einfordern, kann auch Art. 20 Abs.  2 Satz  1  GG sinnvollerweise nicht verlangen. Wird daher durch eine Ver­ fassungsänderung das grundgesetzliche Legitimationsniveau gewahrt, steht sie insofern immer in Einklang mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Sehr viel bedeutsamer ist freilich, wie das durch die grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen vorgezeichnete Legitimationsniveau in die Bestimmung jenes hinreichenden Legitimationsniveaus einfließt, das Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Strukturbestimmung seinem Sinn und Zweck nach notwendig vorgibt119. Dies offenbart sich, wenn man auf das Konkretisierungsschema zurückgreift, das im staatstheoretischen Teil  entwickelt worden ist120. Insofern nämlich stellt sich das grundgesetzlich konkret entfaltete Legitimationsniveau als eine Ausgestaltung im Randbereich der Volkssouveränität dar, die grundgesetzlich von vornherein gerechtfertigt ist. Erst dann, wenn die demokratische Legitimation im Hinblick auf einen spezifischen Hoheitsakt unter das in den Einzelnormierungen des Grund­ gesetzes hierfür vorgegebene Niveau rutscht, ist zu prüfen, ob diese Legitimationseinbuße zur Durchsetzung eines gegenläufigen Gemeinwohlaspekts geeignet, erforderlich sowie angemessen erscheint und im Übrigen auch der Kernbereich von Volkssouveränität nicht beeinträchtigt wird121. Das durch die grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen entfaltete Legitimationsniveau erweist sich mithin als entscheidend dafür, ob ein bestimmtes demokratierelevantes Arrangement im Hinblick auf die Strukturbestimmung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG begründungsbedürftig ist oder nicht. Es scheidet den verfassungsrechtlich unproblematischen Teil  des Randbereichs der Volkssouveränität von dem verfassungsrechtlich prekären. Aus der hier im Vordergrund stehenden normwissenschaftlichen Perspektive versteht sich freilich nicht von selbst, weshalb das grundgesetzlich vorgezeichnete Legitimationsniveau in der geschilderten Art und Weise in das staatstheoretisch entwickelte Konkretisierungsschema eingebaut werden kann. Vielmehr bedarf es der besonderen normwissenschaftlichen Begründung und Rückversicherung, dass 119

Zum Erfordernis einer hinreichenden Legitimation vgl. Pieroth (Fn. 17), Rn. 9. Dazu oben Kapitel 6 VI. = S. 495. 121 (Nur) In diesem Sinne erweist sich das Prinzip der Volkssouveränität als abwägungs­ offen – siehe dazu Morlok (Fn. 97), S. 564. 120

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das im staatstheoretischen Teil entfaltete Konkretisierungsschema auch für die Bestimmung der grundgesetzlichen Anforderungen an ein hinreichend hohes Niveau demokratischer Legitimation herangezogen werden darf122. Wenn auch im Rahmen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf das im staatstheoretischen Teil hergeleitete Konkretisierungsschema zurückgegriffen wird, so ist dies zunächst damit zu begründen, dass die grundgesetzliche Volkssouveränität, normwissenschaftlich betrachtet, gleichermaßen im Zeichen der verbandsorientierten wie der individuumszentrierten Demokratieparadigmen steht123. Entbindet nämlich, wie dargelegt, sowohl die der verbandsorientierten Sichtweise verpflichtete institutionelle Rekonstruktion von Volkssouveränität als auch die der individuumszentrierten Sichtweise folgende freiheitsrechtliche Rekonstruktion dasselbe Konkretisierungsschema124, so legt dies den Schluss nahe, dass sich auch die Volkssouveränität im Sinne von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG, die auf einer inhaltlichen Verschränkung dieser Sichtweisen beruht, nach Maßgabe des betreffenden Schemas konkretisieren lässt. Bestätigt sieht sich diese These, wenn man sich erneut die normative Struktur des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG sowie seine systematische Einbettung in den Ver­ fassungstext vergegenwärtigt. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG enthält primär eine Strukturbestimmung, aus der sich vergleichsweise rigide Vorgaben hinsichtlich der demokratischen Legitimation von Hoheitsgewalt ergeben125. Allerdings trifft Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG insofern keine ausdrückliche Aussage über das konkret zu erreichende Niveau demokratischer Legitimation126. Um normwissenschaftlich die konkreten Niveauanforderungen bestimmen zu können, die sich aus der an sich wenig beredten Strukturbestimmung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben, muss daher das insoweit relevante Normmaterial gesammelt, interpretiert und in ein dogmatisch überzeugendes Verhältnis zueinander gebracht werden. Nun ist davon auszugehen, dass die Staatsstrukturnorm des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG Anforderungen an ein hinreichendes Niveau demokratischer Legitimation stellt127. Des Weiteren ist zu bedenken, dass Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG immer auch ein spezifisches, partiell kontrafaktisches Machtverteilungsmodell vorgibt. Darin liegt die Regelungsdimension von Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG als Staatszielbestimmung begründet128. Schließlich ist zu erinnern, dass die demokratierechtlichen Verfassungseinzelbestimmungen mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung129 die Obergrenze dessen markieren, was die Strukturbestimmung 122

Zu diesem methodischen Postulat vgl. oben Vorbemerkung zu Teil IV = S. 544. Dazu eingehend oben Kapitel 9 V. = S. 594. 124 Siehe oben Kapitel 6 VI. = S. 495. 125 Herzog (Fn. 81), Rn. 33 und oben Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588. 126 Oben Kapitel 10 II. 5. b) = S. 715. 127 Siehe oben Kapitel 10 II. 5. b) = S. 715. 128 Siehe oben Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588. 129 Hesse (Fn. 72), Rn. 20.

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des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG an demokratischer Legitimation maximal fordern kann130. Aus diesem normativen Material ergibt sich zunächst, dass die Strukturbestimmung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG überhaupt nur dann thematisch wird, wenn das durch die Verfassungseinzelbestimmungen des Grundgesetzes vorgegebene Legitimationsniveau unterschritten wird. Um zu konkretisieren, inwieweit Legitimationseinbußen bei thematischer Einschlägigkeit des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zulässig sind, muss mangels anderweitiger normwissenschaftlich verwert­barer Anhaltspunkte auf das der grundgesetzlichen Volkssouveränität zugrundeliegende Machtverteilungsmodell zurückgegriffen werden. Dieses freilich zielt, da es die Alleinherrschaft des Volks proklamiert und mithin jedwede Verkürzung von Volkssouveränität missbilligt, immer auf ein – niemals voll verwirklichbares – Optimum an Volkssouveränität ab. Da Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Strukturbestimmung indes nur ein hinreichendes, nicht aber ein maximales Legitimationsniveau fordert, kann das – nach obenhin ohnedies durch das grundgesetzlich vorgezeichnete Legitimationsniveau gedeckelte  – Machtverteilungsmodell nur abgeschwächt gelten. Damit tritt die Frage auf den Plan, wonach sich die Relativierbarkeit des für Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG richtungsweisenden Machtverteilungsmodells bestimmt. Mit Blick auf die Einheit der Verfassung131 und das daraus resultierende Interpretationsgebot praktischer Konkordanz132 kann das demokratische Machtverteilungsmodell dann und insoweit abgeschwächt werden, als einer demokratisch legitimen Gemeinwohlverwirklichung insoweit Vorrang zuzuerkennen ist. Dies ist der Fall, wenn sich die Abschwächung des demokratischen Legitimationsniveaus im Hinblick auf das legitimerweise verfolgte verfassungskräftige Gemeinwohlziel als geeignet, erforderlich und angemessen darstellt133. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass im Rahmen praktischer Konkordanz das in concreto zurückweichende Verfassungsgut nicht völlig überwunden, sondern jedenfalls in seinem Kern bewahrt werden soll134. Auch die nähere normwissenschaftliche Analyse von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt insofern, dass für die Konkretisierung des nach dieser Strukturbestimmung zwingend gebotenen Niveaus demokratischer Legitimation bei dem durch die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen ausgeformten Legitimationsniveau anzusetzen ist. Wird dieses unterschritten und damit die verfassungsrechtlich problematische Sphäre des Randbereichs von Volkssouveränität tangiert, so liegt dann, aber auch nur dann ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG vor, wenn die betreffende Legitimationseinbuße angesichts des damit verfolgten Gemeinwohlziels 130 Die Möglichkeit verfassungswidrigen Verfassungsrechts (Stern [Fn. 43], S. 116) bleibt an dieser Stelle ausgeblendet. 131 Hesse (Fn. 72), Rn. 71. 132 Hesse (Fn. 72), Rn. 72. 133 Oben Kapitel 6 VI. 3. = S. 506. 134 Dazu auch Gröschner, Die Republik, in: Isensee / Kirchhof [Hrsg.], Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 23 Rn. 51.

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unverhältnismäßig ist und / oder der Kernbereich der grundgesetzlichen Volks­ souveränität beeinträchtigt ist.

d) Rekonstruktion des grundgesetzlichen Normalniveaus demokratischer Legitimation ohne Rücksicht auf die unmittelbar an Geltung und Revisibilität des Grundgesetzes anknüpfenden Legitimationszusammenhänge Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität lässt sich aus den dargelegten Gründen nur in Ansehung des grundgesetzlichen Normalniveaus demokratischer Legitimation konkretisieren, wie es durch die einschlägigen Verfassungseinzelbestimmungen konturiert wird135. Um eine belastbare Aussage darüber treffen zu können, ob die demokratische Rückkoppelung bestimmter Hoheitsakte den Anforderungen der grundgesetzlichen Strukturnorm der Volkssouveränität genügt, muss daher in einem ersten Schritt geklärt werden, was die grundgesetz­ lichen Einzelbestimmungen bei solchen Hoheitsakten in puncto Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, in Hinblick auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit, bezüglich des Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit sowie hinsichtlich der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung für geboten halten. Im Rahmen dieser bei den Verfassungseinzelbestimmungen anhebenden Rekonstruktion des grundgesetzlichen Normalniveaus sollen nun freilich diejenigen Legitimationszusammenhänge ausgeblendet bleiben, die sich unmittelbar aus der Geltung beziehungsweise der Revisibilität der Verfassung ergeben136. Dies bedarf in zweierlei Hinsicht der näheren Erörterung. Zum einen ist zu erläutern, welche Legitimationszusammenhänge damit genau gemeint sind; zum anderen ist der Grund zu benennen, weshalb das grundgesetzliche Normalniveau ohne Rücksicht auf besagte Legitimationszusammenhänge zu bestimmen ist. Mit den sich unmittelbar aus der Verfassung ergebenden Legitimationszusammenhängen ist nicht etwa das gemeint, was in Rechtsprechung und Literatur als funktionell-institutionelle Legitimation angesprochen wird. Denn wie bereits dargetan, ist die vom pouvoir constituant beziehungsweise vom pouvoir constituant dérivé herrührende funktionell-institutionelle Legitimation keine Legitimation im hier zugrundegelegten Sinn137. Sie bewirkt nämlich keinen direkten Zurechnungszusammenhang zwischen Volkswillen und legitimationsbedürftigem Hoheitsakt. Selbstverständlich bezieht sich die Wendung von den unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Legitimationszusammenhängen auch nicht auf die verfas 135

Siehe oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. Vgl. dazu freilich das von Dederer (Fn. 31), S. 186 ff. vertretene Konzept der primären materiellen (inhaltlichen) Legitimation. 137 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. c) = S. 303. 136

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

sungsunmittelbaren Verbürgungen der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Legitimation. Denn diese tragen zwar in kaum zu überschätzender Weise zum Niveau demokratischer Legitimation bei138. Sie stellen aber nach der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion von Volkssouveränität als Zurechnungszusammenhang nicht selbst Legitimationszusammenhänge dar, sondern sind deren konstitutive Voraussetzung. Wenn hier von unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Legitimations­ zusammenhängen die Rede ist, so bezieht sich dies schließlich auch nicht auf jene wesentliche Funktion der Verfassung, die in der Legitimierung der konstituierten Ordnung besteht139. Denn der hier verwandte Legitimationsbegriff betrifft die unmittelbare Rückbindung von sozialen Machtakten an den Volkswillen140, nicht die Rechtfertigung der die sozialen Machtakte einhegenden politischen Ordnung generell. Stattdessen beruhen die unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Legitimationszusammenhänge zum einen darauf, dass der Erlass von Hoheitsakten mitunter durch grundgesetzliche Vorgaben determiniert wird. Soweit dies der Fall ist, wächst dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht eine materiell-direktive Legitimation zu, die unmittelbar an die Geltung der Verfassung anknüpft. Zum anderen kann wegen ihres Vorrangs141 durch eine Änderung der Verfassung grundsätzlich jeder Hoheitsakt außer Kraft gesetzt werden und gegebenenfalls durch eine alternative Regelung ersetzt werden. Insoweit knüpft die revisionäre Legitimation des fraglichen Hoheitsakts unter anderem an die dem pouvoir constituant dérivé oder gar dem pouvoir constituant originaire vorbehaltenen Kompetenzen an, gründet also unmittelbar auf der Revisibilität der Verfassung. Nun steht außer Frage, dass diese unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Legitimationszusammenhänge an sich durchaus das Normalmaß demokratischer Legitimation mitbestimmen, das die unter der Herrschaft des Grundgesetzes er­gehenden Hoheitsakte prägt. Denn es wirkt sich sowohl auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit als auch auf den Umfang revisionär bedingter Störungs­anfälligkeit aus, wenn ein Hoheitsakt nur unter Beachtung einer Verfassungsvorgabe erlassen beziehungsweise in bestimmten Fällen nur mit vorgängiger Zustimmung des verfassungsändernden Gesetzgebers beziehungsweise der verfassunggebenden Gewalt revidiert werden kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich in der Tat die Frage, weshalb diese unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Legitimationszusammenhänge ausgeblendet werden sollen, wenn es das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation zu rekonstruieren gilt. 138

Siehe oben Kapitel 6 III. = S. 327. Dazu etwa Vorländer, Die Verfassung, 1999, S. 17 f. und Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 494 ff. 140 Siehe oben Kapitel 6 = S. 249. 141 Zum Vorrang der Verfassung Hesse (Fn. 72), Rn. 199. 139

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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Für diesen Rekonstruktionsmodus spricht entscheidend, dass es hier nicht um die dogmatischen Zusammenhänge geht, die zwischen dem Grundgesetz als Verfassung sowie der von ihm verbürgten Volkssouveränitätsnorm bestehen und bei deren Erörterung man über kurz oder lang bei der Rechtsfigur vom Volk als ­pouvoir constituant angelangen dürfte142. Insofern ist es denn auch nur konsequent, die Implikationen auszublenden, die sich aus der Geltung und der Revisibilität des Grundgesetzes für die demokratische Legitimation von Hoheitsakten unter seiner Herrschaft ergeben. Denn diese lassen sich nun einmal nur dann angemessen würdigen, wenn man das dogmatische Verhältnis auslotet, das zwischen dem Grundgesetz als Verfassung und der von ihm verbürgten Volkssouveränitätsnorm existiert. Es stellt auch keine unstatthafte Verkürzung dar, wenn das vom Grundgesetz für Hoheitsakte im Einzelnen vorgesehene Legitimationsniveau ohne Rücksicht auf die sich unmittelbar aus der Verfassung ableitenden Legitimationszusammenhänge rekonstruiert wird. Denn das Grundgesetz geht ersichtlich davon aus, dass ein Hoheitsakt auch insoweit hinreichend demokratisch legitimiert ist, als er nicht den materiellen Direktiven der Verfassung unterliegt beziehungsweise an die Revisionsbefugnis des verfassungsändernden Gesetzgebers beziehungsweise Verfassunggebers rückgebunden ist. Es erweist sich daher als gerechtfertigt, wenn das grundgesetzliche Normalniveau demokratischer Legitimation, von dem her die Strukturnorm des Art.  20 Abs. 2 GG zu konkretisieren ist, ohne Rücksicht auf die Legitimationszusammenhänge rekonstruiert wird, die unmittelbar an Geltung und Revisibilität des Grundgesetzes anknüpfen.

III. Das im Hinblick auf die EG-Normsetzung gebotene Niveau demokratischer Legitimation Vorstehend wurde zunächst klargestellt, dass Art. 20 Abs. 2 GG die Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung inhaltlich erschöpfend normiert. Die EU-spezifischen Demokratievorgaben des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG sowie des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 2 GG gehen ihrem Regelungsgehalt nach nicht über die normativen Anforderungen von Art. 20 Abs. 2 GG hinaus143. Anknüpfend an diese Erkenntnis ist im Weiteren das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG niedergelegte Konzept demokratischer Legitimation allgemein analysiert worden. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere auch dargetan, inwieweit die Strukturnorm des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, obwohl sie sich diesbezüglich einer ausdrücklichen Regelung enthält, die Wahrung eines bestimmten, nämlich hinreichenden demokratischen Legitima 142

Dazu auch Jestaedt (Fn. 31), S. 277 ff. Siehe oben Kapitel 10 I. = S. 690.

143

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

tionsniveaus vorschreibt. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Erwägungen ist es nunmehr auch möglich, das in Hinblick auf die EG-Normsetzung grundgesetzlich gebotene Niveau demokratischer Legitimation näher zu prä­zisieren. Dazu ist, wie dargelegt, zunächst das durch einschlägige Verfassungseinzel­ bestimmungen konkret ausgeformte Legitimationsniveau zu bestimmen144. Denn (nur) in Hinblick auf dieses lässt sich im Weiteren die Strukturbestimmung des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG normwissenschaftlich konkretisieren. Nun existieren speziell für EG-Normsetzungsakte gerade keine deren Legitimationsniveau im Einzelnen determinierenden Verfassungseinzelbestimmungen. Schließlich richten sich die demokratierechtlichen Anforderungen speziell an die EG-Normsetzung inhaltlich allein nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Da sich die legitimatorischen Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG aber überhaupt nur unter Berücksichtigung einschlägiger Verfassungseinzelbestimmungen normwissenschaftlich konkretisieren lassen, müssen konsequenterweise anstelle der EG-Normsetzungsakte im Speziellen die innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakte generell in den Blick genommen werden. Hinsichtlich dieser nämlich lässt das Grundgesetz ein durch Einzelbestimmungen geprägtes konkretes Legitimationsniveau erkennen. A maiore ad minus145 kann dieses für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte im Allgemeinen geltende Legitimationsniveau für die Konkretisierung der besonderen Anforderungen herangezogen werden, die Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG an das demokratische Legitimationsniveau speziell von EG-Normsetzungsakten stellt: Sofern EG-Normsetzungsakte das für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgebliche Legitimationsniveau erreichen, stehen sie jedenfalls in Einklang mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Wird dieses Legitimationsniveau hingegen unterschritten, bedarf es in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als Strukturnorm einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, wenn dessen Anforderungen an ein hinreichend hohes Legitimationsniveau gewahrt werden sollen. Daher muss im Folgenden dargetan werden, welches Niveau demokratischer Legitimation das Grundgesetz für die rein innerstaatliche Normsetzung, mithin also für die bundesrechtliche Gesetzes- und Verordnungsgebung vorschreibt. Dazu sind die einschlägigen grundgesetzlichen Vorschriften daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie diejenigen Faktoren normativ determinieren, die im Rahmen des in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG niedergelegten Konzepts demokratischer Legitimation zur Erzeugung eines demokratischen Legitimationsniveaus beitragen. Damit kann es jedoch nicht sein Bewenden haben. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass es sich bei den hier interessierenden EG-Normsetzungsakten um Rechtsbestimmungen besonderer Art handelt. Denn sowohl als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm wie auch als bloß den Mitgliedstaat adressierende Normsetzungsverpflichtung beanspruchen sie zwar Rechtswirksamkeit, also unmittelbare Geltung, 144

Siehe oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. So im Ansatz auch Jestaedt (Fn. 31), S. 362. Zu diesem argumentativen Schluss Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, § 11 II a) und c). 145

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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innerhalb Deutschlands146; jedoch sind sie im Unterschied zu den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten kein Ausfluss deutscher Staatsgewalt147. Für derartige zwar überstaatlich generierte, aber doch innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte finden sich im Grundgesetz nun ebenfalls besondere Bestimmungen. Zu nennen sind vor allem Art. 59 GG, aber auch Art. 24 und 23 GG. Soweit sich diesen Bestimmungen demokratierechtliche Detailaussagen entnehmen lassen, muss auch insofern das grundgesetzlich vorgegebene Legitimationsniveau rekonstruiert werden. Das Legitimationsniveau dieser innerstaatlich wirksamen, aber nicht allein vom Staat generierten Normsetzungsakte muss dann freilich wiederum mit dem­ jenigen vermittelt werden, das vom Grundgesetz in Hinblick auf rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorgegeben ist. Es wird mit anderen Worten auch darauf einzugehen sein, wie sich die für diese unterschiedlichen Typen von Normsetzungsakten maßgeblichen Legitimationsvorgaben zueinander verhalten, wenn es darum geht, generell das durch grundgesetzliche Verfassungseinzelbestimmungen definierte Legitimationsniveau innerstaatlich wirksamer Normsetzungsakte zu bestimmen. Denn erst die grundgesetzlichen Aussagen über die demokratische Legitimation innerstaatlich wirksamer Normsetzungsakte generell lassen a maiore ad minus Rückschlüsse auf die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung zu. In Hinblick auf dieses aus grundgesetzlichen Einzelbestimmungen generell hergeleitete Legitimationsniveau innerstaatlich wirksamer Normsetzungsakte lässt sich dann im Weiteren näher ermitteln, unter welchen Voraussetzungen eine im Vergleich hierzu geminderte demokratische Legitimation der EG-Normsetzung aus Sicht der Strukturnorm des Art.  20 Abs.  2  GG (noch) als gerechtfertigt erscheint. Dabei sollen in diesem Kapitel freilich vorerst nur allgemeine Recht­ fertigungsmuster herausgearbeitet werden. Denn es lässt sich keine für alle EGNormsetzungsakte gleichermaßen gültige Aussage darüber treffen, inwieweit das vom Grundgesetz für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise vorgegebene Legitimationsniveau abgesenkt werden kann, ohne gegen die Strukturnorm des Art.  20 Abs.  2  GG zu verstoßen; vielmehr kann letztlich nur im konkreten Einzelfall abschließend geklärt werden, ob sich ein Unterschreiten des grundgesetzlich im Einzelnen vorgezeichneten Legitimationsniveaus in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 GG rechtfertigen lässt. Bevor nun freilich im Folgenden das für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgebliche Legitimationsniveau schrittweise bestimmt wird 146 Zur unmittelbaren Geltung des gesamten primären und sekundären Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten und zum Unterschied zwischen unmittelbarer Geltung einerseits sowie unmittelbarer Anwendbarkeit andererseits Schroeder, in: Streinz (Hrsg.),  EUV / EGV, 2003, Art. 249 EGV Rn. 36 ff. 147 Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  7, 1992, § 181 Rn. 8.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

und Rechtfertigungsansätze für eine im Rahmen der EG-Normsetzung gegebenenfalls zu diagnostizierende Niveauunterschreitung diskutiert werden, bedarf es noch einer Präzisierung. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass unter EG-Normsetzung vorliegend nicht nur der Erlass von Rechtsnormen (im engeren Sinn), sondern auch die staatsgerichtete Verpflichtung hierzu verstanden wird148. EG-Norm­ setzungsakte nehmen nämlich sowohl als Verordnungen wie auch als Richtlinien Gestalt an. Vor diesem Hintergrund mag es zumindest auf den ersten Blick als fraglich erscheinen, ob es überhaupt möglich ist, diese unterschiedlichen Typen von Normsetzungsakten an einem einheitlich für alle innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakte geltenden Legitimationsniveau zu messen. Es könnte statt­ dessen angezeigt sein, neben dem für innerstaatlich wirksame Rechtsnormen normalerweise gebotenen Legitimationsniveau ein für innerstaatlich wirksame Normerlassverpflichtungen typischerweise gebotenes Legitimationsniveau zu rekonstruieren. Es bedarf mithin der näheren Begründung, wenn im Folgenden das für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise gebotene Legitimationsniveau als einheitliches rekonstruiert wird. Rechtfertigen lässt sich diese Herangehensweise damit, dass alle Verfassungseinzelbestimmungen, die für das bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten gebotene Legitimationsniveau ausschlaggebend sind, sowohl für Rechtsnormen als auch für Normerlassverpflichtungen gelten. So können Bundesgesetze nicht nur Rechtsnormen, sondern ebenso Normerlasspflichten statuieren. Dem steht insbesondere auch Art. 80 GG nicht entgegen. Denn es ist dem Gesetzgeber unbenommen, die Exekutive zu zwingen, von seiner ihm nach Art. 80 GG eingeräumten Normsetzungsermächtigung Gebrauch zu machen149. Ebenso ist es prinzipiell denkbar, dass im Wege der Verordnungsgebung so genannte Subdelegatare zum Erlass von untergesetzlichen Normen nicht bloß ermächtigt, sondern gezwungen werden. Die grundgesetzlichen Vorschriften über das Gesetzes- und Verordnungsrecht lassen mithin Rückschlüsse auf das sowohl bei Rechtsnormen als auch bei Normerlassansprüchen normalerweise gebotene Legitimationsniveau zu. Entsprechendes gilt für Art.  59 Abs.  1 in Verbindung mit Abs.  2 Satz  1  GG. Diese Vorschrift gibt nämlich nicht nur Auskunft darüber, wie das Legitima­ tionsniveau eines qua Vertragsgesetz rezipierten Normsetzungsakts des Völkervertragsrechts beschaffen ist, der  – insbesondere weil er self-executing150 ist  – innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist151. Wie später in anderem Zusammen 148

Siehe oben Einleitung III. 1. a) = S. 76. Bryde, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 4. /5. Aufl. 2003, Art. 80 Rn. 5b. 150 Dazu Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 59 Rn. 68 sowie Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 25 Rn. 3. 151 Vgl. hierzu etwa Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 4./5. Aufl. 2001, Art.  59 Rn.  34 ff. Eingehend zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit generell transformierter beziehungsweise adaptierter Vertragsnormen v. Komorowski, Der Beitrag der ESC zur europäischen Wertegemeinschaft, in: Blumenwitz / Gornig / Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 99 (141 f.). 149

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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hang noch näher darzulegen sein wird152, determiniert Art. 59 Abs. 1 in Verbindung mit Abs.  2 Satz  1  GG zugleich das Legitimationsniveau von innerstaatlich qua Vertragsgesetz rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die zwar nicht unmittelbar anwendbar sind, wohl aber in bundesgesetzlichem Rang zur Setzung von Rechtsnormen verpflichten. Des Weiteren regelt Art. 59 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 GG das Legitimationsniveau von im Verordnungswege rezipierten153 normativen Verwaltungsabkommen154, und zwar unabhängig davon, ob diese eine inhaltsgleiche Eingliederung bestimmter unmittelbar anwendbarer Rechtsnormen in die innerstaatliche Rechtsordnung verlangen oder aber nur eine allgemein gehaltene Normerlassverpflichtung enthalten. Schließlich gelten auch Art. 24 und Art. 23 GG sowohl für Rechtsnormen wie für Normerlassverpflichtungen, die von überstaatlichen Entitäten gesetzt werden und für die Bundesrepublik Rechtswirkung beanspruchen155. Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese Grundgesetzvorschriften für die Bestimmung des bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten grundgesetzlich gebotenen Legitimationsniveaus überhaupt bedeutsam wären156. Nach allem erweist sich die im skizzierten Sinne einheitliche Rekonstruktion des bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotenen Legitimationsniveaus als gerechtfertigt157. 152

Siehe unten Kapitel 10 III. 2. a) = S. 783. Vgl. Rojahn (Fn. 151), Rn. 56. 154 Dazu etwa Streinz (Fn. 150), Rn. 80 f. 155 Auf diese Bestimmungen wurde in der Vergangenheit beziehungsweise wird gegenwärtig die innerstaatliche Geltung von Verordnungen im Sinne von Art. 249 Abs. 2 EGV, bei denen es sich typischerweise um Rechtsnormen im hier verstandenen Sinne (siehe oben Einleitung III. 1. a] = S. 76) handelt, sowie von Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV, die sich im Regelfall als Normerlassverpflichtung darstellen (dazu nur Ruffert, in: Calliess / ders. [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 Rn. 45 ff.), gegründet (vgl. etwa Hesse [Fn. 72], Rn. 106 f.). 156 Zu dieser Frage siehe unten Kapitel 10 III. 4. = S. 841. 157 Im Übrigen streiten nicht nur die skizzierten verfassungsrechtlichen Zusammenhänge dafür, dass das für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise gebotene Legitimationsniveau als einheitliches rekonstruierbar ist und es mithin keiner kategeorialen Differenzierung zwischen Rechtsnormen einerseits, Normsetzungsverpflichtungen andererseits bedarf. Zu bedenken ist fernerhin, dass Normsetzungsverpflichtungen die zu erlassenden Rechtsnormen vielfach schon en detail und bis in die konkrete semantische Feingestalt hinein antizipieren und sich auch aus diesem Grund eine in der Wurzel getrennte Betrachtung der Legitimationszusammenhänge bei diesen beiden Typen von Normsetzungsakten erübrigt. So werden etwa in den Normerlassverpflichtungen der EG, mithin also in den Richtlinien, die von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Rechtsnormen typischerweise mehr oder weniger detailliert vorgeprägt (siehe Ruffert [Fn. 155], Rn. 47). Den Richtlinien lassen sich mit anderen Worten in sachlicher Hinsicht Mindestregelungen entnehmen, hinter denen die Mitgliedstaaten in ihrer Umsetzungspraxis keinesfalls zurückbleiben dürfen (vgl. Schroeder [Fn. 146], Rn. 89). Soweit indes in einer Richtlinie die in das nationale Umsetzungsrecht zu übernehmenden Rechtsnormgehalte derart konkret festgeschrieben sind, können diese an einem Legitimationsniveau gemessen werden, das (nur) für bereits erlassene Rechtsnormen gilt. Denn letztlich und der Sache nach handelt es sich bei den Richtlinienbestimmungen, die den Regelungsspielraum der Mitgliedstaaten inhaltlich einschränken, um einen bloß zeitlich vorweggenommenen Ausschnitt aus einer Rechtsnorm. 153

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

1. Das bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gebotene Niveau demokratischer Legitimation Untersucht man im Folgenden sukzessive, in welcher Weise Verfassungs­ einzelbestimmungen die für das demokratische Legitimationsniveau rein innerstaatlicher Normsetzungsakte maßgeblichen Faktoren bestimmen, so werden zwei zentrale Ergebnisse dieser Analyse nicht wirklich überraschen können. Zum einen und vor allem wird sich zeigen, dass Rechtsverordnungen zwar über eine durchaus solide Legitimation verfügen, Gesetze aber dennoch ein deutlich höheres Niveau demokratischer Legitimation aufweisen. Dies gilt speziell, aber keineswegs ausschließlich hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit. Zum anderen wird deutlich werden, dass sich das Legitimationsniveau sowohl von formellen Gesetzen als auch von Verordnungen im Regelfall abschwächt, wenn sie lediglich mit Zustimmung des Bundesrats erlassen werden dürfen. Insbesondere erhöht die Mitwirkung des Bundesrats den Grad demokratischer Abgeleitetheit. Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, im Weiteren eine Reihe von Problem­ komplexen näher zu beleuchten. So gilt es zu er- und begründen, unter welchen sachlichen Voraussetzungen ein innerstaatlicher Normsetzungsakt vom Parlament erlassen werden muss. Hängt nämlich das bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gebotene Niveau demokratischer Legitimation davon ab, ob ein bestimmter Normsetzungsakt zwingend der parlamentarischen Gesetzgebung unterfällt oder auch Gegenstand exekutiver Normsetzung sein kann, so muss die Reichweite des hier sogenannten absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung sorgfältig abgesteckt werden. Um die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung abschließend präzisieren zu können, muss fernerhin das nicht unumstrittene und daher näher zu erörternde Verfassungsproblem vertieft werden, inwieweit Normsetzungsakte auch dort, wo sie nicht zwingend vom Parlament erlassen werden müssen, zumindest einer hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Ermäch­tigung bedürfen. Die damit angesprochene Reichweite des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung komplettiert dabei nicht nur das Bild der sachlichen Voraussetzungen, unter denen es zwingend parlamentsgesetzlicher Regelungen bedarf, und damit das des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung. Zugleich entscheidet die Reichweite des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung auch über das Legitimationsniveau im Bereich der exekutiven Normsetzung. Denn dass, wie angedeutet, auch Rechtsverordnungen über eine solide Legitimation verfügen, beruht, wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird, maßgeblich darauf, dass jede Rechtsverordnung in dezisionärer Hinsicht durch ein ermächtigendes Parlamentsgesetz materiell-direktiv legitimiert sein muss. Wenn daher der relative Vorbehalt parlamentarischer Gesetzgebung nicht umfänglich gelten würde, sondern grundsätzlich auch ermächtigungslose exekutive Normsetzungsakte zulässig wären, müsste insofern von einem bereichs-

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spezifisch deutlich abgesenkten Legitimationsniveau für die exekutive Normsetzung ausgegangen werden. Von der Frage nach der Reichweite des demokratierechtlich so bedeutsamen relativen Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung ist das Problem eines etwaigen Vorenthalts parlamentarischer Normsetzung zu unterscheiden. Denn selbst wenn ein exekutiver Normsetzungsakt nur aufgrund einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigung ergehen darf und der Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung insofern umfassend gilt, bedeutet dies nicht notwendig, dass die von einem exekutiven Normsetzungsakt regelbaren Materien gleichermaßen durch Parlamentsgesetz normiert werden dürfen. Vielmehr können bestimmte Regelungsmaterien, die nicht von vornherein dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, in diesem Fall der exekutiven Normsetzung vorbehalten sein158. Für das bei exekutiven Normsetzungsakten innerstaatlich gebotene Niveau demokratischer Normsetzung ist die Existenz eines solchen Vorenthalts parlamenta­ rischer Normsetzung nun durchaus bedeutsam. Denn die solide demokratische Legitimation von Verordnungen beruht nicht nur auf der durch das ermächtigende Parlamentsgesetz materiell-direktiv bewirkten dezisionären Legitimation. Hinzu kommt, wie ebenfalls noch näher zu erörtern sein wird, dass eine Rechtsverordnung sowohl in dezisionärer wie auch in revisionärer Hinsicht dadurch materiellkontrollativ legitimiert wird, dass dem Parlamentsgesetzgeber ein umfassendes Zugriffsrecht auf die verordnungsrechtlich geregelte Materie zusteht. Diese geriete bei einem Vorenthalt parlamentarischer Normsetzung kompensationslos in Wegfall. Außer vom Einfluss des Parlaments hängt das im Hinblick auf Normsetzungsakte gebotene Niveau demokratischer Legitimation nicht zuletzt von etwaigen bundesrätlichen Mitentscheidungsmöglichkeiten ab, sodass abschließend der Kreis der zustimmungspflichtigen Gesetze einerseits und der der Zustimmungsverordnungen andererseits näher beleuchtet werden muss.

a) Das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation Soweit sie nicht völkerrechtsvertragliche Vorgaben umsetzen, erweisen sich sowohl formelle Bundesgesetze wie auch Bundesrechtsverordnungen, also beide grundgesetzlich normierten Grundtypen innerstaatlicher Normsetzung, als vollumfänglich exklusiv-perpetuell legitimiert159. Denn entweder ist allein das Bun 158 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen, die dem Zugriff des Parlamentsgesetzgebers auf den gubernativen und administrativen Bereich gezogen sind, vgl. nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (R) Rn. 73. 159 Dies gilt zumindest dann, wenn man die kontrafaktische Vereinfachung vornimmt, die oben im Einzelnen begründet worden ist – vgl. Kapitel 6 V. 1. a) bb) (1) = S. 394. Andernfalls wäre nämlich zu berücksichtigen, dass die Änderung der durch Bundesgesetz beziehungs-

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

desstaatsvolk berechtigt, durch seine besonderen Organe derartige Gesetze beziehungsweise Verordnungen zu erlassen und jederzeit über sie zu disponieren. Oder aber es teilt sich diese Befugnis mit der im Bundesrat repräsentierten Gesamtheit der Landesstaatsvölker, wie dies bei den Zustimmungsgesetzen oder bei den Zustimmungsverordnungen der Fall ist. Dass das Grundgesetz in der ersten der beiden genannten Konstellationen eine vollumfängliche exklusiv-perpetuelle Legitimation vorsieht, leuchtet dabei unmittelbar ein. Schließlich ruht insofern tatsächlich alle Hoheitsgewalt bei einem ganz bestimmten Volk, nämlich dem Staatsvolk. Doch auch für die zweite Konstellation kann  – mit Rücksicht auf die zunächst staatstheoretisch entwickelten160, sodann normwissenschaftlich in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 GG verifizierten Erwägungen161 – unterstellt werden, dass sich insofern exklusiv-perpetuelle Legitimation uneingeschränkt realisiert. Dies ist für den Bereich der Zustimmungsgesetz­gebung bereits dargetan worden162 und gilt für die der bundesrätlichen Zustimmung bedürftigen Verordnungen in gleicher Weise.

b) Grad demokratischer Abgeleitetheit Für das grundgesetzlich vorgezeichnete Ausmaß der Exklusivität und Perpe­ tualität demokratischer Legitimation spielt es nach allem keine Rolle, ob eine Norm als Parlamentsgesetz oder als Verordnung ergeht und ob sie der Zustimmung des Bundesrats bedarf oder nicht. Gesetze und Verordnungen weisen insofern ein einheitlich hohes Niveau demokratischer Legitimation auf. Ganz anders verhält es sich hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit. Dieser wird entscheidend vom Normsetzungstyp und von der etwaigen Mitentscheidungsmacht des Bundesrats mitbestimmt.

weise durch Rechtsverordnung geschaffenen Rechtslage mitunter selbst dann gegen Völkervertragsrecht verstoßen kann, wenn mit dem Erlass des betreffenden Bundesgesetzes beziehungsweise der fraglichen Rechtsverordnung keine völkerrechtsvertraglichen Vorgaben umgesetzt wurden. Dann aber ließe sich nicht in dieser Pauschalität behaupten, dass Bundesrecht, sofern es nicht auf völkerrechtsvertraglichen Direktiven beruht, in vollem Umfang in exklusiv-perpetueller Legitimation erwächst. Schließlich fehlte es bei einer solchen ‚realistischen‘ Betrachtungsweise nicht selten an der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation. 160 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (2) = S. 274. 161 Siehe oben Kapitel 10 II. 1. a) = S. 696. 162 Siehe oben Kapitel 10 II. 1. a) bb) = S. 700.

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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aa) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei formellen Gesetzen, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen Formelle Gesetze werden dem Grundgesetz zufolge vom unmittelbar volks­ berufenen Bundestag erlassen163. Ihnen wächst demnach in dezisionärer Hinsicht eine einfach vermittelte personelle Legitimation zu. Diese erweist sich als grundsätzlich auch durchaus wirkkräftig. Dies hängt mit dem spezifischen Charakter des Legitimationsmittlers Parlament zusammen164. Tendenziell abgeschwächt wird die Wirkkraft der personellen Legitimation allerdings zum Beispiel dadurch, dass das Grundgesetz das Amt des Bundestagsabgeordneten für mit der Aufsichtsratstätigkeit in einem Wirtschaftsunternehmen grundsätzlich kompatibel erachtet165. Denn dadurch droht die durch die Volkswahl bewirkte Orientierung auf den Volkswillen hin beeinträchtigt zu werden166. Des Weiteren wächst den Parlamentsgesetzen in dezisionärer Hinsicht ein hohes Maß an materiell-kontrollativer demokratischer Legitimation zu. Denn im Rahmen der regelmäßig wiederkehrenden Volkswahlen167 steht dem Volk selbst eine unmittelbare Kontrollmöglichkeit hinsichtlich der parlamentarischen Gesetzgebung zu. Mithin erfolgt die materiell-kontrollative Legitimation auf der niedrigsten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Außerdem präsentiert sie sich als in besonderem Maße wirkkräftig. Zwar wird der ‚sanfte Druck‘, der aufgrund der volks­unmittelbaren Abwahlmöglichkeit auf den Parlamentsmitgliedern lastet, dadurch ein Stück weit gemindert, dass es sich um eine lediglich periodische und eben nicht permanente Abwahlmöglichkeit handelt. Jedoch ist das Parlament dem Volk unmittelbar verantwortlich168 und stehen die parlamentarischen Gesetze – im Unterschied zu den Maßnahmen nachrangiger Hoheitsträger – unter direkter Beobachtung des Volkes169. Dieses verantwortlichkeitsfördernde Näheverhältnis wiederum trägt zur Effektivität sowie Nachhaltigkeit des von der Abwahlmöglichkeit ausgehenden ‚sanften Drucks‘ und mithin auch zur Intensität der materiell-kon­ trollativen Legitimation parlamentarischer Regelungsakte bei170. Dass Parlamentsgesetze ein niedriger Grad demokratischer Abgeleitetheit kennzeichnet, bestätigt sich ferner auch in Hinblick auf die revisionäre Legitimation. 163

Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG. Dazu eingehend oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 165 Dies ergibt der Umkehrschluss aus Art. 55 Abs. 2 GG (dazu Hermes, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 55 Rn. 8) und 66 GG (hierzu Weckerling-Wilhelm, in: Umbach / Clemens [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 66 Rn. 18). 166 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (5) = S. 424. 167 Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG sieht eine Legislaturperiode von vier Jahren vor, was Versteyl, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 39 Rn. 5 zu Recht als gelungenen Kompromiss ansieht. 168 Hierzu auch Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 56. 169 Dazu allgemein Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2005, § 23 II 5.  170 Zum verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. 164

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Denn Parlamentsgesetze werden nicht nur in dezisionärer Hinsicht, sondern auch in revisionärer Hinsicht in der geschilderten Weise personell durch das Parlament und materiell-kontrollativ aufgrund der Abhängigkeit des Parlaments vom Wahlvolk legitimiert171. Formellen Gesetzen wächst nach allem ein Maß an demokratischer Legiti­ mation zu, wie es allenfalls noch im Rahmen direktdemokratischer Verfahrens­ arrangements übertroffen werden kann172. 171 Auch dies gilt freilich nur dann, wenn man die oben vorgeschlagene kontrafaktische Vereinfachung nachvollzieht – Kapitel 6 V. 1. b) ee) (2) = S. 439. Bei ‚realistischer‘ Betrachtungsweise wäre nämlich zu berücksichtigen, dass auf ein Parlamentsgesetz, auch wenn es vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommen ist, bis zu vier revisionäre Legitimationszusammenhänge zurückführen. Der eine von ihnen knüpft, wie im Text zu dieser Fußnote angesprochen, an die Revisionsmacht des Parlaments an, beruht also darauf, dass das Parlament ein von ihm erlassenes Parlamentsgesetz auch wieder aufheben oder durch den Erlass neuer Bestimmungen modifizieren kann. Zu bedenken ist freilich, dass das Parlament bestimmte den ursprünglichen Gesetzesinhalt abändernde Bestimmungen nur erlassen kann, wenn der Bundesrat dazu seine Zustimmung gegeben hat. Denn dass ein Parlamentsgesetz vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommen ist, schließt es nicht aus, dass eine etwaige Gesetzesnovelle ihrerseits zustimmungspflichtig ist. Insoweit existiert in ‚realistischer‘ Perspektive neben dem revisionären Legitimationszusammenhang, der an die  – alleinige  – Revisionsmacht des Parlaments anschließt, an sich noch ein zweiter, der auf der organmehrheitlich von Bundestag und Bundesrat ausgeübten Revisionsmacht beruht. Ein dritter revisionärer Legitimationszusammenhang kann sich des Weiteren daraus ergeben, dass bestimmte Änderungen der parlamentsgesetzlich geschaffenen Rechtslage in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen. Denn auch wenn dem Bund die Kompetenz zum Erlass des fraglichen Gesetzes zustand, ist es gleichwohl möglich, dass bestimmte Novellierungen des in dieser Weise kreierten Rechtszustands nur im Einvernehmen mit den Ländern herbeigeführt werden können. Ein vierter revisionärer Legitimationszusammenhang mag schließlich darauf beruhen, dass bestimme Änderungen der parlamentsgesetzlich geschaffenen Rechtslage einer vorgängigen Abänderung oder gar Aufhebung völkerrechtsvertraglicher Verpflichtungen bedürfen. Dies gilt auch dann, wenn das fragliche Parlamentsgesetz seinerseits nicht einmal teilweise auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruht. Über die drei genannten zuletzt revisionären Legitimationszusammenhänge wird nun freilich ein geringeres Maß an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation vermittelt, als dies bei demjenigen revisionären Legitimationszusammenhang der Fall ist, der an die – alleinige – Revisionsbefugnis des Parlaments anknüpft. Für die revisionären Legitimationszusammenhänge, die an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundestag und Bundesrat anknüpfen beziehungsweise die völkerrechtsvertragliche Determinierung des zu novellierenden Regelungsgegenstands zur Bedingung haben, wird dies an späterer Stelle noch näher erörtert. Soweit der revisionäre Legitimationszusammenhang an die Revisionsmacht auch der Gliedstaaten anknüpft, erweist sich dieser schon deshalb als im Vergleich leistungsschwächer, weil das völkermehrheitliche Zusammenwirken die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation mindert. Die ‚realistische‘ Betrachtungsweise würde also in der hier interessierenden Konstellation durchaus zu einer (leicht) anderen Bewertung des bei formellen Gesetzen in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit führen. Allerdings erweist sich die hier vorgenommene kontrafaktische Vereinfachung aus den im allgemeinen Teil sorgsam entwickelten Gründen als durchaus gerechtfertigt. 172 In diesem Sinn auch Sachs, Die Gesetzesvorbehalte, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3/1, 1994, S. 369 (433).

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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bb) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei formellen Gesetzen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen Das überaus hohe Maß an personeller sowie materiell-kontrollativer demokra­ tischer Legitimation, das den Bundesgesetzen im grundgesetzlichen Regelfall in dezisionärer wie auch in revisionärer Hinsicht zuwächst, wird nun freilich teilweise dadurch wieder gemindert, dass bestimmte Materien bundesrechtlich nur mit Zustimmung des Bundesrats geregelt werden dürfen173.

(1) Vorüberlegungen zu dem in dezisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit Greift der bundesrätliche Zustimmungsvorbehalt ein, so können Bundestag und Bundesrat zu exakt gleichen Teilen auf den Erlass des Parlamentsgesetzes Einfluss nehmen174. Für den bei Zustimmungsgesetzen in dezisionärer Hinsicht rea­lisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit lässt sich somit festzustellen, dass sich dieser zu fünfzig Prozent nach der Leistungsstärke der über den Bundestag vermittelten personellen und materiellen Legitimationsbeiträge, zur anderen Hälfte nach der Leistungsstärke der insoweit über den Bundesrat vermittelten Legitimationsbeiträge bestimmt175. Hinsichtlich des Bundesrats ist dabei zu berücksichtigen, dass die Landesvölker dort nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips zusammenwirken176. Infolgedessen lässt sich die Leistungsstärke der über den Bundesrat in dezisionärer Hinsicht vermittelten Legitimationsbeiträge mangels gegenläufiger Indizien nach der prototypischen Leistungsstärke der personellen und materiellen Legitimationsbeiträge bestimmen, die von einem beliebigen der insgesamt sechzehn Landesvölker ausgehen177.

(2) Vorüberlegungen zu dem in revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit Etwas komplizierter stellt sich die Sach- und Rechtslage hinsichtlich der revisionären Legitimation dar. Denn dass ein Bundesgesetz nur mit Zustimmung des Bundesrats zustande kommen konnte, bedeutet nicht, dass es auch nur mit Zustimmung des Bundesrats modifiziert beziehungsweise wieder aufgehoben wer 173 Zum bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt nach der Föderalismusreform siehe etwa Selmer, Die Föderalismusreform, in: JuS 2006, S. 1052 (1057 f.). 174 Vgl. Art. 76 Abs. 1 und 78 GG. 175 Zur Kategorie der Leistungsstärke siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) cc) = S. 411. 176 Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG. 177 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

den kann. Vielmehr ist erstens zu berücksichtigen, dass Novellierungen eines Zustimmungsgesetzes nur dann der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, wenn sie, für sich betrachtet, einem Zustimmungsvorbehalt unterfallen, wenn sie also selbst zustimmungsbedürftige Vorschriften enthalten beziehungsweise Vorschriften ändern, die die Zustimmungsbedürftigkeit des geänderten Gesetzes ausgelöst haben, oder aber wenn sie so massiv in den Regelungsbestand des zu novellierenden Zustimmungsgesetzes übergreifen, dass dessen Inhalt ein wesentlich anderer wird178. Zweitens ist darauf Bedacht zu nehmen, dass die Aufhebung eines zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzes stets zustimmungsfrei ist179. Hieraus erhellt, dass ein Zustimmungsgesetz durch zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge demokratisch rückgekoppelt wird: Geht es entweder um die Aufhebung des Zustimmungsgesetzes oder aber eine Gesetzesänderung, die erstens nicht schon selbst den Zustimmungsvorbehalt auslöst, zweitens keine Bestimmung modifiziert, die seinerzeit die Zustimmungsbedürftigkeit des abzuändernden Gesetzes ausgelöst hat, und drittens auch zu keiner wesentlichen Änderung des Zustimmungsgesetzes führt, so schließt die revisionäre Legitimation an die Revisionsmacht allein des Bundestags an; handelt es sich hingegen um solche Änderungen, die, für sich betrachtet, zustimmungspflichtig sind, die eine die Zustimmungspflicht auslösende Bestimmung modifizieren oder aber zu einer wesentlichen Modifikation des Zustimmungsgesetzes führen, so beruht die revisionäre Legitimation auf der organmehrheitlich ausgeübten Revisionsmacht von Bundestag und Bundesrat180. Diese beiden revisionären Legitimationszusammenhänge erfassen einander ergänzend das gesamte Zustimmungsgesetz, sind aber jeweils materiell-direktiv eingeschränkt. Stark vereinfachend wird man dabei davon ausgehen können, dass den beiden Legitimationszusammenhängen eine in ihrer Reichweite in etwa vergleichbare Revisionsmacht zugrundeliegt. Denn soweit ein Parlamentsgesetz dem 178 BVerfGE 37, 363 (383); ebenso Bryde, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 4. /5. Aufl. 2003, Art. 77 Rn. 22. 179 BVerfGE 14, 208 (219 f.); ebenso Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 77 Rn. 5. 180 Nicht in Betracht kommt eine kontrafaktische Vereinfachung, wie sie bei Einspruchs­ gesetzen angezeigt ist und dort dazu führt, dass unter anderem derjenige revisionäre Legitimationszusammenhang unberücksichtigt bleibt, der an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundestag und Bundesrat anknüpft (vgl. oben Fn. 171). Denn es fehlt in der hier in Rede stehenden Konstellation schlicht an den Voraussetzungen, die für eine solche kontrafaktische Vereinfachung des in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit ent­ wickelt worden sind (oben Kapitel 6 V. 1. b] ee] [2] = S. 439): Zwar besteht insofern durchaus die Situation, dass das ansonsten auch allein revisionsbefugte Parlament, bestimmte Änderungen der parlamentsgesetzlich geschaffenen Rechtslage nur erreichen kann, wenn mehrere an seiner Revisionsbefugnis unbeteiligte Staaten, nämlich die im Bundesrat vertretenen Glied­staaten, in die betreffende Änderung einwilligen. Jedoch ist das betreffende Parlamentsgesetz, anders als für die kontrafaktische Vereinfachung gefordert, schon in dezisionärer Hinsicht an den Bundesrat und über diesen an die Gliedstaaten rückgebunden.

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfällt, besteht eine vergleichsweise hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass etwaige Gesetzesänderungen, für sich betrachtet, gleichfalls zustimmungspflichtig sind, eine die Zustimmungspflicht auslösende Bestimmung modifizieren oder zu einer wesentlichen Modifikation des Zustimmungsgesetzes führen181. Insofern kommt der von Bundestag und Bundesrat organmehrheitlich ausgeübten Revisionsmacht bei Zustimmungsgesetzen eine beachtliche Tragweite zu. Allerdings gibt es auch Änderungen zustimmungspflichtiger Gesetze, für die allein das Parlament kompetent ist. Hinzu tritt, dass das Parlament das Zustimmungsgesetz ohne Rücksicht auf den Bundesrat aufheben kann. Daher kann in der Tat näherungsweise davon ausgegangen werden, dass bei Zustimmungsgesetzen der Revisionsmacht des Parlaments sowie die von Bundestag und Bundesrat organmehrheitlich auszuübende in etwa gleich weit reichen. Anders als bei Einspruchsgesetzen gilt daher für den ein Zustimmungsgesetz in revisionärer Hinsicht prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit, dass er sich nur rund zur Hälfte nach dem Niveau personeller und materiell-kontrolla­tiver Legitimation bemisst, das im Rahmen des an die alleinige Revisionsbe­fugnis des Bundestags anknüpfenden Legitimationszusammenhangs erzeugt wird. Zur anderen Hälfte bestimmt er sich nach dem Niveau personeller und materiell-kon­ trollativer Legitimation, das im Rahmen desjenigen revisionären Legitimationszusammenhangs generiert wird, der an die gemeinsame Revisionsbefugnis der Organmehrheit von Bundestag und Bundesrat anschließt. Soweit sich der für ein Zustimmungsgesetz in revisionärer Hinsicht prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit nach dem Legitimationszusammenhang bestimmt, der an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundestag und Bundesrat anschließt, bemisst er sich – wie im Rahmen dezisionärer Legitimation182 – hälftig nach der Leistungsstärke, der über den Bundestag und Bundesrat vermittelten Legitimationsbeiträge. Ferner ist insofern wiederum davon auszugehen, dass sich die Leistungsstärke der über den Bundesrat in revisionärer Hinsicht vermittelten Legitimationsbeiträge danach bestimmt, wie leistungsstark die von einem einzigen der sechzehn Völker herrührenden Legitimationsbeiträge ausfallen183.

181 Demgegenüber besteht bei Einspruchsgesetzen eine vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass deren allfällige Änderung dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfällt. Deswegen braucht, wenn der für Einspruchsgesetze in revisionärer Hinsicht prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt werden soll, auch nicht auf den an die gemeinsame Revisionsmacht von Bundestag und Bundesrat anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang eingegangen zu werden. Dazu oben Kapitel 6 V. 1.  b)  ee)  (2) = S. 439. 182 Dazu oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (1) = S. 733. 183 Ebd.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

(3) Vertiefende Überlegungen zu dem in dezisionärer sowie revisionärer Hinsicht charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit Das Vorstehende vorausgesetzt, lässt sich für die vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfassten formellen Gesetze im Weiteren zweierlei näher ent­ wickeln: Es kann zum einen dargelegt werden, dass und weshalb das in dezisio­ närer wie revisionärer Hinsicht über den Bundesrat vermittelte (Teil-)Maß an Volkssouveränität hinter dasjenige zurückfällt, das vom Bundestag vermittelt wird. Zum anderen lässt sich belegen, weshalb auch die über den Bundestag vermittelte dezisionäre beziehungsweise revisionäre demokratische Legitimation leistungsschwächer ist, wenn sie an seine mit dem Bundesrat geteilte Mitherrschaftsmacht anknüpft, als wenn sie sich aus seiner alleinigen Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis ergibt. Die im Bundesrat zusammenwirkenden Ländervertreter sind nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar volksberufen184 und ihre personellen Legitimationsbeiträge von daher auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt als diejenigen, die dem zustimmungsbedürftigen Gesetz über den Bundestag zuwachsen185. Des Weiteren hat der Bundesrat als insoweit letzter Legitimationsmittler keinen parlamentarischen Charakter186, was sich schon aus der Weisungsabhängigkeit seiner Mitglieder187 ergibt. Infolgedessen bleibt die über die Bundesratsvertre 184

In Baden-Württemberg beispielsweise wird der Ministerpräsident vom Landtag gewählt (Art. 46 Abs. 1 Satz 1 LV BW). Die übrigen Mitglieder der Landesregierung, zu denen auch Staatssekretäre und ehrenamtliche Staatsräte gehören können (Art. 45 Abs. 2 Satz 2 LV BW), werden vom Ministerpräsidenten berufen (Art. 46 Abs. 2 Satz 1 LV BW); jedoch bedarf das so gebildete Kabinett zur Amtsübernahme der Bestätigung des Landtags (Art. 46 Abs. 3 LV BW). 185 Soweit einer Bundesratsentscheidung personelle Legitimation beispielsweise dadurch zuwächst, dass sie von den durch den Ministerpräsidenten abgegebenen Stimmen Baden-Württembergs getragen wird, so wächst ihr insofern eine zweifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zu. Sofern ein baden-württembergischer Minister die Stimme abgegeben hat, erwächst die Bundesratsentscheidung insoweit sogar in dreifach vermittelter personeller Legitimation. Denn der Minister wird vom Ministerpräsidenten und vom Landtag in sein Amt berufen. Diese mehreren personellen Legitimationsbeiträge, die der Bundesratsentscheidung in dieser Hinsicht zuwachsen, sind funktional als Einheit zu begreifen und auf derjenigen Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln, auf der der am stärksten vermittelte Legitimationsbeitrag ergeht. 186 Auch das BVerfG geht zu Recht, wenn auch ohne überzeugende Begründung davon aus, dass der Bundesrat nicht als zweite Kammer eines einheitlichen, parlamentarischen Gesetzgebungsorgans angesehen werden kann (E 37, 363 [380]). Ebenso Abendroth (Fn. 38), S. 93 f. sowie v. Münch (Fn. 70), Rn. 732. 187 Diese erschließt sich zum einen daraus, dass gemäß Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können; zum anderen streitet der Umkehrschluss aus Art.  77 Abs.  2 Satz  3 und Art.  53  a Abs.  1 Satz  3  GG, wo Bundesratsmitglieder ausnahmsweise von Weisungen freigestellt werden, für deren grundsätzliche Weisungs­ gebundenheit. Allerdings führt eine weisungswidrige Stimmabgabe nicht zu deren Ungültigkeit (Krebs, in: v. Münch / Kunig [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 51 Rn. 14).

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ter vermittelte personelle Legitimation auch in puncto Wirkkraft hinter der vom Bundestag vermittelten zurück188. Entsprechendes gilt für die materiell-kontrollative Legitimation, die dem zustimmungsbedürftigen Gesetz im Rahmen der bundesrätlichen Kodezisions- und Korevisionsmacht zuwächst. Insofern ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Bundesratsmitglieder in mehrerlei Hinsicht der Kontrollmacht ihres jeweiligen Landesvolks unterworfen sind und sich die über sie vermittelte materiell-kontrollative Legitimation infolgedessen aus einer Mehrheit materiell-kontrollativer Legitimationsbeiträge zusammensetzt. So hängen die den Bundesrat konstituierenden Vertreter der Landesregierungen zum einen jedenfalls vom Vertrauen der Landesparlamente ab und können von diesen grundsätzlich abberufen werden189. Sofern es sich bei dem Bundesratsmitglied um ein einfaches Regierungsmitglied handelt, bedarf dieses außerdem des Vertrauens des Regierungschefs und kann gegebenenfalls von diesem entlassen werden190. Zum anderen beruht die materiell-kontrollative Legitimation darauf, dass die Landesvölker im Rahmen der regelmäßig wiederkehrenden Landtagswahlen Konsequenzen aus der bundesrätlichen Betätigung ihrer jeweiligen Regierungen und über die Abwahl der Parlamentsmehrheit indirekt auf sie einwirken können. Infolgedessen ist die materiell-kontrollative Legitimation, die dem zustimmungsbedürftigen Gesetz über die Mitherrschaftsmacht der Bundesratsmitglieder zuwächst, auf der zweiten beziehungsweise dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln. Denn die Stufe demokratischer Ver­ mitteltheit bestimmt sich bei einer Mehrheit materiell-kontrollativer Legitima­ tionsbeiträge nach dem am stärksten vermittelten Legitimationsbeitrag191, im vorliegenden Fall also nach der materiell-kontrollativen Legitimation, die über die Kontrolle der Bundesratsmitglieder durch den Landtag beziehungsweise durch den Regierungschef ausgeübt wird. Die über den Bundesrat vermittelte mate­riellkontrollative Legitimation ist insofern auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt als die vom Bundestag vermittelte. Des Weiteren bleibt auch ihre Wirkkraft hinter der zurück, die für die vom Bundestag herrührende materiell-kontrollative Legitimation charakteristisch ist. Ausschlaggebend hierfür sind im Wesentlichen die Mechanismen, die in den Fällen zu einer Abschwächung materiell-kontrollativer Legitimation führen, in denen hoheitliche Entscheidungen von einer Mehrheit legitimationsstiftender Völker beherrscht werden, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouverä 188 Zur besonderen Wirkkraft der von einem parlamentarischen Gremium vermittelten personellen Legitimation siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 189 Nach baden-württembergischen Verfassungsrecht besteht insofern beispielsweise die Möglichkeit eines allerdings nur konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 54 Abs. 1 LV BW). Die daneben bestehende Möglichkeit, den Ministerpräsidenten zur Entlassung eines einzelnen Ministers zu zwingen (Art. 56 LV BW), spielt wegen des Erfordernisses einer Zwei-DrittelMehrheit eine bloß nachrangige Rolle. 190 Vgl. insofern nur Art. 46 Abs. 2 Satz 1 LV BW. 191 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449.

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nität zusammenwirkt192. Diese abstrakt bereits im allgemeinen Teil beschriebenen Zusammenhänge seien an dieser Stelle noch einmal für den speziellen Fall des Zustimmungsgesetzes veranschaulicht. Betrachtet man zunächst denjenigen Legitimationsbeitrag, der aus der landesparlamentarischen Kontrolle der Bundesratsmitglieder erwächst, und vergleicht diesen mit der materiell-kontrollativen Legitimation, die dem Zustimmungsgesetz über den Bundestag zuwächst, so tritt folgender Unterschied zu Tage: Das Bundesvolk kann das Verhalten des Bundestags, also auch dessen Beitrag zum Erlass einer Norm oder zum Unterlassen einer Normrevision, der parlamentarischen Mehrheit ohne Weiteres zurechnen und daraus unmittelbar Konsequenzen für sein Wahlverhalten ableiten. Demgegenüber können die Landesparlamente eine bestimmte Bundesratsentscheidung nicht ohne einen gewissen investigativen Aufwand ihrer Landesregierung zurechnen193. Es bedarf einer genaueren Einzelfallbetrachtung, um bestimmen zu können, welche Verantwortung die eigene Landesgubernative in Hinblick auf eine spezifische Bundesratsentscheidung trifft. Dies allerdings ist der Effektivität und Nachhaltigkeit der Kontrollmöglichkeit abträglich194. Dies gilt umso mehr, als die einzelne Landesregierung vielfach geltend machen wird, dass sie ein bestimmtes bundesrätliches Verhalten nur deswegen mitträgt, weil sie dadurch in anderen Bereichen Vorteile für das Land zu erzielen vermag195. Auch kann sie sich dahin einlassen, dass sie als eine von sechzehn Landesregierungen ohnehin nichts Wesentliches ausrichten kann. Die Kontrolle, die das einzelne Landesparlament hinsichtlich der eigenen Landesregierung an bundesrätlichen Entscheidungen ausübt, erweist sich auch in dieser Blickrichtung als nur bedingt effektiv. Denn eine effektive Kontrolle196 setzt klare Verantwortlichkeiten voraus, die unter den geschilderten Bedingungen verwischt werden197. Über die Bundesratsmitglieder wächst den Zustimmungsgesetzen insofern dezisionär wie revisionär eine – verglichen mit den entsprechenden Legitimationsbeiträgen des Bundestags – materiell-kontrollative Legitimation von deutlich geringerer Wirkkraft zu. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Mitwirkung von Mitgliedern der Landesregierungen an Entscheidungen des Bundesrats nicht nur der Kontrolle der Landesparlamente beziehungsweise des Regierungschefs, sondern zusätzlich noch der der Landesvölker unterliegt. Daraus folgt zwar, dass die 192

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. Deshalb war es auch das erklärte Ziel der Föderalismusreform, den Anteil der zustimmungsbedürftigen Gesetze zu senken, um durch diese Politikentflechtung die politischen Verantwortlichkeiten zu verdeutlichen. Siehe Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 10 Rn. 79 ff. 194 Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. 195 Zippelius (Fn. 169), § 39 I 3. 196 Allgemein zum Prinzip der Kontrolle in der Staatswillensbildung Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 350 ff. 197 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber im Rahmen der Föderalismusreform bemüht, den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze zu reduzieren (vgl. BT-Drs. 16/813, S. 7, Selmer [Fn. 173], S. 1057 f. sowie bereits oben Fn. 193). 193

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dem Zustimmungsgesetz über den Bundesrat zuwachsende materiell-kontrollative Legitimation wirkungsstärker ist, als wenn diese Kontrollmöglichkeit gänzlich fehlte198. Jedoch erweist sich der insofern zu verzeichnende Zuwachs an Wirkkraft als gering, denn der von der Kontrollmöglichkeit der Landesvölker herrührenden materiell-kontrollativen Legitimation eignet aus mehrfachem Grund eine nur vergleichsweise geringe Wirkkraft. So ist wiederum zu berücksichtigen, dass sich bei der von den Landesvölkern ausgeübten Kontrolle von Mitwirkungsakten ihrer Landesregierungen strukturell dieselben Effektivitätsprobleme stellen, wie sie eben hinsichtlich der Kontrolle seitens der Landesparlamente beschrieben wurden. Auch für die Landesvölker ist es schwer, den Anteil der von ihnen kontrollierten Regierung an einer bestimmten Bundesratsentscheidung zu rekonstruieren  – zumal dann, wenn die Landes­ regierung geltend macht, dass für ihr Verhalten Kompromisse mit anderen Landesregierungen ausschlaggebend waren. Zu beachten ist ferner, dass sich die Effektivität einer Kontrollmöglichkeit und mithin auch die dadurch bewirkte materiell-kontrollative Legitimation in dem Maße abschwächen, in dem die Distanz zwischen Kontrollinstanz und Kontrollgegenstand zunimmt199. Die Mitwirkung der Landesexekutive an Entscheidungen des Bundesrats ist nun freilich strukturell weiter entfernt vom kontrollierenden Landeswahlvolk als etwa Entscheidungen des Landesgesetzgebers. Auch aus diesem Grund weist die durch die Kontrollmacht der Landesvölker bewirkte materiell-kontrollative Legitimation eine relativ geringe Wirkkraft auf. Es zeigt sich, dass der materiell-kontrollativen Legitimation, die einem Zustimmungsgesetz über den Bundestag zuwächst, eine höhere Wirkkraft zukommt als derjenigen, die ihm über die Bundesratsmitglieder zuwächst. Entscheidend hierfür ist insbesondere, dass die über den Bundesrat vermittelten Legitimationsbeiträge – anders als die des Bundestags – auf eine Mehrheit von Völkern zurückführen, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken. Zusätzlich zu beachten ist, dass die Effektivität und Nachhaltigkeit der Kontrollmöglichkeiten, die sowohl den Landesparlamenten als auch den Landes­völkern in Hinblick auf die bundesrätliche Mitwirkung der Landesgubernativen zustehen, noch unter einem weiteren Gesichtspunkt in Mitleidenschaft gezogen werden. Denn die Rekonstruktion des konkreten Verhaltens einer Landesregierung im Prozess der Bundesgesetzgebung wie auch die Beurteilung dieses Verhaltens wird nicht nur dadurch erschwert, dass sich die jeweilige Landesregierung im Bundesrat mit anderen Landesregierungen einigen muss und es dabei immer wieder zu umfangreichen Kompromisslösungen kommt. Hinzu tritt, dass überdies auch eine Einigung mit dem Bundestag zu treffen ist, was ebenfalls dazu führt, dass Verantwortlichkeiten de facto verwischt werden und sich infolgedessen die 198

Zu diesen Zusammenhängen allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419.

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über den Bundesrat vermittelte materiell-kontrollative Legitimation abschwächt200. Die Wirkkraft der über den Bundesrat vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation schwächt sich also nicht nur deshalb ab, weil die bundesrätlichen Mit­ herrschaftsakte auf eine Völkermehrheit zurückführen, sondern auch deshalb, weil die legitimationsbedürftigen Zustimmungsgesetze an eine aus der Gesamtheit der Landesvölker und dem Bundesvolk gebildeten Völkermehrheit rück­ angebunden sind, die ihrerseits staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität ver­ mittelt201. Unter diesem zusätzlichen Gesichtspunkt besteht indes kein qualitativer Unterschied zu der Zustimmungsgesetzen vom Bundestag vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation. Denn auch die insoweit vom Bundesvolk ausgehende Kontrollmöglichkeit büßt an Effektivität ein, wenn die parlamentarische Mehrheit im Bundestag nicht ohne Weiteres für den Erlass eines Gesetzes beziehungsweise für das Unterlassen einer Normrevision zur Verantwortung gezogen werden kann, weil ihr Verhalten  – wie bei Zustimmungsgesetzen  – das Ergebnis eines Kom­ promisses mit der anderen gesetzgebenden Kammer sein kann. Somit sieht sich denn auch die doppelte These bestätigt, wonach die über den Bundestag in dezisionärer beziehungsweise revisionärer Hinsicht vermittelte demokratische Legitimation leistungsstärker ist als die über den Bundesrat vermittelte, dass aber zugleich die über den Bundestag vermittelte dezisionäre beziehungsweise revisionäre demokratische Legitimation leistungsschwächer ist, wenn sie an seine mit dem Bundesrat geteilte Mitherrschaftsmacht anknüpft, als wenn sie sich aus seiner alleinigen Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis ableitet. Knapper formuliert: Den Zustimmungsgesetzen wächst über den Bundestag eine, insgesamt betrachtet, leistungsstärkere demokratische Legitimation zu als über die Bundesratsmitglieder; jedoch ist die vom Bundestag vermittelte demokratische Legitimation bei Einspruchsgesetzen leistungsstärker als bei Zustimmungsgesetzen.

cc) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Verordnungen, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Normierung unterfallen Die vorstehenden, differenzierenden Erwägungen sollen nun freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass formelle Gesetze, selbst wenn es sich um Zustimmungsgesetze handelt, einen durchweg niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen als die – nunmehr zu erörternden – Rechtsverordnungen des Bundes. Dies ist zunächst in Hinblick auf diejenigen Rechtsverordnungen dar­ zutun, die vom Vorbehalt bundesrätlicher Normierung ausgenommen sind. 200

Dazu etwa Diekmann, Das Verhältnis des Bundesrates zu Bundestag und Bundesregierung im Spannungsfeld von Demokratie- und Bundesstaatsprinzip, 2007, S. 163. 201 Dazu allgemein auch Di Fabio (Fn. 111), S. 83.

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(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Die personelle demokratische Legitimation, die einer Rechtsverordnung in dezisionärer Hinsicht zuwächst, ist im demokratisch günstigsten Fall überwiegend auf der dritten, teilweise aber auch auf der zweiten Stufe demokratischer Ver­ mitteltheit angesiedelt202. Dies ist, wie sogleich näher darzulegen sein wird, bei Regierungsverordnungen der Fall. Ermächtigt der Gesetzgeber die Regierung zum Erlass einer Verordnung203, so liegt nicht nur die formelle Erlasszuständigkeit, sondern auch die für die personelle Legitimation maßgebliche materielle Dezisionsmacht gemäß Art. 80 Abs. 1 GG ausschließlich bei der Bundesregierung. Nicht überzeugend ist die Gegenauffassung, wonach die eigentliche Dezisionsmacht gemäß dem Ressortprinzip204 des Art. 65 Satz 2 GG bei demjenigen Minister zu verorten sei, der nach der Geschäftsverteilung die Regierungsverordnung vorzubereiten hat, und das Kabinett bei der ihm obliegenden Sanktionierung des ministeriellen Verordnungsentwurfs lediglich seine in Art.  65 Satz  3  GG normierte Streitschlichtungskompetenz205 beanspruchen dürfe206. Denn diese Sichtweise verkennt, dass der dem Kabinetts­prinzip207 verpflichtete Art. 80 Abs. 1 Satz 1 1. Variante GG als lex specialis der generellen Kompetenzverteilungsnorm des Art. 65 GG vorgeht208. Dieser systematische Auslegungszusammenhang lässt sich auch dadurch nicht außer Kraft setzen, dass man die in Art. 80 Abs. 1 Satz 1 1. Variante GG normierte Entscheidungskompetenz der Bundesregierung als Verweis auf ein vermeintliches Gesamtorgan Bundesregierung interpretiert, das sich seinerseits aus Bundeskanzler, Bundesministern und Kabinett als relativ selbstständigen Gliedern zusammensetzt209. Denn für diese dogmatische Konstruktion lässt sich nicht nur kein grundgesetzlicher Anhaltspunkt finden; sie widerstreitet überdies Art. 62 GG, der das Organ Bundesregierung als aus den Teilorganen Bundeskanzler und Bundesministern bestehend

202 Ausgeblendet bleibt hier die Möglichkeit, dass die Befugnis zur Verordnungsgebung im Wege der Subdelegation auf einen Träger mittelbarer Staatsverwaltung übertragen wird, bei dem ein unmittelbar vom Verbandsvolk bestelltes Gremium für den Erlass von Verordnungen zuständig ist. 203 Vertiefend etwa Nierhaus, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 9, Stand: September 2007, Art. 80 Rn. 240 ff. 204 Dazu nur Stein / Frank (Fn. 36), § 10 III. 205 Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 65 Rn. 26; vgl. auch Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 65 Rn. 6. 206 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 180; wie hier die herrschende Meinung, siehe etwa Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 62 Rn. 11 a oder Ossenbühl, Rechtsverordnung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 103 Rn. 30. 207 Zu diesem Stein / Frank (Fn. 36), 10 III. 208 In diesem Sinne auch Oldiges (Fn. 205), Rn. 28. 209 Böckenförde (Fn. 206), S. 137 f. und 179 ff.

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beschreibt210 und für die dogmatische Konstruktion eines Gesamtorgans damit keinen Raum lässt211. Es bleibt also dabei, dass die für die personelle Legitimation maßgebliche Dezisionsmacht im Falle einer Regierungsverordnung beim Kollegialorgan Bundes­ regierung liegt212. Dieses trifft seine Entscheidungen – unbeschadet der Geschäftsleitungsbefugnis des Bundeskanzlers213  – unter gleichberechtigter Mitwirkung aller Kabinettsangehörigen214. Hieraus erschließt sich, dass den Regierungsverordnungen personelle Legitimation überwiegend von den Ministern, zum Teil aber auch vom Bundeskanzler zuwächst. Da nun die vom Bundeskanzler herrührende personelle Legitimation eine zweifach vermittelte215, die von den Bundesministern abgeleitete eine dreifach vermittelte216 ist, bestätigt sich, dass die Rechts­ 210

Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 62 Rn. 2. Dazu zutreffend Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 149 sowie Detter­ beck, Innere Ordnung der Bundesregierung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn. 3. 212 Ossenbühl (Fn. 206), Rn. 30. Daran würde sich selbst dann nichts ändern, wenn man davon ausginge, dass neben den einzelnen Ministern auch das Kabinett als Ganzes an Richtlinien des Bundeskanzlers gebunden ist. Denn da der Bundeskanzler seine Richtlinien nicht selbst durchsetzen kann, könnten diese die Dezisionsentscheidung des Kabinetts zwar materielldirektiv steuern, nicht aber ersetzen. Auch in dieser Perspektive bliebe allein die Bundes­ regierung Trägerin der für die personelle Legitimation maßgeblichen Dezisionsmacht. Allerdings wäre die Reichweite der personellen Legitimation, die der Rechtsverordnung in dezisionärer Hinsicht zuwüchse, erheblich eingeschränkt. Nach überzeugenderer Auffassung ist indes ohnehin davon auszugehen, dass das Kabinett nicht an die Richtlinien des Bundeskanzlers gebunden ist (so zutreffend Oldiges [Fn. 211], S. 462). Hierfür spricht schon der Wortlaut des Art. 65 Satz 2 GG, wonach die Minister nur im Rahmen ihrer Ressortzuständigkeit den Richtlinien des Bundeskanzlers unterworfen sind, nicht aber, soweit sie als Angehörige des Kollegialorgans Bundesregierung fungieren. Hinzu tritt, dass die grundgesetzliche Zuweisung von Entscheidungszuständigkeiten an das Kollegialorgan Bundesregierung ihren Zweck verfehlte, wenn auch im Kabinett dem Bundeskanzler die Letztentscheidungskompetenz zukäme. 213 Art. 65 Satz 4 GG (dazu etwa Meyn, in: v. Münch / Kunig [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 65 Rn. 18). 214 Pieroth (Fn. 210), Rn. 3. 215 Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten (vgl. Art. 63 Abs. 1 GG), gegebenenfalls aber auch entgegen dessen Vorschlag (vgl. Art. 63 Abs. 3 GG) vom Bundestag gewählt. Da der Vorschlag des Bundespräsidenten nicht bindend ist und von ihm auch ab­ gewichen werden kann, wird der Bundeskanzler, materiell betrachtet, allein vom Bundestag und nicht (auch) vom Bundespräsidenten bestellt. Soweit der Bundeskanzler über einen Hoheitsakt entscheidet, wächst diesem folglich eine ausschließlich zweifach vermittelte personelle Legitimation zu. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Tschentscher (Fn. 110), S. 76 f. 216 Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt (Art. 64 Abs. 1 GG). Einer Bestätigung durch den Bundestag bedarf es im Rahmen der vom Grundgesetz etablierten Kanzlerdemokratie nicht. Da der Bundespräsident den vom Bundeskanzler Vorgeschlagenen ernennen muss, werden die Minister, materiell betrachtet, ausschließlich vom Bundeskanzler berufen. Dieser wiederum wird, wie eben in Fn.  215 dargelegt, der Sache nach vom Bundestag bestellt. Soweit daher Minister einen Hoheitsakt erlassen, wächst diesem füglich eine dreifach vermittelte Legitimation zu. 211

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verordnungen zuwachsende personelle Legitimation überwiegend auf der dritten, teilweise aber auch auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist. Eine niedrigere Stufe demokratischer Vermitteltheit können Rechtsverordnungen unter der Herrschaft des Grundgesetzes grundsätzlich217 nicht erreichen: Wird die Rechtsverordnung von einem einzelnen Bundesminister erlassen, so wächst ihr eine ausschließlich dreifach vermittelte personelle Legitimation zu. Sieht das zur Verordnungsgebung ermächtigende Gesetz eine Subdelegation218 vor und überträgt der Erstdelegatar seine Rechtsetzungskompetenz durch Rechtsverordnung auf eine ihm nachgeordnete Behörde oder juristische Person, so kann eine Rechtsverordnung auch in einer mehr als dreifach vermittelten personellen Legitimation erwachsen. Rechtsverordnungen wächst somit in dezisionärer Hinsicht eine personelle Legitimation zu, die auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist als bei formellen Gesetzen. Dies gilt ohne Weiteres in Hinblick auf solche Parlamentsgesetze, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Denn diese erwachsen durchweg in einfach vermittelter personeller Legitimation. Aber auch soweit es sich um Zustimmungsgesetze handelt, ist zu berücksichtigen, dass diese immerhin hälftig in einfach vermittelter personeller Legiti­ mation erwachsen. Da die personelle Legitimation lediglich zur anderen Hälfte über den exekutivischen Bundesrat vermittelt wird und insofern auf der grundsätzlich219 selben Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist wie bei einer Rechtsverordnung, ergeht auch ein Zustimmungsgesetz, insgesamt betrachtet, auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit als eine Rechts­ verordnung. 217

Vgl. allerdings oben Fn. 212. Vgl. Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG (dazu Bryde [Fn. 149], Rn. 25). 219 In Ansehung der Stufe demokratischer Vermitteltheit ist die personelle Legitimation, die der bundesrätlichen Mitentscheidung am Erlass eines Parlamentsgesetzes zuwächst, deshalb grundsätzlich mit derjenigen personellen Legitimation vergleichbar, die einer Rechtsverordnung zuwächst, weil in beiden Fällen die nur mittelbar legitimierte Exekutive als letzter Legitimationsmittler fungiert. Bei genauerer Betrachtung können sich freilich fallweise kleinere oder auch größere Unterschiede ergeben. So ergeht die personelle Legitimation des bundes­ rätlichen Mitentscheidungsakts dann auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit als bei einer Rechtsverordnung, wenn die Bundesratsentscheidung durch das Votum der Landesregierungschefs zustande gekommen ist, die Rechtsverordnung hingegen auf einer Erlassentscheidung der Bundesregierung oder eines Bundesministers beruht. Hingegen ist die personelle Legitimation bei einer Rechtsverordnung auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt als bei einem bundesrätlichen Mitentscheidungsakt, wenn dieser auf dem Votum von Landesministern beruht, jene aber von der Bundesregierung erlassen wurde. Auf einer deutlich höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als bundesrätliche Mitentscheidungsakte kann eine Rechtsverordnung schließlich dann ergehen, wenn sie von einem Sub­ delegatar erlassen wird. 218

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Des Weiteren ist die Wirkkraft der Rechtsverordnungen zuwachsenden personellen Legitimation ebenfalls geringer als bei formellen Gesetzen. Denn die Exekutive wird aus strukturellen, prozeduralen und mentalen Gründen, kurzum: wegen ihres spezifischen Charakters, typischerweise nicht so effektiv und nachhaltig dazu angeregt, ihren Repräsentationsauftrag zu erfüllen, wie dies bei einem Parlament der Fall ist220. Insofern lässt sich feststellen, dass sich die dezisionäre Rückkoppelung von Rechtsverordnungen an den Volkswillen durch eine leistungsschwächere personelle Legitimation Bahn bricht, als dies bei den zumindest hälftig vom Parlament erlassenen formellen Gesetzen der Fall ist. Materiell-direktiv teilt sich die Dezisionsmacht des Volks den Rechtsverordnungen über die parlamentsbeschlossenen Verordnungsermächtigungen mit, die nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sein müssen221. Die ihres ko­erzitiven Charakters wegen äußerst wirkkräftige materiell-direktive Legitimation222 erfolgt insofern auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Ihre Wirkkraft wird zusätzlich dadurch befördert, dass als vorletzter Legitimationsmittler das Parlament fungiert223. Dennoch weist ein hoheitlicher Regelungsgehalt in dezisionärer Hinsicht selbstverständlich einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit auf, wenn er statt durch eine solche zweifach vermittelte materiell-direktive Legitimation über eine vom Parlament vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation demokratisch rückgekoppelt wird, wie dies bei formellen Gesetzen der Fall ist. Zwar kommt der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation eine geringere Wirkkraft zu als der materiell-direktiven. Dass die einem Parlamentsgesetz vom Bundestag vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation gleichwohl leistungsstärker ist als die zweifach vermittelte materielldirektive Legitimation, die einer Rechtsverordnung zuwächst, ergibt sich indes aus dem sorgsam begründeten und im hiesigen Kontext auch nicht widerlegbaren

220

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. Lediglich der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass zu dem materiell-direktiven Legitimationsstrang, der an die Verordnungsermächtigung anknüpft und zwingend vorliegen muss, fakultativ noch weitere treten können. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Bundeskanzler dem zuständigen Minister in Hinblick auf die von diesem zu erlassende Rechtsverordnung Richtlinien erteilt hat. Hingegen kann einer Regierungsverordnung aufgrund der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers keine materiell-direktive Legitimation zuwachsen. Zwar ist der Bundesminister, bei dem die von der Bundesregierung zu erlassende Verordnung ressortiert, an Richtlinien des Bundeskanzlers gebunden ist. Jedoch ist der Bundesminister ‚nur‘ für die Vorbereitung der Rechtsverordnung zuständig. Die sachliche Entscheidung nicht nur über den Erlass, sondern auch über den Inhalt der betreffenden Verordnung lässt das Grundgesetz hingegen in die alleinige Zuständigkeit des Kollegialorgans Bundesregierung fallen. Das Kabinett freilich ist, wie oben Fn. 212 dargelegt, nicht an die Richtlinien des Bundeskanzlers gebunden. 222 Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 223 Siehe hierzu oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 221

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Vorrang der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft spezifischer Legitimationsbeiträge224. Materiell-kontrollativ wiederum werden Rechtsverordnungen in vierfacher Weise dezisionär an den Volkswillen rückgebunden. Materiell-kontrollative Legitimation erwächst erstens aus der Kontrolle der Bundesminister durch den Bundeskanzler225, zweitens aus der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung226, drittens aus dem legislativen Zugriffsrecht des Parlaments auf die Rechtsverordnungen227 und viertens daraus, dass das Bundesvolk die Verordnungstätigkeit der Regierung zum Anlass nehmen kann, bei den nächsten Bundestagswahlen die parlamentarische Regierungsmehrheit abzuwählen. In Hinblick auf Rechtsverordnungen und deren Grad demokratischer Abgeleitetheit sind die von den Bundesministern beziehungsweise dem Bundeskanzler vermittelten materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge jeweils als Einheit zu betrachten228. Das höchste Maß an materiell-kontrollativer Legitimation weisen dementsprechend wieder die Regierungsverordnungen auf, denn sie werden zwar überwiegend auf der dritten, teil-

224

Dass eine hoheitliche Regelung in dezisionärer Hinsicht einen höheren Grad demokra­ tischer Abgeleitetheit aufweist, wenn sie durch eine parlamentsgesetzlich bewirkte materielldirektive Legitimation rückgebunden ist, als wenn sie unmittelbar durch Parlamentsgesetz getroffen wird, gilt im Übrigen auch dann, wenn das Parlamentsgesetz zur Hälfte vom Bundesrat legitimiert wird und ihr insofern zur Hälfte eine nur mehrfach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation zuwächst. Dies ergibt sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes allein schon daraus, dass eine Regelung, die als Parlamentsgesetz überhaupt nur mit Zustimmung des Bundesrats ergehen kann, natürlich auch als parlamentsgesetzliche Ver­ ordnungsermächtigung dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfällt. Daraus folgt nämlich, dass die materiell-direktive Legitimation, die eine bestimmte Verordnungsbestimmung demokratisch rückkoppelt, nicht nur insofern auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln ist, als die personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation, die einer inhaltsgleichen parlamentsgesetzlichen Regelung zuwächst, unmittelbar vom Bundestag vermittelt ist. Gleiches gilt auch insoweit, als die fragliche parlamentsgesetzliche Regelung hälftig vom Bundesrat her legitimiert wird. Denn auch die materiell-direktive Legitimation, die einer entsprechenden Verordnungsbestimmung zuwächst, bestimmt sich zur einen Hälfte nach dem auf den Bundesrat zurückführenden Legitimationsstrang. Dieser aber ist bei der auf die Rechtsverordnung zurückführenden materiell-direktiven Legitimation schon deswegen länger als die personellen sowie materiell-kontrollativen Legitimationsstränge, die auf eine inhaltsgleiche parlamentsgesetzliche Regelung zurückführen, weil im Fall der Rechtsverordnung der Verordnungsgeber als zusätzlicher Legitimationsmittler dazwischen tritt. 225 Der Bundespräsident muss einen Bundesminister entlassen, wenn der Bundeskanzler dies wünscht (vgl. Art. 64 Abs. 1 GG sowie dazu Meyn, in: v. Münch / Kunig [Hrsg.], Grundgesetz, 4./5. Aufl. Bd. 2, 2001, Art. 64 Rn. 13). 226 Die Vertrauensabhängigkeit der Regierung vom Parlament findet seinen unmittelbarsten Niederschlag in den Art. 67 und 69 Abs. 2 2. Halbsatz GG, wonach der Bundestag dem Bundeskanzler durch die Wahl eines Nachfolgers das Misstrauen aussprechen kann und in diesem Fall mit dem Bundeskanzler auch dessen Regierung gestürzt wird. 227 Dazu Lücke / Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 80 Rn. 7 f.; kritisch Kloepfer, Wesentlichkeitstheorie als Begründung oder Grenze des Gesetzesvorbehalts?, in: Hill (Hrsg.), Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1989, S. 187 (197 ff.). 228 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449.

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weise aber eben auch auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit legitimiert229. Der Rechtsverordnungen zuwachsenden materiell-kontrollativen Legitimation kommt dabei vor allem insofern eine relativ hohe Wirkkraft zu, als sie darauf beruht, dass die Exekutive dem Parlament verantwortlich ist beziehungsweise das Parlament eine unliebsame Exekutivverordnung durch ein eigenes Gesetz außer Kraft setzen kann. Denn diese Kontrollmöglichkeiten können jederzeit aktiviert werden, sodass die Exekutive besonders effektiv und nachhaltig dazu angehalten wird, in ihren Entscheidungen den der volonté générale vergleichsweise nahen Parlamentswillen zu vergegenwärtigen. Die materiell-kontrollative Legitimation, die über die mögliche Abwahl des Parlaments und damit indirekt auch der Regierung vermittelt wird, ist ihrerseits zwar nicht sonderlich wirkungskräftig. Denn die Effektivität und Nachhaltigkeit materiell-kontrollativer Legitimation nimmt mit der strukturellen Entfernung des zu kontrollierenden Gegenstands von der Kon­ trollinstanz ab230. Allerdings führt dies nicht etwa dazu, dass die an sich beachtliche Wirkungskraft der einheitlich zu betrachtenden materiell-kontrollativen Legitimation gemindert würde. Vielmehr wird diese durch den in Rede stehenden Legitimationsbeitrag – immerhin moderat – erhöht231. Dass der einer Rechtsverordnung zuwachsenden materiell-kontrollativen Legitimation nach allem eine vergleichsweise hohe Wirkkraft zukommt, ändert aber natürlich nichts am vorliegend unwiderleglichen Vorrang der Stufe demokra­tischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge232: Ein Regelungsgehalt wiese dann in dezisionärer Hinsicht einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit auf, wenn er statt über die – günstigstenfalls – teils zwei, teils dreifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation, wie sie für Verordnungen kennzeichnend ist, durch die für formelle Gesetze prägende ausschließlich parlamentsvermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation demokratisch rückgebunden würde.

(2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Demokratischer Revisionsmacht unterliegen Rechtsverordnungen, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, grundsätzlich in zwei­ 229

Wird die Verordnung hingegen von einem Bundesminister erlassen, erfolgt die materiellkontrollative Legitimation bei einheitlicher Betrachtung vollends auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Auf einer noch höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit ist die als Einheit zu betrachtende materiell-kontrollative Legitimation gegebenenfalls dann zu verorten, wenn ein Subdelegatar sie erlässt. 230 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. 231 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. 232 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441.

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facher Hinsicht233. Ein erster revisionärer Legitimationszusammenhang knüpft an das vom Bundestag allein ausübbare legislative Zugriffsrecht234 an; der zweite revisionäre Legitimationszusammenhang leitet sich daraus ab, dass die Exekutive in aller Regel zumindest im Rahmen und nach Maßgabe des zum Verordnungserlass ermächtigenden Parlamentsgesetzes zur Aufhebung beziehungsweise Modifikation der Rechtsverordnung befugt ist235. Soweit die revisionäre Legitimation an das beim Bundestag verortete legislative Zugriffsrecht anknüpft, kann für das insoweit generierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation umstandslos nach oben verwiesen werden. Denn insoweit gilt, was bereits für die revisionäre Legitimation formeller Gesetze dargetan wurde, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung nicht unter­ 233

Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die Rekonstruktion des in revisionärer Hinsicht rea­lisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit in der geschilderten Weise und aus den genannten Gründen kontrafaktisch vereinfacht (dazu oben Kapitel 6 V. 1. b] ee] [2] = S. 439). Andernfalls müsste zusätzlich berücksichtigt werden, dass das Parlament beziehungsweise – im Rahmen parlamentsgesetzlicher Ermächtigung – die Exekutive in bestimmten Konstellationen nur mit Zustimmung des Bundesrats, unter Mitwirkung der für bestimmte Rechtsänderungen gesetzgebungskompetenten Länder oder nach vorgängiger Abänderung völkerrechtsvertrag­ licher Verpflichtungen Deutschlands auf die Rechtsverordnung zugreifen können. In dieser ‚realistischen Perspektive‘ wäre für den Regelfall von bis zu acht revisionären Legitimationszusammenhängen auszugehen. 234 Dazu auch Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren in der Demokratie, 1997, S. 150. 235 Freilich ist, wie gesagt, nur dem Grundsatz nach von einer zweifachen revisionäre Rückbindung auszugehen. Vor allem in zwei spezifischen Konstellationen kommen noch weitere revisionäre Legitimationszusammenhänge zum Tragen. Im Fall der Subdelegation knüpft ein zusätzlicher revisionärer Legitimationszusammenhang an die Befugnis des Erstdelegatars an, die Verordnungsermächtigung durch Rechtsverordnung wieder rückgängig zu machen. Denn nach zutreffender Auffassung gilt eine Verordnung nur solange fort, wie die Verordnungsermächtigung, auf deren Grundlage sie ergangen ist, oder aber eine neue Verordnungsermächtigung, auf deren Grundlage sie hätte ergehen können, in Geltung steht. Soweit sich die Aufhebung oder bestimmte Änderungen einer Ministerverordnung als grundlegende und richtungsweisende Entscheidung der Regierungspolitik präsentieren, erwächst ein weiterer revisionärer Legitimationszusammenhang daraus, dass der Bundeskanzler kraft seiner Richtlinienkompetenz den zuständigen Minister verbindlich auffordern kann, im Rahmen bestehender parlamentsgesetzlicher Ermächtigungen eine seinen Vorgaben entsprechende Auf­hebungs- oder Änderungsverordnung zu erlassen (vgl. dazu allgemein Oldiges [Fn. 211], S. 456). Die Annahme eines solchen revisionären Legitimationszusammenhangs scheitert weder daran, dass eine derartige Anordnung keine Richtlinie im Sinne von Art. 65 S. 1 GG wäre, noch daran, dass der Bundeskanzler seine Revisionsmacht über die Rechtsverordnung nur mittelbar ausüben kann. Denn erstens ist anerkannt, dass durchaus auch Einzelanordnungen als Richtlinien gemäß Art. 65 Satz 1 GG in Betracht kommen, sofern sie denn in den Grundsätzen der Regierungspolitik wurzeln. Zweitens ist zu erinnern, dass ein Träger demokratischer Gewalt nicht nur dann revisionskompetent ist, wenn er selbst unmittelbar den legitimations­ bedürftigen Hoheitsakt abzuändern vermag, sondern auch dann, wenn er – etwa aufgrund einer Weisungsbefugnis – unmittelbar erzwingen kann, dass Dritte die fragliche Derogation beziehungsweise Modifikation vornehmen.

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fallen236. Schließlich beruhen Rechtsverordnungen, die ihrerseits vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommen sind, wegen Art. 80 Abs. 2 GG notwendig auf einem seinerseits ebenfalls nicht zustimmungspflichtigen Parlamentsgesetz. Dementsprechend ist das sie erfassende legislative Zugriffsrecht in exakt derselben Weise an den Volkswillen rückgebunden wie die Befugnis zur Auf­ hebung beziehungsweise Änderung eines formellen Gesetzes, das dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung nicht unterfällt237. Zu bedenken ist freilich, dass Rechtsverordnungen außer über das legislative Zugriffsrecht auch noch aufgrund exekutiver Aufhebungs- beziehungsweise Abänderungsbefugnisse revisionär legitimiert werden. Im Unterschied zu dem an das legislative Zugriffsrecht anknüpfenden erweist sich der eine Rechtsverordnung insoweit erfassende revisionäre Legitimationszusammenhang als materiell-direktiv eingeschränkt. Denn die exekutive Revisionsmacht greift nur im Rahmen und nach Maßgabe parlamentsgesetzlicher Ermächtigung. Dieser zusätzliche Legitimationszusammenhang führt nun nicht etwa dazu, dass das bei Verordnungen in revisionärer Hinsicht verwirklichte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation über das bei formellen Gesetzen hinauswüchse. Vielmehr wird hierdurch der für Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit über den für Par­ lamentsgesetze charakteristischen hinaus weiter angehoben238.

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Dazu oben Kapitel 10 III. 1. b) = S. 730. Die These, dass vorliegend die über das legislative Zugriffsrecht vermittelten Legitimationsbeiträge in revisionärer Hinsicht exakt das Legitimationsniveau erzeugen, das auch ein vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt ausgenommenes formelles Gesetz aufweist, lässt sich insbesondere auch mit dem Argument nicht widerlegen, der materiell-kontrollativen Legitimation der Nichtrevisionsentscheidung komme bei einem legislativen Verzicht auf die Revision einer Rechtsverordnung eine geringere Wirkkraft zu als bei einem legislativen Verzicht auf die Revision eines formellen Gesetzes. Zwar ist die Distanz zwischen Parlament und legitimationsbedürftigem Hoheitsakt im Fall der Verordnung in der Tat größer als bei formellen Gesetzen. Daraus folgt jedoch ‚nur‘, dass der an die Revisionsbefugnis des Parlaments anschließende revisionäre Legitimationszusammenhang bei Verordnungen störungsanfälliger ist als bei Parlamentsgesetzen (vgl. dazu oben Kapitel 6 V. 1. c] cc] = S. 475). Die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation hingegen bleibt von diesem Umstand unberührt. Denn für diese ist das Nähe- beziehungsweise Distanzverhältnis zwischen dem Kontrollorgan und der Erlass- oder Nichtrevisionsentscheidung ausschlaggebend (vgl. oben Kapitel 6 V. 1. b] dd] [4] = S. 419). Insoweit aber besteht in Ansehung des an die parlamentarische Revisionsbefugnis anknüpfenden und mithin von der parlamentarischen Nichtrevisionsentscheidung ausgehenden revisionären Legitimationszusammenhangs gerade kein Unterschied zwischen Verordnungen und formellen Gesetzen. Es ist daher davon auszugehen, dass den in Rede stehenden Rechtsverordnungen, soweit sie revisionär über das legislative Zugriffsrecht demokratisch rückge­ koppelt werden, gleichfalls eine einfach vermittelte und überaus wirkkräftige personelle und materiell-kontrollative Legitimation zuwächst. Denn just dieses revisionäre Legitimations­ niveau ist für die formellen Gesetze, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung nicht unterfallen, im Einzelnen nachgewiesen worden. 238 Zum Folgenden siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433. 237

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So ist zunächst zu berücksichtigen, dass die hier interessierenden Rechtsver­ ordnungen durch von der Regierung vermittelte Legitimationsbeiträge geprägt werden, soweit sie revisionär über die im Rahmen parlamentsgesetzlicher Ermächtigung gewährte exekutive Aufhebungs- beziehungsweise Änderungsbefugnis demokratisch rückgebunden werden. In revisionärer Hinsicht werden Rechtsverordnungen insofern durch eine bestenfalls partiell zweifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation geprägt239. Hieraus folgt, dass soweit eine Rechtsverordnung über den an die exekutive Änderungsbefugnis anschließenden revisionären Legitimationszusammenhang rückgebunden ist, sie insofern einen höheren Grad demokratischer Vermitteltheit aufweist, als wenn sie über den an das legislative Zugriffsrecht anschließenden Legitimationszusammenhang rückgekoppelt ist. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass im zuletzt genannten Fall der personelle sowie die materiellkontrolla­tiven Legitimationsbeiträge auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sind und infolgedessen der Vorrang der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft der spezifischen Legitimationsbeiträge240 greift. Damit ist freilich noch nicht der für Verordnungen in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit rekonstruiert. Zu bedenken ist vielmehr, dass die einerseits an das legislative Zugriffsrecht sowie andererseits an die exekutive Novellierungsbefugnis anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge teilkongruent sind: Alle Revisionsentscheidungen, die sich aufgrund der exekutiven Änderungsbefugnis treffen lassen, können auch auf Basis des legislativen Zugriffsrechts getroffen werden241; allerdings lassen sich nicht alle Revisionsentscheidungen, die auf der Basis des legislativen Zugriffsrechts ge­troffen werden können, auch aufgrund der exekutiven Änderungsbefugnis treffen. Nun darf freilich nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Niveau revisionärer Legitimation nur verbessern kann, wenn ein revisionärer Legitimationszusammenhang durch einen anderen überlagert wird242. Denn revisionäre Legitimationszusammenhänge stehen in keinem Kumulativ-, sondern in einem Konkurrenzverhältnis. Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der einer Rechtsverordnung insoweit zukommt, als sie außer über das legislative Zugriffsrecht auch über die exekutive Änderungsbefugnis rückgebunden ist, bestimmt sich daher dergestalt, dass teils

239

Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (2) = S. 746. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. 241 Denn die Verordnungsermächtigung ist nur „zuschiebend“, nicht „abschiebend“, sodass der Gesetzgeber sein Zugriffsrecht auf die dem Verordnungsgeber überantwortete Materie behält (BVerfGE 22, 330 [346]). 242 Träfe dies zu, so würde dies im vorliegenden Zusammenhang zu dem schon prima facie wenig überzeugenden Ergebnis führen, dass Verordnungen, soweit sie auch über die exekutive Revisionsbefugnis rückgebunden werden, in revisionärer Hinsicht ein höheres Niveau per­ soneller und materiell-kontrollativer Legitimation aufwiesen als formelle Gesetze. 240

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auf die Leistungsstärke des einen Legitimationszusammenhangs, teils auf die des anderen abgestellt wird243. Dies hat folgende Konsequenz: Soweit die von der exekutiven Änderungs­ befugnis herrührende revisionäre Legitimation reicht, eignet der Rechtsverordnung ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit als dort, wo sie nur im Rahmen des legislativen Zugriffsrechts revisionär legitimiert würde244. Denn insofern bestimmt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit jedenfalls teilweise nach dem Legitimationsniveau, das im Rahmen des an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhangs generiert wird. Dieses aber liegt, wie dargelegt, unterhalb desjenigen, das der an die legislative Zugriffsbefugnis anschließende Legitimationszusammenhang erzeugt. Daran schließt sich nahtlos die Frage an, inwieweit Rechtsverordnungen zugleich von dem an das legislative Zugriffsrecht sowie dem an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang erfasst werden und in diesem Umfang einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit generieren, als ihn der allein an das legislative Zugriffsrecht anknüpfende revi­sionäre Legitimationszusammenhang erzeugt. Dies bestimmt sich nach der Reichweite der Revisionsmacht, auf der der die Rechtsverordnung nur materiell-direktiv eingeschränkt erfassende revisionäre Legitimationszusammenhang beruht. Entscheidend ist also die Reichweite der exekutiven Aufhebungs- beziehungsweise Änderungsbefugnisse. Da sie das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG245 wahren müssen, kommt den parlamentsgesetzlichen Änderungsermächtigungen und infolgedessen den exekutiven Revisionsbefugnissen bezogen auf die Verordnung insgesamt nur eine beschränkte Reichweite zu. Denn danach kann die Exekutive nur solche Revisionsentscheidungen treffen246, die der von der Legislative in der Ver­ ordnungsermächtigung getroffenen Grundentscheidung entsprechen247, das von ihr vorgegebene Normsetzungsprogramm wahren248 und infolgedessen für sie vorhersehbar sind249. Vor diesem Hintergrund wird man typisierend davon ausgehen können, dass der an die parlamentsgesetzliche Änderungsermächtigung an­ knüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang die Rechtsverordnung nur etwa zur Hälfte an den revisionären Volkswillen rückzubinden vermag. Aus den bis hierher angestellten Erwägungen erhellt des Weiteren auch, weshalb Rechtsverordnungen den Grad demokratischer Abgeleitetheit, der formelle 243

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433. Dafür ist die revisionäre Störungsanfälligkeit in dieser Fallgestaltung stärker ausgeprägt als in jener. 245 Zu diesem beispielsweise Stein / Frank (Fn. 36), § 20 II 5.  246 Zum Folgenden eingehend auch Hasskarl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, in: AöR 1969, S. 85 (87 ff.). 247 Sog. Selbstentscheidungsformel – zum Beispiel BVerfGE 80, 1 (20). 248 Sog. Programmformel – etwa BVerfGE 58, 257 (277). 249 Sog. Vorhersehbarkeitsformel – beispielsweise BVerfGE 42, 191 (200). 244

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Gesetze in revisionärer Hinsicht prägt, grundsätzlich nicht unterschreiten, sondern allenfalls mit ihm gleichziehen: Vergleicht man den Grad demokratischer Ab­ geleitetheit, den vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt ausgenommene formelle Gesetze und Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht realisieren, so liegt es auf der Hand, dass die formellen Gesetze insofern ein höheres Legitima­ tionsniveau aufweisen. Denn in Hinblick auf die über das legislative Zugriffsrecht vermittelte revisionäre Legitimation bestehen keine Unterschiede. Soweit freilich der Rechtsverordnung zusätzlich noch im Rahmen der exekutiven Änderungs­ befugnisse revisionäre Legitimation zuwächst, sinkt das in revisionärer Hinsicht erzielte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation gegenüber dem ab, das für die allein über das legislative Zugriffsrecht rückgebundenen formellen Gesetze prägend ist. Interessanter ist daher der Vergleich zwischen einem vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfassten formellen Gesetz und einer von diesem Vorbehalt ausgenommenen Rechtsverordnung. Denn insofern fällt das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen des an das legislative Zugriffsrecht anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhangs erzeugt wird, bei der Rechtsverordnung höher aus als bei dem Gesetz250. Deutlich niedriger als bei formellen Gesetzen ist das in revisionärer Hinsicht erzeugte Legitimationsniveau bei Rechtsverordnungen indes insoweit, als es außer über das legislative Zugriffsrecht zusätzlich noch über die exekutive Änderungsbefugnis revisionär rückgebunden wird251. Bedenkt man, dass Rechtsverordnungen ungefähr 250 So wird man die Stufe demokratischer Vermitteltheit, auf der die personelle und materiellkontrollative Legitimation erfolgt, in dem einen Fall mit 1,0, im anderen mit höchstens 1,25 beziffern können. 251 Dass das Legitimationsniveau deutlich niedriger ausfällt, versteht sich freilich nicht ohne Weiteres. Denn schließlich wird das für die Rechtsverordnung insofern charakteristische Niveau demokratischer Legitimation teils von dem an das legislative Zugriffsrecht anknüpfenden Legitimationszusammenhang und nur zum anderen Teil von dem an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden Legitimationszusammenhang geprägt. Beziffert man die im erstgenannten Legitimationszusammenhang erreichte Stufe demokratischer Vermitteltheit mit 1,0, die im zweitgenannten Legitimationszusammenhang mit bestenfalls 2,5, so ergibt sich, wenn man daraus den Durchschnitt bildet, der Wert 1,75. Insofern scheint keine allzu große Differenz zu der Stufe demokratischer Vermitteltheit zu bestehen, die für die revisionäre Legitimation von Zustimmungsgesetzen prägend ist. Sie beläuft sich auf -0,5. Zu berücksichtigen ist freilich, dass die Relevanz kongruenter Legitimationszusammenhänge für den insofern realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit von ihrer jeweiligen Störungsanfälligkeit abhängt. Bei Rechtsverordnungen ist der an das legislative Zugriffsrecht anknüpfende Legitimationszusammenhang freilich ungleich störungsanfälliger als derjenige, der an die exekutive Änderungsbefugnis anschließt. Dies ergibt sich aus der größeren Distanz zwischen Revisionsorgan und legitimationsbedürftigem Hoheitsakt. Berücksichtigt man diesen Umstand derart, dass man die legitimatorische Relevanz des an die exekutive Änderungsbefugnis anschließenden Legitimationszusammenhang als fünf Mal größer gewichtet als die des anderen Legitimationszusammenhangs, so ergibt sich folgendes Bild: Die Stufe demokratischer Vermitteltheit, die eine Rechtsverordnung insoweit prägt, als sie über das legislative Zugriffsrecht und die exekutive Änderungsbefugnis rückgebunden wird, ist mit 2,25 zu bewerten und insofern in der Tat deutlich höher als bei Zustimmungsgesetzen.

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zur Hälfte von der an die exekutiven Änderungsbefugnisse anknüpfenden revisionären Legitimation erfasst werden, lässt es sich gut vertreten, dass bei bilanzierender Betrachtung der in revisionärer Hinsicht realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Rechtsverordnungen, die jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung ergangen sind, jedenfalls nicht niedriger ist als bei Zustimmungsgesetzen. Damit kann auch an der eingangs aufgestellten These festgehalten werden, dass formelle Gesetze durchweg einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen als Rechtsverordnungen. Denn selbst wenn in bestimmten Konstellationen Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht mit dem für formelle Gesetze kennzeichnenden Legitimationsniveau gleichziehen sollten, bleibt es doch dabei, dass ihr Grad demokratischer Abgeleitetheit jedenfalls in dezisionärer Hinsicht und infolgedessen auch insgesamt höher ausfällt als bei formellen Gesetzen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einspruchs- oder Zustimmungsgesetze handelt.

dd) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Verordnungen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Normierung unterfallen Die genauere Untersuchung der grundgesetzlichen Vorgaben hat insoweit gezeigt, dass und inwiefern sich Parlamentsgesetze und Rechtsverordnung in Ansehung ihres Grads demokratischer Abgeleitetheit unterscheiden. Anzumerken bleibt in diesem Zusammenhang nur mehr, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit von Rechtsverordnungen und mithin ihr demokratisches Legitimationsniveau des Weiteren auch dadurch beeinflusst wird, ob sie für ihren Erlass der Zustimmung des Bundesrats bedürfen.

(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Aus den zur Zustimmungsgesetzgebung bereits ausgeführten Gründen ist auch in Hinblick auf Zustimmungsverordnungen252 davon auszugehen, dass sich ihr Grad demokratischer Abgeleitetheit in dezisionärer Hinsicht hälftig nach der Leistungsstärke der einerseits über die Bundesregierung, andererseits über den Bundesrat vermittelten personellen Legitimationsbeiträge bestimmt. Dementsprechend ist bei Zustimmungsverordnungen in dezisionärer Hinsicht zwar kein grundsätzlich geringeres Maß an personeller Legitimation zu verzeichnen als bei sonstigen Verordnungen253. Insbesondere wächst den vom bundesrätlichen Zustimmungs 252

Zu diesen Bryde (Fn. 149), Rn. 26 ff. Insofern gilt anderes als im Verhältnis zwischen den vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt exemierten Bundesgesetzen und denen, die dem Zustimmungsvorbehalt unterfallen. 253

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vorbehalt ausgenommenen Verordnungen ebenso wie denjenigen, die davon erfasst werden, eine mehrfach vermittelte personelle Legitimation zu254. Und auch die Wirkkraft der personellen Legitimationsbeiträge differiert nicht wesentlich255. Aber bereits in Hinblick auf die materiell-kontrollative Legitimation ergibt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Zustimmungsverordnungen und solchen, die dem Zustimmungsvorbehalt nicht unterfallen – und dies auch nicht nur im Regelfall, sondern ausnahmslos. Denn soweit Rechtsverordnungen in dezisionärer Hinsicht hälftig über den Bundesrat demokratisch rückgebunden werden, entspricht die materiell-kontrollative Legitimation nur in Hinblick auf die Stufe demokra­ tischer Vermitteltheit grundsätzlich derjenigen, die bei nicht zustimmungspflich­ tigen Verordnungen gewährleistet ist. Die Wirkkraft hingegen ist abgesenkt256. So ist die unmittelbare Kontrolle von Verordnungen durch die Landesstaatsvölker weniger effektiv als die durch das Bundesvolk, weil es wegen der bereits beschriebenen Besonderheiten bundesrätlicher Entscheidungsfindung schwerfällt, die Verantwortlichkeit der einzelnen Länderexekutiven für die den Erlass einer Bundesrechtsverordnung betreffende Bundesratsentscheidung zu rekonstruieren257. Aus diesem Grund ist auch die landesparlamentarische Kontrolle der Bundesratsmitglieder weniger intensiv als die parlamentarische Kontrolle des Bundesverordnungsgebers. 254

Allerdings kann der bundesrätliche Zustimmungsvorbehalt in besonderen Konstellationen dazu führen, dass die personelle (und auch die materiell-kontrollative) Legitimation eines Verordnungserlasses auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt, als dies bei einer vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommenen Rechtsverordnung selbst im demokratisch günstigsten Fall realisierbar ist. Diese Konstellation liegt dann vor, wenn im Bundesrat ausschließlich Ministerpräsidenten das Stimmrecht ausüben. Denn insoweit erfolgt die personelle (und materiell-)kontrollative Legitimation durchweg auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit, wohingegen Rechtsverordnungen, die ohne Zustimmung des Bundesrats ergehen, bestenfalls partiell auf der zweiten und ansonsten auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit legitimiert werden. 255 Dass sich die Wirkkraft der personellen Legitimationsbeiträge in den diskutierten Konstellationen nicht unterscheiden, gilt uneingeschränkt insoweit, als es sich um Verordnungen der Bundes- und Landesregierungen handelt. In Hinblick auf Bundesverordnungen, die an sich von Einzelmagistraten erlassen werden, führt ein bundesrätlicher Zustimmungsvorbehalt hingegen zu einer gewissen, wenn auch nicht wesentlichen Verstärkung der Wirkkraft der personellen Legitimation. Dies hängt damit zusammen, dass personelle Legitimationsbeiträge, die einem Hoheitsakt von einem magistratischen Kollegialorgan zuwachsen, wirkungsstärker sind als solche, die auf einen Einzelmagistraten zurückführen. 256 Dass die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation infolge des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts abgeschwächt wird, kann auch in dem Fall keineswegs als ausge­ glichen angesehen werden, in dem sich der bundesrätliche Zustimmungsvorbehalt auf eine Ministerverordnung bezieht. Zwar ist die personelle und auch die materiell-kontrollative Legitimation leicht wirkkräftiger, wenn die Entscheidungsmacht nicht nur bei einem Einzel­ magistraten, sondern darüber hinaus auch bei einem Magistratskollegium verortet ist. Doch wird dadurch die durch die bundesrätliche Mitwirkung bedingte Abschwächung materiell-kontrollativer Legitimation allenfalls beschränkt, nicht aber aufgewogen. 257 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (3) = S. 736.

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Im Übrigen fällt die materiell-kontrollative demokratische Legitimation von Zustimmungsverordnungen auch deshalb hinter die sonstiger Bundesverordnungen zurück, weil aufgrund des Zusammenwirkens von Bundesverordnungsgeber und Bundesrat deren jeweilige Verantwortlichkeit für die Verordnung verwischt und dadurch eine wirksame Kontrolle erschwert wird. Das Legitimationsniveau sonstiger Rechtsverordnungen verfehlen Zustimmungsverordnungen schließlich verschiedentlich auch insofern, als es um das in dezi­ sionärer Hinsicht realisierte Ausmaß materiell-direktiver Legitimation geht. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Gesetze, die zu einer Zustimmungsverordnung ermächtigen, nicht selten ihrerseits dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen258. In diesen Fällen wird die materiell-direktive Legitimation bei Zustimmungsverordnungen nur teilweise über den Bundestag, im Übrigen aber über den Bundesrat vermittelt. Anders als bei sonstigen Rechtsverordnungen ist die materiell-direktive Legitimation dann lediglich zum Teil auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt, teils aber auch nur auf der – im demokratisch günstigsten Fall259 – dritten Stufe. Will man näher präzisieren, inwieweit die materiell-direktive Legitimation auf der zweiten beziehungsweise – bestenfalls – dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten ist, so bedarf es des genaueren Hinsehens. Denn bei vordergründiger Betrachtung erscheint die Sachlage klar: Beruht eine Zustimmungsverordnung auf einem Zustimmungsgesetz, so wächst ihr materiell-direktive Legitimation offenbar zur einen Hälfte vom Bundestag, zur anderen Hälfte vom Bundesrat zu. Allerdings wird bei einer solchen Betrachtungsweise verkannt, dass einem Hoheitsakt in dezisionärer Hinsicht nur dann eine unverkürzte materiell-di 258 So ist zu berücksichtigen, dass Rechtsverordnungen gemäß Art. 80 Abs. 2 GG insbesondere dann der bundesrätlichen Zustimmung bedürfen, wenn sie aufgrund von Bundesgesetzen ergehen, die entweder selbst der Zustimmung des Bundesrats bedurften oder die von den Ländern im Auftrag des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausgeführt werden. Demgegenüber fallen die daneben noch in Art. 80 Abs. 2 GG geregelten Zustimmungsverordnungen, die sogenannten Verkehrs- oder rechtsgrundlagebedingten Verordnungen, zahlenmäßig kaum ins Gewicht (so Lücke / Mann [Fn. 227], Rn. 33). Hinsichtlich der zunächst genannten Fallkonstellationen ergibt sich nun folgendes Bild: Für die erste Fallgestaltung folgt unmittelbar aus Art. 80 Abs. 2 GG, dass die Verordnungsermächtigung durchweg einem Zustimmungsgesetz entstammen muss. In der zweiten Fallkonstellation wird die Verordnungsermächtigung deshalb regelmäßig einem Zustimmungsgesetz entstammen, weil sie sich typischerweise auf den Erlass von Ausführungs- und Durchführungsvorschriften beziehen dürfte (vgl. Bryde [Fn. 149], Rn. 26) und insoweit der Zustimmungsvorbehalt des Art. 85 Abs. 1 Satz 1 GG greift. In der letzten Alternative des Art. 80 Abs. 2 GG werden Zustimmungsverordnungen deshalb nicht selten einem Zustimmungsgesetz entstammen, weil sie das Verwaltungsverfahren betreffen und insoweit gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 4 GG der im Zuge der Föderalismusreform zwar deutlich beschnittene (dazu Selmer [Fn. 173], S. 1057), aber in bedeutsamen Teilbereichen wie etwa dem Umwelt­ bereich (dazu BT-Drs. 16/813, S. 15) nach wie vor virulente bundesrätliche Zustimmungsvorbehalt greift. 259 Nämlich wenn im Bundesrat die Ministerpräsidenten beziehungsweise Ersten beziehungsweise Regierenden Bürgermeister als Ländervertreter agieren und entscheiden.

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rektive Legitimation zuwachsen kann, wenn bei seinem Erlass die materielle Direktive revisionär an der Volkswillen rückgebunden ist260. Hieraus erhellt, dass bei der Konkretisierung des respektiven Anteils, den Bundestag beziehungsweise Bundesrat an der materiell-direktiven Legitimation haben, die revisionäre Rückkoppelung des Zustimmungsgesetzes mit zu berücksichtigen ist. Diesbezüglich ist nun freilich bereits festgestellt worden, dass das Zustimmungsgesetz nur zur Hälfte an die gemeinsame Revisionsmacht von Bundestag und Bundesrat rück­ gebunden ist, ansonsten aber auf die alleinige Revisionsmacht des Bundestags zurückführt261. Dies wiederum lässt den Schluss zu, dass Zustimmungsverordnungen, die auf einem Zustimmungsgesetz beruhen, zu etwas mehr als der Hälfte auf der zweiten, zu etwas weniger als der Hälfte auf der – günstigstenfalls – dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen.

(2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit In revisionärer Hinsicht bestätigt sich ebenfalls, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Zustimmungsverordnungen über dem sonstiger Rechtsverordnungen liegt. Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass Zustimmungsverordnungen im Unterschied zu sonstigen Verordnungen262 nicht selten – nämlich dann, wenn auch das die Verordnungsermächtigung tragende Stammgesetz zustimmungspflichtig ist  – durch vier Legitimationszusammenhänge an den revisionären Volkswillen rückgebunden werden263. Ein erster revisionärer Legitimationszusammenhang beruht in diesem Fall auf dem legislativen Zugriffsrecht, soweit der Bundestag es in alleiniger Verantwortung auszuüben vermag. Der zweite revisionäre Legitimationszusammenhang ergibt sich daraus, dass in bestimmten Fällen das legislative Zugriffsrecht nur von Bundestag und Bundesrat gemeinsam ausgeübt werden kann. Ein dritter revisionärer Legitimationszusammenhang basiert auf der parlamentsgesetzlichen Abänderungsbefugnis, soweit diese allein die Regierungs­ 260

Kapitel 6 V. 1. c) = S. 470. Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2) = S. 733. 262 Sonstige Verordnungen werden deshalb nie im nachstehend skizzierten Sinne durch vier revisionäre Legitimationszusammenhänge an den revisionären Volkswillen rückgebunden, weil das diesbezügliche Stammgesetz jedenfalls kein Zustimmungsgesetz sein kann. Soweit dies nämlich der Fall ist, bedarf gemäß Art. 80 Abs. 2 GG auch eine darauf gegründete Verordnung der Zustimmung (so die herrschende Meinung, vgl. nur Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 80 Rn. 17; anderer Ansicht etwa Lücke / Mann [Fn. 227], Rn. 34). 263 Dies gilt zumindest bei kontrafaktisch vereinfachter Rekonstruktion des in revisionärer Hinsicht realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit. In diesem Fall kann etwa ausgeblendet werden, dass das Parlament beziehungsweise die Exekutive bestimmte Änderungen erst nach vorgängiger Abänderung völkerrechtsvertraglicher Verpflichtungen vorzunehmen in der Lage sein mag. 261

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exekutive ermächtigt. Der vierte und letzte revisionäre Legitimationszusammenhang leitet sich daraus ab, dass die der Exekutive im Rahmen parlamentsgesetz­ licher Ermächtigung zustehende Revisionsmacht bisweilen nur gemeinsam mit dem Bundesrat ausgeübt werden darf264. Soweit die revisionäre Legitimation dabei an das beim Bundestag beziehungsweise bei Bundestag und Bundesrat gemeinsam verortete legislative Zugriffsrecht anschließt, lässt sich für den insofern realisierten Grad demokratischer Abge­ leitetheit zumindest partiell auf die Überlegungen verweisen, die zu dem in revisionärer Hinsicht bei Zustimmungsgesetzen realisierten Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation angestellt wurden265. Denn Gesetze, die zu einer Zustimmungsverordnung ermächtigen, unterfallen zwar nicht immer, aber doch häufiger ihrerseits dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung266. In diesem Fall bestimmt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit zur einen Hälfte nach dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen des Legitimationszusammenhangs erzeugt wird, der an das alleinige Zugriffsrecht des Bundestags anknüpft, und das durch eine überaus leistungsstarke, nämlich einfach vermittelte sowie überaus wirkkräftige personelle respektive materiell-kontrollative Legitimation geprägt wird. Zur anderen Hälfte bemisst sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit nach dem Legitimationsniveau, das im Rahmen desjenigen revisionären Legitimationszusammenhangs generiert wird, der an das von Bundestag und Bundesrat gemeinsam ausgeübte legislative Zugriffsrecht anknüpft. Insofern wächst der Zustimmungsverordnung zur einen Hälfte eine mindestens zweifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation zu; und zur anderen Hälfte erfolgt die personelle und materiell-kontrollative Legitimation zwar auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit, jedoch weist die materiell-kontrollative Legitimation eine geringere Wirkkraft auf als bei einem Einspruchsgesetz. Schon in dieser Hinsicht überschreiten Zustimmungsverordnungen verschiedentlich den Grad demokratischer Abgeleitetheit, der die vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt ausgenommenen Verordnungen insoweit kennzeichnet. Denn diesen wächst über das legislative Zugriffsrecht eine stets267 einfach vermittelte und überaus wirkkräftige personelle und materiell-kontrollative Legitimation zu. Betrachtet man des Weiteren diejenigen revisionären Legitimationszusammenhänge, die an die Änderungsbefugnis allein der Regierungsexekutive beziehungs 264 Weitere revisionäre Legitimationszusammenhänge ergeben sich im Ausnahmefall der Subdelegation. Auch diese ist typischerweise nur „zuschiebend“, nicht „abschiebend“ (Pieroth [Fn. 262], Rn. 19), sodass der Erstdelegatar im Regelfall auch dann noch derogierend oder abrogierend auf die Verordnung zugreifen kann, wenn der Subdelegatar von der Verordnungs­ ermächtigung Gebrauch gemacht hat (Lücke / Mann [Fn. 227], Rn. 32). 265 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2) = S. 733. 266 Siehe oben Fn. 258. 267 Das Zugriffsrecht steht allein dem Bundestag und nicht zugleich noch dem Bundesrat zu – siehe oben Fn. 262.

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weise an die gemeinsam von Regierungsexekutive und Bundesrat auszuübende Änderungsbefugnis anknüpfen, so bestimmt sich der insofern erzeugte Grad demokratischer Abgeleitetheit zur Hälfte nach dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen des an die alleinige Revi­ sionsbefugnis des exekutiven Verordnungsgebers anknüpfenden Legitimationszusammenhangs erzeugt wird; zur anderen Hälfte bemisst er sich nach dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen des Legitimationszusammenhangs generiert wird, der auf der gemeinsamen Revisionsbefugnis von exekutivem Verordnungsgeber und Bundesrat aufbaut. Für dieses Teilungsverhältnis sprechen in der Sache dieselben Gründe, wie sie im Zusammenhang mit der revisionären Legitimation von Zustimmungsgesetzen vorgetragen wurden268. Zwar besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass, wenn eine dem bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt unterfallende Rechtsverordnung abgeändert wird, auch die Änderungsverordnung zustimmungspflichtig ist. In Hinblick darauf, dass aber jedenfalls die Aufhebung einer zustimmungspflichtigen Rechtsverordnung ihrerseits nicht zustimmungspflichtig ist, macht es Sinn, das hier vorgeschlagene Teilungsverhältnis zu unterstellen. Hieraus folgt, dass der in revisionärer Hinsicht erzeugte Grad demokratischer Abgeleitetheit bei zustimmungspflichtigen Rechtsverordnungen auch in Hinblick auf den an die exekutiven Änderungsbefugnisse anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang höher ist als bei nicht zustimmungspflichtigen Verordnungen. Denn erstere werden zumindest zur Hälfte von einem Legitimationszusammenhang geprägt, bei dem die materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge von geringerer Wirkkraft sind als bei zustimmungsfreien Verordnungen: Aus den bereits zur dezisionären Legitimation näher dargelegten Gründen kommt im Fall der Mitherrschaft von Regierungsexekutive und Bundesrat der insoweit vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation eine geringere Wirkkraft zu als bei Alleinherrschaft der Regierungsexekutive269. Damit bleibt abschließend noch zu erinnern, dass die an das legislative Zugriffsrecht anschließenden revisionären Legitimationszusammenhänge, die einander ergänzend die gesamte zustimmungspflichtige Verordnung erfassen, und die an die exekutive Änderungsbefugnis anschließenden revisionären Legitimationszusammenhänge, die die zustimmungspflichtige Verordnung nur etwa zur Hälfte erfassen, teilkongruent sind270. Soweit dies der Fall ist, bestimmt sich der für den zustimmungspflichtigen Hoheitsakt charakteristische Grad demokratischer Ab­ geleitetheit teils nach dem Niveau demokratischer Legitimation, das im Rahmen der an das legislative Zugriffsrecht anschließenden Legitimationszusammenhänge erzeugt wird, teils nach dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Kontext der an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden 268

Dazu oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2)= S. 733. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) dd) (1) = S. 752. 270 Zur Teilkongruenz allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433.

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revisionären Legitimationszusammenhänge generiert wird. Da nun bei zustimmungspflichtigen Verordnungen das für die einzelnen revisionären Legitimationszusammenhänge kennzeichnende Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation niedriger ist, als dies bei den entsprechenden revisionären Legitimationszusammenhängen der zustimmungsfreien Verordnungen der Fall ist, sieht sich die These bestätigt, dass zustimmungspflichtige Verordnungen auch in revi­ sionärer Hinsicht ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit kennzeichnet als zustimmungsfreie Verordnungen271.

c) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit Formelle Gesetze unterliegen in geringerem Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit als Rechtsverordnungen. Dies ergibt sich zunächst daraus, dass sie in dezisionärer Hinsicht überhaupt nicht von revisionären Legitimationszusammenhängen geprägt werden. Denn anders als Rechtsverordnungen werden formelle Gesetze nicht materiell-direktiv legitimiert und fehlt es insofern am Einfallstor für die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit272. Aber auch soweit es die revisionäre Legitimation betrifft, kennzeichnet formelle Gesetze ein geringerer Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit  – und 271 Legitimationstheoretisch betrachtet, könnte es sich allenfalls dann anders verhalten, wenn zwischen den teilkongruenten Legitimationszusammenhängen bei den zustimmungspflichtigen Verordnungen ein anderes Teilungsverhältnis vorherrschte als bei den zustimmungsfreien. Dann nämlich wäre es – bei wohlgemerkt legitimationstheoretischer Betrachtung – denkbar, dass das Teilungsverhältnis bei den zustimmungspflichtigen Verordnungen zugunsten des relativ leistungsstärkeren Legitimationszusammenhangs ausfällt, bei den zustimmungsfreien Verordnungen hingegen zugunsten des relativ leistungsschwächeren Legitimationszusammenhangs, sodass unter dem Strich der Grad demokratischer Abgeleitetheit bei den zustimmungspflichtigen Verordnungen doch noch höher ausfällt. In concreto ist freilich zu erinnern, dass sich das Teilungsverhältnis nach der Störungsanfälligkeit der einander überlagernden revisionären Legitimationszusammenhänge bestimmt (siehe oben Kapitel 6 V. 1. a] bb] [3] = S. 401 mit Fn. 670). Für die zustimmungspflichtigen Verordnungen gilt, dass die einander überlagernden Legitimationszusammenhänge störungsanfälliger sind als bei den nicht zustimmungspflichtigen Verordnungen. Schließlich kommt dem Bundesrat insofern eine größere Mitherrschaftsmacht zu; und diese Mitherrschaftsmacht führt zu erhöhter revisionärer Störungsanfälligkeit, weil es insofern zu einem Zusammenwirken mehrerer Völker kommt (siehe oben Kapitel 6 V. 1. c] dd] [1] = S. 477). Allerdings betrifft dieses Mehr an revisionärer Störungsanfälligkeit in gleichem Umfang die an das legislative Zugriffsrecht wie die an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge. Infolgedessen ist das Teilungsverhältnis, das bei kongruenten revisionären Legitimationszusammenhängen für den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit maßgeblich ist, bei zustimmungspflichtigen kein anderes als bei nicht zustimmungspflichtigen Verordnungen. Insofern bleibt die These unerschüttert, dass zustimmungspflichtige Verordnungen auch in revisionärer Hinsicht ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit prägt als zustimmungsfreie Verordnungen. 272 Zu diesen Zusammenhängen oben Kapitel 6 V. 1. c) = S. 470.

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zwar aus zweifachem Grund. Erstens ist zu berücksichtigen, dass sich Gesetze in aller Regel auf bedeutsamere Materien beziehen als Rechtsverordnungen273. Schon deswegen ist die revisionäre Legitimation von Gesetzen in der Regel weniger störungsanfällig als die von Rechtsverordnungen274. Hinzu tritt zweitens, dass sowohl formelle Gesetze als auch Rechtsverordnungen über die an das legislative Zugriffsrecht anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge rückgebunden werden. Ein Näheverhältnis der Revisionsinstanz zum legitimationsbedürftigen Hoheitsakt275, durch das die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit eingedämmt wird, ist aber in stärkerem Maße bei formellen Gesetzen als bei Rechtsverordnungen gegeben. Denn die revisionsbefugten Gesetzgebungskörperschaften sind lediglich für die von ihnen erlassenen Gesetze unmittelbar verantwortlich, nicht aber für die Rechtsverordnungen der Exekutive. Zu berücksichtigen ist freilich, dass die Rechtsverordnungen auch noch über die an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge revisionär rückgebunden sind. Denn im Rahmen der jeweiligen Verordnungsermächtigung ist auch die Regierungsexekutive – gegebenenfalls in Verbindung mit dem insofern nicht als Gesetzgebungskörperschaft, sondern als Verordnungsgeber angesprochenen Bundesrat – zur Revision einer Rechtsverordnung befugt. Und insofern besteht ein verantwortlichkeitsförderndes Näheverhältnis zwischen Revisionsinstanzen und legitimationsbedürftigem Hoheitsakt, das strukturell mit dem angesprochenen Näheverhältnis zwischen gesetzgebenden Körperschaften und Parlamentsgesetz vergleichbar ist. Dadurch wird der Unterschied, der zwischen formellen Gesetzen und Rechtsverordnungen in Hinblick auf die strukturelle Bestimmungsgröße der Störungsanfälligkeit revisionärer Legitimation besteht, immerhin abgemildert. Aufgehoben wird er deshalb aber nicht. Zwar kennzeichnet Rechtsverordnungen insoweit, als sie sowohl über das legislative Zugriffsrecht als auch über die exekutive Abänderungsbefugnis revisionär rückgebunden sind, ein leicht geringerer Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, als er für formelle Gesetze zu konstatieren ist. Denn neben die an die exekutive Abänderungsbefugnis anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge, die den ein formelles Gesetz erfassenden in puncto Störungsanfälligkeit annähernd gleichkommen276, treten zusätzlich noch die an das legislative Zugriffsrecht anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge. Und wiewohl sich diese als in hohem Maße störungsanfällig erweisen, prägt eine Rechtsverordnung insoweit, als sie außer über die exekutive Abänderungsbefugnis zusätzlich noch aufgrund des legislativen Zu 273

Vgl. Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, § 31 I a). Dazu oben Kapitel 6 V. 1. c) cc) = S. 475. 275 Ebd. 276 Das Näheverhältnis zwischen Revisionsinstanz und legitimationsbedürftigem Hoheitsakt ist vergleichbar; jedoch betreffen Rechtsverordnungen typischerweise Detailregelungen und damit weniger bedeutsame Angelegenheiten. 274

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griffsrechts revisionär legitimiert ist, in geringerem Umfang revisionär bedingte Störungsanfälligkeit aus, als dies der Fall wäre, wenn die Rechtsverordnung allein im Rahmen der exekutiven Änderungsbefugnis rückgebunden würde, oder dies insoweit der Fall ist, als formelle Gesetze allein über das legislative Zugriffsrecht rückgekoppelt sind. Dies darf jedoch nicht vergessen lassen, dass diese vergleichsweise störungsunanfälligere revisionäre Legitimation Rechtsverordnungen nur partiell prägt, nämlich nur insoweit, als die an die exekutive Abänderungsbefugnis anschließenden revisionären Legitimationszusammenhänge greifen. Soweit einer Rechtsverordnung lediglich im Rahmen des legislativen Zugriffsrechts revisionäre Legitimation zuwächst, überschreitet sie erheblich den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, der für formelle Gesetze prägend ist. Dieses deutliche legitimatorische Minus wird auch bei bilanzierender Betrachtung nicht dadurch kompensiert, dass die revisionäre Legitimation von Rechtsverordnungen partiell etwas störungsunanfälliger ist als die von formellen Gesetzen. Denn dabei handelt es sich nur um ein geringes Mehr an demokratischer Legitimation. Ist somit im Einzelnen dargetan, dass und weshalb formelle Gesetze ein geringerer Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit kennzeichnet als Rechtsverordnungen, bleibt abschließend noch darauf hinzuweisen, dass der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit sowohl von formellen Gesetzen als auch von Rechtsverordnungen dann zunimmt, wenn diese dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Denn dann werden die revisionären Legitima­ tionszusammenhänge vom Bundesrat und mithin von einer Mehrheit von Völkern mitgeprägt. Dies aber führt aus den im allgemeinen Teil dargelegten Gründen zu einem Ansteigen der revisionär bedingten Störungsanfälligkeit277.

d) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation Soweit das Grundgesetz Anforderungen an die Freiheit der Stimmbürger, an Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im politischen Willensbildungsprozess sowie an die Publizität im gesellschaftlichen Raum stellt, liegen diese den speziellen Vorgaben voraus, die das Grundgesetz im Hinblick auf die einzelnen Typen von Hoheitsakten formuliert. In Hinblick auf diese staats- und vor allem gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung sieht das Grundgesetz mit anderen Worten bei allen Hoheitsakten und mithin auch für formelle Gesetze sowie Bundesrechtsverordnungen dasselbe Legitimationsniveau vor. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der Stimmbürger hingegen differiert das Legitimationsniveau sowohl von formellen Gesetzen als auch von Verordnungen in Abhängigkeit davon, ob der Bundesrat mitentscheidend tätig wurde oder nicht. Unterschiede im Legitimationsniveau von Bundesgesetzen und Rechts­ 277

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (1) = S. 477.

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verordnungen ergeben sich schließlich daraus, dass bei ersteren strengere staats­ organisatorische Publizitätsanforderungen gelten als bei letzteren. Die gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung müssen somit bei jedem unter dem Grundgesetz erlassenen Hoheitsakt in exakt demselben Umfang vorliegen, wohingegen sich bei den entsprechenden staatsorganisatorischen Voraussetzungen  – vom Freiheitsgebot abgesehen  – durchaus Unterschiede im Grad der Verwirklichung ergeben oder doch zumindest ergeben können. Diese vorneweg thesenhaft-gerafft in den Raum gestellten Einschätzungen sollen im Folgenden näherhin belegt werden.

aa) Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger Das Grundgesetz sieht für die demokratische Volkswerdung im Prinzip ein staatsorganisatorisches Verfahrensarrangement vor, das strikt an Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger ausgerichtet ist. Namentlich in Gestalt der grundgesetzlich garantierten Wahlrechtsgrundsätze278 formuliert das Grundgesetz insofern weitreichende Anforderungen an das im Hinblick auf jeden Hoheitsakt zu realisierende Niveau demokratischer Legitimation. Allerdings wird speziell der Grundsatz der gleichen Wahl nicht in Hinblick auf alle Hoheitsakte in exakt demselben Maße realisiert. Dies gilt gerade auch bei formellen Gesetzen einerseits und Rechtsverordnungen andererseits. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass infolge der Mitwirkung des Bundesrats die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt ist279. Da die Stimmenzahl der einzelnen Länder im Bundesrat nicht dem Anteil ihres jeweiligen Landesvolks am Gesamtvolk entspricht, sondern kleinere Länder durch die grundgesetzlich vorgegebene so genannte mäßige Stimmenspreizung tendenziell bessergestellt werden280, zählen die Stimmen von Angehörigen kleinerer Länder mehr als die von Angehörigen größerer Staaten281. Diese Abweichung vom demokratischen Prinzip der Stimmengleichheit ist zwar demokratierechtlich gerechtfertigt, weil sie den Schutz der kleineren Völker vor einer strukturellen Majorisierung durch einzelne größere Völker bezweckt282. Sie führt jedoch zu einer Absenkung des Niveaus demokratischer Legitimation. Soweit daher einem formellen Gesetz oder einer Rechtsverordnung über den Bundesrat demokratische Legitimation zuwächst, weist die betreffende Norm ein niedrigeres

278

Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG; zu den Wahlrechtsgrundsätzen Stein / Frank (Fn. 36), § 9 II. Es herrscht eine lediglich ‚abgestufte Gleichheit‘  – dazu Krebs, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 51 Rn. 11. 280 Dazu auch Fetscher, Zukunftsprobleme und Perspektiven der Demokratie in Europa, in: Herb / Hidalgo (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2006, S. 13 (16). 281 Dazu auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 122 und 139 ff. 282 Siehe Diekmann (Fn. 200), S. 212. 279

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Niveau demokratischer Legitimation auf, als wenn sie ausschließlich vom Bundesvolk her legitimiert würde283.

bb) Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im politischen Willensbildungsprozess Während die aus dem Demokratieprinzip ableitbaren Anforderungen an Freiheit und Gleichheit auf staatsorganisatorischer Ebene nicht durchweg uniform sind, ist bei den entsprechenden gesellschaftsorganisatorischen Anforderungen eine entsprechende Einheitlichkeit zu unterstellen. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Freiheit und Gleichberechtigung im politischen Willensbildungsprozess leiten sich einheitlich aus dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes ab. Dort werden namentlich kommunikative und assoziative Freiheiten gewährleistet284. Diese werden herrschender und zutreffender Auffassung zufolge demokratiefunktional inter­ pretiert285. Hinzu kommt, dass diese kommunikativen und assoziativen Freiheiten nicht als rein abwehrrechtliche Verbürgungen begriffen werden286. Vielmehr werden ihnen überwiegend zugleich objektiv-rechtliche Gehalte zuerkannt287. In diesem grundrechtsdogmatischen Kontext wächst ihnen nach zutreffender Auffassung auch eine institutionelle Dimension zu, wonach sie – jeweils bereichsspezifisch – die grundlegenden (Mindest-)Voraussetzungen einer an der gleichen Freiheit aller orientierten Kommunikations- und Assoziationsordnung gewährleisten sollen288. 283

Denkbar wäre unter der Herrschaft des Grundgesetzes noch eine weitere durch die bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalte induzierte Abweichung vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit. So ist es verfassungsrechtlich keineswegs vorgegeben, dass Landtagswahlen zwingend nach Maßgabe des Verhältniswahlsystems durchgeführt werden müssen. Verfassungsrechtlich betrachtet ist es mit anderen Worten ein bloßer Zufall, dass gegenwärtig keines der Bundesländer dem Prinzip der Mehrheitswahl folgt. Wenn nun freilich einige Länder der Bundesrepublik Deutschland für ihre Landtagswahlen das Mehrheitswahlsystem einführten, andere Länder hingegen am Verhältniswahlrecht festhielten, so hätten die Stimmen der Bürger, je nachdem, aus welchem Bundesland sie stammten, in Hinblick auf die über den Bundesrat vermittelte staatgebietseinheitliche Volkssouveränität einen unterschiedlichen Erfolgswert. Diese Erfolgswertungleichheit indes wäre als grundgesetzkonform hinzunehmen und müsste von Grundgesetzes wegen als föderalstaatlich gerechtfertigt qualifiziert werden. 284 Vgl. insbesondere Art. 5, 8 und 9 GG. Zum wechselseitigen Näheverhältnis dieser Grundrechte vgl. Kunig, in: v. Münch / ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2000, Art. 8 Rn. 2. 285 In diese Richtung eindringlich auch Abendroth (Fn. 38), S. 69 ff.; ferner Steinmeyer, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2002, Art. 9 I, II Rn. 8. 286 Hesse (Fn. 84), § 5 Rn. 19 f. 287 Dazu etwa Hoffmann-Riem, Kommunikations- und Medienfreiheit, in: Benda / Maihofer /  Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. § 7 Rn. 4 (zu Art. 5 Abs. 1 GG); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 8 Rn. 106 ff. (zu Art. 8 GG); Sachs, Die Freiheit der Versammlung und Vereinigung, in: Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4/1, 2006, S. 1070 (1365 ff.) (zu Art. 9 Abs. 1 GG). 288 Dagegen statt vieler Sachs (Fn. 287), S. 1272 und 1365, der allerdings zu verstehen gibt, dass seine ablehnende Haltung mit einem vergleichsweise engen Verständnis von institutionellen beziehungsweise Einrichtungsgarantien zusammenhängt (ebd., S. 1273).

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cc) Das staatsorganisatorische Prinzip demokratischer Öffentlichkeit In Hinblick auf die gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung wirken sich die grundgesetzlichen, genauer: grundrechtlichen, Verbürgungen bei allen Hoheitsakten gleich aus. Wendet man sich indes der Öffentlichkeit als staatsorganisatorischer Voraussetzung demokratischer Volkswerdung zu, so trifft das Grundgesetz diesbezüglich unterschiedliche Vorgaben für formelle Gesetze und Verordnungen und formuliert insofern unterschied­ liche  Anforderungen an das bei diesen Normtypen zu erreichende Legitimationsniveau. So verlangt das Grundgesetz bei formellen Gesetze, dass diese weitgehend in perfekter Verfahrensöffentlichkeit erwachsen289. Denn Plenarsitzungen von Bundestag und Bundesrat sind, von Ausnahmen abgesehen290, immer öffentlich; lediglich im Falle der vorbereitenden Ausschusssitzungen wird dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt291. Bei den Rechtsverordnungen hingegen greift dynamische Öffentlichkeit nur in den Fällen, in denen sie der Zustimmung des Bundesrats bedürfen. Der Bundesrat nämlich verhandelt im Unterschied zum Verordnungsgeber öffentlich292. Dies bedeutet aber nicht, dass in Hinblick auf zustimmungspflichtige Rechtsverordnungen dasselbe Maß an Verfahrensöffentlichkeit verwirklicht würde wie bei formellen Gesetzen. Schließlich erstreckt sich die dynamische Öffentlichkeit bei Zustimmungsverordnungen  – anders als bei formellem Gesetzen – nur auf die letzte Phase des Normsetzungsprozesses. Ebenso wenig können durch das qualitative Plus, das Zustimmungsverordnungen in puncto staatsorganisatorische Öffentlichkeit kennzeichnet, die Legitimationseinbußen kompensiert werden, die durch die Beteiligung des Bundesrats an der Verordnungsgebung unter dem Gesichtspunkt etwa der Wahlrechtsgleichheit bewirkt werden. Denn die betreffenden Legitimationsbeiträge sind inkommensurabel293. Für die auf das konkrete grundgesetzliche Legitimationsniveau rückverwiesene Auslegung von Art. 20 Abs. 2 GG294 bleibt diese bereichsspezifische Anhebung des demokratischen Legitimationsniveaus von Rechtsverordnungen indes unmittelbar relevant. Was die Ergebnisöffentlichkeit anbelangt, so variiert deren Qualität sowohl bei formellen Gesetzen als auch bei Rechtsverordnungen in Abhängigkeit davon, ob sie dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen oder nicht. Während nämlich Parlamentsgesetze beziehungsweise Rechtsverordnungen bei fehlender 289

Vgl. Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 52 Abs. 3 Satz 3 GG. Vgl. Art. 42 Abs. 1 Satz 2 und Art. 52 Abs. 3 Satz 4 GG. 291 Siehe dazu nur die grundgesetzkonformen Bestimmungen des § 69 Abs. 1 Satz 1 ­GeschOBT sowie des § 37 Abs. 2 Satz 1 GeschOBRat. 292 Dazu etwa Robbers, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 52 Rn. 15. 293 Dazu oben Kapitel 6 V. 5. b) = S. 489. 294 Dazu oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. 290

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Zustimmungspflicht aufgrund der Promulgation295 insgesamt in perfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen296, hat die Zustimmungspflicht zur Folge, dass die betreffenden Normsetzungsakte nur gleichsam zur Hälfte in perfekter, im Übrigen in semiperfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Bei den nicht zustimmungspflichtigen Parlamentsgesetzen und Rechtsverordnungen kann das legitimationsstiftende Bundesvolk beziehungsweise die ihr vorgelagerte Öffentlichkeit allein durch den Blick ins Gesetzblatt erschließen, welche ihrer Magistrate oder Magistratskollegien für den Erlass beziehungsweise die Nichtrevision dieses Hoheitsakts politisch verantwortlich sind. Eine solche perfekte Ergebnisöffentlichkeit ist demgegenüber bei den zu­ stimmungspflichtigen Parlamentsgesetzen und Rechtsverordnungen lediglich in dem Umfang gegeben, wie diese vom Bundesvolk mitbeherrscht werden. Soweit diese Normsetzungsakte zur Hälfte von der Gesamtheit der Landesvölker als dezentriertem Bundes-demos beherrscht werden, bewirkt die Veröffentlichung im Gesetzblatt allein noch keine Ergebnisöffentlichkeit im demokratischen Sinne. Insofern ist nämlich zu erinnern, dass im Falle der demoi-kratischen Legitimation von Hoheitsakten demokratische Öffentlichkeit nur dort Platz greift, wo es den einzelnen legitimationsstiftenden Völkern möglich ist, sich ein Bild vom Verhalten ihrer Magistrate beziehungsweise Magistratskollegien zu machen297. Da nun im Bundesrat das Mehrheitsprinzip gilt298, können die einzelnen Landesvölker und ihre jeweilige Öffentlichkeit allein aufgrund der Veröffentlichung im Gesetzblatt noch nicht rekonstruieren, wie ihr Bundesratsvertreter sich verhalten hat. Dazu müssen sie zusätzlich auf die Bundesratsprotokolle zurückgreifen. Insofern besteht nur, aber doch immerhin eine semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit. Dies bedeutet, dass bei formellen Gesetzen, die dem Vorbehalt bundesrät­licher Zustimmung unterliegen, ein geringeres Maß an demokratischer Öffentlichkeit realisiert wird als bei solchen, bei denen dieser Vorbehalt nicht greift. Hingegen ist bei Rechtsverordnungen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterliegen, ein höheres Maß an demokratischer Öffentlichkeit gegeben. Denn da die Verfahrensöffentlichkeit demokratisch schwerer wiegt als die statische Öffentlichkeit299, wird das bei zustimmungspflichtigen Rechtsverordnungen relativ schwächere Maß an Ergebnisöffentlichkeit durch die insoweit hinzu tretende Verfahrensöffentlichkeit mehr als kompensiert. Allein schon wegen des Vorrangs der 295

In der Literatur wird für gewöhnlich nur der rechtsstaatliche Aspekt der Promulgation gesehen, der demokratische hingegen vernachlässigt, vgl. etwa Maurer, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Art. 82 Rn. 89 oder Rubel, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 82 Rn. 24. 296 Vgl. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. 297 Siehe oben Kapitel 6 III. 3. a) = S. 344. 298 Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG. 299 Siehe oben Kapitel 6 III. 3. c) cc) = S. 352.

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Verfahrens- vor der Ergebnisöffentlichkeit übertrifft denn auch das für formelle Gesetze kennzeichnende Ausmaß demokratischer Öffentlichkeit das für Rechtsverordnungen charakteristische.

dd) Das gesellschaftsorganisatorische Prinzip demokratischer Publizität Explizite Anforderungen an die Publizität im gesellschaftlichen Bereich lassen sich dem Grundgesetz nicht entnehmen. Insbesondere können der grundrechtlich verbürgten Informationsfreiheit keine entsprechenden Vorgaben entnommen werden. Denn diese bezieht sich ihrem klaren Wortlaut nach nur auf allgemein zugängliche Informationsquellen300 und sagt insofern nichts über das Zugänglichmachen privater beziehungsweise betrieblicher Informationen aus, die vom Verfügungsberechtigten (noch) nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind301. Die gesellschaftsbezogenen Publizitätsanforderungen des Grundgesetzes erschöpfen sich daher in den unausgesprochenen Mindestvorgaben, die sich insofern aus Art. 20 Abs. 2 GG ergeben302.

e) Die Normalität demokratischer Volkswerdung Auf die Normalität demokratischer Volkswerdung sei hier nur gewissermaßen erinnerungshalber eingegangen. Es macht nämlich eigentlich keinen Sinn, das speziell bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gebotene Niveau demo­ kratischer Legitimation zu bestimmen. Denn die zwingenden Anforderungen an die Normalität demokratischer Volkswerdung beschränkt die Strukturnorm des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG von vornherein auf ein Minimum303. Dieses ist unterschiedslos in Hinblick auf alle staatsgebietsgesellschaftlich wirksamen Hoheitsakte zu wahren. Mithin muss im Fall der demokratischen Normalität – anders als bei den anderen Dimensionen der Volkssouveränität  – nicht erst das durch Ver­ fassungseinzelbestimmungen determinierte grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation rekonstruiert werden, um davon ausgehend das nach der Strukturnorm des Art.  20 Abs.  2 Satz  GG ununterschreitbare Niveau demokra­ tischer Legitimation zu bestimmen.

300

Vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sowie Stein / Frank (Fn. 36), § 38 IV. Vgl. BVerfGE 66, 116 (137). Zu den Besonderheiten, wenn sich die Informationsquelle in staatlicher Hand befindet, vgl. etwa Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rn. 56 a. 302 So wohl auch Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 5 Rn. 16b. 303 Siehe oben Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706. 301

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f) Die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung Wegen des niedrigeren Grads demokratischer Abgeleitetheit und des größeren Umfangs staatsorganisatorischer Publizität weisen formelle Gesetze ein sichtlich höheres Niveau demokratischer Legitimation auf als Rechtsverordnungen. Um das vom Grundgesetz für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorgegebene Legi­timationsniveau näher präzisieren zu können, muss nun freilich noch geklärt werden, in welchen Konstellationen ein Normsetzungsakt von Verfassungs wegen in Gestalt eines formellen Gesetzes erfolgen muss. Denn nur soweit ein Norm­ setzungsakt dem hier sogenannten absoluten Vorbehalt parlamentarischer Nor­ mierung304 unterfällt, schreibt das Grundgesetz das für formelle Gesetze charakteristische hohe Legitimationsniveau zwingend vor305.

aa) Grundrechtliche Vorbehalte parlamentarischer Normierung Im vorliegenden Zusammenhang interessieren nicht alle grundgesetzlichen Vorbehalte parlamentsgesetzlicher Normierung: Sofern das Grundgesetz institutionellorganisatorische oder haushaltsrechtliche Vorbehalte parlamentarischer Normierung enthält306, können diese im Folgenden außer Acht gelassen werden. Denn sie beziehen sich auf gesetzliche Regelungen, die Privatrechtssubjekten gegenüber keine Geltung beanspruchen beziehungsweise rein staatsorganisatorischer Natur sind und daher nicht dem hier zugrundegelegten Begriff von Normsetzung unterfallen307. Im Hinblick auf die hier interessierenden Normsetzungsakte enthält das Grundgesetz nun freilich nur wenige verfassungsexplizite Vorbehalte parlamentarischer Normierung308. Sie finden sich vor allem in den Gesetzesvorbehalten der Grundrechtsbestimmungen309. Allerdings muss insofern zweierlei berücksichtigt werden. Erstens bedeutet Gesetz im Sinne der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte nicht stets und immer Parlamentsgesetz310, sodass nicht alle Grundrechtsbestim 304

Allgemein zur Vorbehaltsterminologie Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegations­ befugnis, 1986, S. 28 ff. 305 Dazu auch Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986, S. 91. 306 Zu diesen Typen grundgesetzlicher Gesetzesvorbehalte Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 9 Rn. 34 ff. sowie Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2007, § 101 Rn. 37 f. 307 Siehe oben Einleitung III. 1. a) = S. 76. 308 Vgl. zum Folgenden auch Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 310 ff. 309 Dazu näher Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, vor Art. 1 Rn. 101 ff. oder Hesse (Fn. 72), Rn. 313 ff. 310 Dazu eingehend Sachs (Fn. 172), S. 423 ff.

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mungen unmittelbare Rückschlüsse auf die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung zulassen. Zweitens ist gerade auch dann, wenn die Grundrechte einen Vorbehalt parlamentsgesetzlicher Normierung ausnahmsweise311 ausdrücklich fixieren312, eine Übertragung von Normsetzungsbefugnissen auf die Exekutive keineswegs ausgeschlossen313. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Gesetzesbegriff der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte nicht pauschal im ausschließlichen Sinn von Parlamentsgesetz konkretisiert werden darf, kann der grundrechtsgleichen Verbürgung des Art. 104 Abs. 1 GG entnommen werden. Dort wird nämlich ausdrücklich ein förmliches Gesetz für Einschränkungen der Bewegungsfreiheit vorausgesetzt314. Diese Formulierung legt im Umkehrschluss nahe, dass bei den übrigen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten, die keine derartige Begrenzung auf förmliche Gesetze enthalten, zumindest überlegt werden muss, ob nicht vielleicht auch ein materielles Gesetz zur Einschränkung des betreffenden Grundrechts genügt315. Richtigerweise wird man daher zwischen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten unterscheiden müssen, die die Einschränkung eines Grundrechts ‚aufgrund eines Gesetzes‘316 beziehungsweise ‚durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes‘317 zulassen, und solchen, die für eine Grundrechtsbeschränkung pauschal die ‚Vorschriften der allgemeinen Gesetze‘318, jedwede Art inhalts- und schrankenbestimmender ‚Gesetze‘319 oder generell die ‚verfassungsmäßige Ordnung‘320 für ausreichend erklären321. Bei der ersten Gruppe von Gesetzesvorbehalten ist der dort verwandte Begriff des Gesetzes deshalb mit dem des Parlamentsgesetzes gleichzusetzen, weil die Fälle der Grundrechtseinschränkung durch bloß materielle Gesetze von der Formulierung ‚aufgrund eines Gesetzes‘ erfasst werden322. In der zweiten Gruppe von Gesetzesvorbehalten indes fehlt eine solche Klarstellung und hat sich deswegen zu Recht die Auffassung durchgesetzt, dass Gesetz hier auch die bloß materiellen Gesetze meint323. 311

Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 104 Rn. 3. Vgl. beispielsweise Art. 104 Abs. 1 GG. 313 Siehe Wehowsky, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Art. 104 Rn. 14. 314 Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 104 Rn. 10. 315 Vgl. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, vor Art. 1 Rn. 107. 316 Vgl. Art. 10 Abs. 2 GG. 317 Vgl. Art. 8 Abs. 2 GG. 318 Vgl. Art. 5 Abs. 2 GG. 319 Vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. 320 Vgl. Art. 2 Abs. 1 GG. 321 Dazu auch Hermes, Der Bereich des Parlamentsgesetzes, 1988, S. 96. 322 So auch Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Vorb. vor Art. 1 Rn. 43 sowie Pieroth / Schlink, Grundrechte, 23. Aufl. 2007, Rn.  263; anderer Ansicht freilich Sachs (Fn. 172), S. 445. 323 Vgl. zur Schrankenregelung der verfassungsmäßigen Ordnung in Art.  2 Abs.  1  GG Pieroth / Schlink (Fn.  322), Rn.  383, zu den Vorschriften der allgemeinen Gesetze SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rn. 136 sowie zu den Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art. 14 GG Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein (Begr.), Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Rn. 37. 312

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Dies bedeutet nun selbstverständlich nicht, dass in Hinblick auf die Einschränkung von Grundrechten, die mit einem Gesetzesvorbehalt der zweiten Gruppe versehen sind, überhaupt kein Vorbehalt parlamentsgesetzlicher Normierung existiert. Ein solcher ergibt sich aber erst in Zusammenschau mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben324 und folgt nicht expressis verbis aus den betreffenden grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten selbst. Im Unterschied dazu lassen die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte der ersten Gruppe unmittelbare Rückschlüsse auf einen Vorbehalt parlamentsgesetzlicher Normierung zu. Nun stellen just diese grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte zugleich klar, dass die normative Einschränkung eines Grundrechts nicht zwingend durch Parlamentsgesetze erfolgen muss, sondern eben auch ‚aufgrund‘ eines Parlamentsgesetzes wirksam werden kann: Durch Parlamentsgesetz kann die Exekutive zu grundrechtsbeschränkenden Normsetzungsakten ermächtigt werden. Allerdings müssen in diesem Fall zumindest die grundlegenden Einschränkungen der grundrechtlichen Freiheit bereits im Parlamentsgesetz festgelegt sein325. Dies ergibt sich nicht erst aus der bundesverfassungsgerichtlichen Wesentlichkeitstheorie beziehungsweise aus Art. 80 GG. Denn unabhängig von diesen später noch zu erörternden326 Determinanten des Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung lässt sich bereits bei methodisch korrekter Auslegung der in Rede stehenden grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte herleiten, dass sie besondere Anforderungen an die Regelungsdichte des Parlamentsgesetzes stellen, das zu exekutiver Normsetzung im Grundrechtsbereich ermächtigt. So sollen dem Wortlaut dieser Gesetzesvorbehalte zufolge die exekutiven Grundrechtsbeeinträchtigungen zumindest auf einem Parlamentsgesetz gründen. Mit Rücksicht auf die schlechthin gemeinschaftskonstitutive Bedeutung, die das Grundgesetz den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG ausdrücklich zuschreibt327, kann dieses Erfordernis nicht schon dann als erfüllt angesehen werden, wenn der parlamentarische Gesetzgeber die Exekutive sachlich unbedingt zur Normsetzung ermächtigt328. Die zentrale Bedeutung der Grundrechte gebietet es vielmehr, dass auch die ‚aufgrund‘ von Parlamentsgesetzen ergehenden grundrechtsrechtsrelevanten Normsetzungsakte der Exekutive im Grunde bereits von demjenigen Verfassungsorgan determiniert sein müssen, das wegen seiner unvergleichlich engen Rückbindung an das Volk im Zentrum des grundgesetzlich verfassten demokratischen Gemeinwesens steht. Mithin müssen die grundlegenden, also wesentlichen normativen Grundrechtsbeeinträchtigungen, zu denen das Parlament die Exekutive gesetzlich ermächtigt, der Sache nach bereits durch die parlamentsgesetzliche Verordnungsermächtigung selbst fixiert sein329. Ob eine Grundrechtsbeeinträchti 324

Etwa mit Art. 80 GG – siehe Hermes (Fn. 321), S. 96 f. Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 54. 326 Siehe unten Kapitel 10 III. 1. f) bb) = S. 769 und Kapitel 10 III. 1. f) cc) = S. 771. 327 Vgl. dazu Kunig, in: v. Münch / ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rn. 45. 328 Siehe auch Hesse (Fn. 72), Rn. 66. 329 Siehe dazu Pieroth / Schlink, Grundrechte, 23. Aufl. 2007, Rn. 57 ff.

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gung in diesem Sinne als grundlegend und damit als wesentlich qualifiziert werden kann, bestimmt sich dabei maßgeblich nach ihrer Intensität. Nach allem lässt sich aus vielen, aber längst nicht aus allen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten unmittelbar ableiten, dass die sie ausfüllenden normativen Regelungen jedenfalls dann zwingend vom Parlament getroffen werden müssen, wenn hierdurch in grundlegender, wesentlicher, das heißt intensiver Weise die individuelle Wahrnehmung der einschlägigen grundrechtlichen Freiheit beeinträchtigt wird330.

bb) Wesentlichkeitstheorie In welchen Sachbereichen und bei welchen Regelungsgehalten darüber hinaus noch der Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung331 gilt, muss primär interpretativ aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung und von ihren fundamentalen Strukturbestimmungen her entwickelt werden. Als zentraler Ansatzpunkt dient dabei die demokratiezentrale Volkssouveränität, die grundgesetzlich im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie Strukturgestalt annimmt332. Wie dargelegt, stellt sich das Grundgesetz der Realität des modernen Flächenstaats und signalisiert daher in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz GG, dass Hoheitsakte mitunter auch sehr mittelbar an den Volkswillen rückgebunden sein können333. Wenn Volkssouveränität infolgedessen als gegebenenfalls vielstufiger legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang Gestalt annimmt334, so darf dadurch freilich nicht der Sinn und Zweck von Volkssouveränität konterkariert werden, nämlich die dauerhafte Rückbindung der Staatsgewalt an das Volk zu realisieren335. Daher muss die an sich zulässige Herabzonung von Normsetzungsbefugnissen auf nachrangige Magistratskollegien, Magistrate oder sonstige Amtsträger einem demokratiekompatiblen Schema folgen. Dieses kann nur darin bestehen, dass diejenigen Normsetzungsakte, die in für das Volk beziehungsweise die einzelnen Volksglieder bedeutsamen, also wesentlichen legislativen Sachbereichen ergehen und sie in grundlegender, mithin wesentlicher Weise betreffen, möglichst unmittelbar demokratisch legitimiert sein müssen, wohingegen bei Normsetzungsakten von geringerer Tragweite auch eine nur sehr mittelbare Legitimation genügen mag336. 330

Vgl. BVerfGE 61, 260 (275). Dazu etwa Kirchhof, Das Parlament als Mitte der Demokratie, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 237 (242). 332 Vgl. Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: Goydke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Remmers, 1995, S. 195 (198 f.). 333 Siehe oben Kapitel 10 II. 1. b) = S. 703. 334 Ebd. 335 Stein / Frank (Fn. 36), § 8 II 1. 336 Siehe Hesse (Fn. 72), Rn. 526. 331

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In dieser Perspektive sprechen durchgreifende Gründe dafür, dass Normsetzungsakte, die in für die Normunterworfenen wesentlichen Bereichen für sie wesentliche Regelungen treffen, von demjenigen Verfassungsorgan erlassen werden müssen, das – abgesehen von dem in der Verfassungspraxis unbedeutenden Volksgesetzgeber  – das höchste Maß an demokratischer Legitimation zu vermitteln vermag337. Mithin ist bei derartigen Normsetzungsakten allein das Parlament als besonderes Organ der Gesetzgebung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz GG zu qualifizieren. Dabei wird man die Normunterworfenen dann durch den in einem wesentlichen Sachbereich ergangenen Normsetzungsakt als wesentlich betroffen ansehen können, wenn dieser einzelne Normunterworfene oder aber die politische Gemeinschaft als Ganze intensiv tangiert338. Der aus dem demokratiezentralen Prinzip der Volkssouveränität entwickelte Vorbehalt parlamentarischer Normierung bestätigt den aus den (vielen) grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten verfassungsunmittelbar ableitbaren. Dieser besagt, wie darlegt, dass wesentliche Regelungen im Schutzbereich von unter Vorbehalt stehenden Grundrechten stets vom Parlament getroffen werden müssen. Da es sich bei den Grundrechten zweifelsohne um einen für die Normunterworfenen wesentlichen Sachbereich handelt, deckt sich der aus den fraglichen Grundrechtsverbürgungen abgeleitete Vorbehalt parlamentarischer Normierung mit dem all­ gemein aus der demokratiezentralen Volkssouveränität deduzierten. Diesen allgemeinen und nicht nur bereichsspezifisch geltenden Vorbehalt parlamentarischer Normierung haben Rechtsprechung und Lehre in der sogenannten ‚Wesentlichkeitstheorie‘ verfassungsdogmatisch konsekriert339. Bekanntlich soll danach das Parlament verpflichtet sein, „in grundlegenden normativen Bereichen (…) alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“340. Auf die präzise Konturierung des Wesentlichkeitskriteriums, das sich der Sache nach bis in die Zeit des Frühkonstitutionalismus zurückverfolgen lässt341, ist dabei viel Tinte verwandt worden342. Die insofern erzielten Ergebnisse führen freilich nicht entscheidend über das hinaus, was eben schon entwickelt wurde343: Als grundlegende, also

337

Grundlegend BVerfGE 40, 237 (249 ff.). Stein / Frank (Fn. 36), § 20 I 6. 339 Vgl. nur v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S.  183 ff.; Möllers (Fn.  60), S. 186 ff.; Dederer (Fn. 31), S. 473 ff.; Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 77. Kritisch dazu Wolff, Das Verhältnis von Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip, in: Festschrift für Quaritsch, 2000, S. 73 (81) sowie Kloepfer (Fn. 227), S. 187 ff. 340 BVerfGE 49, 89 (126). 341 Dazu nur Staupe (Fn. 304), S. 109 f. 342 Siehe auch Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, 1999, S. 30 und 80 ff.; über den Ertrag dieser Bemühungen lässt sich freilich trefflich streiten  – sehr kritisch Reimer (Fn. 306), Rn. 47 ff. 343 Denn wie man es auch wendet: Die „Wesentlichkeit“ bleibt nun einmal „ein recht vages Abgrenzungskriterium“ (Sachs [Fn. 44], Rn. 116). 338

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wesent­liche normative Bereiche gelten in Rechtsprechung344 und Literatur345 diejenigen Regelungsmaterien, die für die Grundrechtsausübung relevant sind oder sonst wie bedeutsame, etwa politisch umstrittene, Sachverhalte346 berühren; aller­ dings müssen längst nicht alle normativen Regelungen, die diesen Sachmaterien unterfallen, vom Parlament selbst getroffen werden, sondern nur diejenigen, die ihrerseits wesentlich sind, also insbesondere eine hinreichende Grundrechtsintensität erreichen347. Auch die Wesentlichkeitstheorie lässt sich insofern auf die enigmatisch klingende, aber dogmatisch gleichwohl nicht unergiebige Formel348 bringen, dass dem Grundgesetz zufolge in allen wesentlichen legislativen Sachbereichen alle wesentlichen Regelungen vom Parlament selbst entschieden werden müssen349.

cc) Art. 80 GG Aus der demokratiezentralen Volkssouveränität lässt sich daher ein weitreichender absoluter Vorbehalt parlamentarischer Gesetzgebung herleiten, der überdies denjenigen mit umfasst, der verfassungsexplizit in der überwiegenden Zahl grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte angelegt ist. Gänzlich lässt sich die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung aber auch unter Rückgriff auf die an die Volkssouveränität anknüpfenden Erwägungen nicht ausmessen. Denn auch dort, wo weder die grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalte noch die demokratiezentrale Volkssouveränität eine parlamentsgesetzliche Regelung vorschreiben, kann Art. 80 GG eine solche gebieten350. 344

Siehe nur BVerfGE 98, 218 (251). Vgl. nur Pieper, Aufsicht, 2006, S. 350 f. 346 Dazu in zutreffender Differenziertheit Hermes (Fn. 321), S. 117 ff. sowie Staupe (Fn. 304), S. 248 ff. 347 Siehe dazu nur Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S. 188 f. 348 In diese Richtung auch Schnapp (Fn. 114), Rn. 56: „erster Dogmatisierungsansatz“; ferner Faber (Fn. 273), § 13 IV d); grundsätzlich anderer Auffassung und für einen Abschied von der Wesentlichkeitstheorie plädierend Reimer (Fn. 306), Rn. 57 ff. 349 Durch die Beschränkung auf alle wesentlichen legislativen Sachbereiche wird zugleich klargestellt, dass ein allgemeiner, ‚monistischer‘ Parlamentsvorbehalt für schlechthin alle wesentlichen Fragen nicht existiert (BVerfGE 49, 89 [125]). Dies widerspräche nicht zuletzt dem Prinzip der Gewaltenteilung (Sachs [Fn. 44], Rn. 88 sowie Pieper [Fn. 345], S. 206 f.). In anderen Bereichen als der Legislative lässt sich die Zuständigkeit des Parlaments für wesentliche Fragen nicht pauschal, sondern nur im Einzelfall herleiten (vgl. dazu auch Oldiges, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 64 Rn. 24 b). Allerdings ist auch jenseits der Normsetzung die sich aus dem Zurechnungssystem der Volkssouveränität ergebende besondere demokratische Dignität des Parlaments zu berücksichtigen (siehe Dreier [Fn. 115], Rn. 98). Dies braucht an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft zu werden. Denn im Hinblick darauf, dass diese Abhandlung ausschließlich die Normsetzung im engeren Sinne (dazu oben Einleitung III. 1. a] = S. 76) thematisiert, geht es im Folgenden um genuin legislative Entscheidungen. 350 Dazu Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 178 ff.; auch Knemeyer (Fn. 339), S. 77 f. 345

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Dieser Verfassungsbestimmung zufolge darf eine Verordnung nämlich nur auf Grundlage einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigung ergehen, die nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt ist351. Insofern wird klargestellt, dass die Handlungsform der Rechtsverordnung lediglich unter der Voraussetzung zu Gebote steht, dass das Parlament bestimmte sachliche Mindestregelungen trifft: Eine gesetzliche Ermächtigung zur Rechtsetzung muss selbst ein Mindestmaß an materieller Regelung enthalten352. Der demzufolge in Art. 80 GG fixierte, relative Vorbehalt parlamentarischer Normierung gilt nun freilich auch dann, wenn zu einer Verordnung ermächtigt wird, die zwar in einen grundrechtsrelevanten oder ansonsten wesentlichen Regelungsbereich fällt, jedoch insofern keine (grundrechts-) wesentlichen Regelungen treffen soll, oder wenn sie in jeder Hinsicht (grundrechts-)unwesentliche Sachverhalte betrifft. Ein vollständiges Bild des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung kann man sich insofern erst dann machen, wenn man zusätzlich noch die verfassungsexplizite Vorbehalts­regelung des Art. 80 GG in den Blick nimmt. Mit dieser Bestimmung verbindet sich nun freilich unweigerlich die für die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung hoch bedeutsame Frage, ob Art. 80 GG die grundgesetzlich zulässigen Formen exekutiver Normsetzung in grundsätzlich abschließender Weise normiert oder ob unter dem Grundgesetz im Hinblick auf unwesentliche Regelungen generell auch eine origi­när-unabgeleitete Normsetzungsbefugnis der Exekutive existiert353. Im letztgenannten Fall wäre die eigenständige Bedeutung von Art.  80  GG für den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung vergleichsweise gering. Denn dann könnten Exekutive beziehungsweise Administrative – grundsätzlich uneingeschränkt – im Wege der Normsetzung (im doppelten Sinne) unwesentliche Regelungen treffen, ohne dass das Parlament diesbezüglich zumindest eine Mindestregelung getroffen habe müsste354.

351 Dazu muss die parlamentsgesetzliche Ermächtigung so bestimmt sein, dass vorherge­ sehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden kann und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (so genannte Vorhersehbarkeitsformel). Der Gesetzgeber muss also selbst die Entscheidung treffen, welche Fragen, unter Beachtung welcher Grenzen und mit welchem Ziel geregelt werden sollen (sogenannte Selbstentscheidungsformel). Das ermächtigende Gesetz muss dem Verordnungsgeber mit anderen Worten ein von diesem zu verwirklichendes Programm setzen (sogenannte Programmformel).  – Zum Ganzen auch v. Bogdandy (Fn.  339), S.  190 ff. sowie v. Münch (Fn.  70), Rn.  857 ff.; unverhohlen skeptisch Ossenbühl (Fn.  206), Rn. 21 ff. 352 So ausdrücklich BVerfGE 20, 257 (270). 353 Diese Frage hält Schnapp (Fn. 114), Rn. 56 für noch nicht abschließend geklärt. Einen guten Überblick über die diversen Ansätze, die in Richtung eines eigenständigen Rechtsetzungsrechts der Exekutive gehen, bietet Schmidt-Aßmann, Die Rechtsverordnung in ihrem Verhältnis zu Gesetz und Verwaltungsvorschrift, in: Kirchhof u. a. (Hrsg.), Festschrift für Vogel, 2000, S. 477 (479 ff.). 354 Zu dieser Konsequenz auch Lücke / Mann (Fn. 227), Rn. 10.

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Damit ist die Frage nach der Reichweite des hier sogenannten relativen Vor­ behalts parlamentarischer Normierung aufgeworfen: Inwieweit müssen Norm­ setzungsakte, auch wenn sie nicht zwingend vom Parlament zu erlassen sind, in der Regel zumindest eine hinreichend bestimmte parlamentsgesetzliche Grundlage aufweisen?

g) Die Reichweite des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normierung Die grundsätzliche Reichweite des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normierung interessiert nicht nur deshalb, weil sie Rückschlüsse darauf zulässt, inwieweit der absolute Vorbehalt parlamentarischer Normierung partiell auch bei (grundrechts-)unwesentlichen Regelungen greift. Vielmehr korreliert die Reichweite des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normierung zugleich mit der materiell-direktiver Legitimation. Denn gälte der relative Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht prinzipiell umfänglich, wäre es denkbar, dass die Exeku­ tive nicht bloß in Ausnahmefällen Normsetzungsakte statuiert, ohne dass das Parlament zuvor wenigstens rudimentäre sachlich-inhaltliche Vorgaben statuiert hat. In diesem Fall könnten prinzipiell Rechtsverordnungen in Geltung erstarken, denen nicht nur in revisionärer, sondern eben auch in dezisionärer Hinsicht ausschließlich personelle und materiell-kontrollative Legitimation, nicht aber die unter legitimatorischen Gesichtspunkten wirkkräftigere materiell-direktive Legitimation zuwächst. Nun ist zwar zu berücksichtigen, dass auch im Fall eines selbstständigen Verordnungsrechts der Exekutive ein von sachlich-inhaltlichen Vorgaben gänzlich unberührtes Exekutivrecht eher die Ausnahme bliebe. Denn wegen der im modernen Industrie-, Sozial- und Umweltstaat herrschenden hohen Normendichte355 und dem unhintergehbaren Vorrang des Gesetzes356 dürften sich nur relativ wenige Regelungsbereiche finden, in denen eine von den Anforderungen des Art.  80  GG freigestellte Exekutivnormsetzung nicht doch von bestimmten parlamentsgesetzlichen Rahmenbestimmungen determiniert wäre357. Dies vermag freilich nichts daran zu ändern, dass selbstständige Verordnungen dennoch typischerweise in geringerem Umfang in materiell-direktiver Legitimation erwachsen. Schließlich werden sie höchstens durch bereits geltende Parlamentsgesetze, nicht aber durch eigens erlassene parlamentsgesetzliche Verordnungsermächtigungen sachlich-inhaltlich legitimiert. Daher bleibt es im hiesigen Kontext durchaus belangvoll, ob 355

Bryde (Fn. 149), Rn. 9d. Zu diesem Hesse (Fn. 72), Rn. 88 sowie – vertiefend – Ossenbühl (Fn. 306), Rn. 1 ff. und Reimer (Fn. 306), Rn. 73 ff. 357 Zum – unvermeidbaren – Normierungsbedürfnis des modernen Sozialstaats überzeugend Ossenbühl, Gesetz und Recht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 100 Rn. 77 f. 356

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Art.  80  GG den Schluss zulässt, dass grundsätzlich alle exekutivischen Norm­ setzungsakte auf ein Parlamentsgesetz rückführbar sein müssen. Hiergegen wird eingewandt, dass Art. 80 GG nur im Hinblick auf solche Sachverhalte eine unabgeleitet-selbstständige Normsetzungsbefugnis der Exekutive ausschließt, in denen sich aus den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten beziehungsweise – weitergehend – aus der unter anderem an das Prinzip der Volkssouveränität anknüpfenden Wesentlichkeitstheorie das Erfordernis einer parlamentsgesetzlichen Rahmenregelung ergibt358. Für die Regelung von Materien, die nicht (grundrechts-)wesentlich sind, soll auch unter der Herrschaft des Grundgesetzes auf ein funktionsimmanentes, selbstständiges Verordnungsrecht der Exekutive rekurriert werden können359. Für diese Mindermeinung lassen sich zwei durchaus bedenkenswerte Argumente anführen. Dass nach herrschender Auffassung nach wie vor Bereiche exekutiven Handelns existieren, die nicht dem Gesetzesvorbehalt unterfallen360, der vollziehenden Gewalt in eben diesen Bereichen eine ermächtigungslose Exekutivrechtsetzung aber weiterhin verwehrt sein soll361, ist schon deswegen nicht ohne Weiteres nachzu­vollziehen, weil zwischen Befehl und Norm letztlich keine klare Trenn­ linie gezogen werden kann362. So lässt sich zwischen einem Regelungsbefehl, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft, und einer durch ihren abstrakt-generellen Regelungs­ gehalt charakterisierten Rechtsnorm nur schwer unterscheiden363. Insofern weckt es Zweifel, wenn an die Unterscheidung zwischen Norm- und Einzelbefehl weitreichende verfassungsrechtliche Konsequenzen geknüpft werden sollen364. Des Weiteren vermag nicht unmittelbar einzuleuchten, dass Regierung und Verwaltung offenbar nur deshalb der vorgängigen Autorisation eines Legislativorgans bedürfen, um in ihrem Aufgabenbereich auf die Komplexität reduzierende Handlungsform abstrakt-genereller Rechtsnormen zurückgreifen zu dürfen, weil sich die Legislative in ihrem Aufgabenbereich ebenfalls dieser Handlungsform bedient. Stattdessen lässt sich – zumindest vordergründig – der Eindruck gewinnen, als ob 358

Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 12 sowie ders. (Fn. 306), Rn. 62. 359 Ossenbühl (Fn. 358), Rn. 13; ders. (Fn. 206), Rn. 19; Seiler (Fn. 347), S. 189 ff.; Horn (Fn. 342), S. 64 ff.; Nierhaus (Fn. 203), Rn. 156; Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, 1993, S. 94. 360 Siehe Schnapp (Fn. 114), Rn. 53. 361 Repräsentativ Rubel, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2002, Art.  80 Rn. 19. 362 Dazu bereits oben Einleitung III. 1. b) cc) = S. 82. 363 Vgl. pointiert Obermayer, Das Dilemma der Regelung eines Einzelfalles nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz, in: NJW 1980, S. 2386 ff. 364 Der Sache nach in diese Richtung auch Bryde (Fn. 149), Rn. 9b.

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insofern das gewaltenteilende System des Grundgesetzes kurzerhand überspielt würde. Dieses gründet dem Prinzip nach365 darauf, dass die den klassischen Gewalten entsprechenden Funktionen von spezifisch dazu berufenen Trägern wahrgenommen werden366. Die Erstreckung des – relativen – Vorbehalts parlamentarischer Normierung auf Aufgabenbereiche, die eigentlich exekutiver Natur sind, könnte diesem grundgesetzlichen Konzept der Funktionentrennung widerstreiten. Bei näherer Betrachtung vermögen diese Argumente freilich nicht zu über­ zeugen und ist daher der herrschenden Ansicht beizupflichten, die exekutive Normsetzung grundsätzlich367 nur im Rahmen parlamentsgesetzlich delegierter Rechtsetzung zulässt, ein der Verfassung inhärentes unabgeleitet-selbstständiges Verordnungsrecht der Exekutive also dem Prinzip nach ablehnt368. Zutreffend an dem zuletzt skizzierten Argument der Mindermeinung ist freilich der dort gewählte Ausgangspunkt, nämlich der Rekurs auf die grundgesetzliche Funktionenordnung. Aus dieser ergibt sich bei genauerer Analyse allerdings, dass die Normsetzung insgesamt in den Funktionsbereich der Legislative fällt; dies gilt zumindest für die Normsetzung im hier verstandenen Sinn369, nämlich als Statuierung von allgemein-abstrakten Normen im Staat-Bürger-Verhältnis370. Bereits unter systematischem Gesichtspunkt sticht ins Auge, dass das Grundgesetz alle drei Funktionen der Staatsgewalt jeweils in einem eigenen Abschnitt regelt371 und dabei auch die Vorschrift über die Exekutivrechtsetzung in dem Abschnitt über die Gesetzgebung normiert372. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass exekutive Normsetzungsakte selbst dann als Ausfluss legislativer Betätigung anzusehen sind, wenn es der zu bewältigenden Sachaufgabe nach eigentlich um die Wahrnehmung exekutiver Gewalt zu gehen scheint373. Abweichendes gilt allenfalls dann, wenn sich ein exekutiver Normsetzungsakt seinem Regelungsgehalt 365 Den lediglich grundsätzlichen Charakter der Zuordnung betont zutreffend Schöneweiß, Die parlamentarische Kontrolle der authentischen Vertragsauslegung im Völkerrecht, 2002, S. 77. 366 Stern (Fn. 281), S. 537. 367 Der Grundsatz, wonach unter dem Grundgesetz eine unabgeleitet-selbstständige Norm­ setzungsbefugnis der Exekutive nicht existiert, schließt wohl begründete Ausnahmen hierzu nicht aus. Zu nennen sind hier in erster Linie die autonomen Satzungsbefugnisse, wie sie namentlich im Selbstverwaltungsbereich begegnen. 368 Statt aller Pieroth (Fn. 262), Rn. 1, Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 80 Rn. 12, Reimer (Fn. 306), Rn. 70 sowie Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, 2005, S. 348 ff. 369 Dazu oben Einleitung III. 1. a) = S. 76. 370 Abweichendes gilt – jedenfalls teilweise – in Hinblick zum Beispiel auf das Regierungs­ innenrecht (vgl. zu diesem Problemkreis etwa Hermes, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 64 Rn. 21 ff.). 371 Sachs (Fn. 44), Rn. 82. 372 Verharmlost wird dieses grundgesetzsystematische Indiz von Nierhaus (Fn. 203), Rn. 59. 373 Im Ergebnis gleich Pieroth (Fn. 262), Rn. 1; dezidiert anderer Ansicht Horn (Fn. 342), S. 66 f.

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nach allzu weit von dem entfernt, was typischerweise unter Gesetzgebung verstanden wird. Dies kann etwa bei exekutiven Normierungen der inneren Regierungsorganisation der Fall sein374. Bei den hier in Rede stehenden exekutiven Norm­ setzungsakten handelt es sich indes durchweg um Gesetze im materiellen Sinn, die insofern als Akte der Gesetzgebung dem Bereich der Legislative zuzuordnen sind. Nun wurde bereits darauf hingewiesen, dass das gewaltenteilende System des Grundgesetzes die einzelnen Funktionen – zumindest dem Grundsatz nach – spezifischen Trägern zuordnet375. In dieser Perspektive ist es dann aber nur konsequent376, wenn für exekutive Normsetzungsakte, also für das Tätigwerden von Exekutivorganen im Bereich der Legislative, in aller Regel eine hinreichend bestimmte Ermächtigung durch das Legislativorgan Parlament vorausgesetzt wird377. Dies spricht entscheidend dafür, dass Art. 80 GG die exekutive Normsetzung in grundsätzlich abschließender Weise regelt, zumal sich auch dem Verfassungstext keine gegenläufigen Anhaltspunkte entnehmen lassen und im Übrigen entstehungsgeschichtlich-systematische Zusammenhänge deutlich in diese Richtung weisen. Schließlich war dem Grundgesetzgeber die verfassungspolitische Möglichkeit, ein unabgeleitet-selbstständiges Verordnungsrecht zu statuieren, durchaus präsent378. Dass er ein solches Verordnungsrecht aber ausschließlich übergangsweise zur raschen Bewältigung der Folgen von Krieg und Faschismus vorgesehen hat379, lässt den Rückschluss zu gilt, dass Art.  80  GG für prinzipiell jeden exe­kutiven Normsetzungsakt, der hier so genannte relative Vorbehalt parlamentarischer Normierung mithin grundsätzlich umfassend ist. Darüber hinaus liefert auch der rechtstheoretische Umstand, dass sich die grundsätzlich der Legislative vorbehaltene Normsetzung nicht trennscharf von den der Exekutive prinzipiell zugewiesenen gesetzesvollziehenden Befehlsakten unterscheiden lässt, kein hinreichend überzeugendes Argument für ein unabgeleitet-selbstständiges Verordnungsrecht der Exekutive. Denn selbst wenn sich Normsetzungs- und Befehlsakt in Grenzbereichen nur schwer auseinanderdividieren lassen, so ändert dies nichts daran, dass im Normalfall Normsetzungsakte einen gegenüber Befehlsakten um ein Vielfaches erweiterten sachlichen und personellen Regelungsgehalt aufweisen. In dieser Perspektive drängt es sich auf, bei Norm­ setzungsakten generell ein höheres Maß an demokratischer Legitimation einzufordern380, zumal dies in diesen Fällen organisationstechnisch auch realisierbar ist. 374

Schulze-Fielitz (Fn. 158), Rn. 73. Insoweit kann etwa auch Kuhl (Fn. 359), S. 125 f. gefolgt werden. 376 Siehe dazu auch Maurer (Fn. 193), § 17 Rn. 143. 377 Denn: „Im freiheitlich-demokratischen System des Grundgesetzes fällt dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu“ (BVerfGE 95, 1 [15 f.]). Hiergegen freilich Schmidt-Aßmann (Fn. 353), S. 485. 378 Plastischer Beleg hierfür ist die Bestimmung des Art. 119 Satz 1 GG. 379 Siehe dazu Umbach, in: ders. / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2002, Art.  119 Rn. 2 ff. 380 In diese Richtung auch BVerfGE 95, 1 (15 f.). 375

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Dass nach herrschender und zutreffender Meinung exekutive Normsetzungsakte grundsätzlich der parlamentsgesetzlichen Ermächtigung bedürfen und der hier so genannte relative Vorbehalt parlamentarischer Normierung folglich im Prinzip umfänglich gilt381, wird bemerkenswerter Weise auch durch die zentrale Ausnahme bestätigt, die es zu dieser verfassungsrechtlichen Regel gibt: Den zur Exekutive zählenden Trägern kommunaler Selbstverwaltung kommt für Selbstverwaltungsangelegenheiten, die nicht schon wegen ihrer (Grundrechts-)Wesentlichkeit dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, verfassungsunmittelbar eine unabgeleitet-selbstständige Normsetzungsbefugnis zu382. Denn gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG steht den Kommunen die Befugnis zu, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“. Dies bedeutet, dass die Kommunen in ihrem Aufgabenbereich sämtliche Sachfragen selbst entscheiden dürfen, sofern diese nicht durch Gesetz geregelt sind oder sein müssen. Dabei weist der Terminus „regeln“ ausdrücklich darauf hin, dass die gemeindlichen Entscheidungen gerade auch in Gestalt von Normsetzungsakten ergehen dürfen383. Wenn demnach der Gemeinde aufgrund ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Satzungshoheit ein unabgeleitet-selbstständiges exekutives Normsetzungsrecht zusteht, im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung hingegen kein derartiges Verordnungsrecht existieren soll, so lässt sich dies nicht nur damit rechtfertigen, dass in dem einen Fall eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelung existiert, während das Grundgesetz im anderen Fall beredt schweigt. Hinzu kommt, dass die den Kommunen bereichsspezifisch zustehende verfassungsunmittelbar-autonome Normsetzungsbefugnis von kommunalen Volksvertretungen ausgeübt wird und werden muss, die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen384 und parlamentsanalog385 strukturiert sind. Das dem Grundgesetz zufolge bei exekutiven Normsetzungsakten – im Vergleich zu Befehlsakten – zwingend angehobene Niveau demokratischer Legitimation wird somit im Fall der kommunalen Satzungen dadurch gewährleistet, dass diesen über die Kommunalparlamente sowohl in dezisionärer als auch in revisionärer Hinsicht eine personelle sowie materiell-kontrollative demokratische Legitimation zuwächst, die auf einer niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt und durch hohe Wirkkraft gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund bestätigt die Ausnahmeregelung über die kommunale Satzungshoheit das für den übrigen Bereich exekutiver Normsetzung erzielte Ergebnis, nämlich dass um der demokratiezentralen Volkssou 381

So etwa Klein ( Fn. 332), S. 198. Vgl. nur Löwer, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 28 Rn. 78 f. 383 Siehe dazu Vogelsang, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 28 Rn. 121 ff. 384 Vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. 385 So auch schon v. Komorowski, Äußerungsrecht der kommunalen Volksvertretungen und gemeindliche Verbandskompetenz, in: Staat 1998, S. 122 (132) 382

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veränität willen alle Verordnungen auf eine parlamentsgesetzliche Verordnungs­ ermächtigung rückführbar sein sollen, der relative Vorbehalt parlamentarischer Normierung prinzipiell umfassend gilt.

h) Kein allgemeiner Vorenthalt parlamentarischer Normierung Dass das Grundgesetz nach allem einen prinzipiell umfassenden relativen Vorbehalt parlamentarischer Normierung entbindet, schließt einen daneben bestehenden Vorenthalt parlamentarischer Normierung nicht aus. Denn auch wenn die Exekutive nur nach Maßgabe einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigung normsetzerisch tätig werden darf, bedeutet dies nicht zwingend, dass das Parlament jeden exekutiven Normsetzungsakt auch selbst vorzunehmen befugt ist. Insofern bedarf es der näheren Begründung, weshalb dem Grundgesetz ein allgemeiner Vorenthalt parlamentarischer Normsetzung unbekannt ist. Schließlich ist die vorstehend entwickelte These, dass exekutive Normsetzungsakte dem Grundgesetz zufolge ein zwar gegenüber Parlamentsgesetzen abgemindertes, aber dennoch beachtliches Legitimationsniveau aufweisen, mitunter damit begründet worden, dass ihnen wegen des umfassenden Zugriffsrechts des Parlaments ein beachtliches Maß an materiell-kontrollativer386 sowie revisionärer Legitimation387 zuwächst. Sie beruht also unter anderem darauf, dass es einen Vorenthalt parlamentarischer Normsetzung – zumindest dem Prinzip nach – nicht gibt. Grundgesetzliche Anhaltspunkte für einen allgemeinen Vorenthalt parlamentarischer Normsetzung könnten allenfalls der in Art. 20 GG niedergelegte Grundsatz der Gewaltenteilung388 sowie die ihn ausprägende, in verwandtem Zusammenhang eben schon erwähnte grundgesetzliche Funktionenordnung389 liefern390. Denn daraus leiten Rechtsprechung391 sowie Literatur392 übereinstimmend und im Prinzip sicherlich zutreffend ab, dass die drei Gewalten jedenfalls in ihrem Kernbereich geschützt sind. Dies hat zur Konsequenz, dass auch dem legislativen Zugriffsrechts des Parlaments Grenzen gesetzt sind393. Insbesondere dürfen parlamentsgesetzliche Regelungen nicht die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers394 gänzlich überspielen, indem beispielsweise die Regierungsorganisation en 386

Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (2) = S. 746 388 Hesse (Fn. 72), Rn. 475 ff. 389 Zu diesem Begriff etwa Schneller, Objektbezogene Legalplanung, 1999, S. 85 f. 390 Dazu auch Stern (Fn. 281), S. 542 f. 391 Vgl. etwa BVerfGE 30, 1 (27 f.) und 95, 1 (15 f.). 392 Sachs (Fn. 44), Rn. 93; Jarass (Fn. 325), Rn. 24; Schulze-Fielitz (Fn. 158), Rn. 73.; zurückhaltend freilich Schneller (Fn. 389), S. 125 f. 393 Dazu etwa Rath, Die „unionswärtige Gewalt“ des Deutschen Bundestags, in: Steffani / Thaysen, Demokratie in Europa: Zur Rolle der Parlamente, 1995, S. 114 (127 f.); siehe auch die verfassungssystematischen Erwägungen von Böckenförde (Fn. 206), S. 84 und 107. 394 Zu dieser Oldiges (Fn. 349), Rn. 22 ff. 387

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détail gesetzlich fixiert wird395. Auch kann es dem Parlament in Hinblick auf den Kernbereich der Exekutive von Verfassungs wegen lediglich in beschränktem Umfang erlaubt sein, Parlamentsgesetze zu erlassen, die sich der Sache nach als Gesetzesvollzug durch einzelfallbezogenen Befehlsakt darstellen396. Allerdings wird durch diese aus dem Gewaltenteilungsprinzip herrührenden Begrenzungen des legislativen Zugriffsrechts des Parlaments kein allgemeiner Vorenthalt parlamentarischer Normsetzung begründet. Denn Normsetzung im hier zugrundegelegten Sinn bezieht sich auf die Statuierung allgemein-genereller Regelungen im Staat-Bürger-Verhältnis397 und erfasst gerade nicht die Fälle innerorganisatorischer beziehungsweise verwaltungsaktersetzender Parlamentsgesetze, die aus Sicht der Kernbereichslehre Probleme aufwerfen.

i) Der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung Wie dargelegt, wächst Parlamentsgesetzen beziehungsweise Rechtsverordnungen aus mehrerlei Gründen ein merklich geringeres Maß an demokratischer Legitimation zu, wenn sie der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, als wenn der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung für sie nicht gilt. Um das bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gebotene Niveau demokratischer Legitimation zu bestimmen, muss daher abschließend noch dieser Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung näher präzisiert werden. Bei Bundesgesetzen bedarf es der bundesrätlichen Zustimmung nur dann, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich vorsieht398. Versucht man die über das gesamte 395

Vorsichtig in diese Richtung Ossenbühl (Fn. 306), Rn. 72; sehr weitgehend Maurer, Zur Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, in: Kirchhof u. a. (Hrsg.), Festschrift für Vogel, 2000, S. 330 (345). 396 Dazu grundlegend die Entscheidung des BVerfG zur Südumfahrung Stendhal (E 95, 1 [15 ff.]); demgegenüber verneint Schneller (Fn. 389), S. 128 in diesen Fällen einen Verstoß gegen die grundgesetzliche Funktionenordnung; zurückhaltend auch Ossenbühl (Fn. 306), Rn. 71. 397 Siehe oben Einleitung III. 1. b) cc) = S. 82. 398 Dieses sog. Enumerationsprinzip (Lücke / Mann, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art.  77 Rn.  13; auch Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Benda / Maihofer / ders. [Hrsg.], Handbuch des Verfassungsrechts, Bd.  2, 2. Aufl. 1994, § 22 Rn. 55) ist ein deutliches systematisches Indiz dafür, dass der Grundgesetzgeber die Zustimmungspflichtigkeit von Gesetzen ursprünglich als Ausnahme angesehen hatte. Wenn vor dem Inkrafttreten der Föderalismusreform dennoch rund sechzig Prozent der Bundesgesetze der bundesrätlichen Zustimmung bedurften (vgl. BT-Drs. 16/813, S. 14), so lag dies weniger daran, dass die Zahl der grundgesetzlichen Zustimmungsvorbehalte infolge von Verfassungsänderungen massiv zugenommen hätte, als vielmehr an der zusehends gewachsenen Bedeutung des Zustimmungsvorbehalts gemäß Art. 84 Abs. 1 GG. Es war insofern nur konsequent, dass man sich im Rahmen der Föderalismusreform speziell des Art. 84 Abs. 1 GG angenommen hat, um den Bereich der Zustimmungsgesetzgebung zurückzudrängen und auf diese Weise den deutschen Föderalismus zu ‚entflechten‘. Ob freilich die Föderalismusreform tatsächlich, wie teilweise unterstellt (vgl. BT-Drs. 16/813, S. 14; Georgii / Borhanian: Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusreform, in: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 – 37/06

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Grundgesetz verstreuten Zustimmungsvorbehalte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so wird man cum grano salis festhalten können, dass sie grundsätzlich dann eingreifen, wenn durch die Regelung einer Materie Länderinteressen nachhaltig betroffen werden399. Für Rechtsverordnungen normiert vor allem Art. 80 Abs. 2 GG einen Vor­behalt bundesrätlicher Zustimmung. Den sonstigen im Grundgesetz enthaltenen Zustimmungsvorbehalten400 kommt demgegenüber keine oder nur geringe Bedeutung zu401. Auch den in dem zentralen Art. 80 Abs. 2 GG enthaltenen Zustimmungsvorbehalten kommt nicht allen dasselbe Gewicht zu. Dass nach wie vor etliche der auf bundesgesetzlicher Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, ist maßgeblich auf die beiden in Art. 80 Abs. 2 GG zuhinterst verankerten Vorbehaltsregelungen zurückzuführen402: Danach bedürfen die auf einer bundesgesetzlichen Verordnungsermächtigung beruhenden Rechtsverordnungen immer und allein schon dann der Zustimmung des Bundesrats, wenn das ermächtigende Gesetz im Auftrag des Bundes oder als eigene An­ gelegenheit auszuführen ist403. Da nun der länderseitige Vollzug von Bundes­ gesetzen404 den verfassungsrechtlichen und -praktischen Regelfall darstellt405, erklärt sich auch, warum erstens gerade diese Arten von Zustimmungsverordnungen, nämlich die sogenannten vollzugsbedingten Zustimmungsverordnungen, vorherrschend sind und weshalb zweitens Zustimmungsverordnungen überhaupt eine so große Rolle im Verfassungsalltag spielen. Als gemeinsames Kennzeichen der verschiedenen Typen von Zustimmungsverordnungen wird man – wie bei den Zustimmungsgesetzen – die besondere Betroffenheit von Länderbelangen anführen können. In dieser Perspektive erhellt denn auch, weshalb trotz anders interpretierbaren Wortlauts alle Zustimmungs­ vorbehalte des Art. 80 Abs. 2 GG auf Rechtsverordnungen von Bundesorganen beschränkt sind406. Denn die Länder werden durch in zustimmungspflichtigen oder länderseits zu vollziehenden Bundesgesetzen enthaltene Verordnungsermächtigungen nur insoweit tangiert, als nicht ihre Organe, sondern die des Bundes zur Verordnungsgebung ermächtigt werden. Daher ist die in der ersten Variante von Art. 80 Abs. 2 GG, also für die sogenannten Verkehrsanordnungen, ausdrücklich fixierte Beschränkung auf Bundesrechtsverordnungen auch auf die weiteren Vari­ und 123/06, 2006), einen Rückgang der zustimmungspflichtigen Gesetze von zwischen dreißig bis fünfzig Prozent mit sich bringen wird, erscheint als eher unwahrscheinlich (so auch Burkart / Manow, Was bringt die Föderalismusreform?, in: MPIfG Working Paper 06/6, 2006; in diese Richtung auch Selmer [Fn. 173], S. 1057). 399 So auch Maurer (Fn. 193), § 17 Rn. 70. 400 Dazu Nierhaus (Fn. 203), Rn. 520 f. 401 Siehe Ossenbühl (Fn. 206), Rn. 53 ff. 402 Lücke / Mann (Fn. 227), Rn. 35. 403 Nierhaus (Fn. 203), Rn. 575 ff. 404 Auch bei der Bundesauftragsverwaltung handelt es sich um echte Landesverwaltung. 405 Lücke / Mann (Fn. 227), Rn. 35. 406 Bryde (Fn. 149), Rn. 29.

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anten des Art.  80 Abs.  2  GG zu erstrecken. Der sich bei Interpretation lege artis aufdrängende Umkehrschluss, dass die anderen Zustimmungsvorbehalte des Art.  80 Abs.  2  GG auch bei aufgrund von Bundesgesetzen erlassenen Landesrechtsverordnungen gelten, darf somit nicht gezogen werden.

2. Das bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts gebotene Niveau demokratischer Legitimation Vorstehend ist dargestellt worden, wie die hinsichtlich der rein innerstaatlichen Normsetzungsakte geltenden grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen die für die Erzeugung demokratischer Legitimation maßgeblichen Faktoren bestimmen und damit für solche Normsetzungsakte ein nach ihrem Regelungs­gehalt variierendes Legitimationsniveau festlegen, das de constitutione lata nicht unterschritten werden darf. Im Folgenden soll nun nach demselben Muster für eine weitere Kategorie von Normsetzungsakten das insofern durch Verfassungseinzelbestimmungen vorgegebene Legitimationsniveau konkretisiert werden, nämlich für die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts. Darunter sind in Hinblick auf den hier zugrundegelegten Begriff der Normsetzung407 zwei Typen von völkerrechtsvertraglichen Bestimmungen zu begreifen: Entweder handelt es sich um ins innerstaatliche Recht übernommene völkerrechtsvertrag­ liche Normsetzungsakte, die unmittelbar anwendbar sind408; oder aber es handelt sich um solche innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die zwar nicht unmittelbar anwendbar sind409, aber zum Erlass von Rechtsnormen verpflichten410. Die diesbezüglich geltenden Legitimationsanforderungen dürfen deshalb nicht außer Acht gelassen werden, weil im vorliegenden Fall das durch grundgesetzliche Einzelbestimmungen definierte Legitimationsniveau nicht nur der rein innerstaatlichen, sondern aller innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakte präzisiert werden muss. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich in einem weiteren Schritt die Anforderungen von Art. 20 Abs. 2 GG an das Legitimationsniveau von EG-Normsetzungsakten konkretisieren. Anforderungen an die demokratische Legitimation der innerstaatlich rezipierten Normensetzungsakte des Völkervertragsrechts lassen sich dabei namentlich Art. 59 GG entnehmen. Denn diese Grundgesetzbestimmung regelt die legitimationsvermittelnde Mitwirkung der Staatsorgane am grundgesetzkonformen Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge. Folglich normiert Art. 59 GG demokratische Anforderungen, die jedenfalls erfüllt sein müssen, damit völkerrechtsvertragliche Normen in die innerstaatliche Rechtsordnung ein­ 407

Siehe oben Einleitung III. 1. a) = S. 76. Dazu etwa v. Komorowski (Fn. 151), S. 141 f.; auch Streinz (Fn. 150), Rn. 66. 409 Siehe hierzu auch v. Komorowski (Fn. 151), S. 142 ff. 410 Hierzu Rojahn (Fn. 151), Rn. 35.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

gegliedert werden und zu Normsetzungsakten im hier gemeinten Sinn avancieren können. Eine andere Frage ist freilich, ob zur Bestimmung des Legitimationsniveaus, das bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz grundgesetzlich geboten ist, allein und ausschließlich auf die in Art. 59 GG geregelten Modalitäten des Vertragsabschlusses abzustellen ist. Diese Frage stellt sich vor allem deshalb, weil in der deutschen Rechtstradition bislang die dualistische Sichtweise411 des Verhältnisses von Völkerrecht zu innerstaatlichem Recht vorherrschte412 und damit zusammenhängend413 die Transformationstheorie domi­ nierte414. In dieser Perspektive wird in besonderem Maße zwischen dem verfassungsmäßigen Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags, wie Art. 59 GG ihn regelt, und der Eingliederung der Vertragsbestimmungen in die innerstaatliche Rechtsordnung differenziert415. So erfolgt die Transformation völkerrechtsvertraglicher Normsetzungsakte in das innerstaatliche Recht nicht zwingend schon gelegentlich des Vertragsschlusses416. Insofern wäre es prinzipiell denkbar, dass die vom grundgesetzkonformen Vertragsschluss mitunter zu trennenden Transformationsakte den innerstaatlich rezipierten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten eine von Art. 59 GG nicht erfasste, zusätzliche demokratische Legitimation vermitteln. Dementsprechend wird im Folgenden zunächst begründet, weshalb für die Bestimmung des Legitimationsniveaus, wie es bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts grundgesetzlich geboten ist, allein auf das in Art. 59 GG geregelte Prozedere abgestellt werden darf und weshalb nicht noch weitere Verfahrensschritte in den Blick genommen werden müssen. Danach kann im Detail auf das für diesen Normtyp grundgesetzlich gebotene Niveau demokratischer Legitimation eingegangen werden. Hierbei wird sich zeigen, dass dieses – wie das bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten417 – entscheidend davon abhängt, ob der völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakt dem absoluten oder aber dem relativen Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt beziehungsweise ob der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung greift oder nicht. Um Missverständnissen vorzubeugen, bleibt abschließend noch darauf hinzuweisen, dass Art.  59  GG zwar das Grundmodell für den grundgesetzkonformen Abschluss völkerrechtlicher Verträge darstellt und hieraus Rückschlüsse darauf 411

Klassisch Rudolf, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 146 ff. Dem entspricht auch die heute wohl noch herrschende Lehre – so auch die Einschätzung von Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 38. 413 Vgl. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, II Rn. 38 sowie Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 25 Rn. 5. 414 Prototypisch Stein / Frank (Fn. 36), § 5 I 1.  415 Vgl. Schweitzer (Fn. 412), Rn. 418. 416 Zum potenziellen Auseinanderfallen von Abschluss- und Transformationskompetenz siehe nur Brockmeyer (Fn. 9), Rn. 63. 417 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. i) = S. 779. 412

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gezogen werden können, welches Niveau demokratischer Legitimation das Grundgesetz typischerweise für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorschreibt. Indes kennen Verfassung und Verfassungswirklichkeit neben den in Art. 59 GG vorgesehenen noch weitere Typen von Vertragsschlussverfahren: Soweit die ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder berührt sind, kommt zum einen das in Art. 32 Abs. 3 GG vorgesehene Verfahren in Betracht418; zum anderen ist in dieser Konstellation mit Blick auf die Verfassungspraxis auch an die Art. 59 GG ergänzenden Vorgaben des Lindauer Abkommens419 zu denken420. Allerdings soll auf diese weiteren Verfahren im Folgenden nicht weiter eingegangen werden. Denn für die hier interessierende Frage nach dem grundgesetzlich vorgezeichneten Legitimationsniveau völkerrechtsvertraglich determinierter Normen erweisen sie sich als nur bedingt ergiebig. Soweit es um das in Art. 32 Abs. 3 GG normierte Verfahren geht, wird dieses erst durch landesverfassungsrechtliche Bestimmungen komplettiert421, sodass es sich schon unter diesem Gesichtspunkt als für die hier in Rede stehende Fragestellung relativ unergiebig erweist422. Die Vorgaben des Lindauer Abkommens beziehungsweise die darauf gestützte Praxis dürften ihrerseits zwar mit dem geltenden Verfassungsrecht übereinstimmen423. Doch ist insofern noch Etliches umstritten424, sodass eine hieran anknüpfende Rekonstruktion des grundgesetzlich geforderten Demokratieniveaus prekär erscheinen muss. Insofern erscheint es als gerechtfertigt, im Folgenden allein das in Art. 59 GG vorgesehene Vertragsschlussverfahren in den Blick zu nehmen.

a) Maßgeblichkeit des in Art. 59 GG normierten Verfahrens für das bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts gebotene Legitimationsniveau Dass zur Bestimmung des Legitimationsniveaus, das bei innerstaatlich rezipierten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten geboten ist, nicht allein das in Art. 59 GG geregelte Verfahren maßgeblich sein soll, muss deshalb zumindest in Betracht gezogen werden, weil, wie eben angesprochen425, das deutsche Verfas 418 Dazu etwa Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 32 Rn. 32 ff. 419 BullBReg 1957, S. 1966. 420 Schweitzer (Fn.  412), Rn.  128 ff.; Vogel (Fn.  398) Rn.  113; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 32 Rn. 35 ff. 421 Dazu etwa Randelzhofer, Incorporation of International Treaties into Municipal Law, in: Tunkin / Wolfrum (Hrsg.), International and Municipal Law, 1988, S. 101 (108). 422 Hinzu kommt, dass es auch in der Staatspraxis keine besonders große Rolle spielt (Randelz­hofer [Fn. 421], S. 104). 423 Eingehend hierzu Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007, S.  362 ff.; wie hier auch ­Streinz (Fn. 420), Rn. 39; anders freilich Rudolf (Fn. 411), S. 188. 424 Vgl. Schweitzer (Fn.  412), Rn.  128a ff.; eingehend dazu auch Fastenrath, Kompetenz­ verteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1986, S. 115 ff. 425 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. = S. 781.

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sungsrecht traditionell von der dualistischen Sichtweise sowie der damit verbundenen Transformationstheorie geprägt ist. Immerhin könnte das für innerstaatlich rezipierte völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte geltende Legitimationsniveau kumulativ durch einen von Art. 59 GG nicht erfassten Transformationsakt und die hierüber vermittelten demokratischen Legitimationsbeiträge geprägt sein. Die nähere Analyse ergibt jedoch, dass das demokratische Legitimationsniveau von innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz auch bei Zugrundelegung von strikt dualistischer Sichtweise und traditioneller Transformationstheorie allein mit Blick auf das in Art. 59 GG niedergelegte Prozedere zu bestimmen ist. Sofern völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte in Rede stehen, die den Gesetzgebungskompetenzen des Bundes unterfallen und im Übrigen innerstaatlich unmittelbar anwendbare Rechtsnormen enthalten, fallen der in Art.  59  GG verfassungsrechtlich geregelte Abschluss des völkerrechtlichen Vertrags und das innerstaatliche Wirksamwerden der völkerrechtsvertraglichen Normen regelmäßig uno actu zusammen. Da Rechtsnormen im hier zugrundegelegten Sinn ent­weder dem absoluten oder aber dem umfassenden relativen Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen426 und des Weiteren im Zweifel noch keine Verordnungsermächtigung zur exekutiven Umsetzung der völkerrechtsvertraglichen Rechtsnormen existiert, bedarf es zum verfassungsrechtlich wirksamen Abschluss des Vertrags gemäß Art. 59 Abs. 2 GG typischerweise eines vom Bundestag beschlossenen Vertragsgesetzes427. Dieses indes enthält nicht nur die Ermächtigung an die Exekutive, den Vertrag völkerrechtlich wirksam abzuschließen428. Es bewirkt darüber hinaus unstreitig die Einbeziehung der Vertragsnormen in die staatliche Rechtsordnung429, transformiert die völkerrechtsvertraglichen Rechtsnormen in solche der innerstaatlichen Ordnung430. In der hier zunächst skizzierten Konstellation ist folglich ohne Weiteres davon auszugehen, dass allein Art.  59  GG das in Hinblick auf innerstaatlich rezipierte Völkervertragsnormen gebotene Legitimationsniveau bestimmt. Als etwas komplizierter erweist sich die Situation, wenn die völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte entweder non-self-executing431 sind oder in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen432 oder aber als Vorschriften so ge 426 Anders als etwa Regelungen in Verwaltungsabkommen, die ausschließlich administrative Angelegenheiten betreffen (dazu Rojahn [Fn. 151], Rn. 54). 427 Siehe Jarass, in: ders. / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 59 Rn. 13 f. 428 Streinz (Fn. 150), 59. 429 Vgl. Rojahn (Fn. 151), Rn. 34. 430 Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 174 Rn. 584. 431 Vgl. etwa v. Komorowski (Fn. 151), S. 142 ff. 432 Dazu Rojahn (Fn. 418), Rn. 32 ff. Nach herrschender Auffassung ist Art. 59 Abs. 2 GG auch in diesen Fällen anwendbar, sofern der Bund den völkerrechtlichen Vertrag abschließt (siehe nur Brockmeyer [Fn. 9], Rn.  29; anderer Ansicht freilich Pernice, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 59 Rn. 34).

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nannter normativer Verwaltungsabkommen433 zu qualifizieren sind. Denn in diesen drei Konstellationen sollen der verfassungsmäßige Abschluss des völkerrecht­ lichen Vertrags einerseits und die Transformation der völkerrechtsvertraglichen Bestimmungen in innerstaatliches Recht andererseits einer lange Zeit herrschenden Auffassung zufolge durchweg auseinanderfallen. Es werden insofern für die Einbeziehung der Vertragsnormen in das innerstaatliche Recht spezielle Transformationsakte gefordert434. In diesen drei Fällen könnte nun, wie angedeutet, zweifelhaft sein, ob für das demokratische Legitimationsniveau von innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts allein das Vertragsschlussverfahren nach Art. 59 GG oder aber zusätzlich das Transformationspro­ zedere ausschlaggebend ist. Allerdings vermag diese traditionelle Auffassung in nur sehr beschränktem Umfang zu überzeugen. So ist schon fraglich, ob allein der Umstand, dass eine Norm nicht unmittelbar anwendbar ist, ihre Transformation durch das Vertragsgesetz im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG hindert. Richtigerweise ist nämlich zwischen der durch die Transformation bewirkten innerstaatlichen Verbindlichkeit einer völkerrechtlichen Vertragsbestimmung und ihrer unmittelbaren innerstaatlichen Anwendbarkeit zu unterscheiden435. Jene setzt diese nicht voraus. Schließlich kennt auch die innerstaatliche Rechtsordnung etliche Rechtsbestimmungen, die nicht unmittelbar im Staat-Bürger-Verhältnis anwendbar sind. Zu denken ist nur an die grundgesetzlichen Staatszielbestimmungen436. Demzufolge werden völkerrechtsvertragliche Normen auch dann durch Vertragsgesetz im Range eines ein­ fachen Bundesgesetzes437 in innerstaatliches Recht transformiert, wenn sie nicht un­mittelbar anwendbar sind438. Für die hier interessierenden völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte bedeutet dies, dass sie, auch ohne unmittelbar anwendbar zu sein, innerstaatlich in Wirksamkeit erwachsen können, nämlich als bundesgesetzliche Normsetzungsverpflichtung439. Ist dies der Fall, kann, da Vertragsgesetz und Transformation hierdurch zusammenfallen, ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass sich das Legitimationsniveau dieser völkerrechtsvertraglich begründeten Normsetzungsverpflichtung allein nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt.

433

Dazu Jarass (Fn. 427), Rn. 14 und 21.  Siehe nur Rudolf (Fn. 411), S. 171 ff. 435 Streinz (Fn. 150), Rn. 67. 436 Dazu  – bezogen auf die Staatszielbestimmung des Art.  20a  GG  – Murswiek (Fn.  83), Rn. 56 ff. Die Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes sind insofern von dessen grundrechtlichen Gesetzgebungsaufträgen zu unterscheiden, die ihrerseits subjektiv-rechtlich untersetzt sind (dazu Dreier, in: ders. [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rn. 67). 437 Rojahn (Fn. 150), Rn. 37. 438 v. Komorowski (Fn. 151), S. 147. 439 Siehe dazu etwa Kunig (Fn. 413), Rn. 41. Daneben kommt ihnen auch als Auslegungsbeziehungsweise Ermessensdirektive rechtliche Relevanz zu (vgl. v. Komorowski [Fn. 151], S. 147). 434

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Das von der traditionellen Auffassung behauptete Auseinanderklaffen von Vertragsschluss nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG und Transformation kann fernerhin auch nicht in Hinblick auf Verträge über die Landesgesetzgebung unterstellt werden440. Zwar steht außer Frage, dass die völkerrechtsvertraglichen Normen, die in den Bereich der Landesgesetzgebung fallen, erst dann im Staats-Bürger-Verhältnis anwendbar werden, wenn sie durch den Landesgesetzgeber in Landesrecht umgesetzt worden sind441. In innerstaatliches Recht werden die Vertragsnormen indes bereits durch das Vertragsgesetz transformiert442. Dass dieses lediglich die Länder und nicht auch deren Bürger bindet, steht einer Einordnung als innerstaat­ liches Recht nicht entgegen. Denn dass eine Normativbestimmung ausschließlich die Länder verpflichtet, ist, wie etwa der Seitenblick auf das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG lehrt443, der deutschen Verfassungsordnung nicht fremd. Für völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte bedeutet dies wiederum, dass sie auch dann, wenn der Bereich der Landesgesetzgebung betroffen ist, durch das Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG uno actu in eine innerstaat­ liche Normsetzungsverpflichtung transformiert werden. Folglich kann auch insofern ohne größeren argumentativen Aufwand davon ausgegangen werden, dass sich das Legitimationsniveau derartiger Normsetzungsverpflichtungen allein nach Art. 59 GG bestimmt. Mithin bedürfen völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte nach zutreffender Meinung lediglich dann eines zusätzlichen, besonderen Transformationsakts, um innerstaatliche Wirksamkeit zu erlangen, wenn die Bestimmungen einer normativen Verwaltungsvereinbarung rezipiert werden sollen. Denn insofern sieht das Grundgesetz im Rahmen des völkerrechtlichen Vertragsschlussverfahrens keinen Rechtsakt vor, der die Transformation der betreffenden Vorschrift in das nationale Recht bewirken könnte444. Jedenfalls in Hinblick auf diese Konstellation muss daher der Frage nachgegangen werden, ob das Legitimationsniveau innerstaatlich rezipierter völkerrechtsvertraglicher Normsetzungsakte durch von Art. 59 GG nicht erfasste Transformationsakte mitgeprägt wird. Freilich könnte das Transformationsverfahren für die demokratische Legitimation von innerstaatlich rezipierten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten nur dann maßgebend sein, wenn diese infolge der Transformation dem Volks­willen in anderer Weise zurechenbar wären, als dies vor dem Rezeptionsvorgang der Fall war. Denn demokratische Legitimation bedeutet nach dem hiesigen Verständnis 440

Dazu auch Zuleeg, Abschluß und Rechtwirkung völkerrechtlicher Verträge in der Bundesrepublik Deutschland, in: JA 1983, S. 1 (2). 441 Brockmeyer (Fn. 9), Rn. 20; auch Jarass (Fn. 325), Rn. 54. 442 Anders die wohl herrschende Meinung, vgl. nur Streinz (Fn. 420), Rn. 37 f. 443 BVerfGE 1, 208 (236). 444 Einen vergleichbaren staatlichen Akt setzen im Übrigen auch die dem Monismus verpflichteten Modelle der Adoption, Inkorporation oder Rezeption voraus (vgl. Rojahn [Fn. 413], Rn. 5).

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nichts anderes als Zurechenbarkeit zum Volkswillen445. Nun steht außer Frage, dass ein spezieller Transformationsakt auf einem anderen demokratischen Zurechnungszusammenhang beruht als der völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakt, den er in die innerstaatliche Rechtsordnung überführt. Dies ergibt sich schon aus der interpositio auctoritatis446, also dem Umstand, dass die Transformation auf einer eigens getroffenen Entscheidung beruht und diese Entscheidung legitima­ tionstheoretisch nicht mit der sie sachlich-inhaltlich determinierenden Direktive, im vorliegenden Fall also mit dem zu transformierenden völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt, identifiziert werden darf447. Hieraus lässt sich gleichwohl nicht der Schluss ziehen, dass sich das Legitimationsniveau völkerrechtsvertraglicher Normsetzungsakte infolge der besonderen Transformation ändert, das Legitimationsniveau des in dieser Weise rezipierten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakts ein anderes als vor der Rezeption ist. Dies könnte nämlich überhaupt nur dann anzunehmen sein, wenn der besondere Transformationsakt mit dem innerstaatlich rezipierten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt identisch wäre. Davon kann aber gerade nicht ausgegangen werden. Vielmehr handelt es sich bei dem völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt um einen integralen Teilgehalt der die Transformation bewirkenden Rechtsnorm: Der innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakt ist der ihn transformierenden Rechtsnorm zwar untrennbar einverleibt, mit dieser aber trotzdem nur teilkongruent. Als bloßer Teilgehalt der Transformationsnorm freilich beruht der völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakt vor und nach seiner innerstaatlichen Rezeption auf exakt demselben, nämlich durch Art. 59 GG beschriebenen, Zurechnungszusammenhang. Soweit es bei bestimmten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten besonderer Transformationsakte bedarf, um ihnen innerstaatliche Wirksamkeit zu verleihen, bedeutet dies also nicht, dass ihnen nach der innerstaatlichen Rezeption ein anderes Niveau demokratischer Legitimation eignete als zuvor. Für sie gilt in Ansehung des realisierten Legitimationsniveaus dasselbe wie für diejenigen völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte, die  – uno actu  – durch das für den grundgesetzlich wirksamen Vertragsabschluss überwiegend erforderliche, doppelfunktionale448 Vertragsgesetz transformiert werden. Für das Legitimationsniveau, 445

Siehe oben Kapitel 6 = S. 249. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 203 (225); siehe dazu auch schon oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 447 So ist im vorliegenden Fall etwa zu berücksichtigen, dass der völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakt niemals abschließend das Wie und Wann der speziellen Transformation bestimmen können wird. Allein schon deswegen kann auch bei wertender Betrachtung nicht davon ausgegangen werden, dass der völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakt und der seine innerstaatliche Rezeption bewirkende besondere Transformationsakt auf demselben Zurechnungszusammenhang beruhen. 448 Randelzhofer (Fn. 421), S. 110 und Jarass (Fn. 427), Rn. 16 f. 446

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

das das Grundgesetz für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht, ist somit allein das in Art. 59 GG geregelte Vertragsschlussverfahren maßgeblich.

b) Das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation Innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts brauchen dem Grundgesetz zufolge nicht Ausfluss exklusiver demokratischer Dezisionsmacht zu sein. Denn aus Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG erschließt sich, dass sie klassischerweise auf einem Vertragsschluss zwischen zwei oder mehreren Staatsverbänden449 beruhen, von denen jeder Erlass und Inhalt der Vertragsnorm gleichmäßig mitbestimmt. Zwar ist es mit Blick auf die in Art.  20 Abs.  2  GG verankerten polyvalent-variablen Strukturbegriffe von Volkssouveränität und Volk im demokratischen Sinn nicht von vornherein ausgeschlossen, dass auch ein von mehreren Staatsverbänden herrührender Hoheitsakt in exklusiver dezisionärer Legitimation erwächst. Notwendige, wenn auch keineswegs hinreichende Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass die mit dem deutschen Staatsverband durch völkerrechtlichen Vertrag kooperierenden auswärtigen Staaten ihrerseits demokratisch verfasst sind450. Ein diesbezüglicher Vorbehalt lässt sich Art. 59 GG aber nicht entnehmen. Folglich schreibt das Grundgesetz für innerstaatlich rezipierte Norm­ setzungsakte des Völkervertragsrechts lediglich eine partizipative dezisionäre Legitimation vor451. Auch in revisionärer Hinsicht verlangt das Grundgesetz bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts keine exklusiv-perpetuelle Legitimation, sondern lässt eine partizipativ-okkasionelle genügen452. Denn nach noch näher zu begründender Auffassung kommt dem deutschen Staatsverbandsvolk keine alleinige und jederzeitige Revisionsmacht hinsichtlich der innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts zu. Vielmehr kann es nur im Zusammenwirken mit den anderen Vertragspartnern über sie verfügen. Wenn nun aber das Grundgesetz Vertragsschlüsse auch mit undemokratisch verfassten Staaten zulässt, so ist von vornherein auszuschließen, dass das Grund­ gesetz für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Volksvertragsrechts eine exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation vorschreibt. Denn wiewohl eine auf mehrere demoi zurückführende exklusiv-perpetuelle Revisionsmacht nicht schon 449 Der in Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG verwandte Begriff der „Verträge mit auswärtigen Staaten“ ist freilich nur als besonders typischer pars pro toto zu begreifen: Auch die mit einem beliebigen anderen Völkerrechtssubjekt geschlossenen völkerrechtlichen Verträge unterfallen zu­ treffender Ansicht nach dem Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG. Ebenso Pernice (Fn. 432), Rn. 23. 450 Siehe oben Kapitel 10 II. 1. a) bb) = S. 700. 451 Zu dieser Art der Legitimation Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397. 452 Zu dieser Form der Legitimation ebd.

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prinzipiell ausgeschlossen ist, so setzt eine solche doch notwendig voraus, dass die revisionsmächtigen Volksverbände durchweg demokratisch verfasst sind. Allerdings steht und fällt die These, dass das Grundgesetz in revisionärer Hinsicht eine lediglich partizipativ-okkasionelle Legitimation innerstaatlich rezipierter Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts genügen lässt, mit der Annahme, dass der deutsche Staatsvolksverband nicht befugt ist, diese allein nach eigenem Gusto zu revidieren. Gegen diese Basisannahme könnte sprechen, dass der deutsche Staatsvolksverband die innerstaatliche Wirkung dieser völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte zu beseitigen vermag, indem er den Transformationsakt, also das Vertrags­ gesetz beziehungsweise im Fall so genannter normativer Verwaltungsabkommen die betreffende Rechtsverordnung, durch einen gleichrangigen Aufhebungsakt, das heißt durch ein Aufhebungsgesetz oder eine Aufhebungsverordnung, außer Kraft setzt453. Schließlich kommt nach unter dem Grundgesetz herrschender und zu­ treffender Meinung völkerrechtlichen Verträgen innerstaatlich kein höherer Rang zu als ihren Rezeptionsakten454. Zu bedenken ist jedoch, dass der seinerzeit innerstaatlich rezipierte Norm­ setzungsakt des Völkervertragsrechts auch nach Erlass eines entsprechenden staatlichen Aufhebungsakts noch längst nicht aus der Welt geschafft ist. Er gilt völkerrechtlich selbstverständlich fort455. Wegen der völkerrechtsfreundlichen Haltung des Grundgesetzes456 kann dies nicht einfach ignoriert werden, wenn es darum geht, das bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts verfassungseinzelrechtlich gebotene Niveau demokratischer Legitimation zu bestimmen. Daher wird man richtiger Weise davon ausgehen müssen, dass sich die – endgültige – Ablösbarkeit von innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts immer auch nach den Vorgaben des Völkerrechts richten muss und das heißt in aller Regel nach dem gemeinsamen Willen der Vertragsstaaten457. Infolgedessen ist daran festzuhalten, dass das Grundgesetz und speziell Art. 59 GG bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts in revisionärer Hinsicht eine partizipativ-okkasionelle Legitimation ge­nügen lässt. Nach allem erlaubt Art. 59 GG den Schluss, dass das Grundgesetz in Hinblick auf innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts ein deutlich abgesenktes Niveau demokratischer Legitimation zulässt. Denn danach darf 453

Vgl. dazu auch Rath (Fn. 393), S. 118. Jarass (Fn. 427), Rn. 19. 455 Dazu nur Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 5. Kapitel / Rn. 34 ff. 456 Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 24 Rn. 2 ff. 457 Zur Beendigung eines völkerrechtlichen Vertrags oder zum Rücktritt einer Vertrags­partei hiervon aufgrund einer einvernehmlichen, gegebenenfalls auch formlosen Vereinbarung vgl. Heintschel von Heinegg, Die völkerrechtlichen Verträge als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 15 Rn. 71. 454

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das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation in erheblichem Maße beschränkt werden. Dass nach Maßgabe von Art.  59 Abs.  2 Satz  1 und 2  GG mitunter auch der Bundes­rat und über ihn die Landesvölker am Vertragsschlussverfahren beteiligt werden458, führt hingegen zu keiner zusätzlichen Beschränkung der exklusiv-perpetuellen demokratischen Legitimation innerstaatlich rezipierter Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts. Denn wirken das Bundesstaatsvolk und die im Rahmen des Bundesrats miteinander kooperierenden Landesstaatsvölker hoheitlich zusammen, so bleibt die Exklusivität demokratischer Legitimation gewahrt459. Die zusätzliche Rückkoppelung von Hoheitsakten des Staatsvolksverbands an die Gesamtheit der Landesstaatsvölker als dezentriertem demos berührt nur ihren Grad demokratischer Abgeleitetheit, nicht aber das Ausmaß der Exklusivität und Per­ petualität demokratischer Legitimation460.

c) Grad demokratischer Abgeleitetheit Dass das Grundgesetz in Hinblick auf innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts ein sichtlich abgesenktes Niveau demokratischer Legitimation genügen lässt, bestätigt sich auch in Ansehung des Grads demokratischer Abgeleitetheit. Dabei soll wiederum zwischen solchen innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten differenziert werden, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Außerdem werden im jeweils ersten Zugriff erneut die legitimatorischen Besonderheiten ausgeblendet bleiben, die sich ergeben, wenn der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung greift.

aa) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, nicht aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts jenseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts prägt, lässt sich nicht einheitlich bestimmen. Vielmehr spielt es auch insofern eine entscheidende Rolle, ob die betreffenden Normsetzungsakte vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden461. Denn soweit dies nicht der Fall ist, lassen die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen ein nied 458

Dazu etwa Randelzhofer (Fn. 421), S. 106. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. a) = S. 729. 460 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) = S. 730. 461 Zu diesem oben Kapitel 10 III. 1. f) = S. 766.

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rigeres Niveau personeller und materieller Legitimation, mithin also einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit genügen.

(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Im Folgenden ist zu Beginn jeweils zu klären, welche Organe den Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten völkerrechtlichen Vertrags der Sache nach und nicht nur formell beherrschen. Daran anknüpfend lässt sich dann im Weiteren das für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts in dezisionärer Hinsicht kennzeichnende Maß personeller beziehungsweise materieller demokratischer Legitimation rekonstruieren.

(2) Die an die Dezisionsbefugnis der Exekutive anschließende personelle Legitimation Um die Dezisionsbefugnisse der Exekutive beim Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten völkerrechtlichen Vertrags zu bestimmen, ist Art. 59 Abs.  1 Satz  1 und 2  GG in den Blick zu nehmen. Danach vertritt der Bundes­ präsident den Bund völkerrechtlich und schließt im Namen des Bundes auch die Verträge mit auswärtigen Staaten ab462. Diese Befugnis zu umfassender völkerrechtlicher Vertretung des Bundes ist eine ausschließliche463. Insbesondere lässt Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG nicht den Schluss zu, die Bundesregierung beziehungsweise einzelne Bundesminister seien zumindest in Hinblick auf Verwaltungs­ abkommen originär zur völkerrechtlichen Vertretung des Bundes befugt464. Denn Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG bezieht sich nach Wortlaut und Systematik auf alle Typen völkerrechtlicher Verträge465; und Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG nimmt die um­fassende und ausschließliche völkerrechtliche Vertretungsbefugnis des Bundespräsidenten mit keiner Silbe zurück466. Allerdings ist der Bundespräsident nur formell Träger der auswärtigen Gewalt467. Dies ergibt sich schon unter dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der Gegenzeichnungspflicht nach Art.  58  GG468. Denn erstens bedürfen danach 462

Schweitzer (Fn. 412), Rn. 135. Jarass (Fn. 427), Rn. 2; Rojahn (Fn. 151), Rn. 6. 464 In diesem Sinn allerdings Stern (Fn. 281), S. 226 465 So auch Streinz (Fn. 150), Rn. 8. 466 Im Ergebnis gleich Streinz (Fn. 150), Art. 59 Rn. 10. 467 Vgl. Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 61 Rn. 43, Bernhardt (Fn. 430), Rn. 7 f. und Zuleeg (Fn. 440), S. 3. Zum Begriff der auswärtigen Gewalt nur Schöneweiß (Fn. 365), S. 85 ff. 468 Siehe etwa Kunig (Fn. 413), Rn. 74. 463

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alle völkerrechtserheblichen Erklärungen des Bundespräsidenten und insbesondere alle seine den Vertragsschluss betreffenden rechtsrelevanten Handlungen der Kontrasignatur469; durch diese übernimmt der Bundeskanzler oder / und der zu­ ständige (Außen-)Minister470 die politische Verantwortung für die Amtshandlung des Bundespräsidenten471. Zweitens steht dem Bundespräsidenten kein politisches Ermessen zu, wenn ihm die Bundesregierung oder der zuständige Bundesminister gegengezeichnete Vorlagen völkerrechtlicher Erklärungen unterbreiten472; er kann deren Vollzug allenfalls aus Rechtsgründen verweigern473. Bereits vor diesem Hintergrund erhellt, dass für die Außenpolitik und insbesondere auch für die Aushandlung sowie den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, materiell betrachtet, nicht der Bundespräsident zuständig ist, sondern  – gegebenenfalls unter Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften und im Übrigen nach Maßgabe von Art.  65  – Bundeskanzler, Ressortminister und Bundesregierung als Ganzes474. Für die Beschränkung des Bundespräsidenten auf die bloße formelle Staatsrepräsentation spricht außerdem die keineswegs auf Inlandsangelegenheiten beschränkte475 Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers476. Diese gilt zwar nur gegenüber Bundesministern477; sie drohte jedoch leerzulaufen, wenn der Bundespräsident eine eigene Außenpolitik betreiben könnte478. Im Übrigen lässt das Grundgesetz auch in Art. 32 Abs. 3 GG erkennen, dass die materielle auswärtige Gewalt, soweit sie von der Exekutive auszuüben ist, der Bundesregierung vorbehalten ist479. Die Staatspraxis der Bundesrepublik Deutschland hat nun ihrerseits in durchaus nachvollziehbarer Weise auf die politische Diskrepanz reagiert, die sich unweigerlich auftut, wenn die völkerrechtliche Vertretungsbefugnis umfassend und exklusiv beim Bundespräsidenten, die damit korrelierende materielle Kompetenz hingegen bei der Bundesregierung beziehungsweise einzelnen seiner Mitglieder verortet ist. In der Rechtswirklichkeit zeigt sich nämlich, dass trotz umfassender und exklusiver Zuweisung der völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis an den Bun 469

Fastenrath (Fn. 424), S. 199 ff. Ob Bundeskanzler oder Bundesminister gegenzeichnet, hängt davon ab, ob es sich um eine Richtlinien- oder aber eine Ressortangelegenheit handelt (Nierhaus, in: in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 58 Rn. 23). 471 Hesse (Fn.  72), Rn.  665; Hemmrich, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 58 Rn. 2. 472 Streinz (Fn. 150), Rn. 6; Fastenrath (Fn. 424), S. 201. 473 Hesse (Fn. 72), Rn. 667. 474 Rojahn (Fn. 151), Rn. 11. 475 Siehe dazu nur Calliess, Auswärtige Gewalt, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, § 83 Rn. 21. 476 Siehe Stern (Fn. 281), S. 224. 477 So zutreffend Pieroth (Fn. 17), Rn. 3. 478 Ebenso Zuleeg (Fn. 440), S. 3. 479 Vgl. etwa Streinz (Fn. 150), Rn. 9. Die Zustimmung der Bundesregierung nach Art. 32 Abs. 3 GG ist als präventive Bundesaufsicht bezeichnet worden (vgl. Zuleeg [Fn. 440], S. 5). 470

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despräsidenten völkerrechtsrelevante Erklärungen in den allermeisten Fällen von der Bundesregierung vorgenommen werden480. Rechtfertigen lässt sich diese Praxis damit, dass die grundgesetzliche Monopolisierung der völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis beim Bundespräsidenten nicht bedeutet, dass dieser auch jede völkerrechtliche Erklärung in personam abgeben müsste481. Vielmehr kann der Bundespräsident der Bundesregierung ausdrücklich, aber auch stillschweigend482 entsprechende Einzel- oder Generalvollmachten erteilen483. Besondere Bedeutung kommt dabei § 11 GeschOBReg zu. Zwar ist es in der Tat zu konstruiert, in die gemäß Art. 65 Satz 4 GG erfolgte Genehmigung dieser Vorschrift durch den Bundespräsidenten eine ausdrückliche generelle Ermächtigung zur formellen Staatsrepräsentation durch die Bundesregierung hineininterpretieren zu wollen484. Doch dass der Bundespräsident § 11 GeschOBReg genehmigt und ihn bei späteren Änderungen der GeschOBReg unbeanstandet gelassen hat, ist als unwiderlegtes Indiz dafür zu werten, dass er selbst davon ausgeht, Bundesregierung und Bundesminister in dem Umfang stillschweigend zur völkerrechtlichen Vertretung der Bundesrepublik ermächtigt zu haben, wie dies der gegenwärtigen Staatspraxis entspricht485. Dies braucht hier jedoch nicht weiter vertieft zu werden. Denn entscheidend dafür, welches Maß personeller demokratischer Legitimation innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts in dezisionärer Hinsicht aufweisen, ist nicht, welches Organ in Hinblick auf die Ausmarchung und den Abschluss des Vertrags als formell völkerrechtlich vertretungsbefugt angesehen werden kann. Entscheidend ist vielmehr, welche Organe die Aushandlung und den Abschluss des Vertrags der Sache nach, also materiell, determinieren. Insofern freilich ist dargelegt worden, dass die Vertragsgewalt des Bundespräsidenten eine rein formelle und die materielle auswärtige Gewalt infolgedessen der Regierung – fallweise gemeinsam mit den gesetzgebenden Körperschaften – zukommt486. Im Übrigen behaupten auch diejenigen487 keine präsidiale Kompetenz zur materiellen 480 So ist etwa für den hier besonders interessierenden Bereich der völkerrechtlichen Verträge Folgendes zu konstatieren: Der Bundespräsident gibt insofern überhaupt nur dann persönlich völkerrechtsrelevante Erklärungen ab, wenn es um die Aushandlung beziehungsweise den Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen im Sinne von Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG geht. Aber selbst bei diesen Verträgen nimmt der Bundespräsident nur in geringem Umfang noch völkerrechtsrelevante Handlungen vor. Er beschränkt sich nämlich darauf, erstens das Verhandlungsmandat zu erteilen, zweitens die Unterzeichnungsvollmacht auszufertigen und drittens die eventuell erforderliche Ratifikation vorzunehmen. Alle sonstigen völkerrechtsrelevanten Erklärungen, die im Zuge der Aushandlung und des Abschlusses eines völkerrechtlichen Vertrages erforderlich sind, werden von der Bundesregierung vorgenommen. 481 So auch Rojahn (Fn. 151), Art. 59 Rn. 7. 482 Randelzhofer (Fn. 421), S. 107. 483 Dagegen Schweitzer (Fn. 412), Rn. 139 f. und Fastenrath (Fn. 424), S. 208. 484 Kritisch auch Streinz (Fn. 150), Rn. 11. 485 Skeptisch Hartwig, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar, Bd. 2, 2002, Art. 59 Abs. Rn. 24. 486 Dazu auch noch einmal Fastenrath (Fn. 424), S. 199 ff. 487 Vgl. etwa Calliess (Fn. 475), Rn. 19 und 17. 

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Staatsrepräsentation, die es als verfassungswidrige Staatspraxis kritisieren, dass die Bundesrepublik im gegenwärtigen Völkerrechtsverkehr umstandslos von Mitgliedern der Bundesregierung statt vom Bundespräsidenten vertreten wird488. Dass die materielle Entscheidung über das Ob und Wie eines völkerrechtlichen Vertragsschlusses in der geschilderten Weise und dem dargelegten Umfang auf die Regierung zurückführt, muss nun freilich noch präzisiert werden. Zu eruieren sind die regierungsinternen Organzuständigkeiten. Andernfalls nämlich lässt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht konzise bestimmen, der den an die Dezisionsmacht der Regierungsexekutive anknüpfenden personellen Legitimationsbeitrag kennzeichnet. Zu beachten ist insofern zunächst, dass die auswärtigen Angelegenheiten  – nicht anders als andere Politikbereiche – grundsätzlich dem Ressortprinzip unter­ liegen489. Vorbereitung und Durchführung von Vertragsverhandlungen sind daher typischerweise Angelegenheit eines oder mehrerer Minister, in der Regel die des Außenministers490. Soweit der Minister im Zuge der Vertragsverhandlungen Ent 488

Zu dieser Staatspraxis Hartwig (Fn. 485), Rn. 22. Vgl. dazu im Einzelnen Fastenrath (Fn. 424), S. 216. 490 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die auswärtigen Angelegenheiten  – womöglich häufiger als andere Politiken  – politische Grundsatzfragen berühren. Für die Vorbereitung und Durchführung von Vertragsverhandlungen hat dies zum einen zur Kon­ sequenz, dass der verhandlungsführende Minister selbstverständlich den Rahmen wahren muss, den der Bundeskanzler kraft seiner Richtlinienkompetenz gerade in auswärtigen Angelegenheiten häufig setzen wird. Dies freilich ändert nichts daran, dass dem völkerrechtlichen Vertrag im Rahmen der Vertragsverhandlungen personelle Legitimation nur über den Minister zuwächst. Die Richtlinie des Kanzlers trägt demgegenüber ausschließlich zur materiell-direk­ tiven Legitimation des völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakts bei. Von Relevanz für das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller demokra­tischer Legitimation ist hingegen, dass sich der Kanzler kraft seiner Richtlinienkompetenz ausnahmsweise auch selbst unmittelbar in die Vertragsverhandlungen einschaltet und dies von Verfassung wegen auch darf. Dies bedarf freilich der näheren Begründung. Denn der Kanzler ist zwar ohne Weiteres befugt, in Angelegenheiten von großer politischer Tragweite den zuständigen Ressortminister an seine Vorgaben zu binden. Doch ist es ihm grundsätzlich verwehrt, im Wege des Selbsteintritts diese Vorgabe selbst zu vollziehen. Die Umsetzung der Richtlinienentscheidung nach außen bleibt nach der durch Art. 65 GG etablierten regierungsinternen Kompetenzordnung grundsätzlich dem Ressortminister vorbehalten. Für den Bereich der Aushandlung völkerrechtlicher Verträge muss diese an sich zutreffende Sichtweise freilich modifiziert werden. Denn hier müssen Richtlinienentscheidung mitunter spontan im Lauf der Verhandlungen getroffen werden. Anders als dort, wo es – wie typischerweise im innerstaatlichen Bereich – um den Erlass von Hoheitsakten geht, lässt sich daher bei den Vertragsverhandlungen mit auswärtigen Staaten nicht säuberlich zwischen dem vorgängigen Erlass von Richtlinien und deren nachträglichem Vollzug differenzieren. Der Bundeskanzler besitzt mithin von Grundgesetzes wegen die materielle Befugnis, im Rahmen von Vertragsverhandlungen Entscheidungen über Abschluss und Inhalt völkerrechtlicher Verträge zu treffen, wenn und soweit andernfalls seine in Art. 65 Satz 1 GG verankerte Richtlinienkompetenz inoperabel würde. Insoweit trifft sich denn auch die grundgesetzliche mit der völkerrechtlichen Rechtslage, die von einem originären Vertretungsrecht des Regierungschefs ausgeht. Soweit nun der Bundeskanzler neben oder anstelle des Ressortministers über Abschluss und Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrags ent 489

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scheidungen über das Ob und Wie des Vertragsschlusses trifft, wächst dem völkerrechtlichen Vertrag folglich eine dreifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zu. Besonderheiten in Hinblick auf die personelle demokratische Legitimation ergeben sich dann, wenn die völkerrechtlichen Verträge aus grundgesetzlicher Sicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Dann nämlich tritt neben das Ressort- in aller Regel das Kabinettsprinzip491. Folglich werden innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts in diesen Konstellationen in dezisionärer Hinsicht auch durch eine von der Bundesregierung herrührende personelle demokratische Legitimation geprägt, die ihrerseits überwiegend drei-, teilweise aber auch zweifach vermittelt ist. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Völkerrechtliche Verträge sind dann unter den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung zu subsumieren, wenn sie Regelungen enthalten, die innerstaatlich nur durch Parlamentsgesetz in Geltung gesetzt werden können. Es handelt sich mithin um solche Verträge, die sich im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen. Solche Verträge indes bedürfen vor ihrer völkerrechtlichen Ingeltungsetzung gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG „der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes“. Das insofern erforderliche Zustimmungsgesetz wiederum wird typischerweise von Regierungsseite in den Bundestag eingebracht492. Ursächlich hierfür ist freilich nicht, dass in Abweichung von Art. 76 Abs. 1 GG Gesetzesvorlagen, die auf den Erlass eines Vertragsgesetzes abzielen, überhaupt nur von der Regierung eingebracht werden könnten493. Hierfür mag zwar die von der traditionellen Staatsrechtslehre494 aufgestellte grundgesetzdogmatische Hypo­ these sprechen, wonach die auswärtige Gewalt prinzipiell der Exekutive zu­ kommen soll495. Allerdings lässt sich ein solches rechtliches Initiativmonopol der scheidet, wächst dem völkerrechtlichen Vertrag eine zweifach vermittelte demokratische Legitimation zu. Allerdings handelt es sich dabei – nicht nur nach der Verfassungsrechtslage, sondern auch nach der Staatspraxis  – um eine Ausnahme. Insofern erscheint es als zutreffend, wenn im Folgenden für die Bestimmung des demokratischen Legitimationsniveaus davon ausgegangen wird, dass Vorbereitung und Durchführung von Vertragsverhandlungen typischerweise von den zuständigen Ressortministern verantwortet werden. 491 Dazu im Einzelnen Oldiges (Fn. 211), S. 306 ff. 492 Verfassungsrechtlich zwingend ist dies freilich nicht Streinz (Fn. 150), Rn. 55. 493 So aber offensichtlich BVerfGE 90, 286 (358). 494 Zu dieser Tradition vgl. auch – im Ergebnis kritisch – Schöneweiß (Fn. 365), S. 93 ff. 495 In diesem Sinne etwa BVerfGE 68, 1 (87): „Die grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive beruht auf der Annahme, daß institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen.“ Zu dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung Wolfrum, Auswärtige Beziehungen und Verteidigungspolitik, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 693 (697).

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Regierung am Verfassungstext nicht verifizieren496. Denn das Grundgesetz geht in Hinblick auf völkerrechtliche Verträge im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ja gerade von einer Mitentscheidungsmacht der Legislative aus, sodass eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 76 Abs. 1 GG grundgesetzsystematisch nicht indiziert ist497. Doch auch wenn von Grundgesetzes wegen an sich auch die anderen nach Art. 76 Abs. 1 GG Initiativberechtigten befugt sind, Vorlagen zu Vertragsgesetzen im Bundestag einzubringen498, so stammen diese doch ganz überwiegend von der Regierung her. Denn den völkerrechtlichen Vertrag, auf den sich die Vorlage zum Vertragsgesetz bezieht, hat zumeist die Regierung ausgehandelt und jener kann folglich in der Regel auch nur von dieser beigebracht werden499. In Hinblick auf die Einbringung von Vertragsgesetzen im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG besteht mit anderen Worten kein rechtliches, wohl aber ein weitgehendes faktisches Initiativmonopol der Bundesregierung. Hieraus erhellt denn auch, weshalb und inwieweit bei Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, das Ressort- durch das Kabinettsprinzip ergänzt wird: Ein solcher Vertrag wird zwar vom Ressortminister ausgehandelt; er darf aber erst völkerrechtlich in Geltung gesetzt werden, wenn zuvor ein parlamentarisches Kontrollverfahren erfolgreich durchlaufen worden ist. Dieses einzuleiten setzt zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch im Normalfall einen Kabinettsbeschluss voraus. Denn das insoweit relevante Initiativrecht nach Art. 76 Abs. 1 GG steht der gesamten Regierung zu500. Vor diesem Hintergrund lässt sich nunmehr abschließend das Niveau personeller demokratischer Legitimation bestimmen, das die dem absoluten Vor­behalt parlamentarischer Normierung unterfallenden Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts insoweit aufweisen, als sie aufgrund der Dezisionsbefugnisse von Exekutivorganen an den demokratischen Volkswillen rückgebunden sind. Zu berücksichtigen ist insofern zunächst, was im vorhergehenden Satz schon an­geklungen ist. Gemeint ist, dass die exekutive Dezisionsmacht nicht von einem einzigen (Kollegial-)Organ, sondern von einer Mehrheit von Organen ausgeübt wird. Die Entscheidung über den Abschluss des vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakts wird nämlich zum einen Teil nach dem Ressortprinzip von dem zuständigen Bundesminister getroffen501, zum anderen 496

Dies räumt auch Streinz (Fn. 150), Rn. 55 ein. Ebenso Pieroth (Fn.  17), Rn.  15 sowie Fastenrath / Groh, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: September 2007, Art. 59 Rn. 85. 498 So auch Wolfrum (Fn. 495), S. 702. 499 Abweichendes gilt insbesondere für die Fälle, in denen die Bundesrepublik Deutschland einem bereits bestehenden und bekannten multilateralen Abkommen beitreten soll. 500 Lücke / Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 76 Rn. 8. 501 Dass das Ressortprinzip in Ausnahmefällen durch das Kanzlerprinzip überlagert wird und dies nicht nur für die materiell-direktive Legitimation, sondern auch für die hier interessierende 497

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Teil nach dem Kabinettsprinzip von der Bundesregierung. Prima vista mag diese Sichtweise vor allem dann erstaunen, wenn man sich die rein innerstaatlichen Regierungsverordnungen in Erinnerung ruft. Hier ist die Dezisionsmacht allein dem (Kollegial-)Organ Bundesregierung zugeschrieben worden, obwohl auch in diesem Fall die Vorbereitung der Regierungsverordnung Ressortangelegenheit ist. Bei genauerer Betrachtung offenbaren sich freilich wesentliche Unterschiede. Unterbreitet der Ressortminister dem Kabinett den Vorschlag für eine Regierungsverordnung, so ist dieses nach der hier vertretenen Auffassung in keiner Weise an den Verordnungsentwurf gebunden, sondern kann frei über Ob und Wie des Verordnungserlasses beschließen502. Insbesondere ist das Kabinett in Hinblick auf den ministeriellen Verordnungsentwurf nicht auf die in Art. 65 Satz 3 GG angelegte Streitentscheidungskompetenz503 beschränkt, weil ihr nach dem spezielleren Art.  80 Abs.  1 1. Variante  GG rechtlich die alleinige Dezisionsmacht zukommt504. Anders verhält es sich, wenn der Ressort­ minister dem Kabinett einen fertig ausgehandelten Vertrag präsentiert und dieses nunmehr darüber zu entscheiden hat, ob ein diesbezügliches Vertragsgesetz dem Bundestag vorgeschlagen werden soll. Hier hat der Ressortminister bereits eine wesentliche Vorentscheidung getroffen, indem er sich mit seinem ausländischen Gegenüber auf einen ganz bestimmten Vertragstext geeinigt hat. Das Kabinett kann diesen lediglich sanktionieren oder verwerfen, aber keine inhaltlichen Änderungen daran vornehmen505. Anders als wenn er eine Rechtsverordnung zur Verabschiedung durch die Bundesregierung vorbereitet, kommt dem Minister somit eine veritable (Ko-)Dezisionsmacht zu, während sich die (Ko-)Dezisionsmacht der Bundesregierung auf eine bloße Vetoposition verkürzt. Für die personelle demokratische Legitimation, die den vom absoluten Vor­ behalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts insoweit zuwächst, als sie aufgrund der Dezisionsbefugnisse von Exekutivorganen an den demokratischen Volkswillen rückgebunden sind, bedeutet dies Folgendes: Sie ist überwiegend auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt; nur zu einem geringeren Teil ist sie teils zwei-, teils dreifach vermittelt, wobei freilich auch hier die dreifach vermittelte personelle Legitimation einen größeren Raum einnimmt als die zweifach vermittelte. In diesem spezifischen Sinne ist es denn auch zu verstehen, wenn im Folgenden davon die Rede ist, dass innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts im demokratisch günstigsten Fall, nämlich dann, wenn die Vertragsverhandlungen auf personelle Legitimation von Belang sein kann, sei an dieser Stelle unter Hinweis auf Fn. 490 nochmals erwähnt, aber nicht weiter vertieft. 502 In diese Richtung auch Oldiges (Fn.  211), S.  184; siehe auch Detterbeck (Fn.  211), Rn. 53. 503 Pieroth (Fn. 205), Rn. 6. 504 Siehe dazu etwa Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2. Aufl. 2006, Art.  65 Rn. 33. 505 Überzeugend Oldiges (Fn. 211), S. 338.

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Ministerebene und nicht durch von ihnen (unter-)bevollmächtigte Diplomaten506 wahrgenommen werden, im Rahmen exekutiver Dezisionsmacht eine ganz überwiegend dreifach und nur zu einem ungleich geringeren Teil zweifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zuwächst.

(3) Die an die Dezisionsbefugnis des Bundestags anschließende personelle Legitimation Innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, wächst personelle demokratische Legitimation in dezisionärer Hinsicht nicht nur – mehrfach vermittelt – von der Regierungsexekutive her zu. Aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erschließt sich vielmehr, dass solche Normsetzungsakte nur nach Zustimmung des Bundestags erlassen werden können und die in dezisionärer Hinsicht verfangende personelle demokratische Legitimation infolgedessen partiell auch auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist: Art.  59 Abs. 2 Satz  1 GG zufolge bedürfen völkerrechtliche Verträge, die Gegenstände der Bundesgesetz­gebung betreffen, der Zustimmung beziehungsweise der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Legislativorgane. Völkerrechtliche Verträge, die sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, sind dabei solche, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen507. Folglich läuft die in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG niedergelegte verfahrensrechtliche Maßgabe für völkerrechtliche Verträge, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Nor­ mierung unterfallen, der Sache nach auf einen Vorbehalt parlamentsgesetzlicher Zustimmung hinaus508. Dass demnach innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die ihrem Regelungsgegenstand nach dem Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung zuzuordnen sind, ausweislich Art. 59 Abs. 2 Satz  1  GG immerhin partiell auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit personell demokratisch legitimiert sein müssen, darf nun freilich über einen wesentlichen Umstand nicht hinwegtäuschen. Die insofern in dezisionärer Hinsicht vom Bundestag vermittelte personelle Legitimation fällt im Vergleich zu der von der Regierungsexekutive vermittelten vergleichsweise bescheiden aus509. Schließlich wird der konkrete Inhalt einer völkerrechtsvertraglichen Regelung von der Exekutive in Verhandlungen mit den Vertretern ausländischer Regierungen beschlossen. Das Parlament kann die Verhandlungsergebnisse typischerweise nur 506 Zur Verhandlungs- und Abschlussbefugnis diplomatischer Vertreter eines Staates im völkerrrechtlichen Verkehr Heintschel von Heinegg (Fn. 457), § 15 Rn. 1 ff. 507 Siehe nur Fastenrath (Fn. 424), S. 219 ff. sowie Schweitzer (Fn. 412), Rn. 166 f. 508 Dazu auch Zuleeg (Fn. 440), S. 2. 509 Siehe dazu auch Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: VVDStRL 1978, S. 7 (26 ff.).

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akzeptieren oder aber ablehnen510. Inhaltliche Mitgestaltung ist grundsätzlich nicht möglich511. Das Maß an personeller demokratischer Legitimation, den das Grundgesetz für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts in dezisionärer Hinsicht vorsieht, wird somit auch dann sehr viel stärker vom exekutiven als vom parlamentarischen Legitimationsbeitrag geprägt, wenn der fragliche Normsetzungsakt dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt. Der Umstand, dass völkerrechtliche Verträge erst bei Abschlussreife ins Gesetzgebungsverfahren eingespeist werden, führt also nicht nur dazu, dass der Erlass von im Anwendungsbereich von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ergehenden völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte in größerem Umfang von dem verhandlungsführenden Minister als von der zur Gesetzesinitiative befugten Bundesregierung personell demokratisch legitimiert wird. Vielmehr ist darin zugleich die strukturelle Ursache dafür zu erblicken, dass das Niveau personeller demokratischer Legitimation, das innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts diesseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung in dezisionärer Hinsicht kennzeichnet, vorwiegend von dem exekutiven und eben nur nachrangig durch den parlamentarischen Legitimationsbeitrag determiniert wird512.

(4) Die in dezisionärer Hinsicht erzeugte materielle demokratische Legitimation Inwieweit der Erlass innerstaatlich rezipierter Normensetzungsakte des Völkervertragsrechts durch materielle demokratische Legitimation rückgekoppelt sein muss, hängt gleichfalls davon ab, ob der ihnen zugrundeliegende Vertrag nur mit Zustimmung des Bundestags erlassen werden konnte oder nicht: Soweit die fraglichen Normsetzungsakte dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, wird die demokratische Dezisionsmacht außer durch den personellen Legitimationsstrang grundsätzlich513 nur noch in der Form materiell-kontrolla­ tiver Legitimation vermittelt. Diese beruht, soweit sie exekutivisch vermittelt wird, darauf, dass die Regierung der Kontrollmacht des Parlaments sowie der des Wahlvolks unterworfen ist und die Bundesminister zusätzlich noch durch den Bundeskanzler kontrolliert werden. Die angeführten materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge sind dabei als Einheit zu begreifen und als solche auf der zweiten 510 Dazu Stoll, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, DVBl. 2007, S. 1064 (1072) sowie Willems, Aktuelle Probleme der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, S. 21 (35). 511 Vgl. dazu Wolfrum (Fn.  495), S.  702, Hesse (Fn.  72), Rn.  534 und Kunig (Fn.  413), Rn. 103 sowie § 82 Abs. 2 GeschOBT. 512 Vgl. dazu auch Rojahn (Fn. 151), Rn. 39. 513 Materiell-direktive Legitimation ergibt sich allenfalls daraus, dass die Ressortminister bei der Aushandlung der völkerrechtlichen Verträge durch Richtlinien des Kanzlers gebunden sind.

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beziehungsweise  – hauptsächlich  – dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu lokalisieren514. Zum anderen wächst den fraglichen Normsetzungsakten eine einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation insoweit zu, als sich das aufgrund des Zustimmungsvorbehalts mitentscheidende Parlament regelmäßig wiederkehrenden Volkswahlen stellen muss. Dabei prägt die einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts freilich nur in relativ geringem Umfang. Denn dem sie vermittelnden Parlament kommt eine – im Vergleich zur exekutiven – nur recht eingeschränkte (Ko-)Dezisionsmacht zu.

(5) Fazit Vor diesem Hintergrund erhellt denn auch, weshalb innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt par­ lamentarischer Normierung unterfallen, schon in dezisionärer Hinsicht einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen als die entsprechenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakte. Dies hängt entscheidend damit zusammen, dass bei den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten personelle und materiell-kontrollative Legitimation in dezisionärer Hinsicht überwiegend auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt, wohingegen sie bei den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten äußerstenfalls hälftig auf dieser Stufe, ansonsten aber einfach vermittelt Platz greift515.

(6) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Die Zugehörigkeit eines innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakts des Völkervertragsrechts zum absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung entscheidet fernerhin darüber, wie unmittelbar sich ihm die partizipativ-okkasionelle Revisionsmacht des Volks mitteilt. Dabei ist im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte, soweit sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, nicht aber dem bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, grundsätzlich von zwei revisionären Legitimationszusammenhängen erfasst werden516. Zumin 514

Zu der gegenüber der Stufe demokratischer Vermitteltheit nachrangigen Wirkkraft mate­ riell-kontrollativer Legitimation vgl. unten Kapitel 10 III. 2. c) ee) = S. 822. 515 Dazu oben Kapitel 10 III. 1. b) = S. 730. 516 Dies gilt wiederum nur dann, wenn man in der geschilderten Weise kontrafaktisch vereinfacht und beispielsweise unberücksichtigt lässt, dass bestimmte inhaltliche Änderungen innerstaatlich rezipierter Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts selbst dann nur mit Billigung des Bundesrats erreicht werden können, wenn die abzuändernde Norm nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfällt.

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dest prima facie mag dies insbesondere dann verwundern, wenn man an die entsprechenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakte denkt. Dort nämlich gibt es lediglich einen revisionären Legitimationszusammenhang, weil das Parlaments­ gesetz nur in dem Verfahren wieder aufgehoben werden kann, in dem es auch erlassen wurde517. Für die Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, sieht das Grundgesetz hingegen vor, dass sie zwar nur im Verfahren nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG innerstaatlich in Geltung erwachsen können, mitunter aber auch außerhalb dieses Verfahrens mit innerstaatlicher Wirkung revidiert werden dürfen; bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, nicht aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, tritt infolgedessen neben den auf Bundesregierung und Bundestag zurückführenden revisionären Legitimationszusammenhang ein allein an die Regierungsexekutive rückgebundener. Um dies im Einzelnen zu belegen und zu präzisieren, ist nachstehend zunächst zu erörtern, inwieweit völkerrechtliche Verträge, für deren Abschluss Art.  59 Abs. 2 Satz 1 GG galt, auch hinsichtlich ihrer Änderung, ihrer Aufhebung beziehungsweise ihrer Kündigung den prozeduralen Anforderungen des Art. 59 Abs. 2 Satz  1  GG genügen müssen und inwieweit Revisionen solcher Völkerrechts­ abkommen deutscherseits gemäß Art. 59 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG allein von der Exekutive verantwortet werden518. Erst danach wird es möglich sein, den Grad demokratischer Abgeleitetheit näher zu bestimmen, den die hier in Rede stehenden Normsetzungsakte aufweisen519.

(7) Die innerstaatlichen Befugnisse zur Revision völkerrechtlicher Verträge als Vorfrage Im Einzelnen ist hier Vieles umstritten520. Einmütigkeit besteht lediglich insofern, als es eines parlamentsbeschlossenen Vertragsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG jedenfalls dann bedarf, wenn eine Vertragsänderung, für sich betrachtet, die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erfüllt oder aber Bestimmungen des ursprünglichen Vertrags modifiziert, auf die dies zutraf521. Darüber hinaus verlangt die herrschende Meinung nun freilich auch für alle sonstigen Änderungen zustimmungsbedürftiger Verträge ein Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG522. Als Begründung hierfür wird vor allem angeführt, dass die Kontrollfunktion der gesetzgebenden Körperschaften über den Vertrag 517

Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) aa) = S. 731. Dazu sogleich unter Kapitel 10 III. 2. c) aa) (7) = S. 801. 519 Dazu unten Kapitel 10 III. 2. c) aa) (8) = S. 803. 520 Vgl. Streinz (Fn. 150), Art. 59 Rn. 38. 521 Rojahn (Fn. 151), Rn. 44; Streinz (Fn. 150), Rn. 38. 522 Jarass (Fn. 427), Rn. 9; Bernhardt (Fn. 430), Rn. 15; Kunig (Fn. 413), Rn. 86.

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als Ganzes gewahrt bleiben müsse523. Dieses Argument ist freilich nicht wirklich überzeugend. Denn Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG beschränkt die Kontrolle der gesetzgebenden Körperschaften nun einmal ausdrücklich auf die beiden dort genannten Fälle524. Abstrakter formuliert: Für eine funktionelle Begründung von Organzuständigkeiten bleibt dort kein Raum, wo das Grundgesetz und hier speziell Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eine differenzierte Funktionsverteilung vorgenommen haben525. Im Übrigen setzt man sich mit der skizzierten Argumentation in einen Wertungswiderspruch zu der innerstaatlich bei den Zustimmungsgesetzen ganz überwiegend anerkannten Auffassung, wonach längst nicht jede Abänderung eines Zustimmungsgesetzes der Zustimmung des Bundesrats bedarf526. Die Verantwortung des Bundesrats für das Zustimmungsgesetz als Ganzes wird insofern gerade nicht als hinreichendes Argument dafür akzeptiert, dass auch jede Änderung eines solchen Gesetzes zustimmungspflichtig wäre527. Die von der herrschenden Meinung vertretene These, dass alle vertraglichen Änderungen zustimmungspflichtiger Völkerrechtsabkommen ihrerseits eines Vertragsgesetzes bedürfen, ist freilich nur in der Begründung, nicht aber im Ergebnis zurückzuweisen. Zu bedenken ist nämlich, dass im Verfahren nach Art.  59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur die Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften gewährleistet wird, sondern zugleich die Transformation des betreffenden völkerrechtlichen Vertrags beziehungsweise der diesbezügliche Rechtsanwendungsbefehl erfolgt528. Erst aus dieser zweiten Bedeutungsdimension des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erschließt sich, weshalb alle Änderungen zustimmungspflichtiger Verträge ihrerseits eines Vertragsgesetzes bedürfen: Beruht die innerstaatliche Wirksamkeit eines völkerrechtlichen Vertrags auf einem parlamentsbeschlossenen Vertragsgesetz, so widerspräche es dem Vorrang des  – höherrangigen  – Gesetzes, wenn Änderungen dieses Vertrags in anderer als parlamentsgesetzlicher Form innerstaatlich in Wirksamkeit erwachsen könnten. Während sie Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG bei Vertragsänderungen einen vergleichsweise großen Anwendungsbereich zuerkennt, schließt die herrschende Meinung eine direkte oder analoge Anwendung dieser Grundgesetzbestimmung sowohl bei 523

Streinz (Fn. 150), Rn. 39. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den restriktiven Ansatz des BVerfG (zum Beispiel E 90, 286 [358]). 525 Denn eben wenn man sich aus gutem Grund den staatsrechtlichen Großtheorien verweigert, die Art. 59 GG bald als Beleg für die grundsätzliche Zuweisung der auswärtigen Gewalt an die Exekutive, bald als Hinweis auf deren gesamthänderische Verortung bei Regierung und Parlament zu deuten wissen, so muss man Art. 59 Abs. 2 GG beim Wort nehmen und die dort etablierte Verteilung der Organzuständigkeiten respektieren. 526 Siehe dazu nur Lücke / Mann (Fn.  398), Rn.  16 sowie auch schon oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2) = S. 733. 527 Bryde (Fn. 178), Rn. 22. 528 Hierin liegt auch der entscheidende Unterschied zu der partiell strukturverwandten Frage, inwieweit Änderungen zustimmungspflichtiger Gesetze dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. 524

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Aufhebungsverträgen529 als auch bei Kündigungen von Verträgen530 kategorisch aus. Dies überzeugt. Denn derartige Maßnahmen tragen höchstens dazu bei, dass die politischen Beziehungen des Bundes völkerrechtlich dereguliert beziehungsweise die völkerrechtliche Inbezugnahme von Gegenständen der Bundesgesetzgebung zurückgenommen wird. Eine Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften ist daher nicht nur dem Wortlaut, sondern auch ihrem Sinn und Zweck nach nicht erforderlich, weil insofern keine völkerrechtlichen Bindungen eingegangen werden, der Kompetenzbereich der Legislative also gerade nicht tangiert wird531. Der Verzicht auf eine Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaften bei Aufhebungsverträgen oder Vertragskündigungen widerstreitet im Übrigen auch nicht dem Vorrang des – höherrangigen – Gesetzes. Denn mit der Aufhebung oder Kündigung des völkerrechtlichen Vertrags endet nicht nur nach der Vollzugstheorie532, sondern auch bei Zugrundelegung der Transformationslehre533 ipso iure dessen zuvor über das Vertragsgesetz vermittelte innerstaatliche Wirksamkeit534. Damit entfällt von vornherein die Problematik, dass nur ein gleich- oder höherrangiger innerstaatlicher Rezeptionsakt die durch frühere Rezeptionsakte geschaffene Rechtslage abändern kann. (8) Die personelle und materielle Legitimation der Nichtrevisonsentscheidungen Es zeigt sich, dass völkerrechtliche Verträge, die von Grundgesetzes wegen im Verfahren nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG abgeschlossen wurden, zwar nur im Verfahren nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG abgeändert werden können, eine Aufhebung oder Kündigung aber auch ohne Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften möglich ist. Innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, nicht aber dem bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, werden daher in der Tat – außer über die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Parlament – auch noch über die alleinige Abänderungsmacht der Exekutive rückgekoppelt. Auf sie führen mithin grundsätzlich535 zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge zurück. 529

Streinz (Fn. 420), Rn. 46. Bernhardt (Fn. 430), Rn. 15; Fastenrath (Fn. 424), S. 238 f.; Jarass (Fn. 427), Rn. 10 f. 531 In diesem Sinne auch Rojahn (Fn. 151), Rn. 47. 532 Vgl. Streinz (Fn. 150), Art. 59 Rn. 62. 533 Dies gilt zumindest für die gemäßigte Transformationslehre (prototypisch Rudolf [Fn. 411], S. 164 ff.) – vgl. in diesem Zusammenhang auch Schweisfurth (Fn. 455), 5. Kap. / Rn. 14 sowie Kunig (Fn. 413), Rn. 38. 534 Diese darf nicht mir der unmittelbaren Anwendbarkeit verwechselt werden – siehe Kunig (Fn. 413), Rn. 41 f. 535 Berühren die Aufhebung oder Kündigung des völkerrechtlichen Vertrags beziehungsweise dessen inhaltliche Abänderung Richtlinien der Politik, so kommen abweichend von diesem Grundsatz noch zwei weitere revisionäre Legitimationszusammenhänge zum Tragen. Sie ergeben sich daraus, dass der Bundeskanzler den mit dem ausländischen Vertragspartner ver 530

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Diese sind inkongruent, erfassen aber  – einander ergänzend  – den gesamten Normsetzungsakt536. Allerdings geschieht dies nicht in exakt gleichem Umfang. Näherungsweise wird man sagen können, dass die an die alleinige Revisionsmacht der Exekutive anschließende revisionäre Legitimation nicht ganz so weit reicht wie die, die an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Regierung und Bundestag anknüpft. Denn die Exekutive kann lediglich im Fall der Kündigung und Aufhebung allein agieren. Änderungen der hoheitsrechtlich geschaffenen Rechtslage können hingegen nur von Regierung und Bundestag gemeinsam bewirkt werden. Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der einen innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts kennzeichnet, bestimmt sich daher, sofern er diesseits des Vorbehalts parlamentarischer Normierung, aber jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung ergeht, folgendermaßen: Zu zirka zwei Fünfteln bemisst er sich nach dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen des an die alleinige Revisionsmacht der Exekutive anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhangs generiert wird; zu drei Fünfteln wird er durch das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation determiniert, das im Rahmen des an die gemeinsame Revisionsmacht von Exekutive und Bundestag anschließenden revisionären Legitimationszusammenhangs gebildet wird. Wendet man sich zunächst dem an die alleinige Revisionsmacht der Regierungsexekutive anschließenden Legitimationszusammenhang zu, so erweisen sich die in Rede stehenden Normsetzungsakte als grundsätzlich auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit personell demokratisch legitimiert. Denn Kündigung und Aufhebung völkerrechtlicher Verträge unterliegen  – nicht anders als deren Vor­ bereitung und Durchführung – grundsätzlich dem Ressortprinzip537. Die Nichtrevihandelnden Bundesminister im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz Weisungen erteilen kann (vgl. auch schon oben Fn. 513) und sich gegebenenfalls sogar selbst in die Verhandlungen einschalten darf (dazu oben Fn. 490). Soweit es um die Aufhebung oder Kündigung des völkerrechtlichen Vertrags geht, schließt ein zusätzlicher revisionärer Legitimationszusammenhang folglich an die Revisionsbefugnis des Bundeskanzlers an. Soweit es um inhaltliche Änderungen des völkerrechtlichen Vertrags geht, knüpft ein zusätzlicher revisionärer Legitimations­ zusammenhang an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundeskanzler, Bundesregierung und Bundestag an. Zu diesen Zusammenhängen vertiefend unten Fn. 537 und Fn. 540. 536 Siehe dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433. 537 Anders verhält es sich freilich dann, wenn sich die Aufhebung oder Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrags zur Richtlinienangelegenheit verdichtet. Dann nämlich tritt neben das Ressort- das Kanzlerprinzip. Revisionsmacht kommt dann nicht nur dem Minister, sondern auch dem Kanzler zu, der den Minister nicht nur zur Aufhebung oder Kündigung völkerrecht­ licher Verträge anweisen kann, sondern sich auch selbst in die Vertragsverhandlungen einschalten kann. Dieser zusätzliche revisionäre Legitimationszusammenhang kongruiert vollständig mit demjenigen, der an die Revisionsbefugnis des Ministers anschließt. Dies hat zur Konsequenz, dass das für die völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht prägende Niveau personeller demokratischer Legitimation ansteigt. Denn es bestimmt sich insofern nur noch teilweise nach dem vom Bundesminister herrührenden dreifach vermittelten Legitimationsbeitrag, zum Teil aber auch nach der zweifach vermittelten personellen Legitimation, die vom Bundeskanzler ausgeht.

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sionsentscheidung erweist sich insofern als vom Minister personell demokratisch legitimiert. Hinzu tritt, dass die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Völkerrechtsverträge zwar typischerweise nur mit Zustimmung des Bundes­ kabinetts abgeschlossen werden können, ihre Kündigung oder Aufhebung hin­ gegen verfassungsrechtlich kein Plazet der Bundesregierung voraussetzt538. Denn da die Kündigung oder Aufhebung eines völkerrechtlichen Vertrags aus den dar­ gelegten Gründen kein Zustimmungsgesetz erfordert, bedarf es auch keiner entsprechenden Gesetzesinitiative der Bundesregierung und kommt dieser infolgedessen verfassungsrechtlich auch keine Korevisionsmacht zu. Insofern bleibt es dabei, dass den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten über den hier in Rede stehenden revisionären Legitimationszusammenhang eine dreifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zuwächst. Die insoweit greifende materiell-kontrollative Legitimation erwächst ihrerseits aus der Kontrolle des mit den Vertragsverhandlungen betrauten Ministers durch das Parlament, das Wahlvolk und durch den Bundeskanzler. Diese Mehrheit materiell-kontrollativer Legitimationsbeiträge ist in Ansehung des legitimations­ bedürftigen Hoheitsakts als Einheit zu betrachten539 und als solche gleichfalls auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten540. Die Wirkkraft der insoweit begründeten personellen und materiell-kontrollativen Legitimation ist schon deshalb als vergleichsweise gering anzusehen, weil der letzte Legitimationsmittler keinen parlamentarischen Charakter aufweist541. Soweit die revisionäre Legitimation an die von Regierungsexekutive und Bundestag ausgeübte Änderungsbefugnis anknüpft, deckt sich das hierdurch erzeugte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation mit dem in dezisionärer Hinsicht generierten Legitimationsniveau542. Der Grad demokratischer Ver 538

Insbesondere besteht keine generelle Kabinettskompetenz im Hinblick auf grundsätz­ liche außenpolitische Angelegenheiten; § 15 Abs. 1 GOBReg muss in diesem Sinn verfassungs­ konform ausgelegt werden – siehe dazu nur Hermes (Fn. 504), Rn. 36. 539 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. 540 Berührt die Aufhebung oder Kündigung des völkerrechtlichen Vertrags die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, so wächst dem völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt ein höheres Maß an materiell-kontrollativer Legitimation zu. Denn über die die dann zusätzlich hinzutretende Revisionsmacht des Bundeskanzlers bricht sich eine leistungsstärkere materiellkontrollative Legitimation Bahn als über die Revisionsbefugnis des Ministers. 541 Zum Zusammenhang zwischen Wirkkraft von personeller beziehungsweise materiellkontrollativer Legitimation einerseits und Charakter des Legitimationsmittlers andererseits siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 542 Abweichendes gilt, wenn und soweit die Änderung des völkerrechtlichen Vertrags die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers berührt. In diesem Fall kongruiert mit dem an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Minister, Bundesregierung und Bundestag anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang der an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundeskanzler, Bundesregierung und Bundestag anschließende. Dies hat zur Konsequenz, dass der insofern in revisionärer Hinsicht realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit niedriger ausfällt, als wenn der auf die Korevisionsmacht des Bundeskanzlers zurückführende revisionäre Legitimationszusammenhang fehlte.

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mitteltheit wird insofern zwar auch durch die einfach vermittelten und relativ wirkkräftigeren personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge geprägt, über die die Nichtrevisionsentscheidung aufgrund der Korevisionsmacht des Parlaments rückgebunden sein kann543. Indessen wird der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der im Rahmen des an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Bundestag anschließenden Legitimationszusammenhangs generiert wird, in vergleichsweise stärkerem Maße durch die Legitimationsbeiträge determiniert, die im Rahmen der Korevisionsmacht von Bundesminister und Bundesregierung Platz zu greifen vermögen. Denn diese exekutivische Korevisionsmacht reicht unter den Bedingungen des Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG weiter als die des Bundestags544. Für die an die Korevisionsmacht der Bundesregierung anknüpfende personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation gilt indes zweierlei: Sie sind ganz überwiegend auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit und nur zu einem ungleich geringeren Teil  auf der zweiten Stufe angesiedelt; in Hinblick auf den Charakter des jeweils letzten Legitimationsmittlers kommt ihnen eine nur eingeschränkte Wirkkraft zu.

(9) Fazit Vor diesem Hintergrund bleibt resümierend festzuhalten, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte, die zwar dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, nicht aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, in revisionärer Hinsicht überwiegend auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sind. Denn zum einen Teil knüpft die revisionäre Legitimation ohnedies an die alleinige Revisionsmacht des zuständigen Bundes­ministers an; zum anderen Teil kommt der Exekutive, die eine ganz überwiegend dreifach vermittelte Legitimation vermittelt, ein größerer Anteil an der Revisionsmacht zu als dem Bundestag. Auch in revisionärer Hinsicht bestätigt sich insofern, dass die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte einen niedrigeres Legitimationsniveau auf­weisen als die entsprechenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakte; dies gilt sogar dann, wenn diese, nicht aber jene dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unter­fallen.

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Die personelle Legitimation beruht dabei auf der Partizipation des Parlaments an der Revisionsmacht. Die materiell-kontrollative Legitimation ergibt sich daraus, dass sich das (ko-) revisionsmächtige Parlament in regelmäßigen Abständen der Volkswahl stellen muss. Insofern erhellt nicht nur, weshalb die betreffenden Legitimationsbeiträge als einfach vermittelt zu qualifizieren sind. Zugleich wird deutlich, dass ihnen schon deshalb eine vergleichsweise hohe Wirkkraft zukommt, weil als letzter Legitimationsmittler das Parlament selbst fungiert. 544 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (7) = S. 801.

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bb) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die sowohl dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als auch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen Es ist ausführlich dargetan worden, welcher Grad demokratischer Abgeleitetheit die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts prägt, wenn sie nicht dem bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt unterfallen. Vor diesem Hintergrund lässt sich im Folgenden mit ungleich geringerem Aufwand darlegen, wie es sich in Hinblick auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit auswirkt, wenn die in Rede stehenden Normsetzungsakte unter dem bundesrätlichen Zustimmungs­ vorbehalt545 stehen.

(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit In dezisionärer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, zwar überwiegend im Rahmen der Mitentscheidungsmacht der Regierungsexekutive demokratisch rückgebunden werden. Zum kleineren Teil erfolgt die Rückbindung gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG aber auch über die Gesetzgebungskörperschaften546. Soweit nun der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung greift, erfolgt die personelle und materiell-kontrollative Legitimation insofern exakt hälftig über Bundestag und Bundesrat, also halb auf der ersten, halb auf der bestenfalls zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit547. Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation ist schon aus diesem Grund niedriger, als wenn der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung nicht eingreift.

(2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit In revisionärer Hinsicht ist zu beachten, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte, soweit sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung und dem bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, durch grundsätzlich drei revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden werden548. Neben den an 545

Siehe dazu auch Bernhardt (Fn. 430), Rn. 16. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (3) = S. 798. 547 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (1) = S. 733. 548 Ausgeblendet bleibt hier, dass sich zusätzliche Legitimationszusammenhänge dann ergeben, wenn die Aufhebung oder Kündigung beziehungsweise die Änderung des völkerrechtli 546

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

die alleinige Revisionsmacht der Exekutive sowie den an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Parlament anschließenden revisionären Legitimationszusammenhang tritt als dritter revisionärer Legitimationszusammenhang derjenige, der an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive, Bundestag und Bundesrat anknüpft. Denn soweit die Revision eines innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakts des Völkervertragsrechts die Durchführung eines Verfahrens nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG voraussetzt, bedarf es „der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften“. Nun ist bereits hinsichtlich der vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung erfassten Parlamentsgesetze ausgeführt worden, weshalb insofern in rund der Hälfte der Revisionsfälle der Bundesrat zuzustimmen hat549. Übertragen auf die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die sowohl dem Vorbehalt parlamentarischer Normierung als auch dem bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, bedeutet dies, dass das in Hinblick auf eine Vertragsrevision erforderliche Vertragsgesetz in rund fünfzig Prozent der Revisionsfälle zustimmungsbedürftig ist. Die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts werden somit tatsächlich durch drei revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden. Diese sind inkongruent. Denn soweit die Revisionsmacht der Exekutive reicht, ist kein Raum für die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Bundestag und auch nicht für die, die Exekutive, Bundestag und Bundesrat gemeinsam ausüben; und die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Bundestag greift ihrerseits nur dort, wo die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive, Bundestag und Bundesrat nicht durchschlägt. Dabei reicht der an die alleinige Revisionsmacht der Exekutive anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang um näherungsweise ein Zehntel weiter als die beiden ihrerseits gleich weit reichenden revisionären Legitimationszusammenhänge, die an die gemeinsame Revisionsmacht von Exekutive und Bundestag beziehungsweise an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive, Bundestag und Bundesrat anknüpfen. Das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen derjenigen revisionären Legitimationszusammenhänge generiert wird, die an die alleinige Revisionsbefugnis der Exekutive beziehungsweise an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Bundestag anknüpfen, wurde bereits näher präzisiert. Insofern kann nach oben verwiesen werden550. Soweit sich die revisionäre Legitimation der in Rede stehenden Normsetzungsakte zu rund drei Zehnteln über die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive, Bundestag und Bundesrat Bahn bricht, bestimmt sich der insofern realisierte Grad demokra­ chen Vertrags die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers berührt. Insofern gilt, was an früherer Stelle skizziert wurde, vgl. Fn. 535. 549 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2) = S. 733. 550 Siehe Kapitel 10 III. 2. c) aa) (8) = S. 803.

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tischer Abgeleitetheit überwiegend nach der Leistungsstärke der über die Bundesregierung vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimation. Dies hängt, wie gleichfalls schon dargetan, damit zusammen, dass sich die Rolle der gesetzgebenden Körperschaften im Wesentlichen darauf beschränkt, den von der Exekutive in alleiniger Verantwortung ausgehandelten Vertragsentwurf zu billigen oder zu verwerfen551. Im Übrigen bemisst sich der für den fraglichen Normsetzungsakt in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit exakt hälftig nach der über den Bundestag beziehungsweise über den Bundesrat vermittelten Legitimationsbeiträge. Insofern ist zum einen zu erinnern, dass das über den Bundesrat vermittelte (Teil-)Maß an Volkssouveränität hinter dasjenige zurückfällt, das über den Bundestag vermittelt wird; zum anderen weist die materiell-kontrollative Legitimation, die der Bundestag aufgrund seiner mit dem Bundesrat geteilten Revisionsmacht vermittelt, eine geringere Wirkkraft auf als diejenige, die dort Platz greift, wo der Bundestag seine Revisionsmacht nicht mit dem Bundesrat zu teilen braucht. Es bestätigt sich, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, nicht nur in dezisionärer, sondern auch in revisionärer Hinsicht einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen, wenn sie zugleich dem bundesrätlicher Zustimmung unterliegen.

cc) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die weder dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung noch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen Die Anforderungen, die das Grundgesetz an das Niveau personeller und materieller Legitimation stellt, fallen bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, geringer aus als bei solchen Normsetzungs­akten völkerrechtvertraglicher Provenienz, die von diesem Vorbehalt erfasst werden. Sie sind aber auch erkennbar geringer als bei den entsprechenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakten. Dies soll im Folgenden nach der dezisionären wie auch nach der revisionären Seite hin näher dargelegt werden, und zwar zunächst für Normsetzungsakte, die nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen.

551

Oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (3) = S. 798.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfasst werden, lässt das Grundgesetz es genügen, wenn diese in ausschließlich mehrfach vermittelter personeller demokratischer Legitimation erwachsen. Denn wenn die deutsche Regierungsexekutive im Zusammenwirken mit der Exekutive eines fremden Staates durch völkerrechtlichen Vertrag normsetzerisch tätig werden möchte und die betreffenden Normsetzungsakte vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, so bedarf sie dazu von Grundgesetzes wegen nicht der Zustimmung des Parlaments. Insofern unterscheidet sich die Verfassungsrechtslage klar von der, die bei vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts gilt552, nicht aber schon grundsätzlich von der, die für die rein innerstaatlichen Verordnungen erarbeitet worden ist553. Dass das Grundgesetz die Exekutive nicht daran hindert, auch ohne parlamentarische Zustimmung zur Entstehung von völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten beizutragen, wenn diese jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung angesiedelt sind, ergibt sich aus folgenden Überlegungen554: Einer parlamentarischen Zustimmung bedarf es nur unter den in Art.  59 Abs.  2 Satz  1 GG genannten Voraussetzungen. Trifft nun freilich ein völkerrechtlicher Vertrag als so genanntes normatives Verwaltungsabkommen ausschließlich solche Regelungen, die dem relativen Vorbehalt parlamentarischer Normierung subsumierbar sind, so bezieht er sich nicht auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung im Sinne von Art.  59 Abs.  2 Satz  1  GG555. Denn mit Gegenständen der Bundes­gesetzgebung ist in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht etwa das Bund-Länder-Verhältnis, die vertikale Gewaltenteilung, sondern – wie sich systematisch aus Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG erschließt – die Abgrenzung von Gesetzgebung und Verwaltung, mithin also die horizontale Gewaltenteilung, angesprochen556. Folglich sind bei Regelungen, deren Erlass der Parlamentsgesetzgeber dem Verordnungsgeber überantworten kann und im konkreten Fall qua Verordnungsermächtigung auch überantwortet hat, Gegenstände der Bundesgesetzgebung nicht berührt557. Im 552

Dazu oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) = S. 790. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741. 554 Dazu auch Fastenrath (Fn. 424), S. 220 f. 555 Vgl. dazu Streinz (Fn. 150), Rn. 36. 556 BVerfGE 1, 372 (383); ferner Rudolf (Fn. 411), S. 194. 557 Damit die Exekutive den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt ohne Zustimmung des Parlaments in Geltung setzen darf, muss sie zuvor vom Parlamentsgesetzgeber ermächtigt worden sein, den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt durch eine Rechtsverordnung innerstaatlich zu rezipieren (Weber, in: Umbach / Clemens [Hrsg.], Bd. 2, 2002, Art. 59 Abs. 2 Rn. 47). Ohne derartige Verordnungsermächtigung nämlich unterfällt der völkerrechtsvertrag­ liche Normsetzungsakt nicht dem relativen, sondern dem absoluten Vorbehalt parlamentari 553

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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Übrigen stehen insofern auch keine Bestimmungen in Rede, die die politischen Beziehungen des Bundes tangieren. Derart wesentliche Entscheidungen unterfallen von vornherein nicht dem relativen, sondern dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung558. Auch deshalb bedarf es für sie keines Vertragsgesetzes im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfasst werden, ergibt sich demnach, dass ihnen dezisionär im demokratisch günstigsten Fall eine grundsätzlich ganz überwiegend dreifach und nur zu einem ungleich geringeren Teil  zweifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zuwächst: Das für diese Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht prägende Maß personeller demokratischer Legitimation bestimmt sich danach, welche Organe aus­weislich Art.  59  GG materiell über das Ob und Wie des Vertragsschlusses entscheiden. Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG führt nicht unmittelbar weiter, weil er nur die formelle Staatsrepräsentation regelt559 und die heutige Staatspraxis nur sehr unvollkommen widerspiegelt560. Eine genauere Analyse des Vertragsschlussverfahrens nach Art. 59 GG zeigt, dass die Vertragsverhandlungen grundsätzlich in die materielle Kompetenz des nach dem Ressortprinzip zuständigen Bundesministers fallen561. Im demokratisch günstigsten Fall, also dann, wenn der Ressortminister die Verhandlungen selbst führt und sie nicht auf (Unter-)Bevollmächtigte delegiert562, erwachsen die völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte insofern in dreifach vermittelter personeller demokratischer Legitimation. In bestimmten Konstellationen muss nun freilich das Verhandlungsergebnis noch durch innerstaatliche Organe gebilligt werden, bevor der für die Verhandlungsführung zuständige Bundesminister den Vertrag in völkerrechtlich verbindlicher Weise abschließen darf. Einer parlamentsgesetzlichen Zustimmung freilich bedarf es insofern, wie eben dargelegt, nicht. Indes ist beim Abschluss norma­tiver Verwaltungsabkommen Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG zu beachten. Mit Rücksicht auf den systematischen Zusammenhang zu dem ihr vorausgehenden Satz begreift sich diese etwas kryptische563 Verfassungsbestimmung dahingehend, dass Verwaltungsscher Normierung, bezieht er sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG und greift folglich der in dieser Verfassungsbestimmung normierte Zustimmungsvorbehalt (Pernice [Fn. 432], Rn 32 f.). 558 Dass ein völkerrechtlicher Vertrag sowohl die politischen Beziehungen des Bundes regeln als auch Gegenstände der Bundesgesetzgebung betreffen kann, hebt zu Recht Rojahn (Fn. 151), Rn. 23 hervor. 559 Streinz (Fn. 150), Rn. 18. 560 Rojahn (Fn. 151), Rn. 7. 561 In Richtlinienangelegenheiten kann sich aber dem Kanzlerprinzip gemäß auch der Bundeskanzler in die Verhandlungen einschalten. 562 Siehe dazu Schweisfurth (Fn. 455), 4. Kap. / Rn. 14. 563 Rojahn (Fn. 151), Rn. 51: „unklar“; Jarass (Fn. 427), Rn. 21 spricht von einem „nicht sehr glücklichen“ Verweis; ähnlich Maunz, in: ders. / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 4, Stand: Juni 2007, Art. 59 Rn. 40.

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abkommen nur mit Zustimmung derjenigen Organe in Geltung gesetzt werden dürfen, die nach den ‚Vorschriften über die Bundesverwaltung‘ an einer entsprechenden innerstaatlichen Regelung (ko-)dezisiv mitwirken müssten564. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert dabei insbesondere der Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundeskabinetts565. Ein solcher erschließt sich aus Art. 80 Abs. 1 1. Variante GG – und zwar für den Fall, dass die Bundesregierung Adressat der parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung ist, deretwegen das in Aussicht genommene normative Verwaltungsabkommen nicht zu den Gegenständen der Bundesgesetzgebung im Sinne von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zählt. Schließlich könnte in diesem Fall eine dem Verwaltungsabkommen entsprechende Regelung innerstaatlich nur von der Bundesregierung erlassen werden566. Der Rekurs auf Art. 80 Abs. 1 1. Variante GG ist allerdings begründungsbedürftig. Denn der für normative Verwaltungsabkommen maßgebliche Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verweist, wie gesagt, auf die ‚Vorschriften über die Bundesverwaltung‘. Darunter aber fallen nach der dem Grundgesetz eigenen Terminologie ausschließlich diejenigen Bestimmungen, die in seinem 8. Abschnitt niedergelegt sind und zu denen Art. 80 Abs. 1 GG gerade nicht zählt567. Allerdings handelt es sich dabei um eine unbeabsichtigte Regelungslücke568. Denn mit Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG wollte der Grundgesetzgeber erreichen, dass die im Ausgangspunkt für das rein innerstaatliche Verwaltungshandeln des Bundes etablierte Kompetenz- und Verfahrensordnung auf sein auswärtiges Verwaltungshandeln durchschlägt. Dafür, dass dieser Leitgedanke nicht auch in Hinblick auf die in Art. 80 GG geregelte administrative Verordnungsgebung gelten sollte, fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Infolgedessen spricht denn auch alles dafür, die Regelungslücke, die Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG in Hinblick auf den die Verordnungsgebung betreffenden Bereich der Bundesverwaltung aufweist, in rechtsnormergänzender Analogie569 dergestalt zu schließen, dass die in dieser Bestimmung angeordnete entsprechende Anwendbarkeit auch bezüglich Art. 80 GG gilt570. Damit steht fest, dass normative Verwaltungsabkommen unter Umständen nur mit Zustimmung der Bundesregierung abgeschlossen werden dürfen. Für das Niveau personeller demokratischer Legitimation, das normative Verwaltungsabkommen in dezisionärer Hinsicht aufweisen, hat dies zur Konsequenz, dass es gege 564

Weber (Fn. 557), Rn. 51. Auf den Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrats wird später einzugehen sein – siehe unten Kapitel 10 III. 2. c) dd) = S. 817. 566 Als sogenanntes ‚Regierungsabkommen‘ im Unterschied zu den bloßen ‚Ressortabkommen‘ – vgl. Rojahn (Fn. 151), Rn. 53. 567 Hierzu auch Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. Art. 59 Rn. 104. 568 So offensichtlich auch Streinz (Fn. 150), Rn. 79. 569 Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 17 Rn. 49. 570 In diesem Sinne wohl auch Oldiges (Fn. 211), S. 342. Für eine direkte Anwendbarkeit indes Kempen (Fn. 567), Rn. 104. 565

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benenfalls nicht nur von dem dreifach vermittelten Legitimationsbeitrag geprägt wird, der vom verhandlungsführenden Ressortminister herrührt, sondern auch durch die überwiegend dreifach, teils aber eben auch zweifach vermittelte Legitimation determiniert wird, die aus der notwendigen Zustimmung seitens der Bundesregierung resultiert. Da der Bundesregierung insofern aber lediglich eine Vetoposition zukommt, sie das Ob und Wie des Vertragsschlusses somit also in geringerem Umfang zu beeinflussen vermag als der verhandlungsführende Ressortminister, trägt ihr Legitimationsbeitrag in schwächerem Maße zum Gesamtniveau personeller demokratischer Legitimation bei als der ministerielle Legitimationsbeitrag. Demzufolge wächst den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die nicht dem Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, im demokratisch günstigsten Fall eine grundsätzlich ganz überwiegend dreifach und nur zu einem ungleich geringeren Teil  zweifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zu. Materiell-kontrollativ wird ein völkerrechtsvertraglicher Normsetzungsakt, der ohne parlamentarische Zustimmung innerstaatlich rezipiert wird, in dreifacher Weise dezisionär legitimiert: nämlich erstens aufgrund der Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber dem Parlament, zweitens infolge ihrer mittelbaren Abhängigkeit vom Wahlvolk sowie im Fall der Bundesminister drittens wegen der vom Bundeskanzler ausgeübten Kontrolle. Diese materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge sind in Ansehung des legitimationsbedürftigen völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakts als Einheit zu betrachten und, soweit sie von Bundesministern vermittelt werden, auf der dritten, soweit sie vom Bundeskanzler vermittelt werden, auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten. Folglich dürfen innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, auch in Ansehung der materiell-kontrollativen Legitimation einen höheren Grad demokratischer Vermitteltheit aufweisen als solche, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden571. Denn diesen wächst zumindest partiell eine lediglich einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation zu. Zu berücksichtigen ist nun freilich, dass einem innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts, der vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen ist, aufgrund der geschilderten Zusammenhänge in dezisionärer Hinsicht zwingend materiell-direktive Legitimation zuwächst. Schließlich bedarf es in dieser Konstellation notwendig eines zur Verordnungsgebung und damit zur innerstaatlichen Rezeption ermächtigenden Parlamentsgesetzes572. Allerdings wird dadurch die Einbuße an personeller und materiell-kon­ trollativer Legitimation, die durch das Fehlen der parlamentarischen Zustimmung bewirkt wird, ebensowenig kompensiert wie bei den rein innerstaatlichen Verord 571

Zu der gegenüber der Stufe demokratischer Vermitteltheit nachrangigen Wirkkraft mate­ riell-kontrollativer Legitimation vgl. unten Kapitel 10 III. 2. c) ee) = S. 822. 572 Siehe beispielsweise BVerfGE 1, 372 (390).

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nungen573. Denn die an das ermächtigende Parlamentsgesetz anknüpfende materiell-direktive Legitimation erfolgt auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als die über die parlamentarische Zustimmung vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation574. Indes wird die Legitimationseinbuße, die sich mit dem Wegfall der einfach vermittelten personellen und materiell-kontrollativen demokratischen Legitimation verbindet, wegen der hohen Wirkkraft der zweifach vermittelten materiell-direktiven Legitimation immerhin begrenzt575.

(2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts werden grundsätzlich durch zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden576. Ein erster Legitima­ tionszusammenhang knüpft dabei an die der Exekutive allein zustehende Revisionsmacht an. Alleinige Revisionsmacht steht der Exekutive dabei in zweierlei Hinsicht zu. Wie bei den mit Zustimmung des Parlaments zustande gekommenen völkerrechtlichen Verträgen ist dies zum einen insoweit der Fall, als es die Aufhebung oder Kündigung von Verwaltungsabkommen anbelangt. Denn diesbezüglich greift Art.  59 Abs.  2 Satz  1  GG aus den bereits dargelegten Gründen von vornherein nicht577. Zum anderen steht der Exekutive in Hinblick auf normative Verwaltungsabkommen auch insofern typischerweise alleinige Revisionsmacht zu, als sie aufgrund und im Rahmen parlamentsgesetzlicher Ermächtigung vertragsändernde Abkommen schließen darf. Denn ein normatives Verwaltungsabkommen darf überhaupt nur aufgrund einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigung abgeschlossen werden, ohne dass im Sinn von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG Gegenstände der Bundesgesetzgebung berührt sind. Und typischerweise wird diese parlamentsgesetzliche Ermächtigung nicht nur den Abschluss, sondern auch bestimmte spätere Abänderungen normativer Verwaltungsabkommen zulassen. Der zweite revisionäre Legitimationszusammenhang beruht seinerseits darauf, dass die völkerrechtsvertragliche Änderung normativer Verwaltungsabkommen verfassungsrechtlich dann der vorgängigen Zustimmung des Parlaments bedarf, 573

Vgl. insofern bereits oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741. Zum Vorrang ihrer Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft spezifischer Legitimationsbeiträge vgl. Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. 575 Zur hohen Wirkkraft materiell-direktiver Legitimation oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 576 Dies gilt natürlich wiederum nur, wenn man den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit kontrafaktisch vereinfacht rekonstruiert. Denn dann kann ins­ besondere unberücksichtigt bleiben, dass in bestimmten (Ausnahme-)Fällen der Bundestag beziehungsweise die Regierung ihre Abänderungsmacht nur mit Zustimmung des Bundesrats ausüben können. Vgl. dazu näher oben Fn. 171. 577 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (8) = S. 803. 574

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wenn deren innerstaatliche Rezeption mangels entsprechender parlamentsgesetzlicher Verordnungsermächtigung nicht durch exekutive Rechtsverordnung bewirkt werden kann. In diesem Fall berührt der völkerrechtliche Änderungsvertrag Gegenstände der Bundesgesetzgebung578 und bedarf es gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz  1  GG eines Parlamentsgesetzes, das zum Vertragsschluss ermächtigt und zugleich für die innerstaatliche Rezeption des völkerrechtsvertraglichen Norm­ setzungsakts sorgt. Der zweite revisionäre Legitimationszusammenhang schließt mithin an die gemeinsame Abänderungsmacht von Exekutive und Bundestag an. Hingegen wächst einem innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts, der vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen ist, revisionäre Legitimation nicht auch dadurch zu, dass sein innerstaatlicher Rezeptionsakt, nämlich die entsprechende exekutive Rechtsverordnung, an sich dem parlamentarischen Zugriffsrecht ausgesetzt ist. Insofern ist nämlich zu bedenken, was der Sache nach bereits in Hinblick auf das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation dargetan wurde579: Dass die innerstaatliche Wirkung eines völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakts beseitigt werden kann, lässt dessen völkerrechtliche Verbindlichkeit unangetastet. Dieser Umstand kann nicht einfach in dualistischer Binnenrechtsintrovertiertheit ignoriert werden, wenn es gilt, das bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungs­ akten des Völkervertragsrechts grundgesetzlich gebotene Legitimationsniveau zu re­konstruieren. Dies verbietet schon die völkerrechtsfreundliche Haltung des Grundgesetzes. Infolgedessen lässt sich aus der formalen Befugnis des Parlaments, den Rezeptionsakt zu kassieren, auch keinesfalls schlussfolgern, dass dem Volk insofern Revisionsmacht in Hinblick auf den dergestalt rezipierten Norm­ setzungsakt zuwüchse. Revidiert ist dieser nämlich erst, wenn er völkerrechts­ konform beseitigt oder abgeändert ist. Es bleibt also dabei, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die weder dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung noch dem bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, grundsätzlich580 durch zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden werden. Die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge sind gänzlich inkongruent. Insbe­ sondere ergibt sich – anders als bei Verordnungen581 – auch keine Teilkongruenz 578

Vgl. Jarass (Fn. 427), Rn. 13 f. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. b) = S. 788. 580 Auch in diesem Zusammenhang bleibt anzumerken (vgl. im Übrigen bereits oben Fn. 535), dass lediglich dem Grundsatz nach von zwei revisionären Legitimationszusammenhängen ausgegangen werden kann. Ausgeblendet bleibt insofern, dass in Richtlinienangelegenheiten noch zwei weitere Legitimationszusammenhänge hinzutreten, weil der Bundeskanzler den verhandlungsführenden Minister anweisen beziehungsweise sich ihm substituieren kann. Dass in dieser Konstellation ein revisionärer Legitimationszusammenhang auch allein auf den Bundeskanzler, ein weiterer auf Bundeskanzler und Bundestag zurückführt, sei hier lediglich angesprochen, nicht aber näher erörtert. 581 Dazu oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (2) = S. 746. 579

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

zwischen ihnen. Denn für die parlamentarische Revisionsbefugnis ist nur dort Raum, wo für die alleinige Revisionsmacht der Exekutive kein Platz mehr ist. Die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge überlagern sich also nicht einmal partiell und erfassen infolgedessen nur in wechselseitiger Ergänzung den gesamten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt. Die Reichweite der zwei revisionären Legitimationszusammenhänge fällt dabei denkbar unterschiedlich aus: Der an die alleinige Revisionsbefugnis der Exekutive anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang reicht deutlich weiter als der an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Parlament anschließende. Denn anders als bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten, die dem Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, vermag die Exekutive nicht nur die Aufhebung und Kündigung der Völkerrechtsabkommen in eigener Kompetenz zu bewirken. Vielmehr kommt der Exekutive darüber hinaus auch eine ansehnliche Abänderungsbefugnis zu, und zwar nach Maßgabe etwaiger parlamentsgesetzlicher Verordnungsermächtigungen. Entsprechend gering ist die Reichweite desjenigen Legitimationszusammenhangs, der an die gemeinsame Abänderungsbefugnis von Regierungsexekutive und Bundestag anknüpft582. Für das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen dieser beiden revisionären Legitimationszusammenhänge erzeugt wird, kann auf die Ausführungen verwiesen werden, die zu den vom absoluten Vor­behalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz angestellt worden sind583. In der Zusammenschau ergibt sich folgendes Bild: Die revisionäre Rück­ bindung von innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten, die weder dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung noch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, erfolgt durch zwei inkongruente revisionäre Legitima­ tionszusammenhänge. Die revisionäre Legitimation beruht in diesen Fällen haupt 582 Unberücksichtigt bleiben nach dem hier vorgeschlagenen kontrafaktischen Rekonstruk­ tionsmodus die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge, die auf Änderungsbefugnisse zurückführen, an denen der Bundesrat teilhat. Dass dieser Ansatz gerechtfertigt ist, lässt sich rückversichernd speziell auch in Hinblick auf die hier in Rede stehenden Normsetzungsakte exemplifizieren. Denn wenn ein normatives Verwaltungsabkommen jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung ergeht, ist es relativ unwahrscheinlich, dass dessen völkerrechtsvertragliche Änderung der Zustimmung des Bundesrats bedarf: Soweit die Änderung ohne Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG möglich ist, ergibt sich dies daraus, dass das abzuändernde normative Verwaltungsabkommen keine Regelungen im Sinne von Art. 80 Abs. 2 GG enthält und daher vermutlich auch die Vertragsnovelle keine solchen Regelungen enthält; soweit die Änderung nur mit Vertragsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erfolgen kann, leitet sich Entsprechendes aus dem Umstand ab, dass die den Erlass des normativen Verwaltungsabkommens seinerzeit sanktionierende parlamentsgesetzliche Verordnungsermächtigung wegen Art. 80 Abs. 2 GG zwingend ohne bundesrätliche Zustimmung erlassen wurde und deshalb im Zweifel auch das die Vertragsrevision billigende Vertragsgesetz jenseits des Vor­ behalts bundesrätlicher Zustimmung ergeht. 583 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) = S. 790.

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sächlich auf der alleinigen Revisionsmacht der Exekutive und nur zum deutlich geringeren Teil auf der von Exekutive sowie Bundestag gemeinsam auszuübenden Abänderungsmacht. Folglich dürfen die in Rede stehenden völkerrechtsvertrag­ lichen Normsetzungsakte von Grundgesetzes wegen auch in revisionärer Hinsicht einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen als innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen584. Denn dort reichen die revisionären Legitimationszusammenhänge weiter, die an die Revisionsmacht des Bundestags anknüpfen und insofern zumindest partiell auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sind. Zugleich zeigt sich, dass die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht unterfallen, wenn schon nicht in dezisionärer, so doch immerhin in revisionärer Hinsicht ein deutlich niedrigeres Legitimationsniveau aufweisen dürfen als die rein innerstaatlichen Verordnungen. Denn diese werden vollumfänglich von revisionären Legitimationszusammenhängen erfasst, die zumindest hälftig auf die Revisionsmacht des Parlaments zurückführen585.

dd) Grad demokratischer Abgeleitetheit bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die zwar nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, wohl aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen Der Grad demokratischer Abgeleitetheit eines innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakts des Völkervertragsrechts erhöht sich sowohl in dezisionärer wie auch in revisionärer Hinsicht, wenn im Verlauf des Vertragsschlussverfahrens die Zustimmung des Bundesrats einzuholen war. Dies gilt nicht nur für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die außer dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung auch dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen586. Entsprechendes gilt für vom bundesrätlichen Zustim 584

Zu berücksichtigen ist freilich, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, letztlich deshalb in revisionärer Hinsicht einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen können als die von diesem Vorbehalt erfassten Normsetzungsakte, weil der Exekutive bei norma­ tiven Verwaltungsabkommen alleinige Revisionsmacht typischerweise auch im Rahmen parlamentsgesetzlicher Verordnungsermächtigungen zusteht und die demokratische Legitimation infolgedessen in relativ größerem Umfang exekutivisch vermittelt ist. Nun kann der Parlamentsgesetzgeber die Verordnungsermächtigungen aber auch zurücknehmen. Geschieht dies, dann bestehen in Ansehung des in revisionärer Hinsicht erreichten Grads demokratischer Abgeleitetheit keine Unterschiede mehr zwischen den vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten und den hiervon ausgenommenen Normsetzungsakten des Völker­ vertragsrechts. 585 Zu dem an dieser Stelle – weil nachrangig – ausgeblendeten Aspekt der Wirkkraft mate­ riell-kontrollativer Legitimation vgl. unten Kapitel 10 III. 2. c) ee) = S. 822. 586 Hierzu oben Kapitel 10 III. 2. c) bb) = S. 807.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

mungsvorbehalt erfasste völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfasst werden und daher von Grundgesetzes wegen in stärkerem Maße exekutiver Herrschaftsmacht unterworfen sein dürfen. Wie bei den Rechtsverordnungen greift der bundesrätliche Zustimmungsvorbehalt auch bei den vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz namentlich dann ein, wenn eine der Konstellationen des Art. 80 Abs. 2 GG gegeben ist587. Die Begründung hierfür ist der Sache nach bereits an früherer Stelle588 geliefert worden: Zwar verweist der für normative Verwaltungsabkommen maßgebliche Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG ausdrücklich nur auf die ‚Vorschriften über die Bundesverwaltung‘ und damit auf die Bestimmungen des 8. Abschnitts des Grundgesetzes589. Indes kann nicht angenommen werden, dass die in Art. 80 GG niedergelegten Vorschriften über die administrative Verordnungsgebung für den Abschluss normativer Verwaltungsabkommen ohne Bedeutung sein sollen, nur weil sie – obwohl materiell zu den Vorschriften über die Bundesverwaltung zählend – außerhalb des 8. Grundgesetzabschnitts angesiedelt sind. Insofern enthält Art. 59 Abs. 2 Satz  2  GG eine ungewollte Regelungslücke, die dergestalt durch Analogie zu schließen ist, dass beim Abschluss von Verwaltungsabkommen auch Art. 80 GG einschließlich seines Absatzes 2 entsprechend anzuwenden ist590.

(1) Der in dezisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Wie bei den vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung erfassten rein innerstaatlichen Rechtsverordnungen ist auch für die an dieser Stelle in Rede stehenden normativen Verwaltungsabkommen davon auszugehen, dass ihnen personelle Legitimation zur einen Hälfte von der Exekutive, zur anderen vom Bundesrat zuwächst. Insofern wird freilich kein grundsätzlich anderes Niveau personeller Legitimation erzeugt, als es bei vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz der Fall ist, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung nicht unterfallen. Im Vergleich geringer ist jedoch das Maß an materiell-kontrollativer Legitimation, das den Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz zuwächst, wenn sie nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, wohl aber dem bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Denn die materiell-kontrollative Legitimation erfolgt zwar auf derselben Stufe demokratischer Vermitteltheit, wie 587

Randelzhofer (Fn. 421), S. 111 und Zuleeg (Fn. 440), S. 2. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) cc) (1) = S. 810. 589 Dazu nochmals Kempen (Fn. 567), Rn. 104. 590 Ebenso Pernice (Fn. 432), Rn. 50.

588

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wenn der bundesrätliche Zustimmungsvorbehalt nicht einschlägig wäre. Jedoch büßt aus den der Sache nach bereits dargelegten Gründen die materiell-kontrollative Legitimation an Wirkkraft ein, wenn ein derartiger Normsetzungsakt zusätzlich über den Bundesrat dezisionär rückgebunden wird591. Häufig niedriger ist auch das Niveau materiell-direktiver Legitimation. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die hier interessierenden Normsetzungsakte dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung aufgrund von Art. 80 Abs. 2 GG unterfallen592. Dies hat zur Konsequenz, dass die hier interessierenden Normsetzungsakte vielfach auf einem Parlamentsgesetz beruhen, das zur Hälfte vom Bundesrat herrührt593. Dann freilich erfolgt die materiell-direktive Legitimation aus den bereits dargelegten Gründen zu etwas weniger als der Hälfte594 auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit, als dies bei denjenigen innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts der Fall ist, die weder dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung noch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen.

(2) Der in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit Innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die zwar nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, wohl aber dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, werden durch grundsätzlich vier revisionäre Legitimationszusammenhänge demokratisch rückgekoppelt. Ein erster Legitimationszusammenhang schließt an die der Exekutive allein zustehende Revisionsmacht an. Wie bereits dargelegt, greift die der Exekutive allein zustehende Revisionsmacht zum einen insofern, als es um die Aufhebung beziehungsweise Kündigung normativer Verwaltungsabkommen geht; zum anderen kommt sie dort zum Tragen, wo die Exekutive aufgrund parlamentsgesetzlicher Ermächtigung vertragsändernde Abkommen schließen darf595. Damit wird der Blick auch schon auf den zweiten revisionären Legitimationszusammenhang gelenkt: Völkerrechtliche Abänderungsverträge, die aufgrund einer parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung als normative Verwaltungsabkommen abgeschlossen werden sollen, bedürfen aus grundgesetzlicher Sicht mitunter der vorgängigen Zustimmung des Bundesrats. Davon ist in den Konstella 591

Ebd. Dazu, dass die Verweisung des Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG im Wege des Analogieschlusses auch auf Art.  80 Abs.  2  GG zu erstrecken ist, vgl. so eben ausführlich unter Kapitel 10 III. 2. c) dd) = S. 817. Im Ergebnis gleich die herrschende Meinung, vgl. nur Streinz (Fn. 150), Rn. 79 und Fastenrath (Fn. 424), S. 248 f. 593 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) dd) (1) = S. 752. 594 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) dd) (1) = S. 752. 595 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) cc) (2) = S. 814. 592

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tionen des Art. 80 Abs. 2 GG auszugehen, da diese Vorschrift auch beim Abschluss normativer Verwaltungsabkommen anzuwenden ist596. Der zweite revisionäre Legitimationszusammenhang knüpft damit an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Regierung und Bundesrat an. Der dritte Legitimationszusammenhang ergibt sich daraus, dass nicht alle Änderungen, sondern nur die von einer parlamentsgesetzlichen Änderungsermäch­ tigung gedeckten von der Exekutive allein bewirkt werden dürfen; in den übrigen Fällen kann die Exekutive diese nicht ohne Zustimmung des Parlaments herbeiführen597. Der dritte revisionäre Legitimationszusammenhang schließt mithin an die gemeinsame Änderungsmacht von Exekutive und Bundestag an. Damit bleibt abschließend zu berücksichtigen, dass dann, wenn die Abänderung eines normativen Verwaltungsabkommens mangels (hinreichender) parlamentsgesetzlicher Ermächtigung der Exekutive grundgesetzlich ein Vertragsgesetz voraussetzt, dieses gegebenenfalls dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfällt598. Dann führt auf die in Rede stehenden Normsetzungsakte ein vierter revisionärer Legitimationszusammenhang, der an die gemeinsame Änderungsmacht von Exekutive, Bundestag und Bundesrat anknüpft. Diese grundsätzlich599 vier revisionären Legitimationszusammenhänge sind durchweg inkongruent, erfassen aber in wechselseitiger Ergänzung den gesamten Normsetzungsakt völkerrechtsvertraglicher Provenienz600. Relativ weit reicht dabei derjenige revisionäre Legitimationszusammenhang, der an die alleinige Revisionsmacht der Exekutive geknüpft ist. Allerdings reicht er vielfach weniger weit als bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die sowohl vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als auch vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommen sind. Denn soweit sich die exekutive Revisionsbefugnis nicht auf deren Aufhebung beziehungsweise Kündigung, sondern  – im Rahmen parlamentsgesetzlicher Ermächtigung  – auf ihre Abänderung bezieht, besteht bei vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt er 596

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) dd) = S. 817. Jarass (Fn. 427), Rn. 13. 598 Dazu etwa Maunz, in: ders. / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 4, Stand: Juni 2007, Art. 59 Rn. 19. 599 Ausgeblendet bleibt hier, dass sich die Zahl der revisionären Legitimationszusammenhänge in Richtlinienangelegenheiten auf acht erhöhen kann. Denn die vier beschriebenen revisionären Legitimationszusammenhänge führen zumindest auch auf die Revisionsmacht des verhandlungsführenden Bundesministers zurück. Dieser aber kann in Richtlinienangelegenheiten durch den Bundeskanzler angewiesen beziehungsweise verdrängt werden. Infolgedessen bestehen in Richtlinienangelegenheiten vier weitere, mit den vier beschriebenen voll kon­ gruente revisionäre Legitimationszusammenhänge. 600 Insoweit besteht ein Unterschied zu den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten, die zwar vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung, nicht aber vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommen sind. Denn insofern besteht zwischen den an das parlamentarische Zugriffsrecht und den an die exekutive Änderungsbefugnis anknüpfenden revi­ sionären Legitimationszusammenhängen Teilkongruenz. 597

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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fassten normativen Verwaltungsabkommen eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die exekutiven Änderungsmaßnahmen ihrerseits bundesrätlicher Zustimmung bedürfen601. Eine geringere Reichweite kommt typischerweise auch dem an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Bundestag anschließenden revisionären Legitimationszusammenhang zu. Denn unterfällt das normative Verwaltungsabkommen dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung, so gilt dies vielfach auch für das ihm aus grundgesetzlicher Sicht zugrundeliegende Parlamentsgesetz602. Daraus wiederum folgt, dass dort, wo Änderungen des normativen Verwaltungsabkommens ein Vertragsgesetz voraussetzen, dieses in einer Vielzahl von Fällen von Regierung, Parlament und Bundesrat gemeinsam zu erlassen ist. Für das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das im Rahmen dieser vier revisionären Legitimationszusammenhänge erzeugt wird, kann jeweils nach oben verwiesen werden. Dies gilt ohne Weiteres für die drei revisio­ nären Legitimationszusammenhänge, die an die alleinige Revisionsmacht der Exe­ kutive, die gemeinsame Abänderungsbefugnis von Regierung und Bundestag beziehungsweise an die organmehrheitlich von Exekutive, Bundestag und Bundesrat auszuübende Revisionsmacht anknüpfen. Aber auch soweit es den revi­sionären Legitimationszusammenhang betrifft, der an die gemeinsame Revisionsmacht von Regierung und Bundesrat anschließt, kann auf Erwägungen rekurriert werden, die bereits an früherer Stelle, nämlich zu den Zustimmungsverordnungen, entwickelt worden sind. Die revisionäre Legitimation, die an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundesregierung und Bundesrat anknüpft, erfolgt demnach zwar grundsätzlich auf keiner anderen Stufe demokratischer Vermitteltheit als die­jenige, die an die alleinige Revisionsmacht der Exekutive anschließt; jedoch eignet der insofern vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation eine geringere Wirkkraft603. Vor diesem Hintergrund erhellt denn auch, weshalb diejenigen vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen Normsetzungsakte völkerrechtsvertraglicher Provenienz, die dem bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt unterfallen, in revisionärer Hinsicht einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen als diejenigen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung nicht unterfallen. So verkürzt sich hier zum einen die Reichweite des an die gemeinsame Änderungsmacht von Bundesregierung und Bundestag anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhangs zugunsten desjenigen revi­ sionären Legitimationszusammenhangs, der an die gemeinsame Änderungsmacht von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat anschließt. Dies hat zur Kon­ 601 Dies wurde bereits in Zusammenhang mit den vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfassten rein innerstaatlichen Normsetzungsakten ausgeführt (siehe oben Kapitel 10 III. 1. b] dd] [2]) = S. 755). 602 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) = S. 733. 603 Oben Kapitel 10 III. 1. b) dd) (2) = S. 755.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

sequenz, dass die Stufe demokratischer Vermitteltheit, auf der die personelle und materiell-kontrollative Legitimation ergeht, eine partiell höhere ist und dass der materiell-kontrollativen Legitimation eine geringere Wirkkraft zukommt. Zum anderen greift der an die gemeinsame Änderungsmacht von Bundesregierung und Bundesrat anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang – und zwar zu Lasten des an die alleinige Revisionsmacht der Exekutive anschließenden Legitimationszusammenhangs. Damit verbindet sich, wie eben nochmals erinnert, eine Abschwächung des Niveaus materiell-kontrollativer Legitimation.

ee) Die abgeschwächte Wirkkraft der in dezisionärer wie revisionärer Hinsicht greifenden materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge im Besonderen Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, ungeachtet dessen, ob sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen oder nicht, jedenfalls einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen als die entsprechenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakte. Ein zusätzlicher, bislang nicht eigens thematisierter Unterschied zu den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten offenbart sich dann, wenn man nochmals vertiefend auf die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge eingeht, durch die die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts an den Volkswillen rückgebunden werden. Denn die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation, die einem innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts in dezisionärer wie auch in revisionärer Hinsicht zuwächst, fällt deutlich gegen diejenige ab, die bei rein innerstaatlichen Normen, also bei Gesetzen beziehungsweise Verordnungen, zu konstatieren ist  – und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Norm­ setzungsakt handelt, der dem Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung zuzurechnen ist oder nicht. Dafür gibt es einen doppelten Grund: Erstens büßt der durch eine Kontrollmöglichkeit bewirkte ‚sanfte Zwang‘ zur Anpassung an den Volkswillen in dem Maße an Effektivität und Nachhaltigkeit ein, in dem die Wahrscheinlichkeit einer Sanktion durch die kontrollierende Instanz abnimmt604. Dies wiederum ist namentlich für den Fall anzunehmen, dass ein von den kontrollierten Instanzen herbeigeführter fait accompli auch durch eine nachgängige Kontrollmaßnahme nicht mehr beseitigt werden könnte. Dem entspricht tendenziell die Situation beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Die Motivation der kontrollierenden Instanzen, die vertragsschließenden Organe für etwas abzustrafen, was de facto kaum noch rückgängig gemacht werden kann, ist typischerweise geringer, als wenn durch eine Kontrollmaßnahme eine Umsteuerung relativ umstandsloser bewirkt 604

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419.

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werden kann605. Schon aus diesem Grund erweist sich die materiell-kontrollative Legitimation in den hier in Rede stehenden Konstellationen als nur bedingt wirkungsvoll. Hinzu tritt zweitens, dass völkerrechtliche Verträge das Ergebnis von Verhandlungen mit den Regierungsvertretern fremder Staaten sind. Auch dadurch werden Effektivität und Nachhaltigkeit materiell-kontrollativer Legitimation geschwächt. Denn die vertragsschließenden Organe können gegenüber den sie kontrollierenden Instanzen stets geltend machen, dass sie sich nur aufgrund unumgänglicher Kompromisse mit einem bestimmten Verhandlungsergebnis abgefunden haben. Durch Einlassungen wie diese aber wird die Kontrolle der vertragsschließenden Organe erheblich erschwert und mithin auch die legitimierende Wirkung der Kontroll­ möglichkeit gemindert606.

d) Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit Ein im Vergleich zu den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten durchgängig abgesenktes Niveau demokratischer Legitimation weisen die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts schließlich auch insofern auf, als es die Störungsanfälligkeit revisionärer Legitimation anbelangt. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass die Revisionsmacht in Hinblick auf innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts bei einer Mehrheit von Völkern liegt. Denn infolgedessen werden die fraglichen Normsetzungsakte ungleich stärker von revisionär bedingter Störungsanfälligkeit geprägt, als dies bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten jemals der Fall sein kann607. Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass die Revisionsmacht bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gleichfalls bei einer Mehrheit von Völkern liegen kann, nämlich bei Bundesvolk und den Landesvölkern. Zwar werden die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte infolgedessen in mehr oder minder großem Umfang durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit geprägt. Dies gilt jedoch in exakt demselben Umfang auch für die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts. Denn Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG sowie Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 80 Abs. 2 GG sorgen dafür, dass der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte in gleicher Weise erfasst wie entsprechende rein innerstaatliche Normsetzungsakte.

605

Siehe dazu etwa Tomuschat (Fn. 509), S. 28. Zu diesem Phänomen der „Politikverflechtung“ wegweisend Scharpf, zum Beispiel in seinem Beitrag: Demokratie in der transnationalen Politik, in: Streek (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie, 1998, S. 59 (153). 607 Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (1) = S. 477. 606

824

Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Infolgedessen wird das Mehr an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, das die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts aufgrund ihrer Rückkoppelung an untereinander fremde Völker charakterisiert, unter den vom Grundgesetz etablierten Bedingungen niemals dadurch konsumiert, dass rein innerstaatliche Normsetzungsakte ebenfalls in mehr oder minder großem Umfang an eine Völkermehrheit rückgebunden sind608. Allerdings ist die Verortung der Revisionsmacht bei einer Mehrheit untereinander fremder Völker nicht der alleinige Grund, weshalb innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts in durchweg stärkerem Maß durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit geprägt sind als rein innerstaatliche Normsetzungsakte. So sind die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, auch deshalb störungsanfälliger, weil sie partiell nur durch Zusammenwirken von Exekutive und Bundestag revidiert werden können. Der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit nämlich steigt, wenn mehrere Organe gemeinsam die Revisionsmacht ausüben. Freilich ist der Unterschied zwischen innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts und rein innerstaatlichen Normsetzungsakten insoweit nicht allzu groß, weil die Regierung einseitig vom Parlament abhängt und sich das relative Mehr an revisionär bedingter Störungs­ anfälligkeit infolgedessen in Grenzen hält609. Dass innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, in größerem Umfang als die entsprechenden rein innerstaatlichen Rechtsverordnungen durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit geprägt sind, hat  – abgesehen von der Verortung der Revisionsmacht bei einer Volksmehrheit – noch zwei weitere Gründe. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass völkerrechtsvertraglich 608 Beispielhaft veranschaulichen lässt sich dies, wenn man einen gleichermaßen vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung sowie vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfassten rein innerstaatlichen Normsetzungsakt mit einem innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts vergleicht, der ebenfalls diesen beiden Vorbehalten unterfällt. Soweit es um die Aufhebung dieser Normsetzungsakte oder aber um eine solche Änderung geht, die erstens nicht schon selbst den Zustimmungsvorbehalt auslöst, zweitens keine Bestimmung modifiziert, die seinerzeit die Zustimmungsbedürftigkeit des abzuändernden Gesetzes ausgelöst hat und drittens auch zu keiner wesentlichen Änderung des abzuändernden Normsetzungsakts führt, so wird weder der rein innerstaatliche noch der völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakt von einem auf die Korevisionsmacht des Bundesrats zurückführenden, relativ störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhang geprägt. Dies ist bei beiden in Rede stehenden Normsetzungsakten nur insoweit der Fall, als es um sonstige Änderungen geht. Hieraus erhellt exemplarisch, dass die mit der Korevisionsmacht des Bundesrats korrelierende Zunahme revisionär bedingter Störungsanfälligkeit die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte in exakt demselben Umfang betrifft wie die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts. 609 Hierzu oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (3) = S. 478.

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deter­minierte Normsetzungsakte nicht anders als rein innerstaatliche Normsetzungsakte unter anderem aufgrund der Änderungsbefugnis revisionär rückgebunden werden, die im Rahmen parlamentsgesetzlicher Ermächtigung der Exekutive zusteht. Im Fall der innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts steht dieser revisionäre Legitimationszusammenhang allerdings allein, während Rechtsverordnungen insoweit zusätzlich noch über das parlamentarische Zugriffsrecht revisionär rückgebunden werden. Infolgedessen erwachsen Rechtsverordnungen in etwas geringerem Umfang in revisionär bedingter Störungsanfälligkeit als völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts. Denn ein zusätzlicher revisionärer Legitimationszusammenhang begrenzt den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit selbst dann immerhin leicht, wenn – wie dies in der hier interessierenden Konstellation bezüglich der Rechtsverordnungen der Fall ist – der zusätzliche revisionäre Legitimationsstrang wegen des mangelnden Näheverhältnisses zwischen Revisionsinstanz und legitimationsbedürftigem Hoheitsakt nur gering ist610. Zum anderen weisen innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völker­ vertragsrechts auch dort einen größeren Umfang revisionär bedingter Störungs­ anfälligkeit auf als rein innerstaatliche Rechtsverordnungen, wo sie nicht allein über die Änderungsbefugnis der Exekutive revisionär an den Volkswillen rückgebunden werden. Denn insoweit beruht im Falle der völkerrechtsvertraglich determinierten Normsetzungsakte die revisionäre Legitimation partiell auf der gemeinsam von Exekutive und gesetzgebenden Körperschaften ausgeübten Vertragsänderungsmacht, wohingegen bei Rechtsverordnungen allein die gesetzgebenden Körperschaften revisionsbefugt sind. Die Ausübung der Revisionsmacht durch mehr als ein Organ führt freilich auch in diesem Fall zu einer Erhöhung revisionär bedingter Störungsanfälligkeit.

e) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation Die meisten Anforderungen, die das Grundgesetz an die demokratische Qua­ lität der Staats- und Gesellschaftsorganisation stellt, gelten im Grunde für alle innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten gleichermaßen611. Insofern kann auch für die völkerrechtsvertraglich determinierten Normen auf die oben bereits getroffenen Feststellungen verwiesen werden612. Unterschiede zwischen den verschiedenen innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten ergeben sich indes zum einen hinsichtlich der staatsorganisatorischen Wahlrechtsgleichheit, zum anderen in Hinblick auf die staatsorganisatorischen Publizitätsanforderungen. In dieser

610

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) bb) = S. 473. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. d) = S. 760. 612 Ebd.

611

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Hinsicht kann auch das Legitimationsniveau der innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts variieren. Soweit der Bundesrat am Abschluss von Völkerrechtsverträgen oder Verwaltungsabkommen entscheidend mitwirkt, wird – wie dies auch bei seiner Mitwirkung an rein innerstaatlichen Normsetzungsakten der Fall ist613 – vom demokratischen Prinzip der Stimmengleichheit abgewichen. Die Zustimmungsbedürftigkeit völkerrechtlicher Verträge und Abkommen führen folglich zu einer Absenkung des Legitimationsniveaus, das die grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen normalerweise für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsehen. Des Weiteren sind die grundgesetzlichen Anforderungen an die staatsorganisatorische Publizität bei völkerrechtsvertraglich determinierten Normen, die dem Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung zuzurechnen sind, grundgesetzlich schwächer ausgeprägt als bei rein innerstaatlichen Normen aus diesem Bereich. Denn die für den Inhalt des völkerrechtlichen Vertrags maßgeblichen Verhandlungen mit den Vertretern der auswärtigen Vertragspartei finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt614. Perfekte Verfahrensöffentlichkeit, wie sie die rein innerstaatlichen Parlamentsgesetze weitgehend prägt615, bricht sich bei den parlamentsgesetzlich rezipierten Normen des Völkervertragsrechts folglich nur sehr partiell Bahn616. Sie kommt lediglich in dem Umfang zum Tragen, wie der Bundestag und gegebenenfalls der Bundesrat über die Zustimmung zu dem (geheim-)diplomatisch ausverhandelten Vertragswerk beratschlagen617. Werden im Bereich des relativen Vorbehalts parlamentarischer Normierung völkerrechtliche Verträge aufgrund einer vorhandenen Verordnungsermächtigung abgeschlossen, so erschöpft sich die staatsorganisatorische Publizität, sofern der Vertragsschluss nicht zusätzlich der Zustimmung des Bundesrats bedarf, im Erfordernis der Promulgation und damit in – perfekter – Ergebnisöffentlichkeit: Die das normative Verwaltungsabkommen transformierende Rechtsverordnung muss lediglich adäquat veröffentlicht werden618. Insofern besteht indes kein Unterschied zur Verfassungsrechtslage bei rein innerstaatlichen Rechtsverordnungen, für die jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung ebenfalls nur, aber immerhin perfekte Ergebnisöffentlichkeit vorgesehen ist619. Und strukturell genauso wie bei den rein innerstaatlichen Rechtsverordnungen kommt es dann doch wieder zu einer gewissen Anhebung des Legitimations­ niveaus, wenn es sich um solche normative Verwaltungsabkommen handelt, die 613

Dazu oben Kapitel 10 III. 1. d) aa) = S. 761. Schweisfurth (Fn. 455), 4. Kap. / Rn. 16. 615 Dazu oben Kapitel 10 III. 1. d) cc) = S. 763. 616 Siehe dazu auch Riemann (Fn. 106), S. 59 f. 617 Vgl. dazu Streinz (Fn. 150), Rn. 51. 618 Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GG. 619 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. d) cc) = S. 763.

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der vorgängigen Zustimmung des Bundesrats bedürfen620. Zwar bewirkt die Mitherrschaft des öffentlich tagenden und nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips entscheidenden Bundesrats auch hier, dass die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts teilweise nur noch in semiperfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen. Schließlich erschließt sich den Landesvölkern und den ihnen vorgeschalteten Landesöffentlichkeiten allein aus der amtlichen Bekanntmachung nicht, ob ihr jeweiliger Bundesratsvertreter für den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts demokratisch haftbar gemacht werden kann. Es bedarf insofern vielmehr eines zusätzlichen Re­kurses auf die Bundesratsprotokolle. Jedoch bedingt die Mitwirkung des Bundesrats, dass die ansonsten geltende reine Ergebnisöffentlichkeit zugunsten dynamischer Öffentlichkeit aufgelockert wird. Mit Rücksicht auf den Mehrwert der Verfahrens- gegenüber der Ergebnisöffentlichkeit621 ist daher für die fraglichen Normsetzungsakte tatsächlich davon auszugehen, dass ihnen diesseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung ein demokratisch gewichtigeres Maß an staatsorganisatorischer Öffentlichkeit zukommt als jenseits.

3. Rückschluss auf das bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotene Legitimationsniveau Nach allem lässt Art. 59 Abs. 2 GG den Schluss zu, dass das Grundgesetz für innerstaatlich rezipierte Normen des Völkervertragsrechts ein im Vergleich zu den genuin innerstaatlichen Normsetzungsakten insgesamt deutlich abgesenktes Niveau demokratischer Legitimation ausreichen lässt. Dies gilt vor allem für das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation622. Dass das Grundgesetz demnach bei den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten teils erhebliche Abstriche an Demokratie toleriert, darf nun freilich nicht unkon­ trolliert verallgemeinert werden. Um das bei innerstaatlich wirksamen Normensetzungsakten normalerweise gebotene Niveau demokratischer Legitimation zutreffend beschreiben zu können, muss sowohl das bei den innerstaatlich rezipierten Normen völkerrechtsvertraglicher Herkunft geforderte als auch das bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten gebotene Legitimationsniveau in den Blick genommen werden. Erst eine sinnvolle Synthese dieser beiden Legitimationsniveaus ermöglicht es, das bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotene Legitimationsniveau generell zu präzisieren.

620

Zu diesen Pernice (Fn. 432), Rn 50. Dazu oben Kapitel 10 III. 1. d) cc) = S. 763. 622 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. b) = S. 788.

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a) Erforderlichkeit einer synthetisierenden Betrachtung der verschiedenen Legitimationsniveaus auch in Ansehung der EG-Normsetzung Ein Rekurs allein auf das in Art. 59 GG determinierte Legitimationsniveau verbietet sich auch insofern, als es um die hier interessierende Frage nach der demokratischen Legitimation von EG-Normsetzungsakten geht. Zwar handelt es sich bei den Normsetzungsakten der EG ebenso wie bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts um Bestimmungen überstaatlicher Provenienz, bei denen, staatsverfassungsrechtlich gesehen, die Anforderungen demokratischer Legitimität mit den Besonderheiten überstaatlicher Normschöpfung in Einklang gebracht werden müssen. Wenn nun das Grundgesetz in Art. 59 GG präzisiert, wie dem demokratischen Prinzip in Hinblick auf einen zentralen Typus überstaatlicher Normierung, nämlich den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, Rechnung zu tragen ist, so steht außer Frage, dass das EG-spezifische Gebot demokratischer Normsetzung immer auch im Licht von Art.  59  GG konkretisiert werden muss. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass es sich bei Art. 59 GG um eine regelungsspezifische Konkretisierung des grundgesetzlichen Prinzips der Volks­ souveränität handelt623. Denn diese Verfassungsbestimmung trifft demokratische Vorgaben nur im Hinblick auf solche Regelungen, die auf der staatlichen Teilnahme am Völkerrechtsverkehr beruhen und sich insofern als Produkt der auswärtigen Gewalt darstellen. Hieraus erhellt, dass sich das bei EG-Normsetzungsakten normalerweise gebotene Niveau demokratischer Legitimation nicht ausschließlich aus Art. 59 GG erschließen lässt. Denn als Teilnahme am Völkerrechtsverkehr und mithin als auswärtige Angelegenheit lässt sich die EG-Normsetzung nur partiell begreifen. Zwar ist nicht weiter zweifelhaft, dass die EG-Normsetzung genetisch auf der Teilnahme Deutschlands am Völkerrechtsverkehr beruht624, sie staatsverfassungsrechtlich nicht ohne Weiteres von dieser völkerrechtsvertraglichen Basis abgelöst werden darf625 und im Übrigen das Tätigwerden der Regierungsexekutive im EG-Normsetzungsprozess zumindest vom Ansatz her als Ausübung auswärtiger Gewalt gewertet werden kann626. Jedoch ergibt sich aus der Präambel sowie neuerdings auch aus Art. 23 Abs. 1 GG, dass die europäische Integration und mithin auch die EG-Normsetzung mehr darstellen als eine besondere Form national 623 Und nicht um ein allgemein gültiges „Paradigma (…) für die Koppelung exekutiver Flexibilität und demokratischer Legitimation“, wie Kuhl (Fn. 359), S. 150 im Schlusssatz seiner Dissertationsschrift vermeint. 624 Vgl. BVerfGE 89, 155 (181); dazu, dass das Gemeinschaftsrecht weiterhin am „völkerrechtlichen Lebensfaden“ hängt, siehe Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 7 Rn.  20, auch Wichard, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 281 Rn. 15. 625 Eingehend dazu unten Kapitel 14 III. 1. a) = S. 1249; vgl. vorläufig nur zu der damit zusammenhängenden Frage einer Bundesstaatswerdung Europas überblicksartig Brockmeyer (Fn. 9), Rn. 5a. 626 So etwa Wolfrum (Fn. 495), S. 693; dazu auch Calliess (Fn. 475), Rn. 13 f.

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staatlicher Teilnahme am völkerrechtlichen Verkehr, die von der auswärtigen Gewalt ins Werk gesetzt wird627. In diesen Bestimmungen ist vom vereinten Europa, von der EU die Rede und wird der so umschriebene europäische Hoheitsverband staatsrechtlichen Prinzipien unterworfen. Bereits die grundgesetzliche Diktion verdeutlicht insofern, dass sich die EG-Normsetzung nicht (mehr) pauschal demjenigen Regelungstyp zuordnen lässt, für den Art.  59  GG Geltung beansprucht628. Daher bleibt es dabei, dass auch zur Konkretisierung der grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung zunächst das bei (allen) innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise ge­ botene Niveau demokratischer Legitimation generell zu rekonstruieren ist. Dazu ist das Legitimationsniveau rein innerstaatlicher Normsetzungsakte und dasjenige innerstaatlich rezipierter Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts zu synthe­ tisieren. Vor dem Hintergrund einer derartigen Synthese kann dann a maiore ad minus jeweils präzisiert werden, welches Legitimationsniveau das Grundgesetz normalerweise für eine beliebige innerstaatlich anwendbare Norm und damit auch für die verschiedenen EG-Normsetzungsakte vorsieht.

b) Synthetisierung der für die unterschiedlichen innerstaatlichen Normsetzungstypen maßgeblichen Legitimationsniveaus Die demnach auch in Ansehung der EG-Normsetzung unverzichtbare Synthese der beiden vorstehend ausführlich beschriebenen Legitimationsniveaus lässt sich realisieren, indem man eine Antwort auf folgende Frage bietet: Unter welchen Voraussetzungen wird das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation nicht von dem bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten vorgesehenen, vergleichsweise hohen Legitimationsniveau bestimmt, sondern durch dasjenige Legitimationsniveau determiniert, das Art. 59 Abs. 2 GG für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht? Dabei zeigt sich, dass die Relativierbarkeit des grundgesetzlichen Normalmaßes auf das in Art. 59 Abs. 2 GG vorgegebene Legitimationsniveau entscheidend vom Regelungsgehalt der betreffenden legitimationsbedürftigen Norm abhängt629: Eine Abschwächung des für rein innerstaatliche Normsetzungsakte charakteristischen Niveaus demokratischer Legitimation auf das nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG gebotene erscheint nämlich dann als grundgesetzlich normal, wenn die 627

Vgl. dazu auch Hesse (Fn. 72), Rn. 105. Zum Verhältnis von Völkerrecht und Gemeinschaftsrecht siehe etwa Wichard, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 281 Rn. 12 ff. 629 Dies kann nicht weiter verwundern, variieren doch auch die Legitimationsniveaus bei rein innerstaatlichen sowie bei völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten in Abhängigkeit vom Regelungsgehalt der betreffenden Norm. 628

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betreffende Norm Ausfluss einer transnationalen Regelung ist und das hierdurch geregelte Sachproblem nach dem damaligen Stand der internationalen Beziehungen auch schon zur Entstehungszeit des Grundgesetzes Gegenstand eines völkerrechtlichen Vertrags geworden wäre. Dieser Ansatz zur Synthetisierung des für innerstaatliche Normsetzungsakte grundgesetzlich normalen Legitimationsniveaus bedarf in einer Hinsicht der näheren Begründung. Es mag nämlich nicht ohne Weiteres verständlich und nachvollziehbar sein, weshalb die Relativierbarkeit des grundgesetzlichen Normalmaßes auf das durch Art. 59 Abs. 2 GG entfaltete Legitimationsniveau davon abhängen soll, dass die transnationale Norm, deren grundgesetzlich hinreichende Legitimation auf dem Prüfstand steht, auch schon bei Inkrafttreten des Grundgesetzes völkerrechtsvertraglich geregelt worden wäre. Hierzu ist zu bemerken, dass die Verfassungseinzelbestimmungen, die das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation ausprägen, auf einer Entscheidung des historischen Verfassunggebers darüber beruhen, wie Demokratie unter der Herrschaft des Grundgesetzes im Einzelnen Gestalt annehmen soll. Diese Entscheidung des Volks als Träger des pouvoir constituant ist vor dem Hintergrund einer bestimmten Realität getroffen worden. Von dieser kann nicht abstrahiert werden, wenn man den Vorrang der Verfassung630 ernst nimmt, der immer auch der des Verfassunggebers vor den pouvoirs constitués ist631. Denn aufgrund gewandelter Realitäten kann ein Normenzusammenhang einen ganz anderen als den intendierten Sinn annehmen, wenn er vordergründig beim bloßen Wortlaut genommen und ohne Rücksicht auf die unausgesprochenen Realprämissen des Normstifters konkretisiert wird. Es ist daher nur konsequent, wenn bei der Re­ konstruktion des grundgesetzlich als normal anzusehenden Legitimationsniveaus mit bedacht wird, welche Realsituation der Verfassunggeber vor Augen hatte, als er die demokratische Architektur des Grundgesetzes entwarf. Nun lässt sich bei völkerrechtsgeschichtlicher Rückbetrachtung feststellen, dass in der zweiten Hälfte des neunzehnten und im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts drei Typen von völkerrechtlichen Verträgen relativ verbreitet waren632. Es waren dies erstens hochpolitische Verträge wie etwa Friedens-, Bündnis- oder Neutralitätsverträge633, zweitens Handelsverträge, die dem Freihandelsgedanken verpflichtet waren und Meistbegünstigungsklauseln enthielten634, sowie 630 Zu diesem etwa Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn.  26 ff.; ders., Artikel ‚Verfassung‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd.  5, 7. Aufl. 1989, Sp. 633 (635); auch Ossenbühl (Fn. 306), Rn. 2. 631 Grundlegend Abendroth (Fn. 38), S. 14 ff. 632 Siehe dazu etwa Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, S. 180 ff. sowie Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 604 und passim. 633 Dazu etwa Nussbaum, A Concise History of the Law of Nations, 2. Aufl. 1954, S. 186 ff. und 251 ff. 634 Nussbaum (Fn. 633), S. 203 ff.; auch Schweisfurth (Fn. 455), 19. Kap. / Rn. 2.

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drittens Abkommen fremdenrechtlicher Natur635. In anderen Sachbereichen kamen völkerrechtliche Verträge zwar ebenfalls vor. Beispielhaft erwähnt seien die bereits zu diesem Zeitpunkt geltenden Umweltschutzkonventionen636. Jedoch kam diesen Verträgen noch Ausnahmecharakter zu637. Für die Frage, in welchen Konstellationen eine Abschwächung des demokra­ tischen Legitimationsniveaus auf das nach Art. 59 Abs. 2 GG charakteristische als grundgesetzlich normal gewertet werden kann, ergibt sich vor diesem Hintergrund folgendes Bild: Grundgesetzlich normal und damit verfassungsrechtlich ohne weitere Rechtfertigung zulässig ist es, wenn statt eines Handelsabkommens zur Überwindung von Handelshemmnissen oder anstelle einer völkerrechtlichen Verein­ barung über die Behandlung von Angehörigen des jeweils anderen Vertragsstaats im Inland ein transnationaler Hoheitsakt innerstaatlich in Geltung erwächst, der dasselbe Legitimationsniveau aufweist wie eine entsprechende in die innerstaat­ liche Rechtsordnung einbezogene völkerrechtsvertragliche Bestimmung638. In anderen Sachbereichen als denen der Freihandelsverträge und des Fremdenrechts entspricht es hingegen nur unter Umständen dem bei innerstaatlich wirk­ samen Normsetzungsakten von Grundgesetzes wegen normalerweise gebotenen Niveau demokratischer Legitimation, wenn eine transnational determinierte Norm lediglich das in Art. 59 Abs. 2 vorgegebene Maß an Demokratie erreicht und also nicht zu dem für rein innerstaatliche Normsetzungsakte geltenden aufschließt. Denn in den übrigen Sachbereichen kam völkerrechtsvertraglichen Regulierungen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Grundgesetzentstehung lediglich Ausnahmecharakter zu. In diesen Sachbereichen kann eine Absenkung auf das durch Art. 59 GG vorgegebene Legitimationsniveau folglich nur solange als grundgesetzlich normal und damit ohne Rechtfertigung statthaft angesehen werden, wie den legitimations­ bedürftigen Normen transnationaler Provenienz Ausnahmecharakter zukommt. Sobald sie sich nach Zahl, Regelungsumfang und Regelungsintensität nicht mehr als Ausnahmefall darstellen, ändert sich diesbezüglich auch das insoweit von Grundgesetzes wegen normalerweise gebotene Legitimationsniveau. Dieses be 635

Dabei handelte es sich typischerweise um Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge (siehe nochmals Nussbaum [Fn. 633], S. 204 ff.). 636 Zum Beispiel Vertrag betreffend die Lachsfischerei im Stromgebiet des Rheins vom 30. Juni 1886 (RGBl. 1906, S. 89) oder Convention for the Preservation of Wild Animals, Birds and Fish in Africa vom 19. Mai 1900 (132 CTS 359). 637 Insgesamt betrachtet ist der internationale Umweltschutz einer der neuesten Regelungs­ bereiche des besonderen Umweltvölkerrechts (so zutreffend Schweisfurth [Fn. 455], 20. Kap. /  Rn. 2). 638 Auf die dritte Kategorie völkerrechtlicher Verträge, die schon bei Inkrafttreten des Grundgesetzes breite Verbreitung gefunden hatte, braucht im hiesigen Kontext nicht weiter eingegangen zu werden. Denn diese völkerrechtlichen Verträge treffen typischerweise keine Regelungen, die Inhalt von EG-Normsetzungsakten im hier zugrunde gelegten Sinn sein könnten. Sie enthalten in aller Regel keine Rechtsnormen.

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stimmt sich dann nach den für die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte geltenden Legitimationsanforderungen. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass es entscheidend vom Regelungsgehalt einer transnationalen Norm abhängt, ob sich das insoweit maßgebliche grundgesetzliche Normalmaß nach dem für rein innerstaatliche Normsetzungsakte maßgeblichen Legitimationsniveau richtet oder aber auf das Art. 59 Abs. 2 GG gemäße Legitimationsniveau relativierbar ist.

c) Übertragung der Ergebnisse auf die EG-Normsetzung Wendet man den vorstehend skizzierten Synthetisierungsansatz auf die hier inter­ essierende EG-Normsetzung an, so ist zunächst zu konstatieren, dass sich das insofern grundgesetzlich normale Legitimationsniveau immerhin dort nach dem Maßstab des Art. 59 Abs. 2 GG bemisst, wo EG-Normsetzungsakte auf die Errichtung des Binnenmarkts639 und namentlich auch auf die Realisierung der Grundfreiheiten abzielen. Denn die EG-Normsetzungsakte, die die Errichtung des Binnenmarkts bezwecken, führen in gewisser Hinsicht die Praxis der Freihandelsverträge fort, die in der Zeit vor Entstehen des Grundgesetzes bereits einmal fest etabliert gewesen war640 und in der unmittelbaren Entstehungszeit des Grundgesetzes neu begründet wurde641. Ebenfalls in diese Freihandelstradition einordnen lassen sich die EG-Normsetzungsakte, die der Entfaltung der Grundfreiheiten dienen642. Bei ihnen kommt ergänzend noch hinzu, dass sie zugleich an die Tradition fremdenrechtlicher Völkerrechtsübereinkünfte anknüpft643. Schließlich regeln die die Grundfreiheiten entfaltenden EG-Normsetzungsakte ihrer historischen Stoßrichtung nach, wie die Angehörigen eines anderen EU-Mitgliedstaats im Inland behandelt werden sollen644. Es sind mit anderen Worten die im Folgenden sogenannten wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte, bei denen sich das grundgesetzliche Normalniveau jedenfalls nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG bestimmt. Soweit EG-Normsetzungsakte hingegen andere Sachbereiche als den der Binnenmarktverwirklichung im Allgemeinen und der Konkretisierung der Grundfrei 639 Dabei wird vom Binnenmarktverständnis des Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EGV ausgegangen; dazu etwa Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 3 EGV Rn. 12 ff. 640 Dazu etwa v. Keller, Artikel ‚Handelsverträge‘, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1960, S. 765 (766 f.). 641 Zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade – GATT) in geschichtlicher Rückschau Neugärtner, GATT 1947, in: Hilf / Oeter (Hrsg.), WTO-Recht, 2005, § 5 Rn. 1 ff. 642 Also etwa Normsetzungsakte, die sich auf Art. 18 Abs. 2, 40, 42, 44 Abs. 1, 47, 52 Abs.1 und 55 EGV stützen. 643 Vgl. dazu speziell im Hinblick auf Art. 39 und 43 EGV Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2007, § 27 Rn. 2. 644 Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 17 Rn. 69 ff.

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heiten im Besonderen betreffen, wird man nicht (mehr) davon ausgehen können, dass sich das grundgesetzliche Normalmaß nach Art. 59 Abs. 2 GG bemisst. Vielmehr ist insofern auf das für rein innerstaatliche Normsetzungsakte maßgebliche Legitimationsniveau abzustellen. Denn soweit die EG heutzutage in bestimmten Sachbereichen Normsetzungsbefugnisse besitzt, kommt EG-Normsetzungsakten insofern kein Ausnahmecharakter mehr zu. Damit hat sich jedenfalls in den Sachbereichen, die nicht die transnationalen Handelsbeziehungen betreffen und auch nicht fremdenrechtlich geprägt sind, die Realität der internationalen Beziehungen seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes grundlegend gewandelt645. Vor diesem Hintergrund würden die demokratischen Wertungen des Verfassunggebers unterlaufen, wenn man auch in anderen Regelungsbereichen als denen der Binnenmarktrealisierung und der Konkretisierung von Grundfreiheiten das durch Art. 59 Abs.  2  GG vorgegebene Legitimationsniveau als grundgesetzliches Normalmaß gelten ließe. Denn der Verfassunggeber ging angesichts des damaligen Entwicklungsstands der internationalen Beziehungen wie selbstverständlich davon aus, dass insofern in aller Regel rein innerstaatliche Normsetzungsakte mit ihrem spezifischen Legitimationsniveau zum Tragen kommen. Die EG-Normsetzungsakte, die nicht wesensmäßig marktkonstituierend sind und bei denen sich das grundgesetzliche Normalmaß daher nicht anders als bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten bemisst, werden im Folgenden als potenziell marktinterventionistische in Bezug genommen. Damit ist im groben Aufriss dargelegt, dass und weshalb das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation in der skizzierten Weise zu splitten ist. Im Folgenden sollen allerdings noch drei Aspekte vertieft werden. So interessiert erstens, seit wann für die EG von diesem gesplitteten Normalmaß demokratischer Legitimation auszugehen ist. Zweitens soll kurz der Frage nachgegangen werden, ob sich das grundgesetzliche Normalmaß nicht auch im Fall der EG-Normsetzungsakte nach Kapitel IV des EGV anhand von Art. 59 Abs. 2 GG bestimmt. Drittens und vor allem werden die beiden eingeführten, weichenstellenden Kategorien der wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte näher beleuchtet. aa) Die Aufsplittung des grundgesetzlichen Normalmaßes Zu einer erheblichen Ausweitung der nomsetzerischen Tätigkeiten der EG auch außerhalb von Freihandel und Grundfreiheiten, also jenseits der wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte646, ist es im Gefolge der Einheit­ 645 So wirft Calliess (Fn. 475), Rn. 12 mit einigem Recht die Frage auf, „ob Europapolitik überhaupt noch Außenpolitik und nicht bereits Innenpolitik ist.“ 646 Diese sind die cause d’être des europäischen Integrationsverbunds, dazu lehrreich Sbragia, Building Markets and Comparative Regionalism, in: Jachtenfuchs / Knodt (Hrsg.), Regieren in internationalen Institutionen, 2002, S. 235 (240); auch Scharpf, Demokratische Politik

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lichen Europäischen Akte gekommen647. So sind der EWG / EG aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte zusätzliche Normsetzungskompetenzen, insbesondere im Umweltschutz- und Forschungsbereich, zugewachsen648. Zwar war die EWG / EG teilweise auch schon früher in diesen ihr ausdrücklich erst durch die Einheitliche Europäische Akte zuerkannten Kompetenzbereichen normsetzerisch tätig geworden, nämlich insbesondere aufgrund von Art.  100 EWGV (= Art. 94 EGV) und 235 EWGV (= Art. 308 EGV)649. Allerdings hatte die EG insofern nur eher sektorielle und wenig kohärente Regelungen geschaffen650. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt beide Ermächtigungsnormen  – also nicht nur Art.  100 EWGV (= Art.  94 EGV), sondern auch Art. 235 EWGV (= Art. 308 EGV) – durch einen relativ starken Marktbezug geprägt waren651, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt der Kompetenzrahmen doch deutlich enger war als nach Inkrafttreten der Einheit­ lichen Europäischen Akte. Dass speziell auch Art. 235 EWGV (= Art. 308 EGV) zum damaligen Zeitpunkt eine grundsätzlich marktbezogene Kompetenzvorschrift beinhaltete, ergibt sich dabei nicht etwa aus der bloßen normtextuellen Inbezugnahme des Gemeinsamen Marktes, sondern entscheidend daraus, dass die für die inhaltliche Beschränkung dieser Ermächtigungsnorm maßgeblichen Ziele der Gemeinschaft damals noch ungleich stärker durch die Vorstellung einer wirtschaft­ lichen Gemeinschaft geprägt waren652. in Europa, in: Grimm u. a., Zur Neuordnung der Europäischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S. 65 (73). 647 Wagener / Eger / Fritz, Europäische Integration, 2006, S. 127 ff.; Kellerhals, Wirtschaftsrecht und Europäische Integration, 2006, S. 299 f. mit Fn. 1225; Schachtschneider / Fritsche – Emmerich / Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: JZ 1993, S. 751 f.; ders., Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, in: APuZ 1993, B 28, S. 3 (6); Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 36. 648 Übersicht über die durch die in der EEA getroffenen Regelungen Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 58 f. und v. Welck, Die Bundesländer und die Einheitliche Europäische Akte, 1991, S. 50 ff. Zur Ausweitung der umweltrechtlichen Normsetzungstätigkeit der EG im Gefolge der EEA Majone, The European Union: Positive State or Regulatory State?, in: Antalovsky / Melchior / Puntscher Riekmann (Hrsg.), Inte­gration durch Demokratie,1997, 149 (158). Vgl. zusammenfassend auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2000, S. 1561. 649 Dazu etwa Finger, Europäische Zertifikatmärkte und Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 103 f.; Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn. 609 f.; Bleckmann, Politische Aspekte der europäischen Integration unter dem Vorzeichen des Binnenmarkts 1992, in: ZRP 1990, S. 265; Nugent (Fn. 648), S. 296; Oppermann (Fn. 624), § 29 Rn. 1; Ipsen (Fn. 147), Rn. 52 f. 650 So Calliess, in: ders. / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 175 Rn. 3 für den zentralen Bereich des Umweltrechts. 651 Hierzu Majone (Fn. 648), S. 158. 652 Siehe dazu die ursprüngliche Fassung des Art. 2 EWGV: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und eine engere Beziehung zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.“

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Mit der Einheitlichen Europäischen Akte hat die EG-Normsetzung somit auch außerhalb von Binnenmarkt und Grundfreiheiten, auch jenseits der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte ihren Ausnahmecharakter eingebüßt653. Seit diesem Zeitpunkt lässt sich das für EG-Normsetzungsakte grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß demokratischer Legitimation denn auch nicht mehr einheitlich von Art. 59 Abs. 2 GG her konkretisieren, sondern ist partiell ein Rekurs auf das für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorgegebene Legitimationsniveau geboten654.

bb) EG-Normsetzungsakte nach Kapitel IV des EGV Zumindest auf den ersten Blick mag es als fraglich erscheinen, ob sich das grundgesetzliche Normalmaß nicht auch in Hinblick auf solche EG-Normsetzungsakte weiterhin nach Art. 59 Abs. 2 GG bestimmt, die unter Titel IV des EGV ergehen, der mit ‚Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personen‘ überschrieben ist. Denn wenigstens prima facie könnte man geneigt sein, darin eine Fortführung der bereits zur Entstehungszeit des Grundgesetzes etablierten fremdenrechtlichen Vertragspraxis zu sehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings rasch, dass es insofern um Normsetzungsbefugnisse geht, die sich immer auch und sogar schwerpunktmäßig auf Drittstaatsangehörige beziehen655. Dies liegt quer zu der bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geübten fremdenrechtlichen Vertragspraxis. Denn diese war durch den Reziprozitätsgedanken geprägt656. Es bleibt daher dabei, dass das grundgesetzliche Normalmaß nur in den Bereichen der Binnenmarktrealisierung beziehungsweise der Konkretisierung der Grundfreiheiten nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG, in allen anderen Bereichen aber nach den für die rein innerstaatliche Normsetzung geltenden Verfassungseinzelbestimmungen zu bemessen ist.

653

Zum Zäsurcharakter der Einheitlichen Europäischen Akte auch Haltern, Europarecht, 2.  Aufl. 2007, Rn.  86 ff. sowie Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 125. 654 Vgl. auch Kohler-Koch / Conzelmann / Knodt, Europäische Integration – Europäisches Regieren, 2004, S. 152 f.: „Keinesfalls lässt sich die EG heute noch als reines Freihandelsregime begreifen …“; ferner Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Fiedler / ders. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Geck, 1989, S.  625 (627): „Die Einheitliche Europäische Akte und die mit ihr eintretende Strukturveränderung der Gemeinschaft werfen daher die Frage auf, wieweit eine solche ‚Législation du Gouvernement‘ (Gesetzgebungsbefugnis der Exekutive) mit immanenten Prinzipien des europäischen Gemeinschaftsrechts und des nationalen Verfassungsrechts vereinbar ist.“ 655 Vgl. etwa Art. 61 Buchst. b, Art. 62 Nr. 2 Buchst. b und Nr. 3 sowie Art. 63. 656 Siehe Schaumann, Artikel ‚Gegenseitigkeit‘, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1960, S. 630 f.

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cc) Wesensmäßig marktkonstituierende und potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte Der Unterscheidung zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell martktinterventionistischen Normsetzungsakten kommt zentrale Bedeutung zu657. Denn Einbußen an demokratischer Legitimation lösen aus den dargelegten Gründen – und nur aus diesen658 – bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten früher einen grundgesetzlichen Rechtfertigungsbedarf aus als bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten659. Hinzu kommt, dass diese Typisierung auch in Hinblick auf andere Fragestellungen, die für die demokratische Legitimation von EG-Normsetzungsakten belangvoll sind, wichtige Orientierungspunkte liefert660. Dies lässt es angezeigt erscheinen, die vorgeschlagene Typenbildung näher zu konkretisieren und auf ihre Belastbarkeit hin zu überprüfen.

657 Mit dieser Unterscheidung wird an die wirtschafts- und politikwissenschaftlich eingeführte Differenzierung zwischen negativer und positiver Integration angeknüpft, vgl. grundlegend Tinbergen, International Economic Integration, 2. Aufl. 1965, S. 76 ff.; ferner Scharpf, Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch, Europäische Integration, 1996, S. 109 ff.; ders., Mehrebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, in: StWiss 1994, S.  475 ff.; ders. (Fn.  646), S.  71 ff.; ders., Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 81 (94 ff.); ders, Demokratieprobleme in der europäischen Mehrebenenpolitik, in: Merkel / Busch (Hrsg.), Festschrift für v. Beyme, 1999, S. 672 (675 ff.); ders., Die Problemlösungsfähigkeit der Mehrebenenpolitik in Europa, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 121 (133 ff.); Melchior, Perspektiven und Probleme der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Antalovsky / ders. / Puntscher Riekmann u. a. (Hrsg.), Integration durch Demo­kratie, 1997, S.  11 (21); Calliess, Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie, in: DVBl. 2007, S.  336 (344); Kohler-Koch / Conzelmann / Knodt (Fn.  654), S.  152 f.; Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.),  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art.  28–30  EGV Rn.  2 f.; Sbragia (Fn. 646), S. 240 ff.; Héritier, Containing Negative Integration, in: Mayntz / Streeck (Hrsg.), Die Reformierbarkeit der Demokratie, 2003, S. 101 ff.; Kellerhals (Fn. 647), S. 296; auch Joerges, Legitimationsprobleme des europäischen Wirtschaftsrechts und der Vertrag von Maastricht, in: Brüggemeier (Hrsg.): Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, S. 91 (109 ff.); Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Isensee, 2007, S. 875 (880 f.). 658 Die bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten im Vergleich geringeren Demokratieanforderungen lassen sich also weder unter Rekurs auf die Zweckverbandstheorie noch unter Hinweis auf Postulate der Wirtschaftsverfassung begründen; dazu Scharpf, Poli­tische Optionen im vollendeten Binnenmarkt (Fn. 657), S. 122; auch Lübbe-Wolff, Euro­ päisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (251 ff.). 659 Siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832. 660 Nämlich hinsichtlich der Fragen, wie bestimmt die primärrechtlichen Ermächtigungsnormen im Einzelnen sind (siehe Kapitel 11 I. 3. a] = S. 885) und inwiefern im Fall der EG zur Rechtfertigung von legitimatorischen Defiziten auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rekurriert werden kann (siehe Kapitel 11 I. 4. a] bb] = S. 908 und Kapitel 11 I. 4. c] = S. 914). Diese Zusammenhänge verkennt Veil (Fn. 31), S. 181 ff.

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(1) Wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte Zum Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte ermächtigen diejenigen Regelungskompetenzen, die der Errichtung, Erhaltung und Erweiterung eines – in engerem Sinne zu verstehenden – Gemeinsamen Marktes beziehungsweise Binnenmarktes dienen661. Darunter ist ein integrierter Wirtschaftsraum zu verstehen, der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EGV durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gekennzeichnet ist. Vom so verstandenen Gemeinsamen Markt beziehungsweise Binnenmarkt662 sind zum einen die sogenannten flankierenden Gemeinschaftspolitiken wie etwa die Umwelt- oder Sozialpolitik663 sowie – erst recht  – die vergemeinschafteten664 Bereiche der Justiz- und Innenpolitik665 ausgenommen; zum anderen werden aber auch diejenigen marktbezogenen Gemeinschaftspolitiken nicht erfasst, die wie die Agrar-, Verkehrs- oder Handelspolitik mehr oder minder interventionistische Spezialreglements vorsehen beziehungsweise zulassen666. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Regelungskompetenzen, die zum Erlass wesensmäßig marktkonstitutiver Normsetzungskompetenzen ermächtigen, folgendermaßen klassifizieren: Dazu gehören erstens die Normsetzungskompetenzen zur unmittelbaren Effektivierung der vier Grundfreiheiten sowie des Diskriminierungsverbots667, zweitens die Befugnisse zur Harmonisierung nationalrechtlicher 661

Vgl. dazu auch Behrens, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: Brügemeier (Hrsg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, S.  73 (83 ff.); ferner  – all­ gemein – Tinbergen (Fn. 657), S. 77 f. 662 Schon bisher ist Binnenmarkt im Sinne von Art.  3 Abs.  1 Buchst.  c  EGV verstanden worden (siehe oben Fn.  639). Dieser Binnenmarktbegriff ist sowohl von dem des Art.  14 Abs. 2 EGV als auch vom Terminus des Gemeinsamen Marktes zu unterscheiden, wie er in Art.  2  EGV verwandt wird. Er bezieht sich nämlich auf einen marktliberalen Wirtschaftsraum. Demgegenüber verbindet sich weder mit dem Gemeinsamen Markt (vgl. Streinz, in: ders. [Hrsg.], EUV / EGV, 2003, Art. 2 EGV Rn. 33), noch mit dem Binnenmarkt im Sinne von Art. 14 Abs. EGV (vgl. Leible, in: Streinz [Hrsg.], EUV / EGV, 2003, Art. 14 EGV Rn. 27) eine Festlegung auf ein liberales Marktmodell. Vielmehr werden hiervon auch solche marktbezo­ genen Gemeinschaftspolitiken erfasst, die – wie die Agrarpolitik – durch interventionistische Regelungsmechanismen geprägt sind (vgl. dazu auch Finger [Fn. 649], S. 98 ff. sowie Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 14 Rn. 2). 663 Zu dieser überblicksweise Oppermann (Fn. 624), § 27 und 29.  664 Zum Phänomen der Vergemeinschaftung beziehungsweise Unionisierung siehe nur Zippelius / Würtenberger (Fn. 13), § 56 II 1. 665 Dazu etwa Rossi, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.),  EUV / EGV, 3.  Aufl. 2007, Art.  61 Rn. 1 ff. 666 Vgl. dazu auch Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders.; Staat Nation Europa, 1999, S.  68 (75): „Die marktökonomische Integration ist so keineswegs ‚unpolitisch‘, setzt vielmehr weittragende politische und sozialstrukturelle Wirkungen aus sich heraus. Das deutlichste Beispiel dafür ist der europäische Agrarmarkt.“ 667 Art. 12 UAbs. 2, 18 Abs. 2, 38, 40, 42, 44 Abs. 1, 47, 49 Abs. 2, 52 Abs. 1, 55 in Verbindung mit 47 Abs. 1, 75 Abs. 3 und 106 Abs. 2 Satz 2 EGV.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

oder zum Erlass gemeinschaftlicher Schrankenregelungen im Schutzbereich der Grundfreiheiten668, drittens die wettbewerbsrechtlichen Regelungskompetenzen669 sowie viertens die sonstigen marktfinalen Harmonisierungsermächtigungen allgemeiner und spezieller Natur670.

(2) Potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte Als potenziell marktinterventionistisch sind demgegenüber diejenigen Norm­ setzungsakte zu qualifizieren, die auf Normsetzungsbefugnissen beruhen, die der Realisierung verschiedenster Politiken im Rahmen des eröffneten Markts dienen und in diesem Zusammenhang auch zu Maßnahmen ermächtigen, die gegebenenfalls sogar marktbehindernd sind671. Hierzu rechnen insbesondere die Normsetzungsbefugnisse im Bereich der bereits erwähnten flankierenden Gemeinschaftspolitiken, namentlich im Umwelt- und Sozialbereich, sowie die Normsetzungsbefugnisse im Bereich der Justiz- und Innenpolitik, sofern diese vergemeinschaftet ist. Aber auch die Normsetzungsbefugnisse im Bereich derjenigen marktbezogenen Gemeinschaftspolitiken, die sich wie die Agrar-, Verkehrs- und Handelspolitik gerade nicht auf das Leitbild eines marktwirtschaftlich liberalisierten Marktes relativieren lassen, ermächtigen zu potenziell marktinterventionis­ tischen Normsetzungsakten672. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang des Weiteren die weitgehende Normsetzungsbefugnis des Art. 308 EGV673, die trotz der Formulierung „im Rahmen des Gemeinsamen Marktes“ ebenfalls zu potenziell marktinterventionis­tischen Normsetzungsakten ermächtigt. Die erwähnte Formulierung ist nämlich mit Blick auf den telos des Art. 308 EGV als einer Lückenschließungsklausel674 nicht etwa dahin zu interpretieren, dass dadurch andere als marktfinale Maßnahmen von vornherein ausgeschlossen wären. Vielmehr wird insofern lediglich gefordert, dass sich die auf Art.  308  EGV gestützten Maßnahmen in dem Rahmen bewegen müssen, der durch den Gemeinsamen Markt im Sinne von Art.  2  EGV gesetzt ist. Und darunter ist nicht lediglich der integrierte Wirtschaftsraum gemäß Art. 3 Abs.  1 Buchst.  c  EGV, sondern der Gemeinsame Markt im weiteren Sinn675 zu

668 Art. 45 Abs. 2, 46 Abs. 2, 55 in Verbindung mit 45 Abs. 2, 55 in Verbindung mit 46 Abs. 2, 57 Abs. 2, 59 und 65 EGV. 669 Art. 83 Abs. 1, 89, 102 Abs. 2 und 103 Abs. 2 EGV. 670 Art. 47 Abs. 2 EGV, 55 in Verbindung 47 Abs. 2, 93, 94, 95 und 96 UAbs. 2 EGV. 671 Siehe dazu auch schon Tinbergen (Fn. 657), S. 78 ff. 672 Speziell zur Agrarpolitik siehe in diesem Sinne etwa Schwarze (Fn. 649), Rn. 259 ff. 673 Zu dieser Bestimmung auch Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (365). 674 Vgl. EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 29 (Beitritt EMRK). 675 Zur Unterscheidung zwischen Gemeinsamen Markt beziehungsweise Binnenmarkt im engeren sowie im weiteren Sinn siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) (1) = S. 837 mit Fn. 662.

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ver­stehen676. Marktinterventionistische Normsetzungsakte scheiden folglich schon deswegen nicht aus dem Anwendungsbereich des Art. 308 EGV aus, weil mehrere zum Gemeinsamen Markt im Sinn von Art. 2 EGV zählende Gemeinschaftspolitiken677 derartige Normsetzungsakte vorsehen beziehungsweise zulassen. Hinzu kommt, dass sich die Gemeinschaftsziele, denen die Errichtung des Gemeinsamen Marktes ausweislich Art. 2 EGV zu dienen bestimmt ist678, insbesondere das hohe Maße an sozialem und ökologischem Schutz, allein durch Liberalisierung und Deregulierung schlechterdings nicht realisieren lassen. Der Gemeinsame Markt steht dem EGV zufolge nicht isoliert für sich, sondern wird durch vor allem sozial und ökologisch motivierte Interventionsmöglichkeiten ergänzt und überformt679. Dem Vertrag liegt insofern kein liberalistisch verkürztes Marktkonzept zu Grunde680. Für die Auslegung von Art. 308 EGV bedeutet dies, dass ein hierauf gegründeter Normsetzungsakt durchaus marktinterventionistisch ausgerichtet sein kann, sofern dadurch der Gemeinsame Markt in seinem primärrechtlich in durchaus differenzierter Weise gewährleisteten Bestand nicht beeinträchtigt wird681.

(3) Tragfähigkeit der Unterscheidung in wesensmäßig marktkonstituierende und potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte Nun soll die hier vorgeschlagene kategoriale Unterscheidung in wesensmäßig marktkonstituierende und potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte indes keinen falschen Eindruck erwecken. Es gibt durchaus Normsetzungsakte, die nach der hier vorgeschlagenen Differenzierung marktkonstituierender Natur sind, aber dennoch in gewissem Umfang interventionistische Züge aufweisen. Dies gilt insbesondere für diejenigen Normsetzungsakte, die auf der Grundlage der allgemeinen marktfinalen Harmonisierungsermächtigungen ergehen682. Denn solche Normsetzungsakte müssen zwar dem Hauptzweck dienen, markt 676 Anderer Ansicht Rossi, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 308 Rn. 39 sowie Schwartz, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 308 Rn. 156. Wie hier Huber (Fn. 644), § 16 Rn. 15. 677 Wie die gemeinsamen Politiken auf den Gebieten der Landwirtschaft und Fischerei sowie des Verkehrs und die gemeinsame Handelspolitik. Dass diese Politiken zum Gemeinsamen Markt gehören, ergibt sich teils unmittelbar aus dem Normtext (vgl. Art. 32 Abs. 1 EGV), erschließt sich teils systematisch (vgl. Art. 14 in Verbindung mit Art. 80 EGV) und ergibt sich schließlich aus den normativ vorgegebenen Zielsetzungen (vgl. Art. 131 UAbs. 1 EGV). 678 Dazu die instrumentale Präposition „durch“ in Art 2 EGV. 679 In diese Richtung auch v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 1, Stand: Oktober 2007, Art. 2 EGV Rn. 43. 680 Siehe auch Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 24. 681 Zur Lockerung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung durch die Lückenschließungsklausel des Art. 308 EGV siehe nur Streinz (Fn. 647), Rn. 499. 682 Art. 47 Abs. 2 EGV, 55 in Verbindung mit 47 Abs. 2, 93, 94, 95 und 96 UAbs. 2.

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widrige Hindernisse aller Art zu beseitigen683. Unter dieser Voraussetzung kann es dann allerdings sogar zu einer sogenannten präventiven Rechtsangleichung684 in einem genuin marktinterventionistischen Regelungsbereich kommen, das heißt, dass der Sache nach marktinterventionistisches EG-Recht gesetzt wird, ohne dass zuvor in irgendeinem Mitgliedstaat eine entsprechende Rechts- oder Verwaltungsvorschrift existierte. Ebenso können EG-Normsetzungsakte, die nach der hier eingeführten Kategorisierung als potenziell marktinterventionistisch zu qualifizieren sind, Ausdruck eines strikten Marktkonzepts sein. Dies gilt gerade auch für Normsetzungsakte im Bereich der Verkehrspolitik685 oder der Gemeinsamen Handels­ politik, wo dem Liberalisierungsziel eine – jeweils normtextuell eigens hervorgehobene – besondere Bedeutung eingeräumt ist. Indes können diese tatsächlichen Überlappungen nicht darüber täuschen, dass die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte zwar nicht ausschließlich, wohl aber hauptsächlich am Leitgedanken der Marktfreiheit, der Marktgleichheit und der Wettbewerbsfreiheit ausgerichtet sein müssen und dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, auch wenn sie im konkreten Fall marktkonstituierend wirken, durch eine marktinterventionistische Neuregelung abgelöst werden können686. Dementsprechend kann etwa ein marktbehinderndes Verbot der Tabakwerbung nicht auf eine für marktkonstituierende Norm­ setzungsakte geltende Harmonisierungsermächtigung gestützt werden, wenn es nicht den nachweislichen Zweck verfolgt, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern687; demgegenüber schließt eine gegenwärtige Ausrichtung der Handelspolitik am Freihandel interventionistische Normsetzungsakte wie etwa mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen keineswegs aus688. Dogmatisch erweist sich die Unterscheidung in wesensmäßig marktkonstituierende und potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte vor diesem Hintergrund als tragfähig.

683

Siehe zu dieser Zwecksetzung etwa Oppermann (Fn. 624), § 18 Rn. 5. Vgl. zum Beispiel EuGH, Rs. C-350/92, Slg. 1995, I-1985, Rn. 35 (Spanien / Rat); näher zur präventiven Rechtsangleichung v. Danwitz, Rechtsangleichung, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: Oktober 2007, B. II. 5., Rn. 97. 685 So hebt Scharpf, Mehrebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, in: StWiss 1994, S. 475 (478 f.) hervor, dass die Verkehrspolitik zwar dem Bereich der (potenziellen) Marktintervention zuzurechnen sei, sie in der Vergangenheit aber überwiegend durch wesentlich markkonstituierende EG-Normsetzungsakte Gestalt angenommen habe. 686 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei – etwa mit Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 120 – betont, dass Marktkonstitution freilich keinesfalls als ‚unpolitisch‘ verharmlost und insoweit in Gegensatz zu der vermeintlich allein politischen Marktintervention gebracht werden darf. 687 Siehe dazu EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419, Rn. 85 (Deutschland / Parlament und Rat). 688 Dazu etwa Haag, in: Bieber / Epiney / ders., Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 34 Rn. 5. 684

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4. Kein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 24 beziehungsweise 23 GG bei der Rekonstruktion des bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotenen Niveaus demokratischer Legitimation Das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation erschließt sich bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten typischerweise aus den für die rein innerstaatliche Normsetzung geltenden Verfassungseinzelbestimmungen689. Im Hinblick auf durch völkerrechtliche Verträge determinierte Normsetzungsakte des innerstaatlichen Rechts ist das grundgesetzliche Normalmaß allerdings abgesenkt, nämlich auf das nach Art. 59 Abs. 2 GG690. Für eine weitere Gruppe international determinierter Normsetzungsakte des nationalen Rechts, nämlich für die von überstaatlichen Hoheitsträgern herrührenden, könnte sich eine  – besonders weitgehende – Absenkung des bei innerstaatlichen Normsetzungsakten normalerweise vorgesehenen Legitimationsniveaus aus Art. 24 beziehungsweise 23 GG ergeben.

a) Mögliche Argumente für einen Rekurs auf Art. 24 und 23 GG und deren Widerlegung Den Art. 24 und 23 GG zufolge soll eine Übertragung von Normsetzungskompetenzen auf überstaatliche Entitäten zulässig sein. Dies könnte den – voreiligen – Schluss nahelegen, dass es dem grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Legitimation entspricht, wenn Normsetzungsakte überstaatlicher Hoheitsträger – weil die nationalen Regierungsvertreter in den Entscheidungsgremien dieses überstaatlichen Hoheitsträgers rechtmäßigerweise überstimmt wurden – lediglich noch über die parlamentarische Zustimmung zum Übertragungsgesetz dezisionär an den demos rückgebunden sind und das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer demokratischer Legitimation infolgedessen äußerstenfalls gegen Null tendiert. Des Weiteren scheinen  – auf den ersten Blick  – auch deutliche Abstriche hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit grundgesetzlich normal zu sein. Denn wenn Normsetzungsbefugnisse in offenbar unbeschränktem Ausmaß auf überstaatliche Hoheitsträger übertragbar sind, könnte dies bedeuten, dass die zumindest traditionell exekutivisch geprägten Organe solcher überstaatlicher Hoheitsträger auch solche Normsetzungsakte ohne Weiteres erlassen dürfen, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen. Damit würde das grundgesetzliche Normalmaß personeller demokratischer Legitimation bei den supra­nationalen Normen deutlich sogar hinter dasjenige zurückfallen, das die völkerrechtsvertraglich determinierten Normen prägt.

689

Siehe oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. Siehe oben Kapitel 10 III. = S. 723.

690

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Somit erwecken die staatsorganisationsrechtlichen Vorschriften der Art. 24 und 23 GG immerhin prima facie den Anschein, als ob das Grundgesetz im Hinblick auf die Normsetzung überstaatlicher Hoheitsträger ein Niveau demokratischer Legitimation für normal erachtete, das deutlich unterhalb desjenigen liegt, das die grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen für rein innerstaatliche, aber auch für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts entfalten. Dieser erste Eindruck erweist sich freilich gleich unter zwei Gesichtspunkten als unzutreffend. Erstens ergibt sich schon aus dem zentralen Art. 20 Abs. 2 GG, dass nicht bereits jede noch so lockere Rückbindung hoheitlicher Gewalt an den demos die veränderungsfesten Mindestanforderungen des Grundgesetzes erfüllt691. Erst recht genügt nicht jede beliebige demokratische Rückkoppelung dem grundgesetzlichen Normalmaß. So ist es beispielsweise ausgeschlossen, dass eine supranationale Norm, die ihrem Regelungsgehalt nach an sich dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfällt, auch dann innerstaatliche Geltung beanspruchen können soll, wenn sie in dezisionärer Hinsicht lediglich durch den seidenen Faden eines allgemein gehaltenen Übertragungsgesetzes demokratisch legitimiert ist692. Ein solches nur mehr formalistisches, inhaltlich aber leer laufendes Verständnis von Demokratie ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Von dieser Erwägung hat sich auch der verfassungsändernde Gesetzgeber leiten lassen. Denn in Art. 23 Abs. 1 GG hat er im Hinblick auf denjenigen überstaatlichen Hoheitsverband, der unbestritten am intensivsten in den innerstaatlichen Rechtsraum hineinwirkt, deklaratorisch693 nochmals ausdrücklich festgeschrieben, dass dieser demokratischen Grundsätzen genügen muss, wenn die Bundesrepublik an ihm mitzuwirken ver­ fassungsrechtlich befugt sein soll694. Zweitens und vor allem übersieht, wer aus Art. 24 und 23 GG unmittelbar auf das vom Grundgesetz bei Normsetzungsakten überstaatlicher Hoheitsträger normalerweise gebotene Legitimationsniveau rückschließen möchte, dass diese Verfassungsbestimmungen gar keine abschließende Auskunft darüber geben, unter welchen demokratierechtlichen Bedingungen diese Normsetzungsakte erlassen, aufgehoben oder modifiziert werden können695. Denn die Rückbindung der von einem überstaatlichen Hoheitsträger herrührenden Normsetzungsakte zum Volk wird erst durch das Organisationsrecht des betreffenden überstaatlichen Hoheitsträgers definitiv ins Werk gesetzt. Auch in Art. 23 Abs. 1 GG hat der verfassungs 691

Sachs (Fn. 44), Rn. 35. So räumt auch Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2. Aufl. 2006, Art.  24 Rn. 38 ein, dass es mit dem Demokratieprinzip unvereinbar wäre, auf jeden legitimierenden Einfluss von deutscher Seite im Beschlußverfahren einer zwischenstaatlichen Einrichtung zu verzichten. 693 In diese Richtung auch Streinz (Fn. 15), Rn. 3. 694 Siehe nur Rojahn (Fn. 15), Rn. 17 ff. 695 Darin liegt ein entscheidender Unterschied zu innerstaatlich wirksamen Normsetzungs­ akten völkerrechtsvertraglicher Provenienz – siehe oben Kapitel 10 III. 2. = S. 781. 692

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ändernde Gesetzgeber lediglich zum Ausdruck gebracht, dass das Grundgesetz ein demokratischen Grundsätzen genügendes, genuin europäisches Verfahrens­ arrangement einfordert. Wie ein solches genuin europäisches Verfahrensarrangement von Grundgesetzes wegen normalerweise auszusehen hat, lässt sich aus Art. 23 GG ebenso wenig ableiten wie aus Art. 24 GG. Art. 24 und 23 GG lassen nach allem keinerlei Rückschlüsse darauf zu, welches Niveau demokratischer Legitimation bei Normsetzungsakten überstaatlicher Hoheitsträger dem Grundgesetz zufolge normalerweise geboten ist. Folglich bleibt es mangels anderweitiger Anhaltspunkte dabei, dass sich das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation auch bei Normsetzungsakten überstaat­ licher Hoheitsträger nach dem Legitimationsniveau richtet, das zum einen für die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte, zum anderen für die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts grundgesetzlich vorgegeben ist.

b) Überprüfung von Normsetzungsakten überstaatlicher Hoheitsträger an dem für die anderen innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakte maßgeblichen Legitimationsniveau Dass sich Normsetzungsakte überstaatlicher Hoheitsträger – zumindest im normativen Ausgangspunkt – an dem für die anderen innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakte maßgeblichen Legitimationsniveau messen lassen müssen, steht auch nicht in unüberbrückbarem Widerspruch zu Struktur und Wesen solcher Normsetzungsakte. Denn die nach Art.  24  GG und zwischenzeitlich auch nach Art. 23 GG verfassungsrechtlich statthafte Normsetzung überstaatlicher Hoheitsträger lässt sich ins Werk setzen, ohne dass damit zwangsläufig eine Absenkung des für sonstige innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise vorgegebenen Legitimationsniveaus einhergehen müsste: Ergehen die Normsetzungsakte eines überstaatlichen Hoheitsträgers in einem Regelungsbereich, in dem schon zur Entstehungszeit des Grundgesetzes völkerrechtliche Vereinbarungen verbreitet waren, oder stellen sie sich nach Zahl, Regelungsumfang und Regelungsintensität als Ausnahme zum Regelfall rein innerstaatlicher Normsetzung dar, so bestimmt sich das normalerweise gebotene Legitimationsniveau aus den dargelegten Gründen nach Art. 59 Abs. 2 GG696. Dieses Legitimationsniveau kann ohne Weiteres dadurch realisiert werden, dass bereits der die Übertragung der Normsetzungsbefugnisse regelnde völkerrechtliche Vertrag, der seinerseits der Zustimmung des Bundestags bedarf, alle dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallenden Regelungen trifft und im Übrigen die normsetzerische Tätigkeit des überstaatlichen Hoheitsträgers dergestalt organisiert, dass ein Erlass von Normsetzungsakten gegen den Willen der Bundesregierung nicht statthaft ist. 696

Siehe oben Kapitel 10 III. 3. b) = S. 829.

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Können die Normsetzungsakte des überstaatlichen Hoheitsträgers  – wie dies bei der hier interessierenden EG der Fall ist – nach Zahl, Regelungsumfang und Regelungsintensität nicht mehr als Ausnahme zum Regelfall rein innerstaatlicher Normsetzung gewertet werden, so bestimmt sich das vom Grundgesetz normalerweise gebotene Legitimationsniveau grundsätzlich nach den für die rein innerstaatliche Normsetzung maßgeblichen Vorschriften. Abweichendes gilt nur, wenn es sich um EG-Normsetzungsakte handelt, die in Regelungsbereichen ergehen, in denen schon bei Inkrafttreten des Grundgesetzes Völkerrechtsverträge keinen Seltenheitswert hatten; dann gilt das eben zu den überstaatlichen Normsetzungsakten mit Ausnahmecharakter Ausgeführte. Ansonsten aber entspricht das für Normsetzungsakte überstaatlicher Hoheitsträger maßgebliche legitimatorische Normalmaß dem, das für rein innerstaatliche Normsetzungsakten gilt697. Erreichen lässt sich dieses Legitimationsniveau durch eine Parlamentarisierung des überstaatlichen Normschöpfungsprozesses, mithin also durch eine strukturelle Angleichung an das innerstaatlich geläufige Normsetzungsprozedere698. Mit dem Grundgesetz wäre ein solches institutionelles Arrangement deshalb vereinbar, weil es, wie dargelegt, keine Festlegung auf das Modell exklusiv staatsvolksbezogener, also mittelbarer Legitimation enthält, sondern grundsätzlich auch eine vom zentrierten Unionsvolk ausgehende und über dessen Parlament vermittelte Legitimation zulässt699. Vor diesem Hintergrund kann an der These festgehalten werden, dass für die Rekonstruktion des bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotenen Niveaus demokratischer Legitimation nicht unmittelbar auf Art. 24 GG oder Art. 23 GG zurückgegriffen werden kann und daher auch für Normsetzungsakte überstaatlicher Hoheitsträger dasjenige Legitimationsniveau als grundgesetzliches Normalmaß zu qualifizieren ist, das die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte beziehungsweise die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts kennzeichnet. Diese These lässt sich zumal auch deshalb aufrechterhalten, weil nach dem hier zugrundegelegten dogmatischen Konzept das für innerstaatlich wirksame Rechtsnormen normalerweise maßgebliche Legitimationsniveau nicht gleichbedeutend ist mit den durch die Strukturbestimmung von Art. 20 Abs. 2 GG zwingend vor 697

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. = S. 781. Dafür spricht sich mit Nachdruck Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (589) aus. In diesem Sinne auch Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 384 f.: „Vordringlich bleibt die Beseitigung des viel beklagten Demokratiedefizits, und dieses ist auf dem Forum des europäischen Parlaments zu beheben.“ Ebenso bereits Schilling, Die deutsche Verfassung und die europäische Vereinigung, in: AöR 1991, S. 32 (58 f.), Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (42 ff.) sowie Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S.  351. Dagegen zum Beispiel Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: APuZ 2007, 10, S. 24 (27 ff.); skeptisch auch Newman, Democracy, Sovereignty an the European Union, 1996, S. 179 ff. 699 Dazu zusammenfassend oben Kapitel 9 X. = S. 687. 698

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gegebenen Legitimationsanforderungen700. Vielmehr kann dieses legitimatorische Normalmaß auch unterschritten werden, ohne dass Art.  20 Abs.  2  GG verletzt wird. Allerdings bedarf es dann einer besonderen verfassungsmäßigen Rechtfertigung. Diese wiederum kann sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, durchaus auch aus den strukturellen Besonderheiten jener supranationalen Normsetzung ergeben, die Art. 24 und 23 GG ermöglichen701, ohne sie jedoch verfahrensrechtlich genauer einzuhegen. Dass Art. 24 und 23 GG für die Rekonstruktion des bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotenen Legitimationsniveaus unmittelbar nichts austragen, bedeutet also gerade nicht, dass diese Verfassungsbestimmungen für die Konkretisierung des im Hinblick auf einen bestimmten EG-Normsetzungsakt gemäß Art. 20 Abs. 2 GG zwingenden Mindestmaßes an demokratischer Legitimation irrelevant wären.

5. Zur Absenkbarkeit des für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgeblichen Legitimationsniveaus bei EG-Normen Welches Niveau demokratischer Legitimation im Hinblick auf EG-Normsetzungsakte grundgesetzlich geboten ist, bestimmt sich abschließend nach Art. 20 Abs.  2  GG702. Diese Strukturnorm ist ihrer sprachlichen Fassung nach insoweit wenig aussagekräftig. Um ihre normativen Anforderungen zu konkretisieren, muss daher regelmäßig bei denjenigen Verfassungseinzelbestimmungen angesetzt werden, durch die die grundgesetzliche Demokratie im Einzelnen ausgeprägt wird703. Da das Grundgesetz keine Verfassungseinzelbestimmungen hinsichtlich des bei EG-Normsetzungsakten gebotenen Legitimationsniveaus kennt, ist vorstehend aus den Vorschriften über die rein innerstaatliche Normsetzung, aber auch aus Art. 59 Abs.  2  GG das für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgebliche Legitimationsniveau rekonstruiert worden. Wie im Einzelnen mit den nötigen Differenzierungen dargelegt, ist dieses a maiore ad minus704 auch auf EG-Normsetzungsakte anwendbar. Allerdings kann das für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgebliche Legitimationsniveau nicht integraliter in Art.  20 Abs.  2  GG hineininterpretiert werden. Dies verbietet sich schon aus verfassungssystematischen Gründen705. Vielmehr wird dadurch ein Legitimationsniveau beschrieben, ab dem den grundgesetzlichen Demokratieanforderungen in jedem Fall Rechnung getragen ist. Bleibt hingegen das im Hinblick auf EG-Normsetzungsakte tatsächlich realisierte Maß an Volkssouveränität hinter dem für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise maßgeblichen 700

Hierzu und zum Folgenden oben Kapitel 10 II. 5. = S. 711. Siehe Hesse (Fn. 72), Rn. 107 und Rojahn (Fn. 456), Rn. 6. 702 Dazu eingehend oben Kapitel 10 I. = S. 690. 703 Siehe oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. 704 Zu diesem argumentativen Schluss Achterberg (Fn. 569), § 17 Rn. 52. 705 Dahingehend auch Pieroth (Fn. 17), Rn. 1.

701

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Legitimationsniveau zurück, so bedarf es einer besonderen Rechtfertigung706. Es muss dann dargelegt werden, dass die betreffende Legitimationseinbuße mit Blick auf die hierfür kausale Verwirklichung verfassungsrechtlich geschützter Gemeinwohlzwecke jedenfalls ‚stimmig‘ ist und im Übrigen der Kernbereich der Volkssouveränität unbeeinträchtigt bleibt707. Abschließend kann diese Rechtfertigungslast indes immer nur im Hinblick auf ganz bestimmte EG-Normsetzungsakte abgetragen werden. So musste schon, als von dem bei innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten normalerweise gebotenen Legitimationsniveau auf das für EG-Normsetzungsakte relevante grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation rückgeschlossen wurde, zwischen verschiedenen Kategorien von EG-Normsetzungsakten und ihrem je unterschiedlichen legitimatorischen Normalmaß unterschieden werden: So orientiert sich das bei EG-Normsetzungsakten normalerweise gebotene Legitimationsniveau teils an den für völkerrechtsvertraglich determinierte Normen maßgeblichen legitimatorischen Anforderungen, teils an dem für die rein innerstaatliche Normsetzung bestimmenden Legitimationsniveau708. In Hinblick auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Absenkung unter das in dieser Weise differenziert zu bestimmende legitimatorische Normalmaß gerechtfertigt ist, bedarf es nun seinerseits weiterer Differenzierungen. Denn die verfassungsrechtlich geschützten Gemeinwohlzwecke, die bei der einen Kategorie von EG-Normsetzungsakten eine bestimmte Legitimationseinbuße noch als angemessen erscheinen lassen, können sich bei einer anderen Normsetzungskategorie als nicht hinreichend gewichtig erweisen, um ein solches legitimatorisches Minus zu rechtfertigen. Im Folgenden können daher nur grundlegende Rechtfertigungsmuster benannt werden, im Rahmen derer sich eine Absenkung des Legitimationsniveaus gegebenenfalls recht­ fertigen lässt. Ob diese dann tatsächlich durchgreifen, kann nur in Hinblick auf die jeweils konkret in Rede stehende Gruppe von Normsetzungsakten definitiv be­ antwortet werden.

a) Rechtfertigung einer Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation durch die in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgte Demokratienorm selbst Schon die demokratiezentrale Volkssouveränität selbst lässt sich als verfassungsrechtlich geschützter Gemeinwohlzweck qualifizieren, der im Rahmen des Art.  20 Abs.  2  GG eine Absenkung des Legitimationsniveaus von EG-Norm­ 706 In diesem Sinne – speziell für Abweichungen vom Öffentlichkeitsgebot – v. Arnim, Staatslehre, 1984, S. 509. Vgl. ferner auch Erberich, Ein Parlament ohne Stimme, in: Scherzberg /  Pieper (Hrsg.), Deutschland im Binnenmarkt, 1994, S. 207 (211 f.). 707 In diese Richtung auch Sachs (Fn. 44), Rn. 6; vgl. im Übrigen oben Kapitel 6 VI. = S. 495, wo dieses Konkretisierungsmodell staatstheoretisch sorgsam konstruiert wird. 708 Siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832.

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setzungsakten unter das durch die grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen ausgeprägte Normalmaß zu rechtfertigen vermag. Dies mag zunächst paradox klingen, ist es bei näherer Betrachtung aber keineswegs.

aa) Notwendigkeit einer national entgrenzten Demokratie bei gewissen grenzüberschreitenden Sachverhalten Bestimmte Angelegenheiten lassen sich überhaupt nur überstaatlich adäquat regeln709. Es existieren mit anderen Worten grenzüberschreitende Sachverhalte, auf die einzelne Staatsvölker aufgrund ihrer staatsgebietsbegrenzten Normsetzungskompetenz nicht sinnvoll zugreifen können710. Soweit es in derartigen Fällen hingenommen wird, dass innerstaatlich Normen in Geltung erwachsen, die zwar nicht das üblicherweise gebotene Legitimationsniveau erreichen, aber eine sonst unmögliche volksherrschaftliche Regulierung ermöglichen, wird dadurch ein Zustand realisiert, der näher am Grundgesetz und seinem Volkssouveränitätsprinzip ist als der status quo ante711. Schließlich wäre die Alternative zu dem so abgeminderten Niveau an Volksherrschaft der gänzliche Verzicht auf eine sinnvolle demokratische Regelung. Folglich kann in derartigen Fällen eine Absenkung des an sich gebotenen Niveaus demokratischer Legitimation durch die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm selbst gerechtfertigt sein712. Diese wird insofern in ihrer sekundären Regelungsdimension als Staatszielbestimmung virulent. Denn es geht darum, die bestehenden Machtverhältnisse in Richtung auf mehr Volksherrschaft zu verändern und damit das immer auch kontrafaktische Machtverteilungsmodell der Volkssouveränität zu verwirklichen. Allerdings darf eine dieserart demokratisch motivierte Rechtfertigung demokratisch defizitärer EG-Normsetzungsakte nur unter engen Voraussetzungen bejaht und keinesfalls zum Vorwand dafür missbraucht werden, die Anforderungen der Strukturnorm der Volkssouveränität zu unterlaufen713. Von einer solchen in Hinblick auf den Staatszielgehalt des Art. 20 Abs. 2 GG gerechtfertigten Ab 709

Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit, in: VerwArch. 2007, 30 (34). Siehe dazu auch bis Stoll (Fn. 510), S. 1066. 711 Vgl. Bryde, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als Optimierungsaufgabe in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 (65); auch Scharpf (Fn. 606), S. 59; König, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht – ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, in: ZaöRV 1994, S. 17 (39). 712 In diese Richtung auch Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, S.  489 (493) in seiner Kritik des MaastrichtUrteils: „Von den dem deutschen Bürger auf Gemeinschaftsebene erwachsenden Kompensationen für Einwirkungsbefugnisse, die im nationalen Raum verlorengegangen sind, will das BVerfG nichts wissen, ja es erwähnt sie nicht einmal, obwohl es keine Scheu vor der Schlußfeststellung hat, die Kompetenzerweiterungen des EUV würden nicht ‚von einer entsprechenden Stärkung und Erweiterung der demokratischen Grundlagen gestützt‘“. Kritisch allerdings Dahl, A Democratic Dilemma, in: Political Science Quarterly 1994, S. 23 (28 ff.). 713 Ähnlich zurückhaltend Lübbe-Wolff (Fn. 658), S. 254 f. 710

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senkung des für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte normalerweise vorgesehenen Legitimationsniveaus kann erstens überhaupt nur dann ausgegangen werden, wenn das hierdurch geregelte Sachproblem tatsächlich lediglich transnational sinnvoll geregelt werden kann. Dies ist anzunehmen, sofern in der nationalen öffentlichen Meinung die Notwendigkeit, zumindest aber die Wünschbarkeit gerade einer transnationalen Regelung des fraglichen Sachverhalts weithin außer Streit steht. Fehlt es an einem solchen Konsens, kann zur Rechtfertigung der Legitima­tionsdefizite von vornherein nicht auf den verfassungslegitimen Gemeinwohlzweck der Demokratiemehrung rekurriert werden. Des Weiteren ist in Erinnerung zu rufen, dass es für die grundgesetzliche Rechtfertigung von Normalmaßunterschreitungen nicht genügt, einen für das demokratische Minus ursächlichen Gemeinwohlzweck auszumachen. Die demokratischen Defizite beziehungsweise die sie generierenden institutionell-prozeduralen Regime müssen zur Gemeinwohlzweckrealisierung auch erforderlich sowie angemessen sein714. Dabei kommt im hiesigen Kontext namentlich dem Erforderlichkeitsgebot zentrale Bedeutung zu. Aus ihm leitet sich ab, dass die skizzierte, an den Staatszielgehalt des Art. 20 Abs. 2 GG anschließende Rechtfertigung zweitens nur dann durchgreifen kann, wenn eine politisch realisierbare Alternative zu dem demokratisch defizitären Normsetzungsmodus trotz entsprechender Bemühungen und Sondierungen nicht besteht. Ist ein demokratischeres, aber gleich effektives Normsetzungsregime denk- und verwirklichbar, bleibt für den diskutierten Rechtfertigungsansatz kein Raum. Während sich demnach die zweite Voraussetzung, an die das vorgestellte Rechtfertigungsmuster notwendig anknüpft, vergleichsweise unaufwendig und schlüssig aus dem Erforderlichkeitsgebot herleiten lässt, bedarf die erste Voraussetzung der näheren Erklärung. Sie versteht sich nicht von selbst. Denn weshalb soll die Geltung einer Verfassungsrechtsnorm eigentlich vom Entwicklungsstand der öffentlichen Meinung abhängig sein? Um eine plausible Antwort auf diese Fragen liefern zu können, muss man an den Anfang der hier angestellten Überlegungen zurückkehren. Den Ausgangspunkt bildet die in Zeiten der Globalisierung nur schwer widerlegbare Prämisse, dass gewisse grenzüberschreitende Sachverhalte sinnvoll nur transnational geregelt werden können715. Akzeptiert man diese Prämisse, muss man freilich klarstellen, woran sich der alleinige Sinn gerade einer transnationalen Regelung und damit korrelierend der Unsinn einer nationalstaatlichen Regelung festmachen lässt. Diese Sinnbestimmung lässt sich nicht unmittelbar anhand der Verfassung vornehmen. Denn diese trifft insofern keine direkte Wertung. Zugleich muss diese Sinnbestimmung unter den Bedingungen pluralistischer Meinungsvielfalt ergehen, sodass permanent die Subjektivitätsfalle droht716. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Sinnbestimmung unter Rekurs auf einen 714

Andernfalls wären sie nicht ‚praktisch konkordant‘ – vgl. Hesse (Fn. 72), Rn. 72. Dazu nur Calliess (Fn. 475), Rn. 4 ff. 716 Zum Problem des Vorverständnisses siehe oben Kapitel 2 = S. 115.

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breiten Konsens innerhalb der öffentlichen Meinung vorzunehmen. Denn zum einen wird hierdurch ein vergleichsweise hohes Maß an Intersubjektivität erzielt. Zum anderen wird mittelbar den Wertungen des Grundgesetzes, nämlich dem Demokratiegedanken, Rechnung getragen. Schließlich gehört es zu den demokra­ tischen Kernvorstellungen, dass zumindest in Verfahrensangelegenheiten, und als eine solche stellt sich die Sinnbestimmung der Sache nach dar, ein consensus omnium herrschen soll717.

bb) Minderheitenschutz Die demokratiezentrale Volkssouveränität vermag gegebenenfalls auch in solchen Fällen eine Absenkung des grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaßes zu rechtfertigen, in denen dies zum Schutz von Minderheiten erforderlich und angemessen ist718. So ist schon verschiedentlich angesprochen worden, dass das in der modernen Demokratie organisationstechnisch unverzichtbare Mehrheitsprinzip dazu führen kann, dass eine strukturell verfestigte Mehrheit auf Dauer über die gleichfalls strukturell verfestigte Minderheit zu herrschen kommt719. Eine solche Mehrheitsherrschaft aber ist keine Volksherrschaft mehr und daher undemokratisch720. Insofern können sich institutionell-prozedurale Arrangements als durch die Volkssouveränitätsnorm gerechtfertigt erweisen, die in Abweichung vom formal verstandenen Prinzip demokratischer Gleichheit die Stellung der Minderheitenangehörigen im politischen Prozess stärken, um auf diese Weise die für die Demokratie essentielle Wandelbarkeit der Mehrheitsverhältnisse faktisch zu re­ tablieren721. Die rechtfertigende Volkssouveränitätsnorm kommt dabei – anders als in der zuvor diskutierten Konstellation722 – nicht in ihrer sekundären Regelungsdimension als Staatszielnorm, sondern in ihrer primären Regelungsdimension als Strukturnorm zum Tragen. Denn es geht insofern nicht um die Erweiterung von Volksherrschaft, sondern um deren Gewährleistung schlechthin723. 717 Dazu auch Nettesheim, Demokratisierung der EU und Europäisierung der Demokratie­ theorie, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 143 (160): „Legitime Demokratie setzt lediglich voraus, daß Kompetenzordnung, institutionelle Ordnung und Verfahrensregeln mit dem jeweils vorhandenen Konsens in Einklang stehen.“ 718 Vgl. auch Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, in: ders., Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 1 (31): „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition – die Minorität – ihrem innersten Wert nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt …“ 719 Siehe insbesondere oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328. 720 Vgl. auch Fikentscher, Demokratie, 1993, S. 18; Fleiner, Verfassungsgrundsätze für einen multikulturellen Staat, in: Hammer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Öhlinger, 2004, S. 234 (242). 721 Kritisch dazu Leisner, Demokratie, 1998, S, 548 f. 722 Siehe soeben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. 723 Zur grundgesetzlichen Volkssouveränität als Struktur- und Zielnorm oben Kapitel 9 IV. 2. b) = S. 588.

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Anzumerken bleibt, dass das demokratische Argument des Minderheitenschutzes in den Konstellationen dogmatisch in besonderer Weise eingekleidet wird, in denen es um Gleichheitsverstöße geht, die mit der gebietseinheitlichen Verwirklichung von Volkssouveränität durch eine Mehrheit von Staatsvolksverbänden zusammenhängen. Hier nämlich tritt als Rechtfertigungsnorm die in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Bundesstaatsnorm auf den Plan724. Das Argument, dass Minderheitenschutz unter Umständen demokratisch gerechtfertigt oder sogar geboten sein kann, wird dadurch aber nicht verdrängt. Vielmehr kehrt es an der – prüfungstechnisch gesprochen – nachgelagerten Stelle wieder und wird dort virulent, wo gefragt wird, ob die in Hinblick auf die von der Bundesstaatsnorm gedeckten Zwecke geeignete und erforderliche Einbuße an formal demokratischer Gleichheit in Ansehung der insofern als Strukturnorm zu begreifenden Volkssouveränitätsnorm auch angemessen ist725.

b) Rechtfertigung einer Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation durch das Staatsziel der europäischen Einigung Da die demokratiezentrale Volkssouveränität nur in Ausnahmefällen als Rechtfertigungsgrund greift, kommt als verfassungsrechtlich geschützter Gemeinwohlzweck, der demokratische Defizite der EG-Normsetzung zu rechtfertigen vermag, zunächst und zuvörderst das seit jeher in der Präambel726, mittlerweile aber auch in Art. 23 Abs. 1 GG727 normierte Staatsziel der europäischen Einigung in Betracht. In Hinblick auf diesen verfassungskräftigen Gemeinwohlzweck kann sich eine Legitimationseinbuße grundsätzlich unter zwei Gesichtspunkten als verhältnis­ mäßig erweisen. Eine Rechtfertigung anhand des Staatsziels der europäischen Einigung kommt zum einen dann in Betracht, wenn die Unterschreitung des grundgesetzlichen Normalmaßes damit zusammenhängt, dass in den verfassungsrechtlichen Ordnungen der EU-Mitgliedstaaten geringere Anforderungen an die demokratische Legitimation von Normsetzungsakten gestellt werden728. In diesem Fall darf es nicht 724

Näher zur Bundesstaatsnorm siehe unten Kapitel 10 III. 5. c) = S. 854. Zum Zusammenhang von Föderalismus und Minderheitenschutz vgl. etwa Bothe, Föderalismus – ein Konzept im geschichtlichen Wandel, in: Evers (Hrsg.), Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 19 (25). 726 Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Präambel Rn. 43. 727 Zippelius / Würtenberger (Fn. 13), § 55 I 2.  728 Ein immer wieder gern angeführtes Beispiel dafür, dass in anderen Mitgliedstaaten geringere Anforderungen an die demokratische Legitimation von Normsetzungsakten gestellt werden als unter der Herrschaft des Grundgesetzes, ist der Bereich der Exekutivgesetzgebung. In der Tat fasst die Verfassungsordnung mancher Mitgliedstaaten den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung weniger weit als das Grundgesetz; Frankreich hat sich sogar ganz von dem in grundgesetzlicher Perspektive für den absoluten Vorbehalt parlamentarischer 725

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von vornherein ausgeschlossen sein, dass Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland bei der Setzung europäischen Verfassungsrechts einer Absenkung des vom Grundgesetz normalerweise gebotenen Legitimationsniveaus zustimmen, sofern diese sich im Rahmen des gemeineuropäischen Verfassungsrechts hält und das Ergebnis der gemeinsamen Suche nach einem europäischen Verfassungs­ kompromiss ist729. Denn in Hinblick auf das Staatsziel ‚vereintes Europa‘ verbietet sich ein unverkürzter Grundgesetzimperialismus730. Im skizzierten Sinne kompromisshafte Absenkungen des durch die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen bestimmten Normalmaßes an Volkssouveränität erweisen sich daher regelmäßig als geeignetes, erforderliches und auch angemessenes Mittel zur Verwirk­lichung des verfassungsrechtlich geschützten Gemeinwohlzwecks eines vereinten Europas731. Da freilich die Unterschiede zwischen den in den einzelnen mitgliedstaat­ lichen Verfassungen732 niedergelegten Legitimationsvorgaben nicht allzu gravierend sind733, kommt dem verfassungskräftigen Gemeinwohlzweck der europäischen Integration zum anderen und vor allem unter einem zweiten Gesichtspunkt ein erhebliches Rechtfertigungspotenzial im Hinblick auf allfällige Legitimationseinbußen zu. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass das vereinte Europa ein sich historisch entwickelnder überstaatlicher Hoheitsverband ist. Als solcher wird es in der Präambel und in Art. 23 GG auch ausdrücklich in Bezug genommen. Denn Normierung teilkonstitutiven relativen Parlamentsvorbehalt verabschiedet (siehe dazu etwa nur Seiler [Fn. 347], S. 165 ff. sowie Saurer [Fn. 368], S. 51 f.). Mit dem Weniger an unmittelbar parlamentsvermittelter materiell-direktiver Legitimation verbindet sich ein Weniger an demokratischer Legitimation. Vgl. dazu aber auch Fn. 733. 729 In diesem Sinn auch Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (243); vgl. ferner v. Münch (Fn. 70), Rn. 916. 730 Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 1220 ff.; auch Schwarze (Fn. 698), S. 589 f.; ders., Ist das Grundgesetz ein Hindernis auf dem Weg nach Europa?, in: JZ 1999, S. 637 (640); Deringer, Kulturhoheit der Länder und Europäische Union, in: Lerche / Mestmäcker (Hrsg.), Festschrift für Kreile, 1994, S. 135 (136). 731 Vgl. auch Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 2001, S. 53 (54). 732 Zu den teilweise unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen der Mitgliedstaaten vgl. nur Giegerich (Fn. 730), S. 897 ff. 733 Veranschaulichen lässt sich dies an dem klassischen Beispiel der Exekutivgesetzgebung (siehe eben Fn. 728). Zwar lässt sich nicht leugnen, dass speziell im Extremfall Frankreich das Niveau personeller und materieller Legitimation, das für die exekutiven Normsetzungsakte prägend ist, unterhalb des grundgesetzlichen Normalmaßes liegt. Bedenkt man freilich, dass der absolute Vorbehalt des Parlamentsgesetzes, wie er sich aus Art. 34  frz. Verf. ableitet, nur in geringem Maße hinter den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre zurückbleibt (siehe dazu etwa Arnold, Das französische Verfassungsrecht in der deutschen Rechtswissenschaft, in: Beaud / Heyen [Hrsg.], Eine deutsch-französische Rechtwissenschaft?, 1999, S. 237 [251]), und berücksichtigt man ferner, dass der relative Parlamentsvorbehalt, wie ihn das deutsche Verfassungsrecht im Unterschied zum französischen kennt, wegen der zumindest bereichsweise recht großzügigen Auslegung von Art. 80 GG (dazu die Rechtsprechungsanalyse bei Saurer [Fn. 368], S. 268 ff.) nicht allzu weit reicht, so bestätigt sich, dass das in den einzelnen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen für Normsetzungsakte vorgesehene Legitimationsniveau letztlich doch nicht allzu stark variiert.

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dort wird semantisch das Historisch-Prozesshafte der europäischen Einigung hervorgekehrt und wird Europa zugleich vergleichsweise unspezifisch als ‚vereintes Europa‘ beziehungsweise als ‚Europäische Union‘, mithin also gerade nicht als bereits vollendeter (Bundes-)Staat angesprochen. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Absenkung des normalerweise vorgegebenen Legitimationsniveaus insbesondere auch insofern rechtfertigen, als sie sich aus den strukturellen Besonderheiten eines sich geschichtlich entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverbands herleitet734. So gilt es vertiefend zu beachten, dass die EU, genetisch betrachtet, auf einer völkerrechtsvertraglich fundierten zwischenstaatlichen Einrichtung beruht735 und dass das traditionelle Organisationsprinzip solcher Institutionen das der intergouvernementalen Zusammenarbeit ist736. Dass der Parlamentarische Rat das vereinte Europa strukturell als eine solche zwischenstaatliche Einrichtung begriffen hat, lässt sich an Art. 24 GG ablesen, der als grundgesetzliches Vehikel gerade auch für den europäischen Einigungsprozess geschaffen wurde737. Zugleich hat der historische Verfassunggeber allerdings auch zu erkennen gegeben, dass er über Art.  24  GG eine überaus weitgehende Integrationsmöglichkeit schaffen wollte. Schließlich sollte so der Weg zum in der Präambel beschworenen vereinten Europa gebahnt werden738. In dieser Perspektive erscheint es denn auch als grundgesetzlich legitim, wenn namentlich in der Konstruktionsphase739 des vereinten Europas deren Entwicklung mitunter dadurch befördert worden ist, dass in den Gründungsverträgen überaus weitgehende Handlungsermächtigungen zugunsten des überstaatlichen Hoheitsverbands verankert wurden und im Übrigen das für die intergouvernementale Zusammenarbeit an sich prägende Einstimmigkeitsprinzip zugunsten des Mehrheitsprinzips massiv eingeschränkt wurde. Zwar bedeutete dies, dass EG-Normsetzungsakte deutlich schwächer demokratisch legitimiert waren als sonstige innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte; dieses Legitimationsdefizit wurde fernerhin nur ganz allmählich und auch dann nur unzureichend durch den Ausbau der Befugnisse des Europäischen Parlaments und mithin durch originär europäische Legitimationsbeiträge kompensiert. Zur Rechtfertigung dieses Verlusts an demokratischer Legitimation lässt sich jedoch ins Feld führen, dass insofern das verfassungskräftige Staatsziel der europäischen Einigung ins Werk gesetzt wurde, und zwar in dem grundgesetzlich dafür vorgesehenen Rahmen740. 734

Classen (Fn. 729), S. 243. Skeptisch Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer euro­ päischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 97 (130). 735 Vgl. Rojahn (Fn. 456), Rn. 9. 736 Überzeugende Kurzdefinition von Intergouvernementalismus bei Nugent (Fn. 648), S. 475. 737 Siehe nur Pernice (Fn. 692), Rn. 3. 738 Ress (Fn. 654), S. 675. 739 Vgl. dazu auch schon Friauf, Zur Problematik rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturelemente in zwischenstaatlichen Gemeinschaften, in: DVBl. 1964, S. 781 (788). 740 Vgl. dazu etwa Inescu, Zwischen Europaoffenheit und Ewigkeitsgarantie des Grund­ gesetzes, in: RuP 1994, S. 70 (74); auch Kirchner / Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760 (765 f.).

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Dass sich bei EG-Normsetzungsakten Absenkungen des vom Grundgesetz normalerweise vorgegebenen Legitimationsniveaus insbesondere auch aus den strukturellen Besonderheiten eines sich historisch entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverbands herleiten lassen, gilt aber selbstverständlich nicht unbegrenzt741. Vielmehr wird diese Rechtfertigung umso schwächer, je stärker sich der überstaatliche Hoheitsverband sowohl seinem Wirkungskreis wie auch seiner Wirkungsweise nach einem Staatswesen annähert und sich sukzessive als staatsähnliches Gebilde konsolidiert742. Der europäische Hoheitsverband indes ist mit der Einheitlichen Europäischen Akte in eine Entwicklungsphase eingetreten, in der von einer beginnenden Konsolidierung als staatsähnlichem Gebilde gesprochen werden muss743. Denn aufgrund dieser Vertragsänderung sind der EWG / EG über den wirtschaftlichen Bereich hinausgehende Regelungsmaterien zugewachsen und ist die Zahl der EG-Normsetzungsakte massiv gestiegen. Sie hat sich auch institutionell, namentlich durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, staatlichen Strukturen angenähert744. Außerdem ist die EWG / EG mit der seitdem auch vertraglich geregelten Europäischen Politischen Zusammenarbeit verknüpft worden745. Vor diesem Hintergrund lassen sich Abweichungen der EG-Normsetzungsakte von ihrem durch Verfassungseinzelbestimmungen vorgezeichneten Normalmaß immer weniger damit begründen, dass die EU ein besonderer, sich selbst erst noch entwerfender Hoheitsverband ist746. Dies heißt zwar nicht, dass dieser Rechtfertigungsgrund keinerlei Bedeutung mehr hätte. Davon kann nämlich erst dann die Rede sein, wenn die EU vollends ‚verstaatlicht‘ ist. Jedoch verliert er im Rahmen der Angemessenheitsprüfung zusehends an Gewicht747. Dabei ist zu differenzieren: Dass dem Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten eines sich geschichtlich entwickelnden Hoheitsverbands eine immer geringere rechtfertigende Wirkung zukommt, gilt zunächst und zuvörderst für solche EG-Normsetzungsakte, die auf Kompetenztiteln aus der mittlerweile erreichten Konsolidierungsphase der 741 Insoweit zutreffend Schachtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, in: APuZ 1993, B 28, S. 3 (6). 742 Dazu etwa Lepsius, Demokratie im neuen Europa: neun Thesen, in: Niedermayer / Westle (Hrsg.), Demokratie und Partizipation. Festschrift für Max Kaase, 2000, 332: „Bei allen Kontroversen über die Frage, ob dieser Herrschaftsverband die Kriterien eines Staates erfüllt, ob es sich um einen Staatenverbund, nicht aber um einen Staatenbund oder einen Bundesstaat handelt, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die EU sich auf dem Wege zur Staatsbildung befindet …“ Ferner Kirchner / Haas (Fn. 751), S. 766. 743 Es kann daher auch nicht verwundern, dass die europäische Legitimationsdebatte mit der Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte vollends eingesetzt hat (so Scharpf, Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt, [Fn. 657], S. 109 [122]). 744 Di Fabio (Fn. 20), S. 197: „Prästaatlichkeit der EG“; auch Breitenmoser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, in: ZaöRV 1995, S. 951 (991). 745 Vgl. Bieber, in: ders. / Epiney / Haag, Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 35 Rn. 9. 746 Dazu bereits Ress (Fn. 654), S. 626. 747 Skeptisch allerdings Schockweiler, Le prétendu déficit démocratique de la communauté, in: Journal des tribunaux / Droit Européen 1994, S. 25 (26).

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EU stammen748. Demgegenüber kommt dem betreffenden Rechtfertigungsgrund im Hinblick auf EG-Normsetzungsakte, zu denen die EG noch in der Konstruk­ tionsphase der EG ermächtigt worden ist749, ein sich zwar ebenfalls allmählich abschwächendes, mittelfristig aber noch vergleichsweise hohes Rechtfertigungs­ potenzial zu. Denn eben weil das Grundgesetz den europäischen Hoheitsverband als in einer historischen Entwicklung stehend begreift, können die grundgesetzlichen Demokratieanforderungen nicht dahingehend konkretisiert werden, dass sie ab einem bestimmten Integrationsstand ein pauschal erhöhtes Legitimationsniveau vorsehen und dadurch die jahrzehntelang verfassungsrechtlich unproblematische Normproduktion in einem bestimmten Regelungsbereich urplötzlich in den Geruch der Demokratiewidrigkeit gerät. Eine solche ahistorische Konkretisierung des europaspezifischen Demokratieprinzips würde den grundgesetzlichen Normvorgaben nicht gerecht. Daher bedarf es der skizzierten Differenzierung nach dem Alter der Normsetzungsermächtigung.

c) Rechtfertigung einer Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation durch die in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Bundesstaatsnorm Selbst wenn sich somit auch in Zukunft demokratische Defizite im Normsetzungsprozess der EG durch die strukturellen Besonderheiten rechtfertigen lassen, die einem sich entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverband sui generis eignen, so nimmt die Tragfähigkeit dieses Rechtfertigungsmusters doch sukzessive ab. Um in Anbetracht der Strukturnorm des Art. 20 Abs. 2 GG eine Absenkung des Legitimationsniveaus von EG-Normsetzungsakten unter das durch die grundgesetzlichen Verfassungseinzelbestimmungen ausgeprägte Normalmaß legitimieren zu können, muss daher mit zunehmendem Integrationsfortschritt verstärkt auf solche verfassungsrechtlich geschützten Gemeinwohlzwecke rekurriert werden, die es insofern auch im Fall des Staatsgebildes Bundesrepublik Deutschland zu rechtfertigen vermögen, wenn dessen Normsetzungsakte unter das verfassungsrechtlich im Einzelnen vorgesehene Legitimationsniveau abgesenkt werden.

aa) Der dogmatische Rekurs auf die an sich nur binnenverfassungsrechtlich relevante Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG Zu den Gemeinwohlgründen, die auch innerhalb des staatlichen Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland eine Absenkung des Legitimationsniveaus unter das durch die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen ausgeprägte Normalmaß 748

Zum Beispiel Art. 62, 137 und 175. Zum Beispiel Art. 26, 37 und 71 EGV.

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zu rechtfertigen vermögen, gehört insbesondere die in der Fundamentalnorm des Art. 20 Abs. 1 GG verbürgte Bundesstaatlichkeit750. Wie vorstehend verdeutlicht, führt das föderative Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Erzeugung von Hoheitsakten zu Einbußen an demokratischer Legitimation751. Eine Stärkung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik kann daher gegebenenfalls mit einer Absenkung des demokratischen Legitimationsniveaus verbunden sein. Der verfassungsändernde Bundesgesetzgeber ist nun freilich nicht von vornherein gehindert, eine (weitere) Stärkung der innerstaatlichen Föderalstrukturen vorzunehmen. Dies folgt bereits daraus, dass die in Art. 20 GG niedergelegten Demokratienormen nicht einfach mit ihren Konkretisierungen in den verschiedenen Verfassungseinzelbestimmungen identifiziert werden dürfen752. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat vielmehr einen gewissen Gestaltungsspielraum, wenn er durch den Erlass verfassungsrechtlicher Einzelregelungen das Verhältnis der verschiedenen, grundsätzlich gleichrangigen Staatsstrukturmerkmale zueinander neu bestimmt, indem er zur Verwirklichung des Staatsziels, das der einen Staatsfundamentalnorm innewohnt, Abstriche bei der anderen Staatsfundamentalnorm in Kauf nimmt753. Vor diesem Hintergrund ist die bundesstaatliche Fundamentalnorm prinzipiell geeignet, Abschwächungen des für die innerstaatliche Hoheitstätigkeit maßgeb­ lichen Legitimationsniveaus zu rechtfertigen. Dementsprechend können dann aber auch auf der Ebene der EU Abweichungen vom normalerweise gebotenen Legitimationsniveau mit föderalen Erfordernissen begründet werden754. Denn Abweichungen der EG-Normsetzung vom durch Verfassungseinzelbestimmungen vorgegebenen legitimatorischen Normalmaß sind nach dem Gesagten mit Art. 20 Abs. 2 GG jedenfalls dann vereinbar, wenn eine entsprechende Absenkung des Legitimationsniveaus auch bei der bundesrechtlichen Normgebung mit Art. 20 Abs. 2 GG kompatibel wäre. Dass dem föderalen Gesichtspunkt gerade in Hinblick auf die europäische Konstruktion zentrale Bedeutung zukommt und insofern ein prinzipieller Gleichrang mit dem europa­ spezifischen Demokratieprinzip besteht, hat der verfassungsändernde Gesetzgeber durch die Neufassung von Art. 23 Abs. 1 GG ausdrücklich klargestellt.

750 Dazu allgemein auch Graf Kielmansegg, Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 229 (232): „Wo immer Demokratieprinzip und föderatives Prinzip zusammengefügt worden sind, in allen föderativ organisierten modernen Verfassungsstaaten also, haben sich tatsächliche Modifikationen des Demokratieprinzips ergeben.“ 751 Siehe beispielsweise oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) = S. 733 und Kapitel 10 III. 1. d) aa) = S. 761. 752 Schnapp (Fn. 114), 14.  753 Dazu auch Thieme, Demokratie, in: DÖV 1998, S. 751 (755). 754 In diese Richtung auch Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 11 (21 f.).

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

bb) Abgrenzung der Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG gegen die föderative Fundamentalnorm des Art. 23 Abs. 1 GG Zwischen der föderativen Fundamentalnorm im Sinn des Art.  23 Abs.  1  GG und der hier in Rede stehenden Bundesstaatsnorm gemäß Art. 20 Abs. 1 GG muss gleichwohl sorgsam unterschieden werden. Mit dieser ist die speziell für das Binnenrecht des Verfassungsstaats Bundesrepublik geltende föderative Fundamentalnorm gemeint. Für die europäische Integrationsgemeinschaft kommt ihr, wie dargelegt, insofern mittelbare Bedeutung zu, als sich mit zunehmender struktureller Angleichung der EU an ein Staatswesen die europaspezifischen Anforderungen des Grundgesetzes ihrerseits den binnenrechtlichen Verfassungsvorgaben angleichen. In dieser Perspektive kommt es für die grundgesetzliche Rechtfertigung von Legitimationseinbußen auf der Ebene der EU zunehmend darauf an, dass eine entsprechende Legitimations­ einbuße auch binnenverfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre – etwa durch besagte Bundesstaatsnorm. Hingegen kann und darf die föderative Fundamentalnorm gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz  1  GG755 nicht auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm relativiert werden, wie sie gemäß Art. 20 Abs. 1 GG für die innerstaatliche Staatsorganisation Geltung beansprucht756. Wie bei der Konkretisierung der europaspezifischen Demokratienorm ist vielmehr auch bei der Auslegung der föderativen Grundsätze gemäß Art.  23 Abs.1  GG zu berücksichtigen, dass mit Rücksicht auf die historisch gewachsenen Besonderheiten eines überstaatlichen Hoheitsverbands nach wie vor weitergehende Abweichungen vom durch grundgesetzliche Einzelbestimmungen ausgeprägten innerstaatlichen Bundesstaatsmodell in Betracht kommen, als dies im Rahmen des Binnenverfassungsrechts der Fall ist757. Zwar kommt es mit zunehmendem Integrationsfortschritt auch insofern zu einer Angleichung der grundgesetzlichen Anforderungen. Dennoch kann und darf die föderative Fundamentalnorm des Art. 23 Abs. 1 GG und die binnenverfassungsrechtlich geltende Bundesstaatsnorm bis auf Weiteres nicht miteinander vermengt werden758. Festzuhalten ist, dass es im hiesigen dogmatischen Zusammenhang allein auf die für die deutsche Staatsorganisation von Verfassungs wegen maßgebliche bundesstaatliche Fundamentalnorm aus Art. 20 Abs. 1 GG ankommt. 755 Dazu etwa Herdegen, „Föderative Grundsätze“ in der Europäischen Union, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 1193 f.; ferner Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: DVBl. 1993, S. 936 (945). 756 Heyde, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2002, Art. 23 Rn. 38. 757 Ein bemerkenswertes Konzept des EU-spezifischen ‚supranationalen Föderalismus‘ entfaltet v. Bogdandy (Fn. 680), S. 61 ff. 758 Zu den der EU zugrunde liegenden föderativen Grundsätzen vgl. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (370 ff.).

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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cc) Statthaftigkeit und Bedingung eines dogmatischen Rekurses auf die an sich nur binnenverfassungsrechtlich geltende Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG Wenn demnach im vorliegenden dogmatischen Zusammenhang nicht etwa auf die föderative Fundamentalnorm des Art.  23 Abs.  1  GG, sondern auf die binnenverfassungsrechtliche Bundesstaatsnorm rekurriert wird, so lässt sich dem nicht schon entgegenhalten, dass die EG mangels (Ober-)Staatsqualität jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt anerkanntermaßen kein Bundesstaat759 und allein aus diesem Grund eine Übertragung des binnenverfassungsrechtlichen Bundesstaatsmodells auf die EG dogmatisch unzulässig sei. Denn auch wenn die Rechtsbeziehungen zwischen der EG und den Mitgliedstaaten nach wie vor auf einer völkerrechtsvertraglichen und eben nicht auf einer staatsrechtlichen Grundlage beruhen760, ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, die demokratischen Zurechnungszusammenhänge in der EG mit denen im Bundesstaat zu vergleichen und in der Folge zur Rechtfertigung von Legitimationseinbußen auf die Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG zu rekurrieren761. Schließlich weist die EG eine organisatorische Struktur auf, die in ihrem funktionalen Kern der eines Bundesstaats gleicht762. Die EG beruht nämlich wie ein Bundesstaat763 auf dem Zusammen­ wirken der zentralen mit den dezentralen Gebietseinheiten, wobei sämtliche dieser Gebietseinheiten eine eigene, die Bürger unmittelbar erfassende Hoheitsgewalt ausüben764 und die Hoheitsmacht der zentralen Gebietseinheit – im Rahmen ihrer Kompetenzen – der Hoheitsmacht der dezentralen Einheiten vorgeht765. Soweit daher neben der grundsätzlichen Struktur auch die in diesem Rahmen greifende demokratische Rückkoppelung von EG-Normsetzungsakten bundesstaatliche Züge aufweist, erscheint ein Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm zur Rechtfertigung demokratischer Defizite als dogmatisch statthaft. Der dogmatische Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm wäre mit anderen Worten nur dann unstatthaft, wenn sich die demokratiezentrale Volkssouve 759 Vgl. nur Grimm, Vertrag oder Verfassung, in: ders. u. a., Zur Neuordnung der Euro­ päischen Union: Regierungskonferenz 1996/97, 1997, S. 9. 760 Vgl. Rojahn (Fn. 15), Rn. 8 ff. 761 Vgl. auch Kadelbach, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 2007, S. 7 (25): „Für die Europäische Union ist die föderale Struktur ein historisches Motiv und ein Bauprinzip.“ 762 Zurückhaltend Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 151 ff. 763 Zu diesem Vergleich auch Zippelius (Fn.  169), § 9 III; siehe des Weiteren Schilling (Fn. 698), S. 61 f. 764 Für den Bundesstaat einerseits Zippelius / Würtenberger (Fn.  13), § 14 I 1 sowie Vogel (Fn. 398), Rn. 26, die EU andererseits Jarass (Fn. 8), Rn. 18 f. und Streinz (Fn. 8), Rn. 59. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, S. 225, der hervorhebt, dass der EG im Bereich des Gemeinschafsrechts schon teilweise bundesstaatliche Züge eignen. 765 Für den Bundesstaat einerseits Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4.  Aufl. 2007, Art. 31 Rn. 7 und 14, die EU andererseits Oppermann (Fn. 624), § 6 Rn. 7.

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

ränität im Rahmen der EG-Normsetzung nicht in einer bundesstaatlichen Art und Weise Bahn bräche. Soweit sich freilich die EG-Normsetzung, wiewohl sie von mehreren Staaten und Völkern herrührt, dennoch als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität darstellt, kann zur Rechtfertigung von Legitimations­ einbußen im Rahmen der EG-Normsetzung durchaus auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm zurückgegriffen werden766.

dd) Rechtfertigungspotenzial der Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG Lässt sich die auf unterschiedliche Gebietsvolksverbände zurückführende EGNormsetzung als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität begreifen und kann die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm infolgedessen grundsätzlich als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden, so vermag dies Abweichungen der EG-Normsetzung vom grundgesetzlich an sich vorgegebenen Legitimationsniveau vor allem unter drei Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Rechtfertigende Wirkung kann der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm zunächst dann zukommen, wenn die Legitimationseinbußen durch institutionell-prozedurale Arrangements bedingt sind, die eine stärkere Berücksichtigung spezifisch mitgliedstaatlicher Interessen und Belange im Rahmen der Hoheitstätigkeit der Union bezwecken. Dafür sprechen nicht zuletzt die vom Grundgesetz im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung etablierten Legitimationsverhältnisse. Wie dargelegt, wächst den in diesem Bereich ergehenden Normsetzungsakten ein geringeres Maß an personeller und materieller Legitimation zu, als es bei den außerhalb dieses Vorbehaltsbereichs ergehenden Normsetzungsakten der Fall ist767. Ursache für diese Erhöhung des Grads demokratischer Abgeleitetheit ist, dass über die bundesrätliche Mitwirkung eine stärkere Berücksichtigung genuiner Länderinteressen bei der bundesstaatlichen Normsetzung gewährleistet werden soll768. Das Grundgesetz geht insofern davon aus, dass die von seiner Bundesstaatsnorm gewollte besondere Berücksichtigung gliedstaatlicher Interessen grundsätzlich geeignet ist, Einbußen an demokratischer Legitimation zu rechtfertigen769. 766 In diese Richtung offensichtlich auch Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs / Kohler-Koch, Europäische Integration, 1996, S. 47 (62): Danach lassen sich bundestaatlich bedingte Abweichungen vom demokratisch axiomatischen Gleichheitsprinzip nur dann „als demokratiekompatibel verstehen, wenn man den Bundescharakter des Gemein­ wesens demokratietheoretisch zu Ende denkt, das heißt hinter der Struktur doppelter Repräsentation auch dem Volkssouverän eine Art von Doppelexistenz zuschreibt. „Alle Gewalt geht vom Volke aus“ ist dann so zu lesen: Jeder Bürger gehört zwei „Völkern“ an, dem „Bundesvolk“ und einem „Gliedvolk“, die gemeinsame Quelle demokratischer Legitimität sind.“ 767 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) = S. 733. 768 Vgl. hierzu Vogel (Fn. 398), Rn. 13. 769 Dazu auch Raworth, A Timid Step Forwards: Maastricht and the Democratisation of the European Community, in: ELR 1994, S. 16 (22).

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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Mithin ist es auch nicht ausgeschlossen, Abweichungen der EG-Normsetzung vom durch grundgesetzliche Einzelbestimmungen vorgegebenen Niveau demokratischer Legitimation unter Berufung auf die durch die Bundesstaatsnorm sinngemäß geschützten spezifischen Belange der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen. Ein Rekurs auf die an sich nur binnenverfassungsrechtlich relevante Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG kommt bei demokratischen Defiziten im Bereich der EG-Normsetzung des Weiteren auch dann in Betracht, wenn die Legitimationseinbußen durch institutionell-prozedurale Arrangements hervorgerufen werden, mit denen das föderative Gesamtgefüge der Union stabilisiert werden soll. Auch dies lässt sich wiederum ausgehend von den Legitimationsverhältnissen entwickeln, die von Grundgesetzes wegen im Geltungsbereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung herrschen. Denn dass das Grundgesetz in diesem Bereich Einbußen an personeller und materieller Legitimation in Kauf nimmt, dient nicht allein der Absicherung besonderer Länderinteressen, sondern dadurch zugleich der Konsolidierung der bundesstaatlichen Einheit: Indem den Bundes­ ländern weitgehende Mitwirkungsbefugnisse konzediert werden, soll der Zusammenhalt von Bund und Ländern gestärkt werden770. Entsprechendes gilt für die durch die bundesrätliche Mitwirkung bedingte Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit771. Die dadurch hervorgerufenen Legitimationseinbußen lassen sich nämlich darauf zurückführen und insofern rechtfertigen, dass sich auch die kleinen Länder in den Entscheidungen des Bundes wiederfinden müssen und ihnen daher ein mit Blick auf ihren Bevölkerungsanteil relativ stärkerer Einfluss eingeräumt wird als den größeren Staaten772. Denn eben dadurch wird der bundesstaatliche Zusammenhalt bewahrt beziehungsweise gestärkt. Anhand dieses letzten Beispiels lässt sich im Übrigen plastisch veranschau­ lichen, dass die einzelnen Rechtfertigungsgründe nicht immer gleichzeitig vorliegen müssen. Denn die Abweichungen vom Prinzip formaler Wahlrechtsgleichheit, die dadurch hervorgerufen werden, dass das den einzelnen Bundesländern im bundesrätlichen Verfahren zuerkannte Stimmgewicht disproportional zu ihrer jeweiligen Bevölkerungsgröße ist, lassen sich nicht zugleich unter Verweis darauf rechtfertigen, dass dieses institutionell-organisatorische Arrangement eine stärkere Berücksichtigung der spezifischen Interessen und Belange der Gliedstaaten bezweckt. Denn hierdurch werden lediglich die Interessen und Belange der einen 770

Dazu etwa Zippelius / Würtenberger (Fn. 13), § 14 I 2 b). Allgemein zur Wahlrechtsungleichheit in föderalen Systemen Dahl (Fn. 712), S. 30. 772 Auf den von der konservativen Staatsrechtslehre als verfassungswidrig gebrandmarkten Umstand, dass Art.  51  GG nicht die Zahl der Staatsangehörigen oder der Aktivbürger, sondern die der gesamten Einwohnerschaft unter Einschluss der Ausländer und Staatenlosen zum entscheidenden Kriterium für das Stimmgewicht der Länder im Bundesrat macht, sei an dieser Stelle lediglich hingewiesen. Zur verfassungsrechtlichen Bewertung siehe etwa de Wall, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: September 2007, Art. 51 Rn. 22 f. 771

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Teil IV: Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

Gliedstaaten gegenüber denen der anderen gestärkt. Dies ist etwas anderes als die Stärkung der Länderinteressen und -belange gegenüber der Zentralgewalt, die mit dem ersten der hier aufgeführten bundesstaatlichen Rechtfertigungszwecke an­ gesprochen ist. Demokratische Defizite im Bereich der EG-Normsetzung lassen sich demnach in Ansehung des grundgesetzlichen Bundesstaatsprinzips sowohl kumulativ als auch alternativ damit rechtfertigen, dass sie auf einem institutionell-prozeduralen Arrangement beruhen, das der stärkeren Beachtung mitgliedstaatlicher Interessen dient oder aber die föderative Integrität der Union absichern hilft. Darüber hinaus lassen sich defizitäre Normsetzungspraktiken auf EG-Ebene auch noch unter einem dritten Gesichtspunkt nach Maßgabe der Bundesstaatsnorm des Art.  20 Abs.  1 GG rechtfertigen. Dies ist dort der Fall, wo die Legitimationseinbußen einem institutionell-prozeduralen Arrangement geschuldet sind, das unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht. Für diese Rechtfertigungsmöglichkeit lässt sich Folgendes ins Feld führen: Das Grundgesetz hat sich gegenüber dem doppelten Gestaltwandel aufgeschlossen gezeigt, den der grundgesetzlich verfasste Bundesstaat deshalb durchlaufen hat, weil unter den Bedingungen des modernen Sozial- und Umweltstaats regional radizierte Problemlösungsstrategien nicht mehr greifen beziehungsweise nicht mehr akzeptiert werden. Dem hieraus erwachsenden Koordinationsbedürfnis hat der grundgesetzliche Bundesstaat nämlich zum einen durch Unitarisierung773, zum anderen durch den kooperativen Föderalismus774 Rechnung getragen775. Beide strukturellen Trends zeichnen sich dadurch aus, dass der unabweisbare Koordina­ tionsbedarf im Rahmen eines weiterhin bundesstaatlich geprägten Regimes gedeckt und dafür im Gegenzug gerade auch auf dem Gebiet der Normsetzung eine Absenkung des demokratischen Legitimationsniveaus in Kauf genommen wurde776. Die Unitarisierung des Bundesstaats etwa ging einher mit einer ungeheuren Stärkung der bundesrätlichen Kodezisionsbefugnisse im Gesetzgebungsverfahren777. Zustimmungsbedürftige Bundesgesetze indes weisen ein niedrigeres Niveau demokratischer Legitimation auf als bloße Einspruchsgesetze. Der kooperative Föderalismus wiederum hat sich in einem dichten Netz von intraföderalen Staatsverträgen und Verwaltungsabkommen niedergeschlagen778. Auch mit diesen Normsetzungstypen verbindet sich, weil das Parlament zum bloßen Ratifi 773 Klassisch Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; siehe auch Diekmann (Fn.  200), S. 98 ff. und Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 130 ff. 774 Klassisch Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; dazu auch Vogel (Fn. 398), Rn. 124 ff. sowie v. Münch (Fn. 70), Rn. 598 ff. 775 Dazu auch Böckenförde (Fn. 52), S. 183 ff. 776 Vgl. Diekmann (Fn. 200), S. 113 ff.; auch Kadelbach (Fn. 761), S. 14 f. 777 Hesse (Fn. 773), S. 21 ff.; des Weiteren Scharpf, Kann es in Europa eine stabile föderale Balance geben?, in: ders., Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 117 (121). 778 Sommermann (Fn. 53), Art. 20 Rn. 44 sowie Vogel (Fn. 398), Rn. 125.

Kap. 10: GG und die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung

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kationsorgan mutiert, eine Absenkung des Niveaus demokratischer Legitimation779. Wenn nun aber diese Fortentwicklungen des Bundesstaats als aus grundgesetz­ licher Sicht im Wesentlichen akzeptabel erscheinen, dann bestätigt dies die obige These: Weichen EG-Normsetzungsakte vom grundgesetzlich vorgesehenen Normalmaß ab, so lässt sich dies mitunter auch insofern durch Verweis auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen, als die Legitimationseinbußen durch ein institutionell-prozedurales Arrangement bedingt sind, das eine föderale Antwort auf den in einem föderalen System massiv gesteigerten Koordinationsbedarf bietet.

779

Kisker (Fn. 774), S. 116 ff.

Teil V

Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle vor dem Hintergrund der grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Vorbemerkung: Vom Nutzen einer modellorientierten Diskussion der grundgesetzlichen Demokratieanforderungen Vorbemerkung

In den beiden vorhergehenden Teilen ist auf der Basis einer staatstheoretischen Rekonstruktion das Normprogramm der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes entfaltet worden1. Anhand dieses Prüfungsmaßstabs soll nunmehr untersucht werden, ob die EG-Normsetzung demokratisch hinreichend legitimiert ist. Dabei wird an die bereits dargestellten Legitimationsmodelle2 angeknüpft3. Diesen liegt, wie dargelegt, eine bestimmte Vorstellung davon zu Grunde, wie demokratische Legitimation auf europäischer Ebene verfängt. Nachstehend soll nun in sozusagen modellimmanenter Perspektive geprüft werden, ob bei Zugrundelegung dieser jeweiligen Legitimationskonzepte die EG-Normsetzung verfassungsrechtlich noch als demokratisch suffizient qualifiziert werden kann. Dass die EG-Normsetzung nicht unmittelbar, sondern im Kontext der her­ kömmlichen Legitimationsmodelle an der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes gemessen wird, bedarf der näheren Begründung. Hierfür spricht erstens, dass durch besagte Modelle die auf europäischer Ebene überaus komplexen Legitimationszusammenhänge vorstrukturiert werden und dadurch wiederum eine strukturiertere Analyse des allfälligen Demokratiedefizits insgesamt erfolgen kann. Dass diese Modelle die für die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes relevanten Legitimationszusammenhänge nicht immer vollständig zu erfassen vermögen, steht der beschriebenen Vorgehensweise dabei keineswegs entgegen. Denn es werden sukzessive alle drei Modelle in den Blick genommen, sodass die ‚blinden Flecken‘, die das eine Modell aufweist, bei der Er

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Siehe oben Teil IV = S. 544. Siehe oben Kapitel 4 = S. 168. 3 Vgl. dazu auch das Kapitel 3 von Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, der die demokratische Legitimation der Unionsgewalt zunächst aus föderalistischer, sodann aus funktionalistischer und schließlich aus pluralistischer Sicht betrachtet.

Vorbemerkung

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örterung des anderen Modells ausgeleuchtet werden können. Insgesamt bietet die anhand der herkömmlichen Modelle abgeschichtete Aufarbeitung der hier in Rede stehenden demokratierechtlichen Problematik eine gewisse Gewähr dafür, dass die eher unförmige Legitimationsproblematik übersichtlich, stimmig und dennoch differenziert bewältigt werden kann. Für diese Vorgehensweise lässt sich zweitens ins Feld führen, dass die betreffenden Legitimationsmodelle namentlich in der deutschen rechtswissenschaftlichen Diskussion eine nicht unmaßgebliche Rolle gespielt haben4. Die modellspezifische Auseinandersetzung mit der europäischen Demokratieproblematik wird nun Rückschlüsse darauf zulassen, ob und inwieweit diese Legitimationsmodelle tatsächlich geeignet sind, die rechtlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung strukturierend zu erfassen. Mithin wird im Folgenden nicht nur den europäischen Legitimationsproblemen nachgespürt, sondern zugleich auch eine Aussage darüber getroffen, welches Legitimationsmodell künftighin der rechtswissenschaftlichen Diskussion über die Demokratie in der EU zugrundezulegen ist. Der sich an den herkömmlichen Legitimationsmodellen orientierende Problemzugriff wird nicht etwa dadurch in Frage gestellt, dass eine gewisse Vorentscheidung zugunsten des Modells der doppelten Legitimationsbasis bereits gefallen ist. So wurde zwar bereits ausführlich dargetan, dass und weshalb die Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes grundsätzlich auch durch Legitimationsbeiträge eines europäischen demos erfüllt werden können5. Des Weiteren ist der Nachweis geführt worden, dass nach dem Grundgesetz auch eine Völkergesamtheit als dezentrierter demos exklusiv-perpetuelle Legitimation im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zu erzeugen vermag6. Ein derartiges Legitimationsverständnis freilich liegt quer zum Modell mittelbarer Legitimation, demzufolge europäische Hoheitsakte weder durch die Rückbindung an den Willen eines europäischen Volks noch durch die Rückkoppelung an den Gesamtwillen der mitgliedstaatlichen Staatsvölker, sondern allein durch die Rückbeziehung auf den Willen der je einzelnen in der EG zusammengeschlossenen Staatsvölker demokratisch legitimiert werden können7. Ebensowenig lässt sich das dem Grundgesetz eingeschriebene Konzept demokratischer Legitimation mit dem Modell des Zweckverbands funktionaler Integration vereinbaren8. Gleichwohl macht eine nach Modellen differenzierende Vorgehensweise Sinn. Denn die tendenzielle Vorentscheidung zugunsten des einen Modells ändert nichts daran, dass eine sukzes

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Siehe etwa Haber, Die Rolle des Demokratieprinzips im europäischen Integrations­prozeß, in: StWiss 1992, S. 349 ff.; Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 ff.; Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 492 ff. 5 Siehe oben Kapitel 5 = S. 182. 6 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. 7 Siehe oben Kapitel 4 I. = S. 170. 8 Siehe oben Kapitel 4 II. = S. 173.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

sive Auseinandersetzung mit sämtlichen Modellen einerseits strukturierend wirkt und sich andererseits zu der um diese Modelle kreisenden rechtswissenschaft­ lichen Diskussion verhält. Hinzu tritt noch ein Weiteres: Selbst wenn man wie hier die Auffassung vertritt, dass sowohl die Unionsbürgerschaft als zentrierter Unions-demos als auch die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker als dezentrierter Unions-demos grundsätzlich taugliche Legitimationssubjekte im Sinne der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes darstellen, so ist noch längst nicht ausgemacht, dass gegenwärtig bereits die anspruchsvollen Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staatsvölker als dezentrierter Unions-demos staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu generieren in der Lage ist beziehungsweise die Unionsbürgerschaft zum Unions-demos im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG avanciert9. Sollten diese teils institutionellen, teils sozialen Voraussetzungen derzeit noch nicht eingelöst sein, so wäre man eben doch auf das Modell mittelbarer Legitimation respektive auf das des Zweckverbands funktionaler Integration zurückverwiesen. Eine verfassungsrechtliche Diskussion auch dieser Modelle erübrigt sich daher nicht von vornherein.

Kapitel 11

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Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation beruht, wie dargelegt, auf der Prämisse, dass sich die demokratische Legitimation von EG-Normsetzungsakten ausschließlich durch deren Rückbindung an den Willen der einzelnen Staatsvölker ins Werk setzen lässt1. Eine auch nur ergänzend vom europäischen demos ausgehende demokratische Legitimation scheidet demnach von vornherein aus2. Gleiches gilt für die – alleinige oder lediglich supplementäre – Rückkoppe

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Zu den staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung siehe oben Kapitel 6 III. = S. 327 aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre und oben Kapitel 10 II. 3. = S. 705 in grundgesetzlicher Perspektive; zur Normalität demokratischer Voraussetzungen siehe oben Kapitel 6 IV. = S. 353 aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre und oben Kapitel 10 II. 4. b) = S. 708 in grundgesetzlicher Perspektive. 1 Prototypisch: Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 567 (579). Zur Kritik an diesem Modell Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: ZfP 1998, S. 267 (271 ff.). 2 Prototypisch Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 425 ff.; Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, 2005, S. 473 (476 f.); ders. / Fritsche – Emmerich / Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, in: JZ 1993, S. 751 (755); Penski, Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 III GG, in: ZRP 1994, S. 192 (195).

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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lung der EG-Normsetzung an die mitgliedstaatlichen Staatsvölker als einer staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität generierenden Völkergesamtheit. Denn auch insofern wird die EG-Normsetzung nicht in dem Sinne an den Willen der einzelnen Staatsvölker rückgebunden, wie es dem Modell mittelbarer Legitimation entspricht3. Denn die von der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker als dezentriertem Unions-demos ausgehenden Legitimationszusammenhänge sind nicht Ausfluss unterschiedlicher, sondern ein und derselben Volkssouveränität. In der Perspektive der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes lässt sich das Modell der mittelbaren Legitimation folgendermaßen reformulieren: Zwar ist es in Ansehung des für die europäische Demokratie staatsverfassungsrechtlich maßgeblichen Art. 20 Abs. 2 GG nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass auch der – mitunter dezentrierte – Unions-demos eines Tages dazu beitragen wird, dass EG-Normsetzungsakte die auch für sie geltenden Legitimationsanforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG erfüllen. Hypothetisch soll jedoch im Folgenden davon ausgegangen werden, dass es derzeit noch an den institutionellen beziehungsweise sozialen Voraussetzungen mangelt, die erfüllt sein müssen, damit sich die von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geforderte demokratische Rückbindung von EG-Normsetzungsakten außer über das deutsche Staatsvolk und dessen Untervölker auch über den zentrierten Unions-demos beziehungsweise die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staatsvölker als dezentrierten Unions-demos Bahn bricht. Dementsprechend wird nachstehend unterstellt, dass die durch Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG auch in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte gebotene staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität überhaupt nur im nationalstaatlichen Rahmen Gestalt annehmen kann. Das Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation präsentiert sich in dieser grundgesetzlich informierten und orientierten Perspektive als Modell der nationaldemokratischen Legitimation. Ob nun bei Zugrundelegung des in dieser Weise grundgesetzadäquat rekonstruierbaren Modells mittelbarer demokratischer Legitimation den EG-Normsetzungsakten das vom Grundgesetz gebotene (Mindest-)Maß an demokratischer Legitimation zuwächst – diese Frage soll im Weiteren eingehend erörtert werden.

I. Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation Um in der beschriebenen modellspezifischen Perspektive das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation präzisieren zu können, muss zunächst geklärt werden, inwieweit EG-Normsetzungsakte überhaupt natio 3 Für dieses stellt Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 55 klar, dass bei „dieser Legitimationsteilung das (…) jeweilige Staatsvolk Ausgangspunkt einer auf es selbst bezogenen Staatsgewalt“ bleibt.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

naldemokratisch rückgebunden sein können4. Dabei lassen sich zwei Zurechnungszusammenhänge unterscheiden. Zum einen werden die EG-Normsetzungsakte über die sie determinierenden Gründungsverträge  – genauer: über die deutsche Zustimmung zum Abschluss des betreffenden Vertrags sowie aufgrund der deutschen Teilhabe an der diesbezüglichen Revisionsmacht  – nationaldemokratisch rückgekoppelt; zum anderen und vor allem können EG-Normsetzungsakte dadurch nationaldemokratisch legitimiert sein, dass bestimmten EG-Organen, in die die Bundesrepublik Deutschland Vertreter entsendet oder die unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland bestellt werden, im Rahmen des EG-Normsetzungsprozesses Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnisse eingeräumt sind5. Besteht hinsichtlich dieser beiden Zurechnungszusammenhänge erst einmal Klarheit, kann in einem weiteren Schritt die Bestandsaufnahme erfolgen. Dann nämlich ist es möglich, für die verschiedenen Kategorien von EG-Normsetzungsakten näher zu bestimmen, inwieweit über das EG-Primärrecht und aufgrund der den EGOrganen eingeräumten (Ko-)Dezisions- beziehungsweise (Ko-)Revisionsmacht ein Zurechnungszusammenhang zwischen nationaldemokratischem Volkswillen und EG-Normsetzungsakten etabliert wird6. Ob dieser die grundgesetzlichen Anforderungen an das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation erfüllt, muss in einem letzten und entscheidenden Schritt ermittelt werden7.

1. Nationaldemokratische Rückbindung durch das Primärrecht Dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung8 entsprechend beruht jeder EG-Normsetzungsakt auf einer primärrechtlichen Bestimmung. Da diese primärrechtlichen Bestimmungen nur mit Zustimmung der Bundesrepublik erlassen werden konnten und können9, erweisen sich EG-Normsetzungsakte als in dezisionärer Hinsicht über das Primärrecht nationaldemokratisch rückgebunden10.

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Dazu näher unten Kapitel 11 I. 1. = S. 866 und Kapitel 11 I. 2. = S. 870. Hierzu zum Beispiel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 443 ff. 6 Dazu unten Kapitel 11 I. 3. = S. 885. 7 Dazu unten Kapitel 11 I. 4. = S. 905. 8 Hierzu etwa Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn.  678 und Haratsch /  Koenig / Pechstein, Europarecht, 5. Aufl. 2006, Rn. 166 ff.; auch Kupfer, Die Verteilung knapper Ressourcen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2005, S. 118 f. 9 Zu den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ vgl. nur Herdegen, Europarecht, 9. Aufl. 2007, § 7 Rn. 2 ff. und Zuleeg, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 1 EGV Rn. 8. 10 Vgl. etwa Schambeck, Rechtsfragen der Entwicklung der Europäischen Integration, in: ÖJZ 1993, S. 826 (827 f.); Saalfrank (Fn. 28), S. 72; Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 157 f.; auch schon Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S. 34 (72).

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Des Weiteren kann durch eine gemäß Art. 48 EUV vorgenommene Änderung des EG-Primärrechts jeder Normsetzungsakt des sekundären Gemeinschaftsrechts außer Kraft gesetzt und gegebenenfalls durch eine Neuregelung substituiert werden. Denn verstößt er gegen das primäre Gemeinschaftsrecht, so trifft für einen sekundärrechtlichen Normsetzungsakt die Rechtsfolge der Nichtigkeit ein11. Erschöpft sich das neue Primärrecht nicht darin, der Sache nach das Außerkrafttreten bestimmter sekundärrechtlicher Normsetzungsakte anzuordnen, so wird die sekundärrechtlich geschaffene Rechtslage nicht nur abrogiert, sondern durch die primärrechtliche Alternativregelung modifiziert12. Ist die Bundesrepublik somit in einvernehmlichem Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten in der Lage, durch eine Änderung des EGV gemäß Art. 48 EUV sekundärrechtliche Bestimmungen aufzuheben und gegebenenfalls durch eine beliebige Neuregelung zu ersetzen, so erweisen sich EG-Normsetzungsakte auch in revisionärer Hinsicht als über das Primärrecht nationaldemokratisch rückgekoppelt13. 11 Zum Vorrang des Primär- vor dem Sekundärrecht und zur Rechtsfolge der Nichtigkeit beziehungsweise Unanwendbarkeit bei Primärrechtswidrigkeit des Sekundärrechts, vgl. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 3, Stand: April 2007, Art. 249 EGV Rn. 232. 12 Dies entspricht – in Ansehung der legitimationstheoretischen Grundstruktur – dem revi­ sionären Legitimationszusammenhang, der an das parlamentarische Zugriffsrecht anknüpft und auf eine Rechtsverordnung zurückführt. An und für sich läge freilich ein anderer Vergleich näher, nämlich zu der unmittelbar an die Revisibilität der Verfassung anknüpfenden revisio­ nären Legitimation (dazu oben Kapitel 10 II. 5. d] = S. 721). Schließlich wird der EGV mit gutem Grund gleichfalls als Verfassung angesprochen. Jedoch bleibt die unmittelbar an die Abänderbarkeit des Grundgesetzes anknüpfende revisionäre Legitimation vorliegend ausgeblendet, weil sie nichts Substanzielles für die Frage austrägt, welche Anforderungen Art. 20 Abs. 2 GG an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung stellt. Hingegen kann der an die Abänderbarkeit des  EGV anschließende revisionäre Legitimationszusammenhang nicht einfach ausgeblendet werden, wenn untersucht werden soll, ob die revisionäre demokratische Legi­ timation von EG-Normsetzungsakten den grundgesetzlichen Anforderungen genügt. 13 Dies bedeutet freilich nicht, dass EG-Normsetzungsakte ausschließlich insofern über das Primärrecht nationaldemokratisch rückgekoppelt wären, als dieses nach Maßgabe des Art. 48 EUV abgeändert werden kann. Hinzu treten noch zwei weitere an das Primärrecht anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhänge. So kann eine Revision des sekundären Gemeinschaftsrechts erstens auch durch eine vertragliche Aufhebung des  EGV erreicht werden: Ohne den  EGV, durch den die souveränen Mitgliedstaaten ihre staatliche Hoheitsgewalt zugunsten der europäischen zurückgenommen haben, kann das sekundäre Gemeinschaftsrecht im mitgliedstaatlichen Rechtsraum keine Anwendbarkeit beanspruchen und sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich in der Lage, jede beliebige (Neu-)Regelung zu treffen. Die Möglichkeit, den EGV konsensuell aufzuheben ergibt sich dabei nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts; insofern sei nur auf den Völkergewohnheitsrecht widerspiegelnden Art. 54 Buchst. b WVRK hingewiesen. Die Gegenauffassung, die unter Hinweis vor allem auf Art. 312 EGV von der rechtlichen Unauflöslichkeit der EG ausgeht, verkennt, dass sich das Gemeinschaftrecht noch nicht von seiner völkerrechtsvertraglichen Basis gelöst hat. Die Verankerung im völkerrechtlichen Vertragsrecht lässt bereits das Gemeinschaftsrecht selbst erkennen. So offenbart der im Text zu dieser Fußnote bereits erwähnte Art.  48  EUV, dass die Mitgliedstaaten ihre gemeinsame Dispositionsgewalt über den  EGV noch nicht aufgegeben und Abänderungen dieser Verträge in exakt der Weise zu erfolgen haben, wie dies bei jedem anderen völkerrechtlichen Vertrag der Fall ist. Mithin erweisen sich die

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Die eben dargelegte Sichtweise, wonach EG-Normsetzungsakte sowohl in dezisionärer als auch in revisionärer Hinsicht über das Primärrecht nationaldemokratisch rückgebunden werden, muss auch nicht etwa deshalb relativiert werden, weil vielfach die im Bundesrat repräsentierten Landesstaatsvölker die deutsche Haltung zu Abschluss, Änderung und Aufhebung der primärrechtskonstitutiven Völkerrechtsverträge mitbestimmen14: Dass diese Verträge in Hinblick auf Art.  23 Abs.  1 Satz  2 und Satz  3  GG beziehungsweise wegen Art.  59 Abs.  2

EG-Normsetzungsakte auch insofern als über das Primärrecht nationaldemokratisch rückgekoppelt, als die Bundesrepublik im einvernehmlichen Zusammenwirken mit anderen Mitgliedstaaten eine Aufhebung des EGV zu bewirken vermögen. Zweitens vermag die Bundesrepublik in besonderen Ausnahmekonstellationen auch ohne einvernehmliches Mittun der anderen Mitgliedstaaten darauf hinzuwirken, dass der EGV zumindest für ihr Staatsgebiet außer Kraft tritt; in diesem Fall finden Bestimmungen des sekundären Gemeinschaftsrechts innerhalb Deutschlands keine Anwendung mehr und können von Seiten der deutschen Hoheitsgewalt durch eine grundsätzlich beliebige (Neu-)Regelung substituiert werden. Eine solche einseitige Loslösung vom EGV kommt in Betracht, wenn nach allgemeinem Völkervertragsrecht außerordentliche Kündigungsgründe vorliegen (vgl. Art. 60 ff. WVRK). Insbesondere ist die These, wonach der  EGV in Hinblick auf Art.  312 EGV nicht kündbar sein soll, zurückzuweisen; insofern lässt sich der Sache nach dieselbe Argumentation vortragen, wie sie eben bereits zur Begründung der völkerrechtsvertraglichen Aufhebbarkeit des EGV entwickelt wurde. Somit erweisen sich EG-Normsetzungsakte auch insofern als über das Primärrecht nationaldemokratisch rückgebunden, als die Bundesrepublik den EGV in besonderen Ausnahmefällen kündigen darf. Die beiden hier skizzierten revisionären Legitimationszusammenhänge sollen im Folgenden nun freilich weithin ausgeblendet bleiben. Gerechtfertigt erscheint dies schon insofern, als die Aufhebung beziehungsweise Kündigung des EGV bei Lichte betrachtet ein eher theoretische denn praktisch relevante Option darstellt. Legitimationstheoretisch lässt sich dieses pragmatische Argument folgendermaßen reformulieren: Die in Rede stehenden Legitima­ tionszusammenhänge erfassen EG-Normsetzungsakte in keinem größeren Umfang als der an Art. 48 EUV anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang. Nun erweist sich schon dieser als relativ störungsanfällig, denn es ist doch recht unwahrscheinlich, dass aufgrund der Abänderungsmöglichkeit nach Art.  48  EUV die Nichtrevision sekundärrechtlicher Normsetzungsakte reflektiert wird und gerade dadurch zum Gegenstand (national-)demokratischer Willensbildung avanciert. Noch viel unwahrscheinlicher ist es freilich, dass aufgrund der jedenfalls derzeit rein theoretisch anmutenden Möglichkeit, den EGV aufzuheben oder zu kündigen, die Nichtrevision sekundärrechtlicher Normsetzungsakte überdacht wird und sich somit diesbezüglich ein (national-)demokratischer (Unterlassungs-)Wille aktualisiert. Die beiden an dieser Stelle interessierenden revisionären Legitimationszusammenhänge erweisen sich insofern als ungleich störungsanfälliger als der an Art. 48 EUV anknüpfende revisionäre Legitimations­ zusammenhänge, mit dem sie kongruieren. Nun gilt bei kongruierenden revisionären Legitimationszusammenhängen, dass sich das das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation nach Maßgabe der Störungsanfälligkeit der respektiven Legitima­ tionszusammenhänge bemisst. Hieraus folgt, dass die beiden hier interessierenden Legitima­ tionszusammenhänge das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität (national-)demokratischer Legitimation in so geringem Maße mitprägen, dass sie ohne Weiteres vernachlässigt werden können und stattdessen allein auf den an Art. 48 EUV anknüpfenden revisionären Legitima­ tionszusammenhang abgestellt werden kann. 14 Roller, Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entscheidungen, in: AöR 1998, S. 25 (31).

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Satz  1  GG15 vielfach nicht ohne Zustimmung des Bundesrats werden ergehen können, verträgt sich im Ergebnis durchaus mit der Vorstellung, dass die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zu Erlass und Fortbestand des Primärrechts durchweg exklusiv nationaldemokratisch legitimiert ist. Zu erinnern ist nämlich, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch die gemeinschaftliche Machtausübung durch mehrere demoi exklusive demokratische Legitimation zu vermitteln in der Lage ist16. Sind nun diese Voraussetzungen auch hinsichtlich des Zusammenwirkens von Bundesvolk und Landesvölkern in der hier interessierenden Konstellation erfüllt, so kann die insofern generierte Legitimation erstens als exklusiv charakterisiert werden. Zweitens lässt sie sich dann auch als nationaldemokratische bezeichnen, wird sie doch in einem ausschließlich nationalstaatlichen Kontext erzeugt. Damit bleibt lediglich zu begründen, weshalb eine gemeinschaftliche Zustimmung von Bundesvolk und Ländervölkern zu Erlass beziehungsweise Nichtrevision des Primärrechts die beiden Anforderungen erfüllt, die nach der grundgesetzlichen Strukturnorm der Volkssouveränität dogmatisch an ihre exklusiv demokratische Legitimation zu stellen sind. So beruht ihr Zusammenwirken erstens auf einem Verfahrensarrangement, das vom Staatsvolk als Träger des pouvoir constituant gebilligt wurde. Zweitens und vor allem beteiligen sowohl das Bundesvolk als Ganzes wie auch die Gesamtheit der Landesvölker als dezentrierter Bundes-demos alle Individuen an ihrer jeweiligen Machtentfaltung, die durch die bundesrepublikanische Zustimmung zu Erlass und Fortbestand des Primärrechts vergleichbar nachhaltig betroffen werden, und schließen sonstige Individualbetroffene von der Machtteilhabe nur in­sofern aus, als sich dies in Hinblick auf ihre Autonomieansprüche verträgt. Denn dadurch, dass die in Rede stehende Zustimmung integral eingebunden ist in die von Bund und Ländern gemeinsam gestaltete Politik und in den von ihnen gemeinsam realisierten gesamtstaatlichen Interessenausgleich, tangiert sie die Bundesvolksangehörigen und die damit identische Gesamtheit der Landesvolksangehörigen vergleichbar nachhaltig und zugleich wesentlich anders als sonstige Staatsgebietsangehörige oder die vom Zustimmungsakt gleichfalls betroffenen Angehörigen 15 Die Auffassung von Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 121, wonach neben Art. 23 GG für Art. 59 Abs. 2 GG kein Raum bleibe, vermag nicht zu überzeugen. Denn Art. 23 Abs. 1 GG greift in den Fällen nicht ein, in denen eine Modifikation der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union weder mit einer Übertragung von Hoheitsrechten im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG einhergeht, noch auf eine inhaltliche Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG hinausläuft. In diesen Fällen bedarf es des Rückgriffs auf Art. 59 Abs. 2 GG, weil andernfalls unklar bliebe, wer den Änderungsakt deutscherseits zu billigen hat und weshalb der völkerrechtliche Änderungsvertrag innerstaatlich Geltung beanspruchen können soll. Allerdings ist auch die Auffassung von Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 59 Rn. 7 zurückzuweisen, der für die generelle Anwendbarkeit von Art. 59 GG bei Änderungen des primären Gemeinschaftsrechts eintritt. Ihr steht der lex-specialis-Grundsatz ent­ gegen (zu diesem Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, § 7 c). 16 Siehe oben Kapitel 10 II. 1. a) bb) = S. 700.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

anderer Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch nicht als autonomiewidrig zu qualifizieren, wenn Gebietsangehörige ohne deutsche Staatsangehörigkeit ebenso wenig an der Machtentfaltung von Bundesvolk und Landesvölkergesamtheit als dezentriertem Bundes-demos partizipieren wie die Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten. Mithin bestätigt sich, dass die Zustimmung der Bundesrepublik zu Erlass und Fortbestand des Primärrechts tatsächlich auch insofern exklusiv demokratisch und damit zugleich exklusiv nationaldemokratisch legitimiert ist, als sie über den Bundes­rat von der Gesamtheit der Landesvölker als dezentriertem Bundes-demos mitgetragen wird.

2. Nationaldemokratische Rückbindung durch EG-Organe Über die Gründungsverträge allein wird freilich nur in begrenztem Umfang zur dezisionären sowie revisionären Rückbindung an den – mitunter dezen­trierten – nationaldemokratischen Volkswillen beigetragen: Schon wegen der relativen Unbestimmtheit zahlreicher primärrechtlicher Tatbestände17 kann sich über die Gründungs- und Änderungsverträge nur ein geringes Maß an nationaldemokratischer dezisionärer Legitimation Bahn brechen. In revisionärer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass das Ausmaß nationaldemokratischer Legitimation, das den EGNormsetzungsakten zuwächst, nur zum Teil davon geprägt wird, dass sich Sekundärrecht durch eine Abänderung des Primärrechts mittelbar derogieren lässt; zum anderen Teil wird es durch denjenigen Legitimationszusammenhang determiniert, der an die den EG-Organen im Rahmen der Rechtsetzungsverfahren unmittelbar zustehenden Abänderungsbefugnisse anknüpft18. In welchem Umfang Erlass und (Nicht-)Revision von EG-Normsetzungsakten nationaldemokratisch rückgebunden sind, hängt folglich wesentlich davon ab, inwieweit EG-Normsetzungsakte durch EG-Organe an den nationaldemokratischen Volkswillen rückgebunden werden. Zur nationaldemokratischen Rückbindung können freilich nur diejenigen EGOrgane beitragen, denen in Hinblick auf Erlass beziehungsweise Fortbestand von EG-Normsetzungsakten veritable (Mit-)Entscheidungsmacht zusteht. Echte (Ko-)Dezisions- beziehungsweise (Ko-)Revisionsmacht ist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung dafür, dass die betreffenden EG-Organe

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Hierzu etwa Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 5 EGV Rn. 11. Wegen der ungleich größeren Störungsanfälligkeit des primärrechtsbezogenen revisionären Legitimationszusammenhangs ist dabei davon auszugehen, dass dieser das für EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht charakteristische Ausmaß nationaldemokratischer Legitimation weniger stark prägt, als der mit ihm teilkongruente Legitimationszusammenhang, der an die unmittelbare Abänderbarkeit der EG-Normsetzungsakte in den schon für ihren Erlass maßgeblichen Rechtsetzungsverfahren anknüpft (zu diesen Zusammenhängen auch schon Kapitel 6 V. 1. a] bb] [3] = S. 401 dort Fn. 667).

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die (Mit-)Herrschaft des deutschen Volks zu vermitteln vermögen19. EG-Organe, die lediglich konsultativ an der EG-Normsetzung mitwirken, können folglich von vornherein keinen dezisionären beziehungsweise revisionären Zurechnungszusammenhang zwischen dem nationaldemokratischen Volkswillen und den einzelnen Normsetzungsakten begründen. Vor diesem Hintergrund kann ein Normsetzungsakt im hier verstandenen Sinn niemals über den Wirtschaft- und Sozialausschuss20 oder den Ausschuss der Regionen21, sondern allenfalls über den Rat, das Euro­ päische Parlament, die Kommission22 oder den Ausschuss der Staatenvertreter nationaldemokratisch rückgebunden sein. Zwar kommt selbstverständlich nicht jedem dieser zuletzt genannten EG-Organe Dezisions- beziehungsweise Revi­ sionsmacht in Hinblick auf jeden EG-Normsetzungsakt zu. Jedoch besitzen sämtliche dieser EG-Organe (Ko-)Dezisions- beziehungsweise (Ko-)Revisionsmacht in Hinblick auf zumindest bestimmte EG-Normsetzungsakte. Demgegenüber steht allen anderen EG-Organen – jedenfalls in Hinblick auf die hier allein interessierenden Normsetzungsakte23  – legislatorische Dezisions- beziehungsweise Revi­ sionsmacht niemals zu. Im Folgenden ist daher der Frage nachzugehen, ob über die Dezisions- und Revisionsmacht von Rat, Kommission, Europäischem Parlament und Ausschuss der Staatenvertreter nationaldemokratische (Mit-)Herrschaft Gestalt anzunehmen vermag und insofern durch diese EG-Organe zur Rück­ bindung von EG-Normsetzungsakten an den nationaldemokratischen Volkswillen beigetragen wird.

a) Nationaldemokratische Rückbindung durch den Rat Zu einer nationaldemokratischen Rückbindung von EG-Normsetzungsakten kann es insbesondere dann kommen, wenn dem Rat in Hinblick auf Erlass und Fortbestand eines EG-Normsetzungsakts Mitentscheidungsmacht zukommt24. Denn im Rat sitzt immer auch ein Vertreter der Bundesrepublik25. Soweit dieser die

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So auch Veil, Volkssouveränität und Volkssouveränitäten in der EU, 2007, S. 73 f. Zum Wirtschafts- und Sozialausschuss und seiner lediglich konsultativen Funktion Haratsch / Koenig / Pechstein (Fn. 8), Rn. 282 f.; vertiefend Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 58 f. 21 Zum Ausschuss der Regionen und seiner lediglich konsultativen Funktion Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3. Aufl. 2006, Rn. 401 ff.; vgl. weiterführend auch Goodman, Die Europäische Union: Neue Demokratieformen jenseits des Nationalstaats, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 331 (357 f.) sowie erneut Nugent (Fn. 20), S. 264 ff. 22 Diese drei Organe werden auch in Art. 249 UAbs. 1 als Normsetzungsorgane angesprochen. 23 Der hier verwandte Begriff des Normsetzungsakts (zu diesem oben Einleitung III. 1. a] = S. 76) blendet beispielsweise die – jeweils mit Genehmigung des Rats – von EuGH beziehungsweise im Einvernehmen mit dem EuGH vom EuG erlassenen Verfahrensverordnungen aus (Art. 223 UAbs. 6 und 224 UAbs. 6 EGV), 24 Dazu Saalfrank (Fn. 2), S. 74 ff. 25 Art. 203 UAbs.1 EGV. Vgl. ferner auch Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 4 Rn. 29.

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vom Rat in Hinblick auf einen bestimmten Normsetzungsakt getroffene Dezision beziehungsweise dessen Revisionsverzicht mitträgt, kommt durch ihn national­ demokratische (Mit-)Herrschaft zum Tragen26. Im Gegenzug scheidet eine über den Rat vermittelte nationaldemokratische Rückbindung dann von vornherein aus, wenn der nationale Regierungsvertreter die Normerlass- beziehungsweise Nichtrevisionsentscheidung nicht billigt27. Denn dann ist die Rückbindung an den nationaldemokratischen Willen in dieser Hinsicht  – jedenfalls aktuell28  – unterbrochen29. Wird nun die Erlass- oder aber Nichtrevisionsentscheidung des Rats von dem deutschen Ratsvertreter unterstützt, so mutiert die dadurch vermittelte nationaldemokratische Legitimation nicht schon deshalb zu einer lediglich partizipativen, weil die deutsche Beteiligung an den Ratsentscheidungen teilweise von den Landesvölkern mitbeherrscht wird. Denn auch soweit die Landesvölker zusammen mit dem Bundesvolk oder ausnahmsweise allein die Tätigkeit des deutschen Ratsvertreters determinieren, vermitteln sie dieser eine exklusive demokratische Legitimation, die sich mit Rücksicht auf ihren nationalstaatlichen Entstehungszusammenhang im Ergebnis als exklusiv nationaldemokratische Legitimation charakterisieren lässt. Dies soll im Folgenden näher dargelegt werden.

aa) Nationaldemokratische Rückbindung durch den Rat in den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG Von den Landesvölkern mit beherrscht wird die deutsche Beteiligung an Ratsentscheidungen insbesondere dann, wenn der Vertreter der Bundesregierung im Ministerrat an das Votum des Bundesrats gebunden ist30. Dass es zu einer solchen Bindung kommen kann, ergibt sich aus Art. 23 Abs. 5 Satz 2 1. Halbsatz GG. Denn wenn es dort der Sache nach heißt, dass vor einer Stimmabgabe im Rat die Auffassung des Bundesrats ‚maßgeblich zu berücksichtigen‘ ist, so bedeutet dies, dass der zuständige Bundesminister die Vorgaben des Bundesrats im Regelfall be­folgen muss, sofern nicht ein besonderer Grund ein Abweichen von diesen Vor­gaben

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Vgl. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (588). Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 396. 28 Dieser Einschub ist dem Umstand geschuldet, dass zwar nicht der dezisionäre, wohl aber der revisionäre Legitimationszusammenhang nicht ein für allemal unterbrochen ist, sondern temporär wieder entstehen kann – dazu näher oben Kapitel 6 I. 1. b) = S. 255. 29 Vgl. Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 129; Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration, 2000, S. 462 ff. 30 Wenn im Folgenden auf die Mitwirkung des Bundesrats an EG-Normsetzungsakten eingegangen wird, so beschränkt sich die Analyse bewusst auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Mithin bleiben die Maßgaben des EUZBLG unerörtert. Denn es geht vorliegend ausschließlich um das durch die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen definierte Normalmaß demo­ kratischer Legitimation. – Zum Verhältnis des Grundgesetzes zum EUZBLG vgl. nur Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 23 Rn. 98.

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rechtfertigt31. So darf der Vertreter der Bundesregierung insbesondere dann ein von der bundesrätlichen Maßgabe abweichendes Votum im Ministerrat abgeben, wenn sich dies gemäß Art. 23 Abs. 5 Satz 2 2. Halbsatz GG mit der gesamtstaatlichen Verantwortung begründen lässt32. Auch kann die Bundesregierung nicht als verfassungsrechtlich verpflichtet angesehen werden, den Vorgaben des Bundesrats zu folgen, wenn im Sinne von Art. 23 Abs. 5 Satz 3 GG für die Finanzen des Bundes relevante Angelegenheiten zur Debatte stehen33. Sofern derartige Ausnahme­ konstellationen aber nicht vorliegen, bleibt es bei der Bindung an die bundesrätliche Maßgabe. Mit dem gewiss nicht sonderlich glücklichen Terminus34 der ‚maßgeblichen Berücksichtigung‘ wird demnach eine inhaltliche Bindung des Regierungsvertreters an die Stellungnahme des Bundesrats nicht etwa ausgeschlossen, sondern stattdessen lediglich deren Relativität, also ihre Beschränkung auf bestimmte Sachverhaltskonstellationen, betont35. Kommt nun freilich in den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG dem Bundesrat und über ihn den Landesvölkern eine Mitentscheidungsmacht in Hinblick auf den EG-Normsetzungsprozess zu, so bedeutet dies keineswegs, dass den Mitwirkungsakten der deutschen Ratsvertreter eine nur mehr partizipative nationaldemokratische Legitimation zuwüchse. Zwar mag man bei vordergründiger Betrachtung den Eindruck gewinnen, dass der Bundesrat das Verhalten des nationalen Ratsvertreters allenfalls an die sechzehn Bundesländer rückkoppelt, wenn er dem im Rat agierenden Bundesminister bindende Vorgaben macht. Legt man jedoch das im staatstheoretischen Teil entwickelte36 und für Art. 20 Abs. 2 GG normwissenschaftlich belegte37 Konzept dezentrierter, aber staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zu Grunde, so zeigt sich, dass nationales Staatsvolk und Landesstaatsvölker unter den Bedingungen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG so zusammenwirken, dass der Mitherrschaftsbeitrag des nationalen Ratsvertreters als exklusiv demo

31 Roller (Fn. 14), S. 42 sowie Diehr, Die Bewahrung der demokratischen und föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Integrationsprozeß, 1998, S. 243 f. 32 Weitergehend die wohl herrschende Meinung, vgl. etwa Müller-Terpitz, Die Beteiligung des Bundesrates am Willensbildungsprozeß der Europäischen Union, 1999, S. 205 ff., Badura, Das Staatsziel „Europäische Integration“ im Grundgesetz, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 887 (899) und Scholz, in: Maunz / Dürig (Begr.), Grundgesetz, Bd. 3, Stand: Juni 2007, Art. 23 Rn. 126 ff.: verbindliches Letztentscheidungsrecht des Bundesrats. 33 Dazu Müller-Terpitz (Fn. 32), S. 228 ff.; Lerche, Zur Position der deutschen Länder nach dem neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schambeck, 1994, S. 753 (764); Pernice (Fn. 15), Rn. 115; Streinz (Fn. 30), Rn. 115; Diehr (Fn. 31), S. 246 ff. 34 Dass es ihm an der wünschenswerten Klarheit gebricht, konstatiert auch Hobe, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Stand: September 2007, Art. 23 Rn. 77. 35 Prinzipiell gegen ein  – auch relativiertes  – Letztentscheidungsrecht Streinz (Fn.  30), Rn.  110. Wie hier Wolfrum, Auswärtige Beziehungen und Verteidigungspolitik, in: Badura /  Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 693 (713). 36 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. 37 Siehe oben Kapitel 10 II. 1. a) bb) = S. 700.

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kratisch und mithin exklusiv nationaldemokratisch legitimiert qualifiziert werden kann. Denn erstens beruht das Zusammenwirken von Bundesstaatsvolk und Landesstaatsvölker auf einem institutionell-organisatorischen Arrangement, dass das Staatsvolk als Träger des pouvoir constituant gebilligt hat. Zweitens und vor allem lassen, wie nachstehend näher dargelegt, sowohl das Bundesstaatsvolk als zen­ trierter Bundes-demos wie auch die Gesamtheit der Landesstaatsvölker als dezen­ trierter Bundes-demos jeweils alle Individuen an ihrer respektiven Machtausübung partizipieren, die von dem Mitherrschaftsbeitrag des deutschen Ratsvertreters vergleichbar nachhaltig betroffen werden; auch schließen sie sonstige Individual­ betroffene nur insoweit von der Machtteilhabe aus, als sich dies mit deren Auto­ nomieansprüchen verträgt. So erweist sich der Mitherrschaftsbeitrag des deutschen Ratsvertreters als integrierender Bestandteil der von Bund und Ländern gemeinsam betriebenen gesamtstaatlichen Politik sowie des von ihnen gemeinsam erstrebten gesamtstaatlichen Interessenausgleichs. Insofern aber betrifft er die Angehörigen des Bundesstaatsvolks und mithin auch die damit personenidentischen Angehörigen aller Landesstaatsvölker selbst dort vergleichbar nachhaltig, wo er sich auf eine auf den ersten Blick nur für wenige Staatsvolksangehörige relevante Materie bezieht. Zugleich offenbart sich insofern, dass die Angehörigen der anderen EU-Mitgliedstaaten, wiewohl sie gleichfalls durch den Mitherrschaftsbeitrag des deutschen Ratsvertreters tangiert sind, hiervon doch in kategorial anderer Weise betroffen werden als die Angehörigen des deutschen Bundesstaatsvolks beziehungsweise der deutschen Landesstaatsvölker. Denn selbstverständlich berührt sie die Politik der Bundesrepublik Deutschland und der innerhalb der Bundesrepublik Deutschland realisierte Interessenausgleich ungleich weniger intensiv als die deutschen Staatsangehörigen. Vor diesem Hintergrund ist es auch ohne Weiteres mit ihren Autonomieansprüchen vereinbar, wenn die Mitherrschaft des deutschen Ratsvertreters nicht auch an die Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten rückgebunden ist. Es kann somit, insgesamt betrachtet, davon ausgegangen werden, dass der Mitherrschaftsbeitrag des deutschen Ratsvertreters auch in den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG in exklusiv nationaldemokratischer Legitimation erwächst.

bb) Nationaldemokratische Rückbindung durch den Rat in den Fällen des Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG Im Ergebnis nicht anders verhält es sich dann, wenn die Landesvölker den EGNormsetzungsprozess ausnahmsweise dadurch mitbestimmen, dass nach Maßgabe des Art.  23 Abs.  6 Satz  1  GG ein vom Bundesrat benannter Vertreter der Länder die Befugnisse des deutschen Ratsvertreters wahrnimmt38 und dieser – auf

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Dazu BT-Drs. 16/813, S. 10.

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grund des entsprechend auch für ihn geltenden Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG39 – gegebenenfalls die Vorgaben der Staatenkammer vollziehen muss40. In dieser Ausnahmekonstellation wird das Verhalten des deutschen Ratsvertreters grundsätzlich allein von den Landesvölkern determiniert41. Dem widerstreitet auch nicht, dass gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 2 GG die Rats­ befugnisse in Abstimmung mit der Bundesregierung wahrgenommen werden. Denn mitentscheidender Einfluss auf die Betätigung des Ratsvertreters stünde der Bundesregierung und mithin dem Bundesstaatsvolk in der Konstellation des Art.  23 Abs.  6  GG nur dann zu, wenn das Abstimmungsgebot des Satzes 2 im Sinne eines Einvernehmenserfordernisses zu interpretieren wäre42. Davon kann aber zumindest für den Regelfall nicht ausgegangen werden. Denn dann wäre die Einflussmacht der Bundesländer im Fall des Art.  23 Abs.  6  GG geringer als in der Konstellation des Absatzes 5, was Systematik und Teleologie der Vorschrift widerspräche43. Im Übrigen sprechen auch die Motive gegen eine Gleichsetzung von Abstimmung und Einvernehmen44. Richtigerweise wird man daher nur dann von einer Verdichtung des Abstimmungsgebots zu einem Einvernehmenserfordernis ausgehen und mithin eine Mitentscheidungsmacht der Bundesregierung respektive des Bundesstaatsvolks hinsichtlich der Wahrnehmung der Ratsbefugnisse annehmen können, wenn die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 2 2. Halbsatz konterkariert zu werden droht45. Aber auch eine unter den geschilderten Voraussetzungen allein auf die Landesstaatsvölker zurückführende Wahrnehmung der deutschen Ratsbefugnisse erweist sich als exklusiv nationaldemokratisch legitimiert46. Schließlich beruht das Zusammenwirken der Länder erstens auf vom Staatsvolk sanktionierten Verfassungsbestimmungen. Zweitens beteiligt die Gesamtheit der Landesstaatsvölker als dezentrierter Bundes-demos alle von dem Mitherrschaftsbeitrag des Ratsvertreters vergleichbar nachhaltig Betroffenen an ihrer Machtausübung und schließt sonstige Individualbetroffene nur unter Berücksichtigung ihrer Autonomieansprüche von der Machtteilhabe aus. Denn anders als der EG-Normsetzungsakt selbst lässt sich der darauf gerichtete Mitherrschaftsbeitrag des als Ratsmitglied fungierenden Ländervertreters problemlos als integrales Element der gesamtstaatlichen Politik und des gesamtstaatlichen Interessenausgleichs qualifizieren, durch die die

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So offensichtlich auch Scholz (Fn. 32), Rn. 136. Dazu auch Saalfrank (Fn. 2), S. 75. 41 Vgl. Schliesky (Fn. 27), S. 399. 42 So aber im Endeffekt Pernice (Fn.  15), Rn.  120; wie hier Müller-Terpitz (Fn.  32), S. 290 ff. 43 Danach regelt Art. 23 Abs. 6 GG „die stärkste Form der Beteiligung des Bundesrates an der Vertretung Deutschlands in der Europäischen Union“ (Classen, in: v. Mangoldt / Klein /  Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 23 Rn. 93). 44 BT-Drs. 12/3896, S. 10: mehr als Benehmen (dazu Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 13 Rn. 45), aber eben weniger als Einvernehmen. 45 Dagegen Scholz (Fn. 32), Rn. 137. 46 Anderer Ansicht Schliesky (Fn. 27), S. 400.

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mit dem Bundesstaatsvolk personenidentischen Angehörigen der Landesstaatsvölker vergleichbar nachhaltig und zugleich ungleich intensiver betroffen werden als die von den Mitherrschaftsbeiträgen gleichfalls betroffenen Angehörigen sonstiger Mitgliedstaaten. Dass ein vom Vertreter der Länder47 im EG-Normsetzungsprozess geleisteter Mitherrschaftsbeitrag exklusiv nationaldemokratisch legitimiert ist, wird auch insoweit nicht in Frage gestellt, als in diesen Fällen einem der Landesvölker eine besondere Machtstellung hinsichtlich des legitimationsbedürftigen Mitherrschaftsbeitrags eingeräumt ist. Dieser nicht eben selbstverständliche Sachverhalt bedarf freilich der näheren Begründung48. Daher wird nachstehend zunächst dargetan, weshalb in den Fällen des Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG eines der Landesvölker tatsächlich über mehr Macht verfügt als die anderen. Im Anschluss daran kann dann erläutert werden, weshalb die vom Vertreter der Länder im Rat geleisteten Mit­ herrschaftsbeiträge gleichwohl als exklusiv nationaldemokratisch legitimiert angesehen werden können. So ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Bundesrat aus gemeinschaftsrechtlich zwingenden49 und mittlerweile auch aus bundesgesetzlichen50 Gründen ausschließlich Landesminister gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG als Vertreter der Länder benennen kann. Landesminister indes verdanken ihr Amt einem bestimmten Landesparlament und unterliegen dessen Kontrolle51. Infolgedessen vermittelt ein Landesminister, wenn er als Vertreter der Länder im Sinn von Art. 23 Abs. 6 Satz  1  GG agiert, nicht nur die sich im Bundesrat manifestierende Herrschaftsmacht aller Landesvölker, sondern zusätzlich die gerade seines eigenen Landesvolks. Dieses vermag somit gleich über zwei Kanäle den im Rat geleisteten Mitherrschaftsbeitrag der Bundesrepublik zu beeinflussen und verfügt insofern über eine stärkere Machtstellung als die übrigen Landesvölker52. Dieser Sichtweise steht nicht entgegen, dass ein zum Vertreter der Länder bestellter Landesminister vom Bundesrat mandatiert ist53. Denn dieser besondere Berufungs- und Verantwortungszusammenhang ändern nichts daran, dass der betreffende Landesminister nur deswegen zum Vertreter der Länder bestellt werden konnte, weil er zuvor von einem das Landesstaatsvolk repräsentierenden Landesorgan in sein Ministeramt eingesetzt wurde, und er sich, wenn er aufgrund dieses Amts zum Vertreter der Länder avanciert, politisch auch in dieser Hinsicht vor seinem Landesparlament zu verantworten hat. Über das System magistratischer

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Zu dessen Status Scholz (Fn. 32), Rn. 136. Hierzu auch Lerche (Fn. 33), S. 765. 49 Geiger,  EUV / EGV, 4.  Aufl. 2004 Art.  203  EGV Rn.  1. Vgl. dazu näher auch unten Fn. 249. 50 § 6 Abs. 2 Satz 2 EUZBLG. 51 Zu dieser Problematik auch Streinz (Fn. 30), Rn. 119. 52 Vgl. hierzu ferner Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 4./5. Aufl. 2001, Art. 23 Rn. 76. 53 Dazu problematisierend Müller-Terpitz (Fn. 32), S. 284 ff.

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Repräsentation wird ein Landesminister folglich auch als Vertreter der Länder immerhin teilweise an den Willen eines ganz bestimmten Landesstaatsvolks rück­ gebunden und kommt diesem folglich eine stärkere Machtstellung in Hinblick auf den deutschen Mitherrschaftsbeitrag zu als den anderen Landesvölkern54. Anders könnte es sich allenfalls dann verhalten, wenn dem Grundgesetz zu entnehmen wäre, dass sich der im Rat als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland agierende Landesminister ausschließlich als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland fühlen und das Landesparlament das Handeln seines Landesministers auf EU-Ebene politisch ignorieren soll. Derartige normative Postulate begründet das Grundgesetz aber schon deshalb nicht, weil sie den real existierenden Berufungs- und Verantwortungszusammenhängen diametral entgegenstünden, die das vom Grundgesetz voraus-gesetzte System parlamentarischer Demokratie etabliert. Wie soll sich der Landesminister nicht als Repräsentant auch seines Landesstaatsvolks fühlen, wenn er in seiner gesamten politischen Existenz auf eben dieses hin ausgerichtet ist? Wie soll ein Landesparlament vertrauensvoll mit einem Minister zusammenarbeiten, der in europäischen Angelegenheiten den Erwartungen des Landesparlaments zuwiderhandelt? Vor diesem Hintergrund kann und muss von Grundgesetzes wegen davon ausgegangen werden, dass der als Vertreter der Länder im Rat agierende Landesminister neben der über den Bundesrat zum Ausdruck gelangenden Herrschaftsmacht aller Landesvölker zusätzlich die seines eigenen Volks vermittelt, das insofern in der Tat über eine besonders ausgeprägte Machtposition verfügt. Dass nach allem demjenigen Landesvolk, dessen Minister gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG als Vertreter der Länder handelt, eine größere Herrschaftsmacht in Hinblick auf den im Rahmen des Rats geleisteten deutschen Mitherrschaftsbeitrag zukommt als den übrigen Landesvölkern, widerstreitet nun freilich nicht der exklusiv nationaldemokratischen Legitimation dieses Mitherrschaftsbeitrags. Denn das Zusammenwirken dieses einen, bevorrechtigten Landesvolks mit den anderen Landesvölkern erfüllt durchaus die Voraussetzungen, die an die exklusiv nationaldemokratische Legitimation des gemeinschaftlich determinierten Mitherrschaftsbeitrags zu stellen sind. Denn abgesehen davon, dass insofern der nationalstaatliche Bezugsrahmen gewahrt bleibt und unter diesem Gesichtspunkt von einer nationaldemokratischen Legitimation gesprochen werden kann, werden fernerhin auch die beiden Voraussetzungen erfüllt, die an die Exklusivität dieser Legitimation zu stellen sind: Erstens beruht das Zusammenwirken der Völker auf einem vom Staatsvolk als Verfassunggeber legitimierten Arrangement. Zweitens und vor allem erfüllen die zusammenwirkenden demoi die an den demokratischen Betroffenheitsmodus anknüpfende Voraussetzung. Zwar beteiligt das besonders einflussstarke Landesvolk, allein für sich betrachtet, nicht alle von dem Mitherrschaftsbeitrag vergleichbar nachhaltig betroffenen

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Dies vernachlässigt Müller-Terpitz (Fn. 32), S. 309 ff.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Individuen an seiner Machtausübung. Denn seine Angehörigen werden von dem Mitherrschaftsbeitrag nicht in spezifisch anderer Weise betroffen als die Angehörigen der anderen Landesstaatsvölker. Ein abweichender Betroffenheitsmodus ergibt sich insbesondere auch nicht daraus, dass der Mitherrschaftsbeitrag integral eingebunden wäre in die von dem besonders einflussstarken Landesvolk allgemein verfolgte Politik und den von ihm erstrebten Interessenausgleich. Denn da der in Rede stehende Mitherrschaftsbeitrag nicht nur auf das einzelne besonders einflussreiche Landesvolk, sondern zugleich auf die Gesamtheit der Landesstaatsvölker als dezentrierten Bundes-demos zurückführt, ist er in die von allen Landesvölkern gemeinsam definierte Politik, in den von ihnen gemeinsam angestrebten Interessenausgleich vernetzt und betrifft insofern unterschiedslos alle Angehörigen sämtlicher Landesstaatsvölker vergleichbar nachhaltig. Die Rückbindung an den landesvolkspartikularen Politikzusammenhang oder Interessenausgleich wird insofern überlagert. Wenn die Angehörigen des einen, besonders mächtigen Landesstaatsvolks nun freilich nicht anders als die Angehörigen der übrigen Landesvölker von dem durch Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG in Bezug genommenen Mitherrschaftsbeitrag Deutschlands im Rat betroffen werden, so umfasst dieses Landesstaatsvolk, allein für sich betrachtet, in der Tat nicht alle vergleichbar nachhaltig von dem fraglichen Mitherrschaftsbeitrag betroffenen Individuen. Jedoch erweist sich dieses eine, einflussstarke Volk als integrierender Bestandteil jener Völkergesamtheit, die als dezentrierter Bundes-demos nach Maßgabe des Art.  23 Abs.  6 Satz  1  GG den im Rahmen des Rats geleisteten deutschen Mitherrschaftsbeitrag determiniert und aus den bereits dargelegten Gründen alle von diesem Mitherrschaftsbeitrag vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen an ihrer Machtausübung beteiligt, ohne sonstige Individualbetroffene autonomiewidrig von der Machtteilhabe auszuschließen. Denn obgleich dieses eine Volk in Hinblick auf den betreffenden Mitherrschaftsbeitrag über eine besonders große Einflussmacht verfügt, bleibt es doch dabei, dass ihm diese nur aufgrund des Zusammenwirkens mit den anderen Landesvölkern zuwächst. Nur weil und soweit die Gesamtheit der Länder durch einen von ihr in den Rat entsandten Ländervertreter unmittelbar am EG-Normsetzungsprozess beteiligt ist, wächst diesem einen Volk eine besondere Machtposition zu. Folglich kann und muss dieses eine Volk als integraler Bestandteil jener gemäß Art.  23 Abs.  6 Satz  1  GG als dezentrierter Bundes-demos zusammenwirkenden Gesamtheit der Landesvölker angesehen werden, die ihrerseits den aus der demokratischen Betroffenheitsformel ableit­ baren Vorgaben hinreichend Rechnung trägt. Somit erfüllt der gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG vom Vertreter der Länder im Rat geleistete deutsche Mitherrschaftsbeitrag die Voraussetzungen, die an seine exklusive nationaldemokratische Legitimation gestellt werden, obwohl eines der Landesvölker den fraglichen Mitherrschaftsbeitrag gleich in zweifacher Weise zu beeinflussen vermag. Dies bedeutet zwar nicht, dass die gegenüber den anderen Landesvölkern ungleich stärkere Stellung eines der Landesvölker demokratierechtlich unbeachtlich wäre. Jedoch vermag sie nach der hier entwickelten Dog-

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matik55 nicht schon die exklusiv nationaldemokratische Legitimation der vom Vertreter der Länder bewirkten Mitherrschaftsbeiträge in Frage zu stellen; vielmehr wird auf das Machtübergewicht des einen Landesstaatsvolks (erst) im Rahmen der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung zurückzukommen sein56.

b) Nationaldemokratische Rückbindung durch das Europäische Parlament Die Vertreter des Modells mittelbarer Legitimation unterstellen überwiegend, dass auch das Europäische Parlament nationaldemokratische Legitimation vermittelt, wenn und soweit diesem hinsichtlich eines Normsetzungsakts Kode­ zisions- beziehungsweise Korevisionsmacht zukommt57. Dafür könnte Art.  189 UAbs.  1  EGV sprechen. Danach besteht das Europäische Parlament „aus Ver­ tretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“58. Dies scheint auf den ersten Blick dafür zu sprechen, dass EG-Normsetzungsakte auch über das Europäische Parlament nationaldemokratisch rückgebunden werden können. Doch erweist sich dieser erste Eindruck, wie bereits angedeutet59, als unzutreffend. In der Kodezisions- beziehungsweise Korevisionsmacht des Europäischen Parlaments könnte sich der nationaldemokratische Volkswille überhaupt nur in den Fällen Bahn brechen, in denen die Angehörigen des deutschen Abgeordnetenkontingents zumindest mehrheitlich hinter der entsprechenden Entscheidung des Europäischen Parlaments stehen. Andernfalls würde es ohne Weiteres an einer nationaldemokratischen Rückbindung des vom Europäischen Parlament mit veranworteten EG-Normsetzungsakt fehlen. Zu bedenken ist freilich, dass kein juristisch zwingender Zusammenhang zwischen den einzelnen nationalen Abgeordnetenkontingenten und den für Erlass sowie Bestand eines Normsetzungsakts dezisiven Entscheidungen des Europäischen Parlaments existiert60. Vielmehr kann eine in­soweit maßgebliche Entscheidung des Europäischen Parlaments jederzeit ergehen, ohne dass auch nur ein einziger Abgeordneter einzelner nationaler Kontingente diesem Beschluss beigepflichtet hätte61. Hieraus erhellt, dass es – juristisch

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Dazu näher oben Kapitel 6 I. 1. d) dd) = S. 279. Dazu unten Kapitel 11 IV. 1. b) aa) = S. 979 und Kapitel 11 IV. 2. a) = S. 994. 57 Paradigmatisch Kirchhof (Fn.  3), Rn.  54; Isensee (Fn.  1), S.  577; anders offensichtlich Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 2002, S. 1072 (1078). 58 Hierauf stellt etwa auch Preuß, Transformation des europäischen Nationalstaates  – Chance für die Herausbildung einer Europäischen Öffentlichkeit, in: Franzius / ders. (Hrsg.), Euro­päische Öffentlichkeit, 2004, S. 44 (50) ab. 59 Siehe oben Kapitel 4 I.= S. 170. 60 So auch Epiney u. a. (Fn. 10), S. 149. 61 Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene im Lichte des Maastricht-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, in: EuR 1995, S. 21 (41).

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ge­sehen  – stets und immer dem Zufall überlassen bliebe, ob ein EG-Normsetzungsakt über den mitentscheidenden Einfluss eines nationalen Abgeordnetenkontingents nationaldemokratisch rückgebunden ist. Bei genauerer Analyse zeigt sich überdies, dass es im Rahmen des Euro­ päischen Parlaments nicht einmal zu einer solchen aleatorischen Rückkoppelung von EG-Normsetzungsakten an den Willen der nationalen Staatsvölker kommen kann. Denn die durch Art.  189 UAbs.  1  EGV suggerierte Vorstellung, dass das Europäische Parlament sich aus Vertretern des nationalen Staatsvölker zusammensetzt, lässt sich nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags nicht länger aufrechterhalten. Aufgrund des seinerzeit eingeführten Art.  19 Abs.  2  EGV werden die nationalen Abgeordnetenkontingente nämlich nicht mehr allein vom nationalen Staatsvolk, sondern zugleich unter Mitwirkung von staatsgebietsansässigen Angehörigen anderer Mitgliedstaaten bestellt62. Jedenfalls seitdem kann das Europäische Parlament nicht mehr in dem Sinne als Vertretung der Staatsvölker angesehen werden, dass es die Herrschaftsmacht jedes einzelnen von ihnen getrennt voneinander vermittelte63. Vielmehr ist Art.  189 UAbs.  1  EGV dahin auszulegen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments ihr jeweiliges Volk allenfalls noch als ver­ gemeinschaftetes vertreten64. In Art. 189 UAbs. 1 EGV sieht sich diese Sichtweise sogar leise angedeutet, wenn dort die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ in Bezug genommen werden. Vergemeinschaftung der nationalen Staatsvölker bedeutet in dieser Perspektive, dass jeder Unionsbürger in jedem Mitgliedstaat dieselben unionsbürgerlichen Rechte hat65 und infolgedessen der in Art. 189 UAbs. 1 EGV verwendete Volksbegriff auch nicht mehr auf die Summe der nationalen Staatsangehörigen relativiert werden darf, sondern auf alle auf dem mitgliedstaatlichen Territorium ansässigen Unionsbürger erstreckt werden muss66. Wenn nun aber das Europäische Parlament nur die von den vergemeinschafteten Staatsvölkern ausgehende Herrschaftsmacht zu vermitteln vermag und insofern ersichtlich der nationalstaatliche Bezugsrahmen gesprengt ist, so bestätigt sich, dass durch das Europäische Parlament keine nationaldemokratische Legitimation vermittelt wird67.

62 Zuleeg, Stetigkeit und Wandel der Europäischen Union, in: Epiney / Haag / Heinemann (Hrsg.), Festschrift für Bieber, 2007, S. 77 (80) und Kaufmann (Fn. 5), S. 446. 63 Dazu auch Saalfrank (Fn. 2), S. 144 f. und 123. Ferner Genevois, Le Traité sur l’Union européenne et la Constitution, in: Rev. fr. Droit adm. 1992, S. 373 (391). 64 So im Ergebnis auch Seeler, Die Legitimation des hoheitlichen Handelns der EG / EU, in: EuR 1998, S. 721 (731) sowie Magiera, Das Europäische Parlament als Garant demokratischer Legitimation in der Europäischen Union, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 789 (796); vgl. ferner Luciani, La constitution italienne et les obstacles à l’intégration européenne, in: RFDC 1992, S. 663 (673). 65 Zur Unionsbürgerschaft siehe nur Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 24 Rn 2 ff. 66 Vgl. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 189 EGV Rn. 11. 67 Insofern konsequent Veil (Fn. 19), S. 239 ff.

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Sofern die Vertreter des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation gleichwohl an der These festhalten, auch im Rahmen des Europäischen Parlaments könnten EG-Normsetzungsakte nationaldemokratisch rückgebunden werden, so scheint dies nach allem eher vom Ergebnis her diktiert zu sein68. Denn es mutet in der Tat seltsam an, dass ein Parlament nicht in der Lage sein soll, zur unmittel­baren demokratischen Rückkoppelung von Hoheitsakten beizutragen. Doch ist dies, wie dargelegt, die zwingende Konsequenz aus dem grundgesetzlich als Modell nationaldemokratischer Legitimation zu reformulierenden Modells mittelbarer demokratischer Legitimation.

c) Nationaldemokratische Rückbindung durch die Kommission Damit stellt sich die Frage, ob sich außer durch die Teilhabe nationaler Regierungsvertreter an der Entscheidungsmacht des Rats die dezisionäre beziehungsweise revisionäre Rückbindung von EG-Normsetzungsakten an den nationalen Staatsvolkswillen nicht auch über die Machtentfaltung der Kommission realisiert. Im Ausgangspunkt lässt sich feststellen, dass die Kommission  – anders als der Rat  – strukturell kein intergouvernementales Gremium ist, in das die einzelnen Mitgliedstaaten nach eigenem Ermessen ihre jeweiligen Vertreter entsenden69. Es ist als Folge des Vertrags von Nizza70 in Zukunft nicht einmal mehr gewähr­leistet, dass Staatsangehörige aller EG-Mitgliedstaaten in der Kommission repräsentiert sind71. Ohnedies ist es nicht der jeweilige Herkunftsstaat, der allein über die Bestimmung des betreffenden Kommissionsmitglieds entscheidet72. Schon aus diesem Grund kann das einzelne Kommissionsmitglied nicht als ausschließlicher Vertreter desjenigen Mitgliedstaats qualifiziert werden, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt. Hieraus darf freilich nicht der voreilige Schluss gezogen werden, dass weder die Kommission als Ganze noch die Kommissionsmitglieder mit deutscher Staatsangehörigkeit in der Lage wären, die Mitherrschaft des deutschen Volks zu vermitteln73. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass sich alle Kommissionsmitglieder als

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Konsequenter insofern die Haltung von Schachtschneider, Die Staatlichkeit der Euro­ päischen Gemeinschaft, in: Brunner (Hrsg.), Kartenhaus Europa?, 1994, S. 117 (140), der ausgehend vom Modell nationaldemokratischer Legitimation das Wahlrecht ausländischer Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für grundgesetzwidrig erklärt. 69 Herdegen (Fn. 9), § 8 Rn. 51. 70 Dazu Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, in: JuS 2001, 846 sowie Schloh, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, Stand: Juni 2007, A. II. Rn. 255. 71 Vorerst, nämlich bis 2009, gilt freilich noch Art. 213 Abs. 1 UAbs. 2 EGV; zum Ganzen auch Borchardt (Fn. 21), Rn. 298. 72 Zur Bestellung der Kommission: Art. 214 EGV und statt aller Schmitt von Sydow, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 214 EG Rn. 9 ff. 73 So aber Saalfrank (Fn. 2), S. 76 f.; wohl auch Hillgruber (Fn. 57), S. 1078.

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magistratische Repräsentanten auch des deutschen Staatsvolks darstellen74. Dies ist problemlos für den (Regel-)Fall anzunehmen, dass der nationale Regierungsvertreter der Investitur des Kommissionspräsidenten beziehungsweise der Kommission zugestimmt hat. Denn dann werden die Kommissionsmitglieder jedenfalls von dem auch auf das deutsche Volk und dessen Willen zurückführende System magistratischer Repräsentation erfasst75. Davon ist aber überdies auch für den Fall auszugehen, dass die Entscheidung über die Einsetzung der Kommission ausnahmsweise nicht auf das nationale Staatsvolk rückführbar ist, weil sie von dessen Vertreter nicht mitgetragen wird: Da das System magistratischer Repräsentation gerade auch durch die Vorwirkung künftiger (Aus- und Ab-)Wahlentscheidungen ins Werk gesetzt wird76, richtet sich die Kommission fortan mitunter auch am Willen derjenigen Staatsvölker aus, deren Repräsentanten sich gegen ihre Einsetzung ausgesprochen haben. Die Weigerung der Vertreter des nationalen Staatsvolks, die Kommission einzusetzen, stellt daher die über Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnisse der Kommission vermittelte Rückbindung eines EG-Normsetzungsakts an den nationaldemokratischen Volkswillen nicht prinzipiell in Frage. Doch selbstverständlich teilt sich dem EG-Normsetzungsakt ein geringeres Maß an nationaldemokratischer Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht mit, wenn die entscheidungs- beziehungsweise abänderungsbefugte Kommission in per­ soneller Hinsicht ausschließlich die Herrschaftsmacht anderer Staatsvölker und lediglich in materiell-kontrollativer Hinsicht zusätzlich die Mitherrschaft des deutschen Staatsvolks vermittelt. In dieser wirklichkeitswissenschaftlich informierten Perspektive zeigt sich im Übrigen auch, warum gerade die Kommissionsmitglieder mit deutscher Staats­ angehörigkeit in besonderem Maße zur nationaldemokratischen Rückbindung beitragen77: Da die deutschen Kommissionsmitglieder in praxi gerade auf Vorschlag der Bundesrepublik in ihr Amt gelangt sind und auch nur auf Vorschlag der Bundesrepublik darin bestätigt werden78, wird dieses Kommissionsmitglied besonders 74 In diese Richtung wohl auch Kaufmann (Fn.  5), 1997, S.  444; zurückhaltend hingegen ­Nicolaysen, EU-Mitgliedstaaten: Ein neues verfassungsrechtliches Verhältnis?, in: Bruha /  Nowak, Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 17 (51 f.), der von der in Politik und Öffentlichkeit verbreiteten „Vorstellung mitgliedstaatlicher Repräsentanz in der Kommission“ spricht, indessen betont, dass der Ort für die Ver­ tretung mitgliedstaatlicher Interessen nicht die Kommission, sondern Rat und Europäisches Parlament seien. 75 So auch Schliesky (Fn. 27), 2004, S. 396 f. 76 Siehe oben Kapitel 6 II. 1. = S. 318. 77 Siehe hierzu aus politikwissenschaftlicher Perspektive auch Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 58 f. 78 Dass Mitglieder der Kommission nur auf Vorschlag der jeweiligen Mitgliedstaaten in ihr Amt berufen beziehungsweise darin bestätigt werden können, ist gemeinschaftsrechtlich nicht zwingend. Art. 214 EGV schließt es nicht aus, dass das einem bestimmten Mitgliedstaat gemäß Art. 213 Abs. 1 UAbs. 2 EGV zustehende Kommissionsmitglied von einem anderen Mitgliedstaat vorgeschlagen wird. Doch entspricht dies naheliegenderweise nicht der institutionellen Praxis.

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intensiv, wenn auch wohlgemerkt nicht ausschließlich in das an den Willen des deutschen Staatsvolks rückkoppelnde System magistratischer Repräsentation eingebunden. Dieser Sichtweise lässt sich nicht entgegenhalten, dass Kommission und Kommissionsmitglieder gemäß Art. 213 Abs. 2 UAbs. 1 EGV „ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft ausüben“ sollen79. Denn das allgemeine Gemeinschaftswohl ist nichts Abstraktes, sondern meint das von diesen demokratisch selbst zu bestimmende Wohl der Unionsbürger. Da nun aber das deutsche Volk integraler Bestandteil der Unionsbürgerschaft ist, steht es nicht in Widerspruch zu dem in Art.  213 Abs.  2 UAbs.  1  EGV formulierten Amtsauftrag, wenn die Kommission insgesamt und ihre einzelnen Kommissionsmitglieder in ihrem Tun und Unterlassen den Willen auch des deutschen Volkes berücksichtigen. Insofern bleibt es dabei, dass sich über die Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht der Kommission die Mitentscheidungsmacht auch des deutschen Staatsvolks Bahn bricht  – und zwar selbst dann, wenn die deutsche Regierung der Kommissionsbestellung nicht zugestimmt hat. Dass Entscheidungen innerhalb der Kommission gemäß Art. 219 UAbs. 1 EGV mit Mehrheit gefasst werden, lässt diesen nationaldemokratischen Legitimationsstrang nicht entfallen. Denn die Kommission wird als Kollegium bestellt, sodass auch ein Mehrheitsbeschluss die (Mit-)Entscheidungsmacht des deutschen Staatsvolks zu transportieren vermag. Lediglich, aber immerhin die speziell vom nationalen Kommissionsmitglied vermittelte und insoweit besonders nachhaltige nationaldemokratische Legitimation entfällt, soweit dieser in der Kommission überstimmt wird. Allerdings muss man sich davor hüten, das nationaldemokratische Legitima­ tionspotenzial der Kommission zu überschätzen. Dieses wird nämlich nicht nur dadurch erheblich gemindert, dass die Kommission über das System magistratischer Repräsentation an den Willen aller mitgliedstaatlichen Völker und nicht nur an den des deutschen Volks rückgebunden ist. Hinzu tritt, dass die Kommission gleich auf mehrfache Weise auch an den Willen des Europäischen Parlaments rückgekoppelt ist, das seinerseits aus den eben dargelegten Gründen keine nationaldemokratische Legitimation zu vermitteln vermag. So werden sowohl der Kommissionspräsident als auch die übrige Kommission über Zustimmungs­ voten gemäß Art.  214 Abs.  2 UAbs.  1 2.  Halbsatz und UAbs.  3 Satz  1  EGV80 sowie über das Misstrauensvotum nach Art. 201 EGV81 an den Willen des Euro­ 79 Zu dieser Verpflichtung Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 332 sowie Schmitt von S­ ydow, Organe der erweiterten Europäischen Gemeinschaften  – Die Kommission, 1980, S. 89 ff.; aus stärker politikwissenschaftlicher Sicht Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 115. 80 Hierzu aus politikwissenschaftlicher Sicht ausführlich Dreischer, Das Europäische Parlament und seine Funktionen, 2006, S. 134 ff. 81 Aus politikwissenschaftlicher Sicht hierzu eingehend Dreischer (Fn. 80), S. 146 ff.

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päischen Parlaments rückgebunden82. Zu einer Rückbindung an den Willen des Euro­päischen Parlaments kommt es überdies dadurch, dass die Mitglieder der Kommission nur im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten benannt werden dürfen, der sein Amt, wie eben dargetan, auch dem Europäischen Parlament verdankt und diesem verantwortlich ist. Die Rückbindung der Kommission auch an das Europäische Parlament mindert das ohnehin schon vergleichsweise schwache nationaldemokratische Legitimationspotenzial der Kommission zu­sätzlich.

d) Nationaldemokratische Rückbindung durch die verschiedenen Ausschüsse von Staatenvertretern Soweit einem Ausschuss von Staatenvertretern83 im Hinblick auf Erlass und Fortbestand eines EG-Normsetzungsaktes Mitentscheidungsbefugnisse eingeräumt sind, können diese nationaldemokratisch rückgebunden sein. Dies ist dann der Fall, wenn das den EG-Normsetzungsakt billigende Verhalten des Ausschusses von dem deutschen Regierungsvertreter mitgetragen wird. Insoweit besteht eine strukturelle Analogie zur nationaldemokratischen Rückbindung durch den Rat. Dies ist freilich nicht weiter erstaunlich, dient die Komitologie doch dazu, die Befugnisse des Rates auch im Bereich der von ihm nicht selbst erlassenen Durchführungsmaßnahmen zu wahren84. Vor diesem Hintergrund braucht auch nicht nochmals ausführlich begründet zu werden, weshalb sich die nationaldemokratische Legitimation, die über die Zustimmung des deutschen Vertreters zu einer Dezisions- oder aber einer Nicht­ revisionsentscheidung eines Ausschusses vermittelt wird, nicht etwa dadurch zu einer bloß partizipativen verkürzt, dass der betreffende Zustimmungsakt ganz oder teilweise auf die Gesamtheit der Landesvölker als dezentrierten Bundesdemos zurückführt. Denn auch die deutsche Zustimmung zu den Ausschussentscheidungen können die Landesvölker nur, aber immerhin nach Maßgabe von Art.  23 Abs.  5 Satz  2 und 23 Abs.  6 Satz  1  GG entscheidend beeinflussen85.

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Zu diesem durch den EUV erreichten Demokratiefortschritt Oppermann / Classen, Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, in: APuZ 1993, B 28, S. 11 (15 f.). 83 Zur Komitologie vgl. Petersen / Heß, Das Komitologieverfahren im Gemeinschaftsrecht, in: ZUR 2007, S.  567 ff.; Wagener / Eger / Fritz, Europäische Integration, 2006, S.  180 ff.; ­Haratsch / Koenig / Pechstein (Fn. 8), Rn. 310 ff; Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 223 ff. sowie – eingehend – Hummer, Die ‚Komitologie‘ – das unbekannte Wesen, in: Köck / Lengauer / Ress (Hrsg.), Festschrift für Fischer, 2004, S. 121 ff. 84 Dazu Herdegen (Fn. 9), § 9 Rn. 73; vertiefend auch Jacqué, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Euro­ päischen Gemeinschaft, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 214 EG Rn. 6 ff. 85 Zur Erstreckung der verfassungsrechtlichen Mitwirkungsregeln der Art. 23 Abs. 4–7 GG auf das Durchführungsrecht vgl. nur Pernice (Fn. 15), Rn. 107.

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Soweit freilich die Gesamtheit der Landesvölker unter diesen normativen Bedingungen den in Hinblick auf die Ausschussentscheidung geleisteten deutschen Mitherrschaftsbeitrag determiniert, vermittelt sie aus den ausführlich dargelegten Gründen als dezentrierter Bundes-demos exklusiv nationaldemokratische Legi­ timation86.

3. Bestandsaufnahme Nachdem geklärt ist, inwiefern sich durch die den EG-Organen in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte zukommende (Ko-)Dezisions- beziehungsweise (Ko-) Revisionsmacht überhaupt nationaldemokratische Legitimation Bahn zu brechen vermag, kann nunmehr im Einzelnen das Ausmaß der Exklusivität und Perpetua­ lität demokratischer Legitimation näher bestimmt werden, das in der diesem Kapitel zugrundeliegenden Modellperspektive den verschiedenen Typen von EGNormsetzungsakten eignet. Dazu ist zunächst der an das Primärrecht andockende Legitimationsstrang in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, inwieweit hierüber der Erlass87 beziehungsweise der Fortbestand88 von EG-Normsetzungsakten nationaldemokratisch mitbestimmt wird. Sodann wird der über EU-Organe in dezisionärer89 sowie revisionärer Hinsicht90 vermittelte nationaldemokratische Rückbindung nachgegangen.

a) Dezisionäre Legitimation und Primärrecht Jeder EG-Normsetzungsakt beruht auf einer primärrechtlichen Normsetzungsbefugnis, die sich zwar nicht aus dem ausschließlichen Willen des Staatsvolks herleitet, aber doch nur mit seiner Zustimmung zustande kommen konnte. Soweit diese Normsetzungsbefugnis sowie das sie flankierende sonstige Primärrecht den Erlass eines EG-Normsetzungsakts determinieren, wird dieser in dezisionärer Hinsicht zwar nicht exklusiv, aber immerhin partizipativ vom deutschen Staatsvolk her legitimiert91. Allerdings zeichnen sich die Normsetzungsbefugnisse des EGV bekanntlich durch einen finalen Charakter aus92. Da insofern häufig nur das allgemeine Ziel, nicht aber die konkreten Mittel primärrechtlich fixiert sind, kommt dem primären Gemeinschaftsrecht eine nur bedingte Determinationskraft in Hin

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Siehe oben Kapitel 11 I. 2. a) = S. 871. Siehe unten Kapitel 11 I. 3. a) = S. 885. 88 Siehe unten Kapitel 11 I. 3. b) = S. 889. 89 Siehe unten Kapitel 11 I. 3. c) = S. 890. 90 Siehe unten Kapitel 11 I. 3. c) bb) = S. 899. 91 Dazu auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  2, 2.  Aufl. 2006, Art.  20 (D) Rn. 46 ff.; Kirchhof (Fn. 3), Rn. 55. 92 Epiney u. a. (Fn. 10), S. 28 f. und Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 347.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

blick auf zu erlassende Normsetzungsakte zu93. Allgemein ist daher festzuhalten, dass die über das Primärrecht vermittelte dezisionäre Rückbindung an den national­demokratischen Volkswillen eher bescheiden ausfällt94. Dass die Determinations- und mithin auch die Legitimationskraft der (mittelbar) nationaldemokratisch gebilligten primärrechtlichen Normsetzungsbefugnisse allgemein nur schwach ausgeprägt ist, sollte freilich nicht über die Unterschiede hinweg täuschen, die insoweit im Besonderen zwischen einzelnen Typen von Normsetzungsbefugnissen auszumachen sind. Vielmehr macht es einmal mehr Sinn, zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten zu differenzieren95. Denn den Befugnissen zum Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte kommt eine vergleichsweise höhere inhaltliche Determinationskraft zu als den Befugnissen zum Erlass potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakte96.

aa) Wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte Den Befugnissen zum Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungs­ akte eignet deshalb eine vergleichsweise höhere Determinations- und damit auch Legitimationskraft, weil sie in den Dienst der Marktöffnung gestellt sind und das hieraus ableitbare Integrationsprogramm die betreffenden Normsetzungsbefugnisse über ihren vielfach offenen Wortlaut hinaus weiter präzisiert: Auf der Grundlage dieser Ermächtigungen können überhaupt nur solche Maßnahmen ergehen, die den für einen Markt konstituierenden Elementen – Marktfreiheit, Marktgleichheit und Wettbewerbsfreiheit – dienen. In dieser Perspektive lassen sich selbst derart weitreichende Normsetzungs­ befugnisse wie die allgemeinen Harmonisierungsermächtigungen der Art. 94 und 95 EGV97 inhaltlich in nicht zu vernachlässigendem Umfang konkretisieren. Auch auf sie können überhaupt nur solche Normsetzungsakte gestützt werden, die der Realisierung marktwirtschaftlicher Verhältnisse förderlich sind98. Dem wider‑



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Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, in: VVDStRL 2004, S. 41 (48). 94 Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (250). 95 Zu dieser Unterscheidung vgl. bereits oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) = S. 836. 96 Vgl. Behrens, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: Brügemeier (Hrsg.), Verfassungen für ein ziviles Europa, 1994, S. 73 (83 ff.). 97 Zur Binnenmarktkompetenz des Art. 95 EGV ausführlich Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn. 693 ff. 98 Oppermann (Fn. 65), § 18 Rn. 5; auch v. Danwitz, Rechtsangleichung, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: Oktober 2007, B. II. 5., Rn.  87: „Als entscheidender Gesichtspunkt kommt es (…) auf die tatsächliche Beseitigung konkreter Handelshemmnisse oder spürbarer Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt an. Nur insoweit reicht

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streitet nicht, dass die allgemeinen Harmonisierungsermächtigungen normtextuell lediglich auf das Ziel des Gemeinsamen Markts99 beziehungsweise des Binnenmarkts100 bezogen sind. Zwar lässt sich weder der Gemeinsame Markt im Sinne von Art. 2 EGV noch der Binnenmarkt gemäß Art. 14 EGV101 auf ein strikt liberales Marktkonzept reduzieren102, da sie zumindest auch die von diesem Konzept tendenziell abweichenden Gemeinschaftspolitiken in den Bereichen Landwirtschaft und Verkehr erfassen103. Indes finden die allgemeinen Harmonisierungs­ ermächtigungen ohnehin nur insoweit Anwendung, als die für die Verwirklichung von Gemeinsamem Markt beziehungsweise Binnenmarkt104 geschaffenen speziellen, sektoral begrenzten Normsetzungsermächtigungen nicht einschlägig sind105. Dann freilich gilt mangels abweichender Regelungen das (Binnen-)Marktkonzept, wie es in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EGV Gestalt annimmt, nämlich als ordnungspolitische Idee eines einheitlichen Wirtschaftsraums, in dem die einzelnen Wirtschaftssubjekte ungehindert über die Erzeugung, Verkauf und Kauf von Gütern entscheiden und sich die Preise für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskraft am Markt frei bilden106. Nur soweit nationale Rechtsvorschriften, etwa wegen ihrer aktuellen oder potenziellen Heterogenität107, den in diesem engeren Sinne zu verstehenden Gemeinsamen Markt oder Binnenmarkt beeinträchtigen, greifen die Harmonisierungsermächtigungen108, sodass auch diese insofern eine über die gemeinschaftliche Rechtsangleichungskompetenz nach Art.  94 und 95 (ex-Art.  100 und 100a) EGV überhaupt.“ 99 Art. 94 EGV; dazu Haratsch / Koenig / Pechstein (Fn. 8), Rn. 939. 100 Art. 95 EGV; dazu Herdegen (Fn. 9), § 20 Rn. 3 ff. 101 Der Binnenmarkt im Sinne von Art. 14 Abs. 2 EGV ist nicht identisch mit dem Binnenmarkt gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c EGV. Während dieser einem liberalen Marktmodell verpflichtet ist, erstreckt jener sich auch auf marktbezogene Gemeinschaftspolitiken, die einen interventionistischen Charakter haben. Diese Unterscheidung ist bereits im Wortlaut der beiden Bestimmungen angelegt. In dem einen Fall lauten die Signalwörter „Beseitigung der Hindernisse“, im anderen „gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages“. 102 Siehe dazu auch schon oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) (2) = S. 838. 103 In diesem Sinne zumindest bezüglich des ‚Gemeinsamen Marktes‘ auch Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 2 EGV Rn. 33; hinsichtlich des ‚Binnenmarkts‘ vgl. Kahl, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 14 EGV Rn. 27. 104 Das Verhältnis von Gemeinsamem und Binnenmarkt ist nach wie vor nicht geklärt (so auch Leible, in: Streinz [Hrsg.],  EUV / EGV, 2003, Art.  14  EGV Rn.  10). Aus dem hier zugrunde gelegten Verständnis dieser beiden Begriffe folgt, dass richtigerweise von Synony­ mität auszugehen ist (in diese Richtung wohl auch Finger, Europäische Zertifikatmärkte und Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 96 f. sowie Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, 1999, S. 141 ff.; anderer Ansicht Kahl [Fn. 26], Rn. 10 f.: Gemeinsamer Markt als bloße Vorstufe des insoweit umfassenderen Binnenmarkts). 105 Vgl. Leible, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 94 EGV Rn. 32 und Art. 95 Rn. 5. 106 Siehe hierzu auch Tietje, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 2, Stand: Oktober 2007, Art. 94 Rn 5 und v. Danwitz (Fn. 98), Rn. 100 f. 107 Aber nicht nur deshalb  – siehe dazu etwa Taschner, in: von der Groeben / Schwarze, EUV / EGV, Bd. 2, 6. Aufl. 2003, Vorbem. Zu den Artikeln 94 bis 97 EG Rn. 1. 108 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kahl, in: Calliess / Ruffert,  EUV / EGV, 3.  Aufl. 2007, Art. 94 Rn. 11 f. und 95 EGV Rn. 16 ff.

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den prima facie unbestimmten Wortlaut hinausgehende inhaltliche Präzisierung erfahren109.

bb) Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte Die zum Erlass potenziell marktinterventionistischer Rechtsetzungsakte ermächtigenden Normsetzungsbefugnisse werden demgegenüber nicht durch ein vertragssystematisch klar vorgegebenes Integrationsprogramm näher bestimmt110. Zwar bestehen auch insofern Vertragsziele und -grundsätze, denen die Normsetzungsbefugnisse zu dienen bestimmt sind. Jedoch lassen diese kein ähnlich kohärentes Integrationsprogramm erkennen, wie es sich mit der Rückkoppelung an ein definites Marktkonzept verbindet. Dies gilt insbesondere für Normsetzungs­ befugnisse im Bereich der flankierenden Politiken: Selbst eine vom Normtext her detail­reiche Vorschrift wie Art. 175 EGV in Verbindung mit Art. 174 EGV lässt den Inhalt möglicher Umweltrechtsakte lediglich schemenhaft erkennen111. Inhaltlich etwas schärfer konturiert sind demgegenüber die zu marktinterventionistischen Normsetzungsakten ermächtigenden marktbezogenen Gemeinschaftspolitiken. Denn auch wenn diese sich nicht auf das Leitbild eines liberalisierten Marktes reduzieren lassen, bleiben sie doch in einem weiteren Sinne an der Vorstellung eines Gemeinsamen Marktes orientiert112. Besonders plastisch wird die tatbestandliche Weite von Regelungskompetenzen, die zu potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten ermächtigen, beim (Extrem-)Beispiel des Art. 308 EGV. Diese auch mit Erreichen des gegenwärtigen Integrationsstands längst nicht obsolet gewordene113 Lückenschließungskompetenz114 kann nach zutreffender Auffassung zu jedwedem Normsetzungsakt ermächtigen, der sich unter den weiten, allerdings nicht grenzenlosen115 und daher mit Rücksicht auf die beschränkte Verbandskompetenz der EG zu konkretisierenden116 Aufgaben- und Zielkatalog des Art.  2  EGV subsumieren lässt117  – immer vor­ausgesetzt, dass der betreffende Normsetzungsakt erforderlich ist, der 109

In diesem Sinn auch Zuleeg, in: von der Groeben / Schwarze, EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 3 EG Rn. 9. 110 Dazu auch schon Bleckmann, Politische Aspekte der europäischen Integration unter dem Vorzeichen des Binnenmarkts 1992, in: ZRP 1990, S. 265 (266). 111 Oppermann (Fn. 65), § 29 Rn. 11 spricht im Hinblick auf Art. 175 EGV von einer ‚breiten Generalzuständigkeit‘. 112 Vgl. zum Paradebeispiel der Agrarpolitik van Rijn, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 32 Rn. 14 ff. 113 So auch Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 308 Rn. 2. 114 Zu dieser und weiteren Charakterisierungen Rossi, in: Calliess / Ruffert,  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 308 EGV Rn. 2. 115 Siehe hierzu auch schon Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: AöR 1996, S. 173 (177 f.). 116 Siehe dazu Streinz (Fn. 113), Rn. 13. 117 Rossi (Fn. 114), Rn. 34.

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EGV keine spezielle Befugnis enthält, der Gemeinsame Markt in seinem Bestand nicht tangiert und das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EGV gewahrt wird118. An den konkreten Inhalt der Normen, die auf der Grundlage von Art. 308 EGV erlassen werden können, werden insofern nur äußerst geringe Anforderungen gestellt. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Formulierung „im Rahmen des Gemein­samen Marktes“ aus den bereits dargelegten Gründen119 nicht im Sinne notwendiger Marktfinalität, sondern als bloße Bestandsgarantie für den – im weiteren Sinne zu deutenden – Gemeinsamen Markt gemäß Art. 2 EGV interpretiert und im Übrigen zwar nicht schon die Ziele der Vertragspräambel120, wohl aber die des Art. 2 EGV als Ziele im Sinn von Art. 308 EGV begreift121. Wenn diesem Ansatz entgegengehalten wird, nur die Aufgaben, nicht aber die Zielnormierungen des Art. 2 EGV seien Ziele im Sinn von Art. 308 EGV122, so vermag dies schon in Hinblick auf den Wortlaut nicht zu überzeugen123. cc) Resümee Zusammenfassend lässt sich für die in diesem Abschnitt aufgeworfene Fragestellung festhalten: Der Erlass eines Normsetzungsaktes ist über das vom Staatsvolk gebilligte Primärrecht nur in beschränktem Maße auf dessen Willen zurückzuführen124. Schließlich konnte das Staatsvolk die Gründungsverträge nur partiell beeinflussen und besitzen die primärrechtlichen Normsetzungsermächtigungen überdies nur eine schwache Determinationskraft. Letzteres gilt speziell für diejenigen Regelungsbefugnisse, die zu den hier sogenannten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten ermächtigen. Denn anders als die Regelungsbefugnisse, die sich auf wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte beziehen, werden sie inhaltlich nicht durch die Festlegung auf ein in sich relativ kohärentes Markt(öffnungs)konzept konkretisiert, sondern erweisen sich wegen der relativen Vagheit der ihnen zugrundeliegenden Politikziele als inhaltlich vergleichsweise unbestimmt. b) Revisionäre Legitimation und Primärrecht Eine primärrechtlich vermittelte Revisionsmacht in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte steht dem deutschen Volk insofern zu, als es im Rahmen eines Vertragsänderungsverfahrens gemäß Art. 48 EUV darauf hinwirken kann, dass durch Ab 118

Streinz (Fn. 113), Rn. 28 ff., 22 ff. und 5. Siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) (2) = S. 838. 120 So aber etwa Schwartz, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 308 Rn. 111 ff. 121 In diesem Sinne auch Rossi (Fn. 114), Rn. 34 f. 122 Geiger, EUV / EGV, 4. Aufl. 2004, Rn. 5. 123 In diesem Sinne auch Rossi (Fn. 114), Rn. 34. 124 Vgl. auch Saalfrank (Fn. 2), S. 72 ff. 119

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änderung des vorrangigen Primärrechts missliebiges Sekundärrecht außer Kraft gesetzt und gegebenenfalls durch eine alternative Primärrechtsbestimmung ersetzt wird125. Freilich ist die revisionäre Legitimation, die dem EG-Normsetzungsakt primärrechtlich vermittelt vom deutschen Volk zuwächst, wiederum keine exklusive, sondern – wie der Blick auf die für Vertragsänderungen maßgebliche Norm des Art.  48  EUV lehrt  – eine allenfalls partizipative. Da die Entscheidung über das Ob und Wie einer Revision des Primärrechts nur im Konsens gefällt werden kann, wächst einem sekundärrechtlichen EG-Normsetzungsakt selbst dann nur eine partizipative revisionäre Legitimation vom deutschen Volk her zu, wenn allein dieses eine das EG-Sekundärrecht mittelbar erfassende Revision des Primärrechts verhindert. Schließlich ist die insofern mobilisierte Vetoposition des deutschen Volks nicht Ausfluss seiner alleinigen Revisionsmacht. Es kann daher auch nicht ange­ nommen werden, dass sich in der Nichtrevisionsentscheidung exklusiv der deutsche Volkswille niederschlägt. Um dies unterstellen zu können, müsste das deutsche Volk die Möglichkeit gehabt haben, ohne Rücksicht auf die anderer mitgliedstaatlichen Völker eine ihm genehme Revisionsentscheidung zu treffen126. Da dies aber im Rahmen von Art. 48 EUV nicht der Fall ist, kann die insofern vermittelte revisionäre Legitimation niemals exklusiv auf das deutsche Volk zurückführen. Hinzu tritt, dass diese revisionäre Legitimation auch keine perpetuelle ist127. Denn ebenso wie das deutsche Volk können auch die anderen mitgliedstaatlichen Völker ihre entsprechende Vetoposition ausüben, sodass primärrechtliche Normen und in der Konsequenz auch EG-Normsetzungsakte gegebenenfalls bestehen bleiben, obwohl das deutsche Volk für eine Revision votiert hat. Die ohnehin nur partizipative revisionäre Legitimation kann folglich – situativ betrachtet – sogar ganz entfallen. Aufgrund von Art. 48 EUV wächst den EG-Normsetzungsakten nach allem eine partizipativ-okkasionelle nationaldemokratische Legitimation zu.

c) Dezisionäre demokratische Legitimation und EG-Organe Da sich das Ausmaß nationaldemokratischer Legitimation, das den EG-Normsetzungsakten in dezisionärer beziehungsweise revisionärer Hinsicht über das Primärrecht zuwächst, bei genauerer Betrachtung als gering erweist, kommt den über die EG-Organe vermittelten nationaldemokratischen Legitimationsbeiträgen eine umso größere Bedeutung zu. Dabei wurde in allgemeiner Hinsicht bereits dar­ 125 Dass dem deutschen Volk in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte eine primärrechtlich vermittelte Revisionsmacht auch insofern zusteht, als nach Maßgabe allgemeinen Völkerrechts eine vertragliche Aufhebung des EGV beziehungsweise dessen Kündigung in Betracht kommt, ist bereits angesprochen worden; freilich soll dies aus den gleichfalls schon dargelegten Gründen nicht weiter vertieft werden (vgl. oben Fn. 13). 126 Siehe oben Kapitel 6 I. 1. b) = S. 255. 127 Zu Perpetualität revisionärer Legitimation siehe ebd.

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getan, dass und weshalb (nur) bestimmte EG-Organe nationaldemokratische Legitimation zu vermitteln vermögen. Daran anknüpfend kann nunmehr geklärt werden, inwiefern durch die (Ko-)Dezisionsmacht der betreffenden EG-Organe ganz konkret zur dezisionären Rückbindung von EG-Normsetzungsakten an den nationaldemokratischen Volkswillen beigetragen wird. Aus Gründen darstellerischer Genauigkeit und Klarheit muss in diesem Zusammenhang zwischen den verschiedenen Rechtsetzungsverfahren unterschieden werden. Dabei soll zunächst das Mitentscheidungsverfahren128 genauer untersucht werden, da es sich hierbei um das seit dem Vertrag von Maastricht häufigste Rechtsetzungsverfahren handelt129. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Mitentscheidungsverfahren lassen sich dann Rückschlüsse auf das nationaldemokratische Rückkoppelungspotenzial auch der anderen EG-Rechtsetzungsverfahren ziehen.

aa) Dezisionäre Legitimation und EG-Organe im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens Im Verfahren der Mitentscheidung kann die dezisionäre Rückbindung an den nationaldemokratisch generierten Volkswillen sowohl über den Rat als auch über die Kommission erfolgen. Denn ohne Zustimmung des Rats kann in diesem Verfahren kein Normsetzungsakt ergehen. Die Kommission wirkt ihrerseits insofern kodezisiv am Erlass der im Verfahren nach Art.  251  EGV ergehenden Norm­ setzungsakte mit, als im Normalfall nur sie einen Gesetzgebungsvorschlag unterbreiten und ihn im Verlauf des Rechtsetzungsverfahrens modifizieren kann130. Unter zumindest vier Gesichtspunkten erweist sich die über die genannten EGOrgane vermittelte dezisionäre Rückkoppelung von im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten an das Nationalstaatsvolk freilich als prekär.

(1) Partizipative statt exklusive dezisionäre Legitimation So ist die vom deutschen Volk herrührende dezisionäre Legitimation jedenfalls weit entfernt vom demokratischen Leitbild der Exklusivität. Denn sofern Beschlüsse des Rats aufgrund der zustimmenden Mitwirkung des nationalen Re 128 Zu diesem Nugent (Fn.  20), S.  200 und 347  ff; aus politikwissenschaftlicher Sicht Dreischer (Fn. 80), S. 173 ff. 129 Knemeyer (Fn. 83), S. 58 f.; auch Oppermann (Fn. 65), § 5 Rn. 35 und Bieber, in: ders. /  Epiney / Haag, Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 4 Rn. 22. Nass, Europa am Scheideweg, in: Zehetner (Hrsg.), Festschrift für Folz, 2003, S. 243 (246) zufolge ergehen zirka 80 % der Rechtsetzungsakte im Verfahren nach Art. 251 EGV. 130 Siehe Bauer, Orientierungsnot im Machtdreieck, in: integration 2005, S. 47 f.; eingehend Giebenrath, Das Mitentscheidungsverfahren des Artikels 251 (ex-189b) EG-Vertrag zwischen Maastricht und Amsterdam, 2000, S. 77 ff.

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gierungsvertreters nationaldemokratische Legitimation transportieren, handelt es sich gerade nicht um eine exklusive nationaldemokratische Legitimation. Der legitimierende Beschluss des Rats beruht schließlich nicht nur auf dem Willen des deutschen Volks, sondern zugleich auf dem derjenigen Völker, deren Regierungs­ vertreter den Beschluss ebenfalls mitgetragen haben. Gleiches gilt hinsichtlich der Kodezisionsmacht der Kommission. Auch insoweit wird lediglich eine partizipative, jedoch keine exklusive dezisionäre Rückbindung an den Willen des deutschen Volks bewerkstelligt. Schließlich ist die Kommission, wie bereits dargelegt, als magistratisches Repräsentationsgremium an den Willen aller Mitgliedstaaten rückgebunden – und darüber hinaus auch noch an den des Europäischen Parlaments.

(2) Die Kodezisionsmacht des Europäischen Parlaments Mit dem Hinweis auf das Europäischen Parlament ist auch schon der nächste wichtige Gesichtspunkt angesprochen: Das Maß an nationaldemokratischer Legitimation, das den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normen in dezisionärer Hinsicht zuwächst, wird fernerhin dadurch gemindert, dass nicht nur dem Rat und der Kommission, sondern auch dem Europäischen Parlament Kodezisionsmacht eingeräumt ist. Diese erwächst nicht nur und vor allem nicht primär aus der Rückkoppelung der Kommission an das Europäische Parlament, sondern in erster Linie aus der dem Europäischen Parlament im Mitentscheidungsverfahren eingeräumten Kodezisionsbefugnis. Die insofern begründete Kodezisionsmacht des Europäischen Parlaments beeinträchtigt die dezisionäre Rückkoppelung an den Willen des deutschen Volks, denn über das Europäische Parlament erfolgt gerade keine nationaldemokratische Rückbindung131.

(3) Wegfall der über den Rat beziehungsweise Verdünnung der über die Kommission vermittelten dezisionären Legitimation Des Weiteren ist zu erwähnen, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normen über die Mitwirkung des Rats nationaldemokratisch legitimiert sein können, nicht aber müssen132. Denn der Rat entscheidet in diesem Verfahren grundsätzlich nach qualifizierter Mehrheit133, sodass der nationale Regierungs­ 131

Siehe oben Kapitel 11 I. 2. b) = S. 879. Vgl. dazu auch Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 438: „… bei Mehrheitsentscheidung kann ein Mitgliedstaat in wichtigen Bereichen einer Mehrheit von konservativen Regierungen unterworfen sein, obwohl sein Volk doch eine linke Regierung gewählt hat.“ Ferner Lepsius, Demokratie im neuen Europa: neun Thesen, in: Niedermayer / Westle (Hrsg.), Festschrift für Kaase, 2000, 332 (336). 133 Siehe Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2, Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz und Abs. 5 Satz 1 EGV. 132

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vertreter gegebenenfalls auch überstimmt werden kann134. Die über die Dezisionsmacht der Kommission vermittelte dezisionäre Rückanbindung an das deutsche Volk kann sich ihrerseits nicht unerheblich verkürzen, seitdem es zu ihrer Inves­ titur nicht mehr des Einvernehmens aller Mitgliedstaaten bedarf135.

(4) Massive Einschränkung beziehungsweise Wegfall der über die Kommission vermittelten dezisionären Legitimation Damit bleibt schließlich noch darauf hinzuweisen, dass die Dezisionsmacht der Kommission und mithin auch die in diesem Rahmen vermittelte nationaldemokratische Legitimation in einigen besonderen Konstellationen des Mitentscheidungsverfahrens mitunter massiv eingeschränkt sein kann  – und in einer besonderen Konstellation sogar ganz entfällt. Dieser Sachverhalt bedarf einer etwas ausführlicheren Darlegung. Denn zum einen sind die Konstellationen, in denen sich die über die Kommission vermittelte nationaldemokratische Legitimation verdünnt, durchaus vielfältig und verschiedenartig. Zum anderen führt das institutionellprozedurale Regime, aufgrund dessen sich der über die Kommission laufende nationaldemokratische Legitimationsstrang verschlankt, nicht immer dazu, dass der unter diesen Bedingungen erlassene Normsetzungsakt auch im Ergebnis ein Weniger an dezisionärer nationaldemokratischer Legitimation aufwiese. Zu einer Einschränkung der über die Kommission in dezisionärer Hinsicht vermittelten nationaldemokratischen Legitimation kommt es dann, wenn der Rat gemäß Art. 208 EGV oder das Europäische Parlament gemäß 192 UAbs. 2 EGV die Kommission auffordert, bestimmte Normsetzungsvorschläge zu unterbreiten136. Denn die Kommission ist in solchen Fällen rechtlich verpflichtet, entsprechende Vorschläge vorzubereiten und einzubringen137. Allerdings steht ihr bei der Kon­ kretisierung der betreffenden Rechtsetzungsinitiative in sachlicher Hinsicht ein Ermessensspielraum zu138, sodass ihr eine gewisse Mitentscheidungsmacht verbleibt und die über sie vermittelte nationaldemokratische Legitimation folglich nicht etwa völlig entfällt, sondern lediglich eingeschränkt wird139. 134 Vgl. auch Spieß, Sozialer Dialog und Demokratieprinzip, 2005, S. 161; Saalfrank (Fn. 2), S. 76; auch Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 50. 135 Dazu bereits oben Kapitel 11 I. 2. c) = S. 881. 136 Vgl. Epiney u. a. (Fn. 10), S. 169. 137 Wichard, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 208 EGV Rn. 3 und Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 193 Rn. 14; anderer Ansicht v. Buttlar, Das Initiativrecht der Europäischen Kommission, 2003, S. 157 ff. und 254 ff. 138 Wichard (Fn. 137), Rn. 3. 139 Dass die Kommission rechtlich verpflichtet ist, Normsetzungsvorschläge zu unterbreiten, wenn sie von Rat oder Europäischem Parlament dazu aufgefordert wird, ist indes nicht un­ bestritten. Unter Hinweis auf die ansonsten gefährdete Funktion der Kommission als Motor der Integration wird teilweise auch vertreten, dass Art. 208 und 192 UAbs. 2 EGV die Kommis-

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Zu berücksichtigen ist nun freilich, dass die für die Kommission verbind­liche Aufforderung, einen Gesetzgebungsvorschlag zu unterbreiten, zunächst einmal nur die im Rahmen der Dezisionsmacht der Kommission vermittelte national­ demokratische Legitimation verkürzt. Insgesamt betrachtet, führt eine für die Kommission verbindliche Aufforderung, einen Gesetzgebungsvorschlag zu unterbreiten, nur dann zwingend zu einem Minus an dezisionärer nationaldemosion lediglich dazu verpflichten kann, sich mit einer Aufforderung durch den Rat oder das Parlament auseinanderzusetzen und deren etwaige Ablehnung zu begründen. Demnach bliebe es auch dann bei der durch das Initiativmonopol vermittelten Dezisionsmacht der Kommission und der in diesem Rahmen Platz greifenden nationaldemokratischen Rückanbindung, wenn die Kommission durch Rat oder Parlament formell dazu aufgefordert worden ist, einen Gesetzgebungsvorschlag zu unterbreiten. Überzeugend ist diese Sichtweise allerdings nicht. Denn hiernach würden die durch den Vertrag von Maastricht ins primäre Gemeinschaftsrecht eingefügten Art. 208 und 192 UAbs. 2 EGV faktisch weithin leerlaufen, hätten also letztlich nur deklaratorische Bedeutung. Davon kann freilich mit Blick auf die Entstehungsgeschichte nicht ausgegangen werden. Danach stellen sich die Art. 208 und 192 Abs. U2 EGV vielmehr als das Ergebnis eines Kompromisses zwischen denjenigen dar, die das Initiativmonopol der Kommission coûte que coûte bewahren, und denjenigen, die die EG-Normsetzung nach dem aus den nationalen Verfassungstraditionen bekannten Vorbild eines Zwei-Kammer-Systems umorganisieren wollten. Der seinerzeit gefundene Kompromiss geht dahin, dass es – anders als in den nationalstaatlichen Zwei-Kammer-Systemen  – formell beim ausschließlichen Initiativrecht der Kommission bleibt. Jedoch stehen dem Rat und dem Europäischen Parlament eine – das Ini­ tiativmonopol der Kommission relativierende – mittelbare Initiativbefugnis zu, denn sie können die Kommission rechtsverbindlich dazu anhalten, in einer bestimmten Angelegenheit eine Gesetzesinitiative einzubringen. Allerdings wird das Initiativmonopol der Kommission hierdurch keineswegs vollends zugunsten eines Quasi-Initiativrechts von Rat und Europäischem Parlament durchbrochen, und wahrt das institutionelle Arrangement der EG-Normsetzung Distanz zum nationalstaatlich tradierten Zwei-Kammer-System. Denn der Kommission verbleibt – was auch dem für das Gemeinschaftsverfassungsrecht weiterhin prägenden ‚institutionellen Gleichgewicht‘ zwischen Rat, Parlament und Kommission entspricht – in sachlicher Hinsicht ein Ermessensspielraum bei der Umsetzung der Rats- beziehungsweise Parlamentsaufforderung in einen konkreten Rechtsetzungsvorschlag. Dieses nuancierte Verständnis der Art. 208 und 192 UAbs. 2 EGV entspricht zum einen dem Wortlaut dieser Vorschriften, die schon semantisch ihren kompromisshaften Charakter schwerlich verbergen können. Zum anderen trägt es dem systematisch-teleologischen Zusammenhang zu Art.  250 Abs.  1 und Art.  251  EGV Rechnung. Denn müsste die Kommission zwingend alle noch so detaillierten Vorgaben befolgen, die der Rat beziehungsweise das Parlament im Rahmen ihrer Aufforderung nach Art. 208 und Art.  192 UAbs.  2  EGV formulieren, so würden die Bestimmungen der Art.  250 Abs.  1 und Art. 251 EGV, die eine Abänderbarkeit der Kommissionsvorschläge nur unter besonderen, nämlich erschwerten Bedingungen zulassen, geradewegs unterlaufen. Denn statt zu versuchen, den Kommissionsvorschlag nach Maßgabe der genannten Vorschriften abzuändern, könnten Rat beziehungsweise Parlament die Kommission einfach dazu auffordern, einen neuen, ihnen auch im Detail inhaltlich genehmen Normsetzungsvorschlag zu unterbreiten. Dies kann nach der Vertragssystematik aber nicht der Zweck der Art. 208 und 192 UAbs. 2 EGV sein. In dieser Perspektive bestätigt sich im Übrigen auch, dass bei einer Aufforderung von Parlament und Rat gemäß Art. 208 und 192 UAbs. 2 EGV die im Rahmen der Kodezisionsmacht der Kommission vermittelte nationaldemokratische Legitimation nicht völlig entfällt, sondern lediglich eingeschränkt wird. Denn der Kommission steht, wie gesagt, bei der Umsetzung der ihr angesonnenen Rechtsetzungsinitiative in sachlicher Hinsicht weiterhin ein Mitentscheidungsmacht begründender Ermessensspielraum zu.

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kratischer Legitimation, wenn das vom nationaldemokratischen Legitimationszusammenhang ausgenommene Europäische Parlament diese Aufforderung abgibt. Geht die Aufforderung hingegen auf den Rat zurück, kommt es nur eventuell zu einem Defizit an dezisionärer nationaldemokratischer Legitimation, nämlich dann, wenn die Ratsmehrheit gegen den Willen des deutschen Ratsvertreters entschieden hat. Die über die Kommission vermittelte dezisionäre Legitimation wird fernerhin in den Fällen – mitunter massiv – eingeschränkt, in denen der Rat gemäß Art. 250 Abs. 1 EGV den von der Kommission herrührenden Vorschlag abändert140. Gleiches gilt, wenn der Rat nach Art. 251 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz EGV über Abänderungen des Europäischen Parlaments zum gemeinsamen Standpunkt beschließt, denen die Kommission die Zustimmung verweigert hat141. Dass in diesen Fällen 140 Freilich ist umstritten, ob die generelle Vorschrift des Art. 250 Abs. 1 EGV überhaupt im speziellen Verfahrensregime der Mitentscheidung Anwendung findet. Unter Hinweis auf den lex-specialis-Satz ist dies gelegentlich in Zweifel gezogen worden. Wäre Art. 250 Abs. 1 EGV im Mitentscheidungsverfahren tatsächlich unanwendbar, so würde der dort formulierte Grundsatz, wonach der Rat nur einstimmig von einem Vorschlag der Kommission abweichen darf, nicht nur in der besonderen und später noch näher zu diskutierenden Konstellation durchbrochen, in der ein Normsetzungsakt nach Durchlaufen des Vermittlungsverfahrens gemäß Art.  251 Abs.  4 und 5  EGV erlassen wird. Vielmehr könnte dann auch in den Fällen des Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2 1. Spiegelstrich EGV und des Art. 251 Abs. 2 UAbs. 3 Buchst. a EGV ein vom Kommissionsvorschlag abweichender EG-Normsetzungsakt ergehen, obwohl sich der Rat mit bloß qualifizierter Mehrheit dafür ausgesprochen hat. Indes ergibt schon der insoweit unzweideutige Wortlaut von Art. 250 Abs. 1 EGV, dass er grundsätzlich auch im Mitbestimmungsverfahren Anwendung findet und nur in den Fällen des Art. 251 Abs. 4 und Abs. 5 EGV hiervon abgewichen werden darf. Dass die Vorschriften über das Mitentscheidungsverfahren die allgemeine Bestimmung Art. 250 Abs. 1 EGV nicht einfach verdrängen, lässt sich fernerhin auch aus Art. 251 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz EGV herleiten. Diese Bestimmung überträgt nämlich den von Art. 250 Abs. 1 EGV normierten Grundsatz, wonach der Rat nur einstimmig Änderungen des Kommissionsvorschlags beschließen kann, auf eine Konstellation, in der Art. 250 Abs. 1 EGV bei strenger Wortlautinterpretation nicht greift: In der Konstellation des Art. 251 Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz EGV billigt der Rat lediglich die Abänderungen des Europäischen Parlaments, trifft also selbst keine Entscheidung mehr über den Inhalt des Normsetzungsakts und ändert insofern auch nicht unmittelbar den Kommis­ sionsvorschlag ab. Darin liegt ein Unterschied zu dem Fall, in dem der Rat die Abänderungen des Europäischen Parlaments nicht nur billigt, sondern wie im Fall des Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2 1. Spiegelstrich EGV zusätzlich noch selbst über die Ingeltungsetzung des Normsetzungsakts und mithin auch über eine allfällige Abweichung vom Kommissionsvorschlag unmittelbar zu entscheiden hat. Ein Unterschied besteht ferner zu der Konstellation, in der der Rat einen gemeinsamen Standpunkt festlegt und insofern unmittelbar den Kommissionsvorschlag abändert. Wenn nun freilich Art. 251 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz EGV sicherstellt, dass der Rechtsgedanke des Art. 250 Abs. 1 EGV auch dort Platz greift, wo diese Bestimmung bei strikter Wortlaut­ auslegung keine Anwendung findet, so drängt sich der systematisch-teleogische Schluss nachgerade auf, dass Art. 250 Abs. 1 EGV im Verfahren der Mitentscheidung prinzipiell anwendbar ist  – also insbesondere auch in der Konstellation des Art.  251 Abs.  2 UAbs.  2 1.  Spiegelstrich EGV oder wenn der Rat den gemeinsamen Standpunkt beschließt. 141 Zur Verfahrensetappe der Zweiten Lesung im Rat allgemein Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 251 Rn. 28.

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zwar von einer gegebenenfalls massiven Einschränkung, niemals aber von einem gänzlichen Wegfall der über die Kommission vermittelten nationaldemokratischen Legitimation auszugehen ist, hängt damit zusammen, dass der Rat gemäß Art. 250 Abs.  1  EGV lediglich Änderungen142, das Europäische Parlament ausweislich Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2 EGV lediglich Abänderungen143 an dem von der Kommission unterbreiteten Vorschlag vornehmen kann. Infolgedessen bleibt der Kommission auch in diesen Konstellationen stets ein Rest an Kodezisionsmacht erhalten und wächst dem im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakt selbst in diesen Fällen über die Kommission ein gewisses (Mindest-)Maß an dezisionärer Legitimation zu144. Wenn es demnach in den Fällen des Art. 250 Abs. 1 EGV beziehungsweise des 251 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz EGV zwar zu keiner gänzlichen Elimination, wohl aber zu einer massiven Verdünnung der über die Kommission vermittelten nationaldemokratischen Legitimation kommen kann, so darf dies im hier interessierenden Zusammenhang freilich wiederum nicht isoliert betrachtet werden. Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass für diese Fälle zugleich vorgesehen ist, dass der Rat nur 142 Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 250 Rn. 13 sowie eingehend v. Buttlar (Fn. 137), S. 52 ff. 143 Siehe Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2 1. Spiegelstrich EGV; siehe dazu auch Krajewski / Rösslein, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 3, Stand: April 2007, Art. 251 EGV Rn. 23. 144 Wenn der Rat gemäß Art. 250 Abs. 1 EGV nur Änderungen an dem von der Kommission unterbreiteten Vorschlag vornehmen kann, so muss es ihm versagt sein, im Gewand einer bloßen Änderung einen völlig anderen Normsetzungsvorschlag zur Grundlage des weiteren Verfahrens zu machen. Denn ein Initiativrecht hat der Rat nur im Rahmen des eben bereits erörterten Art. 208 EGV. Es hieße daher die vertraglich festgeschriebenen Organkompetenzen überspielen, würde man dem Rat im Rahmen des Art. 250 Abs. 1 EGV die Möglichkeit ein­ räumen, sich völlig vom Richtlinienvorschlag der Kommission zu lösen. Zumindest die Entscheidung darüber, dass ein bestimmter Sachverhalt zum jetzigen Zeitpunkt einer europarechtlichen Regelung zugeführt werden soll, ist aus diesem Grund immer auch der Kommission zurechenbar. Daher bleibt in den Fällen des Art. 250 Abs. 1 EGV immer ein Rest Kodezisionsmacht der Kommission erhalten und wächst auch in diesen Fällen dem im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakt über die Kommission ein gewisses (Mindest-)Maß an dezisionärer Legitimation zu. Entsprechendes gilt für die Konstellation, dass der Rat gemäß Art. 251 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz  EGV Abänderungen billigt, die das Europäische Parlament in Hinblick auf einen gemeinsamen Standpunkt vorgeschlagen hat, der seinerseits mit dem  – gegebenenfalls erst im Lauf des Mitentscheidungsverfahrens gemäß Art. 250 Abs. 2 EGV abgeänderten – Kommissionsvorschlag kongruiert. Denn auch das Europäische Parlament darf den mit dem Kommissionsvorschlag harmonierenden gemeinsamen Standpunkt lediglich abändern und ihn nicht durch ein gänzlich neues Normsetzungsprojekt substituieren. Andernfalls würde der das Initiativrecht des Europäischen Parlaments regelnde Art.  192 UAbs.  2  EGV überspielt. Daher bleibt der Kommission auch in der hier interessierenden Konstellation immerhin die Entscheidung darüber, zu welchem Zeitpunkt ein bestimmter Sachverhalt europarechtlich ge­regelt wird, zurechenbar. Ein unter den eben geschilderten Voraussetzungen erlassener Normsetzungsakt bleibt daher – wenn auch nur minimal – in dezisionärer Hinsicht an die Kommission rückgebunden.

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qua Einstimmigkeit entscheiden darf145. Damit ist gewährleistet, dass dann, wenn der über die Kommission in dezisionärer Hinsicht vermittelte nationaldemokra­ tische Legitimationsfluss nahezu versiegt, ein über den Rat verlaufender dezisionärer Legitimationszusammenhang stets und immer vorhanden ist. Damit bleibt die letzte Konstellation zu erörtern, in der die über die Kommission in dezisionärer Hinsicht vermittelte nationaldemokratische Legitimation – in wiederum gegebenenfalls massiver Weise – verkürzt sein kann. Sie ist dann gegeben, wenn ein Normsetzungsakt gemäß Art.  251 Abs.  4 und 5  EGV im Anschluss an ein Vermittlungsverfahren erlassen wird146. Denn Grundlage der Verhandlungen des Vermittlungsausschusses ist nicht mehr der Vorschlag der Kommission147. Vielmehr kann sich der Vermittlungsausschuss bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Entwurfs, der gemäß Art. 251 Abs. 5 EGV eventuell in Rechtsgeltung erwachsen kann, über den Vorschlag der Kommission hinwegsetzen. Der Kommission kommt ausweislich Art. 251 Abs. 4 Satz 2 EGV nur noch eine beratende und unterstützende, aber keine mitentscheidende Funktion mehr zu148. Im Normalfall entfällt die im Rahmen der Kodezisionsmacht der Kommission vermittelte nationaldemokratische Legitimation aber auch in dieser Konstellation nicht gänzlich. Denn ebenso wie es Rat und Parlament versagt bleiben muss, aufgrund der ihnen zustehenden Abänderungsbefugnisse völlig neue Normsetzungsprojekte ins Mitentscheidungsverfahren einzuführen149, muss auch der Vermittlungsausschuss den sachlich-thematischen Rahmen wahren, der durch den Kommissionsvorschlag gesetzt worden ist150. Schließlich hat sich der Vermittlungsausschuss gemäß Art. 251 Abs. 4 Satz 3 EGV mit dem gemeinsamen Standpunkt auf der Grundlage der vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Abänderungen zu befassen. Ein darüber hinausgehendes Mandat ist ihm nicht eingeräumt151. Der gemeinsame Standpunkt des Rats wie auch die vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Abänderungen indes können, wie schon angesprochen, zwar gegebenenfalls vom Kommissionsvorschlag abweichen, dürfen diesen aber nicht durch ein völlig neues Normsetzungsprojekt substituieren152. Folglich gilt auch für den in Anschluss an ein Vermittlungsverfahren erlassenen Normsetzungsakt, dass er im Normalfall zumindest insoweit durch die Kommission mit determiniert ist, als diese den betreffenden Regelungsgegenstand auf die europarechtspolitische Agenda gehoben hat. 145

Siehe dazu nur Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.),  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art.  250 EGV Rn. 5. 146 Dazu Gellermann (Fn. 142), Rn. 14. 147 Vgl. dazu die Vorbehaltsregelung des Art. 250 Abs. 1 EGV. 148 Vgl. Gellermann (Fn. 141), Rn. 31. Dazu auch Bauer (Fn. 130), S. 52. 149 Siehe oben Fn. 142 und 143. 150 Siehe Gellermann (Fn. 142), Rn. 32. 151 In diesem Sinne auch Krajewski / Rösslein (Fn. 143), Rn. 71. 152 Vgl. dazu im Einzelnen Fn. 144.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Abweichendes gilt nun freilich für die besondere Konstellation, dass ein im Anschluss an ein Vermittlungsverfahren erlassener Normsetzungsakt auf einem Normsetzungsvorschlag beruht, den die Kommission auf Aufforderung des Rats beziehungsweise des Europäischen Parlaments unterbreitet hat. Denn in diesem Fall entscheidet der Rat beziehungsweise das Europäische Parlament darüber, dass eine bestimmte Sachmaterie nunmehr europarechtlich reguliert werden soll153, und braucht der betreffende Normsetzungsakt nicht einmal mehr unter diesem Gesichtspunkt auf die Kodezisionsmacht der Kommission zurückzuführen. Dies ist freilich auch die einzige Fallkonstellation, in der im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens die über die Kommission in dezisionärer Hinsicht vermittelte nationaldemokratische Legitimation vollständig in Wegfall geraten kann. Auch hinsichtlich der nach einem Vermittlungsverfahren ergangenen Norm­ setzungsakte ist nun freilich zu beachten, dass die Verkürzung beziehungsweise – äußerstenfalls – auch der vollständige Wegfall der über die Kommission in dezisionärer Hinsicht vermittelten nationaldemokratischen Legitimation nicht notwendig dazu führt, dass sich das für den fraglichen Normsetzungsakt generell prägende (Real-)Maß nationaldemokratischer dezisionärer Legitimation verringert. Davon ist nur für die Fälle auszugehen, in denen der gemeinsame Entwurf des Vermittlungsausschusses sowie der darauf gründende Normsetzungsakt gegen den Willen des deutschen Ratsvertreters in Geltung gesetzt werden154 beziehungsweise die Initiative zum Erlass des fraglichen Normsetzungsakts auf einer von der Bundesrepublik nicht mitgetragenen Aufforderung des Rats155 oder aber einer solchen des Europäischen Parlaments beruht156.

(5) Zusammenfassende Betrachtung Gerade auch unter den vier zuletzt gewürdigten Gesichtspunkten ist es mithin in der Tat rechtlich denkbar, dass im Mitentscheidungsverfahren ein Normsetzungsakt ergeht, der in dezisionärer Hinsicht nur noch höchst rudimentär nationaldemokratisch rückgebunden ist157. Aus Sicht des hier in Rede stehenden Legitimationsmodells mittelbarer Legitimation liegt der demokratierechtliche worst case dann vor, wenn im Anschluss an ein Vermittlungsverfahren ein potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakt gegen den Willen des deutschen Ratsvertreters ergeht, der betreffende Normsetzungsakt inhaltlich von der durch die Kommission vorgezeichneten Linie abweicht und er im Übrigen auf einem Kommissions­ 153 Siehe Krajewski / Rösslein, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 3, Stand: April 2007, vor Art. 250–252 EGV Rn. 18. 154 Vgl. Art. 251 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 EGV. 155 Vgl. Art. 208 EGV. 156 Vgl. Art. 192 UAbs. 2 EGV. 157 Siehe auch Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: StWiss 1995, S. 155 (166).

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vorschlag beruht, zu dem das Europäische Parlament oder aber eine vom deutschen Ratsvertreter nicht unterstützte Ratsmehrheit aufgefordert hat. In dieser Konstellation nämlich erfolgt die nationaldemokratische Rückbindung in dezisio­ närer Hinsicht nur mehr über das vom Staatsvolk ohnehin nur gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten erzeugte und in diesem Fall besonders vage Primärrecht. Eine nur unwesentlich stärkere dezisionäre nationaldemokratische Rückkoppelung ist zu verzeichnen, sofern ein potenziell marktinterventionistischer Norm­setzungsakt auf einem Kommissionsvorschlag beruht, zu dem entweder das Europäische Parlament oder – entgegen dem Willen des deutschen Ratsvertreters – der Rat aufgefordert hat, der Normerlass vom Rat gegen den Willen der Bundesrepublik entschieden wurde und die Kommission seinerzeit ohne Zustimmung des nationalen Mitgliedstaats bestellt wurde. Abgesehen von der schwachen nationaldemokratischen Rückbindung über das Primärrecht erfolgt die Rückkoppelung an die nationaldemokratische Dezisionsmacht in dieser Konstellation lediglich noch über eine von den Vertretern des nationalen Staatsvolks nicht nur nicht gewählte, sondern zudem auch nur im Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament kontrollierbare Kommission, die aufgrund ihres in der hiesigen Konstellation massiv eingeschränkten Initiativmonopols ohnedies in ihrem Legitimationspotenzial weitgehend beschränkt ist.

bb) Dezisionäre Legitimation und EG-Organe in den sonstigen Rechtsetzungsverfahren Zu einer ähnlich weit reichenden Fragmentarisierung der nationaldemokratisch bewirkten dezisionären Legitimation, wie sie eben158 für den second worst case geschildert wurde, kann es nun freilich außer im Mitentscheidungsverfahren auch in den meisten anderen EG-Rechtsetzungsverfahren kommen. Abweichendes gilt insofern lediglich für diejenigen Normsetzungsverfahren, die ausnahmsweise ein einstimmiges Votum des Rats voraussetzen159. Lediglich im Rahmen solcher Verfahren ist gewährleistet, dass ein Normsetzungsakt niemals nur über das Primärrecht und über die Kommission, sondern überdies zwingend auch über den Regierungsvertreter im Rat an das nationale Staatsvolk rückgekoppelt ist. In den übrigen Normsetzungsverfahren indes kann sich die vom nationalen Staatsvolk herrührende dezisionäre Legitimation in zumindest tendenziell ähnlicher Weise verdünnen wie im Mitentscheidungsverfahren. So werden EG-Normen, soweit sie nicht von der Kommission erlassen werden, auch außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens typischerweise dergestalt in Geltung gesetzt, dass die Kommission einen Vorschlag einbringt und der Rat darüber 158

Oben Kapitel 11 I. 3. c) aa) (5) = S. 898. Vgl. zum Beispiel Art. 42 EGV (modifiziertes Mitbestimmungsverfahren), Art. 67 (Rechtsetzung durch den Rat auf Vorschlag der Kommission), Art.  93 (Anhörungsverfahren) und Art. 161 (Zustimmungsverfahren). 159

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mit qualifizierter Mehrheit beschließt, wobei dem Europäischen Parlament bestimmte, unterschiedlich weit reichende Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt sind160. Infolgedessen kann es auch bei diesen Verfahrensarten dazu kommen, dass über die Kodezisionsmacht des Rats überhaupt keine und über die der Kommission nur eine äußerst schwache dezisionäre Rückkoppelung an den Staatsvolkswillen erfolgt, weil sich der Rat über das Votum des nationalen Regierungsvertreters hinweggesetzt hat, die Kommission ohne Zustimmung des nationalen Mitgliedstaats in seine Funktionen eingesetzt worden ist und überdies auf Initiative des Euro­päischen Parlaments oder eines von Deutschland nicht mitgetragenen Rats­ beschlusses tätig geworden ist. Werden EG-Normen von der Kommission erlassen161, so kann das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation zwar niemals ganz so stark reduziert sein, wie in den eben angesprochenen Verfahrenskonstellationen, in denen der Rat als Hauptrechtsetzungsorgan fungiert. Schließlich ist die Entscheidungsmacht der Kommission dann, wenn sie selbst die Normsetzungsakte erlässt, jedenfalls größer. Und über die Kodezisionsmacht der Kommission schlägt sich, selbst wenn diese gegen den Willen des nationalen Staatsvolks in ihr Amt berufen worden ist, ausnahmslos immer nationaldemokratische Legitimation Bahn162. Gleichwohl kann auch das von der Kommission erlassene Durchführungsrecht mitunter nur sehr rudimentär an die Dezisionsmacht des nationalen Staatsvolks rückgebunden sein. Dies gilt in besonderem Maße für Durchführungsrecht, das von der Kommission aufgrund sekundärrechtlicher Befugnisnormen im sogenannten Regelungsverfahren (mit beziehungsweise ohne Kontrolle)163 erlassen wird. Denn in dieser Verfahrenskonstellation ist es denkbar, dass das ermächtigende Sekundärrecht nur äußerst schwach nationaldemokratisch legitimiert ist, die Kommission gegen den Willen des nationalen Staatsvolks in ihr Amt eingesetzt wurde und der im Regelungsverfahren als Mitentscheider fungierende Ausschuss der Staatenvertreter164 dem gegenläufigen Votum des nationalen Staatenvertreters nicht gefolgt ist.

160

Oppermann (Fn. 65), § 6 Rn. 117. Und zwar ganz überwiegend im Wege der Durchführungsrechtsetzung – dazu überblicksweise Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, 2005 S. 56 ff. 162 Siehe oben Kapitel 11 I. 2. c) = S. 881. 163 Art. 5 und 5a des Beschlusses des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (1999/468/ EG) (ABl. L 184, S. 23), geändert durch Beschluss des Rates vom 17. Juli 2006 (ABl. L 200, S.  11) (= Komitologiebschluss); zum Komitologieverfahren nach der Reform von 2006 vgl. Petersen / Heß (Fn. 83), S. 569 ff. 164 Dass der Ausschuss der Staatenvertreter in der Konstellation des Regelungsverfahrens über den Erlass des Durchführungsrechts mitentscheidet, liegt auf der Hand. Denn die Kommission darf die geplante Durchführungsmaßnahme nur erlassen, wenn der Ausschuss sie mit qualifizierter Mehrheit gebilligt hat. 161

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Aber auch dann, wenn das Durchführungsrecht im Beratungs- oder Verwaltungsverfahren165 erlassen wird, kann sich die nationaldemokratische Legitimation stark verdünnen. Zwar kommt dem Ausschuss der Staatenvertreter insoweit keine Mitentscheidungsmacht zu166. Die nationaldemokratische Rückkoppelung kann also nicht zusätzlich noch dadurch beeinträchtigt sein, dass dieser Ausschuss die Durchführungsmaßnahme gegen den Willen des nationalen Staatenvertreters gutgeheißen hat. Gleichwohl bleibt es dabei, dass sich bei einer nationaldemokratisch nur schwach legitimierten sekundärrechtlichen Ermächtigung und bei einer gegen den Willen des nationalen Staatsvolks ins Amt berufenen Kommission die Dezisionsmacht des nationalen Staatsvolks der legitimationsbedürftigen Durchführungsvorschrift in nur sehr begrenztem Ausmaß mitzuteilen vermag. Schließlich ist auch für den Fall, dass das Primärrecht der Kommission ausnahmsweise eine selbstständige Rechtsetzungskompetenz einräumt167, zu konstatieren, dass den insoweit erlassenen Normen in dezisionärer Hinsicht eine mitunter nur schwache nationaldemokratische Legitimation zuwächst. Diese kann zwar niemals auf das Niveau absinken, auf dem äußerstenfalls Durchführungsrecht zu verorten ist. Doch für den Fall, dass die Kommission gegen den Willen des nationalen Staatsvolks in ihr Amt berufen wurde, wächst einer außer von der Kom­mission nur mehr vom Primärrecht dezisionär determinierten Norm ein letzten Endes doch recht geringes Maß an nationaldemokratischer Legitimation zu. Damit besteht in einem entscheidenden Punkt Übereinstimmung zwischen dem Mitentscheidungsverfahren und der überwiegenden Zahl der im EGV ansonsten vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren: Die auf das deutsche Staatsvolk zurückführende dezisionäre Legitimation kann sich mitunter in der äußerst schwachen Rückkoppelung erschöpfen, die über das  – speziell bei potenziell marktinter­ ventionistischen Normsetzungsakten – steuerungsschwache Primärrecht einerseits und die Kodezisionsmacht einer gegen den Willen des nationalen Staatsvolks berufenen Kommission andererseits vermittelt wird168. Tendenzielle Unterschiede zwischen Mitentscheidungsverfahren und sonstigen Rechtsetzungsverfahren ergeben sich demgegenüber zum einen aufgrund der unterschiedlich geregelten Mitwirkung des Europäischen Parlaments. Denn – außer 165

Dazu überblicksweise Oppermann (Fn. 65), § 6 Rn. 88. Für das Beratungsverfahren erschließt sich dies ohne Weiteres. Denn hier ist die Kommission gerade nicht an die Stellungnahme des Ausschusses gebunden. Im Fall des Verwaltungsverfahrens könnte dies freilich deshalb zweifelhaft sein, weil der Ausschuss hier immerhin erreichen kann, dass der Rat wieder mit der an sich der Kommission überantworteten Durchführungsnorm befasst wird. Dadurch freilich wächst dem Ausschuss keine Kodezisionsmacht zu. Vielmehr bewirkt dieses Arrangement, dass die Kommission wegen der vom Rat drohenden Kontrollmaßnahme stärker an dessen Willen rückgebunden wird als dies der Fall wäre, wenn die Durchführungsnorm im Beratungsverfahren erginge. 167 Beispiel: Art. 38 oder Art. 86 Abs. 3 EGV. 168 Vgl. dazu Kapitel 11 I. 3. c) aa) (5) = S. 898. 166

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

im Zustimmungsverfahren169 und bei (stillschweigender) Billigung beziehungsweise Abänderung einer Gesetzesvorlage des Rats im Verfahren der Zusammenarbeit170  – wirkt das Europäische Parlament in den übrigen Rechtsetzungsverfahren nicht mitentscheidend am Erlass der Normsetzungsakte mit171; dies gilt insbesondere auch für das Regelungsverfahren mit Kontrolle172, denn die dem Europäischen Parlament dort eingeräumten Vetobefugnisse dienen der prozeduralen Implementierung von auf Sekundär- und Primärrechtsebene bereits getroffenen Sachentscheidungen173 und also gerade nicht der materiellen Rechtsgestaltung. Für das Modell mittelbarer demokratischer Legitimation folgt hieraus, dass das Ausmaß der Exklusivität dezisionärer demokratischer Legitimation bei Normsetzungsakten, die weder im Mitentscheidungs- noch im Zustimmungsverfahren und auch nicht in den erwähnten Konstellationen im Zusammenarbeitsverfahren ergehen, relativ größer ist als bei den im Verfahren nach Art. 251 EGV erlassenen Normsetzungsakten. Denn der Anteil an nationaldemokratisch generierter dezisionärer Legitimation wird insofern nicht (zusätzlich) dadurch gemindert, dass das Europäische Parlament, das aus den genannten Gründen zur Repräsentation des nationalen Staatsvolkswillens strukturell unfähig ist174, über Erlass und Inhalt der EG-Normsetzungsakte mitentscheidet. Zum anderen ist festzuhalten, was auf den ersten Blick kurios anmuten mag: Wenn in den übrigen Rechtsetzungsverfahren niemals ein so geringes Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität dezisionärer Legitimation erreicht werden kann, wie dies äußerstenfalls im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens denkbar ist, so hängt dies damit zusammen, dass in den anderen Rechtsetzungsverfahren der Kom 169 Nugent (Fn. 20), S. 200 und 352 f.; Oppermann (Fn. 65), § 5 Rn. 36 und § 6 Rn. 117. Zu berücksichtigen ist, dass es nur zum Teil um den Erlass von Normsetzungsakten im hier verstandenen Sinn geht, wenn der EGV in seinen Ermächtigungsnormen ein Zustimmungsverfahren vorsieht (vgl. zum Beispiel Art. 161 EGV im Gegensatz zu Art. 105 Abs. 6 EGV). Insgesamt betrachtet kommt dem Zustimmungsverfahren eine nur mehr marginale Bedeutung zu. 170 Art. 252 Buchst. b UAbs. 2 und Buchst. c UAbs. 1 Satz 1 EGV. Zum Zusammenarbeitsverfahren generell Nugent (Fn. 20), S. 199 f.; zu dessen nur mehr äußerst eingeschränkten Bedeutung Epiney u. a. (Fn. 10), S. 171. 171 Dies bedeutet natürlich nicht, dass das Europäische Parlament in den übrigen Rechtsetzungsverfahren ohne demokratietheoretisch und -rechtlich relevanten Einfluss auf die EGNormsetzung bliebe. Denn schließlich ist die Kommission, der aufgrund ihres Initiativmonopols beziehungsweise ihrer Rechtsetzungsbefugnisse in den übrigen Rechtsetzungsverfahren (Ko-)Dezisionsmacht zukommt, ihrerseits über das System magistratischer Repräsentation durchweg auch an das Europäische Parlament rückgebunden. Als kodezisionsmächtig wird man das Europäische Parlament aber gleichwohl nicht ansehen können, denn die Entscheidung über Erlass und Inhalt der legitimationsbedürftigen EG-Normsetzungsakte wird insofern nun einmal nicht von ihm getroffen. 172 Art. 5a Komitologiebeschluss (Fn. 163). 173 Vetobefugnisse stehen dem Europäischen Parlament nur insoweit zu, als die Grenzen des Basisrechtsakts nicht eingehalten oder gegen die Grundsätze der Subsidiarität beziehungsweise Verhältnismäßigkeit verstoßen wird (vgl. Art. 5a Abs. 3 Buchst. b, Abs. 4 Buchst. e und Abs. 6 Buchst. b Komitologiebeschluss [Fn. 163]). 174 Siehe oben Kapitel 11 I. 2. c) = S. 881.

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mission durchweg eine mehr oder minder weit reichende (Ko-)Dezisionsmacht zusteht und sich über diese stets eine, wenn auch eventuell nur sehr schwache nationaldemokratische Legitimation Bahn bricht. Spinnt man diesen Gedanken weiter, so gelangt man zu dem zumindest vordergründig erstaunlichen Ergebnis, dass aus Sicht des hier in Rede stehenden Modells das demokratische Leitbild exklusiver dezisionärer demokratischer Legitimation durch das Mitentscheidungsverfahren ungleich stärker bedroht wird als durch die vereinzelten Normsetzungsverfahren, im Rahmen derer der Kommission eine selbstständige Normsetzungskompetenz zukommt175.

cc) Resümee Nach allem bleibt zweierlei festzuhalten. Zum einen zeigt sich, dass das Ausmaß der über die EG-Organe in dezisionärer Hinsicht vermittelten nationaldemokratischen Legitimation je nach Normsetzungsverfahren variieren kann. Dieser Umstand darf zum anderen aber nicht den Blick darauf feststellen, dass die nationaldemokratisch generierte dezisionäre Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten insoweit zuwächst, trotz der durchaus vorhandenen Unterschiede letztlich als durchweg schwach eingestuft werden muss.

d) Revisionäre demokratische Legitimation und EG-Organe Sieht man zunächst vom Durchführungsrecht ab, so ist zu konstatieren, dass die EG-Organe allein im Rahmen derjenigen Verfahren über die Aufhebung beziehungsweise Modifikation eines EG-Normsetzungsakts mitentscheiden können, in denen sie auch über seinen Erlass entschieden haben. Dies hat zur Konsequenz, dass ein EG-Normsetzungsakt, bei dem es sich nicht um Durchführungsrecht handelt, durch EG-Organe nur in dem Maße revisionär an den nationalen Volkswillen rückgebunden ist, wie ihre diesbezügliche  – mit der Korevisionsmacht inhaltlich identische  – Kodezisionsmacht reicht. So ist etwa die vom nationalen Staatsvolk herrührende revisionäre Legitimation dann von vornherein besonders schwach ausgeprägt, wenn es sich um einen im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakt handelt. Denn in diesem Fall kommt dem Europäischen Parlament ein erheblicher Anteil an der Revisionsmacht zu. Dessen Korevisionsmacht indes stellt sich gerade nicht als Ausfluss nationaldemokratischer Revi­ sionsmacht dar. Im Fall der Durchführungsvorschriften ist zu berücksichtigen, dass zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge über die EG-Organe auf sie zurückführen: Zum einen können die Durchführungsvorschriften in den Verfahren aufge 175

Siehe Oppermann (Fn. 65), § 5 Rn. 94.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

hoben oder modifiziert werden, in denen sie erlassen worden sind. Für die Frage, in welchem Ausmaß dem EG-Normsetzungsakt insoweit exklusiv-perpetuelle revisionäre Legitimation zuwächst, kann der Sache nach auf die Ausführungen zur dezisionären Legitimation verwiesen werden176. Allerdings wird auf diese Weise nicht etwa der gesamte EG-Normsetzungsakt revisionär rückgebunden, sondern nur Teilregelungen. Denn die (Ko-)Revisionsmacht der EG-Organe sieht sich insofern nicht nur durch das Primärrecht, sondern auch durch die materielle Direktive der sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm von vornherein beschränkt. Hiermit korrelierend erwächst ein über die EG-Organe vermittelter revisionärer Legi­ timationszusammenhang daher zum anderen daraus, dass EG-Organe über das den Durchführungsvorschriften hierarchisch übergeordnete Sekundärrecht177 verfügen können. In Hinblick auf diesen Legitimationszusammenhang gilt, was eben schon für die revisionäre Legitimation solcher EG-Normsetzungsakte dargetan wurde, bei denen es sich nicht um Durchführungsrecht handelt. Insgesamt betrachtet, bleibt die über die EG-Organe in revisionärer Hinsicht vermittelte nationaldemokratische Legitimation bescheiden. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass nicht alle (ko-)revisionsbefugten EG-Organe national­ demokratische Legitimation vermitteln und dass, soweit sie es tun, die Legitimation ohnedies eine nur partizipative ist. Hinzu tritt, dass die von den EG-Organen in Bezug auf EG-Normsetzungsakte getroffenen Nichtrevisionsentscheidungen niemals perpetuell, sondern immer nur okkasionell auf den Willen des deutschen Staatsvolks zurückführen. Zu bedenken ist freilich, dass die revisionäre Rückbindung an das deutsche Volk, wie sie über die EG-Organe vermittelt wird, dem Strukturziel exklusivperpetueller revisionärer Legitimation im Regelfall immerhin näher kommt als diejenige, die sich mittelbar über die Abänderbarkeit des Primärrechts gemäß Art.  48  EUV Bahn bricht178. Denn im Rahmen der für die Sekundärrechtssetzung maßgeblichen Verfahren gilt – anders als im Vertragsänderungsverfahren – überwiegend das Mehrheitsprinzip179. Dieses aber führt aus den allgemein bereits dargelegten Gründen dazu, dass das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revi­sionärer Legitimation zunimmt180: Aufgrund des Mehrheitsprinzips kommt es weniger häufig als bei Geltung des Einstimmigkeitsprinzips dazu, dass die fortgesetzte Nichtrevision dem Willen des nationalen Vertreters im Rat oder im Ausschuss der Staatenvertreter beziehungsweise dem aus einem bestimmten Mitglied 176

Siehe oben Kapitel 11 I. 3. c) = S. 890. Dazu, dass das ermächtigende Sekundärrecht dem darauf gestützten Durchführungsrecht im Range vorgeht, vgl. nur EuGH, Rs. C-179/97, Slg. 1999, I-1251, Rn. 20 (Spanien / Kommission). Allgemein zum Verhältnis der Sekundärrechtsakte zueinander Ruffert, in: Calliess / ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 EGV Rn. 16. 178 Zu dieser oben Kapitel 11 I. 3. b) = S. 889. 179 Dies entspricht auch dem im Art.  205 Abs.  1  EGV normierten Regel-Ausnahme-Ver­ hältnis. 180 Dazu oben Kapitel 6 V. 1. a) bb) (2) = S. 397. 177

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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staat stammenden Kommissionsmitglied widerstreitet181. Bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation bricht sich über die EG-Organe somit in der Tat ein größeres Maß an exklusiv-perpetueller revisionärer Legitimation Bahn als im Rahmen von Art. 48 EUV .

4. Das im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Um zu klären, ob das im Rahmen der EG-Normsetzung erreichte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation den grundgesetzlichen Anforderungen und mithin also denen des Art.  20 Abs.  2  GG entspricht, muss nach der hier entwickelten Dogmatik zunächst festgelegt werden, wo das insofern vom Grundgesetz normalerweise gebotene Legitimationsniveau genau verläuft182. Dazu muss zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten differenziert werden. Denn bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten bestimmt sich das vom Grundgesetz normalerweise gebotene Ausmaß der Exklusivität und Perpetua­ lität demokratischer Legitimation nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG, wohingegen es im Fall der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungs­akten unter Berücksichtigung der für die rein innerstaatliche Normsetzung geltenden Ver­fassungseinzelbestimmungen zu definieren ist183. Ausgehend von dem so konkretisierten legitimatorischen Normalmaß kann dann im Weiteren überprüft werden, ob die im Rahmen der EG-Normsetzung zu verzeichnenden Abweichungen hiervon verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind oder ob sie – widrigenfalls – gegen Art. 20 Abs. 2 GG verstoßen.

a) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Um das bei wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten grundgesetzlich gebotene Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation zu bestimmen, ist bei dem durch Art. 59 Abs. 2 GG ausgeprägten Legitimationsniveau anzusetzen. Danach dürfte keiner der EG-Mitgliedstaaten, rechtlich gesehen, einen 181 Vgl. dazu auch Haltern (Fn. 132), S. 428: „Bei Einstimmigkeit kann sich etwa eine politisch konservative Mehrheit im Rat durch eine einzige linke Regierung blockiert sehen …“ 182 Siehe oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. 183 Dazu eingehend oben Kapitel 10 III. 3. = S. 827.

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relativ größeren Einfluss auf den Erlass eines EG-Normsetzungsakts haben als das deutsche Volk184. Das insofern vorgegebene Legitimationsniveau kann nun freilich bei EG-Normsetzungsakten sogar in den Verfahren unterschritten werden, die einen einstimmigen Ratsbeschluss für den Normerlass voraussetzen. Denn auch in diesen Fällen entscheidet wegen ihres Initiativmonopols185 regelmäßig die Kommission mit186. Diese aber vermittelt die Dezisionsmacht der einzelnen mitgliedstaatlichen Staatsvölker schon deshalb nicht zwingend in exakt gleichem Umfang, weil sie nach dem Mehrheitsprinzip bestellt wird187. Insofern ist selbst für Normsetzungsverfahren, in denen für den Ratsbeschluss das Einstimmigkeitsprinzip gilt, nicht ausgeschlossen, dass der Einfluss des deutschen Volks auf den Norm­ erlass relativ geringer ist als der anderer Mitgliedstaaten. Erschwerend kommt hinzu, dass EG-Normsetzungsakte ganz überwiegend auf einem mit Mehrheit gefassten Ratsbeschluss gründen188. Infolgedessen kann es dazu kommen, dass sich der Erlass eines bestimmten Normsetzungsakts deutlich stärker auf den Willen anderer mitgliedstaatlicher Völker zurückführen lässt als auf den des deutschen Volks, weil dessen Repräsentanten im Rat überstimmt worden sind und sich seine Dezisionsmacht somit nur mehr über das Primärrecht, die Kommission und  – im Fall des Durchführungsrechts  – eventuell über den Ausschuss der Staatenvertreter Bahn bricht189. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern es sich rechtfertigen lässt, dass bei wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten das durch Art. 59 Abs. 2 GG vorgegebene Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation fast durchweg und bisweilen erheblich unterschritten werden kann.

aa) Rechtfertigung der Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß anhand der grundgesetzlichen Demokratienorm des Art. 20 Abs. 2 GG Rechtfertigende Wirkung kommt in diesem Zusammenhang zunächst und nur scheinbar paradoxerweise der grundgesetzlichen Demokratienorm des Art.  20 Abs.  2  GG selbst zu. Denn auf deren Rechtfertigungspotenzial kann rekurriert 184

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. b) = S. 788. Dazu etwa Schmitt von Sydow (Fn.  79), S.  50 ff. sowie Streinz (Fn.  79), Rn.  336; zum Initiativmonopol aus praktischer Sicht Gretschmann, Traum oder Alptraum?, in: APUZ 2001, B 5, S. 25 (28). 186 Allerdings ist die Mitentscheidungsmacht der Kommission äußerst begrenzt, weil der Rat in diesem Fall gemäß Art. 250 Abs. 1 EGV Änderungen am Vorschlag der Kommission vor­ nehmen kann. Dazu eingehend oben Kapitel 11 I. 3. c) aa) (3) = S. 892. 187 Vgl. Art. 214 Abs. 2 EGV. 188 Dies gilt auch für das Durchführungsrecht, das wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung durchweg auf Sekundärrechtsnormen beruht. 189 Vgl. Saalfrank (Fn. 2), S. 76. 185

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werden, wenn ein Sachverhalt anerkanntermaßen nur transnational sinnvoll ge­ regelt werden kann und sich das demokratische Defizit, das der in diesem Kontext getroffenen transnationalen Regelung anhaftet, als politisch alternativlos zu werten ist190. Im Fall der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte ist insofern zu berücksichtigen, dass sie – in der Tradition völkerrechtlicher Handelsverträge – der Regulierung transnationaler Handelsbeziehungen dienen191. In­ sofern beziehen sie sich nicht selten auf Sachfragen, für die allgemein anerkannt ist, dass sie sich nur auf transnationaler Ebene sinnvoll regeln lassen. Hinzu tritt, dass es jedenfalls in der Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation an einer politisch gangbaren Alternative zu dem bei EGNormsetzungsakten demokratisch defizitären Rechtsetzungsmodus fehlt: Durch die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte wurde und wird ein Handelsregime etabliert, wie es sich in dieser Art und Qualität durch simple völkerrechtliche Verträge niemals hätte verwirklichen lassen192. Folglich stellen völkerrechtsvertragliche Handelsabkommen auch keine praktikable Alternative zu den EG-Normsetzungsakten dar, selbst wenn sie ein höheres Niveau dezisionärer demokratischer Legitimation aufweisen als diese. Die Alternativlosigkeit der demokratisch defizitären Normsetzungspraxis lässt sich im Weiteren auch durch den Hinweis nicht entkräften, die Mitgliedstaaten hätten doch eine demokratischere Organisation der EG-Normsetzung vereinbaren können. Denn dafür gab es im Verlauf des bisherigen Integrationsprozesses keine politischen Mehrheiten. Vor allem aber wäre eine Demokratisierung, die den erreichten Integrationsstand nicht in Frage stellt, wohl nur durch eine noch massivere Stärkung des Europäischen Parlaments möglich gewesen193. Dies aber erwiese sich aus Sicht des hier in Rede stehenden Modells mittelbarer Legitimation als demokratisch kontraproduktiv194. Damit bestätigt sich, dass im Fall der wesensmäßig marktkonstituierenden EGNormsetzungsakte Demokratiedefizite immerhin teilweise unter Hinweis darauf demokratisch gerechtfertigt werden können, dass ohne diese demokratisch defizitären Normsetzungsakte ein grenzüberschreitender Sachverhalt dem volksherrschaftlichen Zugriff gänzlich entzogen wäre. Allerdings muss das Rechtfertigungspotenzial, das dem Demokratieprinzip insofern eignet, in zumindest einer 190

Siehe oben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. Siehe oben Kapitel 10 III. 3. b) = S. 829. 192 Siehe dazu den akribischen Vergleich zwischen völkerrechtlichen Verträgen und Gemeinschaftsrecht bei Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 602 ff. 193 Hierfür spricht jedenfalls die Integrationsgeschichte, wurde doch bei jedem kompeten­ ziellen Wachstumsschub der EU die demokratiepolitische Notwendigkeit gesehen, die Parti­ zipationsbefugnisse des Europäischen Parlaments etwas weiter auszudehnen (vgl. Kluth, in: Calliess / Ruffert [Hrsg], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 189 EGV Rn. 26). 194 „Denn hinter jeder Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts zulasten des Rates steht zugleich eine Schwächung der nationalen Parlamente und der durch sie vermittelten Legitimation“ – so Huber (Fn. 66), Rn. 39. 191

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Hinsicht relativiert werden: Die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte betreffen zwar häufiger, aber keineswegs durchgängig Sachmaterien, bei denen die Notwendigkeit beziehungsweise Wünschbarkeit einer transnationalen Regelung weithin außer Streit steht. Vielmehr lässt sich folgende Tendenzaussage treffen: Je detaillierter die in einem wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakt enthaltenen Regelugen ausfallen, desto seltener wird – zumindest annähernde  – Einmütigkeit195 darüber bestehen, dass diese sinnvoll nur auf transnationaler Ebene getroffen werden konnten. Folglich erfüllt eine Reihe von wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten schon die erste Voraussetzung nicht, an die der Rechtfertigungsgrund der Demokratie in seiner hier in­ teressierenden Dimension anknüpft.

bb) Rechtfertigung der Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß aufgrund der strukturellen Besonderheiten historisch gewachsener überstaatlicher Hoheitsverbände Rechtfertigend lässt sich fernerhin ins Feld führen, dass die relative Einbuße an nationaldemokratischer Dezisionsmacht den strukturellen Besonderheiten geschuldet ist, die das vergemeinschaftete Europa als historisch gewachsenen Hoheitsverband sui generis196 charakterisieren197. Dieser Gesichtspunkt verliert zwar mit zunehmender Konsolidierung des europäischen Integrationsverbands als staatsähnlichem Gebilde an Gewicht. Doch gerade im Hinblick auf die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte bleibt er  – immerhin mittelfristig  – in starkem Maße beachtlich. Denn diese Normsetzungsakte beruhen ganz überwiegend auf Normsetzungsermächtigungen, die aus der Konstruktionsphase der EWG / EG datieren198. Insofern ist vertiefend zu erinnern, was an früherer Stelle bereits skizziert wurde199: Das Grundgesetz begreift die EG als in einem historischen Entwicklungsprozess stehend, was eine ahistorische Konkretisierung der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes verbietet. Dass mit dem Strukturwandel der EG in Richtung auf ein staatsähnliches Gebilde die Demokratieanforderungen steigen, weil der Gesichtspunkt der strukturellen Besonderheit überstaat­licher

195

Zu diesem Kriterium siehe oben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. Diese Charakterisierung findet sich etwa bei Zepter, Legitimation und demokratische Kontrolle aus Sicht der europäischen Kommission, in: Willems, Ulrich (Hrsg.), Demokratie auf dem Prüfstand, 2002, S. 117 (118). 197 Ähnlich Saalfrank (Fn. 2), S. 76. 198 Zu den historischen Gründen dafür, dass zu Anfang des europäischen Integrationsprozesses die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte dominierten Everling, Wirtschaftsfreiheit im europäischen Binnenmarkt, in: Schwarze (Hrsg.), Wirtschaftsverfassungsrechtliche Garantien für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, 2001, S. 11 (15). 199 Oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. 196

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Hoheitsverbände seine Legitimationsdefizite rechtfertigende Kraft allmählich einbüßt, gilt daher in besonderem Maße für Normsetzungsakte, die erst seit Er­reichen der Konsolidierungsphase erlassen werden können und die sich daher als Ausdruck dieses Strukturwandels präsentieren. Hingegen wäre es eine geschichtsvergessene und daher so vom Grundgesetz auch nicht gedeckte Auslegung seiner europaspezifischen Demokratieverbürgung, wenn die nunmehr höheren Demo­ kratieanforderungen sofort und ungeschmälert auch auf diejenigen Typen von Normsetzungsakten übertragen würden, die bereits vor dem fraglichen Strukturwandel ergehen durften. Denn es hieße den vom Grundgesetz normativ unterstellten prozesshaften Charakter der europäischen Integration verkennen, würden historisch gewachsene Normsetzungsstrukturen völlig unvermittelt als demokratie­ widrig gebrandmarkt, nur weil pro futuro solche Normsetzungsstrukturen um der Demokratie willen nicht mehr instituiert werden dürfen. Vor diesem Hintergrund kann im Hinblick auf die wesensmäßig marktkonsti­ tuierenden Normsetzungsakte, zu deren Erlass die EG ganz überwiegend bereits vor Eintritt in die Konsolidierungsphase ermächtigt wurde, festgehalten werden, dass in ihrem Fall Legitimationseinbußen mittelfristig noch weitgehend unter Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten historisch gewachsener überstaatlicher Hoheitsverbände gerechtfertigt werden können.

cc) Keine Rechtfertigung der Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß aus Sicht der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm aus Art. 20 Abs. 1 GG Hingegen vermag – jedenfalls in der hier einzunehmenden Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation – die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm aus Art.  20 Abs.  1  GG das zu verzeichnende Minus an exklusiver Legitimation schon aus generellen Erwägungen nicht zu rechtfertigen. Zu erinnern ist insofern zunächst, dass die binnenverfassungsrechtlich geltende Bundesstaatsnorm des Art.  20 Abs.  1  GG nicht mit den durch Art.  23 Abs.  1  GG verbürgten ‚föderativen Grundsätzen‘ identifiziert werden darf200. Sofern diese oder auch der spezifische Charakter transnationaler Demokratie in rechtfertigender Absicht ins Feld geführt werden, verbergen sich dahinter Erwägungen, wie sie eben zu den strukturellen Besonderheiten eines überstaatlichen Hoheitsverbands angestellt worden sind201. Derartige Erwägungen aber sind aus den bereits dargelegten dogmatischen Gründen202 von der Frage zu trennen, inwieweit Demokratieeinbußen im Rahmen der EU mit Blick auf die binnenverfassungsrechtlich geltende Bundesstaatsnorm zu rechtfertigen sind.

200

Siehe oben Kapitel 10 III. 5. c) bb) = S. 856. Oben Kapitel 11 I. 4. a) bb) = S. 908. 202 Oben Kapitel 10 III. 5. c) bb) = S. 856.

201

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Die rein binnenverfassungsrechtliche Bundesstaatsnorm erlaubt es zwar, dass auf bundesdeutschem Staatsgebiet wirksame Hoheitsakte von mehr als einem Volk gemeinsam erlassen werden, dass im Erlassverfahren das eine gliedstaatliche Volk von den anderen gliedstaatlichen Völkern überstimmt wird und sich das Niveau demokratischer Legitimation infolge der föderalen Normsetzungsorganisation verringert. Allerdings müssen die einzelnen gliedstaatlichen Völker organisatorisch-prozedural so miteinander verschränkt sein, dass sie gemeinsam zur Durchsetzung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität in der Lage sind. Denn die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm steht nicht in Gegensatz zu der durch Art. 20 Abs. 1 GG verbürgten Zurechnungsstruktur, wonach jeder Hoheitsakt grundsätzlich ausschließlich und dauerhaft vom demokratischen Volkswillen her legitimiert sein muss. Sie lässt lediglich zu und setzt in einem gewissen (Mindest-)Umfang sogar voraus, dass sich die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität auch dezentriert, nämlich im Rahmen gegliederter Demokratie203 durchsetzt. Nur eine hierdurch verursachte Legitimationseinbuße kann durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt sein204. Nun ist freilich bei Zugrundelegung des in grundgesetzkonformer Weise re­ konstruierten Modells mittelbarer demokratischer Legitimation davon auszugehen, dass sich staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zumindest gegenwärtig205 nur im nationalstaatlichen Rahmen generieren lässt. Die mitgliedstaatlichen Völker tragen in dieser Modellperspektive nicht in der Art und Weise zur demokratischen Legitimation der EG-Normsetzungsakte bei, wie dies für einen Bundesstaat prägend ist. Denn danach wäre vorauszusetzen, dass die mitgliedstaatlichen Völker gemeinschaftlich und mithin auch jenseits des nationalstaatlichen Kontexts staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität zu erzeugen in der Lage sind. Wenn aber die mitgliedstaatlichen Völker nicht in einer bundesstaatlichen Art und Weise zur demokratischen Legitimation von EG-Normsetzungsakten beizutragen ver­mögen, entfällt von vornherein die Möglichkeit, die Einbußen an exklusivdemokratischer dezisionärer Legitimation mit Blick auf die binnenverfassungsrechtliche Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG zu rechtfertigen.

dd) Vertiefende Überlegungen Festzuhalten ist, dass das bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten abgeschwächte Niveau exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation in der Regel sowie auf mittlere Sicht durch die strukturellen Besonderheiten eines sich entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverbands gerechtfertigt ist206 und überdies vielfach auch der Volkssouveränitätsnorm rechtfertigende Wir 203

Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 190 f. Siehe dazu eingehender oben Kapitel 10 III. 5. c) cc) = S. 857. 205 Zu dieser Einschränkung oben Vorbemerkung zu Teil V = S. 862. 206 Oben Kapitel 11 I. 4. a) bb) = S. 908.

204

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kung zukommt207. Hierfür lässt sich bei vertiefender Betrachtung das  – dogmatisch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzusiedelnde208  – Argument ins Feld führen, dass die Einbuße an exklusiv-demokratischer dezisionärer Legi­ timation, wie sie bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten zu verzeichnen ist, noch vergleichsweise beschränkt ist. Zu erinnern ist insofern nämlich, dass wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte noch relativ weitgehend durch das ihnen zugrundeliegende Primärrecht determiniert werden209. Dies ist, wie dargelegt, selbst bei den auf den ersten Blick uferlos anmutenden allgemeinen Harmonisierungsermächtigungen des Primärrechts der Fall. Das Primärrecht indes führt in dezisionärer Hinsicht durchgängig und gleichmäßig auf den Willen aller Staatsvölker zurück. Soweit daher die wesensmäßig marktkons­ tituierenden EG-Normsetzungsakte durch das Primärrecht vorbestimmt sind, wird das Niveau exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation gewahrt, wie es durch Art. 59 GG als dogmatisches Normalmaß vorgegeben ist. Nur soweit dies nicht der Fall, kommt es zu den beschriebenen Legitimationseinbußen, die dann freilich im Regelfall in der geschilderten Weise rechtfertigbar sind. Die skizzierten Rechtfertigungsansätze sind allerdings, wie angedeutet, nicht ausnahmslos auf alle wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte übertragbar. So ist speziell im Hinblick auf Art. 95 EGV210 zweierlei zu berücksichtigen. Zum einen ist zu sehen, dass diese Normsetzungskompetenz erst mit Beginn der Konsolidierungsphase eingeführt worden ist211 und sich in der Folge sogar als einer der wesentlichen Grundsteine des Konsolidierungsprozesses erwiesen hat. Dass die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die auf dieser Ermächtigungsgrundlage ergehen, von dem durch Art. 59 Abs. 2 GG vorgezeichneten Normalmaß abweichen, lässt sich insofern im Ergebnis nicht mehr durch die strukturellen Besonderheiten eines überstaatlichen Hoheitsverbands rechtfertigen. Zwar kommt diesem Rechtfertigungsgrund auch in der Konsolidierungsphase noch eine gewisse Bedeutung zu. Die gegebenenfalls erheblichen Einbußen an exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation vermag er jedoch nicht mehr zu legitimieren212. 207

Oben Kapitel 11 I. 4. a) aa) = S. 906. Siehe oben Kapitel 6 VI. 1. = S. 497 und Kapitel 6 VI. 2. b) = S. 503; allgemein zur Verhältnismäßigkeitsprüfung Hollerbach, Artikel ‚Verhältnismäßigkeit‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1987, Sp. 670 f. 209 Oben Kapitel 11 I. 3. a) aa) = S. 886. 210 Zu dieser Bestimmung bereits oben Kapitel 11 I. 3. a) aa) = S. 886. 211 Art. 95 EGV fand als EGV 100a EWGV durch die Einheitliche Europäische Akte Eingang ins Gemeinschaftsrecht (vgl. Kahl [Fn. 108], Rn. 1). 212 Davon ist übrigens auch schon für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags auszugehen. Denn selbst wenn vor diesem Zeitpunkt das Europäische Parlament noch eine gewisse zusätzliche nationaldemokratische Absicherung vermittelt haben mag, weil die nationalen Staatsvölker noch nicht definitiv durch das Unionsvolk als Legitimationsbasis des Europäischen Parlaments verdrängt worden waren, war diese doch jedenfalls zu schwach, um die unter Umständen überaus weitgehende Machtlosstellung des nationalen demos  noch als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. 208

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Diese werden zum anderen auch durch die Volkssouveränitätsnorm nur in seltenen Fällen gerechtfertigt werden können. Denn die auf Art. 95 EGV gründenden EG-Normsetzungsakte gehen vielfach ins Detail. Bei solchen Detailregelungen kann aber typischerweise nicht mehr unterstellt werden, dass sie sinnvoll nur auf transnationaler Ebene getroffen werden können213. Damit aber entfällt eine der Voraussetzungen, an die der demokratische Rechtfertigungsgrund konstitutiv anknüpft.

b) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes In Hinblick auf das durch Art.  59 Abs.  2  GG vorgegebene Ausmaß an Exklusivität und Perpetualität revisionärer demokratischer Legitimation müsste das deutsche Volk in der Lage sein, die Revision eines EG-Normsetzungsakts herbeizuführen, wenn alle anderen EG-Mitgliedstaaten einer entsprechenden Abänderung zustimmen214. Der EG-Normsetzungsakt müsste mit anderen Worten fort­existieren, obwohl für das deutsche Volk die Möglichkeit besteht, den Normsetzungsakt im Konsens mit den anderen EG-Mitgliedstaaten aufzuheben. Nun wächst den EG-Normsetzungsakten revisionäre Legitimation zunächst in der Weise zu, dass durch eine Abänderung des vorrangigen Primärrechts auch das Sekundärrecht außer Kraft gesetzt und durch eine alternative Primärrechtsregelung ersetzt werden kann. Eine solche Abänderung des vorrangigen Primärrechts kann das deutsche Volk ausweislich Art.  48  EUV erreichen, wenn sich auch alle anderen EG-Mitgliedstaaten damit einverstanden erklären. Insofern wird das durch Art. 59 GG als normal vorgegebene Ausmaß exklusiv-perpetueller Legitimation punktgenau eingehalten215. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich die revisionäre Legitimation der EG-Normsetzungsakte außer über das Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV jedenfalls auch im Rahmen derjenigen Verfahrensvorschriften Bahn bricht, die für den Erlass und damit zugleich für die Abänderung des betreffen 213

Siehe oben Kapitel 11 I. 4. a) aa) = S. 906. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. b) = S. 788. 215 Eine andere, an dieser Stelle nicht zu behandelnde Frage ist, ob die fortgesetzte Ent­ scheidung, einen EG-Normsetzungsakt nicht zu revidieren, im Rahmen des Art. 48 EUV personell und materiell-kontrollativ weniger eng an den Volkswillen rückgebunden ist beziehungsweise störungsanfälliger ist, als Art. 59 GG dies vorsieht. Denn insofern sind der Grad demokratischer Abgeleitetheit sowie der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit angesprochen. Dies hat nach der hier vorgeschlagenen Dogmatik nichts mit dem an dieser Stelle in Rede stehenden Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation zu tun. 214

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den Sekundärrechts maßgeblich sind; Durchführungsrecht der EG wird zusätzlich noch über dasjenige Verfahrensregime revisionär rückgekoppelt, in dessen Rahmen die ihm zugrundeliegende Ermächtigungsnorm ergangen ist216. In diesem Kontext kommt nun dem Umstand zentrale Bedeutung zu, dass im Rat als dem Hauptrechtsetzungsorgan217 typischerweise das Mehrheitsprinzip gilt218. Hinzu tritt, dass die Kommission219 sowie der Ausschuss der Staatenver­ treter220 gleichfalls mit Mehrheit entscheiden. Dies führt dazu, dass dort, wo die revisionäre Rückkoppelung eines EG-Normsetzungsakts an den nationalen Staatsvolkswillen über EG-Organteile erfolgt, die nationaldemokratische Legitimation im Regelfall, nämlich bei Geltung des Mehrheitsprinzips stärker ausgeprägt ist, als dies in Hinblick auf das durch Art.  59  GG vorgegebene Niveau geboten erscheint221. Damit bleibt zu bedenken, dass allein der über Art.  48  EUV vermittelte revisionäre Legitimationszusammenhang die EG-Normsetzungsakte materiell-direktiv uneingeschränkt erfasst. Die an die Revisionsbefugnisse der EG-Organe an­knüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge erfassen die EG-Normsetzungsakte insoweit, als die Revisionsmacht der fraglichen EG-Organe nicht durch primäres Gemeinschaftsrecht oder vorrangiges Sekundärrecht gesperrt ist. Wenn nun freilich das durch Art. 59 Abs. 2 GG vorgegebene Ausmaß an exklusivperpetueller Legitimation im Rahmen des die Normsetzungsakte uneingeschränkt erfassenden revisionären Legitimationszusammenhangs exakt eingehalten, im Rahmen der sie materiell-direktiv eingeschränkt erfassenden revisionären Legitimationszusammenhänge jedenfalls nicht unter-, im Regelfall sogar überschritten wird, so kann aus den bereits früher näher detaillierten Erwägungen222 davon ausgegangen werden, dass marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten ein aus grundgesetzlicher Sicht mehr als hinreichendes Ausmaß an exklusiv-perpetueller revisionärer Legitimation eignet. Mithin ist keine Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß zu konstatieren und bedarf es denn auch nicht jener rechtfertigenden Erwägungen, die in Hinblick auf das bei wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation anzustellen waren.

216

Siehe oben Kapitel 11 I. 3. d) = S. 903. Vgl. Hummer / Obwexer, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 202 Rn. 7. 218 Überblick über die Ausnahmefälle, in denen nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip gilt, bei Jacqué, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 205 Rn. 3. 219 Art. 219 UAbs. 1 EGV. 220 Herdegen (Fn. 9), § 9 Rn. 73. 221 Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass neben den die Entscheidung tragenden Mitgliedstaaten gegebenenfalls auch die Unionsbürgerschaft Revisionsmacht ausübt. 222 Oben Kapitel 10 III. 5. = S. 845. 217

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c) Das bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Das bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten gebotene Ausmaß der Exklusivität dezisionärer Legitimation hat sich grundsätzlich an dem für rein innerstaatliche Normsetzungsakte maßgeblichen Legitimationsniveau auszurichten223. Danach weist jede verfassungsmäßig zustande gekommene Norm ein Optimum an exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation auf224. Aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation wird dieses Legitimationsniveau freilich in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte niemals auch nur annähernd erreicht. Denn dass allein das deutsche Volk einen EG-Normsetzungsakt erlässt, ist selbstverständlich ausgeschlossen. Bestenfalls beruhen Erlass und Inhalt eines EGNormsetzungsakts in selbem Umfang auf dem Willen des deutschen Volks wie auf dem der anderen in der EU organisierten Staatsvölker. Mit der grundgesetzlich verbürgten Volkssouveränität lässt sich diese substanzielle Abweichung vom legitimatorischen Normalmaß nur ganz partiell begründen. Zwar dürfte auch bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten die zweite Voraussetzung, an die der Rechtfertigungsgrund anknüpft, nämlich die Alternativlosigkeit der transnationalen Regelung225, vielfach zu bejahen sein: Mit EG-Normsetzungsakten lässt sich die globalisierte Wirtschaft in einer Weise regulativ einhegen, wie dies auf rein nationalstaatlicher Ebene beziehungsweise mit nationalstaatlichen Mitteln auf überstaatlicher Ebene schwerlich möglich wäre226. Auch lassen sich die demokratischen Defizite, die mit der EGNormsetzungspraxis verbunden sind, zumal in der Perspektive des Modells mittelbarer Legitimation, kaum vermeiden. Jedoch wird es im Regelfall an der ersten für den Rechtfertigungsgrund der Volkssouveränität maßgeblichen Voraussetzung mangeln. Denn potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte beziehen sich sehr viel seltener als wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte auf Sachverhalte, die – anerkanntermaßen – nur transnational sinnvoll geregelt werden können. Während nämlich hinsichtlich der Erleichterung und Entstörung des Außenhandels die Notwendigkeit und Wünschbarkeit überstaatlicher Regelungen vielfach außer Frage steht, kann davon in den übrigen Politikbereichen nur ausnahmsweise ausgegangen werden227. Eine solche Ausnahmekonstellation ist etwa für bestimmte grundsätz 223

Oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. a) = S. 729. 225 Dazu oben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. 226 Albrecht, Kurswechsel für Europa, in: einblick vom 13.11.2006, S. 7. 227 Dies lässt sich der grundsätzlichen Tendenz nach auch spieltheoretisch begründen. Während nämlich im Falle marktkonstituierender Normsetzung die Ausgangslage typischerweise einem symmetrischen Gefangenendilemma entspricht und daher  – zumal unter der im Fall 224

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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liche Normsetzungsakte zu bejahen, die auf dem Umweltkapitel beruhen. Aber schon bei detaillierteren Umweltbestimmungen wird man nicht mehr davon ausgehen können, dass in der öffentlichen Meinung auch insofern ein hinreichend breiter Konsens über die Notwendigkeit und Wünschbarkeit überstaatlicher Regelungen herrscht. Hier erweist sich die nationalstaatliche Tradition als nachhaltig. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass der grundgesetzlichen Demokratienorm des Art. 20 Abs. 2 GG in Hinblick auf das bei potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten radikal abgesenkte Maß an nationaldemokratisch generierter dezisionärer Legitimation überwiegend keine rechtfertigende Wirkung zukommt. Um diese substanzielle Abweichung vom legitimatorischen Normalmaß zu rechtfertigen, kann daher in vielen Fällen höchstens noch auf die strukturellen Besonderheiten verwiesen werden, die den europäischen Integrationsverband als historisch gewachsenen Hoheitsverband sui generis charakterisieren. Denn der dritte theoretisch noch in Betracht kommende, an der binnenverfassungsrecht­ lichen Bundesstaatsnorm ansetzende Rechtfertigungsgrund lässt sich im Rahmen des Modells mittelbarer Demokratie von vornherein nicht in Anschlag bringen228. Nun kommt dem Rechtfertigungsansatz, der auf die strukturellen Eigenheiten des sich entwickelnden Hoheitsverbands abstellt, vor allem bei solchen EG-Normsetzungsakten  – immerhin mittelfristig  – durchschlagende Wirkkraft zu, die auf Normsetzungsermächtigungen gründen, die aus der Konstruktionsphase der EG datieren. Hingegen eignet ihm in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte, zu denen die EG erst nach Erreichen der Konsolidierungsphase ermächtigt worden ist, eine nur eingeschränkte Wirksamkeit. Letzteres gilt nun freilich auch für zahlreiche potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte. Denn die diesbezüglichen Normsetzungsermächtigungen haben vielfach erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte oder noch später Eingang ins europäische Primärrecht gefunden. Dies hat im Ergebnis zur Konsequenz, dass sich die zu verzeichnende Einbuße an exklusiver Legitimation bei einer Vielzahl potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakte demokratierechtlich nicht unter Verweis auf den in Rede stehenden Rechtfertigungsgrund begründen lässt229. Zwar kommt diesem auch in der Konsolidierungsphase eine gewisse Bedeutung zu230. Jedoch erweist sich die Diskrepanz zwischen dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Normalmaß und dem tatsächlich realisierten Maß an exklusiver dezisionärer Legitimation als zu geder europäischen Integration gegebenen Bedingung eines iterativen Spiels  – eine kooperative Lösung eher präferiert wird, ist marktinterventionistische Normsetzung in den Kontext asym­metrischer Konfliktspiele gestellt, sodass Verhandlungslösungen entsprechend ferner liegen. Vgl. zu diesen Zusammenhängen insbesondere Scharpf, Die Problemlösungsfähigkeit der Mehrebenenpolitik in Europa, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 121 (132 ff.). 228 Siehe oben Kapitel 11 I. 4. a) cc) = S. 909. 229 Insoweit konsequent Schachtschneider / Fritsche – Emmerich / Beyer (Fn. 2), S. 755. 230 Siehe oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850.

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waltig, um sie unter dem nur abgeschwächt noch wirksamen Gesichtspunkt EGspezifischer Eigenheiten rechtfertigen zu können. Dies gilt umso mehr, als den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten wegen der tatbestandlichen Weite der für sie maßgeblichen Ermächtigungsnormen auch über das Primärrecht ein nur geringes Maß an primärrechtlich vermittelter nationaldemokratischer Legitimation zuwächst231. Statt des an sich geforderten Optimums an exklusivdemokratischer dezisionärer Legitimation weist ein potenziell marktinterventionistischer EG-Normsetzungsakt gegebenenfalls – nämlich wenn der nationale Vertreter ihm nicht zugestimmt hat – ein gegen Null tendierendes Maß an exklusivdemokratischer dezisionärer Legitimation auf232. Mittelfristig rechtfertigende Wirkung vermag der Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten eines sich entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverbands allerdings in Hinblick auf diejenigen potenziell marktinterventionistischen EGNormsetzungsakte zu entfalten, die auf primärrechtlichen Ermächtigungen aus der Konstruktionsphase der EG stammen. Zu nennen sind hier insbesondere die Normsetzungsermächtigungen im Bereich der Gemeinsamen Agrar- und Verkehrspolitik233. Wiewohl sich auch bei diesen Typen potenziell marktinterven­ tionistischer Normsetzungsakte der Fluss exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation mitunter stark verdünnt, kann dies als demokratierechtlich noch statthaft qualifiziert werden, weil dem Gesichtspunkt der strukturellen Eigenheiten der EG in diesen Fällen ein ungleich höheres Rechtfertigungspotenzial eignet. Für die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung spricht insofern auch, dass die exklusive demokratische Legitimation in diesen Fällen immer noch stärker ist als bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten aus dem Bereich der flankierenden Politiken. Denn wegen der inhaltlichen Rückanbindung zwar nicht an ein liberales Marktkonzept, wohl aber an den Gemeinsamen Markt im weiteren Sinn234 ist die primärrechtlich vermittelte Rückkoppelung an den nationalen Volkswillen bei dieser Art marktinterventionistischer Normsetzungsakte noch vergleichsweise effektiv. Des ungeachtet ist resümierend festzustellen, dass sich die Einbuße an exklusiv-demokratischer dezisionärer Legitimation bei potenziell marktinterventionis­ tischen Normsetzungsakten nur ausnahmsweise unter Rekurs auf die grundgesetzliche Demokratienorm des Art. 20 Abs. 2 GG beziehungsweise die strukturellen Besonderheiten eines sich entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverbands rechtfertigen lässt. In der Mehrzahl der Fälle ist dies nicht möglich, sodass bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation insofern von einem grundgesetz­ inkompatiblen Demokratiedefizit auszugehen ist. 231

Siehe oben Kapitel 11 I. 3. a) bb) = S. 888. Die reichlich verdünnte nationaldemokratische Legitimation wird hier nur mehr über das wenig aufschlussreiche Primärrecht und die Mitentscheidungsmacht der Kommission vermittelt. 233 Art. 37 EGV sowie Art. 71 und Art. 80 EGV. 234 Dazu oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) (3) = S. 839. 232

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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d) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Ausgehend von dem bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten geltenden Legitimationsniveau235 müsste das deutsche Volk jederzeit allein und vollumfänglich über EG-Normsetzungsakte verfügen können. In Wirklichkeit indes teilt es diese Revisionsmacht mit zumindest einer Mehrheit anderer Staatsvölker und der Unionsbürgerschaft. Es kommt infolgedessen zu einer lediglich partizipativokkasionellen revisionären Legitimation der EG-Normsetzungsakte. Dies dürfte in Hinblick auf eine eher kleine Zahl potenziell marktinterventionistischer EGNormsetzungsakte durch die grundgesetzliche Verbürgung der Volkssouveränität beziehungsweise durch die strukturellen Besonderheiten der EG gerechtfertigt sein. In Hinblick auf die große Mehrzahl potenziell marktinterventionistischer EG-Normsetzungsakte, die erstens keine anerkanntermaßen nur transnational sinnvoll regelbare Materien betreffen und zweitens auf Normsetzungsermächtigungen aus der Konsolidierungsphase der EG beruhen, ist die massive Einbuße an Exklusivität und Perpetualität revisionärer Legitimation demokratierechtlich hingegen nicht zu rechtfertigen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass EGNormsetzungsakte gleich über zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge an die Revisionsmacht des deutschen Volks rückgebunden sind. Denn die Verdoppelung der Legitimationszusammenhänge ändert nichts daran, dass sich insofern eben nur eine partizipativ-okkasionelle Legitimation Bahn bricht.

II. Grad demokratischer Abgeleitetheit Die Überlegungen zum Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokra­ tischer Legitimation haben bereits mancherlei geklärt, worauf bei der Erörterung des Grads demokratischer Abgeleitetheit zurückzugreifen sein wird. So wurde offengelegt, wie Normsetzungsakte überhaupt an den Volkswillen rückgebunden werden, also über wen nationaldemokratische Legitimation vermittelt wird236. Ferner wurde plausibel gemacht, weshalb eine Diskussion der demokratischen Legitimation von EG-Normsetzungsakten sinnvollerweise beim Mitentscheidungsverfahren ansetzen und von dorther die anderen Rechtsetzungsverfahren in den Blick nehmen sollte237. Schließlich ist dargelegt worden, dass im Rahmen der hier interessierenden Legitimationsproblematik die Unterscheidung zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten eine zentrale Rolle spielt. Denn diese Differenzierung erweist sich 235

Siehe oben Kapitel 10 III. 1. a) = S. 729. Oben Kapitel 11 I. 1. = S. 866 und Kapitel 11 I. 2. = S. 870. 237 Oben Kapitel 11 I. 3. c) = S. 890.

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erstens dann als weiterführend, wenn das von Grundgesetzes wegen für EGNormsetzungsakte maßgebliche Normalmaß demokratischer Legitimation präzisiert werden soll238. Zweitens lässt sie Rückschlüsse darauf zu, inwieweit Legitimationseinbußen unter dem Gesichtspunkt einer um der Demokratie willen notwendig überstaatlichen Herrschaftsstruktur beziehungsweise in Hinblick auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands gerechtfertigt werden können239. Drittens kommt der Unterscheidung zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten deshalb Bedeutung zu, weil die Reichweite der über das Primärrecht vermittelten, relativ leistungsstarken materiell-direktiven Legitimation in diesen beiden Konstellationen variiert240. Durch diese Vorklärungen wird die Überprüfung des für EG-Normsetzungsakte charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit am Maßstab der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes sichtlich entlastet.

1. Bestandsaufnahme Der Grad demokratischer Abgeleitetheit eines EG-Normsetzungsakts hängt bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation davon ab, wie unmittelbar er durch personelle, materiell-direktive und materiell-kontrol­ lative Legitimationsbeiträge dezisionär und revisionär an den Willen des deutschen Volks rückgebunden ist. Dabei geht es wohlgemerkt nicht darum, wie umfänglich die insofern vermittelte Dezisions- und Revisionsmacht des deutschen Volks im Verhältnis zu der volksfremder Machteinheiten ausfällt. Dies ist bereits vorstehend unter dem Gesichtspunkt der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Abgeleitetheit abgehandelt worden. Der Grad demokratischer Abgeleitetheit gibt lediglich darüber Auskunft, wie unvermittelt der Volkswille im Rahmen der dem Volk eröffneten (Ko-)Dezisions- und (Ko-)Revisionsmacht Ausdruck zu gewinnen vermag.

a) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation Wendet man sich zunächst dem Mitentscheidungsverfahren zu, so ist festzuhalten, dass den in diesem Verfahren erlassenen Normsetzungsakten personelle demokratische Legitimation sowohl dadurch zuwachsen kann, dass der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Rat die betreffende Erlassentscheidung mitträgt241, als auch dadurch, dass die Erlassentscheidung mit dem Kommissions­ 238

Oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832. Oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. 240 Oben Kapitel 11 I. 3. a) = S. 885. 241 Vgl. Kaufmann (Fn. 5), S. 444.

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vorschlag kongruiert. Garantiert ist eine solche personelle demokratische Legiti‑ mation aber nicht. Soweit beispielsweise ein vom Europäischen Parlament oder – gegen die Stimme des deutschen Vertreters – vom Rat initiierter Normsetzungsakt nach Abschluss eines Vermittlungsverfahrens erlassen wird, der gemeinsame Entwurf seinem Inhalt nach dem Kommissionswillen widerspricht und der abschließende Ratsbeschluss gegen das Votum des deutschen Regierungsvertreters erfolgt242, wächst dem betreffenden Normsetzungsakt in dezisionärer Hinsicht keinerlei personell vermittelte nationaldemokratische Legitimation zu. Gleiches gilt – um ein weiteres Beispiel zu nennen – für den Fall, dass der Rat den Normsetzungsakt gegen den Willen des nationalen Ratsmitglieds beschlossen hat, die Bundesrepublik der Investitur der Kommission nicht zugestimmt hat und der Normsetzungsvorschlag von den deutschen Kommissionsmitgliedern nicht mitgetragen wird243. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der im Rahmen der Ratsentscheidung eventuell vermittelte personelle Legitimationsbeitrag typischerweise dreifach vermittelt ist. Denn im Regelfall agiert ein Bundesminister als deutscher Ratsvertreter244. Da er die Ratsvertretung aufgrund seiner Ressortzuständigkeit wahrnimmt245 und nicht etwa aufgrund einer förmlichen Berufung durch das Bundeskabinett, ist er auch dann als – materiell betrachtet246 – allein vom Bundeskanzler bestellt anzusehen, wenn er an Entscheidungen des Ministerrats mitwirkt. Folglich wächst den EG-Normsetzungsakten über den im Rat mitentscheidenden Bundesminister in der Tat eine durchweg dreifach vermittelte personelle demokratische Legitimation zu. 242

Siehe oben Kapitel 11 I. 3. c) aa) (5) = S. 898. Ebd. 244 Gemäß Art.  203 UAbs.  1  EGV werden die Mitgliedstaaten im Rat durch Vertreter auf Minister­ebene vertreten. Infolgedessen ist deutscherseits die Vertretung durch einen Bundes­ minister die Regel. Sie kann aber ausnahmsweise auch auf Regionalminister übertragen werden (vgl. dazu sogleich Fn. 247); ob daneben auch Staatssekretäre die Ratsbefugnisse ausüben dürfen, ist umstritten und nach der hier vertretenen Auffassung abzulehnen (vgl. dazu ebenfalls die nachfolgende Fn. 249). Demgegenüber dürfte unstreitig sein, dass die Staats- und Regierungschefs als mitgliedstaatliche Ratsvertreter im Sinne von Art. 203 EGV ausscheiden. Es fehlt ihnen an der Ministerqualität. Als Ratsvertreter können sie daher nur dann fungieren, wenn eine Spezialvorschrift ausdrücklich vorsieht, dass eine bestimmte Angelegenheit in die Kompetenz des Rats „in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs“ fällt (vgl. Art. 121, 122 und 214 EGV). Da entsprechende Spezialzuweisungen an den Europäischen Rat aber nicht den Erlass von Normsetzungsakten im hier interessierenden Sinn betreffen, brauchen die legitimatorischen Implikationen, die sich bei einer Legitimationsvermittlung durch den Bundeskanzler statt durch den Bundesminister ergeben, im hiesigen Kontext nicht näher erörtert zu werden. 245 Vgl. dazu auch Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, in: Isensee /  Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 174 Rn. 10. 246 Daran ändert auch die in Art. 64 Abs. 1 GG geregelte formelle Ernennungsbefugnis des Bundespräsidenten nichts – Meyn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 64 Rn. 2. 243

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Bis zu vierfach vermittelt ist der im Rahmen der Ratsentscheidung Platz greifende personelle Legitimationsbeitrag indes, sofern er ausnahmsweise von einem gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG durch den Bundesrat benannten Vertreter der Länder mitgetragen wird247. Gleiches gilt, wenn – entsprechend der gängigen Praxis, aber entgegen dem geltendem Gemeinschafts(primär)recht248 – ein Staatssekretär die deutschen Ratsbefugnisse ausübt249. Von einer im Regelfall teilweise drei-, überwiegend aber vierfachen Vermittlung ist schließlich in Hinblick auf die personelle Legitimation auszugehen, die sich im Rahmen der Mitentscheidungsmacht der Kommission Bahn bricht. Dies bedarf allerdings der näheren Begründung. Denn in Hinblick darauf, dass die Kommission ausweislich Art. 214 Abs. 2 EGV vom Rat in der Zusammensetzung der Staatsund Regierungschefs ernannt wird und insofern deutscherseits der Bundeskanzler als Berufungsinstanz angesprochen ist, liegt es an sich nahe250, von einer durchweg dreifachen Vermittlung auszugehen. Eine an die Berufung durch den Bundeskanzler anknüpfende und mithin dreifach vermittelte personelle Legitimation wächst den EG-Normsetzungsakten über die EU-Kommission indes allenfalls zum kleineren Teil zu. Dies ist nur in Hin 247 Im Unterschied zu dem bis dahin gültigen Art. 2 Abs. 1 FusV ergibt sich seit dem Maastricht-Vertrag aus Art. 203 UAbs. 1 EGV (= Art. 146 alter Fassung), dass auch Minister von Ländern und Regionen als Regierungsvertreter im Rat fungieren können. Vierfach vermittelt ist der personelle Legitimationsbeitrag, der von dem durch den Bundesrat bestellten Landes­ vertreter herrührt, dann, wenn die bundesrätliche Auswahlentscheidung von Landesministern getroffen wird. 248 Siehe Art. 203 UAbs. 1 EGV, aber auch Anhang I zur GeschORat, wo davon ausgegangen wird, dass Mitgliedstaaten sich in Ratsformationen von Staatssekretären vertreten lassen können. 249 Dass  – entgegen dem klaren Wortlaut von Art.  203  EGV  – auch nicht zur Regierung zählende parlamentarische beziehungsweise beamtete Staatssekretäre als Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat fungieren dürfen, wird überwiegend als durch gemeinschaftsrechtliches Verfassungsgewohnheitsrecht gerechtfertigt angesehen (vgl. zum Beispiel Wichard, in: ­Calliess / Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 203 EGV Rn. 6). Die Annahme, Bestimmungen des EGV könnten gewohnheitsrechtlich modifiziert werden, vermag jedoch nicht zu überzeugen. Denn dadurch würde die Bestimmung des Art. 48 EUV überspielt. Die Praxis der Mitgliedstaaten, sich gelegentlich auch durch Staatssekretäre im Rat repräsentieren zu lassen, ist daher als gemeinschaftsrechtswidrig zu qualifizieren. Vierfach vermittelt ist der – gemeinschaftsrechtswidrigerweise – von einem Staatssekretär herrührende personelle Legitimationsbeitrag, sofern es sich nicht um einen parlamen­tarischen, sondern um einen beamteten handelt. Denn während ein parlamentarischer Staatssekretär  – materiell betrachtet – von Bundeskanzler und Ressortminister gemeinsam bestellt wird (vgl. § 2 Satz 2 ParlStG), leitet der beamtete Staatssekretär seine Amtsbefugnisse ausschließlich vom Bundesminister her: § 15 Abs. 2 Buchst. a 1. Variante GeschOBReg sieht zwar insofern eine Beschlussfassung durch die Bundesregierung vor; doch ist diese Vorschrift nach herrschender und zutreffender Auffassung verfassungskonform dahingehend zu reduzieren, dass dem Bundeskabinett lediglich eine konsultative Funktion zukommt, der Ressortminister füglich nicht an den von der Bundesregierung getroffenen Beschluss gebunden und daher für die Ernennung des beamteten Staatssekretärs allein sachentscheidungsbefugt ist. 250 Zumindest im Rahmen des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation und damit unter Außerachtlassung der Rückbindung der Kommission auch an das Europäische Parlament.

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blick auf die speziell über den Kommissionspräsidenten vermittelte personelle demokratische Legitimation der Fall. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Rat die übrigen Kommissionsmitglieder nur im Einvernehmen mit dem von ihm zuvor zu benennenden Kommissionspräsidenten bestellen darf251. Nun ist in allgemeiner Hinsicht bereits dargetan worden, dass, wenn ein dezisions- beziehungsweise revisionsbefugtes Organ von mehreren Instanzen gemeinsam berufen wurde und einem Hoheitsakt aus diesem Grund eine Mehrzahl personeller Legitima­ tionsbeiträge zuwächst, funktionell gleichwohl ein einheitlicher Legitimations­ beitrag zu unterstellen und dieser auf derjenigen Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten ist, auf der der am stärksten vermittelte Einzelbeitrag ergeht252. Damit gilt für die im Rahmen der Mitentscheidungsmacht der einfachen Kommissionsmitglieder vermittelte personelle Legitimation, dass sie – als funktionale Einheit betrachtet – typischerweise auf der vierten Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt. Denn die übrigen Mitglieder der Kommission werden nun einmal auch von dem vom Rat zu ernennenden Kommissionspräsidenten berufen. Für die von der Kommission insgesamt vermittelte personelle Legitimation ergibt sich insofern, dass sie allenfalls zum kleineren Teil auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt. Schließlich bestimmt sich bei Ausübung der Dezisionsmacht durch ein Kollegialorgan253 der in Hinblick auf einen Hoheitsakt realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit nach dem Umfang der Einflussmacht, die den einzelnen Angehörigen des Kollegiums zukommt254. Da die Stimme aller Kommissionsmitglieder gleich zählt255, bestätigt sich, dass EG-Normsetzungs­akten im Regelfall allenfalls zum kleineren Teil eine dreifach vermittelte, ansonsten aber eine vierfach vermittelte personelle demokratische Legitimation zuwächst256. 251

Zu diese Zusammenhängen auch Schliesky (Fn. 27), S. 705 f. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. 253 Der Charakter der Kommission als Kollegialorgan (Oppermann [Fn. 65], § 5 Rn. 89) erschließt sich primärrechtlich insbesondere aus Art. 217 EGV. 254 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (5) = S. 466. 255 Vgl. Art. 219 UAbs. 1. 256 Im demokratisch ungünstigsten Fall wächst den EG-Normsetzungsakten über die Kommission eine ausschließlich fünffach vermittelte personelle demokratische Legitimation zu. Dies ist dann der Fall, wenn dem Bundeskanzler die Auswahl des Kommissionspräsidenten sowie der übrigen Kommissionsmitglieder durch Kabinettsbeschluss vorgegeben ist und der Kommissionspräsident bei der legitimationsstiftenden (Ko-)Dezision der Kommission überstimmt wird. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Der Bundeskanzler ist, wenn er gemeinsam mit anderen Staats- und Regierungschefs die Mitglieder der Kommission auswählt, an inhaltliche Vorgaben des Bundeskabinetts verfassungsrechtlich gebunden. Denn aus der Zusammenschau von Art. 23 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 und Satz 2, Abs. 5 Satz 2 und Satz 3 sowie Abs. 6 Satz 2 GG erschließt sich, dass bei der Wahrnehmung der Integrationsgewalt die innerstaatliche Letztentscheidungskompetenz der Bundesregierung zukommt. Art. 23 GG stellt sich insofern – nicht anders als der bereits erörterte Art. 76 Abs. 1 1. Variante GG – als Spezial­ norm zu Art. 65 GG dar, der die Kompetenzverteilung innerhalb der Bundesregierung generell regelt. Sofern daher nach Maßgabe des gemeinschaftsrechtlich etablierten institutionellen Regimes ein Bundesminister oder – wie im hier interessierenden Fall – der Bundeskanzler auf EU-Ebene die der Bundesrepublik Deutschland zustehenden Befugnisse wahrnimmt, hat er den 252

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Die im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens in dezisionärer Hinsicht vermittelte personelle Legitimation ist vor diesem Hintergrund in jedem Fall auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt, als dies bei einer in einem parlamentarischen Normsetzungsverfahren in dezisionärer Hinsicht generierten personellen Legitimation der Fall wäre. Hinzu tritt, dass die im Rahmen des Mit­ entscheidungsverfahrens greifende personelle Legitimation auch von geringerer Wirkkraft ist als bei einer rein parlamentarischen Normsetzung. Dies folgt allein schon aus dem Charakter der jeweils letzten Legitimationsmittler257. Infolgedessen zeichnet sich die im Mitentscheidungsverfahren vermittelte personelle Legitimation durch einen vergleichsweise hohen Grad demokratischer Ab­geleitetheit aus. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun auch die in dezisionärer Hinsicht maßgeblichen personellen Legitimationszusammenhänge der anderen Normsetzungsverfahren erschließen. So ist etwa in denjenigen Verfahren, die Einstimmigkeit im Rat voraussetzen258, eine über die Kodezision des nationalen Regierungsmitglieds vermittelte personelle demokratische Legitimation stets gewährleistet. Für den Erlass von Durchführungsrecht im Regelungsverfahren259 ist zu berücksichtigen, dass die im Rahmen der Kodezisionsbefugnis des nationalen Staatenvertreters gegebenenfalls vermittelte personelle demokratische Legitimation vergleichsweise leistungsschwach ist, weil die betreffenden Staatenvertreter ihr Amt nur sehr indirekt auf den nationalen demos zurückzuführen vermögen. Vorgaben der in der Sache letztentscheidungsbefugten Bundesregierung Folge zu leisten. Dabei korreliert, wie im allgemeinen Teil dargelegt, die für einen personellen Legitimationsbeitrag kennzeichnende Stufe demokratischer Vermitteltheit mit der um die Ziffer 1 erhöhten Zahl der legitimationsvermittelnden Instanzen, über die das Verhalten der Berufungsinstanz in dezisionärer und revisionärer Hinsicht an den Volkswillen rückgebunden ist. Folglich bricht sich über ein EU-Organ, das durch den an einen Kabinettsbeschluss gebundenen Bundeskanzler bestellt wird, eine vierfach vermittelte personelle demokratische Legitimation Bahn. Nun ist freilich in dem dieser Fußnote vorausgehenden Text bereits dargelegt worden, dass die personelle Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten im Rahmen der Mitentscheidungsmacht der Kommission zuwächst, allenfalls zum kleineren Teil an die Berufung durch den – in vorliegendem Fall durch Kabinettsbeschluss gebundenen – Bundeskanzler anknüpft. Sie greift nämlich nur in dem Umfang, in dem eine Kommissionsentscheidung anteilig durch den Kommissionspräsidenten getroffen wird. Sehr viel bedeutsamer ist mithin derjenige personelle Legitimationsstrang, der an die gemeinsame Berufung der einfachen Kommissionsmitglieder durch Bundeskanzler und Kommissionspräsidenten anknüpft. War nun der Bundeskanzler bereits bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten durch Kabinettsbeschluss gebunden und ist er dies auch hinsichtlich der Bestellung der Kommissionsmitglieder, so wächst den EG-Normsetzungsakten über die einfachen Kommissionsmitglieder in personeller Hinsicht eine fünffach vermittelte nationaldemokratische Legitimation zu. Da nun in der Kommission nicht nur das Prinzip der Stimmengleichheit, sondern auch das der Mehrheitsentscheidung gilt, kann es dazu kommen, dass – wenn der Kommissionspräsident überstimmt wird – ein EG-Normsetzungsakt über die Kommission in ausschließlich fünffach vermittelter personeller demokratischer Legitimation erwächst. 257 Zur Abhängigkeit der Wirkkraft vom Charakter des Legitimationsmittlers siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 258 Siehe oben Fn. 159. 259 Dazu nur Bieber (Fn. 129), § 7 Rn. 29.

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b) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-direktiver Legitimation Materiell-direktiv werden sämtliche Sekundärrechtsakte und mithin auch die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakte über das europäische Primärrecht an die Dezisionsmacht des deutschen Volks rückgekoppelt. Unter legitimatorischen Gesichtspunkten hat dies deshalb besondere Bedeutung, weil speziell auch der Bundestag nach Maßgabe von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG beziehungsweise Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG das Primärrecht mitbeherrscht260. In­soweit nämlich erweist sich die materiell-direktive Legitimation als vergleichsweise leistungsstark. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass die materiell-direktive Legitimation, soweit sie vom Bundestag herrührt, auf der zweiten, also auf einer vergleichsweise niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist und ihr außerdem ihres koerzitiven modus operandi wegen eine hohe Wirkkraft261 zukommt. Hinzu tritt, dass die materielle Direktive, soweit sie auf der Kodezisionsmacht des Bundestags beruht, relativ eng an den Volkswillen rückgebunden ist, und zwar wegen des in spezifischer Weise legitimationsfördernden Charakters des (vorletzten) Legitimationsmittlers Parlament262. Zu bedenken ist freilich zweierlei. Erstens erweist sich die Reichweite der – relativ leistungsstarken  – materiell-direktiven Legitimation als begrenzt. Schließlich sind die ihr zugrundeliegenden primärrechtlichen Vorgaben nicht sonderlich bestimmt, selbst wenn sich insofern Differenzierungen gebieten. So kommt dem Primärrecht, wie dargelegt, in Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte eine höhere Determinationskraft zu als bei potenziell marktinterventionistischen263; dementsprechend variiert denn auch die bei EG-Normsetzungsakten zu konstatierende Reichweite materiell-direktiver Legitimation und in der Folge auch deren Legitimationsniveau. Gleichwohl wird man nicht umhin kommen, die Limitiertheit der materiell-direktiven Legitimation zu registrieren. Zweitens bleibt zu beachten, dass das Primärrecht deutscherseits nicht allein vom Parlament beherrscht wird, sondern ferner auch von der Bundesregierung264 260

Dazu, dass Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG durch Art. 23 GG keineswegs vollständig verdrängt wird, vgl. bereits oben Fn. 15. 261 Dazu eingehender oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 262 Hierzu oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 263 Oben Kapitel 11 I. 3. a) = S. 885. 264 Und zwar – zumindest überwiegend – von dem mit der Aushandlung der primärrechtskonstitutiven Verträgen betrauten Regierungsmitglieder, teilweise aber auch von der Bundes­ regierung als Kollegium. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Bundesregierung durch Kabinettsbeschluss über die Einbringung des Entwurfs eines Integrationsgesetzes gemäß Art.  23 Abs. 1 Satz 2 GG beziehungsweise eines Vertragsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in den Bundestag entschieden hat. Insoweit kann auf die Ausführungen verwiesen werden, die zu den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts angestellt wurden (vgl. oben Kapitel 10 III. 2. c] aa] [2] = S. 791).

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und nach Maßgabe von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 sowie von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG vielfach auch vom Bundesrat. Insofern wächst den EG-Normsetzungsakten aus den primärrechtlichen Bestimmungen keine durchgängig zweifach, sondern teilweise eine drei- bis vierfach vermittelte265 materiell-direktive Legitimation zu. Dies führt zu einer nicht unerheblichen Anhebung des für den materiell-direktiven Legitimationsbeitrag kennzeichnenden Grads demokratischer Abgeleitetheit im Vergleich zu einer rein parlamentsbeschlossenen Norm. Über die vom Bundestag gemäß Art. 23 Abs. 3 Satz 1 GG abgegebenen Stellungnahmen wächst den vom Rat zu verabschiedenden und folglich auch den im Mitentscheidungsverfahren zu erlassenden EG-Normsetzungsakten hingegen keine materiell-direktive Legitimation zu. Zwar hat die Bundesregierung dem Bundestag vor ihrer Mitwirkung an Gemeinschaftsrechtsakten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und diese zu berücksichtigen266. Eine inhaltliche Bindung der Bundesregierung beziehungsweise ihres Ratsvertreters wird hierdurch aber nicht begründet267, sodass der Stellungnahme eine materielle Direktivkraft gerade nicht zukommt. Anders kann es sich demgegenüber bei bestimmten Stellungnahmen exekutiver Entscheidungsträger verhalten, wobei mit Rücksicht auf die praktische Bedeutung hier nur auf die des Bundesrats näher eingegangen werden soll268. Wie bereits dar 265

Ob die materiell-direktive Legitimation insoweit, als sie auf der Billigung des Zustimmungsgesetzes zum Primärrecht durch den Bundesrat beruht, drei- oder vierfach vermittelt ist, hängt entscheidend davon, ob sich die Länder im Bundesrat durch ihre Regierungschefs oder durch sonstige Regierungsmitglieder vertreten lassen. Wer zur Regierung gehört, bestimmt sich dabei nach dem jeweiligen Landesverfassungsrecht (Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 51 Rn. 1). 266 Vgl. Art. 23 Abs. 3 Satz 2 GG – dazu etwa Classen (Fn. 43), Rn. 78. 267 Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 53. 268 Materiell-direktive Legitimation kann EG-Normsetzungsakten fernerhin auch noch dadurch zuwachsen, dass der im Rat agierende Minister an Weisungen des Kabinetts beziehungsweise an Richtlinienentscheidungen des Bundeskanzlers gebunden ist, was in der Praxis allerdings nur selten vorkommt. Dass und weshalb ein im Rat agierendes Regierungsmitglied an Weisungen des Kabinetts gebunden ist, wurde – bezogen auf den Bundeskanzler höchstselbst – bereits erörtert (oben Fn. 256): Aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 und Satz 2, Abs. 5 Satz 2 und Satz 3 sowie Abs. 6 Satz 2 GG lässt sich schlussfolgern, dass der Bundes­ regierung bei der Ausübung der Integrationsgewalt eine sachliche Letztentscheidungskompetenz zukommt. Insofern könnte sich die Frage stellen, ob vor diesem Hintergrund überhaupt noch Raum für die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und eine daran anschließende materiell-direktive Legitimation bleibt. Dies ist freilich zu bejahen. Die Letztentscheidungskompetenz der Bundesregierung führt nicht dazu, dass das verfassungsrechtliche, durch Art. 65 Satz 1 und 2 GG geprägte Verhältnis zwischen Bundeskanzler und Ressortminister von vornherein außer Kraft gesetzt würde. Es wird durch die Letztentscheidungskompetenz der Bundesregierung lediglich in dem Sinne überlagert, dass (erst) wenn das Kabinett eine Weisung in Hinblick auf die Ausübung der Integrationsgewalt getroffen hat, diese der Richtlinienentscheidung des Bundeskanzlers vorgeht. Dies gilt umso mehr, als, wie bereits dargelegt (oben Kapitel 10 III. 1. b] cc] [1] = S. 741 mit Fn. 219), die Richtlinienkompetenz auch außerhalb des Spezialregimes des Art. 23 GG nicht kabinettsfest ist.

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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getan269, können Stellungnahmen des Bundesrats unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 1. Halbsatz GG eine inhaltliche Rechtsbindung des deutschen Regierungsvertreters begründen. In diesen (Ausnahme-)Fällen können die EG-Normsetzungsakte in Hinblick auf ihren durch die bundesrätliche Stellungnahme determinierten Regelungsgehalt mitunter einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweisen, als wenn der nationale Regierungsvertreter im Rat ganz frei entscheiden kann. Dies hängt damit zusammen, dass die materiell-direktive Legitimation wirkkräftiger ist als die personelle sowie materiellkontrollative Legitimation270, die Platz greift, soweit der nationale Regierungsvertreter ohne Rücksicht auf die Direktiven des Bundesrats entscheidet. Zu beachten bleibt freilich der Vorrang der Stufe demokratischer Vermitteltheit vor der Wirkkraft eines spezifischen Legitimationsbeitrags271. Denn daraus folgt, dass die von der bundesrätlichen Stellungnahme herrührende materiell-direktive Legitimation nur dann leistungsstärker ist als die von dem nationalen Ratsmitglied vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation, soweit diese auf keiner niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist. Dies freilich ist der Fall, wenn die bundesrätliche Entscheidung nicht von den Ministerpräsidenten, sondern von den Landesministern getragen wird. Indes wird man in dieser Konstellation von einem nur geringen Legitimationsabfall ausgehen müssen. Denn abgesehen davon, dass der materiell-direktiven Legitimation eine hohe Wirkkraft zukommt, ist auch der besondere Charakter des (vorletzten) Legitima­ tionsmittlers Bundesrat zu beachten. Als kollegiales Gremium272 ist er in besonderer Weise dazu befähigt, den Volkswillen zu vergegenwärtigen273. Hinsichtlich der übrigen Rechtsetzungsverfahren bleibt lediglich noch zu bemerken, dass speziell beim Erlass von Durchführungsrecht neben die vom Primärrecht ausgehende materiell-direktive Legitimation noch die vom ermächtigenden Sekundärrechtsakt ausgehende tritt.

c) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation Ergehen EG-Normsetzungsakte im Mitentscheidungsverfahren mit Zustimmung des zuständigen Bundesministers im Rat, so vermag sich die Dezisionsmacht des deutschen Volks insofern materiell-kontrollativ Bahn zu brechen, als der Bundesminister der Kontrolle erstens des Bundeskanzlers274, zweitens des Par 269

Siehe oben Kapitel 11 I. 2. a) aa) = S. 872. Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 271 Oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. 272 Zum Kollegialcharakter des Bundesrats Korioth, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 50 Rn. 12. 273 Dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 274 Art. 64 Abs. 1 GG. 270

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

laments275 und drittens des Volks selbst276 unterworfen ist. Diese als Einheit zu betrachtende materiell-kontrollative Legitimation ist auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten. Ihr kommt vor allem in Ansehung des materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrags, der über die parlamentarische Verantwortlichkeit vermittelt wird, eine beachtliche Wirkkraft zu277. Zu berücksichtigen ist freilich mehrerlei. Erstens wird die relativ leistungsstarke materiell-kontrollative Legitimation, wie sie sich namentlich aus der Verantwortlichkeit des deutschen Ratsvertreters gegenüber dem Bundestag ergibt, dadurch abgeschwächt, dass die EG-Normsetzungsakte auf eine Mehrzahl untereinander fremder demoi zurückführen. Denn infolgedessen wird die Wirkkraft materiellkontrollativer Legitimation abgeschwächt278. Eine zusätzliche Abschwächung der materiell-kontrollativen Legitimation ergibt sich zweitens daraus, dass neben dem nationalen Regierungsvertreter im Rat typischerweise auch die Kommission nationaldemokratische Legitimation vermittelt. Das Zusammenwirken dieser beiden Organe führt zu den im allgemeinen Teil  dargestellten legitimatorischen Dysfunktionen279. Diese fallen umso stärker aus, als die nationaldemokratische Legitimation vermittelnde Kommission nicht der Kontrollmacht des nationalen Ratsmitglieds unterworfen ist280. Das insofern ohnedies schon abgeschwächte Maß materiell-kontrollativer Legitimation wird drittens dann noch weiter abgesenkt, wenn der deutsche Ratsvertreter an Vorgaben des Bundesrats gebunden ist: Dass sich eine derartige Bindung aufgrund von Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG ergeben kann, wurde bereits dargetan281. Nun wird die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation in dieser Fallvariante nicht nur dadurch abgeschwächt, dass der Normsetzungsakt auf eine Mehrzahl untereinander fremder Völker zurückführt. Hinzu tritt, dass der Normsetzungsakt überdies an eine Mehrzahl von Untervölkern, nämlich über den Bundesrat an die verschiedenen Landesvölker rückgekoppelt ist, was seinerseits – wie im all­ gemeinen Teil beschrieben – zu einer weiteren Abschwächung der über den nationalen Ratsvertreter vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation führt282. Allerdings hält sich die Abschwächung in Grenzen. Denn die beim Zusammenwirken von mehreren Völkern konstatierbaren legitimatorischen Dysfunktionen fallen

275

Art. 67 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 64 Abs. 1 GG. Art. 38 GG in Verbindung mit Art. 64 Abs. 1 GG. 277 Dafür lässt sich der Sache nach dieselbe Begründung geben, die auch schon in Hinblick auf die materiell-kontrollative Legitimation rein innerstaatlicher Normsetzungsakte gegeben wurde. 278 Zu diesen Zusammenhängen oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (2) = S. 478. 279 Dazu auch Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, in: Preuß / ders., Probleme einer Verfassung für Europa, 1995, S. 1 (20). 280 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461. 281 Oben Kapitel 11 I. 2. a) aa) = S. 872. 282 Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. 276

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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geringer aus, wenn sich die Mitherrschaftsmacht des anderen Volks allein über den materiell-direktiven Legitimationsstrang Bahn bricht283. Viertens bleibt zu beachten, dass nur für den Regelfall davon ausgegangen werden kann, dass ein über den Erlass des EG-Normsetzungsakts mitentscheidender Ratsvertreter von Bundeskanzler sowie Bundestag kontrolliert wird und das für den betreffenden Normsetzungsakt kennzeichnende Niveau materiell-kon­ trollativer Legitimation im Wesentlichen durch diese Kontrollmöglichkeiten geprägt wird. Denn ausnahmsweise nimmt gemäß Art. 23 Abs. 6 GG auch ein vom Bundesrat benannter Vertreter der Länder die der Bundesrepublik zustehenden Befugnisse im Rat wahr. Die über ihn vermittelte materiell-kontrollative Legitimation ist indes stets leistungsschwächer als die, die sich über einen Bundesminister Bahn bricht284. Dies gilt freilich nicht durchweg schon in Ansehung der Stufe demokratischer Vermitteltheit. Denn die über den Vertreter der Länder vermittelte materiell-kontrollative Legitimation erfolgt  – nicht anders als die vom Bundesminister her­ rührende – mitunter auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Eine niedrigere Stufe demokratischer Vermitteltheit kann die über den Vertreter der Länder vermittelte materiell-kontrollative Legitimation hingegen nicht erreichen, wohl aber eine höhere: Sofern sich der Bundesrat bei Ausübung der Kontrolle über den Ländervertreter aus Landesministern zusammensetzt, erweist sich die über ihn vermittelte materiell-kontrollative Legitimation als vierfach vermittelt285. Die materiell-kontrollative Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten in der Ausnahmekonstellation des Art. 23 Abs. 6 GG über den deutschen Ratsvertreter zuwächst, erfolgt demnach zwar nicht notwendig auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als im Normalfall. Sie weist jedoch durchweg eine geringere Wirkkraft auf, als wenn ein Mitglied der Bundesregierung als Ratsvertreter agiert. Denn wenn ein Vertreter der Länder den Normsetzungsakt mit erlässt, so führen die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge auf eine Mehrheit von Völkern zurück und kommt es infolgedessen zu der geschilderten Abschwächung materiell-kontrollativer Legitimation286. Zwar kann es auch dann, wenn im Rat ein Vertreter der Bundesregierung agiert, zu einer Rückbindung seines Abstimmungsverhaltens an mehrere Völker und zur damit verbundenen Beeinträchtigung materiell-kontrollativer Legitimation kommen. Dies ist der Fall, wenn der fragliche Vertreter der Bundesregierung an Direktiven des Bundesrats gebunden ist. Allerdings wird die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation aus den im allgemeinen Teil  dargelegten Gründen dann in geringerem Umfang tangiert, wenn sich die Mitentscheidungsmacht anderer Völker über einen materiell-direktiven Legitimationsbeitrag und nicht über personelle sowie 283

Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453. Siehe oben Kapitel 11 II. 1. c) = S. 925. 285 Siehe dazu auch schon Fn. 265. 286 Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455.

284

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materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge Bahn bricht287. Folglich kann daran festgehalten werden, dass dem über den nationalen Ratsvertreter vermittelten materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag dann eine durchweg geringere Wirkkraft und, insgesamt betrachtet, ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit zukommt, wenn diese Funktion nicht von einem Mitglied der Bundesregierung, sondern von einem Ländervertreter wahrgenommen wird. Fünftens und letztens kann die über das deutsche Ratsmitglied vermittelte materiell-kontrollative Legitimation ohnedies nur dann greifen, wenn dieses dem Normsetzungsakt zugestimmt hat. Andernfalls kann dem betreffenden Norm­ setzungsakt in dezisionärer Hinsicht eine vom deutschen Volk herrührende materiell-kontrollative Legitimation lediglich noch insofern zuwachsen, als eine solche auch über die Kodezisionsakte der Kommission wirksam wird. Denn während immer nur das einzelne nationale Ratsmitglied und nicht der Rat als Ganzes der Kontrolle des deutschen Volks untersteht, wird die Kommission als solche und eben nicht nur das nationale Kommissionsmitglied – unter anderem – vom deutschen Volk kontrolliert288. Allerdings erschöpft sich diese Kontrolle in der periodisch wiederkehrenden Möglichkeit, an der Bestellung einer neuen Kommission mitzuwirken und – wenn auch nur eventuell – mitzuentscheiden. Da­zwischen gibt es keine Möglichkeit für das nationale Staatsvolk, auf eine Ab­berufung der Kommission hinzuwirken289. Insbesondere besitzt der Rat nicht die rechtliche Möglichkeit, der Kommission sein politisches Misstrauen auszusprechen und sie dadurch zum Rücktritt zu zwingen290. Die sanft nötigende Kraft der Kontrollmöglichkeiten, die einem mitgliedstaatlichen Volk im Verhältnis zur Kommission zustehen, erweist sich insofern weder als sonderlich effektiv noch als besonders nachhaltig. Dies gilt umso mehr, als natürlich auch für die über die Kommission in dezisonärer Hinsicht vermittelte materiell-kontrollative Legitimation gilt, was eben zu der über das nationale Ratsmitglied vermittelten in Erinnerung gerufen wurde: Auch sie wird in ihrer demokratischen Wirkkraft durch die Pluralität der legitimatonsstiftenden demoi erheblich beeinträchtigt. Daraus lässt sich mit Blick auch auf die übrigen Rechtsetzungsverfahren der Schluss ziehen, dass das für einen bestimmten Normsetzungsakt charakteristische Niveau materiell-kontrollativer Legitimation dann stark abgemindert ist, wenn dieser auch gegen den Willen des nationalen Regierungsvertreters ergehen darf.

287

Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453. Oben Kapitel 11 I. 2. c) = S. 881. 289 Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus den insoweit abschließenden Bestimmungen des EGV über das Ende der Mitgliedschaft in der Kommission (Art. 215), die Amtsenthebung (Art. 216), den Rücktritt eines Kommissionsmitglieds nach Aufforderung durch seine Kollegen (Art. 217 Abs. 4) und das Misstrauensvotum des Europäischen Parlaments (Art. 201). 290 Schmitt von Sydow, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 215 EG Rn. 15. 288

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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d) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation Zum einen wächst dem deutschen Volk, wie dargelegt, (Ko-)Revisionsmacht in Hinblick auf alle EG-Normsetzungsakte primärrechtsvermittelt über Art.  48 EUV zu291. Insofern wird der legitimationsbedürftige EG-Normsetzungsakt durch ins­gesamt zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge demokratisch rückgebunden. Denn die Deutschland in Hinblick auf die primärrechtskonstitutiven völkerrechtlichen Verträge zustehende (Ko-)Revisionsbefugnis wird erstens von Regierung, Bundestag und Bundesrat gemeinsam ausgeübt. Dies ist insoweit der Fall, als es um solche Änderungen des dem EG-Normsetzungsakt zugrundeliegenden Primärrechts geht, die mit Hoheitsrechtsübertragungen gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG verbunden sind292, die eine inhaltliche Änderung beziehungsweise Ergänzung des Grundgesetzes im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG bewirken293 oder die gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die Zustimmung beider gesetzgebenden Körperschaften zum Vertragsgesetz voraussetzen294. Teilweise steht die (Ko-)Revisionsmacht aber auch nur der Regierung sowie dem Bundestag und nicht zusätzlich noch dem Bundesrat zu. Dies gilt insoweit, als es sich um andere Modifika­­ tionen des Primärrechts als den eben angeführten handelt295. 291 Hingegen soll ausgeblendet bleiben, dass EG-Normsetzungsakte des Weiteren auch insofern über das Primärrecht demokratisch rückgekoppelt werden, als der EGV nach Maßgabe allgemeinen Völkerrechts Gegenstand eines Aufhebungsvertrags beziehungsweise einer Kündigung sein kann (vgl. dazu oben Fn.  13); diese revisionären Legitimationszusammenhänge bleiben bei der Rekonstruktion des in revisionärer Hinsicht realisierten Niveaus personeller (und auch materiell-kontrollativer) Legitimation unberücksichtigt. Rechtfertigen lässt sich dies der Sache nach mit denselben Argumenten, mit denen auch schon begründet wurde, weshalb bei der Bestimmung des Ausmaßes der Exklusvität und Perpetualität revisionärer Legitimation die beiden in Rede stehenden Legitimationszusammenhänge unbeachtet bleiben können: In pragmatischer Hinsicht streitet die praktische Bedeutungslosigkeit dieser revisionären Legitimationszusammenhänge für eine diesbezügliche Auslassung. Legitimationstheoretisch ist zu berücksichtigen, dass sich bei kongruierenden Legitimationszusammenhängen nicht nur das Ausmaß der Exklusvität und Perpetualität revisionärer Legitimation, sondern auch der Grad demokratischer Abgeleitetheit nach Maßgabe der Störungsanfälligkeit der respektiven Legitimationszusammenhänge bemisst (vgl. oben Kapitel 6 V. 1. a] bb] [3] = S. 401 mit Fn. 670 sowie Kapitel 6 V. 1. b] ee] [1] = S. 433 mit Fn. 749). Nun sind, wie bereits angesprochen (vgl. nochmals oben Fn. 13), die beiden hier thematisierten revisionären Legitimationszusammenhänge ungleich störungsanfälliger als der an Art.  48  EUV anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang, mit dem sie kongruieren. Infolgedessen kommt ihnen für den in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit eine so geringe Prägekraft zu, dass sie ausgeblendet bleiben dürfen und stattdessen allein der an Art. 48 EUV anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang in den Blick zu nehmen ist. 292 Dazu Classen (Fn. 43), Rn. 13 ff. 293 Siehe etwa Jarass (Fn. 267), Rn. 23 f. 294 Zum verbleibenden Anwendungsbereich des Art.  59 Abs.  2  GG neben Art.  23 Abs.  1 Satz 2 und 3 GG siehe oben Fn. 15. 295 Ein Beispiel hierfür wäre die vertragliche Rückübertragung von Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten.

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Diese beiden revisionären Legitimationszusammenhänge sind inkongruent, bewirken aber in wechselseitiger Ergänzung eine revisionäre Rückbindung des gesamten legitimationsbedürftigen EG-Normsetzungsakts. Die personelle Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten über diese revisionären Legitimationszusammenhänge zuwächst, ist trotz der Korevisionsmacht des Parlaments eine überwiegend mehrfach vermittelte. Dies hängt damit zusammen, dass dem Bundestag nicht nur in Hinblick auf den Erlass, sondern auch hinsichtlich der Revision der primärrechtskonstitutiven völkerrechtlichen Verträge der Sache nach lediglich ein Vetorecht zusteht296. Soweit sich die (Ko-)Revisionsmacht des deutschen Volks zum anderen über EG-Organe Bahn bricht, kann für das insofern verwirklichte Maß an personeller Legitimation der Sache nach an diejenigen Erwägungen angeknüpft werden, die zu dem in dezisionärer Hinsicht realisierten Niveau personeller Legitimation angestellt wurden297. Ohne Weiteres gilt dies für die EG-Normsetzungsakte, bei denen es sich nicht um Durchführungsrecht handelt. Denn insofern können die EG-Organe überhaupt nur in denjenigen Verfahren über die Revision eines EG-Normsetzungsakts mitentscheiden, in denen dieser auch erlassen wurde. Für einen im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakt heißt dies beispielsweise, dass ihm revisionäre demokratische Legitimation über den deutschen Ratsvertreter und die Kommission zuwächst. Insofern weist er kein sonderlich hohes Niveau personeller demokratischer Legitimation auf. Schließlich erfolgt die personelle Legitimation insoweit typischerweise auf der dritten und vierten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Die personelle Legitimation verdünnt sich aus den dargelegten Gründen dann noch weiter, wenn – ausnahmsweise – ein vom Bundesrat benannter Vertreter der Länder die Funktionen des deutschen Ratsmitglieds wahrnimmt und sich der Bundesrat bei seiner Auswahlentscheidung zumindest überwiegend aus vom Regierungschef ernannten Landesministern zusammensetzt298. Für das Durchführungsrecht ist zu erinnern, dass – neben dem an Art. 48 EUV anknüpfenden – nicht nur ein weiterer, sondern gleich zwei zusätzliche revisionäre Legitimationszusammenhänge hierauf zurückführen. So können die Durchführungsvorschriften zum einen auch durch eine Änderung des vorrangigen Sekundärrechts abgeändert werden. Insoweit gilt für die Leistungsstärke des personellen Legitimationsbeitrags das im vorhergehenden Abschnitt Ausgeführte. Zum anderen können die Durchführungsvorschriften aber auch unter denselben Voraussetzungen revidiert werden, wie sie erlassen wurden. Insofern wächst den Normsetzungsakten, zumal dann, wenn sie im Regelungsverfahren ergehen, ein noch 296 Vgl. dazu vertiefend oben die Ausführungen zu den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz: Kapitel 10 III. 2. c) aa) (7) = S. 801. 297 Siehe oben Kapitel 11 II. 1. a) = S. 918. 298 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass einige Landesverfassungsrechte die Ministerbestellung nicht (allein) dem Regierungschef überlassen  – vgl. zum Beispiel Art. 46 Abs. 3 und 4 LV BW (siehe hierzu auch Hermes, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 64 Rn. 4).

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deutlich geringeres Maß an personeller Legitimation zu, als es eben für den Fall des Mitentscheidungsverfahrens geschildert wurde. Dieser zuletzt angesprochene revisionäre Legitimationszusammenhang bewirkt aus den allgemein bereits dargelegten Gründen299, dass der in personeller Hinsicht realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Durchführungsvorschriften insgesamt betrachtet höher ist als bei EG-Normsetzungsakten, die kein Durchführungsrecht darstellen.

e) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation Soweit sich die revisionäre Legitimation gleichsam mittelbar über Art. 48 EUV Bahn bricht, greifen, wie dargelegt300, zwei inkongruente revisionäre Legitimationszusammenhänge. Für das insofern in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation kann im Wesentlichen auf die Überlegungen zurückgegriffen werden, die zu den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts angestellt wurden301: Im Rahmen des revisionären Legitimationszusammenhangs, der an die Revisionsmacht von Regierungsexekutive und Parlament anknüpft, ist die materiell-kontrollative Legitimation teils auf der ersten, überwiegend aber auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten. Im Rahmen des revisionären Legitimationszusammenhangs, der an die Revisionsmacht von Regierungsexekutive, Parlament und Bundesrat anknüpft, nimmt die mehrfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation einen noch größeren Raum ein. Soweit die demokratische Revisionsmacht im Rahmen von Verfahren wirksam wird, die für den Erlass und damit auch für die Abänderung von EG-Normsetzungsakten maßgeblich sind, kann für das in diesem Kontext erzeugte Maß an materiell-kontrollativer Legitimation auf die Überlegungen zum insofern in dezisio­närer Hinsicht realisierten Legitimationsniveau zurückgegriffen werden302. Folglich wird etwa eine Nichtrevisionsentscheidung, die einen im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakt betrifft, vor allem insoweit materiell-kontrollativ legitimiert, als der deutsche Ratsvertreter typischerweise der Überwachung durch den Bundestag unterliegt. Diese materiell-kontrollative Le 299 Zum „Verrechnungsmodus“ bei kongruierenden Legitimationssträngen siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. 300 Siehe oben Kapitel 11 II. 1. e) = S. 931. 301 Oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2) = S. 733. 302 Dies gilt auch in Hinblick auf das Durchführungsrecht. Allerdings muss insofern in zweifacher Weise auf die Erwägungen zum in dezisionärer Hinsicht realisierten Niveau materiell-kontrollativer Legitimation rekurriert werden. Denn materiell-kontrollative Legitimation wächst dem Durchführungsrecht in revisionärer Hinsicht sowohl im Rahmen der Vorschriften zu, die für seinen Erlass und damit zugleich für seine Abänderung gelten. Sie wird ihm aber auch insofern zuteil, als durch eine Verfügung über das hierzu ermächtigende Sekundärrecht über das Durchführungsrecht disponiert werden kann.

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gitimation erweist sich in Hinblick auf die niedrige Stufe demokratischer Vermitteltheit, den Charakter des vorletzten Legitimationsmittlers sowie ihre Wirkkraft als im Ausgangspunkt relativ leistungsstark. Indes kommt es dadurch zu einer Abschwächung des materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhangs, dass die Nichtrevisionsentscheidung auf eine Mehrzahl untereinander fremder demoi zurückführt303.

2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß demokratischer Legitimation bestimmt sich auch hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit unterschiedlich, nämlich danach, ob es sich um wesensmäßig marktkonstituierende oder aber um potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte handelt304: Während sich erstere an dem durch Art. 59 ausgeprägten Niveau personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation messen lassen müssen, gilt für letztere der für rein innerstaatliche Normsetzungsakte charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit als normal. In diesem Sinn wird im Folgenden geprüft, ob zum einen die wesensmäßig marktkonstituierenden305 und zum anderen die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte306 das aus grundgesetzlicher Sicht für sie jeweils maßgebliche Normalmaß personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation erreichen beziehungsweise inwieweit ein etwaiges Unterschreiten des respektiven Normalmaßes noch als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Dabei sollen im ersten Zugriff zunächst diejenigen Einbußen an personeller, materiell-direktiver beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimation ausgeblendet bleiben, die sich aus der Mitherrschaft der Bundesländer an der EG-Normsetzung ergeben. Aus Gründen der darstellerischen Klarheit, aber auch wegen der insoweit bestehenden verfassungsrechtsdogmatischen Besonderheiten wird erst in einem weiteren Schritt zu erörtern sein, ob die durch die bundesrätliche Mit­ herrschaft bewirkten legitimatorischen Defizite grundgesetzkonform sind307. Bevor allerdings in der skizzierten, abgestuften Art und Weise untersucht wird, inwieweit EG-Normsetzungsakte das für sie jeweils maßgebliche Normalmaß personeller und materieller Legitimation erreichen beziehungsweise Abweichungen hiervon gerechtfertigt sind, ist vorab noch zu klären, inwieweit EG-Normsetzungs 303

Zu diesem Zusammenhang oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453. Siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832. 305 Zu diesen oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) (1) = S. 837. 306 Zu diesen oben Kapitel 10 III. 3. c) cc) (2) = S. 838. 307 Dazu unten Kapitel 11 II. 2. f) = S. 960.

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akte dem aus dem Grundgesetz ableitbaren absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen. Dass diese Vorabklärung erforderlich ist, ergibt die folgende Erwägung: Das für die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte jedenfalls im dogmatischen Ausgangspunkt maßgebliche, durch Art. 59 GG determinierte Normalmaß personeller und materieller Legitimation gilt nicht einheitlich für alle Kategorien von Normsetzungsakten, sondern differenziert danach, ob diese dem Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen oder nicht308. Entsprechendes gilt in Hinblick auf das durch die grundgesetzlichen Vorschriften für die rein innerstaatliche Normsetzung geprägte Normalmaß personeller und materieller Legitimation, an dem sich die potenziell marktkonstituierenden Normsetzungsakte auszurichten haben309. Das für die wesensmäßig marktkonstituierenden beziehungsweise für die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte jeweils maßgebliche Normalmaß personeller und materieller Legitimation lässt sich daher erst dann präzise bestimmen, wenn klargestellt ist, inwieweit sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen.

a) Die Reichweite des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung und die EG-Normsetzungsakte Der in kumulativer Anwendung grundgesetzlicher Einzelbestimmungen her­ leitbare absolute Vorbehalt parlamentarischer Normierung besagt zum einen und vor allem, dass in allen wesentlichen legislativen Sachbereichen alle wesentlichen Regelungen vom Parlament selbst getroffen werden müssen310. Als in diesem doppelten Sinne wesentlich erweisen sich namentlich grundrechtsintensive Regelungen, die vielfach auch schon wegen der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen. Für (grundrechts-)unwesentliche Normsetzungsakte bestimmt der in Art.  80  GG niedergelegte relative Parlamentsvorbehalt, dass diese  – wenn sie nicht vom Parlament selbst erlassen werden  – zumindest hinreichend bestimmt in einer parlaments­ gesetzlichen Grundlage angelegt sein müssen311. Dies wiederum bedeutet, dass sich der absolute Parlamentsvorbehalt zum anderen auch auf die exekutiven Außen­rechtsnormen zugrundeliegenden hinreichend bestimmten Normsetzungsermächtigungen erstreckt. Für EG-Normsetzungsakte ergibt sich vor diesem Hintergrund folgendes Bild: Sie unterfallen dann von vornherein nicht dem absoluten Vorbehalt parlamenta­ rischer Normierung, wenn sie zwar wesentliche Regelungsmaterien betreffen, die wesentlichen Regelungen aber abschließend bereits durch das parlamentsgesetzlich immerhin gebilligte Primärrecht getroffen wurden oder wenn unwesent­ 308

Siehe oben Kapitel 10 III. 1. a) = S. 729. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) = S. 790. 310 Hierzu und zum Folgenden Kapitel 10 III. 1. f) bb) = S. 769. 311 Oben Kapitel 10 III. 1. f) cc) = S. 771.

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liche Regelungsbereiche reguliert werden und die diesbezügliche Normsetzungsermächtigung des parlamentsgesetzlich sanktionierten Primärrechts hinreichend bestimmt ist. Denn in diesen Fällen unterfällt allein das Primärrecht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung und muss sich allein dieses unmittelbar das für die hiervon erfassten Normsetzungsakte geltende Normalmaß personeller und materieller demokratischer Legitimation entgegenhalten lassen. Unter strukturell entsprechenden Voraussetzungen scheiden fernerhin solche EG-Normsetzungsakte aus dem Anwendungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung aus, die als Durchführungsrecht aufgrund einer sekundärrechtlichen Vorgabe ergehen: Sekundärrechtlich determiniertes Durch­ führungsrecht lässt sich nämlich dann nicht unter absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung subsumieren, wenn es zwar wesentliche Regelungsmaterien tangiert, die wesentlichen Regelungen aber abschließend bereits durch das Sekundärrecht getroffen wurden oder wenn unwesentliche Regelungsbereiche betroffen sind und die sekundärrechtliche Normsetzungsermächtigung hinreichend bestimmt ist. In diesen Konstellationen unterfällt allein das ermächtigende Sekundärrecht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung und muss sich allein dieses unmittelbar an dem für die hiervon erfassten Normsetzungsakte geltenden Normalmaß personeller und materieller demokratischer Legitimation messen lassen. Dies darf freilich nicht missverstanden werden. Dass mitunter allein das Primärbeziehungsweise das Sekundärrecht, nicht aber die darauf gestützten EG-Normsetzungsakte dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, bedeutet selbstverständlich nicht, dass das für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasste Normsetzungsakte maßgebliche Normalmaß personeller und materieller Legitimation für die fraglichen EG-Normsetzungsakte ohne Belang wäre. Denn das in Rede stehende Normalmaß gilt in dieser Kon­ stellation zwar nicht für die betreffenden Normsetzungsakte selbst, wohl aber für die sie legitimierenden materiellen Direktiven. Mittelbar sehen sich daher auch die nicht selbst vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfassten EG-Normsetzungsakte mit dem Normalmaß konfrontiert, das für die im Anwendungsbereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehenden Normsetzungsakte unmittelbar gilt. Des ungeachtet bleibt es dabei, dass EG-Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung nicht unterfallen, an einem relativ niedrigeren Normalniveau personeller und materieller Legitimation zu messen sind. Im Folgenden soll nun im Einzelnen dargetan werden, dass EG-Normsetzungsakte an sich nur in Ausnahmefällen von vornherein aus dem Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung herausfallen. Abweichendes gilt indes für das sekundärrechtlich determinierte Durchführungsrecht. Hier ist die Exemtion vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung die Regel, die Subsumierbarkeit unter ihn die Ausnahme.

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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aa) Die Subsumierbarkeit von EG-Normsetzungsakten (ohne Durchführungsrecht) unter den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als Regel Im Regelfall bleibt trotz des insofern determinierenden Primärrechts im Rahmen der Sekundärrechtsetzung312 Raum für – in doppelter Hinsicht – wesentliche Regelungen313. Dies hängt vor allem mit der bereits mehrfach angesprochenen inhaltlichen Unbestimmtheit des Primärrechts und seiner Normsetzungsermächtigungen zusammen314. Indes kann es auch nicht verwundern, dass die – wenigen – Normsetzungsakte, die überhaupt nie in den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung fallen können, eher – wenn auch nicht ausschließlich – im Bereich der wesensmäßig marktkonstituierenden und nicht in dem der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte zu finden sind. Schließlich kommt dem Primärrecht bei dem erstgenannten Typus von Norm­setzungsakten eine vergleichsweise höhere Determinationskraft zu315. Freilich darf die Unterscheidung zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten im hier interessierenden Kontext auch nicht überbetont werden. Eigentlich entscheidend ist insofern nämlich das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Normsetzungsakten, die trotz primärrechtlicher Determinierung dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen können, und solchen, bei denen dies ausnahmsweise ausgeschlossen ist. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis überlagert die Unterscheidung zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten. Von den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten können lediglich diejenigen, die der unmittelbaren Effektivierung der Grundfreiheiten sowie des Diskriminierungsverbots dienen316, sowie diejenigen, die unter dem Wettbewerbskapitel ergehen317, in aller Regel von vornherein aus dem Geltungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung ausgeschieden werden. Erstere beruhen typischerweise auf primärrechtlichen Normsetzungsermächtigungen, in denen die grundsätzliche Entscheidung zugunsten einer bestimmten Grundfreiheit beziehungsweise der Diskriminierungsfreiheit im Regelfall bereits enthalten ist318. Die Normsetzungsakte selbst treffen insofern lediglich Regelun 312 Der unter diesem Gliederungspunkt zugrunde gelegte Begriff der Sekundärrechtsetzung beziehungsweise der EG-Normsetzung erfasst nicht das Durchführungsrecht. Dieses wird eingehend unter dem nächsten Gliederungspunkt – unten Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938 – behandelt. 313 Zur tatbestandlichen Weite des primären Gemeinschaftsrechts vgl. nur König, Gesetzgebung, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 2 Rn. 5. 314 Siehe oben Kapitel 11 I. 3. a) = S. 885. 315 Ebd. 316 Vgl. Art. 12 UAbs. 2, 18 Abs. 2, Art. 38, 40, 42, 44, 47 Abs. 1, Art. 49 Abs. 2, Art. 52 Abs. 1, 55 in Verbindung mit 47 Abs. 1, Art. 75 Abs. 3 und Art. 106 Abs. 2 Satz 2 EGV. 317 Vgl. Art. 83 Abs. 1, 89, 102 Abs. 2 und Art. 103 Abs. 2 EGV. 318 Eine Ausnahme bildet insofern die Erstreckungsermächtigung des Art. 49 Abs. 2 EGV (zu dieser etwa Müller-Graff, in: Streinz [Hrsg.], EUV / EGV, 2003, Art. 49 Rn. 131 f.).

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

gen, die eine effektive Wahrnehmung der primärrechtlich eingeräumten Rechte gewährleisten sollen319. Darin aber liegt keine wesentliche Regelung mehr. Insbesondere weisen die betreffenden Normsetzungsakte auch keine spezifische Grundrechtsintensität auf, denn die Grundrechtsausübung wird nicht etwa eingeschränkt320; vielmehr wird der insoweit dem Grundsatz nach ohnehin schon primärrechtlich gewährleistete Betätigungsfreiraum lediglich normexplizit abgesichert321. Normsetzungsakte, die der unmittelbaren Effektivierung der Grundfreiheiten und des Diskriminierungsverbots dienen, unterfallen damit typischerweise nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung. Dies gilt – im Ergebnis – auch für Normsetzungsakte auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts. Insofern ist nämlich zu berücksichtigen, dass die wesentlichen wettbewerbsrechtlichen Regelungen typischerweise bereits unmittelbar durch das insofern durchaus detailfreudige und präzise Primärrecht getroffen werden322. Das auf dieser Grundlage ergehende Sekundärrecht stellt sich bei Lichte betrachtet als bloßes Durchführungsrecht dar323: Es darf weder die inhaltlichen Vorgaben des Primärrechts noch die dort vorgesehenen Rechtsfolgen abändern324. Mithin unterfällt auch die wettbewerbsrechtliche EG-Normsetzung in aller Regel von vornherein nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung. Von den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten können diejenigen per se aus dem Vorbehaltsbereich parlamentarischer Normsetzung ausgeschieden werden, bei denen ausnahmsweise die primärrechtliche Normsetzungsbefugnis inhaltlich eng begrenzt ist und zu eher technischen Normen ohne spezifische Grundrechtsintensität ermächtigt325. Ansonsten aber sind keine marktinterventionistischen Normsetzungsakte ersichtlich, die pauschal vom grundgesetzlichen Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung ausgenommen werden können. Dies gilt nach hier vertretener Auffassung insbesondere auch für diejenigen marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die die Abwicklung finanzieller Fördermaßnahmen außenrechtswirksam regeln326. Zwar wird traditionell die Auffassung vertreten, dass es aus demokratierecht­ 319

Dazu beispielsweise – im Hinblick auf Art. 18 Abs. 2 EGV – Haag, in: v. d. Groeben /  Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 18 EG Rn. 17. 320 Vgl. hierzu etwa  – bezogen auf Art.  12 UAbs.  2  EGV  – Epiney, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 12 Rn. 42 f. 321 Siehe etwa – zu Art. 40 EGV – Wölker / Grill, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV /  EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 40 EG Rn. 1 ff. 322 Eine Ausnahme hiervon stellt indes die 2. Alternative des Art. 89 EGV dar (dazu Cremer, in: Streinz [Hrsg.], EUV / EGV, 2003, Art. 87 Rn. 2). 323 So auch die nichtamtlichen Überschriften der Art. 83 und 89 EGV. 324 So etwa – bezüglich Art. 83 Abs. 1 EGV – Weiß, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 83 Rn. 7. 325 Zum Beispiel Art. 152 Abs. 4 UAbs. 1 Buchst. a. 326 Außenrechtswirksame Regelungen können etwa die nach Art. 161 UAbs. 1 Satz 2 erlassenen Normsetzungsakte enthalten.

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licher Sicht in aller Regel genüge, wenn Subventionsleistungen durch die allgemeine Zweckbestimmung parlamentsgesetzlich festgestellter Haushaltspläne gedeckt seien327. Doch verkennt diese Auffassung, die die Subventionsabwicklung grundsätzlich328 vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung ausnimmt, dass sich speziell unter den Bedingungen moderner Sozialstaatlichkeit durchaus auch Regelungen im Bereich der Leistungsverwaltung als (grundrechts-) wesentlich erweisen können. Daher verlangt die grundgesetzliche Wesentlichkeitstheorie nach zutreffender Auffassung, dass jedenfalls die strukturellen Entscheidungen in Hinblick auf die Vergabe von Fördermaßnahmen durch den parlamentarischen Gesetzgeber, also nicht nur durch Exekutive und Administrative getroffen werden329; dies gilt in verstärktem Maße dann, wenn die betreffende Fördermaßnahme für die Grundrechtsverwirklichung potenzieller Leistungsempfänger beziehungsweise die seiner Konkurrenten von Bedeutung ist330. Damit bestätigt sich die These, dass EG-Normsetzungsakte, die schon wegen ihrer primärrechtlichen Determinierung überhaupt niemals unter den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung fallen, eine Ausnahme darstellen. Nun lässt sich daraus selbstverständlich nicht der Umkehrschluss ziehen, dass alle anderen EG-Normsetzungsakte stets dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfielen. Denn zumindest im Bereich der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte sind die Normsetzungsbefugnisse durch den Marktbezug jedenfalls hinreichend bestimmt. Insofern kann dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung durchaus schon primärrechtlich ausreichend Rechnung getragen sein, wenn auf dessen Grundlage in doppeltem Sinne unwesentliche Regelungen ergehen. Allerdings ist es bei diesen Normsetzungsakten genauso gut möglich, dass sie – weil es sich um wesentliche Regelungen in wesentlichen Regelungsbereichen handelt und diese eben noch nicht durch das Primärrecht abschließend vorgeformt sind – dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen. In der Praxis ist dies sogar die Regel. Denn soweit die EG regulierend tätig wird, trifft sie tendenziell die eher wesentlichen Entscheidungen, während die Detailvorschriften den Mitgliedstaaten überlassen bleiben331. 327

So etwa Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 49; eingehender Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S. 106 ff. 328 Eine Ausnahme wird (wohl ausschließlich) für den Fall anerkannt, dass sich die Subvention für einen Dritten als Grundrechtseingriff darstellt – siehe nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (R) Rn. 108. 329 Im Ergebnis wie hier Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 6 Rn. 14; für die herrschende Gegenauffassung vgl. nur Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2007, § 101 Rn. 25 ff. 330 Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 281 f. 331 Dafür gibt es auch einen gemeinschaftsverfassungsrechtlichen Grund. Denn nach Art. 5 UAbs. 3 EGV darf der Gemeinschaftsgesetzgeber bei seiner Regulierungstätigkeit nicht über das zur Erreichung der vertraglichen Ziele erforderliche Maß hinausgehen. Aufgrund dieser vertraglich fixierten Bedeutungsdimension des Subsidiaritätsprinzips kann der Gemeinschafts-

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Im Fall des Erlasses von Richtlinien wird diese Tendenz schon durch die besondere Regelungsstruktur dieses Rechtsetzungsinstruments befördert332. Vor diesem Hintergrund ist für die nachstehenden Überlegungen davon auszugehen, dass EG-Normsetzungsakte überwiegend dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen.

bb) Die Subsumierbarkeit von sekundärrechtlich determiniertem Durchführungsrecht unter den absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als Ausnahme Besonderheiten gelten nun allerdings für diejenigen EG-Normsetzungsakte, bei denen es sich um sekundärrechtlich determiniertes Durchführungsrecht handelt333. Denn diese EG-Normsetzungsakte scheiden nicht nur ausnahmsweise, sondern in aller Regel aus dem Anwendungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung aus. Zurückzuführen ist dies auf die primärrechtlich in Art. 202 3. Spiegelstrich und Art. 211 4. Spiegelstrich EGV fixierte Wesensnatur solcher EG-Normsetzungsakte. Denn wenn es sich danach um Vorschriften „zur Durchführung“ zuvor erlassenen Sekundärrechts handeln soll, muss das Sekundärrecht bereits einen regulativen Rahmen gesetzt haben, in Ansehung dessen dem nachrangigen Recht ein durchführender Charakter überhaupt erst zuerkannt werden kann. Aus den primärrechtlichen Vorgaben wird insofern zutreffend abgeleitet, dass das dem gemeinschaftlichen Durchführungsrecht zugrundeliegende Sekundärrecht die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie bereits entschieden haben334 und die sekundärrechtliche Durchführungsermächtigung im Übrigen hinreichend bestimmt sein muss335. Damit freilich wird zugleich gewährleistet, dass das Durchführungsrecht der Gemeinschaft normalerweise keine Vorschriften enthält, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Denn insofern bleibt im sekundärrechtlich determinierten Durchführungsrecht grundsätzlich kein Raum für wesentliche Regelungen in wesentlichen Regelungsbereichen oder für Bestimmungen, die eine hinreichend bestimmte sekundär­ rechtliche Ermächtigung vermissen lassen. Ausnahmen von der Regel, dass Vorschriften des sekundärrechtlichen Durchführungsrechts nicht unter den aus grundgesetzlichen Einzelbestimmungen abgeleiteten absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung fallen, können sich vor gesetzgeber fallweise verpflichtet sein, es bei bloßen Rahmenvorgaben zu belassen, wenn sich dadurch die Kompetenzen der nationalen Rechtsetzungsorgane schonen lassen, ohne dass zugleich die gemeinschaftsweite Erreichung des Richtlinienziels in Gefahr gerät (vgl. hierzu Calliess, in: ders. / Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 5 Rn. 57). 332 Dies gilt in besonderem Maße im Fall der sog. Rahmenrichtlinien. Zum Ganzen auch Nugent (Fn. 20), S. 239 f. 333 Zu diesem Recht eingehend die Schrift von Knemeyer (Fn. 83). 334 Dazu etwa EuGH, Rs. C-240/90, Slg. 1992, I-5383, Rn. 7 f. (Deutschland / Kommission). 335 Hierzu etwa EuGH, Rs. 291/86, Slg. 1988, 3697, Rn. 13 ( Central-Import Münster).

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allem unter dem folgenden Gesichtspunkt ergeben: In bestimmten (Ausnahme-) Fällen mag es sein, dass die aus dem primären Gemeinschaftsrecht ableitbare Vorgabe, dass das Sekundärrecht die wesentlichen Grundzüge der durch Durch­ führungsrecht näher zu regelnden Materie enthalten muss, zumindest bei Zugrundelegung der EuGH-Rechtsprechung weniger streng ist als die grundgesetzliche Wesentlichkeitstheorie336; auch mögen in besonderen Konstellationen die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit der Durchführungsermächtigung hinter den entsprechenden Vorgaben des Art. 80 GG zurückbleiben337. Dadurch aber wird das grundsätzliche Regel-Ausnahme-Verhältnis selbstverständlich nicht umgekehrt, wonach sich sekundärrechtlich determiniertes Durchführungsrecht normalerweise nicht unter den hier sogenannten absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung subsumieren lässt.

b) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Vor allem diejenigen marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden, unterschreiten mitunter massiv das Niveau personeller und materieller Legitimation, das Art. 59 GG in dezisionärer Hinsicht vorgibt. Allerdings erweisen sich selbst diese Legitimationsdefizite ganz überwiegend als aus grundgesetzlicher Sicht noch rechtfertigbar.

aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Für das durch Art. 59 GG in dezisionärer Hinsicht gebotene Maß an personeller demokratischer Legitimation kommt es entscheidend darauf an, ob der betreffende Normsetzungsakt dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt. Denn nur wenn dies der Fall ist, muss neben den personellen Legi­ timationsbeitrag der Exekutive der des Parlaments treten und wird insofern ein erhöhtes Niveau personeller demokratischer Legitimation gefordert; andernfalls genügt es, wenn der Normsetzungsakt in personeller Hinsicht rein exekutivisch legitimiert ist338. 336

Siehe dazu nur Hummer / Obwexer (Fn. 217), Rn. 34. Siehe hierzu lediglich Wichard, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 202 Rn. 11 f. 338 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) = S. 790. 337

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Nun sind freilich wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte nur ausnahmsweise vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen; ein anderes Regel-Ausnahme-Verhältnis gilt lediglich für die sekundärrechtlich determinierten Durchführungsvorschriften339. Um das durch Art. 59 GG in dezisionärer Hinsicht vorgegebene Niveau personeller demokratischer Legitimation zu erreichen, müsste das Rechtsetzungsverfahren bei wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten demnach regelmäßig so ausgestaltet sein, dass ihnen nicht nur über die nur mittelbar legitimierte Exekutive, sondern auch über ein volksunmittelbar bestelltes Parlament personelle demokratische Legitimation zuwächst. Allerdings hat die Bestandsaufnahme bereits verdeutlicht, dass – zumindest in der Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation – der Entscheidung über den Erlass von EG-Normsetzungsakten eine unmittelbar vom Parlament herrührende personelle demokratische Legitimation niemals zuwächst340. Hinzu tritt, dass die personelle demokratische Legitimation speziell im zentralen Mitentscheidungsverfahren, aber auch in anderen Rechtsetzungsverfahren sogar vollends entfallen kann341. Das in dezisionärer Hinsicht zu verzeichnende Niveau personeller demokratischer Legitimation fällt bei den meisten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten mithin deutlich hinter dasjenige zurück, das vom Grundgesetz als normal angesehen wird. Dieses legitimatorische Defizit wird nun nicht etwa durch ein legitimatorisches Plus im Bereich der anderen spezifischen Legitimationsformen kompensiert. Denn auch insofern sind deutliche demokratische Defizite zu verzeichnen. So sieht das Grundgesetz vor342, dass die mit dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge typischerweise betrauten Organe entweder kumulativ vom Vertrauen des Regierungschefs, des Parlaments sowie des Volks abhängen343 oder aber den periodisch wiederkehrenden Volkswahlen unterworfen sind344. Infolgedessen wächst den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts in dezisionärer Hinsicht ein vergleichsweise hohes Maß an materiell-kontrollativer Legitimation zu. Jedenfalls übersteigt es das für EG-Normsetzungsakte charakteristische Legitimationsniveau. Dafür ist freilich nicht schon ausschlaggebend, dass die EG-Normsetzungsakte nur unter erschwerten Bedingungen revidiert werden können und sich infolge­ dessen die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation abschwächt. Denn dies gilt in vergleichbarer Weise auch für den Abschluss völkerrechtlicher Ver-

339

Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) = S. 933. Siehe oben Kapitel 11 II. 1. a) = S. 918. 341 Ebd. 342 Dazu oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) = S. 790. 343 Dies gilt für die Bundesminister. 344 Dies gilt für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.

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träge, die ebenfalls eine Art fait accompli345 bewirken. Auch das der materiell-kontrollativen Legitimation von EG-Normsetzungsakten abträgliche Zusammenwirken unterschiedlicher demoi markiert keinen wesentlichen Unterschied zur materiell-kontrollativen Legitimation der innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts: Auch bei diesen kommt es zu einer vergleichbaren legitimatorischen Abschwächung. Den EG-Normsetzungsakten eignet vielmehr schon deshalb ein niedrigeres Niveau materiell-kontrollativer Legitimation, weil in der Perspektive des hier zur Debatte stehenden Modells dem Parlament keinerlei Normsetzungsbefugnisse zustehen. Infolgedessen kommt dem Volk überhaupt nur indirekt eine Kontrollmöglichkeit in Hinblick auf den Erlass von EG-Normsetzungsakten zu, und zwar insbesondere über die allfällige Abwahl der Bundestagsmehrheit, die ihrerseits den (ko-)dezisionsbefugten nationalen Ratsvertreter trägt. Dem an diese Kontrollmöglichkeit des Volks anknüpfenden materiell-kontrollativen Legitimationsstrang kommt daher eine geringere Wirkkraft zu als dem, der im Rahmen von Art. 59 GG dadurch zustande kommt, dass das Volk – zu bestimmten, periodisch wiederkehrenden Zeitpunkten – direkt über die Zusammensetzung des an der Ingeltungsetzung des völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakts beteiligten Parlaments entscheidet. Denn die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation nimmt mit der strukturellen Entfernung des Kontrollorgans vom Kontrollgegenstand ab346. Aber auch wenn man die materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge vergleicht, die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts einerseits, EG-Normsetzungsakten andererseits dadurch zuwächst, dass die für ihren Erlass zumindest primär verantwortliche Exekutive parlamentarisch kontrolliert wird, so offenbaren sich Niveauunterschiede. Dass die materiell-kontrollative Legitimation von EG-Normsetzungsakten auch unter diesem Gesichtspunkt hinter der eines innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakts des Völkervertragsrechts zurückbleibt, folgt daraus, dass sich bei EG-Normsetzungsakten die vom deutschen Volk herrührende materiell-kontrollative Legitimation in der Regel allenfalls partiell über die parlamentarische Kontrolle des nationalen Regierungsvertreters Bahn brechen kann. Da nämlich der Kommission wegen ihres Initiativmonopols regelmäßig eine Mitentscheidungsgewalt zukommt, sind für das Niveau materiell-kontrollativer Legitimation auch die diesbezüglichen Kontrollmöglichkeiten ausschlaggebend347. Diese sind aber, wie dargelegt, weder sonderlich nachhaltig noch effektiv348. Schließlich, aber nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass sich die bei EGNormsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht zu verzeichnende materiell-kontrol 345

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. Ebd. 347 Zum Niveau materiell-kontrollativer Legitimation bei organmehrheitlich bewirkter dezi­ sionärer Legitimation siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461. 348 Oben Kapitel 11 II. 1. c) = S. 925. 346

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lative Legitimation im Unterschied zu der, die insofern die innerstaatlich rezipierten Normen des Völkervertragsrechts prägt, gegebenenfalls auch ganz entfallen kann. Dies ist der Fall, wenn es bereits an der personellen dezisionären Legitimation fehlt. Der potenziell umfassende Wegfall personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation wird nun freilich dadurch ein Stück weit relativiert, dass EG-Normsetzungsakte im Unterschied zu den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts ergänzend immer auch noch materiell-direktiv legitimiert sind, und zwar über das Primärrecht349. Allerdings hilft auch dies letztlich nicht darüber hinweg, dass die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EG-Normsetzungsakte längst nicht an das durch Art. 59 Abs. 2 GG vorgegebene Legitimationsniveau heranreichen. Denn erstens ist dieser materiell-direktive Legitima­ tionsbeitrag von begrenzter Reichweite. Zweitens zeichnet die in Rede stehenden innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte eine immerhin teilweise einfach, wenn auch überwiegend drei- bis vierfach vermittelte personelle und materiell-kon­ trollative Legitimation aus350; demgegenüber wächst den EG-Normsetzungsakten über das Primärrecht eine teils zweifach, überwiegend aber vier- bis fünffach vermittelte materiell-direktive Legitimation zu. Es bleibt also dabei, dass wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, das durch Art. 59 GG vorgegebene Niveau personeller und materieller Legitimation deutlich, teilweise – nämlich bei Wegfall des personellen und des materiell-kon­ trollativen Legitimationsstrangs – sogar massiv unterschreiten.

bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten, die nicht vom absoluten Vorbehalt demokratischer Normsetzung erfasst werden, handelt es sich überwiegend, aber bei Weitem nicht ausschließlich um Durchführungsrecht351. Das insofern aus Art.  59  GG ableitbare grundgesetzliche Normalmaß sieht eine von der Exekutive vermittelte personelle Legitimation vor, setzt in 349

Dazu oben Kapitel 11 II. 1. b) = S. 923. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) = S. 790. 351 Zu den marktkonstituierenden Normsetzungsakten, die nicht dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen, aber auch nicht zum (maßgeblich) von der Kommission verantworteten Durchführungsrecht im Sinne von Art. 202 3. Spiegelstrich EGV zählen, gehören – cum grano salis – diejenigen Sekundärrechtsakte, die auf der Grundlage von Normsetzungsermächtigungen ergangen sind, die der unmittelbaren Effektivierung der Grundfreiheiten sowie dem Diskriminierungsverbot dienen beziehungsweise dem Wettbewerbskapitel entstammen (siehe oben Kapitel 11 II. 2. a] aa] = S. 935). 350

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materiell-direktiver Hinsicht ein inhaltlich determinierendes Parlamentsgesetz voraus und verlangt in puncto materiell-kontrollativer Legitimation, dass die dezisionsbefugte Exekutive vom Vertrauen des Parlaments352 und  – über die regelmäßig wiederkehrenden Parlamentswahlen  – auch von dem des Staatsvolks abhängt353. Dem entspricht von der Grundstruktur her und auf den ersten flüchtigen Blick das für die EG-Normsetzung vorgesehene Verfahrensarrangement  – und zwar nicht nur bei dem im hiesigen Zusammenhang hauptsächlich betroffenen Durchführungs-, sondern auch im Fall des ratsbeschlossenen Sekundärrechts. Denn zumindest aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation rühren die EG-Normsetzungsakte allein von der Exekutive her, welche ihrerseits – jedenfalls auch – nach Maßgabe des parlamentarisch sanktionierten Primärrechts legiferiert. Legitimationsdefizite ergeben sich allerdings schon daraus, dass in aller Regel die Kommission in das Legitimationssystem eingebunden ist. Die Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß ist insofern freilich nicht schon in Hinblick auf die personelle Legitimation zu registrieren. Schließlich kann die personelle Legitimation auch im Rahmen des Art. 59 GG mehr als dreifach vermittelt sein, sofern die Regierung durch das ermächtigende Gesetz zur Subdelegation ermächtigt ist und durch Rechtsverordnung von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht hat. Wenn das grundgesetzliche Normalmaß infolge der (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission unterschritten wird, so hängt dies stattdessen mit der materiell-kon­ trollativen Legitimation zusammen. Denn die über die Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation weist eine ungleich geringere Wirkkraft auf als diejenige, die die potenzielle Kontrolle der Regierungsmitglieder beziehungsweise der ihnen nachgeordneten Instanzen generiert354. Das Legitimationsdefizit, das sich mit der geringen Wirkkraft der über die Kommission vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation verbindet, fällt bei Durchführungsrecht – und damit bei der Mehrzahl der vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte – deutlich größer aus als bei ratsbeschlossenem Sekundärrecht. Denn die Dezisionsbefugnis der Kommission reicht dort deutlich weiter. Dafür können vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die ausnahmsweise vom Rat zu beschließen sind, vielfach auch ohne Zustimmung des nationalen Ratsmitglieds ergehen, was zu einer noch sehr viel gravierenderen Legitimationseinbuße führt. Denn

352 Zur parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 53 f. 353 Zu der für normative Verwaltungsabkommen maßgeblichen demokratischen Rückkoppelung Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1986, S. 220. 354 Zur geringen Wirkkraft der über die Kommission vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation siehe Kapitel 11 II. 1. c) = S. 925.

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in diesem Fall verdünnen sich personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation beträchtlich und entfallen äußerstenfalls sogar ganz355. Legitimationseinbußen ergeben sich des Weiteren daraus, dass das den EGNormsetzungsakten zugrundeliegende Primärrecht einen höheren Grad demokratischer Abgeleitetheit aufweist als dies selbst bei solchen Parlamentsgesetzen der Fall ist, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen356. Auch aus diesem Grund sinken wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, durchweg unter das Legitimationsniveau ab, das das Grundgesetz für sie als normal ansieht. Sofern es sich bei diesen EG-Normsetzungsakten wie im Regelfall um Durchführungsrecht handelt, ergibt sich ein zusätzliches Legitimationsdefizit daraus, dass das zugrundeliegende Sekundärrecht seinerseits das durch Art. 59 GG vorgezeichnete Legitimationsniveau unterschreitet. Sofern das Sekundärrecht, wie dies typischerweise der Fall ist, diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts angesiedelt ist, folgt das Legitimationsdefizit bereits daraus, dass es ohne entscheidende Mitwirkung eines Parlaments in Geltung gesetzt wurde. Handelt es sich um ausnahmsweise jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergangenes Sekundärrecht, so ist zu berücksichtigen, dass  – wie eben dargelegt  – auch rats­ beschlossenes Sekundärrecht regelmäßig hinter dem Normalmaß zurückbleibt, das Art. 59 GG für diesen Bereich vorsieht.

cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite Nach allem ist festzuhalten, dass das bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation durchweg erheblich, teilweise sogar massiv hinter dem durch Art.  59 Abs.  2  GG vorgegebenen Legitimationsniveau zurückbleibt. Dies gilt vor allem, aber eben nicht nur für diejenigen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Allerdings lassen sich diese Legitimationseinbußen im Regelfall noch verfassungsrechtlich rechtfertigen357. So greifen zunächst die Rechtfertigungsgründe, die im Hinblick auf das abgesenkte Ausmaß exklusiv-perpetueller demokratischer Legitimation ausführlich 355 Zur Möglichkeit des gänzlichen Wegfalls personell sowie materiell-kontrollativ vermittelter dezisionärer Legitimation siehe Kapitel 11 II. 1. a) = S. 918 und Kapitel 11 II. 1. c) = S. 925. 356 Zu diesem Vorbehalt oben Kapitel 10 III. 1. i) = S. 779. 357 Insofern besteht eine Parallele zur legitimatorischen Situation, die hinsichtlich des Ausmaßes der Exklusivität dezisionärer Legitimation ausgemacht worden ist – dazu oben Kapitel 11 I. 4. a) = S. 905.

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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diskutiert worden sind, der Sache nach auch hier durch: Dass das in Art. 59 GG vorgezeichnete Niveau personeller und materieller Legitimation deutlich unterschritten wird, kann zum einen häufig durch die Staatszielbestimmung der Volkssouveränität selbst gerechtfertigt werden358. Zwar realisieren die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte einen deutlich höheren Grad demo­ kratischer Abgeleitetheit, als es grundgesetzlich normal ist. Da nun aber anerkanntermaßen bestimmte transnationale Regelungen zur Schaffung und Stabilisierung eines unionsweiten Marktes unerlässlich sind, die in diesem Sinne zielführenden transnationalen Regelungen unter den gegenwärtigen Integrationsbedingungen indes nur unter Hinnahme der in Rede stehenden Legitimationseinbußen zu verwirklichen sind, ist es unter demokratischen Gesichtspunkten immer noch vorzugs­ würdiger, wenn der Volkswille sich nur relativ schwach in einem Normsetzungsakt widerspiegelt, als wenn vollends auf eine entsprechende Manifestation des Volkswillens verzichtet wird. Zum anderen ist die relative Einbuße an personeller und materieller Legitimation auch deshalb vielfach als  – immerhin mittelfristig  – noch rechtfertigbar zu qualifizieren, weil sie sich durch die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands begründen lassen359. Dieser Rechtfertigungsgrund wirkt hinsichtlich der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte in besonderem Maße nach, weil die ihnen zugrundeliegenden Normsetzungsbefugnisse bereits in der Konstruktions- und nicht erst in der Konsolidierungsphase der EG geschaffen wurden. Hinzu tritt, dass den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten eine materiell-direktive Legitimation zuwächst, die – jedenfalls im Vergleich zu den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten – eine nicht unbeachtliche Reichweite aufweist360 und immerhin teilweise  – nämlich soweit die Direktive vom Parlament mitbeschlossen wurde  – auf einer niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist. Selbst wenn dieser vom Primärrecht herrührende Legitimationsbeitrag weit davon entfernt ist, die Einbußen an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation zu kompensieren, so trägt er doch dazu bei, diese Legitimationseinbuße zu reduzieren und im Endeffekt verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Freilich muss auch im vorliegenden Zusammenhang in Erinnerung gerufen werden, dass sich nicht bei durchweg allen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten der teils massive Niveauabfall in der geschilderten Art und Weise rechtfertigen lässt. So ist zum einen zu berücksichtigen, dass nicht ausnahmslos jeder wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakt eine anerkanntermaßen nur transnational sinnvoll regelbare Materie zum Gegenstand hat.

358

Zu diesem Rechtfertigungsansatz allgemein oben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. Zu diesem Rechtfertigungsansatz allgemein oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. 360 Ebd.

359

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Soweit ein entsprechender Konsens fehlt, bleibt für den an das Staatsziel der Volkssouveränität anknüpfenden Rechtfertigungsgrund kein Raum. Zum anderen kommt erneut361 die allgemeine Harmonisierungsermächtigung des Art.  95  EGV in den Blick. Da diese Norm erst mit Beginn der Konsolidierungsphase Eingang in Primärrecht gefunden hat, kommt dem aus dem Staatsziel der europäischen Einigung abgeleiteten Rechtfertigungsgrund, der auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands abstellt, nur noch eine geringe Durchschlagskraft zu. Jedenfalls lassen sich die Abweichungen vom grundgesetzlich normalen Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht rechtfertigen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass auf Art. 95 EGV gegründete EG-Normsetzungsakte typischerweise dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, mithin also an dem entsprechend höheren grundgesetzlichen Normalniveau zu messen sind362. Des Weiteren fällt ins Gewicht, dass wegen der Anwendbarkeit des Mehrheitsprinzips363 die an der Mitentscheidungsgewalt des nationalen Ratsmitglieds anknüpfenden personellen sowie materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge eventuell gänzlich entfallen können. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erweist sich die Differenz zwischen dem durch Art. 59 GG normalerweise gebotenen und dem im Rahmen von Art. 95 EGV mitunter realisierten Niveau personeller sowie materieller Legitimation als zu gewaltig, um unter Berufung auf einen nur mehr abgeschwächt wirkenden Rechtfertigungsgrund legitimiert werden zu können.

c) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Das durch Art. 59 GG vorgegebene Niveau personeller und materieller Legitimation unterschreiten die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte auch in revisionärer Hinsicht. Allerdings erweisen sich die Unterschiede zum grundgesetzlichen Normalmaß insofern als geringer und die zu konstatierenden Legitimationsdefizite daher erst recht als grundgesetzlich rechtfertigbar.

361

Siehe dazu bereits im Zusammenhang mit der Exklusivität dezisionärer Legitimation Kapitel 11 I. 4. a) dd) = S. 910. 362 Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) aa) = S. 935. 363 Zu den entstehungsgeschichtlichen Hintergründen des Mehrheitsprinzips in Art. 95 EGV siehe etwa Kahl (Fn. 108), Rn. 1. Zur Diskussion um Art. 95 EGV im Rahmen der europäischen Verfassungsdebatte Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 43 (48).

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Um das durch Art.  59  GG in revisionärer Hinsicht vorgegebene Niveau personeller Legitimation zu erreichen, müssten EG-Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, der gemeinsam aus­zuübenden, partizipativ-okkasionellen Revisionsbefugnis von nationaler Regierungsexekutive und nationalem Parlament – gegebenenfalls in Verbindung mit dem Bundesrat – unterliegen; dabei darf die fraglich Revisionsbefugnis überwiegend bei der Regierungsexekutive verortet sein364. Zumindest auf den ersten Blick könnte man daher tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass die EG-Normsetzungsakte das insofern grundgesetzlich vorgezeichnete Niveau personeller Legitimation einhalten. Denn diese sind im Rahmen des Vertragsänderungsverfahrens gemäß Art.  48  EUV mittelbar revidierbar. An der Aushandlung der Vertragsänderung und dem grundgesetzgemäßen Abschluss des Änderungsvertrags gemäß Art. 48 EUV sind deutscherseits dieselben Organe beteiligt, wie Art. 59 GG dies für jeden beliebigen völkerrechtlichen Vertrag vorsieht, dessen Normsetzungsakte dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen; und auch ihre respektive Einflussmacht ist bei Änderungsverträgen nach Art. 48 EUV keine andere als bei einem beliebigen völkerrechtlichen Vertrag gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG: Für EG-Normsetzungsakte gilt, dass sie – im Rahmen und nach Maßgabe des Art. 48 EUV – einer partizipativ-okkasionellen Revisionsbefugnis unterliegen, die gesamthänderisch von Regierungsexekutive und Parlament auszuüben ist365, wobei die Einflussmacht der Regierungsexekutive weiter reicht als die des Parlaments. Zu berücksichtigen ist freilich, dass der durch Art.  48  EUV begründete revisionäre Legitimationszusammenhang nicht alleine steht366. Hinzu tritt zumindest noch ein weiterer Legitimationszusammenhang: Die partizipativ-okkasionelle Revisionsmacht des deutschen Volks bricht sich immer auch im Rahmen jener Verfahren Bahn, die zugleich dem Erlass wie auch der Aufhebung beziehungsweise Abänderung von EG-Normsetzungsakten dienen. Zwar erfasst lediglich der im Rahmen von Art. 48 EUV greifende revisionäre Legitimationszusammenhang den EG-Normsetzungsakt uneingeschränkt, wohingegen der über das EG-Normsetzungsverfahren vermittelte revisionäre Legitimationsstrang an eine durch das pri 364

Zu diesen Zusammenhängen siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (6) = S. 800. Dass daneben in der Regel auch noch der Bundesrat an der Revisionsmacht partizipiert, soll aus den obengenannten Gründen (siehe oben Kapitel 11 II. 2. = S. 932) vorerst ausgeblendet bleiben. 366 Blendet man vorläufig aus, dass die in Art. 48 EUV eingeräumte Revisionsmacht in der Regel nicht nur von Bundesregierung und Parlament, sondern von Bundesregierung, Parlament und Bundesrat ausgeübt wird, so ist es konsequent, von den durch Art. 48 EUV begründeten revisionären Legitimationszusammenhängen einstweilen im Singular zu sprechen. 365

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

märe Gemeinschaftsrecht materiell-direktiv beschränkte Revisionsbefugnis anknüpft. Soweit jedoch der EG-Normsetzungsakt zugleich von beiden revisionären Legitimationssträngen erfasst wird, bestimmt sich der realisierte Grad demokra­ tischer Abgeleitetheit teils nach dem einen, teils nach dem anderen revisionären Legitimationsstrang367. Und davon wird notwendigerweise auch der Grad demokratischer Abgeleitetheit des EG-Normsetzungsakts insgesamt beeinflusst. Nun wird das Niveau personeller Legitimation, das Art. 59 GG für vom Vor­ behalt absoluter Normierung erfasste Völkerrechtsverträge in revisionärer Hinsicht vorsieht, nicht auch insoweit erreicht, als sich die partizipativ-okkasionelle Revi­sionsmacht des deutschen Volks über das EG-Normsetzungsverfahren Bahn bricht. Denn insofern wird ein EG-Normsetzungsakt bestenfalls allein über das nationale Ratsmitglied an die Revisionsmacht des deutschen Volks rückgebunden368. Doch selbst in dieser Konstellation erfolgt die personelle Legitimation auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit, als Art. 59 GG dies vorsieht; auch bleibt die personelle Legitimation in puncto Wirkkraft hinter den Vorgaben des Art. 59 GG zurück. Denn für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasste Normsetzungsakte sieht Art. 59 GG an sich vor, dass unter anderem das Parlament als letzter Mittler personeller Legitimation fungiert und dem personellen Legitimationsbeitrag insofern eine besonders hohe Effektivität zukommt. Demnach bleibt die personelle Legitimation, die im Rahmen des an das EG-Normsetzungsverfahren anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhangs Platz greift, jedenfalls hinter dem durch Art. 59 GG vorgegebenen Normalmaß zurück. Dies hat zur Konsequenz, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der einen EG-Normsetzungsakt in Ansehung der in revisionärer Hinsicht verfangenden personellen Legitimation auszeichnet, höher ist als der, den Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasste Regelungen vorsieht. Daran schließt sich die Frage an, ob EG-Normsetzungsakte zumindest unter dem Gesichtspunkt materiell-kontrollativer Legitimation den Grad demokratischer Abgeleitetheit erreichen, der bei vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakten dem Art.  59  GG zu entnehmenden grundgesetzlichen Normalmaß revisionärer Legitimation entspricht. Nimmt man zunächst wiederum nur den an Art.  48  EUV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang in den Blick, so liegt es nahe, diese Frage zu bejahen. Schließlich bricht sich die materiell-kontrollative Legitimation insoweit vor allem dadurch Bahn, dass die Bundesexekutive durch Bundestag und Bundeswahlvolk kontrolliert wird; hinzu tritt derjenige materiell-kontrollative Legitimations-

367

Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433. In aller Regel indes wird die deutsche Revisionsmacht außerdem noch über die Kommission vermittelt – siehe oben Kapitel 11 II. 1. d) = S. 929. 368

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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beitrag, der an die Volkskontrolle des Parlaments anknüpft369. Insofern wächst den EG-Normsetzungsakten materiell-kontrollative Legitimation in derselben Weise zu, wie Art. 59 GG dies für innerstaatliche Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen370. Insbesondere weist die den EG-Normsetzungsakten im Rahmen von Art.  48  EUV zuwachsende materiell-kontrollative Legitimation auch keine geringere Wirkkraft auf als diejenige, die für die in Rede stehenden Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts charakteristisch ist; es besteht insofern ein strukturell identisches Näheverhältnis zwischen den Kontrollinstanzen, also Bundestag und Bundesvolk sowie dem Kontrollgegenstand, nämlich der Bundesregierung und Bundestag gesamthänderisch zurechenbaren Nichtrevisionsentscheidung371. Allerdings muss in Ansehung der materiell-kontrollativen Legitimation gleichfalls darauf Bedacht genommen werden, dass zumindest ein weiterer Legitimationszusammenhang auf die EG-Normsetzungsakte zurückführt, nämlich insoweit, als die EG-Normsetzungsakte im Rahmen der für ihren Erlass maßgeb­lichen Verfahren auch wieder aufgehoben werden können. Insofern freilich wird das durch Art.  59  GG vorgezeichnete Niveau materiell-kontrollativer Legitimation nicht erreicht. Denn im Rahmen des EG-Normsetzungsverfahrens wächst den EG-Normsetzungsakten materiell-kontrollative Legitimation bestenfalls dadurch zu, dass das allein korevisionsbefugte nationale Ratsmitglied der Kontrolle durch Parlament und Volk unterliegt. Insofern prägt die EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht günstigstenfalls eine zweifach vermittelte Legitimation. Dieser eignet eine Wirkkraft, die jedenfalls geringer ist als bei einer parlamentarisch mitverantworteten Nichtrevisionsentscheidung. Damit reicht das Maß materiell-kontrollativer Legitimation, das den EG-Normsetzungsakten insoweit in revisionärer Hinsicht zuwächst, ersichtlich nicht an das Normalmaß nach Art. 59 GG heran. Denn danach müssten EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht zumindest teilweise auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sein. Auch müssten die Kontrollzusammenhänge effektiver und nachhaltiger sein. Schließlich wird im Rahmen von Art. 59 GG gewährleistet, dass immerhin partiell ein Parla 369

Die an die Parlaments- und Volkskontrolle des Bundesrats anschließende materiell-kon­ trollative Legitimation bleibt an dieser Stelle unberücksichtigt. 370 Damit ist auch die in Fn. 215 beiläufig aufgeworfene Frage beantwortet, ob die fortgesetzte Entscheidung, einen EG-Normsetzungsakt nicht zu revidieren, im Rahmen des Art. 48 EUV personell und materiell-kontrollativ so eng an den Volkswillen rückbindet, wie Art. 59 GG dies vorsieht: Dies ist zu bejahen. Damit bleibt nur mehr zu überlegen, ob auch der in diesen beiden Konstellationen realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit kongruiert. 371 Eine andere Frage ist, ob auch das Näheverhältnis zwischen der aus Regierung, Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat bestehenden Revisionsinstanz und dem legitimationsbedürftigen Rechtsakt, also dem innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt völkerrechtsvertraglicher Provenienz einerseits beziehungsweise dem EG-Normsetzungsakt andererseits, strukturell vergleichbar ist. Die Antwort auf diese Frage betrifft freilich nicht den in revisionärer Hinsicht generierten Grad demokratischer Abgeleitetheit, sondern den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit.

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ment als letzter Mittler materiell-kontrollativer Legitimation fungiert, was in besonderem Maße zu deren Wirkkraft beiträgt. Wenn somit zumindest einer der auf den EG-Normsetzungsakt zurückführenden revisionären Legitimationszusammenhänge in materiell-kontrollativer Hinsicht leistungsschwächer ist, als Art. 59 GG dies für vom Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasste Normsetzungsakte vorsieht, so überschreitet auch der EG-Normsetzungsakt insgesamt den vom Grundgesetz insoweit vorgesehen Grad demokratischer Abgeleitetheit. Denn die verschiedenen revisionären Legitima­ tionszusammenhänge treten nicht kumulativ dergestalt nebeneinander, dass durch die Verdoppelung der materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge die relative Einbuße an materiell-kontrollativer Legitimation kompensiert werden könnte372. Somit ist festzuhalten, dass die wesensmäßig marktkonstituierenden Norm­ setzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, in revisionärer Hinsicht ein gegenüber dem grundgesetzlichen Normalmaß durchweg abgeschwächtes Maß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation aufweisen.

bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Fraglich ist, ob dies auch für diejenigen EG-Normsetzungsakte gilt, die ausnahmsweise nicht vom Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasst werden. Hierbei handelt es sich zwar nicht durchweg, aber doch überwiegend um Durchführungsrecht373. Für innerstaatliche Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, sieht Art. 59 GG typischerweise zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge vor: In dem Umfang, in dem die Regierungsexekutive kraft eigener Aufhebungs- beziehungsweise Kündigungsbefugnis oder aber parlamentsgesetzlich dazu befugt ist, den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt im Einvernehmen mit dem oder den Vertragspartnern zu modifizieren, wächst ihm revisionäre Legitimation in personeller Hinsicht allein über die Exekutive zu und wird die materiell-kontrollative Legitimation ausschließlich durch die Überwachung der Exekutive durch Parlament und Wahlvolk ins Werk gesetzt. Soweit die Regierungsexekutive indes nicht allein dazu befugt ist, den völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakt in entsprechenden Verhandlungen abzuändern, wächst ihm revisionär nicht nur über die Exekutive, sondern zugleich über das Parlament personelle Legitimation zu und be 372

Zu diesen Zusammenhängen siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433. Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938.

373

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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ruht die materiell-kontrollative Legitimation zusätzlich darauf, dass das Parlament der Kontrolle durch das Volk selbst ausgesetzt ist. Dabei ergänzen sich die beiden Legitimationszusammenhänge nur, überlagern sich aber nicht, sind mithin nicht (teil-)kongruent, sondern vollständig inkongruent374. Von dieser legitimatorischen Konstellation unterscheidet sich der revisionäre Legitimationszusammenhang bei EG-Normsetzungsakten konstruktiv in einem entscheidenden Punkt. Zwar führen auch auf EG-Normsetzungsakte mindestens zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge zurück. Diese ergänzen sich aber nicht nur, sondern überlagern sich, sind mithin teilkongruent. Denn der an Art. 48 EUV anschließende Legitimationszusammenhang erfasst den EG-Normsetzungsakt materiell-direktiv uneingeschränkt; lediglich die im Rahmen der Vorschriften über das EG-Normsetzungsverfahren greifenden revisionären Legitimationszusammenhänge erweisen sich als materiell-direktiv beschränkt375. Vergleicht man nun das in diesen beiden Konstellationen in revisionärer Hinsicht generierte Legitimationsniveau, so wird man im Ergebnis konstatieren müssen, dass sich der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit zwar ausnahmsweise mit demjenigen deckt, den Art. 59 GG für die hier in Rede stehende Kategorie völkerrechtsvertraglicher Normsetzungsakte vorsieht. In der Regel freilich wird das in Art. 59 GG insofern vorgezeichnete Normalmaß, wenn auch nur leicht, unterschritten. Dass Art.  59  GG in revisionärer Hinsicht einen niedrigeren Grad demokra­ tischer Abgeleitetheit vorsieht, als ihn die EG-Normsetzungsakte im Regelfall realisieren, lässt sich indes nicht schon in Hinblick auf das Niveau personeller Legitimation konstatieren. Dies mag zunächst erstaunen, werden die hier in Rede stehenden Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts doch typischerweise in größerem Umfang als EG-Normsetzungsakte durch eine personelle Legitimation geprägt, die allein aus dem Zusammenwirken von Regierungsexekutive und Parlament erwächst, mithin also auf einer vergleichsweise niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist und wegen der abschließenden Legitimationsvermittlung gerade auch durch das Parlament eine beachtliche Wirkkraft aufweist. Schließlich geht aus den bereits dargelegten Gründen376 der Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung, in dem die Exekutive eine Abänderung des völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakts nur gemeinsam mit dem Parlamentsgesetzgeber bewirken darf, regelmäßig über denjenigen hinaus, der durch primärrechtliche Regelungen bestimmt ist und der seinerseits determiniert, wann die personelle Rückkoppelung eines EG-Normsetzungsakts an die Revi­sionsmacht des Volks ebenfalls ausschließlich über das Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag ins Werk gesetzt wird.

374

Dazu oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (6) = S. 800. Siehe oben Kapitel 11 I. 4. b) = S. 912. 376 Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) aa) = S. 935.

375

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Allerdings werden die hier in Rede stehenden völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte dem Grundgesetz zufolge teilweise auch durch eine personelle Legitimation geprägt, die bestenfalls auf der zweiten Stufe, im Fall der Subdelegation sogar auf einer noch sehr viel höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist. Hingegen rutscht ein EG-Normsetzungsakt niemals ganz auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit ab, die für den personellen Legitimations­ beitrag prägend ist, der an die Revisionsbefugnis des Rats, der Kommission beziehungsweise des Ausschusses der Staatenvertreter anknüpft. Denn der für einen EG-Normsetzungsakt charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit wird immer zumindest auch durch den an Art. 48 EUV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang bestimmt. Insoweit freilich bricht sich die personelle Legitimation zumindest teilweise auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit Bahn377. Vor diesem doppelten Hintergrund kann bei bilanzierender Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die personelle Legitimation, die einem EG-Norm­ setzungsakt in revisionärer Hinsicht zuwächst, cum grano salis mit derjenigen kongruiert, die Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommene Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht. Anders verhält es sich hingegen im Regelfall bei der materiell-kontrollativen Legitimation. Zwar kann bei bilanzierender Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die einem EG-Normsetzungsakt zuwachsende materiell-kontrollative Legitimation auf derselben Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist, wie Art. 59 GG dies für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommene Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht. Dies gilt auch für den Fall, dass andere Exekutivorgan(teil)e als das nationale Ratsmitglied Revisionsmacht ausüben. Denn schließlich kann auch im Rahmen von Art. 59 GG ein der Regierung nachgeordnetes Organ als letzter Mittler materiell-kontrollativer Legitimation figurieren, wenn eine entsprechende Subdelegation vorgesehen ist. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass typischerweise die Kommission an der Ausübung der Revisionsmacht zumindest beteiligt ist. Jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts kommt ihr in der Regel, nämlich bei Durchführungsrecht, sogar eine mindestens hälftige Revisionsmacht zu. Die über die Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation freilich weist eine ungleich geringere Wirkkraft auf als die, die im Rahmen von Art. 59 GG über die Regierung oder die ihr nachgeordneten Instanzen vermittelt wird. Dementsprechend erreichen EGNormsetzungsakte nur dann den Grad demokratischer Abgeleitetheit, der nach Art.  59  GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts gilt, wenn die Kommission ausnahmsweise nicht an der Revisionsmacht partizipiert. Davon ist – zumal jenseits des absolu 377

Siehe oben Kapitel 11 II. 1. d) = S. 929 und Kapitel 11 II. 1. e) = S. 931.

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ten Vorbehalts parlamentarischer Normierung – nur in raren Einzelfällen auszugehen. Nach allem bestätigt sich, dass EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht nur ausnahmsweise den Grad demokratischer Abgeleitetheit realisieren, den Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung aus­ genommene Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht. Im Regelfall überschreiten sie ihn leicht.

cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite Das bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten in revisio­ närer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation unterschreitet im Regelfall das durch Art.  59 Abs.  2  GG insoweit vorgegebene Legitimationsniveau. Das zu konstatierende Minus an personeller und materieller Legitimation fällt freilich geringer aus als in dezisionärer Hinsicht. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es bei EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht zu einem vollkommenen Wegfall der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation kommen kann, was im Rahmen von Art. 59 GG nicht denkbar ist378. Fehlt es demgegenüber bei den EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht temporär an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, weil die Nichtrevisionsentscheidung gegen den Willen der zuständigen Organe des deutschen Volks getroffen wird, so markiert dies gerade keinen Unterschied zu den gemäß Art. 59 innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts. Infolgedessen unterschreiten speziell diejenigen Normsetzungsakte, die nicht vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden, das insoweit maßgebliche grundgesetzliche Legitimationsniveau – wenn überhaupt – in nur geringem Umfang. Wenn sich nun freilich schon die ungleich massivere Absenkung des in dezisionärer Hinsicht realisierten Niveaus personeller und materieller Legitimation grundgesetzlich überwiegend rechtfertigen lässt, so gilt dies erst recht auch für die Absenkung des in revisionärer Hinsicht verwirklichten Legitimationsniveaus. Als Rechtfertigungsgründe kommen insofern einmal mehr die Zielnorm der Volkssouveränität selbst, vor allem aber – mittelfristig – die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands in den Blick. Insoweit kann nach oben verwiesen werden. 378 Denn völkerrechtliche Verträge, die nach Maßgabe von Art. 59 GG innerstaatlich in Wirksamkeit erwachsen, beruhen nun einmal auf dem Konsensprinzip.  – Zum völkerrechtlichen Konsensprinzip siehe nur Ipsen, Regelungsbereich, Geschichte und Funktion des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, Rn.  42 ff.; dieses ist freilich heute nicht mehr unbestritten, sondern wird – nicht zuletzt von der US-amerikanischen Völkerrechtslehre – als „legalistisch“ abgetan (vgl. bspw. Gottlieb, Nation against State, 1993, S. 20).

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Hinzu tritt, dass wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte noch vergleichsweise stark durch das Primärrecht determiniert werden. Dadurch aber wächst dieser Kategorie von EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht ein vergleichsweise hohes Maß an personeller und materieller Legitimation zu. Denn infolgedessen werden die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Norm­ setzungsakte in größerem Umfang als etwa die potenziell marktinterventionisti­ schen EG-Normsetzungsakte allein im Rahmen von Art. 48 EUV an den Volkswil­ len rückgebunden. Die insofern verfangende personelle und materielle Legitimation aber ist leistungsstärker, als wenn neben dem durch Art. 48 EUV begründeten Legitimationszusammenhang noch der an das EG-Normsetzungsverfahren greift379. Vor diesem Hintergrund scheint letztlich selbst das in revisionärer Hinsicht verwirklichte Maß an personeller und materieller Legitimation, das einem auf Art. 95 EGV gründenden Normsetzungsakt eignet, als grundgesetzlich noch rechtfertigbar.

d) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Das für potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht relevante Normalmaß an personeller und materieller Legitimation ist aus den für die rein innerstaatliche Normsetzung maßgeblichen Grundgesetzvorschriften zu rekonstruieren380. Auch insofern erweist es sich als entscheidend, ob ein EG-Normsetzungsakt dem Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt oder nicht. Sofern dies zu bejahen ist, müsste ein EG-Normsetzungsakt, um das grund­ gesetzlich in dezisionärer Hinsicht vorgezeichnete Normalmaß zu erreichen, überaus eng an den Willen des deutschen Volkes rückgebunden sein. Denn das Grund 379 Soweit nämlich Art.  48  EUV verfängt, erfolgt die personelle und materiell-kontrollative Legitimation nicht nur auf einer vergleichsweise niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit. Sie erweist sich in Hinblick darauf, dass das Parlament immerhin partiell als letzter Legitima­tionsmittler fungiert, auch als relativ wirkungsstark. Dieser Grad demokratischer Abgeleitetheit kann im Rahmen des EG-Normsetzungsverfahrens nicht erreicht werden. Aus den im allgemeinen Teil  näher dargelegten Gründen hat dies zur Konsequenz, dass der für einen EG-Norm­setzungsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit insoweit höher ausfällt, wenn er nicht nur im Rahmen von Art. 48 EUV, sondern zugleich im Rahmen der Vorschriften über das EG-Normsetzungsverfahren an die Revisionsmacht des deutschen Volks rückgebunden ist. Eine andere, an dieser Stelle noch nicht zu behandelnde Frage ist, welche Konsequenzen es für den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit hat, wenn der EGNormsetzungsakt lediglich im Rahmen von Art. 48 EUV an die Revisionsmacht des deutschen Volks rückge­koppelt wird. 380 Zur Begründung siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832.

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gesetz sieht insofern eine unmittelbar vom volksberufenen Parlament ausgehende personelle Legitimation vor; die überaus leistungsstarke materiell-kontrollative Legitimation beruht auf der Möglichkeit des Volks, die Parlamentsmehrheit in regelmäßigen Abständen abzuwählen381. Der insofern realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit liegt deutlich unterhalb desjenigen, den Art. 59 Abs. 2 GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorsieht: So ist die Rückbindung an das unmittelbar volks­berufene Parlament und damit deren personelle dezisionäre Legitimation bei Parlamentsgesetzen intensiver als bei innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts, die zum größeren Teil von der Regierungsexekutive personell legitimiert werden382. Auch das Ausmaß materiell-kontrollativer Legitimation übersteigt schon deshalb das eines innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakts des Völkervertragsrechts, weil Parlamentsgesetze im Unterschied zu völkerrechtlichen Verträgen typischerweise keinen fait accompli383 hervorrufen und sich dieser Umstand infolgedessen auch nicht abschwächend auf die Intensität des materiell-kontrollativen Legitimationszusammenhangs auswirkt384. Hinzu kommt, dass Parlamentsgesetze nicht an eine Mehrheit untereinander fremder Völker rückgebunden sind. Auch deshalb ist hinsichtlich der völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte ein relatives Minus an materiell-kontrollativer Legitimation zu konstatieren385. Nun ist freilich schon dargetan worden, dass das im Rahmen der EG-Normsetzung in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation seinerseits deutlich hinter dasjenige zurückfällt, das Art. 59 Abs. 2 GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte des Völker­ vertragsrechts vorsieht386. Umso mehr bleibt es folglich hinter demjenigen zurück, das grundgesetzlich für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte rein innerstaatlicher Provenienz vorgesehen ist. Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, unterschreiten folglich massiv das für sie in dezisionärer Hinsicht grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß an personeller und materieller Legitimation. Lediglich quantitativ, nicht aber qualitativ anders verhält es sich bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten, die vom absoluten Vorbehalt par 381 Die Periodizität der Parlamentswahl wird durch Art. 39 Abs. 1 und 2 GG ausdrücklich und in spezifischer Weise verbürgt. Allgemein sieht sich die Herrschaft auf Zeit zusätzlich durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet (vgl. Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 15). 382 Zur zurückgenommenen Rolle des Parlaments im Bereich der Außenpolitik siehe nur Kempen (Fn. 15), Rn. 39. 383 Anders mag es sich beim parlamentsgesetzlich sanktionierten Einstieg in Großtechnologie verhalten – siehe dazu beispielsweise Dreier (Fn. 91), Rn. 78. 384 Hierzu oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419. 385 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453. 386 Eingehend hierzu oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (2) = S. 453.

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lamentarischer Normsetzung unerfasst bleiben. Das insofern vom Grundgesetz vorgezeichnete Normalmaß lässt zwar eine personelle Legitimation durch die nur mittelbar volksberufene Exekutive genügen, sieht aber neben der materiell-direktiven Legitimation noch einen leistungsstarken materiell-kontrollativen Legitimationsbeitrag vor387. Dieses Legitimationsniveau wird nun freilich wiederum schon bei den nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG legitimierten, vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts unterschritten: Zwar beschränkt sich die Legitimationseinbuße insofern auf den Bereich der materiell-kontrollativen Legitimation, die sich bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts in Hinblick auf den dadurch verursachten fait accompli und wegen des Zusammenwirkens mehrerer Völker als weniger wirkkräftig erweist388. Doch auch wenn das legitimatorische Minus nicht zusätzlich auch den Bereich personeller demokratischer Legitimation erfasst und insofern geringer ausfällt als im Geltungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung, bleibt es dennoch klar erkennbar. EG-Normsetzungsakte, die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, erreichen indes nicht einmal den insofern von Art.  59  GG in dezisionärer Hinsicht vorgegebenen Grad demokratischer Abgeleitetheit, selbst wenn die legitimatorische Diskrepanz in diesem Fall geringer ausfällt als bei vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EG-Normsetzungsakten. Mithin unterschreiten die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung nicht erfassten EGNormsetzungsakte erst recht das insoweit für rein innerstaatliche Normsetzungsakte geltende Legitimationsniveau. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass dieser Legitimationsabfall quantitativ geringer ausfällt als bei EG-Normsetzungsakten, die dem Parlamentsvorbehalt unterfallen. Für den in dezisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit ist demnach bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungs­akten von einer massiven Abweichung vom grundgesetzlich an sich vorgezeichneten demokratischen Normalmaß auszugehen. Verfassungsrechtlich wird sich dies nur ganz partiell noch rechtfertigen lassen. Denn, wie schon dargelegt, kommt der Struktur- und Zielnorm der Demokratie im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte nur ausnahmsweise rechtfertigende Wirkung zu389. Desgleichen vermag der Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten eines überstaatlichen Hoheitsverbands mit Rücksicht auf die doch massive Legitima­ tionseinbuße lediglich im Hinblick auf diejenigen Normsetzungsakte eine aus­ reichende rechtfertigende Kraft zu entfalten, die auf Normsetzungsermächtigungen beruhen, die aus der Konstruktionsphase der EG stammen390. In diesen 387

Oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741. Oben Kapitel 10 III. 2. c) ee) = S. 822. 389 Siehe oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. 390 Ebd. Vgl. dazu auch Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Fiedler / ders. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Geck, 1989, S. 625 (679). 388

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besonderen Fällen kann dabei gerade auch deshalb (noch) von einer hinreichenden Rechtfertigung ausgegangen werden, weil diese Normsetzungsakte in den Bereich der im weiteren Sinne marktbezogenen Gemeinschaftspolitiken fallen und infolgedessen stärker als andere potenziell marktinterventionistische Normsetzungs­ akten über das immerhin auch parlamentsgebilligte Primärrecht materiell-direktiv legitimiert werden.

e) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Auf rein innerstaatliche Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasst sind, führt von Grundgesetzes wegen zumindest hälftig ein an die alleinige Änderungsbefugnis des Parlaments anknüpfender revisionärer Legitimationszusammenhang zurück391. Dies bedeutet, dass diese Normsetzungsakte jedenfalls hälftig in einfach vermittelter personeller und materiell-kontrollativer Legitimation erwachsen. Ihr Legitimationsniveau erweist sich insofern nicht nur in Hinblick auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit, sondern – wegen des spezifischen Charakters des insoweit letzten Legitimationsmittlers – auch in puncto Wirkkraft als vergleichsweise hoch. Als Richtwert ist dieses relativ hohe Legitimationsniveau auch für potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte grundgesetzlich maßstäblich, sofern sie ihrerseits dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Allerdings prägt EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht ein durchweg höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit. So ist hinsichtlich des personellen Legitimationsstrangs zu berücksichtigen, dass selbst insoweit, als eine Nichtrevisionsentscheidung allein nach Maßgabe von Art. 48 EUV an den Volkswillen rückgebunden ist, der Bundestag allenfalls eine partielle, nämlich gemeinsam mit der Regierungsexekutive auszuübende Revisionsmacht besitzt392. Nun kann es zwar durchaus auch im Rahmen der rein innerstaatlichen Normsetzung vorkommen, dass das Parlament einen Normsetzungsakt nur gemeinsam mit einem exekutiven Gremium, nämlich dem Bundesrat, zu revidieren vermag393. Indes reicht die im Rahmen der Vertragsänderungsbestimmungen in revisionärer Hinsicht generierte personelle Legitimation selbst dann nicht an die heran, die einen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten 391

Oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) (2) = S. 733. Dass im Rahmen von Art. 48 EUV zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge verfangen und einer auf die gesamthänderisch von Regierung, Bundestag und Bundesrat ausgeübte Revisionsbefugnis zurückführt, soll aus den genannten Gründen hier noch ausgeblendet und erst an späterer Stelle gewürdigt werden. 393 Zum Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung siehe oben Kapitel 10 III. 1. i) = S. 779. 392

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rein innerstaatlichen Normsetzungsakt prägt, wenn dieser dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfällt. Dies hängt damit zusammen, dass im Rahmen der Vertragsänderungsbestimmungen die Revisionsmacht schwerpunktmäßig von der mit den Vertragsverhandlungen betrauten Exekutive ausgeübt wird394, wohingegen hinsichtlich der rein innerstaatlichen Normsetzungsakte dem Parlament weiter­ gehende Revisionsbefugnisse zustehen als dem Bundesrat395. Hinzu kommt, dass der für EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit ohnedies nur partiell von dem Legitimationsniveau geprägt wird, das im Rahmen des an Art. 48 EUV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhangs generiert wird. Denn deren Grad demokratischer Abgeleitetheit richtet sich daneben immer auch nach der Leistungsstärke jener Legitimationsbeiträge, die im Rahmen der an die Revisionsmacht der EG-Organe anschließenden revisionären Legitimationszusammenhänge verfangen396. Die insofern generierte personelle Legitimation liegt freilich allein schon deswegen durchweg unterhalb des grundgesetzlichen Normalmaßes, weil sie aus Sicht des hier diskutierten Legitimationsmodells niemals unmittelbar von einem Parlament herrührt. Infolgedessen mangelt es ihr an der Leistungsstärke, die ihr sowohl in Ansehung der niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit als auch in puncto Wirkkraft eignete, wenn ein Parlament als ihr letzter Mittler figurierte397. Dass bei EG-Normsetzungsakten der Grad demokratischer Abgeleitetheit überschritten wird, wie er für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste rein innerstaatliche Normsetzungsakte grundgesetzlich maßgeblich ist, gilt nun freilich nicht nur hinsichtlich der personellen, sondern auch bezüglich der materiell-kontrollativen Legitimation. Denn zum einen erweist sich im Fall der EG-Normsetzungsakte die materiell-kontrollative Legitimation deswegen als im Vergleich weniger leistungsstark, weil sie in lediglich sehr geringem Umfang unmittelbar, also letztinstanzlich, vom Parlament vermittelt wird – nämlich nur insoweit, als der in regelmäßigen Abständen durch Volkswahl neu zu bestellende Bundestag an der Vertragsänderungsmacht nach Art. 48 EUV partizipiert398. Zum anderen erweist sich bei EG-Normsetzungsakten die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation – wie bei den nach Art. 59 GG innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts399, aber eben zugleich in deutlicher Abweichung zur Situation bei den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten – allein schon dadurch erheblich beeinträchtigt, dass EG-Normsetzungsakte wegen ih 394 Zum „gewissen ‚Vorrang‘“ der Exekutive im Bereich der auswärtigen Gewalt siehe Weber, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Bd. 2, 2002, Art. 59 Abs. 2 Rn. 34. 395 Insbesondere ist die Aufhebung eines zustimmungsbedürftigen Gesetzes zustimmungsfrei (BVerfGE 14, 208 [219 f.]). 396 Siehe oben Kapitel 11 II. 1. d) = S. 929. 397 Allgemein zur besonderen Leistungsstärke der vom Parlament herrührenden Legitimationsbeiträge siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 398 Siehe oben Kapitel 11 II. 1. e) = S. 931. 399 Dazu oben Kapitel 10 III. 2. c) ee) = S. 822.

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rer erschwerten Revisibilität eine Art fait accompli begründen. Hingegen lässt sich der deutliche Unterschied im Niveau materiell-kontrollativ vermittelter revisionärer Legitimation nicht schon darauf zurückführen, dass EG-Normsetzungsakte durch das einer effektiven Kontrolle abträgliche Zusammenwirken unterschiedlicher Völker geprägt sind. Denn zumindest dann, wenn die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte nur mit Zustimmung des Bundesrats in Wirkung erstarken können, kommt es zu einer vergleichbaren legitimatorischen Abschwächung. Damit bestätigt sich, dass EG-Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterliegen, das für vergleichbare rein innerstaat­ liche Normsetzungsakte geltende Niveau revisionärer Legitimation deutlich unterschreiten. Im Ergebnis Ähnliches gilt für EG-Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht unterfallen. Denn das Grundgesetz geht für rein innerstaatliche Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, davon aus, dass ihnen revisionäre Legitimation zum einen im Rahmen der Änderungsbefugnis des Verordnungsgebers und zum anderen aufgrund des parlamentarischen Zugriffsrechts zuwächst400. Den dadurch realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit überschreiten EGNormsetzungsakte erkennbar. Um dies zu belegen, soll zunächst die personelle Legitimation der EG-Normsetzungsakte in den Blick genommen werden. Zwar lässt sich diese, soweit sie aufgrund der Revisionsbefugnisse der EG-Organe Platz greift, durchaus mit derjenigen vergleichen, die bei Rechtsverordnungen gemäß Art. 80  GG an die Änderungsbefugnisse des Verordnungsgebers anschließen. Jedoch wird das bei EGNormsetzungsakten verwirklichte Niveau personeller Legitimation auch durch den an Art. 48 EUV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang geprägt. Insofern freilich zeichnet die den EG-Normsetzungsakten zuwachsende personelle Legitimation ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit aus, als dies bei den Rechtsverordnungen nach Art. 80 GG aufgrund des legislativen Zugriffsrechts der Fall ist. Denn wiewohl das nationale Parlament im Rahmen des Vertragsänderungsverfahrens gegebenenfalls auch auf die EG-Normsetzungsakte zugreifen kann, vermag es dies, wie dargelegt401, nur im Zusammenspiel mit der Exekutive, der dabei eine größere Entscheidungsmacht zukommt, als sie ihr im Rahmen innerstaatlicher Normgebung selbst im Fall der Zustimmungsgesetz­ gebung jemals zusteht. Auch die materiell-kontrollative Legitimation, die einem EG-Normsetzungsakt in revisionärer Hinsicht zuwächst, bleibt hinter derjenigen zurück, die das Grundgesetz für vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierte Normsetzungsakte rein innerstaatlicher Provenienz vorsieht. Dies wird deutlich, wenn man die 400

Oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (2) = S. 746. Oben Kapitel 11 II. 1. d) = S. 929.

401

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beiden auf eine Rechtsverordnung zurückführenden revisionären Legitimationsstränge mit den beiden vergleicht, an denen ein EG-Normsetzungsakt jedenfalls hängt: Die materiell-kontrollative Legitimation, die einer Rechtsverordnung gemäß Art. 80 GG aufgrund des sie insgesamt erfassenden parlamentarischen Zugriffsrechts zuwächst, weist schon deshalb eine höhere Wirkkraft auf als diejenige, die einen EG-Normsetzungsakt infolge der ihn gleichfalls in toto erfassenden Änderungsbefugnis nach Art. 48 EUV prägt, weil sie in größerem Umfang unmittelbar vom Parlament vermittelt wird. Die materiell-kontrollative Legitimation, die eine Rechtsverordnung gemäß Art. 80 GG im Rahmen der sie bloß partiell erfassenden exekutiven Abänderungsbefugnis kennzeichnet, erreicht ihrerseits deshalb ein höheres Legitimationsniveau als der materiell-kontrollative Legitimationsbeitrag, der einen EG-Normsetzungsakt aufgrund der ihn ebenfalls nur eingeschränkt erfassenden Revisionsmöglichkeit der EG-Organe charakterisiert, weil sich in der zuletzt erwähnten Konstellation die materiell-kontrollative Legitimation dadurch beeinträchtigt sieht, dass sich der EG-Normsetzungsakt wegen seiner erschwerten Revisibilität als fait accompli darstellt. Nach allem ist damit auch hinsichtlich des Niveaus revisionärer demokratischer Legitimation davon auszugehen, dass potenziell marktinterventionistische EGNormsetzungsakte das orientierungshalber vorgegebene grundgesetzliche Normalmaß deutlich unterschreiten. Rechtfertigen lässt sich dies nur innerhalb der engen Grenzen, wie sie bereits in Hinblick auf das Ausmaß exklusiv-perpetueller demokratischer Legitimation402 sowie das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materieller Legitimation403 aufgezeigt worden sind.

f) Hinreichende demokratische Legitimation trotz Mitentscheidungsmacht der Bundesländer an der EG-Normsetzung Sämtliche Kategorien von EG-Normsetzungsakten weisen einen Grad demokratischer Abgeleitetheit auf, der über dem liegt, den das Grundgesetz an sich für sie vorsieht. Im Folgenden wird nun zunächst dargetan, dass ihr insofern ohnehin schon unter das grundgesetzliche Normalmaß abgesunkenes Legitimationsniveau noch weiter abfällt, soweit die Bundesländer am EG-Normsetzungsprozess mitentscheidend beteiligt sind404. Darin liegt ein grundgesetzlich beachtliches Demokratieproblem, selbst wenn die fraglichen bundesrätlichen Mitentscheidungsbefugnisse unmittelbar im Grundgesetz normiert sind und auch das durch grundgesetzliche Einzelbestimmungen determinierte Normalmaß demokratischer Legitimation mitunter durch Legitimationseinbußen geprägt wird, die der Mitentscheidungsmacht der Bundesländer zuzuschreiben sind405. Diese grundgesetzlich 402

Oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. Oben Kapitel 11 II. 2. d) = S. 954. 404 Siehe unten Kapitel 11 II. 2. f) aa) = S. 961. 405 Siehe unten Kapitel 11 II. 2. f) bb) = S. 963.

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relevanten Legitimationseinbußen erweisen sich indes zumindest in Ansehung des Bundesstaatsprinzips als grundgesetzlich gerechtfertigt406.

aa) Absenkung des Legitimationsniveaus von EG-Normsetzungsakten bei Mitentscheidungsmacht der Bundesländer Die Bundesländer vermögen, wie dargelegt, auf dreierlei Weise entscheidenden Einfluss auf die EG-Normsetzung zu nehmen. Erstens kann das Primärrecht im praktischen Regelfall nur mit Zustimmung des Bundesrats erlassen oder abgeändert werden407. Zweitens hat die Bundesregierung in den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG die Auffassung des Bundesrats maßgeblich zu berücksichtigen408. Drittens muss bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art.  23 Abs.  6 Satz  1  GG ein Vertreter der Länder mit der Wahrnehmung der deutschen Ratsbefugnisse betraut werden409. Von dieser verschiedengestaltigen Einbindung der Bundesländer in die EG-Normsetzung bleibt zwar das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation unberührt. Der Grad demokratischer Abgeleitetheit indes steigt typischerweise an: Zumindest gegenwärtig beruhen EG-Normsetzungsakte durchweg auf solchen primärrechtlichen Bestimmungen, an deren Ingeltungsetzung der Bundesrat entscheidend mitgewirkt hat410. Sie weisen daher in dezisionärer Hinsicht ein niedrigeres Niveau materiell-direktiver Legitimation auf, als wenn den Bundesländern eine solche Kodezisionsmacht nicht zustünde. Denn dann würde der materielldirektive Legitimationsstrang stärker vom Parlament geprägt und erfolgte die materiell-direktive Legitimation teilweise auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit. Des Weiteren werden EG-Normsetzungsakte aufgrund von Art. 48 EUV nicht nur – und sogar zum kleineren Teil – über den an die Revisionsbefugnis von Bundesregierung und Bundestag anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang rückgekoppelt; daneben existiert der damit inkongruente, an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat anschließende revisionäre Legitimationszusammenhang411. Im Rahmen dieses zweiten revisionären Legitimationszusammenhangs wächst den EG-Normsetzungsakten indes ein geringeres Maß an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation zu. Denn die im Vergleich geringere Einflussmacht des Parlaments hat zur Konsequenz, 406

Siehe unten Kapitel 11 II. 2. f) cc) = S. 965. Vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 (dazu Jarass [Fn. 267], Rn. 16 ff.) sowie oben Kapitel 11 I. 1. = S. 866. 408 Dazu Hobe (Fn. 34), Rn. 74 und oben Kapitel 11 I. 2. a) aa) = S. 872. 409 Dazu Streinz (Fn. 30), Rn. 114 ff. und oben Kapitel 11 I. 2. a) bb) = S. 874. 410 Die Gemeinschaftsverträge sowie die Änderungsverträge hierzu sind allesamt dem Bundesrat zur Zustimmung zugeleitet worden. 411 Oben Kapitel 11 II. 1. d) = S. 929. 407

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dass die in diesem revisionären Legitimationszusammenhang verfangende personelle und materiell-kontrollative Legitimation teilweise auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt und zum Teil eine geringere Wirkkraft aufweist. Für den Hoheitsakt insgesamt bedeutet dies, dass ihn in revisionärer Hinsicht ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit charakterisiert, als wenn er nur durch den an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Regierung und Parlament anknüpfenden Legitimationszusammenhang geprägt wäre. In der Konstellation des Art.  23 Abs.  5 Satz  2  GG ergibt sich in dezisionärer Hinsicht eine relative Legitimationseinbuße dann, wenn die Landesregierungen nicht den jeweiligen Regierungschef, sondern einen oder mehrere Minister in die Bundesratssitzung entsandt haben, in der die für die Bundesregierung verbindliche Stellungnahme beschlossen wird. Denn in diesem Fall wird die dreifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation, die von dem als Rats­mitglied fungierenden Bundesminister herrührt, zugunsten einer vierfach vermittelten materiell-direktiven Legitimation zurückgedrängt412. Da der Stufe demokratischer Vermitteltheit Vorrang vor der Wirkkraft der spezifischen Legitima­ tionsbeiträge zukommt413, führt die bundesrätliche Stellungnahme folglich zu einem legitimatorischen Minus. In revisionärer Hinsicht ergibt sich der Legitimationsabfall in den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG daraus, dass dem Bundesrat auch in seiner Zusammensetzung aus Landesministern (Ko-)Revisionsmacht zukommt. Denn der so zusammengesetzte Bundesrat kann die Bundesregierung im Wege der Stellungnahme dazu zwingen, im Rat auf eine Revision von EG-Normsetzungsakten hinzuwirken414. Dies führt nun zwar nicht schon in Ansehung der Stufe demokratischer Vermitteltheit zu einem Minus an demokratischer Legitimation. Denn wenn die revisionäre Legitimation statt an die Korevisionsmacht des Bundesrats an die des Bundesministers anknüpft, so erfolgt die personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimation auch in diesem Fall auf der dritten Stufe demokratischer Legitimation. Allerdings erweist sich die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation als schwächer, soweit die revisionäre Legitimation nicht vom Bundesminister, sondern von dem mit Landesministern besetzten Bundesrat vermittelt wird. Denn in diesem Fall rührt die materiell-kontrollative Legitimation von einer Völkermehrheit her, was die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation mindert415. Im Fall des Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG kommt es selbst dann in dezisionärer Hinsicht zu einem Legitimationsabfall, wenn die Landesregierungen durchweg ihren 412 Abweichendes ergibt sich freilich dann, wenn statt eines Ministers dessen Staatssekretär als Ratsmitglied agiert. In diesem Fall kann ein Legitimationsabfall selbst dann nicht ausgemacht werden, wenn die Stellungnahme auf einer von Landesministern sanktionierten Bundesratsentscheidung basiert. 413 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. 414 Zu dieser Form revisionärer Legitimation oben Kapitel 6 I. 2. b) aa) = S. 297. 415 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455

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jeweiligen Regierungschef in die Bundesratssitzung entsandt haben, in der der Vertreter der Länder benannt wird. Zwar ist die personelle und materiell-kontrollative Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten über einen in dieser Weise benannten Ländervertreter zuwächst, auf derselben Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt, wie wenn ein Bundesminister als Ratsvertreter fungiert. Jedoch kommt der vom Ländervertreter vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation in Hinblick darauf, dass die Kontrollzusammenhänge auf mehrere Völker zurückführen, eine geringere Wirkkraft zu416. Dasselbe Argument lässt sich in Hinblick auf den in revisionärer Hinsicht generierten Grad demokratischer Abgeleitetheit anführen. Zwar bricht sich über die (Ko-)Revisionsmacht des Ländervertreters nicht notwendig eine höherstufige personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimation Bahn, als dies im Rahmen der (Ko-)Revisionsmacht des als Ratsvertreter fungierenden Bundes­ ministers der Fall ist. Doch ist die vom Ländervertreter in revisionärer Hinsicht vermittelte materiell-kontrollative Legitimation jedenfalls weniger wirkkräftig.

bb) Die Absenkung des Legitimationsniveaus als grundgesetzliches Demokratieproblem Ist somit dargelegt, dass das ohnehin schon unterhalb des grundgesetzlichen Normalmaßes angesiedelte Legitimationsniveau der EG-Normsetzungsakte durch die kodezisive Mitwirkung der Bundesländer typischerweise noch weiter abgesenkt wird, so drängt sich zunächst die Frage auf, ob dies aus Sicht der europa­ spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes überhaupt ein Problem darstellt. Diese Frage stellt sich in zweierlei Hinsicht. So ist zum einen zweifelhaft, ob ein durch die kodezisive Mitwirkung der Bundesländer bedingtes Legitimationsdefizit überhaupt am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden kann. Denn schließlich beruhen die betreffenden Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß auf dem Grundgesetz selbst, nämlich auf Art. 23 GG. Zum anderen bleibt zu überlegen, ob auch bei wertender Betrachtung davon ausgegangen werden kann, dass durch die bundesrätliche Mitwirkung an der EG-Normsetzung das grundgesetzlich an sich vorgesehene Normalmaß zusätzlich unterschritten und dadurch in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 GG weiterer Rechtfertigungsbedarf ausgelöst wird. Immerhin sehen, wie dargetan, auch die für Gesetze, Rechtsverordnungen und völkerrechtliche Verträge geltenden grundgesetzlichen Einzelbestimmungen verschiedentlich Vorbehalte bundesrätlicher Zustimmung vor, wenn Länderbelange erheblich betroffen sind417. Daher könnten sich die beschriebenen Legitimationseinbußen in grundgesetzlicher Perspektive letztlich doch als normal erweisen, wenn das Niveau demokratischer Legitimation durch die Mitwirkung des Bundesrats an Erlass 416

Ebd. Siehe dazu nur Blumenwitz, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd.  7, Stand: September 2007, Art. 50 Rn. 17 ff. und oben Kapitel 10 III. 1. i) = S. 779. 417

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und Revision von EG-Normsetzungsakten nicht stärker beeinträchtigt würde, als dies der Fall ist, wenn der Bundesrat Erlass und Revision von formellen Gesetzen, Rechtsverordnungen und völkerrechtlichen Verträgen mitbeherrscht. Dass sich die durch die Kodezisionsmacht der Bundesländer bedingte Absenkung des Niveaus personeller beziehungsweise materieller Legitimation am Maßstab der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes messen lässt, obgleich die fragliche Kodezisionsmacht in Art.  23  GG und mithin in der Verfassung selbst normiert ist, begründet sich aus einem doppelten Umstand: So ist erstens zu berücksichtigen, dass Art.  23  GG nachträglich ins Grundgesetz ein­ gefügt worden ist418; zweitens ist zu erinnern, dass sich die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes in den umfänglich von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Demokratieanforderungen des Art.  20 Abs.  2  GG erschöpft419. Insofern könnte es sich bei den in Rede stehenden bundesrätlichen Mitwirkungsbefugnissen um verfassungswidriges Verfassungsrecht420 handeln  – und zwar wegen Verstoßes gegen die normhierarchisch übergeordnete421, (auch) europabezogene Demokratienorm aus Art. 20 GG, die in keinem ursprünglichen, ihren Regelungsgehalt notwendig mitprägenden systematischen Zusammenhang mit Art. 23 GG steht. Des Weiteren ist festzustellen, dass die durch die Kodezisionsmacht der Bundesländer bedingte Absenkung des Niveaus personeller beziehungsweise mate­ rieller Legitimation über das hinaus geht, was mit Rücksicht auf die im Grund­ gesetz verankerten bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalte als normal angesehen werden könnte. So erlangt der Bundesrat in den Konstellationen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und 23 Abs. 6 GG eine Einflussmacht, die deutlich über die hinausgeht, die die grundgesetzlichen Zustimmungsvorbehalte422 vermitteln. Denn die Zustimmungsvor­ behalte bedeuten, dass dem Bundesrat allenfalls die Hälfte der Einflussmacht zukommt423. In den Fällen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und 23 Abs. 6 GG indes kommt dem Bundesrat eine sehr viel umfassendere Entscheidungsmacht zu. Dement­ sprechend wird ein EG-Normsetzungsakt, der unter den Verfahrensbedingungen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG und / oder Art. 23 Abs. 6 GG legitimiert wird, auch in entsprechend stärkerem Maße von der über den Bundesrat vermittelten relativ leistungsschwachen personellen beziehungsweise materiellen Legitimation geprägt und sinkt sein Legitimationsniveau folglich stärker ab, als das Grundgesetz dies in Gestalt der bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalte vorgibt. 418

Zur Entstehungsgeschichte etwa Streinz (Fn. 30), Rn. 1 ff. Dazu eingehend oben Kapitel 10 I. 2. = S. 692. 420 Dazu allgemein Lücke / Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. Art. 79 Rn. 83. 421 Vgl. hierzu Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 5 III 2.  422 Hierzu allgemein Lücke / Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art.  77 Rn. 2 und 13 ff. 423 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) bb) = S. 733. 419

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Anders verhält es sich insofern, als das EG-Normsetzungsakten eigene Niveau personeller und materieller Legitimation dadurch gemindert ist, dass der Bundesrat über die innerstaatliche Rezeption des Primärrechts mitentscheidet. Denn insofern beruht das Legitimationsdefizit auf einem Zustimmungsvorbehalt, wie er sich vergleichbar auch ansonsten im Grundgesetz findet424. Das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß personeller und materieller Legitimation wird freilich insofern überschritten, als im Rahmen der EG-Normsetzung ein solcher Zustimmungsvorbehalt ausnahmslos vorgesehen ist und eben nicht nur in ausgesuchten Konstellationen. Soweit sich der Zustimmungsvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG auf Regelungen erstreckt, für die das Grundgesetz keine bundesrätliche Zustimmung voraussetzt, unterschreitet ein derartige Regelungen enthaltender EG-Normsetzungsakt auch in Hinblick auf die ihm im Rahmen des Primärrechts zuwachsende personelle und materielle Legitimation das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß.

cc) Rechtfertigung der aufgrund der Mitentscheidungsmacht der Bundesländer zu verzeichnenden Einbußen an personeller und materieller Legitimation Soweit EG-Normsetzungsakte das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß personeller und materieller Legitimation deshalb verfehlen, weil gemäß Art.  23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG die Bundesländer entscheidend an der EG-Normsetzung mitwirken, kann dies in Hinblick auf das Bundesstaatsprinzip gerechtfertigt werden. Dem lässt sich nicht schon entgegenhalten, was an früherer Stelle klargestellt wurde425, nämlich dass dem Bundesstaatsprinzip im Rahmen des Modells mittelbarer Demokratie grundsätzlich kein Rechtfertigungspotenzial zukommt. Denn selbstverständlich ist ein Rekurs auf diesen Rechtfertigungsgrund im Rahmen des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation nur insoweit ausgeschlossen, als das Zusammenwirken mehrerer Völker nicht in die Erzeugung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität einmündet426. Folglich kommt dem Bundesstaatsprinzip im Modell der mittelbaren Legitimation zwar insoweit keine rechtfertigende Wirkung zu, als es die Abschwächung der Einflussmacht des deutschen Staatsvolks zugunsten anderer mitgliedstaatlicher Völker zu legitimieren gilt. Anders verhält es sich jedoch, wenn in den Fällen des Art. 23 GG Bundesstaatsvolk und Landesvölker zusammenwirken. Insoweit wird nämlich staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität generiert. Dies gilt speziell auch für den problematischen

424

Vgl. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem in enumerierten Fällen greifenden bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt sowie Art. 79 Abs. 2 GG. 425 Oben Kapitel 11 I. 4. a) cc) = S. 909. 426 Siehe oben Kapitel 10 III. 5. c) = S. 854.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Fall des Art. 23 Abs. 6 GG427. Infolgedessen lassen sich etwaige Legitimationseinbußen, die sich aus der Kodezisionsmacht der Bundesländer im Rahmen der EG-Normsetzung ergeben, auch durchaus unter Rückgriff auf das Bundesstaatsprinzip rechtfertigen. Um zu begründen, weshalb das Bundesstaatsprinzip in den hier interessierenden Fällen als Rechtfertigungsgrund durchgreift, muss zwischen einerseits den durch Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG, andererseits den durch Art. 23 Abs. 1 Satz  2 und 3  GG bedingten Legitimationseinbußen differenziert werden. Denn die durch Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG bedingten Legitimationseinbußen lassen sich gleich in dreifacher Hinsicht bundesstaatlich rechtfertigen. So setzen Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG tatbestandlich voraus, dass gliedstaatliche Interessen und Belange nachhaltig tangiert sind, und sehen auf der Rechtsfolgenseite eine stärkere Beteiligung der Länder vor. Die durch Art.  23 Abs.  5 Satz  2 und Abs. 6 GG bedingten Legitimationseinbußen lassen sich demgemäß erstens dadurch bundesstaatlich rechtfertigen, dass sie auf einem institutionell-organisatorischen Arrangement beruhen, das eine stärkere Berücksichtigung spezifisch gliedstaatlicher Interessen und Belange im Rahmen der gesamtstaatlichen Hoheitstätigkeit bezweckt428. Zweitens dient das durch Art.  23 Abs.  5 Satz  2 und Abs. 6 GG begründete institutionell-organisatorische Arrangement aber auch der Stabilisierung des föderativen Gesamtgefüges. Denn dadurch wächst auf Seiten der Länder die Bereitschaft, dem Bund in seiner Entscheidung für eine euro­ päische Integration zu folgen, die ihrerseits mit einem Verlust gerade auch gliedstaatlicher Handlungsspielräume verbunden ist429. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Bundesstaatsprinzip also rechtfertigende Wirkung zu. Drittens ist schließlich zu berücksichtigen, dass Art.  23 Abs.  5 Satz  2 und Abs.  6  GG maßgeblich dazu beitragen, den durch die Europäisierung deutlich erhöhten Koordinationsbedarf in einer die föderativen Strukturen schonenden Weise zu bewältigen430. Was die durch die bundesrätliche Mitwirkung nach Art.  23 Abs.  1  GG bedingten Legitimationseinbußen anbelangt, so ist zu berücksichtigen, dass Art. 23 Abs.  1  GG nur partiell als institutionell-organisatorisches Arrangement qualifiziert werden kann, das eine stärkere Berücksichtigung spezifisch gliedstaatlicher Interessen und Belange bezweckt. Denn anders als Art.  23 Abs.  5 Satz  2 und Abs.  6  GG gilt Art.  23 Abs.  1  GG auch in Konstellationen, in denen ausschließlich Interessen und Belange des Bundes betroffen sind. Dies bedeutet aber nicht, dass sich die Legitimationseinbußen in diesen Fällen nicht durch das Bundesstaatsprinzip rechtfertigen ließen. Schließlich wird gerade auch die durch 427

Siehe oben Kapitel 11 I. 2. a) bb) = S. 874. Dazu allgemein Zippelius / Würtenberger (Fn. 421), § 56 VII 3.  429 Zum Kompensationscharakter der Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrats etwa Rojahn (Fn. 52), Rn. 55. 430 Dazu etwa Hobe (Fn. 34), Rn. 56. 428

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Art.  23 Abs.  1  GG verankerte Beteiligung des Bundesrats an Erlass und Revision des Primärrechts431 dazu beitragen, dass die Länder die deutscherseits im Wesentlichen vom Bund gestaltete europäische Integration akzeptieren und dadurch der föderative Zusammenhalt innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gewahrt bleibt432; auch lässt sich Art. 23 Abs. 1 GG als institutionell-prozedurales Arrangement deuten, das der effektiven Bewältigung des nicht zuletzt im europäischen Kontext massiv gestiegenen Koordinationsbedarfs dient, und dies bei größtmöglicher Schonung der föderalen Struktur433. Jedenfalls vor diesem Hintergrund erweist es sich als bundesstaatlich gerechtfertigt, wenn EG-Normsetzungsakte aufgrund des durch Art. 23 GG entbundenen institutionell-organisatorischen Arrangements den durch grundgesetzliche Einzelbestimmungen vorgezeichneten ‚normalen‘ Grad demokratischer Abgeleitetheit überschreiten.

III. Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit Der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit ist bei EG-Normsetzungsakten relativ groß. Zumindest bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation hat dies für einen Großteil der potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte zur Konsequenz, dass sie mit der europaspezifischen Demokratienorm nicht länger in Einklang stehen.

1. Bestandsaufnahme Durchweg alle EG-Normsetzungsakte werden schon in dezisionärer Hinsicht von der revisionär bedingten Störungsanfälligkeit erfasst. Schließlich werden sämtliche EG-Normsetzungsakte zumindest durch das Primärrecht determiniert434 und erweisen sich infolgedessen, soweit diese materielle Direktive reicht, als von revisionär bedingter Störungsanfälligkeit geprägt. Die an die Abänderbarkeit des Primärrechts anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge, aufgrund derer die für die dezisionäre Legitimation maßgeblichen materiellen Direktiven demokratisch rückgebunden werden, ent 431 Darin liegt eine wesentliche Änderung gegenüber der vor Inkrafttreten des neuen Art. 23 GG geltenden Rechtslage – vgl. nur Rojahn (Fn. 52), Rn. 43. 432 Eindrücklich dazu der Wortbeitrag von Minister Dr. Schnoor (Nordrhein-Westfalen) in der 2. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 13.02.1992 (in: Deutscher Bundestag [Hrsg.], Materialen zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung, 1996, S. 227 f.). 433 Dazu Minister Kaesler (Sachsen-Anhalt) in der 2. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 13.02.1992 (in: Deutscher Bundestag [Hrsg.], Materialen zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung, 1996, S. 223 f.). 434 Durchführungsrecht wird außerdem noch durch das Sekundärrecht determiniert – siehe hierzu nur König (Fn. 313), Rn. 82.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

puppen sich dabei aus den folgenden Gründen als recht störungsanfällig: Zum einen wird die Revisionsmacht von einer Mehrheit von Völkern ausgeübt. Denn soweit die deutsche Korevisionsmacht bei Bundesregierung und Bundestag liegt, wirkt das deutsche Volk mit den nationalen Staatsvölkern der anderen Mitgliedstaaten zusammen; soweit die deutsche Korevisionsmacht bei Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat zu verorten ist, kooperiert es zusätzlich noch mit den deutschen Landesstaatsvölkern. Schon dies erhöht die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit435  – und zwar ungeachtet dessen, dass das deutsche Volk aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation nur mit seinen eigenen Gliedstaaten, nicht aber mit den anderen mitgliedstaatlichen Staatsvölkern und deren Gliedstaaten in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt. Zum anderen erhöht sich die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit dadurch, dass im Rahmen von Art. 48 EUV die mitgliedstaatlichen Völker ihre Korevisionsmacht jeweils durch Organmehrheiten ausüben. Die Zunahme revisionär bedingter Störungsanfälligkeit wird nämlich auch im Modell mittelbarer Legitimation nicht etwa nur durch das organmehrheitliche Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag ausgelöst. Zwar geht es in diesem Modell ausschließlich um die nationaldemokratisch vermittelte Legitimation und deren revisionär bedingte Störungsanfälligkeit. Doch aus den allgemein bereits dargelegten Gründen nimmt die an die Korevisionsmacht des deutschen Volks anknüpfende Legitimation auch dann an Störungsanfälligkeit zu, wenn die Korevisionsmacht der anderen Völker von Organmehrheiten wahrgenommen wird436. Der im Rahmen von Art. 48 EUV Platz greifende revisionäre Legitimationszusammenhang erweist sich mithin deshalb als relativ störungsanfällig, weil nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in den übrigen Mitgliedstaaten die betreffende Korevi­ sionsmacht organ­mehrheitlich von Regierungsexekutive und Parlament ausgeübt wird437. Nun darf zwar ein Strukturaspekt nicht vernachlässigt werden, aufgrund dessen die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit immerhin begrenzt wird, die für die einem EG-Normsetzungsakt durch das Primärrecht zuwachsende materielle Direktive kennzeichnend ist: Die nationaldemokratische Legitimation vermittelnden Korevisionsorgane Bundesregierung, Bundestag und gegebenenfalls 435

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (1) = S. 477. Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) (3) = S. 478. 437 Hingegen wird die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit nicht noch zusätzlich dadurch befördert, dass neben Parlamenten und Regierung teilweise auch noch der Bundesrat sowie die Staatenkammer anderer EU-Mitgliedstaaten an der Vertragsänderungsmacht gemäß Art. 48 EUV teilhaben. Denn das hierdurch an sich bewirkte Mehr an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit ist vorliegend insofern legitimationstheoretisch ‚verbraucht‘, als das Zusammenwirken des deutschen Bundesstaatsvolks mit seinen Landesstaatsvölkern beziehungsweise mit den Gliedstaaten bestimmter EU-Mitgliedstaaten bereits unter dem Gesichtspunkt der Völkermehrheit in Rechnung gestellt worden ist. 436

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Bundesrat stehen im Rahmen von Art. 48 EUV strukturell in einem verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis zur materiellen Direktive, nämlich dem Primärrecht als insoweit legitimationsbedürftigem Hoheitsakt438. Gleichwohl wird man festhalten können, dass die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit, die durchweg alle EG-Normsetzungsakte aufgrund ihrer primärrechtlichen Determinierung in dezisio­närer Hinsicht prägt, einen durchaus beachtlichen Umfang aufweist. Wendet man sich nunmehr dem in revisionärer Hinsicht realisierten Legitimationsniveau zu, so ist zunächst zu berücksichtigen, dass die im Rahmen von Art.  48  EUV bewirkte revisionäre Rückanbindung von EG-Normsetzungsakten noch störungsanfälliger ist als die eben diskutierte revisionäre Legitimation des Primärrechts. Denn zu dem legitimationsmindernden Umstand, dass insofern demokratische Kodezisionsmacht durch eine Volks- beziehungsweise Organmehrheit ausgeübt wird, tritt erschwerend hinzu, dass es an einem verantwortlichkeitsfördernden Näheverhältnis der Revisionsinstanzen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat zum legitimationsbedürftigen Hoheitsakt, nämlich zum EG-Normsetzungsakt, fehlt: Die genannten Revisionsinstanzen werden sich nur selten vergegenwärtigen, dass durch den Verzicht auf die Revision des Primärrechts zugleich fortgesetzt über die Nichtrevision konkreter Sekundärrechtsakte entschieden wird439. Freilich werden EG-Normsetzungsakte nicht nur im Rahmen von Art. 48 EUV an die Korevisionsmacht des deutschen Volks rückgebunden. Sie werden überdies durch zumindest einen weiteren revisionären Legitimationszusammenhang natio­ naldemokratisch rückgekoppelt, nämlich wenigstens durch den, der an die Verfahrensvorschriften über ihren Erlass und mithin auch ihre Abänderung durch EGOrgane anknüpft440. In diesem Kontext indes erfolgt die revisionäre Legitimation störungsfreier als im Rahmen von Art. 48 EUV . Zwar liegt die Revisionsmacht auch insofern bei einer Mehrheit von Völkern. In diesem Zusammenhang ist sogar zusätzlich zu berücksichtigen, dass neben die anderen mitgliedstaatlichen Völker noch die Unionsbürgerschaft tritt. Denn selbst wenn das Unionsvolk aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation als Legitimationssubjekt ausscheidet, ist ein Zusammenwirken mit diesem fremden Volk gleichwohl beachtlich, weil dadurch die allein vom deutschen Staatsvolk ausgehende revisionäre Legitimation störungsanfälliger wird. Des Weiteren bricht sich die Korevisionsmacht der verschiedenen Völker vielfach organmehrheitlich Bahn, nämlich etwa über Rat, Europäisches Parlament und Kommission441,

438

Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) cc) = S. 475. Ebd. 440 Im Fall von Durchführungsrecht schließen sogar (mindestens) zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge an die Revisionsmacht von EG-Organen an. 441 Insbesondere im Mitentscheidungsverfahren – zu diesem Bieber (Fn. 129), § 7 Rn. 23 f. 439

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Rat und Kommission442 oder Kommission und Ausschuss der Staatenvertreter443. Allerdings stehen die revisionsbefugten Instanzen den legitimationsbedürftigen EG-Normsetzungsakten strukturell ungleich näher, als wenn – wie im Rahmen von Art. 48 EUV – die Revisionsinstanzen überhaupt nur mittelbar auf den legitima­ tionsbedürftigen Hoheitsakt zugreifen können. Dies reduziert die Störungsanfälligkeit beträchtlich. Nun erfasst dieser zumindest eine an die Revisionsmacht von EG-Organen anknüpfende Legitimationszusammenhang die EG-Normsetzungsakte nicht vollumfänglich, wie dies bei dem an Art. 48 EUV anschließenden Legitimationszusammenhang der Fall ist. Andererseits aber prägt er die revisionäre Legitimation der EG-Normsetzungsakte in relativ weitem Umfang mit. Denn die primärrecht­ lichen Vorgaben sind typischerweise so weit gefasst444, dass den EG-Organen infolgedessen recht weitgehende Revisionsbefugnisse zukommen. Dies hat aus den im allgemeinen Teil  näher dargelegten Gründen zur Konsequenz, dass der Umfang der Störungsanfälligkeit, der die EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht prägt, deutlich geringer ist, als wenn sie nur über Art. 48 EUV rückgebunden wären445.

2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Will man den für EG-Normsetzungsakte charakteristischen Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit auf seine Grundgesetzkonformität überprüfen, muss einmal mehr zwischen den wesensmäßig marktkonstituierenden und den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten differenziert werden. Denn danach, welcher dieser Kategorien ein EG-Normsetzungsakt zuordenbar ist, bestimmt sich der grundgesetzliche Normalumfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, an dem EG-Normsetzungsakte – jedenfalls im dogmatischen Ausgangspunkt – zu messen sind.

442

Namentlich im Anhörungsverfahren – hierzu Streinz (Fn. 79), Rn. 505 f. Im Regelungsverfahren – vgl. beispielsweise Hummer / Obwexer (Fn. 217), 47. 444 Dies hängt entscheidend mit der finalen beziehungsweise funktionalen Ausgestaltung der Kompetenzvorschriften zusammen – dazu Jarass (Fn. 115), S. 178 ff. 445 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) bb) = S. 473. Allerdings wäre dann der Grad demokratischer Abgeleitetheit höher. Und dieser erweist sich für das Niveau demokratischer Legitimation als bedeutsamer. 443

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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a) Der bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Soweit wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen446, überschreiten sie den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, der grundgesetzlich für die entsprechenden Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorgesehen ist. So erwachsen – allein schon wegen ihrer primärrechtlichen Determinierung – gerade auch die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte bereits dezisionär in revisionär bedingter Störungsanfälligkeit447. Demgegenüber wächst den vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts dem Grundgesetz zufolge keine materielle Direktive zu. Sie werden daher nicht schon in dezisionärer Hinsicht durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit geprägt. Auch in Ansehung der revisionären Legitimationszusammenhänge bestätigt sich, dass EG-Normsetzungsakte in stärkerem Umfang durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit gekennzeichnet sind als innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Denn diese sind unmittelbar an die gemeinsame Revisionsmacht von Exekutive und Parlament rückgebunden und nicht bloß mittelbar, wie dies bei den EG-Normsetzungsakten zumindest im Rahmen von Art. 48 EUV der Fall ist. Allerdings wird der daraus resultierende Unterschied im Umfang revisionärer Störungsanfälligkeit dadurch abgemildert, dass EG-Normsetzungsakte zusätzlich zumindest noch über die Revisionsmacht der bereits für ihren Erlass kompetenten EG-Organe revisionär rückgebunden werden und sich dieser revisionäre Legitimationsstrang als vergleichsweise störungsunanfällig darstellt. Freilich führt dies nicht dazu, dass EG-Normsetzungsakte und die vom Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfassten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte denselben Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit aufwiesen. Zwar sind EG-Normsetzungsakte insoweit, als sie zugleich im Rahmen von Art.  48  EUV und über die EG-Organe an den demokratischen Revisions­ willen rückgebunden werden, sogar ein wenig störungsunanfälliger als die in Rede stehenden völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakte448. Dieses leichte Plus an demokratischer Legitimation vermag jedoch die ungleich größere Legi­ 446 Bei den im Mitentscheidungs-, im Zusammenarbeits- beziehungsweise im Anhörungs­ verfahren ergangenen EG-Normsetzungsakten ist dies die Regel, bei von der Kommission erlassenem Durchführungsrecht hingegen die Ausnahme. 447 Soweit ausnahmsweise Durchführungsrecht im Bereich des absoluten Parlamentsvor­ behalts ergeht, erwachsen diese EG-Normsetzungsakte außer wegen der primär- auch noch wegen der sekundärrechtlichen Determinierung in revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. 448 Zu diesen oben Kapitel 10 III. 2. d) = S. 823.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

timationseinbuße nicht auszugleichen, die insoweit zu registrieren ist, als der EG-Normsetzungsakt immerhin partiell allein im Rahmen von Art. 48 EUV revisionär rückgebunden wird449. Damit bleibt insgesamt festzuhalten, dass EG-Normsetzungsakte, die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung ergehen, das Legitimationsniveau verfehlen, das vom Grundgesetz hinsichtlich des Umfangs revi­ sionär bedingter Störungsanfälligkeit vorgegeben ist. Dasselbe gilt im Ergebnis für EG-Normsetzungsakte, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Allerdings fällt das Legi­ timationsdefizit insofern kleiner aus. Schließlich bestimmt sich das grundgesetz­ liche Normalmaß in diesem Fall nach dem Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, der für normative Verwaltungsabkommen prägend ist. Diese werden ebenfalls schon in dezisionärer Hinsicht durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit geprägt. Freilich erfolgt dies in etwas geringerem Umfang als bei den hier interessierenden EG-Normsetzungsakten. Der Grund hierfür liegt nicht etwa darin, dass die materiellen Direktiven bei den betreffenden EG-Normsetzungsakten weiter reichten als bei normativen Verwaltungsabkommen. Denn hier wie dort handelt es sich um vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierte Normsetzungsakte, sodass in beiden Fällen die materiellen Direktiven alle in doppeltem Sinne wesentlichen Regelungen450 sowie darüber hinaus das grundsätzliche Normsetzungsprogramm enthalten müssen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass den EG-Normsetzungsakten materiell-direktive Legitimation immer zumindest auch über das Primärrecht zuwächst; im Regelfall tritt noch die materiell-direktive Legitimation durch einen Sekundärrechtsakt hinzu451. Insoweit freilich sind die legitimationsbedürftigen materiellen Direktiven ihren Revisionsinstanzen zweifelsohne stärker entrückt, als dies bei den normative Verwaltungs­ abkommen materiell-direktiv legitimierenden Parlamentsgesetzen der Fall ist. Denn die hinsichtlich des primären beziehungsweise sekundären Gemeinschaftsrechts existierende Revisionsmacht wird erstens von der aus den Völkern der EU-Mitgliedstaaten bestehenden Völkermehrheit ausgeübt; zweitens üben die EUMitgliedstaaten ihre diesbezügliche Korevisionsmacht organmehrheitlich aus452. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass normativen Verwaltungsabkommen in dezisionärer Hinsicht ein geringeres Maß an revisionär bedingter Störungs­ anfälligkeit zuwächst als vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakten. 449

Dazu oben Kapitel 11 III. 1. = S. 967. Hierzu oben Kapitel 10 III. 1. f) bb) = S. 769. 451 Denn typischerweise handelt es sich bei den vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakten um Durchführungsrecht  – siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938. 452 Zu diesen Determinanten des Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit siehe oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) = S. 477. 450

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Ein ähnliches Bild ergibt sich in Ansehung der revisionären Legitimation: Soweit ein EG-Normsetzungsakt im Rahmen von Art. 48  EUV und  – im Fall von Durchführungsrecht – zusätzlich noch über dasjenige Verfahrensrecht revisionär rückgebunden wird, das für den Erlass seiner sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm maßgeblich war, ist die insoweit greifende Störungsanfälligkeit qualitativ in etwa der vergleichbar, die normative Verwaltungsabkommen insoweit prägt, als es für ihre Revision eines Vertragsgesetzes bedarf453. Denn in beiden Fällen stehen die als Revisionsinstanz fungierenden Organmehrheiten in einem Verhältnis relativer Distanz zu dem legitimationsbedürftigen Hoheitsakt; sie waren nämlich als solche nicht schon für dessen Erlass zuständig. Qualitativ ähnlich störungsanfällig sind fernerhin auch die revisionären Legitimationsstränge, die von EG-Organen auf von ihnen erlassenen EG-Normsetzungsakte beziehungsweise von der Regierungsexekutive auf das von ihr vereinbarte Verwaltungsabkommen zurückführen. Denn in diesen Fällen besteht ein strukturell vergleichbares Näheverhältnis zwischen Revisionsinstanz und legitimationsbedürftigem Normsetzungsakt. Zu berücksichtigen ist nun freilich zweierlei. Normative Verwaltungsabkommen werden erstens nur insoweit über die für das Zustandekommen eines Vertragsgesetzes maßgeblichen Verfahrensvorschriften revisionär rückgebunden, als nicht schon die Exekutive allein ihre Revision betreiben darf454. Darin liegt ein relevanter Unterschied zur Situation bei den EG-Normsetzungsakten, die auch dort, wo die für ihren Erlass zuständigen EU-Organe revisionsbefugt sind, über die für die Revision von Primär- und gegebenenfalls von Sekundärrecht maßgeblichen Verfahrensarrangements revisionär rückgebunden bleiben. Vor diesem Hintergrund läge an sich der Rückschluss nahe, dass EG-Normsetzungsakte in leicht geringerem Umfang in revisionär bedingter Störungsanfälligkeit erwachsen als normative Verwaltungsabkommen. Schließlich werden sie partiell von mindestens zwei und eben nicht nur von einem revisionären Legitimationszusammenhang erfasst. Jedoch gilt es zweitens zu beachten, dass die hier interessierenden, nämlich vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakte in geringerem Umfang über den störungsunanfälligeren Legitimationszusammenhang rückgebunden werden als normative Verwaltungsabkommen. Denn die fraglichen EG-Normsetzungsakten werden grundsätzlich nur jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts über die bereits für ihren Erlass zuständigen Organe revisionär rückgebunden, wohingegen in Hinblick auf normative Verwaltungsabkommen eine alleinige Revisionsmacht der Exekutive teilweise auch diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts besteht455. Insoweit ist zugunsten der normativen Verwaltungsabkommen in puncto revisionär bedingte Störungsanfälligkeit ein deutliches legitimatorisches Plus anzunehmen. 453

Zu dieser Konstellation oben Kapitel 10 III. 2. d) = S. 823. Siehe dazu nochmals oben Kapitel 10 III. 2. c) cc) (2) = S. 814. 455 Dazu oben Kapitel 10 III. 2. c) cc) (2) = S. 814.

454

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Bei bilanzierender Betrachtung wird man daher tatsächlich zu der Einschätzung gelangen, dass vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene EG-Normsetzungsakte revisionär bedingte Störungsanfälligkeit in jedenfalls etwas größerem Umfang prägt, als dies bei normativen Verwaltungsabkommen der Fall ist. Mithin weichen wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte in Hinblick auf den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit ausnahmslos vom grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß ab. Allerdings ist die Rechtfertigungslücke selbst bei den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EG-Normsetzungsakten nicht allzu groß. Denn der in dezisionärer Hinsicht zu verzeichnende Umfang revisionärer Störungsanfälligkeit ist zwar beachtlich, wird aber gleichwohl vor allem dadurch beschränkt, dass trotz der Verortung der Revisionsmacht bei einer Völker- und Organmehrheit die legitimationsbedürftige Direktive den Revisionsinstanzen Exekutive, Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat nicht gänzlich entrückt ist. In revisionärer Hinsicht erweist sich regelmäßig nur der Teil der fraglichen EG-Normsetzungsakte, der allein nach Maßgabe von Art. 48 EUV an den revisionären Volkswillen rückgebunden ist, als im Vergleich zu den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten störungsanfälliger. Indes ist dieser Teil selbst bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten wegen der auch insofern konstatierbaren Weite der primärrechtlichen Bestimmungen relativ schmal456. Die Demokratielücke, die bei wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten im Geltungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung zu konstatieren ist, kann daher teilweise bereits unter Rekurs auf die Zielnorm der Volkssouveränität geschlossen werden457. Jedenfalls aber greift – mittelfristig  – der rechtfertigende Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands458. Dies gilt wegen des relativ geringen Legitimationsdefizits auch hinsichtlich solcher EG-Normsetzungsakte, die auf Ermächtigungsnormen aus der Konsolidierungsphase der EG stammen459. Erst recht lässt sich dann aber auch das – deutlich kleinere – Demokratiedefizit in die 456

Im Ergebnis nichts anderes gilt für den Ausnahmefall des vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Durchführungsrechts. Zwar ist hier – im Vergleich zu den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten völkerrechtsvertraglichen Normsetzungsakten – auch der Teil der Durchführungsbestimmung störungsanfälliger, welcher außer nach Maßgabe von Art. 48 EUV nur noch im Rahmen derjenigen Verfahrens­vorschriften revidiert werden kann, die für den Erlass der ihm zugrunde liegenden sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm bestimmend waren. Jedoch muss es sich bei der in dieser Weise revisionär rückgebundenen Regelungsfacette gleichfalls um eine vergleichsweise schmale handeln. Schließlich soll es sich bei dem Durchführungsrecht ja um eine ausnahmsweise diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehende Regelung handeln, sodass das ihm zugrunde liegende Sekundärrecht nicht schon selbst alle im doppelten Sinne wesentlichen Sinne treffen beziehungsweise das Normsetzungsprogramm en detail vorgeben kann. 457 Hierzu gilt das oben unter Kapitel 11 I. 4. a) aa) = S. 906 Ausgeführte sinngemäß. 458 Entsprechend oben Kapitel 11 I. 4. a) bb) = S. 908. 459 Siehe hierzu auch schon oben Kapitel 11 I. 4. a) dd) = S. 910.

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

975

ser Weise überbrücken, die in Hinblick auf die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakte diagnostiziert worden ist.

b) Der bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Auch die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte überschreiten durchweg den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, den das Grundgesetz für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorsieht. Dies gilt nicht nur, aber in besonderem Maße insoweit, als die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen. So erwachsen EG-Normsetzungsakte zum einen schon dezisionär in revisionär bedingter Störungsanfälligkeit460, was bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasst werden, nicht der Fall ist461. Zum anderen ist bei EG-Norm­ setzungsakten aber auch die revisionäre Legitimation erheblich störungsanfälliger als bei rein innerstaatlichen Normsetzungsakten, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden. Letzteres ergibt sich zunächst und zuvörderst daraus, dass die in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte bestehenden Revisionsbefugnisse durchweg von einer Mehrheit untereinander fremder Völker ausgeübt werden. Dies gilt sowohl insofern, als die EG-Normsetzungsakte über die Abänderbarkeit des Primärrechts rückgebunden werden, als auch insoweit, als die revisionäre Legitimation an die Abänderungsbefugnisse der EG-Organe anschließt. Hingegen sind an der Revisionsmacht in Hinblick auf rein innerstaatliche Normsetzungsakte keine fremden Völker beteiligt, sodass sich ihre revisionäre Legitimation schon unter diesem Gesichtspunkt als vergleichsweise weniger störungsanfällig erweist. Hinzu tritt, dass die revisionäre Legitimation von EG-Normsetzungsakten immerhin partiell allein darauf beruht, dass Exekutive, Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat durch eine Abänderung des Primärrechts auf das legitimationsbedürftige Sekundärrecht zugreifen können. Insofern indes ist die revisionäre Legitimation von EG-Normsetzungsakten gleich in dreifacher Hinsicht störungsanfälliger als die revisionäre Legitimation von innerstaatlichen Parlamentsgesetzen. Denn abgesehen von der Lokalisierung der Revisionsmacht bei einer Mehrheit untereinander fremder Völker ist der EG-Normsetzungsakt seiner Revisionsinstanz in diesem Fall auch dadurch strukturell entrückt, dass sie nicht unmittelbar auf ihn zugreifen kann, sowie dadurch, dass die Revisionsmacht bei einer Organ­ 460

Oben Kapitel 11 III. 1. = S. 967. Oben Kapitel 10 III. 1. c) = S. 758.

461

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

mehrheit, nämlich bei Regierung, Bundestag und gegebenenfalls Bundesrat, verortet ist. Darin liegt ein erkennbarer Unterschied zur Situation bei vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Normsetzungsakten rein innerstaatlicher Provenienz, auf die der allein vom deutschen Staatsvolk her legitimierte Parlaments­ gesetzgeber unmittelbar zugreifen kann und dabei allenfalls gemeinsam mit dem Bundesrat, niemals aber zusammen mit der Regierungsexekutive entscheiden muss462. Nun überschreiten die EG-Normsetzungsakte das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß revisionär bedingter Störungsanfälligkeit nicht nur insoweit, als sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen. Auch soweit sie nicht hiervon erfasst werden, sind sie störungsanfälliger als die entsprechenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakte. So erwachsen zwar auch Rechtsverordnungen bereits in dezisionärer Hinsicht in revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Sie werden insofern auch nicht etwa in geringerem Umfang durch revisionäre Legitimationszusammenhänge geprägt als die in Rede stehenden EG-Norm­setzungsakte. Denn auch bei ihnen erstreckt sich die materielle Direktive zumindest auf alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen. Allerdings erweisen sich die für Rechtsverordnungen in dezisionärer Hinsicht relevanten revisionären Legitimationszusammenhänge als im Vergleich weniger störungsanfällig. Denn soweit es die eine Rechtsverordnung legitimierende ma­ terielle Direktive anbelangt, liegt die Revisionsbefugnis niemals bei untereinander fremden Völkern, nur fallweise bei den Untervölkern und außer beim Parlament allenfalls noch beim Bundesrat, nicht aber zusätzlich noch bei der Bundes­ regierung. Die revisionäre Legitimation ist bei EG-Normsetzungsakten ebenfalls störungsanfälliger als bei Rechtsverordnungen. Zwar werden auch diese partiell allein über eine solche Revisionsinstanz demokratisch legitimiert, die in keinem ausgesprochenen Näheverhältnis zu ihnen steht. Damit ist der Umstand angesprochen, dass Rechtsverordnungen teilweise allein über das parlamentarische Rückgriffsrecht rückgebunden werden463. Der wegen des parlamentarischen Zugriffsrechts auf eine Rechtsverordnung zurückführende revisionäre Legitimationsstrang ist gleichwohl deutlich störungsresistenter als derjenige, der den EG-Normsetzungsakten im Rahmen von Art. 48 EUV zuwächst. Denn die Revisionsmacht wird insoweit nicht von einer Mehrheit untereinander fremder Völker ausgeübt. Schließlich bleibt noch zu berücksichtigen, dass auch die revisionäre Legitimation, die sich bei Rechtsverordnungen infolge der Revisionsbefugnis der Exekutive Bahn bricht, schon deshalb weniger störungsanfällig ist als die, die 462

Vgl. Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 20 II 6.  Zu dem grundgesetzlich fortbestehenden Zugriffsrecht des Parlaments auf den auf seiner lediglich zu- und nicht abschiebenden Verordnungsermächtigung beruhenden Exekutivrechtsetzungsakt vgl. nur Bryde, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 4./5. Aufl. Bd. 3, 2003, Art. 80 Rn. 5. 463

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

977

EG-Norm­setzungsakten nach Maßgabe der den EG-Organen zustehenden Revi­ sionsbefugnisse zukommt, weil bei Rechtsverordnungen die Revisionsmacht in­ sofern nicht durch eine Mehrheit untereinander fremder Völker ausgeübt wird. Nach allem zeigt sich, dass potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte, die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergehen, den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit deutlich überschreiten, den das Grundgesetz insofern als Normalmaß vorgibt; eine hiervon lediglich in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht abweichende Fest­stellung ist bezüglich der potenziell marktinterventionistischen EG-Norm­ setzungsakte zu treffen, die nicht vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden. Die insofern für potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte generell konstatierbare Abweichung vom grundgesetz­ lichen Normalmaß lässt sich nun wiederum nur in den bereits erläuterten engen Grenzen rechtfertigen: Die Finalnorm der Volkssouveränität vermag aus den an früherer Stelle entwickelten Gründen nur in Ausnahmekonstellation rechtfertigende Wirkung zu entfalten464. Der vom Staatsziel der europäischen Einigung getragene Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten eines sich entwickelnden überstaatlichen Hoheitsverbands greift zwar mittelfristig noch bei denjenigen potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten, die auf primärrechtlichen Ermächtigungen aus der Konstruktionsphase der EG stammen465. Bei der überwiegenden Zahl potenziell marktinterventionistischer EG-Normsetzungsakte indes lässt sich die ausgeprägte Störungsanfälligkeit der revisionären Legi­ timationszusammenhänge grundgesetzlich nicht (länger) rechtfertigen.

IV. Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation Nach dem Modell mittelbarer demokratischer Legitimation bestimmt sich das in Hinblick auf einen EG-Normsetzungsakt realisierte Maß an Volkssouveränität allein danach, inwieweit das deutsche Volk vermittels seiner Organe dessen Erlass und allfällige Revision zu beherrschen vermag. In dieser Perspektive kann es im Weiteren denn auch nur um die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen gehen, die dem Grundgesetz zufolge erfüllt sein müssen, damit ein EG-Normsetzungsakt als speziell vom deutschen Volk her hinreichend legitimiert angesehen werden kann. Dies hat zur Konsequenz, dass die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation im Rahmen des hier interessierenden Modells nur sehr partiell legitimatorische Probleme aufwirft.

464

Oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. Ebd.

465

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

1. Bestandsaufnahme Bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation richtet sich das Legitimationsniveau von EG-Normsetzungsakten in Ansehung der demokratischen Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation grundsätzlich nach exakt denselben grundgesetzlichen Vorschriften, wie sie auch für die sonstigen innerstaatlich wirksamen Normen einheitlich gelten. Ausnahmen gelten insofern nur bezüglich der demokratischen Wahlrechtsgleichheit und der staatsorganisatorischen Publizität.

a) Die grundsätzliche Identität der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Demokratievoraussetzungen bei innerstaatlich wirksamen Rechtsakten Soweit Rechtsakte vom Willen des deutschen Volks her legitimiert werden, stellt das Grundgesetz überwiegend einheitliche Anforderungen an die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation und sieht insofern ein für alle Rechtsakte identisches Legitimationsniveau vor. So sind die grundgesetz­ lichen Vorgaben an die Freiheit der Stimmbürger, an Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie an die Publizität im gesellschaftlichen Raum bei formellen Gesetzen dieselben wie bei Rechtsverordnungen; sie gelten für rein innerstaatliche Normen wie auch für völkerrechtsvertraglich determinierte Normen in exakt demselben Umfang466. Dies hängt damit zusammen, dass – bildlich gesprochen – die betreffenden Legitimationsanforderungen greifen, noch bevor sich der Wille des deutschen Volks im Rahmen sehr unterschiedlicher institutioneller und prozeduraler Arrangements zu einzelnen Hoheitsentscheidungen von infolgedessen durchaus unterschiedlichem demokratischen Niveau konkretisiert. Nun liegen besagte Legitimationsanforderungen nicht nur den rein innerstaat­ lichen sowie den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts voraus. Sie determinieren in einheitlicher Weise auch das Legitimationsniveau der durchaus unterschiedlichen Typen von EG-Normsetzungsakten. Davon ist jedenfalls aus Sicht des in diesem Kapitel zugrundegelegten Modells mittelbarer demokratischer Legitimation auszugehen. Denn danach ist demokratierechtlich ausschließlich auf die Rückkoppelung der EG-Normsetzungsakte an das deutsche Volk abzustellen. Dessen Genese indes wird in Hinblick auf die Freiheit der Stimmbürger, die Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie die Publizität im gesellschaftlichen Raum maßgeblich durch die entsprechenden Vorgaben des Grundgesetzes bestimmt467. 466

Oben Kapitel 10 III. 2. e) = S. 825. Der These, dass das Legitimationsniveau von EG-Normsetzungsakten in puncto Freiheit der Stimmbürger, Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie Publizität im gesellschaftlichen Raum durch dieselben grundgesetzli 467

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Für die hier vorzunehmende Bestandsaufnahme heißt dies: In Ansehung der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung bestimmt sich das Legitimationsniveau von EG-Normsetzungsakten im Wesentlichen nach denselben grundgesetzlichen Anforderungen, wie sie auch für Bundesgesetze und Bundesrechtsverordnungen gelten. Insoweit kann denn auch auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen werden468.

b) Die ausnahmsweise Heterogenität der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Demokratievoraussetzungen bei innerstaatlich wirksamen Rechtsakten Dass sich das Legitimationsniveau von EG-Normsetzungsakten in Hinblick auf die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation maßgeblich nach denselben grundgesetzlichen Vorgaben richtet, wie sie auch für die sonstigen innerstaatlich wirksamen Normen einheitlich Anwendung finden, gilt indes nicht ausnahmslos. Vielmehr ist bereits dargelegt worden, dass und weshalb bei Bundesgesetzen, Rechtsverordnungen und innerstaatlich rezipierten Normsetzungs­akten des Völkervertragsrechts die Anforderungen an die demokratische Wahlrechtsgleichheit und staatsorganisatorische Publizität durchaus differieren können469. Insofern nämlich sind die Legitimationsanforderungen den speziellen Bestimmungen über das Normsetzungsverfahren nicht vorgelagert, sondern werden durch diese zumindest mitgeprägt. Auch bei den EG-Normsetzungsakten hängt infolgedessen der Realisierungsgrad von demokratischer Wahlrechtsgleichheit und staatsorganisatorischer Publizität mitunter von Bestimmungen ab, die ausschließlich für die EG-Normsetzung und häufig sogar nur für bestimmte Typen von EG-Norm­ setzungsakten Geltung beanspruchen.

aa) Demokratische Wahlrechtsgleichheit Hinsichtlich des Realisierungsumfangs demokratischer Wahlrechtsgleichheit differieren EG-Normsetzungsakte mitunter schon untereinander, erst recht aber im Vergleich zu sonstigen innerstaatlich wirksamen Normsetzungsakten. Dies hängt chen Vorgaben geprägt wird wie die übrigen im Geltungsbereich des Grundgesetzes wirksamen Normen, widerstreitet es auch nicht, wenn neben den grundgesetzlichen zum Teil auch gemeinschaftsrechtliche und völkerrechtliche Vorgaben die betreffenden Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung determinieren. Denn soweit sich aus dem Gemeinschaftsrecht beziehungsweise dem Völkerrecht allgemein für alle Typen hoheitlicher Normsetzung oder speziell in Ansehung von EG-Normsetzungsakten einschlägige Vorgaben ableiten lassen, gehen diese jedenfalls nicht über die Vorgaben des Grundgesetzes hinaus und stehen auch sonst nicht in Wider­spruch zu diesen. 468 Oben Kapitel 10 III. 1. d) = S. 760. 469 Ebd.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

mit Art. 23 GG zusammen. Diese Vorschrift sieht vor, dass die Bundesländer EGNormsetzungsakte mitbeherrschen, und zwar durch ihren Einfluss auf das Primärrecht gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG, durch die Befugnis zur Abgabe verbindlicher Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG oder durch die Entsendung eines Vertreters in den Ministerrat gemäß Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG470. Soweit die Bundesländer in dieser Weise die EG-Normsetzung mitbeherrschen, wächst den betreffenden EG-Normsetzungsakten unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit ein geringeres Maß an demokratischer Legitimation zu, als wenn die maßgeblichen Entscheidungen insofern allein vom Bundestag beziehungsweise allein von der Bundesregierung getroffen würden. Denn in allen drei Konstellationen bricht sich die Kodezisionsmacht der Bundesländer über den Bundesrat Bahn. Im Bundesrat indes nimmt der Wille des deutschen Volks unter prozeduralen Bedingungen Gestalt an, die erheblich von der demokratierechtlich an sich gebotenen Gleichheit der Stimmbürger abweicht471. In der Konstellation des Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG vertieft sich die Abweichung vom Grundsatz der Gleichheit der Wahl zusätzlich dadurch, dass einem der Landesstaatsvölker und mithin dessen Angehörigen eine besonders große Einflussmacht eingeräumt wird472.

bb) Staatsorganisatorische Publizität der EG-Normsetzung Inwieweit der Erlass von EG-Normsetzungsakten unter den Bedingungen demokratischer Publizität erfolgt473, bestimmt sich in erster Linie und entscheidend nach den einschlägigen Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts. Diese werden daher im Folgenden vorrangig diskutiert werden. Dabei muss  – einmal mehr474 – zwischen den verschiedenen Typen von Normsetzungsverfahren differenziert werden. Denn staatsorganisatorische Publizität wird insofern keineswegs in exakt gleichem Umfang gewährleistet. Daher soll im Folgenden auch zunächst auf den Umfang staatsorganisatorischer Publizität eingegangen werden, der für die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakte prägend ist. Um der besseren Übersichtlichkeit willen wird dabei zwischen dem Realisierungsumfang dynamischer und dem statischer Öffentlichkeit differenziert475. Davon ausgehend lässt sich dann im Weiteren eine Aussage zum Realisierungsumfang 470

Siehe oben Kapitel 11 I. 2. a) = S. 871. Dazu bereits oben Kapitel 10 III. 1. d) aa) = S. 761. 472 Zu der demokratierechtlichen Problematik des Art. 23 Abs. 6 Satz 1 GG vgl. auch Streinz (Fn. 30), Rn. 119. 473 Dazu auch Spieß (Fn. 134), S. 159 ff.; Bieber (Fn. 129), § 7 Rn. 49 ff.; Schockweiler, Le prétendu déficit démocratique de la communauté, in: Journal des tribunaux / Droit Européen 1994, S.  25 (27 f.). Sehr kritisch Lamprecht, Untertan in Europa, in: NJW 1997, S.  505 f.: „Europa findet hinter verschlossenen Türen statt.“ 474 Siehe bereits oben Kapitel 11 I. 3. c) = S. 890. 475 Zu diesen Typen demokratischer Öffentlichkeit siehe grundlegend oben Kapitel 6 III. 3. c) bb) = S. 351. 471

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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demokratischer Öffentlichkeit treffen, wie er für die übrigen Rechtsetzungsverfahren charakteristisch ist. Auch hierbei soll zwischen Verfahrens- und Ergebnis­ öffentlichkeit differenziert werden. Abgeschlossen wird die Bestandsaufnahme mit Überlegungen zu der Frage, inwieweit nationalrechtliche Bestimmungen den im Hinblick auf die EG-Normsetzung realisierten Umfang staatsorganisatorischer Publizität zumindest am Rand mitbestimmen. Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass es im Folgenden darum geht, den Umfang staatsorganisatorischer Publizität aus der spezifischen Perspektive des Modells mittelbarer Legitimation zu bestimmen. Das Ausmaß staatsorganisatorischer Publizität bestimmt sich in dieser Perspektive allein danach, inwieweit das deutsche Staatsvolk Einblick in die Mitwirkung derjenigen erlangt, die als ihre legitima­ tionsvermittelnden Vertreter an der hoheitlichen EG-Normsetzung beteiligt sind476. Demzufolge tragen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen, die eine Transparenz der europäischen Entscheidungsprozesse generell gewährleisten, nicht notwendig auch zur staatsorganisatorischen Publizität im hier gemeinten, demokratieessen­ tiellen Sinn bei.

(1) Umfang staatsorganisatorischer Verfahrensöffentlichkeit bei im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten Eine Analyse des einschlägigen Gemeinschaftsrechts und speziell der Geschäftsordnungen der beteiligten Organe ergibt, dass im Mitentscheidungsverfahren Verfahrensöffentlichkeit in beachtlichem Umfang gewährleistet ist477. So wird hinsichtlich des Rats, dessen Mitwirkung auch im Mitentscheidungsverfahren zentral ist, von dem Grundsatz abgewichen, wonach seine Tagungen nicht öffentlich sind478. Stattdessen debattiert er zu Beginn des Mitentscheidungsverfahrens479 sowie in dessen letzten Phase480 zwingend öffentlich481. Die übrigen Beratungen des Rats sind im Mitentscheidungsverfahren ebenfalls öffentlich, es 476

Zur Begründung siehe bereits oben Kapitel 6 III. 3. a) cc) = S. 347. Ein wesentlicher Beitrag in Richtung mehr Transparenz wurde bei der Ratstagung im Juni 2006 in Brüssel geleistet (vgl. Anlage 1 [‚Eine allgemeine Politik der Transparenz‘] zu den Schlussfolgerungen des Rats vom 15. / 16.  Juni [Dok. 10633/1/06 REV 1). Dass es freilich auch einige gibt, die angesichts der hierdurch möglicherweise bedrohten Handlungsfähigkeit der Union mit Sorge „auf die Einführung eines umfassenden Transparenzregimes auf europäischer Ebene blicken“, bemerkt zutreffend Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union, 2004, S. 94 ff. 478 Dieser Grundsatz ist in Art. 5 Abs. 1 GeschORat niedergelegt. 479 Vgl. Art. 8 Abs. 1 Buchst. a GeschORat. 480 Vgl. Art. 8 Abs. 1 Buchst. b GeschoRat. 481 Die perfekte Verfahrensöffentlichkeit wird dadurch gewährleistet, dass die Ratsberatungen audiovisuell übertragen werden, und zwar insbesondere in einen ‚Mithörsaal‘ sowie – in allen Amtssprachen – ins Internet (vgl. Art. 8 Abs. 5 UAbs. 2 GeschORat). 477

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

sei denn der Rat oder der Ausschuss der Ständigen Vertreter optiert hinsichtlich bestimmter Beratungen für Nichtöffentlichkeit482. Mithin wird zumindest über weite Phasen des Mitentscheidungsverfahrens hinweg im Rat und damit auch im Hinblick auf das nationale Ratsmitglied, das allein die nationaldemokratische Legitimation vermittelt, perfekte Verfahrensöffentlichkeit realisiert483. Hinzu tritt, dass gemäß Art.  9 Abs.  1 UAbs.  2 Buchst.  a GeschORat die Abstimmungsergebnisse, Erklärungen zur Stimmabgabe, Protokollerklärungen und Protokollpunkte, die die Festlegung des gemeinsamen Standpunkts im Mitentscheidungsverfahren betreffen, stets veröffentlicht werden. Gleiches gilt gemäß Abs. 9 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. b GeschORat für die Stimmabgabe und die Stimm­ abgabeerklärungen der Ratsmitglieder im Vermittlungsausschuss sowie die das Vermittlungsverfahren betreffenden Passagen des Ratsprotokolls. Dadurch wird für weitere wichtige Phasen des Mitentscheidungsverfahrens hinsichtlich des nationalen Ratsmitglieds zwingend eine mitlaufende semiperfekte Verfahrens­ öffentlichkeit verwirklicht. Aufgrund der allgemeinen, also nicht nur für das Mitentscheidungsverfahren geltender Vorgaben des Art. 9 Abs. 1 UAbs. 1 GeschORat484 sind darüber hinaus die Abstimmungsergebnisse, Erklärungen zur Stimmabgabe, Protokollerklärungen zu veröffentlichen, die sich auf die abschließende Verabschiedung von Rechtssetzungsakten beziehen485. Dies gewährleistet hinsichtlich des nationalen Rats­ mitglieds eine nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit. Ferner macht das Generalsekretariat des Rats aufgrund allgemeiner Vorschriften etliche Ratsdokumente, die für das Rechtsetzungsverfahren von Relevanz sind, über das Register des Rats direkt öffentlich zugänglich486. Dies geschieht kurz­ fristig, also gegebenenfalls noch während des Verfahrens487. Eine demokratisch relevante mit- beziehungsweise nachlaufende Verfahrensöffentlichkeit erwächst hier­aus aber nur dann, wenn zugleich publik wird, wie sich das nationale Rats­

482

Vgl. Art. 8 Abs. 1 Buchst. c GeschORat. Ein solches Maß an staatsorganisatorischer Öffentlichkeit hat Steinberger, Der Ver­ fassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (145) seinerzeit noch für schwer durchsetzbar gehalten. 484 Zum normativen Hintergrund dieser Geschäftsordnungsbestimmung vgl. Art. 255 (dazu eingehend Riemann [Fn. 477], S. 10 ff.) und Art. 207 Abs. 3 UAbs. 2 EGV sowie die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. EG L 145, S. 43) (= Informationszugangs-VO). 485 Zur Informationszugangs-VO (Fn. 484) eingehend Riemann (Fn. 477), S. 133 ff. 486 Vgl. Art. 10 GeschORat und Art. 11 von Anhang II zur GeschORat sowie Art. 12 Abs. 2 Informationszugangs-VO (Fn. 484). 487 Gemäß Art. 11 von Anhang II zur GeschORat sind die Dokumente umgehend nach ihrer Verteilung, also unverzüglich nach Weitergabe der endgültigen Fassung eines Dokuments an die Mitglieder des Rates, ihrer Vertreter oder Beauftragten, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 483

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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mitglied zu diesem Dokument verhält beziehungsweise verhalten hat488. Dies ist zwar nicht ausgeschlossen. Zu denken ist insbesondere an die Fälle, dass ein solches Dokument vom nationalen Mitgliedstaat selbst stammt489. Allerdings be­ hindert vor allem490 Art.  9 Abs.  3 GeschORat das Entstehen einer solchen Verfahrensöffentlichkeit: Danach werden – außer in den Fällen, in denen die Beratungen des Rates gemäß Art. 8 GeschORat ohnedies schon öffentlich sind – die Ab­stimmungsergebnisse bei Entscheidungsprozessen, die zu Probeabstimmungen oder zur Annahme vorbereitender Rechtsakte führen, nicht öffentlich zugänglich gemacht. Sofern ein Dokument nicht direkt öffentlich zugänglich ist, kann  – ebenfalls aufgrund allgemeiner Vorschriften491 – der Zugang dazu beantragt werden. Dieser Antrag muss innerhalb von fünfzehn Arbeitstagen bearbeitet werden492 und darf nur aus besonderem Grund abgelehnt werden493. Insofern kann sich unmittelbar eine, je nach dem, mitlaufende, zumindest aber nachlaufende imperfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn brechen. Voraussetzung ist aber auch hier, dass sich die Haltung des nationalen Ratsmitglieds zu diesem Dokument rekonstruieren lässt. Dies dürfte indes vielfach Mühe bereiten – zum einen wegen des eben erwähnten Art. 9 Abs. 3 GeschORat, zum anderen wegen der dem Generalsekretariat ein­ geräumten Möglichkeit, den Informationszugang zu Ratsdokumenten zum Schutz des Beratungsgeheimnisses unter bestimmten Umständen494 zu versagen495. Des ungeachtet bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens hinsichtlich der Entscheidungsbeiträge der nationalen Ratsmitglieder ein für die herkömmlichen europäischen Verhältnisse ungewohnt hohes Maß an Verfahrensöffentlichkeit gemeinschaftsrechtlich verbürgt ist. Damit kommt nunmehr das andere EG-Organ in den Blick, das im Mitentscheidungsverfahren als Mittler nationaldemokratischer Legitimation fungiert. Die Kommission verhandelt nach Art. 9 GeschOKom in nicht öffentlichen und überdies vertraulichen Sitzungen496. Insofern besteht ein deutlicher Unterschied zur Situation beim Rat. Die Kommission scheint auf den ersten Blick noch ganz in 488

Siehe oben Kapitel 6 III. 3. a) cc) = S. 347. Vgl. etwa Art. 11 Abs. 5 Buchst. a von Anhang II zur GeschORat. 490 Vgl. darüber hinaus auch Art. 11 Abs. 4 Buchst. b von Anhang II zur GeschORat, wonach Dokumente, die Standpunkte einzelner Delegationen wiedergeben, nicht direkt öffentlich zugänglich gemacht werden. 491 Vgl. Art. 2 ff. Informationszugangs-VO (Fn. 484) sowie Art. 10 GeschORat und Art. 1 ff. von Anhang II zur GeschORat. 492 Art. 7 Abs. 1 Satz 3 Informationszugangs-VO (Fn. 484). 493 Vgl. Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Informationszugangs-VO (Fn. 484). Dazu im Einzelnen Wölker, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 255 Rn. 21 ff. 494 Dazu näher Wegener, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.),  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art.  255 Rn. 16 ff. 495 Vgl. Art. 4 Abs. 3 Informationszugangs-VO (Fn. 484). Siehe dazu auch Wölker (Fn. 493), Rn. 28. 496 Hierzu auch Ruffert, in: Calliess / ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 219 Rn. 2. 489

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

der Tradition internationaler Geheimdiplomatie zu stehen. Bei näherer Betrachtung ergibt sich allerdings ein nuancierteres Bild und zeigt sich, dass auch im Rahmen der Kommission Verfahrensöffentlichkeit in durchaus beachtlichem Umfang realisiert wird. Zu bedenken ist nämlich dreierlei. Erstens macht die Kommission die meisten Dokumente, die ihr im Mitentscheidungsverfahren vorgelegt werden, der Öffentlichkeit unmittelbar zugänglich497, wobei dies ganz überwiegend nach Ver­ abschiedung ihres Gesetzgebungsvorschlags geschieht498. Dadurch wird zumindest insoweit eine teils mitlaufende, überwiegend aber nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit geschaffen, als die nationaldemokratische Legitimation von der Kommission als Ganzer vermittelt wird. Soweit es den über das nationale Kommissionsmitglied vermittelten Legitimationsbeitrag anbelangt, kommt staatsorganisatorische Publizität demgegenüber typischerweise nicht zum Tragen. Denn zum Schutz unter anderem des Kommissionsgeheimnisses steht der direkte Zugang zu den bei der Kommission vorhandenen Dokumenten unter dem Vorbehalt, dass diese keine persönlichen Meinungen und Stellungnahmen wiedergeben499. Zweitens besteht auch im Hinblick auf solche Kommissionsdokumente, die nicht unmittelbar elektronisch zugänglich sind, ein grundsätzlicher Informationsanspruch. Der Zugang zu den betreffenden Dokumenten muss lediglich beantragt werden500. Insofern kann sich eine mitlaufende imperfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn brechen. Freilich gilt dies wiederum vornehmlich für die über die Kommission als Ganze und nur in eingeschränktem Maß für die über das nationale Kommissionsmitglied vermittelte Legitimation. Denn bei Dokumenten, die Rückschlüsse auf das Abstimmungsverhalten eines einzelnen Kommissionsmitglieds zulassen, dürfte vielfach von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, zum Schutz des Kommissionsgeheimnisses den Informationszugang zu versagen501. Drittens bleibt zu berücksichtigen, dass der Kommission im Mitentscheidungsverfahren eine geringere Entscheidungsmacht zukommt als dem gleichfalls nationaldemokratische Legitimation vermittelnden nationalen Ratsmitglied. Dass sich im Rahmen der Kommission Verfahrensöffentlichkeit in vergleichsweise geringerem Umfang Bahn bricht als hinsichtlich des nationalen Ratsmitglieds, fällt daher weniger schwer ins Gewicht. Nun ist fernerhin zu bedenken, dass im Verfahren gemäß Art. 251 EGV das Europäische Parlament als echter Mitgesetzgeber an der Normsetzung partizipiert502. Dieses wiederum verhandelt ausweislich Art. 96 Abs. 2 GeschOEP durchgängig 497

Vgl. Art. 9 des Anhangs zur GeschOKom. Art. 9 Abs. 3 Buchst. a des Anhangs zur GeschOKom. 499 Art. 9 Abs. 3 des Anhangs zur GeschOKom. 500 Art. 2 des Anhangs zur GeschOKom in Verbindung mit Art. 6 Informationszugangs-VO (Fn. 484). 501 Vgl. Art. 4 Abs. 3 Informationszugangs-VO (Fn. 484). 502 Gellermann (Fn. 141), Rn. 1. 498

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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öffentlich503. Lediglich seine Ausschüsse sind gemäß Art.  96 Abs.  3 GeschOEP befugt, ausnahmsweise bestimmte Tagesordnungspunkte in nicht öffentlicher Sitzung zu beraten. Nach Art.  97 GeschOEP werden so gut wie alle das Recht­ setzungsverfahren betreffenden Parlamentsdokumente über ein Register der Öffentlichkeit zugänglich gemacht; sofern ein Dokument ausnahmsweise nicht über das Register einsehbar ist, kann der Zugang hierzu beantragt werden504. Aus diesem Befund dürfen indes keine vorschnellen Schlussfolgerungen ge­ zogen werden. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass es an dieser Stelle um eine Bestandsaufnahme aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation geht. In dieser Perspektive kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich dort, wo das Euro­ päische Parlament im Verfahren nach Art. 251 EGV als Mitgesetzgeber aktiv wird, perfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn bricht. Denn die Abgeordneten des Europäischen Parlaments können aus den dargelegten Gründen nicht zu den legitimationsvermittelnden Repräsentanten des deutschen Staatsvolks gerechnet werden; dies gilt auch für diejenigen Europaabgeordneten, die im Rahmen des deutschen Abgeordnetenkontingents gewählt wurden505. Vor diesem Hintergrund erschließt sich, dass und weshalb es aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation nicht als Ausdruck perfekter Verfahrensöffentlichkeit gewertet werden kann, wenn im Verfahren nach Art. 251 EGV die Entscheidungsprozesse insoweit coram publico erfolgen, als das Europäische Parlament kodezisionär (beziehungsweise) korevisionär daran mitwirkt. Unbeachtlich ist die im Rahmen des Europäischen Parlaments generierte Öffentlichkeit in der Perspektive des Modells mittelbarer Legitimation deshalb aber nicht. Denn im Europäischen Parlament und in seinen Ausschüssen werden die Entscheidungsprozesse in Rat und Kommission debattiert506. Wegen dieser Debatten und wegen der in diesem Zusammenhang verfassten Dokumente können sich auch bei Zugrundelegung des hier in Rede stehenden Legitimationsmodells mittelbar Verfahrensöffentlichkeiten von unterschiedlicher Art und Güte Bahn brechen. Notwendige Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass in den fraglichen Debatten beziehungsweise Dokumenten das Entscheidungsverhalten des deutschen Regierungsvertreters im Rat beziehungsweise das der Kommission als Ganzer und / oder das des deutschen Kommissionsmitglieds thematisiert wird. Denn in Hinblick auf deren Verhalten muss aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation demokra­ tische Öffentlichkeit gewährleistet sein. 503

Siehe auch Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 12 Rn. 26. Vgl. in diesem Zusammenhang auch allgemein zur Transparenz des Gemeinschaftshandelns Oppermann (Fn. 65), § 8 Rn. 11 f. 505 Siehe oben Kapitel 11 I. 2. b) = S. 879. 506 Dazu das Petitum von Benz, Demokratiereform durch Föderalisierung?, in: Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, 2003, S. 169 (190): „Plenardebatten der Parlamente müssten darüber hinaus dazu dienen, über Angelegenheiten der Mehrebenenpolitik die öffentliche Meinungsbildung anzustoßen.“ Des Weiteren auch Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 333 ff. 504

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Dementsprechend kann sich über das Europäische Parlament mitunter sogar eine mitlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit realisieren, sofern vor einer (Vor-)Entscheidung im Rechtsetzungsverfahren publik wird, wie sich ein Regierungsvertreter, die Kommission beziehungsweise ein Kommissionsmitglied zu einem bestimmten verfahrensgegenständlichen Problem verhält. Diese Bedingung ist etwa dann erfüllt, wenn der Rat im Zuge des Mitentscheidungsverfahrens einen gemeinsamen Standpunkt festlegen musste. Denn das Abstimmungsverhalten hinsichtlich der Festlegung des gemeinsamen Standpunkts muss, wie bereits angesprochen, veröffentlicht werden507; Gleiches gilt für das Abstimmungsverhalten der Ratsvertreter im Vermittlungsverfahren, das nach der Festlegung des gemeinsamen Standpunkts gegebenenfalls eingeleitet werden muss508. Der Vollständigkeit halber sei abschließend noch erwähnt, dass eine in diesem Sinne mittelbare Verfahrensöffentlichkeit außer über das Europäische Parlament auch noch über den Wirtschafts- und Sozialausschuss509 beziehungsweise den Ausschuss der Regionen erzeugt werden kann510. Denn auch diese Gremien tagen öffentlich511 und gewähren öffentlichen Zugang zu ihren Dokumenten beziehungsweise stellen diese auf Anfrage zur Verfügung512. Soweit sie daher am Mitentscheidungsverfahren mitwirken513 und in ihren Debatten beziehungsweise Dokumenten das Entscheidungsverhalten des nationalen Ratsvertreters, der Kommission oder des nationalen Kommissionsmitglieds thematisieren, kann über sie – wie über das Europäische Parlament – potenziell jede Form der Verfahrensöffentlichkeit mit Ausnahme der perfekten erzeugt werden.

(2) Umfang staatsorganisatorischer Ergebnisöffentlichkeit bei im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten Die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte erwachsen nicht nur in relativ großem Umfang in dynamischer Öffentlichkeit. Sie prägt 507

Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. a GeschORat. Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 Buchst. b GeschORat. 509 Zu diesem etwa Bieber (Fn. 129), § 4 Rn. 91 f.; auch Wessels, Das politische System der Europäischen Union, in: Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl. 2003, S. 779 (799). 510 Zu ihm Streinz (Fn. 79), Rn. 395 ff. 511 Art. 65 Abs. 1 GeschOWSA und Art. 17 Abs. 1 sowie Art. 48 Abs. 1 GeschOAdR. 512 Hintergrund ist die Gemeinsame Erklärung zur Informationszugangs-VO (Fn.  484), in der das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission die übrigen Institutionen aufgefordert haben, interne Regelungen für den Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten zu beschließen, die den in der Verordnung festgeschriebenen Grundsätzen und Einschränkungen Rechnung tragen (ABl. 2001 L 173, S. 5). Vgl. Art. 64 Abs. 2 GeschOWSA und Art. 67 GeschOAdR. 513 Vgl. Art. 262 UAbs. 1 und Art. 265 UAbs. 1 EGV. 508

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auch ein vergleichsweise hohes Maß an statischer Öffentlichkeit. Dies ergibt sich freilich nicht schon allein aus Art.  254 Abs.  1  EGV, der für diesen Typus von EG-Normsetzungsakten eine Veröffentlichung im Amtsblatt vorsieht. Denn diese wirft, für sich betrachtet, kein erhellendes Licht auf die hoheitliche Betätigung gerade der Vertreter des deutschen Volks. Wegen der grundsätzlichen Geltung des Mehrheitsprinzips im Mitentscheidungsverfahren514 lässt sich allein durch den Blick ins Amtsblatt noch nicht erkennen, ob die für den Rat am Normsetzungsprozess mitwirkenden Träger deutscher Hoheitsgewalt den Erlass eines bestimmten EG-Normsetzungsakts befürwortet haben oder nicht. Ebenso wenig lässt sich aus dem Amtsblatt allein entnehmen, ob beziehungsweise inwieweit die Kommission als Mittlerin nationaldemokratischer Legitimation für den fraglichen Normsetzungsakt demokratisch haftbar gemacht werden kann. Ergebnisöffentlichkeit bewirkt die Veröffentlichung im Amtsblatt jedoch in Zusammenhang mit den bereits erwähnten Veröffentlichungen gemäß Art. 9 Abs. 1 UAbs.  2 Buchst.  a und  b GeschORat und Art.  9 Abs.  1 UAbs.  1 GeschORat515. Denn hierdurch wird es möglich, den im Amtsblatt veröffentlichten Rechtsakt als mit oder gegen den Willen des nationalen Ratsvertreters erlassen zu würdigen. Des Weiteren wird insofern – jedenfalls weitgehend – erkennbar, inwieweit die Kommission für den betreffenden Normsetzungsakt demokratisch in Haftung genommen werden kann: Soweit sich aus den veröffentlichten Abstimmungs­ergebnissen ergibt, dass der Normsetzungsakt ohne Vermittlungsverfahren erlassen wurde und der Rat nicht einstimmig, sondern streitig entschieden hat, kann rückgeschlossen werden, dass es dem Rat nicht möglich war, von den Kommissionsvorschlägen abzuweichen516 und insofern eine demokratische Verantwortlichkeit der Kommission existiert. Ergibt sich hingegen aus den veröffentlichten Abstimmungsergebnissen, dass der Rat ohne vorgängiges Vermittlungsverfahren einstimmig über den Erlass des Normsetzungsakts befunden hat oder der Normsetzungsakt im Anschluss an ein Vermittlungsverfahren in Geltung gesetzt wurde, so heißt dies, dass eine Bindung des Rats an die Vorschläge der Kommission nicht mehr bestand517 und insofern eine demokratische Verantwortung der Kommission nicht gegeben ist. Der Rekurs auf die Abstimmungsergebnisse genügt nach allem nur insoweit nicht für die Herstellung umfassender Ergebnisöffentlichkeit, als unter bestimmten Umständen unklar bleibt, wer dafür verantwortlich ist, dass ein bestimmtes Anliegen auf die europarechtspolitische Agenda gelangt ist. Denn das Initiativ­ monopol liegt zwar an sich bei der Kommission. Doch kann sowohl der Rat als auch das Parlament die Kommission verpflichtend auffordern, einen entsprechen 514 Das Einstimmigkeitsprinzip gilt im – insoweit modifizierten – Mitentscheidungsverfahren nur ausnahmsweise, vgl. etwa Art. 42, 47 Abs. 2 Satz 2 und 151 Abs. 5 EGV. 515 Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (1) = S. 981. 516 Vgl. Art. 250 Abs. 1 EGV. 517 Siehe Gellermann (Fn. 142), Rn. 14 f.

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den Vorschlag zu unterbreiten518. Im Hinblick auf den Realisierungsumfang der Ergebnisöffentlichkeit ist insofern Folgendes zu bedenken: Eine entsprechende Aufforderung von Rat oder Europäischem Parlament an die Adresse der Kommission, einen Gesetzgebungsvorschlag vorzulegen, ist über das Register des auffordernden Organs beziehungsweise der Kommission öffentlich zugänglich. Mithin kann rekonstruiert werden, ob Kommission, Rat oder Europäisches Parlament ein bestimmtes Thema in den Normsetzungsprozess eingespeist haben. Unter dem Gesichtspunkt der Ergebnisöffentlichkeit ist dies dann problematisch, wenn die formelle Initiative zur Gesetzgebung vom Rat ausgegangen ist. Denn im Hinblick auf diese Ratsentscheidung werden die Abstimmungsergebnisse nicht veröffentlicht519. Folglich fehlt es insofern an Ergebnisöffentlichkeit. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das In-die-Diskussion-Bringen einer normsetzerischen Idee im Vergleich zu deren Verabschiedung als vernachlässigbar angesehen werden kann. Folglich wird man daran festhalten können, dass im Hinblick auf die im Mit­ entscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakte weitestgehend Ergebnis­ öffentlichkeit gewährleistet ist. Zu erwähnen bleibt, dass es sich bei der bislang diskutierten Ergebnisöffentlichkeit um einen speziellen Typus handelt. Schließlich beruht sie nicht allein auf dem promulgierten Rechtstext, sondern nimmt erst aufgrund zusätzlicher, allgemein zugänglicher Informationen Gestalt an. Es handelt sich mithin um keine perfekte, sondern um eine lediglich semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit520.

(3) Umfang staatsorganisatorischer Verfahrensöffentlichkeit bei EG-Normsetzungsakten, die in anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung erlassen werden Für die übrigen Rechtsetzungsverfahren sieht das Gemeinschaftsrecht durchweg ein geringeres Maß an staatsorganisatorischer Verfahrenspublizität vor als für das Mitentscheidungsverfahren. Maßgeblicher Grund hierfür ist, dass die Rechtsetzungsorgane außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens sehr viel häufiger hinter verschlossenen Türen tagen521. So sieht Art. 8 Abs. 2 Satz 1 GeschORat für den Fall, dass der Rat außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens an der Rechtsetzung beteiligt ist, perfekte Verfahrensöffentlichkeit zwingend nur für die ersten Beratungen vor und dies auch nur dann, wenn es um wichtige neue Rechtsetzungsvorschläge geht. Für die

518 Zu den daneben bestehenden Möglichkeiten und der Praxis, informell auf Gesetzesinitiativen hinzuwirken, vgl. Dreischer (Fn. 80), S. 162 ff. 519 9 Abs. 3 GeschORat. 520 Zu diesem Typus demokratischer Öffentlichkeit siehe oben Kapitel 6 III. 3.  c)  bb)  = S. 351. 521 Etwas undifferenziert insoweit Bieber (Fn. 129), § 7 Rn. 49 ff.

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späteren Beratungen im Rat ist eine perfekte Verfahrensöffentlichkeit ausweislich Art. 8 Abs. 2 Satz 3 GeschORat zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht verbindlich vorgegeben. Die Kommission tagt ihrerseits ohnehin nicht öffentlich522. Gleiches gilt für die Ausschüsse der Staatenvertreter, die gemäß Art. 14 Abs. 2 der Standardgeschäftsordnung523 vertraulich beraten. Doch auch wenn das Gemeinschaftsrecht außerhalb des Mitentscheidungs­ verfahrens geringere Anforderungen an die staatsorganisatorische Verfahrens­ publizität der EG-Normsetzung stellt, so bleiben die bestehenden Verbürgungen gleichwohl beachtlich. Soweit der Rat als Rechtsetzungsorgan tätig wird, gilt für EG-Normsetzungsakte auch außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens der bereits erwähnte Art. 9 Abs.  1 GeschORat. Die dort niedergelegten Veröffentlichungspflichten gewährleisten hinsichtlich des nationalen Ratsmitglieds eine nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit524. Im Verfahren der Zusammenarbeit kann es insofern sogar zu einer mitlaufenden semiperfekten Verfahrensöffentlichkeit kommen. Denn gemäß Art.  9 Abs.  1 Satz  2 Buchst.  a GeschORat sind die Abstimmungsergebnisse, Erklärungen zur Stimmabgabe, Protokollerklärungen und Protokollpunkte, die die Festlegung des gemeinsamen Standpunkts betreffen, auch im Verfahren nach Art. 252 EGV veröffentlichungspflichtig. Daneben gewährleistet der Rat hinsichtlich der ihm im Laufe eines Recht­ setzungsverfahrens vorgelegten Dokumente größtmögliche Transparenz, in dem er diese entweder direkt öffentlich zugänglich macht beziehungsweise auf Antrag zur Verfügung stellt525. Dies führt aber nur dann zu einer mit- oder nachlaufenden semi- beziehungsweise imperfekten Verfahrensöffentlichkeit, wenn daraus auf das Entscheidungsverhalten des nationalen Ratsmitglieds rückgeschlossen werden kann. Im Regelfall dürfte ein solcher Rückschluss nicht möglich sein526. Soweit der Kommission im Rechtsetzungsverfahren (Ko-)Dezisions- beziehungsweise (Ko-)Revisionsbefugnisse zustehen, kann zu dem insofern verwirklichten Maß an Verfahrensöffentlichkeit auf die Ausführungen verwiesen werden, die dazu hinsichtlich des Mitentscheidungsverfahrens gemacht wurden527: Im Hinblick darauf, dass die Kommission sich im Hinblick auf die ihr vorliegenden Dokumente um größtmögliche Transparenz bemüht, kommt es insoweit zu einer mit- oder nachlaufenden semi- beziehungsweise imperfekten Verfahrensöffentlichkeit, als die Kommission als Ganze die nationaldemokratischen Legitimation vermittelt. 522

Art. 9 GeschOKom. Vgl. Beschluss 1999/468/EG des Rates (ABl. 2001 C 38, S. 31) (= Standardgeschäfts­ ordnung). 524 Zu dieser Kategorie demokratischer Öffentlichkeit oben Kapitel 6 III. 3. c) bb) = S. 351. 525 Vgl. Anhang II zur GeschORat. 526 Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (1) = S. 981. 527 Ebd. 523

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Hinzu kommt, dass auch über das Europäische Parlament, den Wirtschaftsund Sozialausschuss sowie den Ausschuss der Regionen mittelbar Verfahrens­ öffentlichkeit ins Werk gesetzt werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn in den öffent­lichen Debatten dieser Gremien oder in den von ihnen publik gemachten Dokumenten das Entscheidungsverhalten des nationalen Ratsmitglieds, der Kom­ mission oder des nationalen Kommissionsmitglieds thematisiert wird528. Demgegenüber greift im Rahmen der Ausschüsse der Staatenvertreter eine auch nur semi- oder gar imperfekte Verfahrensöffentlichkeit allenfalls rudimentär Platz. Schließlich gelten nach Art. 14 Abs. 1 der Standardgeschäftsordnung529 für den Zugang der Öffentlichkeit zu Ausschussdokumenten die gleichen Grundsätze und Bedingungen wie für die Kommission. Dies hat zur Konsequenz, dass Dokumente, die das Abstimmungsverhalten der nationalen Staatenvertreter im Ausschuss offen legen, nicht direkt öffentlich zugänglich gemacht und Anträge auf Zugang zu diesen Dokumenten vielfach abgelehnt werden, und zwar unter Hinweis auf die Vertraulichkeit voraussetzende Funktionsweise der Ausschussarbeit530. Da sich demzufolge das Entscheidungsverhalten der einzelnen Staatenvertreter trotz öffentlicher Zugänglichkeit der meisten Ausschussdokumente allenfalls unter Schwierigkeiten rekonstruieren lässt, entsteht Verfahrensöffentlichkeit allenfalls ansatzweise531.

(4) Umfang staatsorganisatorischer Ergebnisöffentlichkeit bei EG-Normsetzungsakten, die in anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung erlassen werden Gemäß Art. 254 Abs. 2 EGV müssen auch alle nicht nach Art. 251 EGV erlassenen EG-Normsetzungsakte, und zwar selbst die Durchführungsnormen532, im Amtsblatt veröffentlicht werden. Wie hinsichtlich des Mitentscheidungsverfahrens bereits dargetan, bedeutet dies aber nicht eo ipso, dass sämtliche EG-Normsetzungsakte in perfekter Ergebnisöffentlichkeit erwüchsen533. Denn zumindest aus der Perspektive des Modells mittelbarer Legitimation entsteht demokratische Öffentlichkeit nicht allein schon daraus, dass die deutsche Gebietsgesellschaft Kenntnis vom Inkrafttreten eines EG-Normsetzungsakts erlangt. Entscheidend ist vielmehr, dass diese erfährt, inwieweit deutsche Hoheitsorgane den Erlass 528

Ebd. Nachweis oben Fn. 523. 530 Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (1) = S. 981. 531 Vgl. in diesem Zusammenhang allerdings auch das Urteil des EuG, Rs. T-111/00, Slg. 2001, II-2997, Rn. 51 ff. (BAT / Kommission), wo die – mittlerweile durch Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 Informationszugangs-VO (Fn. 484) vorgegebene – Abwägungsentscheidung zugunsten der privaten Informationsinteressen und gegen das öffentliche Interesse an der Wahrung der Vertraulichkeit der Ausschussberatungen ausfällt. 532 Vgl. Art. 254 Abs. 2 Satz 1 2. Alternative EGV. 533 Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (2) = S. 986. 529

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dieses Normsetzungsakts befürwortet haben. Dies aber kann sie jedenfalls bei ratsbeschlossenem Sekundärrecht allein aufgrund der Veröffentlichung im Amtsblatt nur in den seltenen Fällen unterstellen, in denen für den Erlass des betreffenden Normsetzungsakts das Einstimmigkeitsprinzip gilt534. Ansonsten begründet die Veröffentlichungspflicht nach Art. 254 Abs. 2 EGV erst im Zusammenspiel mit den Veröffentlichungspflichten nach Art. 207 Abs. 3 EGV in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 UAbs. 1 GeschORat eine zumindest weitgehende Ergebnisöffentlichkeit535. Es handelt sich dann um eine semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit536. Bei anderem als ratsbeschlossenem Sekundärrecht, nämlich bei dem Durch­ führungsrecht der Kommission muss differenziert werden. Wird das Durchführungsrecht allein von der Kommission beherrscht, ergeht es also außerhalb des Regelungsverfahrens, so erwächst es in perfekter Ergebnisöffentlichkeit. Denn da die Kommission als Ganze Mittlerin auch der vom deutschen Staatsvolk herrührenden Legitimation ist, lässt sich in diesen Fällen allein durch den Blick ins Amtsblatt die demokratische Verantwortlichkeit klären. Anders verhält es sich dort, wo die Kommission beim Erlass von Durchführungsrecht die Modalitäten des Regelungsverfahrens537 beachten muss. Hier erwächst das Durchführungsrecht nur gleichsam hälftig in perfekter Ergebnisöffentlichkeit, nämlich insoweit, als die Kommission dafür verantwortlich ist. In dem Umfang indes, in dem das Durchführungsrecht mit Zustimmung des Ausschusses der Staatenvertreter beziehungsweise mit der stillschweigenden Zustimmung des Rats in Geltung tritt538, lässt sich die Verantwortlichkeit des Repräsentanten des deutschen Volks auch mittelbar allenfalls unter größten Schwierigkeiten rekonstruieren. Denn der Ausschuss der Staatenvertreter entscheidet nach dem Mehrheitsprinzip539, er tagt nicht öffentlich540 und der öffentliche Zugang zu Dokumenten, die Rückschlüsse auf das Beratungsverhalten der nationalen Ratsvertreter zulassen, ist stark eingeschränkt541. Soweit der Rat den vom Ausschuss der Staatenvertreter abgelehnten Vorschlag der Kommission für einen Durchführungsakt stillschweigend billigt, genügt hierfür eine qualifizierte Mehrheit, ohne dass die Haltung der Einzelnen ohne Weiteres transparent gemacht würde. In den Fällen, in denen für den Erlass von Durchführungsrecht das Regelungsverfahren gilt, kommt es demnach teilweise zu einer allenfalls rudimentären semi- beziehungsweise imperfekten Ergebnisöffentlichkeit. 534

Vgl. beispielsweise Art. 57 Abs. 2 Satz 2, 93 und 94 EGV. Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (2) = S. 986. 536 Dazu oben Kapitel 6 III. 3. c) bb) = S. 351. 537 Vgl. zum Regelungsverfahren etwa Wichard (Fn. 337), Rn. 17. 538 Art. 5 Abs. 6 UAbs. 3 und 5a Abs. 4 Buchst. d Satz 2 Komitologiebeschluss (Fn. 163). 539 Gemäß Art. 5 Abs. 2 und 5 a Abs. 2 Komitologiebeschluss (Fn. 163) gilt die qualifizierte Mehrheit gemäß Art. 205 Abs. 2 und 4 EGV (zu deren Berechnung Wichard, in: Calliess / Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 205 EGV Rn. 3 ff.). 540 Vgl. Art. 14 Abs. 2 Standardgeschäftsordnung (Fn. 523). 541 Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (3) = S. 988. 535

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(5) Relevanz nationalrechtlicher Bestimmungen für die staatsorganisatorische Publizität der EG-Normsetzung Das Gemeinschaftsrecht schreibt, wie dargelegt, für EG-Normsetzungsakte einen letztlich doch recht beachtlichen Umfang an staatsorganisatorischer Publizität vor542. Zu erörtern bleibt indes, inwieweit neben dem Gemeinschaftsrecht auch das nationale Recht zur staatsorganisatorischen Publizität im Rahmen der EGNormsetzungsverfahren beiträgt. In diesem Zusammenhang gilt es insbesondere zu berücksichtigen, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsrechte verschiedentlich Publizitätsanforderungen in Hinblick auf die Mitwirkung staatlicher Organe am EG-Normsetzungsprozess statuieren. Dabei kommt es aus Sicht des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation in erster Linie auf die entsprechenden grundgesetzlichen Anforderungen an. Denn die nach dem Modell mittelbarer Legitimation maßgebliche Rückbindung von EGNormsetzungsakten speziell an den Willen des deutschen Volks hängt unmittelbar davon ab, inwieweit die deutsche Gebietsgesellschaft Einblick in die Mitwirkung gerade der deutschen Volksrepräsentanten am EG-Normsetzungs­prozess erlangt und daraus Schlüsse für das eigene Wahlverhalten ableiten kann. Insofern erweist sich als entscheidend, inwiefern das Grundgesetz in Hinblick auf die Mitwirkung der deutschen Staatsorgane staatsorganisatorische Öffentlichkeit gewährleistet. Dies bedeutet zwar nicht, dass die entsprechenden Vorschriften der anderen mitgliedstaatlichen Verfassungen543 aus der Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation gänzlich bedeutungslos wären. Denn soweit nach dem Verfassungsrecht anderer Mitgliedstaaten Licht in die EG-Normsetzungsverfahren gebracht und bei dieser Gelegenheit auch die Mitwirkung speziell bundesrepublikanischer Organe thematisiert wird, kann angesichts der keineswegs hermetisch gegeneinander abgeschotteten nationalen Öffentlichkeiten544 mittelbar auch die deutsche Gebietsgesellschaft hiervon profitieren und entsprechende Schlüsse in Hinblick auf die von ihr zu bestellenden deutschen Staatsorgane ziehen. Es kann insofern – mosaikartig und äußerst fragmentarisch – eine mitlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit erzeugt werden. Des ungeachtet stehen in der Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation die spe­zifisch grundgesetzlichen Transparenzanforderungen im Mittelpunkt des demokratierechtlichen Interesses. Damit sind namentlich die grundgesetzlichen Vorgaben aus Art.  23 Abs.  3 Satz 1 GG in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 GG angesprochen545. Danach nimmt 542

Überblicksartig hierzu auch Bieber (Fn. 129), § 7 Rn. 49 ff. Beispielhaft zu nennen ist hier der Hauptausschuss des österreichischen Nationalrats, der gemäß § 23e Abs. 4 B-VG in der Regel die parlamentarischen Direktivbefugnisse gegenüber den österreichischen Ratsvertretern ausübt und ausweislich § 31c Abs. 5 der Geschäftsordnung des Nationalrates über Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union grundsätzlich öffentlich verhandelt. 544 Dazu eingehend oben Kapitel 6 IV. 2. d) = S. 370. 545 Hierzu etwa Rojahn (Fn. 52), Rn. 55 ff. 543

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der von der Bundesregierung umfassend über den EG-Normsetzungsprozess unterrichtete Bundestag zu den EG-Rechtsetzungsprojekten Stellung. Da nun der Bundestag grundsätzlich öffentlich debattiert546, könnte man den Eindruck gewinnen, als ob über die aus den dargelegten Gründen zwar nicht (ko-)dezisive, wohl aber konsultative Mitwirkung des Bundestags am EG-Normsetzungsprozess ein gewisses Maß an Publizität grundgesetzlich gewährleistet sei. Denn die einer Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Satz 1 GG vorhergehenden Debatten thematisieren indirekt das bisherige Verhalten der deutschen Ratsvertreter, sodass sich diesbezüglich eine mitlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn zu brechen scheint. Insofern wird jedoch vernachlässigt, dass nach Art.  45 Satz  2  GG der Bundestag seine Befugnisse gemäß Art. 23 GG auf den Europaausschuss übertragen darf547 und er von dieser Übertragungsmöglichkeit auch Gebrauch gemacht hat548. Der Europaausschuss indes tagt regelmäßig nicht öffentlich549. Insofern tragen die eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Satz 1 GG präludierenden Auseinandersetzungen im Regelfall eben doch nicht dazu bei, dass die EG-Normsetzungsakte ins Licht der demokratischen Öffentlichkeit rücken550.

2. Die im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Soweit es die Freiheit der Stimmbürger, die Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie die Publizität im gesellschaftlichen Raum anbelangt, werden EG-Normsetzungsakte aus Sicht des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation maßgeblich durch dieselben grundgesetzlichen Vorschriften determiniert wie die das grundgesetzliche Normal 546

Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG. Hierzu näher Pieroth, in: Jarass / ders., Grundgesetz, 6. Aufl. 2006, Art. 45 Rn. 2; Dann (Fn. 506), S. 237. 548 Vgl. §§ 93 und 93a GeschOBT. 549 § 69 Abs.  1 GeschOBT. Kritik daran, dass die Sitzungen des Europaausschusses selbst dann nicht regelmäßig öffentlich sind, wenn er über Stellungnahmen gemäß Art.  23 Abs.  3 Satz 1 GG berät, übt beispielsweise Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. 4. Aufl. 2007, Art. 45 Rn. 7. 550 Dies bedeutet freilich nicht, dass Art. 23 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG demokratietheoretisch irrelevant wären. Denn aufgrund des durch diese Vorschriften entbundenen Arrangements wird im Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundestag interorganschaftliche Transparenz geschaffen, infolgedessen die Kontrolle der Bundesregierung durch den Bundestag effektiviert und dadurch das Niveau materiell-kontrollativer Legitimation erhöht. Diese legitimatorischen Zusammenhänge betreffen nach der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion von Volkssouveränität freilich nicht deren an dieser Stelle diskutierte Horizontaldimension, sondern ihre Vertikaldimension als fortdauernd legitimationsvermittelnder Ableitungszusammenhang. 547

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maß prägenden Normtypen. Folglich lässt sich insofern hinsichtlich der EG-Normsetzungsakte von vornherein keine grundgesetzlich rechtfertigungsbedürftige Legitimationslücke ausmachen. Vielmehr entsprechen die EG-Normsetzungsakte insofern jedenfalls den Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes und bestätigt sich die eingangs dieses Abschnitts aufgestellte These, wonach sich die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation in der Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation ganz überwiegend als demokratierechtlich unproblematisch erweist. In Hinblick auf die Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung weicht das bei EG-Normsetzungsakten erzielte Niveau demokratischer Legitimation allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit sowie dem der staatsorganisatorischen Publizität von dem Legitimationsniveau ab, das das Grundgesetz als Normalmaß vorgibt. Dabei wird sich im Folgenden weisen, dass die EG-Normsetzungsakte unter diesen Gesichtspunkten jedenfalls teilweise hinter das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß zurückfallen, sich dieses Legitimationsdefizit grundgesetzlich aber zumindest gegenwärtig noch rechtfertigen lässt.

a) Wahlrechtsgleichheit Wendet man sich zunächst der durch die Mitherrschaft der Bundesländer bedingten Gleichheitsproblematik zu, so ist vorab zweierlei festzuhalten, worauf der Sache nach schon an früherer Stelle eingegangen worden ist. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass die betreffenden Gleichheitsprobleme am Maßstab der europaspezifischen Demokratienorm überprüft werden können und müssen, obwohl sie sich unmittelbar aus einer Grundgesetzvorschrift ergeben551. Zum anderen ist zu erinnern, dass zwar auch das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß demokratischer Legitimation durch beachtliche Beeinträchtigungen des staatsorganisatorischen Grundsatzes der Gleichheit der Wahl geprägt wird; dies ist insoweit der Fall, als innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterworfen sind552. Gleichwohl gehen die durch Art.  23  GG bedingten Abweichungen vom Grundsatz der Wahlgleichheit vielfach über das hinaus, was mit Rücksicht auf die im Grundgesetz fixierten bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalte als grundgesetzlich normal angesehen werden kann553, sodass in Hinblick auf die europaspezifische Demokratienorm 551

Siehe oben Kapitel 11 II. 2. f) bb) = S. 963. Siehe etwa oben Kapitel 10 III. 1. d) aa) = S. 761. 553 Anders als bisher und anders auch als in Ansehung des staatsorganisatorischen Publizitätsgebots braucht nicht zwischen den verschiedenen Kategorien von EG-Normsetzungsakten differenziert zu werden, um die für eine bestimmte Sekundärrechtsnorm charakteristische Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Wahlrechtsgleichheit zu rekonstruieren. Inwieweit ein EG-Normsetzungsakt das grundgesetzlich vorgegebene Ausmaß demokratischer Wahlrechtsgleichheit unterschreitet, hängt mit anderen Worten weder davon ab, 552

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des Grundgesetzes eine Rechtfertigungslast entsteht: In den Konstellationen des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Art. 23 Abs. 6 GG wächst dem Bundesrat eine deutlich größere Einflussmacht zu als im Rahmen der grundgesetzlich fixierten Zustimmungsvorbehalte554; entsprechend stärker wird der EG-Normsetzungsakt von dem Gleichheitsverstoß infiziert. In der Konstellation des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG geht der Gleichheitsverstoß immerhin insoweit über das grundgesetzlich Normale hinaus, als er nahezu jeden EG-Normsetzungsakt erfasst. Die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Abs. 5 Satz 2 oder Abs. 6 GG bedingten Ein­ bußen an demokratischer Zurechenbarkeit lassen sich nun freilich in Hinblick auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen. Zwar kann im Rahmen des Modells mittelbarer Legitimation das rechtfertigende Potenzial der Bundesstaatsnorm nur in beschränktem Umfang mobilisiert werden, weil diese lediglich dann Platz greift, wenn aus dem föderativen Zusammenwirken verschiedener Völker staatgebietseinheitliche Volkssouveränität zu erwachsen vermag555. Da dies freilich der Fall ist, sofern die Landesstaatsvölker unter den Bedingungen von Art. 23 GG mit dem Bundesstaatsvolk zusammenwirken, kommt vorliegend ein

ob er wesensmäßig marktkonstituierender oder potenziell marktinterventionistischer Natur ist, noch davon, ob er dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfällt oder nicht. Dies soll im Folgenden näher begründet werden. Sofern sie ohne Mitwirkung der Bundesländer zustandekommen, sieht das Grundgesetz für rein innerstaatliche Parlamentsgesetze und Verordnungen wie auch für Vertragsgesetze und innerstaatlich wirksame Verwaltungsabkommen einen exakt identischen Umfang an (national-) demokratischer Wahlrechtsgleichheit vor. Schließlich gelten für diese grundgesetzlich en détail normierten Kategorien von Normsetzungsakten, soweit sie ohne Mitwirkung der Bundesländer zustandekommen, dieselben wahlrechtlichen Bedingungen. Aber auch wenn Parlamentsgesetze und Verordnungen, Vertragsgesetze und innerstaatlich rezipierte Verwaltungsabkommen der bundesrätlichen Mitwirkung bedürfen, ist der grundgesetzlich vorgegebene Umfang demokratischer Wahlrechtsgleichheit zumindest annähernd gleich. Denn die Mitwirkung der Länder, die zu Wahlrechtsungleichheiten führt, vollzieht sich in allen Fällen in derselben Form, nämlich durch Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrats. Kleinere Differenzen ergeben sich lediglich insofern, als aufgrund der Prädominanz der Exekutive die Einflussmacht des Bundesrats bei den innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts vergleichsweise kleiner ist als bei den rein innerstaatlichen Normsetzungsakten und infolgedessen auch die Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit etwas geringer ausfällt. Allerdings sind diese Unterschiede so geringfügig, dass sie im Folgenden vernachlässigt werden können und sollen. Vor diesem Hintergrund ist cum grano salis davon auszugehen, dass das Grundgesetz für alle von ihm näher geregelten Normsetzungstypen einheitlich bestimmt, welcher Umfang demokratischer Wahlrechtsgleichheit jenseits und diesseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung realisiert werden muss. Dementsprechend erweist es sich denn auch für die bei EG-Normsetzungsakten mitunter zu diagnostizierende Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Wahlrechtsgleichheit als irrelevant, ob diese zu den wesensmäßig markt­konstituierenden oder aber zu den potenziell marktinterventionistischen rechnen und ob sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen oder nicht. 554 Dazu bereits oben Kapitel 11 II. 2. f) bb) = S. 963. 555 Oben Kapitel 10 III. 5. c) cc) = S. 857.

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rechtfertigender Rekurs auf das Bundesstaatsprinzip in Betracht. Dass dieser hinreichend tragfähig ist, soll im Folgenden näher dargetan werden556. Soweit das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Wahlrechtsgleichheit im Rahmen von Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG unterschritten wird, ist immerhin unter einem Gesichtspunkt an eine Rechtfertigung anhand des grundgesetzlichen Bundesstaatsprinzips zu denken. Zwar lässt sich die ponderierte Stimmengewichtung im Bundesrat557, die für die hier interessierende Gleichheitseinbuße ursächlich ist, weder mit der stärkeren Berücksichtigung gliedstaatlicher Interessen noch mit der effektiven und dennoch föderal verträglichen Bewältigung des in einem Bundesstaat erhöhten Koordinationsbedarfs in Verbindung bringen558. Denn um dieser bundesstaatlichen Ziele willen braucht den kleineren Bundesländern im Bundesrat kein überproportionales Stimmgewicht zuerkannt zu werden. Allerdings dient das für die relative Wahlrechtsungleichheit maßgebliche institutionell-prozedurale Arrangement der Stabilisierung des föderativen Gefüges, weil es die kleineren Staaten und ihre Interessen gegen eine Majorisierung durch die größeren Staaten und deren Interessen ein Stück weit absichert559. Das fragliche Verfahrensarrangement und die damit einhergehenden Einbußen an demokratischer Wahlrechtsgleichheit erweisen sich auch als erforderlich. Denn es ist nicht ersichtlich, wie die kleine(re)n Bundesländer in vergleichbarer Weise gegen eine Überwältigung durch die größeren geschützt werden könnten, ohne dass es zu dem fraglichen Verlust an formaler Wahlrechtsgleichheit kommt. Zwar ließe sich bei vordergründiger Betrachtung daran denken, dass man die Verteilung der Stimmen im Bundesrat stärker an die Bevölkerungszahl der einzelnen Bundesländer rückkoppelt. Dies aber wäre gerade kein gleich geeignetes Mittel, zumal das föderative Gesamtgefüge hierdurch eher desintegriert als stabilisiert würde. Damit bleibt zu überlegen, ob die zur Verwirklichung eines bundesstaatlichen Zwecks geeignete und erforderliche Absenkung des grundgesetzlich normalen 556 Man muss sich freilich vor Kurzschlüssen hüten. So ist zwar schon an früherer Stelle dargelegt worden, dass sich Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG bedingt sind, in Ansehung des Bundesstaatsprinzips rechtfertigen lassen. Diese Erwägungen lassen sich aber nicht einfach auf den hiesigen Fall übertragen. Denn dabei ging es erstens um andere Legitimationsdefizite als die hier in Rede stehenden, nämlich um die durch besagte Grundgesetzvorschriften bedingten Einbußen an personeller und materieller Legitimation. Zweitens wurden die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG normativ fixierten institutionell-organisatorischen Arrangements aus einer anderen als der nunmehr interessierenden Perspektive beurteilt: Dort ging es um die Legitimationsdefizite, die mit der größeren Mitentscheidungsmacht der Bundesländer verbunden sind; hier geht es um die Legitimationseinbußen, die mit dem spezifischen Abstimmungsmodus im Bundesrat in Zusammenhang stehen. 557 Dazu etwa Krebs, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 51 Rn. 11 f. sowie v. Münch, Staatsrecht I. 6. Aufl. 2000, Rn. 722. 558 Zu diesen bundesstaatlichen Rechtfertigungsansätzen siehe oben Kapitel 10 III. 5. c) dd) = S. 858. 559 Vgl. Zippelius / Würtenberger (Fn. 421), § 40 II 1. 

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Umfangs der Wahlrechtsgleichheit demokratisch auch angemessen ist. Insofern ist zu erinnern, was bereits im allgemeinen Teil entwickelt wurde. Dort ist eingehend dargelegt worden, weshalb das an sich strikt formale Verständnis demokratischer Gleichheit relativiert werden darf, wenn in einem Gemeinwesen strukturell verfestigte Minderheiten existieren560: Ohne Relativierung der formalen Gleichheit, mithin also ohne entsprechende Privilegierung der Minderheit im vom Mehrheitsprinzip beherrschten Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung steht ernsthaft zu befürchten, dass die Angehörigen der Minderheit, ungeachtet formal gleicher Teilhabebefugnisse, auf die selbstverständlich auch von ihnen zu duldende VolksHerrschaft einen de facto ungleich geringeren Einfluss auszuüben vermögen als ein beliebiger Angehöriger der strukturell verfestigten Mehrheitsgruppe. Eine derartige Gefahr demokratiewidriger Majorisierung lässt sich, wie im allgemeinen Teil ebenfalls schon dargetan wurde561, insbesondere dann ausmachen, wenn mehrere unterschiedlich große Völker in Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken. Dann nämlich drohen die Angehörigen der kleinen Staaten auf Dauer – und eben nicht nur, wie es dem demokratischen Ideal entspräche, auf Zeit – von den Angehörigen der größeren Staaten dominiert zu werden und genügen die demokratischen Teilhaberechte, die den Angehörigen der kleinen Staaten zustehen, zwar vielleicht den Anforderungen formaler Gleichheit, nicht aber denen von materialer Gleichheit und Gerechtigkeit. In Konstellationen wie diesen dürfen – und müssen gegebenenfalls sogar – formale und materiale Gleichheit in ein Verhältnis praktischer Konkordanz562 gebracht werden. Dass diese Zielsetzung im Rahmen von Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG verfehlt worden wäre, ist nicht anzunehmen: Die kleineren Staaten beziehungsweise ihre Angehörigen sind im Rahmen des bundesrätlichen Entscheidungsverfahrens anerkanntermaßen nicht übermäßig besser gestellt als die größeren Staaten respektive deren Angehörige563. Insofern wird man im Ergebnis festhalten können, dass die mit Art.  23 Abs.  5 Satz  2  GG verbundene Einbuße an formaler Wahlrechtsgleichheit in Hinblick auf die genannten bundesstaatlichen Zwecke nicht nur geeignet und erforderlich, sondern in Ansehung der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm auch angemessen ist. Die Defizite an demokratischer Wahlrechtsgleichheit, die im Rahmen von Art. 23 Abs. 6 GG zu verzeichnen sind, gehen über die hinaus, die im Kontext von Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG festzustellen sind564. Das institutionell-prozedurale Arrangement, das für die fraglichen Demokratiedefizite kausal ist, lässt sich dafür aber auch nicht nur in Hinblick darauf bundesstaatlich rechtfertigen, dass durch 560

Siehe oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328. Oben Kapitel 6 III. 1. b) bb) = S. 334. 562 Zippelius / Würtenberger (Fn. 421), § 7 I 1 c). 563 So ist die Stimmverteilungsregel des Art. 51 Abs. 2 GG durch den Einigungsvertrag 1990 bewusst dahingehend modifiziert, dass die bevölkerungsreichsten Länder der alten Bundes­ republik ihre Sperrminorität behalten (Krebs [Fn. 557], Rn. 12). 564 Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) aa) = S. 979. 561

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den akzeptanzfördernden Schutz der Interessen der kleinen Bundesländer zur Stabilisierung des föderativen Gemeinwesens beigetragen wird. Vielmehr kommen insofern noch zwei weitere bundesstaatliche Rechtfertigungsgründe zum Tragen: Im Fall des Art. 23 Abs. 6 GG ist die Einbuße an Wahlrechtsgleichheit deshalb so massiv, weil die Angehörigen desjenigen Landesstaatsvolks, dessen Vertreter die deutschen Ratsbefugnisse wahrnimmt, den legitimationsbedürftigen EG-Norm­ setzungsakt ungleich stärker zu beeinflussen vermögen als die Angehörigen der übrigen Landesstaatsvölker. Mit diesem institutionell-organisatorischen Arrangement soll zum einen erreicht werden, dass die gliedstaatlichen Interessen auf europäischer Ebene besser vertreten werden. Zwar können sich infolge dieser Regelung nicht alle Bundesländer gleichermaßen auf europäischer Ebene Gehör verschaffen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich die bundesstaatlich zweck­ adäquate Repräsentanz der Länder unter den Bedingungen der europäischen Institutionenordnung überhaupt nur durch die Entsendung von magistratischen Repräsentanten eines bestimmten Landesstaatsvolks bewirken lässt565. Vor diesem Hintergrund dient das durch Art. 23 Abs. 6 GG normierte Verfahrensarrangement dann aber zum anderen auch dazu, den im Zuge der Europäisierung erhöhten Koordinationsbedarf der Bundesrepublik Deutschland unter weitestmöglicher Schonung ihres föderativen Grundgefüges zu bewältigen566. Für das durch Art. 23 Abs. 6 GG in puncto Wahlrechtsgleichheit bedingte Legitimationsdefizit lassen sich demnach in der Tat insgesamt drei bundesstaatliche Rechtfertigungsgründe ins Feld führen. Das durch diese Grundgesetzvorschrift entbundene institutionell-prozedurale Arrangement erweist sich mangels gleichwertiger Alternative in Hinblick auf die damit verfolgten bundesstaatlichen Zwecke auch als erforderlich. Von der demokratischen Angemessenheit ist nicht zuletzt deshalb auszugehen, weil die Abweichung von dem an sich rein formal zu verstehenden Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit  – zwar nicht in Hinblick auf den einzelnen legitimationsbedürftigen EG-Normsetzungsakt, wohl aber bezogen auf den EG-Normsetzungsprozess insgesamt  – dadurch gemindert werden kann und von Grundgesetzes wegen auch abgemildert werden muss, dass nicht immer die magistratischen Repräsentanten eines ganz bestimmten Bundeslandes in den Rat entsandt werden, sondern ein demokratiekompatibler Rotationsmechanismus greift. Für die mit Art.  23 Abs.  1  GG zusammenhängenden Gleichheitsdefizite lässt sich – wie für die durch Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG bedingten – nur, aber immerhin ein bundesstaatlicher Gesichtspunkt ins Feld führen. Das in Art. 23 Abs. 1 GG angelegte institutionell-prozedurale Arrangement ist dazu geeignet und auch erforderlich, den bundesstaatlichen Zusammenhalt zu promovieren. Die ihm zurechenbare Einbuße an Wahlrechtsgleichheit kann schon deshalb als in Ansehung der 565

Das Gemeinschaftverfassungsrecht lässt dies seit dem Maastricht-Vertrag zu – zu den entstehungsgeschichtlichen Hintergründen Müller-Terpitz (Fn. 32), S. 270 f. 566 Vgl. Zippelius / Würtenberger (Fn. 421), § 56 VII 3. 

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm angemessen qualifiziert werden, weil sie sich in relativ eng bemessenen Grenzen hält. Immerhin tragen die sich über Art. 23 Abs. 1 GG Bahn brechenden Legitimationsbeiträge – anders als im Rahmen von Art. 23 Abs. 5 Satz 2 oder 6 GG – zumindest zur Hälfte dem grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Wahlrechtsgleichheit Rechnung.

b) Staatsorganisatorisches Publizitätsgebot Um darzulegen, dass und inwieweit das Legitimationsniveau von EG-Norm­ setzungsakten in Ansehung des staatsorganisatorischen Publizitätsgebots von dem grundgesetzlich vorgezeichneten Normalmaß abweicht, müssen erneut die bereits eingeführten Differenzierungen bemüht werden. Zu unterscheiden ist zwischen einerseits wesensmäßig marktkonstituierenden und andererseits potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten sowie zwischen solchen EG-Normsetzungsakten, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist.

aa) Die bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der demokratiespezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte gilt aus den dargelegten Gründen das in Art. 59 Abs. 2 GG vorgezeichnete Legitimationsniveau als Normalmaß. Dieser Grundgesetzvorschrift zufolge erwachsen Regelungen, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, erst in der Phase nach Abschluss der zwischenstaatlichen Verhandlungen, also unmittelbar vor der endgültigen Entscheidungsfindung in – dafür allerdings perfekter – Verfahrensöffentlichkeit; ansonsten erschöpft sich die staatsorganisatorische Publizität in – zumindest hälftig perfekter, ansonsten semiperfekter – Ergebnisöffentlichkeit567. Von den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten, die diesseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergehen, wird dieses Legitimationsniveau teils überschritten, teils  – geringfügig  – unterschritten. Überschritten wird es im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens. Denn in diesem Normsetzungsverfahren herrscht hinsichtlich der Deliberationen des exekutivisch geprägten Rats – zumindest für zentrale Etappen seines organinternen Entscheidungsprozesses  – perfekte Verfahrensöffentlichkeit568. Im Rahmen der 567

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. e) = S. 825. Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (1) = S. 981.

568

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

kodezisiven Mitwirkung des Europäischen Parlaments wird vielfach mittelbar eine mitlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit ins Werk gesetzt. In puncto Verfahrensöffentlichkeit weisen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte demnach ein deutlich höheres Legitimationsniveau auf, wenn sie im gemeinschaftsrechtlichen Mitentscheidungsverfahren ergehen, als wenn sie nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG in Geltung gesetzt werden. Dieser Legitimationsvorsprung wird auch dadurch nicht aufgehoben, dass die fraglichen EG-Normsetzungsakte nur in  – vielfach überdies bloß weitestgehender  – semiperfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen, wohingegen das grund­ gesetzliche Legitimationsniveau insofern jedenfalls hälftig perfekte, im Übrigen zumindest semiperfekte statische Öffentlichkeit vorsieht. Zu bedenken ist nämlich, dass die Verfahrensöffentlichkeit demokratisch höherwertiger ist als die Ergebnisöffentlichkeit569. Soweit EG-Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung subsumierbar sind, nicht im Verfahren der Mitentscheidung ergehen, kennzeichnet sie im Regelfall ein beachtliches Maß an semiperfekter Verfahrensöffentlichkeit. Denn die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden EG-Normen werden in diesen Fällen typischerweise570 in einem Rechtsetzungsverfahren erlassen, in dem der Rat als Gesetzgeber agiert, nämlich im Anhörungsverfahren571. Insofern ist wegen Art.  9 Abs.  1 GeschORat wenigstens eine nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit gegeben572. Bei bilanzierender Betrachtung ist daher davon auszugehen, dass den diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Anhörungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungsakten ein Maß an Verfahrensöffentlichkeit eignet, das demjenigen in etwa gleichkommt, das nach Art. 59 Abs. 2 GG für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorgesehen ist, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen. Denn diese Normsetzungsakte prägt zwar eine perfekte und nicht lediglich semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit. Jedoch werden sie in deutlich geringerem Umfang von dieser perfekten Verfahrensöffentlichkeit erfasst, als die im Anhörungsverfahren ergangenen EG-Rechtsakte in semiperfekter Verfahrensöffentlichkeit erwachsen. Nimmt man nun freilich die staatsorganisatorische Publizität insgesamt in den Blick, lässt sich ein – relativ geringer – legitimatorischer Mehrwert der ge 569

Oben Kapitel 6 III. 3. c) cc) = S. 352. Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) = S. 933. 571 Zu berücksichtigen ist hierbei, dass es nach der gegenwärtigen Rechtslage keine wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte mehr geben kann, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Verfahren der Zusammenarbeit ergehen; dies kommt nur mehr jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts in Betracht (vgl. etwa Art. 102 Abs. 2 EGV). Des Weiteren ist zu beachten, dass das Zustimmungsverfahren im Bereich der wesensmäßig markt­ konstituierenden EG-Normsetzungsakte gänzlich inexistent ist, und zwar sowohl diesseits als auch jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung. 572 Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (3) = S. 988. 570

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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mäß Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts konstatieren. Denn diese erwachsen zumindest hälftig in perfekter Ergebnisöffentlichkeit573, wohingegen die im Anhörungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte zwar immerhin, aber eben ausschließlich nur durch semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit geprägt werden574. Insofern besteht ein rechtfertigungsbedürftiges Demokratiedefizit. Ein solches lässt sich teilweise auch in Hinblick auf jene wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte diagnostizieren, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. So ist zu berücksichtigen, dass diese Normsetzungsakte typischerweise ohne Mitwirkung von Rat und Euro­ päischem Parlament ergehen575. Nun wird das grundgesetzliche Normalmaß staats 573

Oben Kapitel 10 III. 2. e) = S. 825. Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (4) = S. 990. 575 Selbstverständlich gibt es allerdings auch Ausnahmen. Sofern etwa wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte im Zusammenarbeitsverfahren erlassen werden, ergehen sie überhaupt nur jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung (siehe oben Fn. 571). – Das für sie maßgebliche Normalmaß staatsorganisatorischer Publizität überschreiten im Zusammenarbeitsverfahren ergehende wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte klar. Sie schließen sogar zu dem Maß staatsorganisatorischer Publizität auf, das sich aus Art. 59 Abs. 2 GG für Normsetzungsakte diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ableitet: Werden Regelungen im Verfahren der Zusammenarbeit erlassen, bricht sich immerhin semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn, und dies in relativ großem Umfang (oben Kapitel 11 IV. 1. b] bb] [3] = S. 988). So ist zum einen – im Hinblick sowohl auf den Rat als auch auf die Kommission als Ganzer – eine nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit gewährleistet. Zum anderen kann sich im Zusammenarbeitsverfahren – unmittelbar im Rahmen insbesondere des Rats wie auch mittelbar vor allem über das Europäische Parlament – mitunter sogar eine mitlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn brechen. Bei bilanzierender Betrachtung wird man daher davon ausgehen können, dass das im Verfahren der Zusammenarbeit generierte Maß an dynamischer Öffentlichkeit dasjenige leicht übertrifft, das nach Art. 59 Abs. 2 GG für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorgesehen ist, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterliegen. Zwar sieht Art. 59 Abs. 2 GG im Unterschied zu Art. 252 EGV eine perfekte und nicht bloß semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit vor. Dafür aber erfasst die im Rahmen von Art. 252 EGV vorgesehene semiperfekte dynamische Öffentlichkeit den Normsetzungsprozess in einem ungleich größeren Umfang, als Art. 59 Abs. 2 GG dies für die von ihm vorgeschriebene perfekte Verfahrensöffentlichkeit vorgibt. Vor diesem Hintergrund muss in Ansehung des jeweils realisierten Maßes an Verfahrensöffentlichkeit von einem leichten Legitimationsvorsprung zugunsten des Zusammenarbeitsverfahrens ausgegangen werden. Bezogen auf die demokratische Öffentlichkeit insgesamt wird aus dem Legitimationsvorsprung allerdings ein legitimatorischer Gleichstand. Zu bedenken ist nämlich, dass die gemäß Art.  59 Abs.  2  GG innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts zumindest hälftig in perfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen (oben Kapitel 10 III. 2. e] = S. 825), wohingegen die im Verfahren nach Art. 252 EGV erlassenen EG-Normsetzungsakte maximal durch semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit geprägt werden (oben Kapitel 11 IV. 1. b] bb] [4] = S. 990). Dieses deutliche Mehr an statischer Öffentlichkeit, das insofern im Rahmen von Art. 59 Abs. 2 GG zum Tragen kommt, wiegt das relativ bescheidene Weniger an dynamischer Verfahrensöffentlichkeit auf. Damit bestätigt sich, dass die im Zusammenarbeitsverfahren erlassenen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte in puncto staatsorganisatorische Publizität sogar das Normalmaß wahren, das sie einhalten müssten, wenn sie diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergingen. 574

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

organisatorischer Öffentlichkeit zwar dort nicht unterschritten, wo die Kommission die betreffenden Normsetzungsakte allein beherrscht. Denn sie erwachsen insofern in perfekter Ergebnisöffentlichkeit576. Anders verhält es sich in den Fällen, in denen das von der Kommission erlassene Durchführungsrecht im Regelungsverfahren ergeht. Hier erwachsen die fraglichen Normsetzungsakte nur zur Hälfte in perfekter Ergebnisöffentlichkeit, zur anderen Hälfte aber allenfalls rudimentär in semi- beziehungsweise imperfekter Ergebnisöffentlichkeit. Damit wird das grundgesetzliche Normalmaß unterschritten, das neben der perfekten Ergebnisöffentlichkeit eine belastbare semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit fordert. Vor diesem Hintergrund bleibt festzuhalten, dass die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte das in Art.  59  GG angelegte Normalmaß demokratischer Öffentlichkeit unterschreiten, wenn sie diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Anhörungsverfahren577 ergehen oder jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unter den Bedingungen des Regelungsverfahrens als Durchführungsrecht erlassen werden. Allerdings hält sich das insofern zu diagnostizierende Legitimationsdefizit in engen Grenzen. Denn es betrifft ausschließlich die – unter demokratischen Gesichtspunkten weniger bedeutsame578 – Ergebnisöffentlichkeit. Insofern erweist es sich als letztlich durchgängig rechtfertigbar: Häufig gelingt die Rechtfertigung schon dadurch, dass auf die Zielnorm der Volkssouveränität rekurriert wird. Jedenfalls aber lässt sich das Legitimationsdefizit unter Hinweis auf die Strukturen eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rechtfertigen579. Dies gilt in Hinblick auf seinen relativ geringen Umfang auch für die Fälle, in denen ein EG-Normsetzungsakt von ihm infiziert ist, dessen Ermächtigungsnorm nicht schon in der Konstruktionsphase der EG im Gemeinschaftsrecht verankert war. In Hinblick auf den zuletzt genannten Rechtfertigungsgrund ist im Übrigen zu erinnern, dass es den Usancen des Völkerrechtsverkehrs entspricht, dass internationale Abkommen vertraulich zwischen den beteiligten Regierungen ausgehandelt werden580. Der solche Geheimdiplomatie581 übergangsweise noch legitimierende Rechtfertigungsgrund wird aber zu­sehends schwächer, greift nur mittelfristig.

576

Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (4) = S. 990. Oder in Ausnahmefällen gar als Durchführungsrecht. 578 Zu diesem Rangverhältnis oben Kapitel 6 III. 3. c) cc) = S. 352. 579 Zu diesem Rechtfertigungsansatz Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. 580 Heintschel von Heinegg, Die völkerrechtlichen Verträge als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 10 Rn. 9. 581 Zutreffend weist Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 61 darauf hin, dass der gespaltene Charakter der Gemeinschaft als Mischwesen von Diplomatie und Demokratie in besonderem Maße den Entscheidungsprozess im Rat präge. 577

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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bb) Die bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der demokratiespezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte sind an dem für rein innerstaatliche Normsetzungsakte geltenden Legitimationsniveau zu messen. Sofern sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, unterschreiten sie dieses durchweg. Denn für rein innerstaatliche Parlamentsgesetze sieht das Grundgesetz vor, dass alle rechtlich wesentlichen Etappen des Normsetzungsprozesses vor den Augen der Öffentlichkeit ablaufen sollen. Diesen Realisierungsgrad von Verfahrensöffentlichkeit freilich erreichen nicht einmal diejenigen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EG-Normsetzungsakte zwingend, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden. Zwar wird mittlerweile auch im Rahmen des Rats perfekte Verfahrensöffentlichkeit gewährleistet. Allerdings ist diese nur für die Anfangs- und Endphase des Mitentscheidungsverfahrens imperativ vorgegeben. Diese Lücke bei der Verfahrensöffentlichkeit wird auch dadurch nicht geschlossen, sondern lediglich schmaler, dass im Mitentscheidungsverfahren für weitere Phasen des Rechtsetzungsprocederes eine zumindest nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit erzeugt wird. Darüber hinaus besteht hinsichtlich der zwar geringen, aber dennoch beachtlichen Entscheidungsbeiträge der Kommission keinerlei perfekte Verfahrensöffentlichkeit. Folglich wird Verfahrensöffentlichkeit selbst im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens in geringerem Maße realisiert, als das Grundgesetz dies für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte vorsieht. Erst recht wird dieses Publizitätsniveau in den übrigen EG-Rechtsetzungsverfahren unterschritten. Hinzu kommt, dass die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EGNormsetzungsakte in aller Regel auch ein geringeres Maß an Ergebnisöffentlichkeit verwirklichen, als dies bei rein innerstaatlichen Parlamentsgesetzen der Fall ist. Während diese nämlich zumindest hälftig in perfekter und ansonsten in semiperfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen582, werden jene – außer wenn im Rat ausnahmsweise das Einstimmigkeitsprinzip gilt  – durch bloß semiperfekte sta­ tische Öffentlichkeit geprägt, und dies nicht einmal umfänglich583. Durch marktinterventionistische Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, wird das grundgesetz­ liche Normalmaß demokratischer Öffentlichkeit zum Teil unterschritten, zum anderen Teil zumindest gewahrt. So wird diese Gruppe von EG-Normsetzungsakten typischerweise von der Kommission als Durchführungsrecht erlassen. Soweit das Durchführungsrecht im Regelungsverfahren erlassen wird, erwächst es indes nur gewissermaßen zur Hälfte in – perfekter – statischer Öffentlichkeit, wohingegen 582

Oben Kapitel 10 III. 1. d) cc) = S. 763. Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (2) = S. 986.

583

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

sich zur anderen Hälfte eine allenfalls rudimentäre semi- beziehungsweise imperfekte Ergebnisöffentlichkeit realisiert584. Damit wird das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß demokratischer Publizität unterschritten. Denn Rechtsverordnungen kennzeichnet unter der Herrschaft des Grundgesetzes eine mindestens hälftig perfekte, hälftig semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit585. Zumindest gewahrt wird das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Öffentlichkeit indes, sofern die vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierten EG-Normsetzungsakte allein von der Kommission erlassen werden. Werden die EG-Normsetzungsakte, die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, ausnahmsweise nicht als Durchführungsrecht in Geltung gesetzt, kommt es wegen der Einbindung des Rats jedenfalls zu einer nachlaufenden semiperfekten Verfahrensöffentlichkeit. Damit wird ein Niveau demokratischer Öffentlichkeit erzeugt, das dem für Rechtsverordnungen charakteristischen überlegen ist. Nach allem erreichen die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte das in Ansehung der staatsorganisatorischen Publizität grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß nur teilweise. Dies ist dann der Fall, wenn der betreffende EG-Normsetzungsakt jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts allein von der Kommission oder aber ausnahmsweise durch den Rat (mit) beschlossen wird. In den übrigen Fällen bleiben die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte deutlich hinter dem grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß zurück. Das insofern zu diagnostizierende Legitimationsdefizit lässt sich nur zum kleineren Teil rechtfertigen: Von vornherein nur in besonderen Ausnahmefällen greift die an die Zielnorm der Volkssouveränität anschließende Rechtfertigung. Auch dem ohnedies nur mittelfristig noch tragfähigen Gesichtspunkt der strukturellen Besonderheiten überstaatlicher Hoheitsverbände kommt rechtfertigende Wirkung nur in Hinblick auf einen kleinen Kreis potenziell marktinterventionistischer EG-Normsetzungsakte zu. Bei der Mehrzahl potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakte, die das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Publizität verfehlen, lässt sich das insoweit zu verzeichnende Legitimationsdefizit somit nicht (länger) rechtfertigen.

V. Die Normalität demokratischer Volkswerdung Jedenfalls bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation können die Mindestvoraussetzungen, die das Grundgesetz an die Normalität demokratischer Volkswerdung stellt586, als erfüllt angesehen werden. Denn diesem Modell zufolge kommt es allein darauf an, dass in Hinblick auf das deut 584

Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (4) = S. 990. Oben Kapitel 10 III. 1. d) cc) = S. 763. 586 Dazu eingehend oben Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706.

585

Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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sche Staatsvolk das verfassungsrechtlich geforderte Minimum an demokratischer Normalität gewahrt ist. Schließlich tritt in dieser Perspektive allein das deutsche Staatsvolk als Quell demokratischer Legitimation in Erscheinung. Nun lässt sich schwerlich behaupten, dass die für das deutsche Staatsvolk konstitutive bundesdeutsche Öffentlichkeit schon derart fragmentiert wäre, dass selbst wesentliche politische Entwicklungen keine die gebietsgesellschaftlichen Teil­ diskurse vernetzenden Meinungsbildungsprozesse mehr auslösten587. Ebenso wenig wird man unterstellen können, dass die kollektive Identität des bundesdeutschen demos schon derart in Auflösung begriffen wäre, dass eine zunehmend größere Zahl von Volkszugehörigen nicht mehr bereit wäre, demokratische Entscheidungen auch dann mitzutragen, wenn sie im konkreten Fall den eigenen Interessen widerstreiten588.

VI. Fazit Analysiert man die EG-Normsetzung in der Perspektive des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation, so erweist sie sich als nur partiell vereinbar mit den europaspezifischen Demokratieanforderungen des Grundgesetzes589. Denn das deutsche Staatsvolk, von dem diesem Modell zufolge die einzigen grundgesetzlich beachtlichen demokratischen Legitimationsbeiträge ausgehen, vermag die EG-Normsetzung nur teilweise in der Weise zu beherrschen, wie dies von Art. 20 Abs. 2 GG zwingend gefordert wird. Mit der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes unvereinbar ist die EG-Normsetzung freilich nicht schon insofern, als es erstens die Freiheit der Stimmbürger, die Freiheitlichkeit im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie die Publizität im gesellschaftlichen Raum, zweitens die Wahlrechtsgleichheit und drittens die Normalität demokratischer Volkswerdung anbetrifft: Eben weil nach dem Modell mittelbarer demokratischer Legitimation allein das deutsche Staatsvolk als grundgesetzlich relevanter Legitimationsquell fungiert, werden die Freiheit der Stimmbürger, die Freiheitlichkeit im gesellschaftlichen Willens­ bildungsprozess sowie die Publizität im gesellschaftlichen Raum auch in Ansehung der EG-Normgebung maßgeblich durch diejenigen grundgesetzlichen Vorschriften 587 Dies heißt freilich nicht, dass die demokratienotwendigen Vermittlungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland zufriedenstellend verliefen. Das Gegenteil ist der Fall  – „teils wegen der wachsenden Selbstbezüglichkeit der Parteien, wegen der Asymmetrien innerhalb der Interessenrepräsentation, teils wegen der Defizite im Kommunikationssystem, das sich vielfach weniger am Ziel der Meinungsbildung als an ökonomischen Imperativen ausrichtet“ (Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 38 f.). 588 Dies gilt ungeachtet der zutreffenden Einschätzung von Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S. 110, dass „Anzeichen der politischen Fragmentierung erste Risse im Gemäuer der ‚Nation‘“ verraten. 589 Vgl. zu dieser Konsequenz auch Magiera (Fn. 64), S. 794 f.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

determiniert, die grundgesetzlich für die rein innerstaatlichen Normsetzungsakte gelten und bei der Konkretisierung der europaspezifischen Demokratienorm als Parameter für ein jedenfalls ausreichendes (Normal-)Niveau demokratischer Legitimation heranzuziehen sind. Insofern scheidet ein verfassungsrechtlich relevantes Demokratiedefizit von vornherein aus. Hinsichtlich der Einbußen an Wahlrechtsgleichheit ist zu erinnern, dass im Modell mittelbarer demokratischer Legitimation das Bundesstaatsprinzip zwar nicht zur Rechtfertigung von Legitimationsdefiziten mobilisiert werden kann, die durch das Zusammenwirken der mitgliedstaatlichen Völker verursacht werden. Wohl aber kommt es dort zum Tragen, wo sich eine Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß auf das Zusammenwirken der Völker der Bundesrepublik Deutschland zurückführen lässt. In dieser Perspektive konnten vorstehend die hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit diagnostizierten Demokratiedefizite gerechtfertigt werden590. Schließlich, aber nicht zuletzt ist auch nicht ersichtlich, inwieweit im Kontext der EG-Normsetzung die verfassungsrechtlichen Minimalanforderungen an die Normalität demokratischer Volkswerdung unerfüllt bleiben könnten, wenn als ausschließliches Legitima­ tionssubjekt das unbestritten auf einer funktionierender Öffentlichkeit beruhende und über eine durchaus stabile kollektive Identität verfügende deutsche Volk figuriert591. Soweit freilich die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes Anforderungen an einen fortwährend legitimationsvermittelnden Ableitungszusammenhang, aber auch an die staatsorganisatorische Publizität sowie an den Maximalumfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit stellt, können diese bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur mehr teilweise als erfüllt angesehen werden. Zwar realisieren die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte auch unter diesen legitimatorischen Gesichtspunkten ganz überwiegend ein Maß an Volkssouveränität, das den Vorgaben des Art.  20 Abs.  2  GG (noch) Rechnung trägt. Allerdings finden sich auch insofern bereits Ausnahmen. Zu erwähnen sind hier insbesondere die auf Art.  95  EGV beruhenden Normsetzungsakte. Ausgehend vom Modell mittelbarer Demokratie erreichen sie – obgleich wesensmäßig marktkonstituierend – das durch Art. 20 Abs. 2 GG vorgegebene Legitimationsniveau nur in Hinblick auf die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit sowie die staatsorganisatorische Publizität, nicht aber in puncto exklusiv-perpetuelle beziehungsweise personelle und materielle Legitimation. Bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten gilt sogar ein umgekehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis. Das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, der Grad demokratischer Abgeleitetheit, das Ausmaß staatsorganisatorischer Publizität sowie der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit bleiben hier typischerweise hinter den 590

Oben Kapitel 11 IV. 2. a) = S. 994. Oben Kapitel 11 V. = S. 1004.

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Kap. 11: Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation

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Anforderungen von Art.  20 Abs.  2  GG zurück. Abweichendes gilt nur dort, wo im Einzelfall die Zielnorm der Volkssouveränität beziehungsweise die der Euro­ päischen Einigung ein hinreichendes Rechtfertigungspotenzial aufweist. Dies ist hauptsächlich bei solchen Normsetzungsakten der Fall, die im Rahmen jener seit jeher vertraglich verankerten Gemeinschaftspolitiken ergehen, die – wie vor allem die Gemeinsame Agrarpolitik – zwar marktbezogen592, aber gleichwohl potenziell marktinterventionistisch sind593. Diese genügen (noch) den Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes. Es ist bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation davon auszugehen, dass die EG-Normsetzung seit der Einheitlichen Europäischen Akte nicht mehr vollends in Einklang mit den Anforderungen des Grundgesetzes steht594. Dogmatisch kommt dies nicht von ungefähr. Denn mit der Einheitlichen Euro­ päischen Akte haben sich die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung verschärft: So bestimmt sich seit diesem Zeitpunkt das für potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte relevante Normalmaß demokratischer Legitimation nicht mehr allein nach dem vergleichsweise weniger anspruchsvollen Art. 59 Abs. 2 GG, sondern nach den für die rein innerstaatliche Normsetzung maßgeblichen Verfassungseinzelbestimmungen595. Des Weiteren kommt dem Rechtfertigungstopos der strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands, der an das Staatsziel der europäischen Einigung anschließt, seitdem eine sich zusehends abschwächende Überzeugungskraft zu – und zwar gerade auch in Hinblick auf solche Normsetzungsakte, die auf mit der Einheitlichen Europäischen Akte geschaffene oder auf noch später ins Gemeinschaftsrecht eingefügten Normsetzungs­ ermächtigungen beruhen596.

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Siehe bereits Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S. 34 (78). 593 Vgl. zur interventionistischen Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik klassisch Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 47/1 ff.; siehe auch Schmidt, Die Europäische Union in der Vergleichenden Politikwissenschaft, in: Lauth (Hrsg.), Vergleichende Regierungslehre, 2002, S. 156 (175). 594 Damit korreliert in gewisser Hinsicht der bei Melchior, Perspektiven und Probleme der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Antalovsky / ders. / Puntscher Riekmann u. a. (Hrsg.), Integration durch Demokratie, 1997, S.  11 (17) nachzulesende empirische Befund, dass (erst) mit der EEA die demokratische Legitimationslücke der E(W)G ins öffentliche Bewusstsein getreten sei. 595 Oben Kapitel 10 III. 3. c) aa) = S. 833. 596 Oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Kapitel 12

L

Das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits Kap. 12: Modell des Zweckverbands funktionaler Integration

Auch das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration1 beruht im Ausgangspunkt auf der Vorstellung, dass EG-Normsetzungsakte mittelbar von den nationalen Staatsvölkern her legitimiert werden2. Indes geht es über das Modell mittelbarer demokratischer Legitimation hinaus. Denn dem ZweckverbandsModell zufolge kommt es im Rahmen der EG-Normgebung zusätzlich zu einer ‚Auto-Legitimation‘3. Schließlich erschöpft sich die EG-Normsetzung danach im zweckrationalen Nachvollzug des primärrechtlich angelegten Integrationsprogramms4. Dieses Legitimationskonzept erweist sich nun freilich als inkommensurabel mit dem hier zugrundeliegenden demokratierechtlichen Legitimationsbegriff5: Legitimierend wirkt im Rahmen dieses Konzepts nicht nur die mehr oder weniger ausgeprägte Rückkoppelung eines Hoheitsakts an den Volkswillen, sondern eben auch die ‚organisierte Wissensbildung‘ der EG-Organe, die durch die Eigenrationali­ täten des gemeinschaftsvertraglich beschlossenen Integrationsprogramms determiniert sein soll6. Sofern nach dem Zweckverbands-Modell diese eigentümliche Legitimation per se Defizite im Bereich der genuin demokratierechtlichen Legitimationszusammenhänge kompensieren soll, wird nicht nur Unvergleichbares miteinander verrechnet, sondern überdies die europäische Demokratieproblematik camoufliert: Das Zweckverbands-Modell stellt sich in dieser Perspektive als Demokratieverhinderungsideologie dar7.



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Zu diesem Begriff etwa Ipsen, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 1966, S. 128 (130). Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 (S. 430 f.). 3 Eingehend Ipsen, Fusionsverfassung Europäische Gemeinschaften, 1969, S. 65 ff. 4 Ipsen (Fn. 2), S. 427 ff. 5 Vgl. dazu auch Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 590 ff, der dargelegt, weshalb Sachverstand und Effektivität keine hinreichenden Gründe sind, um Abweichungen vom verfassungsrechtlich vorgegebenen Legitimationsniveau zu rechtfertigen; ebenso Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, in: Staat 1978, S. 27 (34 ff.); ferner Schroeder, Demokratie, Transparenz und die Regierungskonferenz, in: KritV 1998, S. 423 (432 f.). 6 Ipsen (Fn. 3), S. 64 f. In eine ähnliche Richtung haben auch, wenngleich mit großer Vorsicht, v. Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda / Mai­hofer /  Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 4 Rn. 161 argumentiert, als sie zur Reform des europäischen Integrationsverbands vorschlugen, „bestimmte Sachgebiet auszusondern und sie, unter präziser Zielangabe, weisungsabhängigen Stellen zur Sicherung dieses Zieles zuzuweisen“. 7 Zurückhaltender Richter, Demokratietheorie und europäische Integration, in: Thiemeyer /  Ullrich (Hrsg.), Europäische Perspektiven der Demokratie, 2005, S. 67 (70 f.).

Kap. 12: Modell des Zweckverbands funktionaler Integration

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Dies bedeutet indes nicht, dass das Zweckverbands-Modell ohne jeden Erkenntniswert für die Frage wäre, ob EG-Normsetzungsakte ein in Hinblick auf die grundgesetzliche Demokratienorm hinreichendes Niveau demokratischer Legitimation aufweisen. Vielmehr ist es möglich, die dem Zweckverbands-Modell eigene Sichtweise demokratierechtlich zu reformulieren. Die mit dem Zweckverbands-Modell verbundenen Erkenntnisse können mit anderen Worten in eine Begriffswelt übersetzt werden, die zum hier zugrundegelegten, genuin demokratierechtlichen Legitimationsbegriff passen. Für das in diesem Sinne demokratierechtlich rekons­truierte Zweckverbands-Modell lassen sich dann modellbezogen auch spezifische Aspekte des Demokratiedefizits herausarbeiten.

I. Die demokratierechtliche Rekonstruktion des Zweckverbands-Modells Soweit das Zweckverbands-Modell über das Modell mittelbarer Legitimation hinausgeht, soweit es also die Vorstellung von Legitimation durch zweckrationale Aufgabenerledigung ausprägt, beruht es auf zwei Prämissen. Es geht erstens davon aus, dass die Legitimationszusammenhänge auf EG-Ebene nicht mit denen auf nationalstaatlicher Ebene in eins gesetzt werden dürfen. Zweitens beruht es auf der Annahme, dass das europäische Primärrecht eine systemische Grundentscheidung trifft – mit der Konsequenz, dass die Sekundärrechtsetzung sich nicht als genuin politischer Entscheidungsprozess, sondern als unpolitische, sach- und fachgerechte Administration der Systementscheidung darstellt. Diese Prämissen sind zunächst einmal Ausdruck der erwähnten, dem Zweckverbands-Modell eigenen Demokratieverhinderungsideologie. Indem nämlich die qualitativen Unterschiede zwischen den Legitimationszusammenhängen auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene betont werden, kann der europäische Raum ein Stück weit gegen die für die Nationalstaaten anerkannten, genuin demokratierechtlichen Legitimationsanforderungen abgeschottet werden8. Denselben Effekt hat es, wenn die europäischen Normsetzungsprozesse zur ‚organisierten Wissensbildung‘ stilisiert werden: Begreift man die EG-Normsetzung – in maßloser Überschätzung der von der Grundentscheidung für einen Gemeinsamen Markt ausgelösten Sachzwänge9 – als ‚organisierte Wissensbildung‘, so mutiert die EG

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9

Dazu auch Grams, Zur Gesetzgebung der Europäischen Union, 1998, S. 146. Dazu frühzeitig schon Everling, Vom Zweckverband zur Europäischen Union, in: Stödter / Thieme (Hrsg.), Festschrift für Ipsen, 1977, S. 595 (610): „Als Erfahrung von 20 Jahren Mitwirkung im Willensbildungsprozeß der Gemeinschaft kann nun festgestellt werden, dass ständig in der Gemeinschaft auf der Basis technischer Vorprüfung und hinter der vordergründigen Fassade wirtschaftlicher Diskussionen um eminent politische Wertungen und politische Kompromisse gerungen werden muß.“ Ebenso ders., Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, in: DVBl. 1993, S. 936 (937) und Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, S. 585 (589).

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Normsetzung zur expertokratischen Angelegenheit und wird dementsprechend die demokratische Fragestellung in den Hintergrund gedrängt10. Allerdings lässt sich diesen beiden Prämissen durchaus auch ein demokratierechtlich beachtlicher Sinn abgewinnen. So ist es selbstverständlich auch in demokratierechtlicher Perspektive von Belang, dass sich die EG als völkerrechtsvertraglich fundierter, überstaatlicher Hoheitsverband ihren Ursprüngen nach von einem herkömmlichen, (national-)staatlich verfassten Gemeinwesen grundlegend unterscheidet. Indem das Zweckverbands-Modell die strukturellen Eigenheiten der EG herauskehrt, trifft es sich mit der demokratierechtlichen Erwägung, wonach die strukturellen Besonderheiten eines überstaatlichen Hoheitsverbands Abweichungen vom grundgesetzlich vorgezeichneten Demokratieniveau zu rechtfertigen vermögen11. Des Weiteren ist die Vorstellung, dass die EG-Normsetzung in sehr viel höherem Maß Ausfluss ökonomischer Vernunft als Ausdruck politischer Herrschaft sei, demokratierechtlich ebenfalls nicht völlig unergiebig. Schließlich wurde bereits dargetan, dass und weshalb bestimmte Typen von EG-Normsetzungsakten stärker durch das Primärrecht geprägt werden als andere: Bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten ergibt sich eine über den bloßen Wortlaut der ermächtigenden Primärrechtsnorm hinausgehende inhaltliche Vorprägung daraus, dass sie funktional auf die Herstellung marktkonformer Verhältnisse gerichtet sind12. Insofern wird der Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte zwar bei Weitem nicht zur Gänze, aber doch bis zu einem gewissen Grade durch die Marktlogik, die Marktfunktionalität angeleitet. Insofern kommt der Vorstellung, dass die EG-Normsetzung mitunter als Operationalisierung ökonomischen Wissens zu begreifen ist, speziell in Hinblick auf die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte durchaus ein gewisser demokratierechtlicher Erkenntniswert zu13. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert sich das Modell des Zweckverbands funktionaler Integration wie folgt: Ausgangspunkt ist das Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation, wonach die EG-Normsetzungsakte über die Rückbindung an die einzelnen Staatsvölker demokratisch legitimiert werden. Bei der Bestimmung des im Hinblick auf EG-Normsetzungsakte demokratierechtlich geforderten Ausmaßes an Volkssouveränität ist indes zum einen die in der Wurzel strukturelle

10 Vgl. Klein, Entwicklungsperspektiven für das Europäische Parlament, in: EuR 1987, S. 97 (101); Joerges, European Economic Law, the Nation-State and the Maastricht-Treaty, in: Dehousse (Hrsg.), Europe after Maastricht, 1994, S. 29 (38 f.). Vertiefend Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 292 ff. 11 Zu diesem Rechtfertigungsansatz oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. 12 Oben Kapitel 11 I. 3. a) aa) = S. 886. 13 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hermes, Gemeinschaftsrecht, „neutrale“ Entscheidungsträger und Demokratieprinzip, in: Gaitanides / Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 410 (418 f.).

Kap. 12: Modell des Zweckverbands funktionaler Integration

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Verschiedenheit von EG und Nationalstaat sowie zum anderen der Umstand zu berücksichtigen, dass die EG-Normsetzung immerhin partiell durch das Primärrecht auf ein marktrationales Regelungsprogramm festgelegt ist.

II. Die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung im Licht des Zweckverbands-Modells Da das demokratierechtlich rekonstruierte Zweckverbands-Modell im Wesentlichen auf dem Konzept mittelbarer demokratischer Legitimation aufbaut, sind aus seiner Sicht dieselben Demokratiedefizite hinsichtlich der EG-Normsetzung verfassungsrechtlich zu beanstanden, wie sie bereits im Rahmen des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation dargestellt wurden. Allerdings gewinnen einzelne Aspekte des europäischen Demokratiedefizits, wie sie sich bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation ergeben, in der spe­ zifischen Perspektive des Zweckverbands-Modells noch stärker an Kontur. So ist zu berücksichtigen, dass sich das Zweckverbands-Modell auf den europäischen Hoheitsverband bezieht, wie er sich in einem ganz bestimmten Stadium seines Entfaltungsprozesses dargestellt hat. Denn das Anfang der siebziger Jahre entwickelte Zweckverbands-Modell14 nimmt die EWG / EG in Bezug, wie sie sich seit ihrer Gründung und bis in die frühen achtziger Jahre dargestellt hat15, nämlich als eine Wirtschaftsgemeinschaft, die im Wesentlichen durch den Grund- und Leitgedanken eines gemeinschaftsweit zu realisierenden Gemeinsamen Marktes geprägt war16. Daraus folgt, dass die an das Zweckverbandsmodell anknüpfenden demokratierechtlichen Erwägungen in dem Maße an Überzeugungskraft verlieren, wie die europäische Integrationsgemeinschaft den Charakter eines Zweckverbands funktionaler Integration einbüßt17. Wenn daher das Zweckverbands-Modell die Besonderheit und Einzigartigkeit der EWG / EG unterstreicht und sich in diesem Zusammenhang gegen eine Relativierung der europa- auf die nationalstaatsspezifischen Demokratieanforderungen ausspricht, so illustriert dies einerseits die oben entwickelte These, wonach im Grundgesetz eine weitreichende Ermächtigung zur Schaffung neuartiger überstaatlicher Hoheitsverbände verankert worden ist und diese daher nicht durch eine

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Dazu etwa Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 13 Rn. 24. Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, S.  489 (493) meint, dass das Zweckverbandsmodell sogar noch bis zum Maastricht-Vertrag insgesamt tragfähig gewesen sei. Richtiger dürfte es allerdings sein, den integrationspolitischen Quantensprung mit der Einheitlichen Europäischen Akte zu verbinden (so etwa auch Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 5 Rn. 9). 16 Siehe dazu nur Wilms, in: Hailbronner / ders. (Hrsg.), Kommentar zum Recht der Euro­ päischen Union, Bd. 2, Stand: Dezember 2006, Art. 1 EUV Rn. 2. 17 Vgl. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (40).

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

allzu rigide Handhabung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips in ihrer praktischen Wirksamkeit übermäßig beeinträchtigt werden darf18. Andererseits liegt es dann aber auch auf der Linie des demokratierechtlich geläuterten Zweckverbands-Modells, wenn die an die Besonderheit der EWG / EG anknüpfende Absenkung des demokratierechtlichen Anforderungsprofils in dem Maße sukzessive revidiert wird, in dem die EWG die Strukturgestalt eines bloßen Zweckverbands funktionaler Integration ablegt und sich als ein staatsähnliches Gemeinwesen zu konsolidieren beginnt19. Da die EWG / EG mit der Verankerung des Vertragsziels der ‚Europäischen Union‘ und der Ausweitung der EG-Kompetenzen über die marktfunktionalen Politikbereiche hinaus, also mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte, ihren bloßen Zweckverbandscharakter verloren hat, ist es mithin nur folgerichtig, wenn seither auch die der Sache nach an den Zweckverbandscharakter anschließende, Demokratieeinbußen rechtfertigende Einrede der EG-spezifischen Struktureigenheiten eine nur mehr bedingte Wirkkraft entfaltet20. Fernerhin veranschaulicht das Zweckverbands-Modell den demokratierechtlich bedeutsamen Umstand, dass der primärrechtlich verankerte Zweck der Markt­ konstitution eine nicht unbedeutende Steuerungskraft in Hinblick auf die darauf gerichteten EG-Normsetzungsakte auszuüben vermag. Zwar hat das Zweckverbands-Modell die Sachzwänge, die sich mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes verbinden, tendenziell über-, die damit verbundenen, genuin politischen Grundentscheidungen unterschätzt21. Gleichwohl sensibilisiert das ZweckverbandsModell dafür, dass die gemeinschaftsvertraglich der Marktschaffung und -öffnung verpflichtete Sekundärrechtssetzung in nicht unerheblichem Maße durch das in­ soweit vorgegebene Integrationsprogramm angeleitet wird. Ebenso wichtig ist freilich, was sich ex negativo aus dem demokratierechtlich eingenordeten Zweckverbands-Modell ableitet. Eine zumindest gewisse Berechtigung hat die mit diesem Modell verbundene Vorstellung zweckrationaler Aufgabenerfüllung und organisierter Wissensbildung nur solange, als die zu verwirklichenden Zwecke hinreichend konkret und im Übrigen auch nicht tendenziell gegenläufig sind. Nun hat die EG aber seit der Einheitlichen Europäischen Akte eine Reihe neuer, nur bedingt kohärenter und vor allem auch wenig kon­

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Oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. Dazu auch v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 22 f. 20 Dazu auch Graf Kielmansegg, Läßt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 229 (230): „Das politische Handeln der Europäischen Union ist immer weniger als bloßer Vollzug einmal getroffener, konstitutiver, demokratisch legitimierter Entscheidungen zu rechtfertigen. Es ist zunehmend diskretionäres Entscheidungshandeln in einem relativ weiten Raum europäischer Politik­ kompetenz und als solches rechtfertigungsbedürftig. Das gibt der Demokratiefrage ihre Dringlichkeit.“ 21 Dazu eingehend Kaufmann (Fn. 10), S. 319 ff.

Kap. 12: Modell des Zweckverbands funktionaler Integration

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kreter Zwecke zu verfolgen22. Um diese zu verwirklichen, muss nicht ein einigermaßen bestimmtes, volkswirtschaftlich informiertes Marktkonzept nachvollzogen werden, sondern muss aus unterschiedlichsten Gründen zu marktneutralen oder gar marktinterventionistischen Maßnahmen gegriffen werden23. Für die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die seit der Einheitlichen Euro­ päischen Akte massiv an Bedeutung zugenommen haben, lässt sich aus dem Zweckverbands-Modell nichts Relevantes ableiten24.

III. Fazit Demokratierechtlich rekonstruiert verdeutlicht das Zweckverbands-Modell Folgendes: Betont wird die demokratierechtliche Zeitenwende, die sich mit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte verbindet und zugleich das Ende der EG als bloßem Zweckverband funktionaler Integration markiert. Seit diesem Zeitpunkt lassen sich Demokratieeinbußen immer weniger damit rechtfertigen, dass die EG ein von den Staaten wesensverschiedenes Gemeinwesen, ein bloßer Zweckverband sein soll25. Auch nimmt die Zahl der potenziell markt­ interventionistischen Normsetzungsakte zu, die sich – anders als die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte – nicht einmal ansatzweise als Ausfluss eines zweckrationalen Primärrechtsvollzug darstellen und insofern nur in geringem Umfang über das Primärrecht an das nationale Staatsvolk rückgebunden werden. Das verfassungsrechtlich relevante Demokratiedefizit, das bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation diagnostiziert wurde, wird somit aus Sicht der an dieses Modell anknüpfenden Zweckverbands-Doktrin vollauf bestätigt: Dem Grundsatz nach lässt sich festhalten, dass – vor allem, aber nicht ausschließlich  – bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten, zu denen durch die Einheitliche Europäische Akte oder einen der nachfolgenden Änderungsverträge ermächtigt wurde, eine verfassungsrechtlich hinreichende Rückbindung an das – als allein legitimationsstiftend vorausgesetzte – deutsche Staatsvolk nicht (mehr) gewährleistet ist.

22 Diese Entwicklung vernachlässigt Kirchhof, Entparlamentarisierung der Demokratie, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, S. 359 (371). 23 Anschaulich zu den gemeinschaftsrechtlichen Bereichen der Marktintervention Oppermann (Fn. 14), § 13 Rn. 5. 24 Siehe auch v. Simson / Schwarze (Fn. 6), Rn. 114. 25 In diesem Sinne auch Steinberger (Fn. 17), S. 40.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Kapitel 13

M

Das Modell der doppelten Legitimationsbasis und modellspezifische Aspekte des Demokratiedefizits Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

Das Modell der doppelten Legitimationsbasis geht davon aus, dass die EGNormsetzungsakte nicht nur von den nationalen Staatsvölkern her legitimiert werden. Vielmehr wächst den EG-Normsetzungsakten in diesem Modell demokra­ tische Legitimation zugleich von der Unionsbürgerschaft her zu1. Die Vertreter des Modells der doppelten Legitimationsbasis erwecken nun freilich vielfach den Eindruck, als ob sich über die von den Staatsvölkern und vom europäischen demos ausgehenden Legitimationsstränge qualitativ gänzlich unterschiedliche Volksherrschaften realisierten2. Statt eines inneren wird lediglich ein äußerer Zusammenhang zwischen den auf die verschiedenen Völker zurückführenden Legitimationszusammenhängen gesehen  – nämlich dergestalt, dass eine Verringerung der isoliert für sich zu betrachtenden nationaldemokratischen Volkssouveränitäten durch einen Zuwachs bei der ganz andersartigen, genuin europäischen Volkssouveränität kompensierbar sein soll3. Das Modell der doppelten Legitimationsbasis stellt sich insofern als Modell der vielfachen Volkssouveränitäten dar. Mit Art.  20 Abs.  2  GG sind solche Vorstellungen freilich nicht vereinbar4. Denn die von Art. 20 Abs. 2 GG normierte und postulierte Volkssouveränität ist eine staatsgebietseinheitliche. Die Vorstellung von einander ergänzenden, aber wesensverschiedenen Volkssouveränitäten, von einer nicht bloß dezentrierten, sondern multiplen Volkssouveränität liegt schon ausweislich des Normtexts eindeutig quer zu den Vorgaben des Art. 20 Abs. 2 GG5. Allerdings kommt auch eine mit Art. 20 Abs. 2 GG kompatible Rekonstruktion des Modells der doppelten Legitimationsbasis in Betracht. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass es der in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Strukturvorgabe staats

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Jochum / Petersson, Vom „Mitregieren“ zu demokratischer Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 151 (176 f.) sowie BrosiusGersdorf, Die doppelte Legitimationsbasis der EU, in: EuR 1999, S. 133 ff. 2 Dazu auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2002, S. 561 ff. sowie Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 106. 3 So letztlich auch das BVerfG in der Maastricht-Entscheidung: BVerfG 89, 155 (184 f.). 4 In diese Richtung Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union, in: DVBl. 1997, S. 1133 (1134): „Man kann auch sagen, daß dann, wenn die Gesamtregierung – hier die Gesamtheit des Ministerrats – nicht von einem Volk legitimiert ist, gibt es auch keine Volksherrschaft.“ 5 Dafür, dass dies generell quer liegt zur demokratischen Idee, auch Merle, La future Europe: une démocratie à deux étages?, in: Damamme (Hrsg.), La démocratie en Europe, 2004, S. 193 (194 f.): „… la légitimité démocratique (…) sera une légitimité venant du peuple, et non pas une à deux étages, non pas un double contrat social, l’un ayant lieu entre les citoyens de chaque pays, et l’autre entre les pays. “

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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gebietseinheitlicher Volkssouveränität nicht notwendig zu widerstreiten braucht, wenn ein Hoheitsakt von mehreren demoi zugleich beherrscht wird. Dies ist im staatstheoretischen Teil bereits allgemein entwickelt6 und im Weiteren speziell für das Grundgesetz verifiziert worden7. In grundgesetzlich informierter und orientierter Perspektive lässt sich das Modell der doppelten Legitimationsbasis mithin als Modell der zwar dezentrierten, aber gleichwohl staatsgebietseinheitlichen Volkssouveränität reformulieren. Danach kommt es zwar gegebenenfalls zu einer Vervielfachung der demokratievermittelnden Legitimationsstränge, nicht aber zu einer Multiplikation der Volkssouveränitäten8. Ob nun auch in dieser Modellperspektive wie schon bei den beiden zuvor diskutierten Modellvarianten davon auszugehen ist, dass EG-Normsetzungsakte nur zum geringeren Teil die an sie gestellten grundgesetzlichen Demokratieanforderungen erfüllen, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.

I. Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation Sieht man von den hier nicht näher behandelten innergemeinschaftlich rezipierten Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts ab9, so erwachsen EG-Normsetzungsakte aus Sicht des grundgesetzadäquat reformulierten Modells der doppelten Legitimationsbasis in exklusiv-perpetueller Legitimation, obwohl sie zugleich von mehreren Völkern beherrscht werden10. Das im Rahmen der EG-Norm­setzung verwirklichte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation entspricht damit regelmäßig dem für die rein innerstaatliche Normsetzung

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Oben Kapitel 6 I. 1. d) = S. 260. Oben Kapitel 10 II. 1. a) = S. 696. 8 So letztlich wohl auch Heitsch, Die Transparenz der Entscheidungsprozesse als Element demokratischer Legitimation der Europäischen Union, in: EuR 2001, S. 809 (814 ff.). 9 Art. 300 Abs. 7 EGV ordnet die innergemeinschaftliche Verbindlichkeit der von der EG geschlossenen Völkerrechtsverträge ab. Die in dieser Weise innergemeinschaftlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts werden damit, zumindest materiell gesehen, zu EG-Normsetzungsakten. Wer Art. 307 EGV als Generaltransformator begreift, kann die innergemeinschaftlich rezipierten Normsetzungsakte auch formaliter als EG-Normsetzungsakte qualifizieren. 10 Dies gilt zumindest dann, wenn man die kontrafaktische Vereinfachung nachvollzieht, die oben vorgeschlagen wurde. Andernfalls nämlich wäre etwa zu berücksichtigen, dass die Revision der durch EG-Normsetzungsakt geschaffenen Rechtslage mitunter selbst dann gegen völkerrechtsvertragliche Verpflichtungen der EG verstoßen kann, wenn es sich bei dem fraglichen EG-Normsetzungsakt nicht um einen innergemeinschaftlich rezipierten Normsetzungsakt des Völkervertragsrechts handelt. Dann nämlich könnte auch nicht wie hier ohne Weiteres unterstellt werden, dass EG-Normsetzungsakte in exklusiv-perpetueller Legitimation erwachsen, sofern es sich nur nicht um innergemeinschaftlich rezipierte Normsetzungsakte des Völker­ vertragsrechts handelt. Vielmehr würde es bei einer solchen ‚realistischen‘ Betrachtungsweise verschiedentlich an der Exklusvität und Perpetualität revisionärer Legitimation mangeln.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

grundgesetzlich maßgeblichen Niveau exklusiv-perpetueller Legitimation11. Es erweist sich daher im Licht der europaspezifischen Demokratienorm als jedenfalls ausreichend.

1. Bestandsaufnahme Um zu belegen, dass EG-Normsetzungsakte grundsätzlich in vollem Umfang exklusiv-perpetuell legitimiert sind, muss zweierlei nachgewiesen werden. Erstens muss das Zusammenwirken der verschiedenen demoi auf einem vom deutschen Staatsvolksverband gebilligten institutionell-prozeduralen Regime beruhen. Zweitens müssen die zusammenwirkenden Völker – jeweils für sich betrachtet als zentrierter demos oder doch zumindest als Völkergesamtheit, als dezentrierter demos – alle von den gemeinsam dominierten EG-Normsetzungsakten vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen an ihrer jeweiligen Machtausübung beteiligen, ohne die sonstigen Individualbetroffenen autonomiewidrig hiervon auszuschließen. Denn unter dieser doppelten Voraussetzung generieren die zusammenwirkenden Völker in dezisionärer Hinsicht eine im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG exklusive demokratische Legitimation12. Und es ist nicht ersichtlich, weshalb die von ihnen in diesem Fall in revisionärer Hinsicht generierte Legitimation keine exklusivperpetuelle sein sollte. Schließlich indiziert die Exklusivität demokratischer Legitimation ihre Perpetualität und wird diese Indizwirkung nur in hier nicht ein­ schlägigen Ausnahmefällen entkräftet13. Die erste Voraussetzung dafür, dass EG-Normsetzungsakte aus Sicht der euro­ paspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes als in vollem Umfang exklusiv-perpetuell demokratisch legitimiert angesehen werden können, lässt sich rasch bejahen: Die EG-Normsetzung beruht auf dem europäischen Primärrecht, das die Bundesrepublik Deutschland durch die Zustimmungsgesetze zu den gemeinschaftsrechtlichen Gründungs- und Änderungsverträgen gebilligt hat14. Einer näheren Erörterung bedarf demgegenüber die zweite Voraussetzung. Die EG-Normsetzung wird, wie dargelegt, über das Primärrecht15 sowie den Rat, die verschiedenen Ausschüsse der Staatsvertreter und – mit Abstrichen – über die Kommission an die insoweit zusammenwirkenden Völker der Mitgliedstaaten rückgebunden16. Freilich beteiligen die einzelnen mitgliedstaatlichen Völker nicht schon jeweils für sich betrachtet alle von den gemeinsam beherrschten EG

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Dazu oben Kapitel 10 III. 1. a) = S. 729. Zu diesem dogmatischen Ansatz oben Kapitel 6 I. 1. d) dd) = S. 279. 13 Hierzu oben Kapitel 6 I. 1. a) = S. 254. 14 Dazu etwa Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 5 Rn. 13 und 7 Rn. 12. 15 Siehe oben Teil I Kapitel 11 I. 1. = S. 866. 16 Siehe oben Kapitel 11 I. 2. = S. 870.

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Normsetzungsakten vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen an ihrer jeweiligen Machtausübung. Denn die EG-Normsetzungsakte, die als Ausfluss eines gemeinschaftsweit getroffenen Interessenausgleichs zu werten sind, betreffen die Angehörigen des einen Mitgliedstaats nicht stärker als die eines anderen Mitgliedstaats. Jeweils für sich betrachtet, wahren die im Rahmen der EG-Normsetzung miteinander kooperierenden mitgliedstaatlichen Völker daher noch nicht die Anforderungen, die sich in Hinblick auf den Betroffenheitsmodus aus der Struktur­ gestalt von Volk im demokratischen Sinn ergeben17. Betrachtet man die zusammenwirkenden mitgliedstaatlichen Völker allerdings als Völkergesamtheit, als dezentrierten demos, so liegt es auf der Hand, dass diese alle von der EG-Normsetzung vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen an ihrer Machtausübung partizipieren lässt, nämlich die Angehörigen sämtlicher EU-Mitgliedstaaten. Daraus ergibt sich zugleich, dass der Ausschluss sonstiger Individualbetroffener unter Autonomiegesichtspunkten vertretbar ist, weil die fehlende Staatsangehörigkeit ein unter diesen Bedingungen statthafter Ausschlussgrund ist. Als Völkergesamtheit, als dezentrierter Unions-demos erfüllen die im Rahmen der EG-Normsetzung zusammenwirkenden mitgliedstaatlichen Völker daher die Vorgaben, die sich in puncto Betroffenheit aus der Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn ergeben. Nun werden EG-Normsetzungsakte allerdings nur in Ausnahmefällen allein von der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker, allein vom dezentrierten Unionsdemos her legitimiert. Sofern nämlich das Europäische Parlament oder zumindest die Kommission den Erlass eines Hoheitsakts entscheidend mitbeeinflussen be­ ziehungsweise an der Revisionsmacht über den betreffenden Hoheitsakt partizipieren, trägt noch eine weitere demokratische Personenmehrheit zur Legitimation bei. Gemeint ist der zentrierte Unions-demos. Hierzu ist im Ausgangspunkt zu erinnern, dass das Europäische Parlament nicht als Vertretung der einzelnen mitgliedstaatlichen Staatsvölker fungiert, sondern als Repräsentanz der zum zentrierten Unionsvolk vergemeinschafteten Angehörigen der mitgliedstaatlichen Staatsvölker18. Dies ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass die in den Mitgliedstaaten gewählten Abgeordnetenkontingente keine nationalstaatliche Homogenität aufweisen. Daraus folgt zugleich, dass das Europäische Parlament nicht als ein institutionell-prozedurales Arrangement qualifiziert werden kann, in dessen Rahmen die mitgliedstaatlichen Völker als Völkergesamtheit, als dezentrierter Unions-demos, zusammenwirken. Denn soweit es um die Bestellung des Europäischen Parlaments geht, treten die nationalen Staatsvölker gerade nicht mehr als eigenständige, wenn auch kooperationsbereite Legitimationssubjekte in Erscheinung. Vielmehr sind sie insoweit dergestalt vergemeinschaftet,

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Dazu allgemein auch schon oben Kapitel 6 I. 1. d) cc) (2) = S. 274. Oben Kapitel 11 I. 2.  b)  = S.  879. Zurückhaltend gegenüber dem Begriff des Unionsvolks allerdings zum Beispiel Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 189 EGV Rn. 5.

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dass die vermeintlich auf die nationalen Staatsvölker zurückführenden Berufungszusammenhänge der Sache nach von der Unionsbürgerschaft als Ganzer, vom zentrierten Unions-demos ausgehen. Wächst daher den EG-Normsetzungsakten demokratische Legitimation auch über das Europäische Parlament zu – sei es weil die fraglichen EG-Normsetzungsakte nur mit seiner Billigung in Kraft gesetzt oder revidiert werden können, sei es weil die auch von ihm abhängige Kommission über Erlass beziehungsweise Revision der betreffenden EG- Normsetzungsakte mitentscheidet –, so wirken die mitgliedstaatlichen Völker mit dem zentrierten Unions-demos zusammen. Dies gilt in besonderem Maße für das für die EG-Normsetzung zentrale Mitentscheidungsverfahren19. Freilich wahrt das Zusammenwirken der verschiedenen demoi auch in diesen Konstellationen die Anforderungen, die sich aus der Strukturgestalt von Volk im demokratischen Sinn in Hinblick auf den Betroffenheitsmodus ergeben. Für die mitgliedstaatlichen Völker ist dies eben schon dargetan worden: Immerhin als Völkergesamtheit erfassen sie alle Individuen, die von den EG-Normsetzungsakten vergleichbar nachhaltig betroffen werden, und beteiligen sie an deren Machtausübung, ohne die Autonomieansprüche anderer Individualbetroffener ungerechtfertigt zu verkürzen. Der zentrierte Unions-demos wiederum beteiligt seinerseits schon für sich allein betrachtet alle von der EG-Normsetzung vergleichbar nachhaltig betroffenen Individuen, nämlich die mit der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigen deckungsgleiche20 Gruppe der Unionsbürger. Dass andere als Unionsbürger nicht an der Machtausübung des Unionsvolks beteiligt werden, erscheint in Hinblick auf deren Autonomieansprüche als zumindest vertretbar21. Bei Zugrundelegung des Modells der doppelten Legitimationsbasis ist daher nach allem festzuhalten, dass EG-Normsetzungsakte grundsätzlich vollumfänglich in exklusiv-perpetueller Legitimation erwachsen. Denn unabhängig davon, ob wie im Regelfall die mitgliedstaatlichen Völker mit dem zentrierten Unionsvolk zusammenwirken oder ob ausnahmsweise nur die mitgliedstaatlichen Staatsvölker zusammenwirkend einen EG-Normsetzungsakt beherrschen  – die Voraussetzungen, die an eine exklusive und damit zusammenhängend auch an eine perpetuelle demokratische Legitimation zu stellen sind, werden im Rahmen der EG-Normsetzung prinzipiell gewahrt22.

19 Denn hier hat sich – so Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 5 Rn. 35 zutreffend – das Rechtsetzungsverfahren der Zwei-Kammer-Gesetzgebung am stärksten angenähert. 20 Art. 17 Abs. 1 Satz 1 EGV: „Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.“ 21 Voraussetzung ist freilich, dass die Unionsbürgerschaft tendenziell sicherstellt, dass eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer Rechte und den dauerhaft der Gemeinschaftsgewalt Unterworfenen besteht – vgl. BVerfGE 83, 37 (52). 22 Abweichendes gilt nur für die – hier nicht näher zu erörternden – innergemeinschaftlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts. Damit sind völkerrechtsvertagliche Bestimmungen gemeint, die gemäß Art. 300 Abs. 7 EGV innergemeinschaftlich rezipiert sind,

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Insbesondere bedeutet es keine Abweichung von diesem Grundsatz, wenn einzelne Mitgliedstaaten die ihnen im Rahmen der EG-Normsetzung eingeräumten Mitherrschaftsbefugnisse nicht nur an das nationale Staatsvolk, sondern auch an dessen Untervölker rückbinden. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Mitherrschaftsbeitrag trotz des Zusammenwirkens mehrerer Völker als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität gewertet werden kann. Dass diese Voraussetzung insoweit gewahrt wird, als den deutschen Bundesländern entsprechende Einflussmöglichkeiten auf das Primärrecht beziehungsweise auf die Ausübung deutscher Einflussmacht im Rat eingeräumt sind, wurde an früherer Stelle bereits ausführlich dargetan23. Dafür, dass sich dies in den übrigen föderalstaatlich verfassten EU-Mitgliedstaaten anders verhielte, ist nichts ersichtlich.

2. Das im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Die Subsumtion unter die europaspezifische Demokratienorm hat nach der hier zugrundegelegten Dogmatik beim grundgesetzlichen Normalmaß exklusiv-perpetueller Legitimation anzusetzen24. In Ansehung der EG-Normsetzung ist dabei tendenziell zwischen zwei Ausprägungen des grundgesetzlichen Normalmaßes exklusiv-perpetueller Legitimation zu unterscheiden. Für die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte ist an das in Art. 59 Abs. 2 GG vorgezeichnete Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation anzuknüpfen; demgegenüber gilt für die potenziell maktinterventionistischen Normsetzungsakte das für rein innerstaatliche Normsetzungsakte charakteristische Niveau exklusiv-perpetueller Legitimation als Orientierungsmaßstab25. Dies hat zur Konsequenz, dass das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation, das die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte realiter kennzeichnet, bei Weitem dasjenge Niveau exklusiv-per­ petueller Legitimation übersteigt, das insofern als grundgesetzliches Normalmaß vorgegeben ist. Denn Art. 59 Abs. 2 GG sieht lediglich eine partizipative dezisionäre sowie partizipativ-okkasionelle revisionäre Legitimation vor. Soweit für die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte wiederum auf das und entweder self-executing sind oder aber zum Erlass von Rechtsnormen verpflichten. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der EG nur eine Kodezisions- und Korevisionsmacht zusteht. Lediglich diese wird aus den dargelegten Gründen exklusiv-perpetuell legitimiert, obgleich mehrere Völker an ihr partizipieren. Dem innergemeinschaftlichen Normsetzungsakt insgesamt indes wächst von den im Rahmen der EG zusammenwirkenden Völker eine lediglich partizi­ pativ-okkasionelle demokratische Legitimation zu. 23 Oben Kapitel 11 I. = S. 865. 24 Oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. 25 Siehe oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832.

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für rein innerstaatliche Normsetzungsakte geltende Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation abzustellen ist, wird das grundgesetz­ liche Normalmaß zwar nicht überschritten, aber doch immerhin punktgenau einge­ halten. Denn rein innerstaatlichen Normsetzungsakten wächst  – wie den in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis konkretisierten EG-Normsetzungsakten – eine vollumfängliche exklusiv-perpetuelle Legitimation zu26. Da EG-Normsetzungsakte somit das grundgesetzliche Normalmaß exklusivperpetueller Legitimation entweder überschreiten oder doch zumindest nicht unterschreiten, genügen sie in dieser Hinsicht ohne Weiteres den Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes. Es ist insofern gerade keine aus Sicht der europaspezifischen Demokratienorm rechtfertigungsbedürftige Absenkung des grundgesetzlich normalerweise vorgesehenen Legitimationsniveaus zu verzeichnen.

II. Grad demokratischer Abgeleitetheit Anders als beim Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation reichen EG-Normsetzungsakte in Hinblick auf den Grad demo­ kratischer Legitimation nur teilweise an das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß heran. Um dies im Einzelnen darzutun, kann und soll im Folgenden an Erwägungen angeknüpft werden, die bereits bei der Erörterung des Modells mittelbarer Legitimation angestellt wurden. Die damit einhergehende Entlastung der nachstehenden Überlegung kommt nicht zuletzt deshalb gelegen, weil sich die Rekonstruktion des für EG-Normsetzungsakte charakteristischen Grads demokratischer Abgeleitetheit im Modell der doppelten Legitimationsbasis insofern verkompliziert, als nicht mehr nur die Rückkoppelung an den Willen des deutschen Volks maßgeblich ist, sondern  – wie schon die Modellbezeichnung illustriert  – die doppelte Rückbindung an die Gesamtheit der zusammenwirkenden Mitglieds­ völker als dezentrierter Unions-demos und an den zentrierten Unions-demos.

1. Bestandsaufnahme Bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis bestimmt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit eines EG-Normsetzungsakts danach, wie dicht er durch personelle, materiell-direktive und materiell-kontrollative Legitima­ tionsstränge dezisionär und revisionär an den Gesamtwillen der in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität kooperierenden mitgliedstaatlichen Völker beziehungsweise an den Willen des zentrierten Unions-demos rückgebunden ist. Je unmittelbarer ein EG-Normsetzungsakt an den dezisionären beziehungs

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Oben Kapitel 10 III. 1. a) = S. 729.

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weise revisionären Gesamt- respektive Einzelwillen der insofern maßgeblichen demoi rückgekoppelt ist, je niedriger mithin sein Grad demokratischer Abgeleitetheit ist, umso unverfälschter manifestiert sich in ihm die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität27. Für die präzise Bestimmung des für einen EG-Normsetzungsakt charakteris­ tischen Grads demokratischer Abgeleitetheit ist dabei zu berücksichtigen, dass die verschiedenen Völker, die in der Perspektive des Modells der doppelten Legitimationsbasis in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität kooperieren, über die von ihnen ausgehenden Legitimationsstränge in unterschiedlichem Umfang und Ausmaß Volksherrschaft vermitteln. Um den für einen EGNormsetzungsakt kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit zu rekonstruieren, muss daher stets zweierlei berücksichtigt werden. Von Relevanz ist erstens, in welchem respektiven Umfang ein Hoheitsakt über die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker als dezentrierten Unions-demos beziehungsweise über die Unionsbürgerschaft als zentrierten Unions-demos demokratisch rückgebunden wird; zweitens ist zu beachten, wie leistungsstark die im Rahmen dieser Mit­herrschaft in personeller sowie materieller Hinsicht vermittelte Legitimation ist28. Insofern kann nun erstmals auf Überlegungen rekurriert werden, die bereits im Rahmen des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation angestellt wurden. So wurde in diesem Kontext sorgsam dargelegt, inwieweit EG-Normsetzungsakte über das Primärrecht sowie im Rahmen der Entscheidungsbeiträge von EG-Organen an den Willen des deutschen Volks rückgebunden werden und inwieweit dies nicht der Fall ist29. Daran lässt sich anschließen, wenn es zu entwickeln gilt, in welchem Umfang die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker einerseits, der zentrierte Union-demos andererseits zur demokratischen Legitimation eines EG-Normsetzungsakts beitragen und ihre jeweiligen Legitimationsbeiträge den Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmen. Schließlich haben die Über­ legungen zur nationaldemokratischen Rückkoppelung von EG-Normsetzungs­ akten gleichsam beiläufig zu Tage gefördert, von wem EG-Normsetzungsakte inwieweit beherrscht werden, sofern sie nicht vom nationalen Staatsdemos ausgehen beziehungsweise auf ihn zurückführen. Des Weiteren ist erörtert worden, wie unmittelbar EG-Normsetzungsakte auf den Willen des nationalen Staatsvolks zurückführen30. Infolgedessen lassen die Ausführungen zum Modell mittelbarer Legitimation nicht nur erste Rückschlüsse darauf zu, in welchem respektiven Umfang die Gesamtheit der Staatsvölker als dezentrierter Unions-demos beziehungsweise die Unionsbürgerschaft als zentrierter Unions-demos zur Legitimation von EG-Normsetzungsakten beitragen. Zugleich

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Oben Kapitel 6 V. 1. b) = S. 405. Dazu allgemeinen oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. 29 Oben Kapitel 11 I. = S. 865. 30 Oben Kapitel 11 II. = S. 917.

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lässt sich hieraus entwickeln, welches Ausmaß an demokratischer Legitimation den EG-Normsetzungsakten von der Gesamtheit der Mitgliedsvölker zuwächst, wie leistungsstark mithin die insoweit generierten Legitimationsbeiträge sind. Denn sämtliche EU-Mitgliedstaaten lassen sich dem Strukturtyp rechtsstaatlichpluralistischer Demokratie zuordnen31 und sind staatsorganisatorisch als parlamentarische Demokratien verfasst32, wenn auch teilweise mit Präsidialdominanz33. Infolgedessen wird das Primärrecht beziehungsweise das Verhalten der nationalen Vertreter in den EG-Organen nach der Verfassungsordnung der übrigen EU-Mitgliedstaaten nicht in substanziell anderer Weise an den jeweiligen Staatsvolks­ willen rückgebunden, als dies für die Rückkoppelung an den Willen des deutschen Volks schon dargetan worden ist34. Einer wirklich grundständigen Analyse bedarf es mithin nur in Hinblick darauf, welches Ausmaß an personeller und materieller Legitimation einem EG-Normsetzungsakt in dem Umfang zuwächst, wie er vom Europäischen Parlament beherrscht wird. Ausgangspunkt der folgenden Bestandsaufnahme sind dabei einmal mehr die im Mitentscheidungsverfahren zu erlassenden Normsetzungsakte. Die Gründe, die für diese Vorgehensweise sprechen, sind gleichfalls schon in Kapitel 11 näher dargelegt worden35.

a) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation Im Rahmen des zentralen Mitentscheidungsverfahrens entscheiden der Rat, das Europäische Parlament und – jedenfalls im Regelfall – die Kommission darüber, ob und mit welchem Inhalt ein EG-Normsetzungsakt in Geltung erstarken soll. Dabei liegt die Entscheidungsmacht im Wesentlichen bei Rat und Euro­päischem Parlament. Die Mitentscheidungsmacht von Rat und Europäischem Parlament ist gleich groß, fungiert das Europäische Parlament insofern doch als echter Mit­ gesetzgeber36. Demgegenüber ist die Mitentscheidungsmacht, die der Kommission im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens aufgrund ihres Initiativmonopols regel­mäßig zukommt, zwar gewiss nicht unbedeutend37; sie bleibt aber dennoch deutlich hinter der von Rat und Europäischem Parlament zurück.

31 Ismayr, Die politischen Systeme Westeuropas im Vergleich, in: ders. (Hrsg.), Die poli­ tischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl. 2003, S. 9. 32 Ismayr (Fn. 31), S. 15. 33 Dies gilt für das semi-präsidentielle System Frankreichs. 34 Zu den parallelen Legitimationsstrukturen siehe auch Seeler, Die Legitimation des hoheitlichen Handelns der EG / EU, in: EuR 1998, S. 721 (729). 35 Siehe oben Kapitel 11 I. 3. c) = S. 890. 36 Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 513; Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 369. 37 Vgl. Huber (Fn. 14), § 13 Rn. 12 ff.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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Für die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte bedeutet dies, dass sie im Wesentlichen durch einen personellen Legitimationszusammenhang geprägt werden, der zur einen Hälfte typischerweise dreifach, zur anderen Hälfte durchweg einfach vermittelt ist. Denn im Wesentlichen entscheiden Rat und Europäisches Parlament zu gleichen Anteilen über den EG-Norm­ setzungsakt. In Hinblick auf die hälftig über den Rat vermittelte personelle Legitimation ist dabei zweierlei anzumerken. Zum einen ist klarzustellen, dass bei Zugrunde­legung des Modells doppelter Legitimationsbasis die über den Rat vermittelte personelle Legitimation auch dann greift, wenn die Ratsvertreter einer Minderheit von Staaten die Erlassentscheidung nicht mittragen38. Denn Träger demokratischer Dezi­ sionsmacht ist insofern die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität generierende Gesamtheit der Staatsvölker als dezentrierter Unions-demos. Kommt es in diesem legitimatorischen Kontext zu den innerhalb demokratischer Gemeinwesen organisatorisch regelmäßig unverzichtbaren Mehrheitsentscheidungen39. Zum anderen bleibt zu erläutern, weshalb die über den Rat vermittelte personelle demokratische Legitimation nur typischerweise dreifach vermittelt ist. Dies ergibt sich daraus, dass die Mitgliedstaaten auch einen von ihrer Staatenkammer benannten Ländervertreter mit der Wahrnehmung der ihnen zustehenden Ratsbefugnisse betrauen können. Soweit die den Normerlass mittragenden Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, wächst den EG-Normsetzungsakten über den Rat eine gegebenenfalls bis zu vierfach vermittelte personelle Legitimation zu. Denselben Effekt hat es, wenn der den Normerlass billigende Mitgliedstaat parlamentarische oder beamtete Staatssekretäre in den Rat entsandt hat, was zwar gemeinschaftsrechtswidrig ist40, jedoch gängiger Praxis entspricht41. Soweit die im Mitentscheidungsverfahren in Geltung gesetzten EG-Normsetzungsakte zum ungleich geringeren Teil von der Kommission mitentschieden werden, wächst ihnen eine personelle Legitimation zu, die teilweise drei-, über­wiegend aber vierfach vermittelt ist. Dies mag prima facie erstaunen. Schließlich war auch schon im Rahmen des Modells mittelbarer Legitimation davon auszu­gehen, dass den EG-Normsetzungsakten über die Kommission eine teils drei-, überwiegend aber vierfach vermittelte personelle Legitimation zuwächst42. Im Rahmen des hier interessierenden Modells der doppelten Legitimationsbasis kommt nun freilich hinzu, dass sich die Kommission gemäß Art. 214 Abs. 2 UAbs. 3 Satz 1 EGV als 38 Dies entspricht der Situation im deutschen Bundesrat  – siehe hierzu ansatzweise auch Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 50 Rn. 11. 39 Siehe oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328. 40 Vgl. Art. 203 UAbs. 1 EGV: „auf Ministerebene“; allerdings gehen beispielsweise Hummer / Obwexer, in: Streinz (Hrsg.),  EUV / EGV, 2003, Art.  203  EGV Rn.  20 sowie Streinz (Fn.  36), Rn.  281 davon aus, dass aufgrund zwischenzeitlich entstandenem Gemeinschafts­ gewohnheitsrecht auch Staatssekretäre als Mitglieder des Rats fungieren können. 41 Wichard, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 203 EGV Rn. 6. 42 Siehe oben Kapitel 11 II. 1. a) = S. 918.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Kollegium dem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen muss43. Soweit die Kommission ihre Amtsbefugnisse vom Europäischen Parlament herleitet, erweist sich die von ihr herrührende personelle Legitimation indes als lediglich zweifach vermittelt. Insofern mag es auf den ersten Blick tatsächlich seltsam anmuten, wenn auch in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis gelten soll, dass sich den EG-Normsetzungsakten über die Kommission eine teils drei-, überwiegend aber vierfach vermittelte personelle demokratische Legitimation mitteilt. Zu erinnern ist allerdings, dass in den Fällen, in denen das dezisionsbefugte Organ von mehreren Instanzen gemeinsam berufen wird, die mehreren personellen Legitimationsbeiträge, die das dezisionsbefugte Organ infolgedessen vermittelt, funktional als Einheit zu betrachten und als solche auf derjenigen Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln sind, die für den am stärksten vermittelten Einzelbeitrag prägend ist44. Infolgedessen ist es für die Stufe demokratischer Vermitteltheit, auf der die von der Kommission vermittelte personelle Legitimation ergeht, unerheblich, ob die von der Kommission vermittelten personellen Legitimationsbeiträge durchweg auf der dritten bis vierten Stufe demokratischer Vermitteltheit zu verorten sind, wovon bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer demokra­ tischer Legitimation auszugehen ist, oder ob sie teilweise auch auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen, was aus Sicht des Modells doppelter Legitimationsbasis zu unterstellen ist. Dies darf jedoch nicht zu dem voreiligen (Fehl-)Schluss verleiten, es wäre für die Leistungsstärke der über die Kommission vermittelten personellen Legitimation gänzlich ohne Belang, von welchem der beiden Legitimationsmodelle man ausgeht. So lassen sich zwar in Hinblick auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit insoweit keine Unterschiede ausmachen. Jedoch fällt die Wirkkraft der über die Kommission vermittelten personellen Legitimation in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis größer aus als bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass nur das erstgenannte Modell demokratierechtlich darauf Bedacht nimmt, dass das Europäische Parlament an der Bestellung der Kommission beteiligt ist45. Soweit die Kommission vom Europäischen Parlament berufen ist, erweist sich die von ihr vermittelte personelle Legitimation freilich als besonders wirkkräftig. Dies hängt mit dem spezifischen Charakter des Europäischen Parlaments als insoweit vorletztem Legitimationsmittler zusammen46. Aus den im allgemeinen Teil  näher dargelegten Gründen führt die besondere Wirkkraft des vom Europäischen Parlament herrüh

43 Zu diesen Zusammenhängen auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 705 f. 44 Siehe dazu eingehend unten Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. 45 Hierzu auch Britz / Schmidt, Die institutionalisierte Mitwirkung der Sozialpartner an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1999, S. 467 (487 f.). 46 Allgemein zur Relevanz des Charakters eines Legitimationsmittlers für die Wirkkraft eines Legitimationsbeitrags siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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renden personellen Legitimationsbeitrags dazu, dass sich die im Rahmen der Mitentscheidungsmacht der Kommission Platz greifende und aus mehreren Einzelbeiträgen zusammensetzende personelle Legitimation insgesamt als vergleichsweise wirkkräftig darstellt47. Jedenfalls ist sie wirkkräftiger, als wenn die personelle Legitimation allein auf der Berufung der Kommission durch Rat und Kommissionspräsidenten beruhte, wovon das Modell der mittelbaren Legitimation ausgeht. Damit bleibt nur mehr darauf hinzuweisen, dass die von der Kommission herrührende personelle demokratische Legitimation selbstverständlich auch dann nicht in Wegfall gerät, wenn die Investitur des Kommissionspräsidenten beziehungsweise der Kommission von einzelnen Mitgliedstaaten nicht mitgetragen wird. Denn bei Zugrundelegung des Modells der doppelten Legitimationsbasis wird der (auch) über die Kommission vermittelte legitimatorische Ableitungszusammenhang zwischen dem dezentrierten Unions-demos und dem legitima­ tionsbedürftigen Hoheitsakt nicht dadurch unterbrochen, dass die staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität realisierende Völkergesamtheit ihren demoi-kratischen Willen nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips formuliert. Ist somit für das Mitentscheidungsverfahren offengelegt, wie hier in dezisionärer Hinsicht die personellen Legitimationsstränge verlaufen, lässt sich daran anknüpfend auch für die übrigen Normsetzungsverfahren nachvollziehen, wie dort personelle demokratische Legitimation verfängt. Für das Zustimmungsverfahren gilt das zum Mitentscheidungsverfahren Aus­ geführte entsprechend. Dies gilt jedenfalls für die hier allein interessierende Ausgestaltung des Zustimmungsverfahrens, bei der das Initiativmonopol bei der Kommission liegt. Für das Verfahren der Zusammenarbeit ist festzuhalten, dass die Mitentscheidungsmacht des Europäischen Parlaments geringer ausfällt als im Verfahren nach Art. 251 EGV. Insbesondere hat das Europäische Parlament insofern nicht die Stellung eines echten Mitgesetzgebers48. Mitentscheidungsmacht kommt ihm lediglich insofern zu, als ein von der Kommission initiierter und vom Rat nicht einmütig, sondern nur mehrheitlich gestützter gemeinsamer Standpunkt gegen den Willen des Europäischen Parlaments nicht in Gesetzeskraft erwachsen kann49. Ansonsten hat das Europäische Parlament nur die Befugnis, unverbindliche Änderungsvorschläge zu unterbreiten50. Für die im Verfahren der Zusammenarbeit erlassenen EG-Normsetzungsakte hat dies zur Konsequenz, dass sie im Regelfall durch eine personelle Legitimation geprägt werden, die überwiegend mindestens dreifach und nur zu einem entspre 47 Allgemein zur Bedeutung des parlamentarischen Charakters des Legitimationsmittlers für die Wirkkraft personeller demokratischer Legitimation siehe oben ebd. 48 Vgl. Bieber, in: ders. / Epiney / Haag, Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 7 Rn. 25. 49 Siehe Huber (Fn. 14), § 12 Rn. 37 ff. 50 Vgl. Streinz (Fn. 36), Rn. 510.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

chend geringeren Teil einfach vermittelt ist. Ausnahmsweise kann der vom Europäischen Parlament herrührende personelle Legitimationsstrang aber auch ganz entfallen. Dies ist dann der Fall, wenn der EG-Normsetzungsakt gegen den ausdrücklichen Willen des Parlaments durch einstimmigen Beschluss des Rats in Geltung gesetzt worden ist. Insofern weisen EG-Normsetzungsakte, die im Verfahren der Zusammenarbeit ergangen sind, in dezisionärer Hinsicht ein ersichtlich niedrigeres Niveau personeller demokratischer Legitimation auf als EG-Normsetzungsakte, die im Mitentscheidungsverfahren in Geltung gesetzt wurden. Dies gilt erst recht für EG-Normsetzungsakte, die ganz ohne Mitwirkung des Parlaments ergehen können. Denn diesen EG-Normsetzungsakten kann nicht einmal zu einem geringen Teil  einfach vermittelte personelle Legitimation zuwachsen.

b) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-direktiver Legitimation Durchweg alle EG-Normsetzungsakte werden durch das Primärrecht materielldirektiv legitimiert. Diese materiell-direktive Legitimation ist überwiegend mehrfach vermittelt. Nur zu einem geringeren Teil erweist sie sich als einfach vermittelt beziehungsweise als volksunmittelbar. Schließlich beruht die in Rede stehende materiell-direktive Legitimation auf völkerrechtlichen Übereinkünften, die von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt wurden und von den mitgliedstaatlichen Parlamenten beziehungsweise in Volksabstimmungen51 lediglich in toto gebilligt werden konnten. Zudem bedürfen die in Rede stehenden völkerrechtlichen Verträge in manchen Mitgliedstaaten nicht nur der Zustimmung des un­mittelbar volksgewählten Parlaments, sondern auch der Billigung durch eine nicht unmittelbar volksgewählte Kammer52. Die in dieser Weise bewirkte materiell-direktive Legitimation reicht wegen der relativen Unbestimmtheit des Primärrechts53 nicht sonderlich weit. Speziell die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte werden von ihr in nur äußerst geringem Umfang erfasst54. Zu bedenken ist ferner, dass EG-Normsetzungsakte auch dadurch materielldirektiv legitimiert werden können, dass die nationalen Vertreter im Rat beziehungsweise im Ausschuss der Staatenvertreter staatsverfassungsrechtlich an ma 51 Überblick über die direktdemokratischen Verfahren in den Mitgliedstaaten der Euro­ päischen Union bei Ismayr (Fn. 31), S. 35 ff. 52 Zu den zweiten Kammern in den europäischen Staaten Ismayr (Fn. 31), S. 30 ff. 53 Diese hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass die primärrechtlichen Ermächtigungen typischerweise final gefasst sind – dazu vertiefend etwa Huber (Fn. 14), § 10 Rn. 18. 54 Denn hier tritt die ansonsten gegebene Ausrichtung am Marktmodell zurück – vgl. hierzu allgemein auch Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn. 28.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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terielle Vorgaben mitgliedstaatlicher Instanzen gebunden werden55. Rühren diese materiellen Vorgaben vom nationalen Parlament her56, so wächst den EG-Normsetzungsakten insofern57 ein höheres Maß an demokratischer Legitimation zu, als wenn der Minister aus freien Stücken handeln könnte. Denn die insofern ver­ fangende zweifach vermittelte materiell-direktive Legitimation ist sowohl in Ansehung ihrer Stufe demokratischer Vermitteltheit als auch in Hinblick auf die für sie charakteristische Wirkkraft leistungsstärker als die dreifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation, die einem EG-Normsetzungsakt von einem Minister zuwächst. Stammen die materiellen Vorgaben von einer exekutivisch besetzten Staatenkammer her, ist zu differenzieren58. Setzte sich die Staatenkammer bei Erlass der fraglichen Vorgaben aus den Regierungschefs der Gliedstaaten zusammen, ist das für den betreffenden EG-Normsetzungsakt charakteristische Niveau demokra­ tischer Legitimation insoweit59 höher, als wenn der nationale Regierungsvertreter 55 Sei es durch Vorgaben einer Länder- oder Regionalkammer, sei es durch das nationale Parlament – dazu den Überblick bei Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 13 f. 56 Beispielhaft hierfür sind die entsprechenden Einflussnahmemöglichkeiten des Ausschusses für Europäische Angelegenheiten des dänischen Folketing (dazu Cottier, Danemark, in: Aronovitz u. a., Staatsrechtliche Auswirkungen der Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften, 1991, S. 57 [68 ff.]) sowie des Hauptausschusses des österreichischen Nationalrats (dazu Rack / Eisenberger / Hammerer / Rattinger / Riedler / Schwarzbauer / Urbantitsch, Demokratische Rechtserzeugung im gemeinsamen Europa, in: Haller u. a. [Hrsg.], Festschrift für Winkler, 1997, S. 855 [874 ff.]). 57 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass sich die Anhebung des Legitimationsniveaus auf diejenigen Regelungsgehalte des legitimationsbedürftigen EGNormsetzungsakts beschränkt, die von der materiellen Direktive erfasst werden. Soweit dies nicht der Fall ist, führt die materielle Direktive sogar zu einer – wenngleich leichten – Absenkung des Legitimationsniveaus. Denn die materielle Direktive hat zur Konsequenz, dass der von ihr adressierte Ratsvertreter eine wirkungsschwächere materiell-kontrollative Legitimation vermittelt. Allerdings übersteigt der Legitimationszuwachs, der durch die in Rede stehenden materielle Direktive bewirkt wird, das gleichzeitig hervorgerufene Legitimationsminus schon deshalb um ein Vielfaches, weil dieses nur die Wirkkraft eines spezifischen Legitimations­ beitrags betrifft, wohingegen sich der Legitimationszuwachs dem Umstand verdankt, dass die materiell-direktive Legitimation nicht nur ungleich wirkkräftiger ist, sondern darüber hinaus und vor allem auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt. 58 Lediglich hingewiesen sei an dieser Stelle darauf, dass dies nicht die einzigen Vorgaben sind, die den ministeriellen Ratsvertretern von Seiten der Exekutive gemacht werden können. Hinzu kommt, dass die als Ratsvertreter fungierenden Minister auch Weisungen ihrer Regierungen beziehungsweise ihres Regierungschefs unterworfen sein können. Dieser soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden. 59 Es ist auch in dieser Konstellation wiederum zu berücksichtigen, dass sich die Anhebung des Legitimationsniveaus auf diejenigen Regelungsgehalte des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts beschränkt, die von der materiellen Direktive erfasst werden. Ansonsten führt die materielle Direktive zu einer Absenkung des Legitimationsniveaus. Denn die materielle Direktive hat zur Konsequenz, dass sich über den von ihr adressierten ministeriellen Ratsvertreter eine wirkungsschwächere materiell-kontrollative Legitimation Bahn bricht. Allerdings ist diese Legitimationseinbuße aus den im allgemeinen Teil dargelegten Gründen nur gering, zu-

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agieren kann, ohne durch derartige Vorgaben gebunden zu sein. Denn eine dreifach vermittelte materiell-direktive Legitimation ist wirkkräftiger als eine dreifach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation60. Tagte die Staatenkammer bei Erlass der fraglichen Vorgaben hingegen in einer Zusammensetzung aus Landesministern, fällt das für den betreffenden EG-Normsetzungsakt kennzeichnende Maß demokratischer Legitimation niedriger aus, als wenn der nationale Regierungsvertreter agieren kann, ohne solche Vorgaben befolgen zu müssen61. Materiell-direktive Legitimation wächst EG-Normsetzungsakten schließlich auch insofern zu, als es sich dabei um sekundärrechtliche Vorgaben vollziehendes Durchführungsrecht handelt.

c) Das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation Die Rekonstruktion des in dezisionärer Hinsicht realisierten Niveaus materiellkontrollativer Legitimation ist komplexer als die des Niveaus personeller beziehungsweise materiell-direktiver Legitimation. Dies hängt damit zusammen, dass ein und dasselbe Organ(teil) typischerweise eine Mehrzahl materiell-kontrollativer Legitimationsbeiträge vermittelt62. Da nun an der EG-Normsetzung ohnedies schon relativ viele Organe beteiligt sind, potenziert sich die Zahl der demokratisch relevanten materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge.

aa) Die im Mitentscheidungsverfahren vom Rat vermittelte materiell-kontrollative Legitimation Soweit die im Mitentscheidungsverfahren ergehenden EG-Normsetzungsakte annähernd hälftig63 auf der Dezisionsmacht des Rats beruhen, wächst ihnen matemal die materielle Direktive von einer der Kontrollinstanzen herrührt. Infolgedessen übersteigt der durch die materielle Direktive bewirkte Legitimationszuwachs auch in dieser Konstellation deutlich das von ihr gleichzeitig verursachte legitimatorische Minus. 60 Zum Rangverhältnis zwischen materiell-direktiver Legitimation einerseits und personeller und materiell-kontrollativer Legitimation andererseits siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 61 In dieser Konstellation ist zu berücksichtigen, dass die Absenkung des Legitimationsniveaus zwar an sich nur für diejenigen Regelungsgehalte des legitimationsbedürftigen EGNormsetzungsakts gilt, die von der materiellen Direktive erfasst werden. Allerdings führt die materielle Direktive auch darüber hinaus zu einer – freilich relativ geringfügigen – Absenkung des Legitimationsniveaus. Denn wenn der nationale Ratsvertreter durch eine materielle Direktive gebunden wird, schwächt sich die von ihm vermittelte materiell-kontrollative Legitimation ab. 62 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. 63 Zu berücksichtigen ist, dass neben dem Europäischen Parlament, das über genauso viel Macht verfügt wie der Rat, in kleinem Umfang auch die Kommission Dezisionsmacht auszuüben vermag.

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riell-kontrollative Legitimation insofern zu, als die einzelnen nationalen Ratsmitglieder der Überwachung durch ihre Regierungschefs, ihre Heimatparlamente und durch ihre Heimatvölker unterliegen. Diese als Einheit zu betrachtende64 materiellkontrollative Legitimation ist grundsätzlich auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt. Im Ausgangspunkt ist diese materiell-kontrollative Legitimation als vergleichsweise leistungsstark zu qualifizieren  – und zwar vor allem insofern, als sie an die parlamentarische Verantwortlichkeit der Ratsmitglieder anknüpft65. Allerdings kommt es gleich unter mehreren Gesichtspunkten zu einer Abschwächung des in Rede stehenden Legitimationsstrangs. Erstens ist zu berücksichtigen, dass EG-Normsetzungsakte, soweit der Rat über ihren Erlass entscheidet, auf eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker zurückführen, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität kooperiert. Diese Rückkoppelung an eine Völkergesamtheit aber ist aus den im allgemeinen Teil  genannten Gründen der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation abträglich66. Zweitens wird die über den Rat vermittelte materiell-kontrollative Legitimation dadurch abgeschwächt, dass der Rat die EG-Normsetzungsakte im Mitentscheidungsverfahren nicht allein erlässt. Vielmehr bedarf es dazu stets des Zutuns des Europäischen Parlaments und im Regelfall auch der kodezisiven Mitwirkung der Kommission. Insofern kommt es wiederum zu einer Kooperation mehrerer legitimationsstiftender Völker, die in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirken. Denn das Europäische Parlament ist vollständig67, die Kommission immerhin teilweise68 an die Unionsbürgerschaft als zentriertem Unions-demos rückgebunden. Diese wirkt ihrerseits zwar mit der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammen. Sie ist jedoch ein von der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker institutionell abgesonderter demos. Mithin wird auch durch dieses Zusammenwirken untereinander wiewohl nicht fremder, so doch voneinander verschiedener demoi die Wirkkraft der über den Rat vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation gemindert. Hingegen ergibt sich keine zusätzliche Abschwächung der materiell-kontrollativen Legitimation daraus, dass in der in Rede stehenden Konstellation die Dezisionsmacht in erster Linie von Rat und Europäischem Parlament gemeinsam, mithin also von einer Organmehrheit ausgeübt wird. Zwar ergeben sich bei Ausübung der Dezisionsmacht durch eine Organmehrheit die im allgemeinen Teil nä

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Siehe nochmals oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. Dazu auch schon oben Kapitel 11 II. 1. c) = S. 925. 66 Siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. 67 Vgl. Streinz (Fn. 36), Rn. 352. 68 Siehe Dann (Fn. 36), S. 5 und Huber (Fn. 14), § 13 Rn. 4.

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her beschriebenen legitimatorischen Dysfunktionen69. Allerdings handelt es sich dabei der Sache nach um exakt dieselben legitimatorischen Dysfunktionen, wie sie dadurch ausgelöst werden, dass der aus den mitgliedstaatlichen Völkern konstituierte und durch den Rat repräsentierte dezentrierte Unions-demos mit dem sich über das Europäische Parlament artikulierenden zentrierten Unions-demos kooperiert. Es liegt auf der Hand, dass diese selbe Abschwächung der über den Rat vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation bei der Rekonstruktion des Grads demokratischer Abgeleitetheit nur einmal in Anschlag gebracht werden darf. Ein hiervon abweichendes Bild ergibt sich, wenn man berücksichtigt, dass und wie Rat und Kommission als Organmehrheit den Erlass von EG-Normsetzungs­ akten beherrschen. Denn die Kommission hängt nur zum Teil vom Europäischen Parlament ab und vermittelt insofern lediglich partiell die Dezisionsmacht der Unionsbürgerschaft als zentrierter Unions-demos. Nur insofern ist davon auszugehen, dass die Abschwächung materiell-kontrollativer Legitimation, wie sie durch die organmehrheitliche Ausübung der Dezisionsmacht ausgelöst wird, bereits dadurch konsumiert ist, dass die Dysfunktionen, die dem Zusammenwirken der mitgliedstaatlichen Völker mit der Unionsbürgerschaft als zentriertem Unions-demos zuzuschreiben sind, legitimationsrechtlich schon in Rechnung gestellt wurden. Drittens wird die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation, die den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten über den Rat zuwächst, daher auch dadurch abgesenkt, dass der Rat mit der Kommission in­ soweit zusammenwirkt, als diese ihre Mitentscheidungsmacht nicht von der Unionsbürgerschaft als zentriertem Unions-demos, sondern von der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker als dezentriertem Unions-demos herleitet. Denn in­ sofern übt eine Organmehrheit die Dezisionsmacht aus, kommt es infolge­dessen zu legitimatorischen Dysfunktionen und sind diese nicht identisch mit den legitimatorischen Dysfunktionen, die legitimationsrechtlich bereits berücksichtigt wurden. Die insofern zu verzeichnende Abschwächung der über den Rat vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation ist im Übrigen auch nicht zu vernachlässigen. Zwar ist die Kommission der Kontrollmacht des Rats unterworfen. Infolgedessen schwächt sich die Wirkkraft der über den Rat vermittelten materiell-kon­ trollativen Legitimation nicht so stark ab, wie wenn der Rat die Kommission nicht kontrollierte70. Allerdings erweist sich die dem Rat gegenüber der Kommission eingeräumte Kontrollmacht als letztlich nicht sonderlich effektiv und nachhaltig: Der Rat kann lediglich verhindern, dass eine Kommission nach Ablauf ihres



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Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461. Ebd.

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Mandats bestätigt wird; während der Amtszeit der Kommission ist es dem Rat grundsätzlich71 versagt, deren Mitglieder auszuwechseln72. Diese relative Schwäche der Kontrollmacht indes bewirkt, dass die Wirkkraft der über den Rat vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation durchaus spürbar unter dem organmehrheitlichen Zusammenwirken von Rat und Kommission leidet. Die Wirkkraft der über den Rat vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation wird viertens insoweit leicht abgeschwächt, als einzelne nationale Ratsvertreter staatsverfassungsrechtlich an materielle Vorgaben mitgliedstaatlicher Instanzen gebunden werden. Denn wenn das kontrollierte Organ bei seiner Erlassentscheidung materielle Direktiven zu befolgen hat, fällt es dem Kontrollorgan ein Stück weit schwerer, es zu kontrollieren. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass bei Vorliegen einer materiellen Direktive derjenige Teil einer Erlassentscheidung, der materiellkontrollativ legitimiert wird, kleiner ist, als wenn die materielle Direktive fehlte. Denn wo die materielle Direktive Platz greift, ist für die materiell-kontrollative Legitimation kein Raum73. Insofern kann sich folgendes Bild ergeben: Zwar weist der Teil einer Erlassentscheidung, der materiell-kontrollativ rückgebunden ist, infolge der materiellen Direktive ein leicht abgesenktes Legitimationsniveau auf; jedoch bewirkt die materielle Direktive, dass der von ihr erfasste Teil der Erlassentscheidung ungleich stärker demokratisch legitimiert ist, als wenn er lediglich personell und materiell-kontrollativ rückgebunden wäre. In diesem Fall ist bei wertender Betrachtung davon auszugehen, dass die materielle Direktive, obwohl sie die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation beeinträchtigt, das Legitimationsniveau des betreffenden Hoheitsakts insgesamt doch erhöht. Diese Konstellation ist etwa dann gegeben, wenn die nationalen Ratsmitglieder an Vorgaben der nationalen Parlamente gebunden werden74. Dies gilt umso mehr, als in dieser Konstellation die materielle Direktive von der Kontrollinstanz selbst erlassen wird. Denn dies hat zur Konsequenz, dass die durch die materielle Direktive bedingte Abschwächung materiell-kontrollativer Legitimation ohnedies nur gering ausfällt75; schließlich kann die Kontrollinstanz dann besonders gut verifizieren, inwieweit die von dem kontrollierten Organ getroffene Entscheidung tatsächlich



71 Vgl. allerdings das Amtsenthebungsverfahren nach Art.  216  EGV  – zu diesem etwa Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 216 EGV Rn. 1 ff. 72 Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 83. 73 Siehe oben Kapitel 6 I. 2. a) cc) = S. 295. 74 Anders verhält es sich demgegenüber, wenn die für das nationale Ratsmitglied verbindliche materielle Direktive von einer mit Landesministern besetzten Staatenkammer herrührt. Denn im Vergleich zur legitimatorischen Situation, die ohne derartige Direktive gegeben wäre, sinkt das Maß demokratischer Legitimation dann nicht nur in Ansehung desjenigen Teils der Erlassentscheidung ab, der materiell-kontrollativ rückgekoppelt ist; vielmehr weist dann auch auch der Teil  der Erlassentscheidung ein geringeres Legitimationsniveau auf, der materielldirektiv rückgebunden ist. 75 Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (4) = S. 419.

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materiell-direktiv determiniert war und inwieweit die materielle Verantwortung dafür bei ihm liegt76. Fünftens und letztens bleibt darauf hinzuweisen, dass die Leistungsstärke der über die Ratsmitglieder vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation auch dann abnimmt, wenn ausnahmsweise der Vertreter einer exekutivisch besetzten Staatenkammer die Befugnisse des nationalen Ratsmitglieds wahrnimmt. Denn dies hat zur Konsequenz, dass die materiell-kontrollative Legitimation äußerstenfalls auf der vierten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist und sie überdies – wegen der Rückbindung an eine Mehrheit von Völkern – eine vergleichsweise geringe Wirkkraft aufweist77.

bb) Die im Mitentscheidungsverfahren vom Europäischen Parlament vermittelte materiell-kontrollative Legitimation Vorstehend wurde im Einzelnen dargetan, wie leistungsstark die materiell-kon­ trollative Legitimation ist, die einem EG-Normsetzungsakt in dezisionärer Hinsicht über den Rat zuwächst. Daran schließt sich die Frage nach der Leistungsstärke desjenigen materiell-kontrollativen Legitimationsstrangs an, der einem im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakt annähernd hälftig über das Europäische Parlament zuwächst. Dieser beruht darauf, dass sich die Mitglieder des Europäischen Parlaments in periodisch wiederkehrenden Wahlen vor der Unionsbürgerschaft verantworten müssen. Es handelt sich insofern um eine einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation, der in Ansehung des spezifischen Charakters des Parlaments als letztem Legitimationsmittler eine besonders hohe Wirkkraft zukommt78. Eine gewisse Abschwächung erfährt die an sich beachtliche Wirkkraft der über das Europäische Parlament vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation nun freilich in dreierlei Hinsicht. Die Gründe für die Abschwächung sind dabei sachlich dieselben, wie sie bereits in Hinblick auf die vom Rat vermittelte materiellkontrollative Legitimation angeführt worden sind79. So wird die materiell-kontrollative Legitimation, die einem EG-Normsetzungsakt im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens vom Europäischen Parlament her zuwächst, erstens dadurch beeinträchtigt, dass das Europäische Parlament in diesem Rechtsetzungsverfahren mit dem Rat und regelmäßig auch mit der Kommission kooperiert. Denn da der Rat ganz, die Kommission immerhin teilweise an die 76 Auch insofern stellt sich die Situation anders dar, wenn die materielle Direktive von einer exekutivischen Staatenkammer herrührt. Denn diese ist in der hier in Rede stehenden Konstellation gerade nicht Kontrollorgan des Ratsmitglieds. 77 Oben Kapitel 11 II. 2. f) aa) = S. 961. 78 Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (4) = S. 445. 79 Oben Kapitel 13 II. 1. c) aa) = S. 1028.

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vom zentrierten Unions-demos institutionell getrennte Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker rückgebunden ist, kommt es insofern zu einem Zusammenwirken mehrerer voneinander verschiedener Völker. Dieser Umstand schwächt aus den bekannten Gründen80 die Wirkkraft der vom Europäischen Parlament her­ rührenden materiell-kontrollativen Legitimation. Zweitens zieht das regelmäßige Zusammenwirken mit der Kommission die über das Europäische Parlament vermittelte materiell-kontrollative Legitimation in­sofern in Mitleidenschaft, als die Kommission partiell auch die Dezisionsmacht der Unionsbürgerschaft als zentrierter Unions-demos vermittelt. Denn insofern wird die Dezisionsmacht von einer Organmehrheit ausgeübt, worunter die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation gleichfalls leidet81. Drittens schwächt sich die Wirkkraft der vom Europäischen Parlament herrührenden materiell-kontrollativen Legitimation zusätzlich dann ab, wenn der kodezisionsbefugte Rat nicht nur an die mitgliedstaatlichen Staatsvölker, sondern partiell auch an deren Untervölker rückgebunden ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das nationale Ratsmitglied an Vorgaben der nationalen Staatenkammer gebunden ist oder der von der nationalen Staatenkammer mandatierte Untervolksvertreter als nationales Ratsmitglied fungiert.

cc) Die im Mitentscheidungsverfahren von der Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation Ist nach allem geklärt, welche Leistungsstärke der über das Europäische Parlament vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens zukommt, ist nunmehr noch auf denjenigen materiellkon­trollativen Legitimationsbeitrag einzugehen, der den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten im Rahmen der normalerweise gege­ benen, freilich nur sehr beschränkten Kodezisionsmacht der Kommission zuwächst. Die insofern in Rede stehende materiell-kontrollative Legitimation beruht zum einen darauf, dass sowohl der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs als auch das Europäische Parlament, in Hinblick auf die einfachen Kommissionsmitglieder sogar noch der designierte Kommissionspräsident, jeweils verhindern können, dass die Kommission nach Ablauf ihres Mandats in ihrem Amt bestätigt wird; zum anderen knüpft die materiell-kontrollative Legitimation daran an, dass das Europäische Parlament der Kommission sein Misstrauen aussprechen kann. Um das hierdurch generierte Maß materiell-kontrollativer Legitimation zu bestimmen, ist zu erinnern, was im allgemeinen Teil  für die beiden Fallkonstella

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Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461.

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tionen ausgeführt wurde, in denen zum einen ein institutioneller Träger demokratischer (Ko-)Dezisionsmacht der Kontrolle mehrerer vorgesetzter Instanzen ausgesetzt ist82, zum anderen ein Kollegialorgan als institutioneller Träger demokratischer (Ko-)Dezisionsmacht fungiert83; denn diese beiden Fallkonstella­tionen sind in Hinblick auf die Kommission verwirklicht. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die materiell-kontrollative Legitimation, soweit sie vom Kommissionspräsidenten vermittelt wird, auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln ist, sofern sie – überwiegend oder bei Überstimmung des Kommissionspräsidenten sogar allein – von den übrigen Kommissionsmitgliedern herrührt, auf der vierten Stufe. Die von der Kommission vermittelte materiellkontrollative Legitimation erfolgt mithin auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als beispielsweise die vom Rat herrührende. Die über die Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation ist indes nicht nur in Ansehung der Stufe demokratischer Vermitteltheit vergleichsweise leistungsschwach. Entsprechendes gilt auch und vor allem in Hinblick auf ihre Wirkkraft. Zu einer Abschwächung der Wirkkraft kommt es schon insofern, als EG-Normsetzungsakte, soweit die Kommission über ihren Erlass mitentscheidet, auf eine Mehrheit legitimationsstiftender Völker zurückführen84. Des Weiteren übt die Kommission gemeinsam mit dem Rat die dem dezentrierten Unions-demos zuordenbare Dezisionsmacht aus und vermittelt gemeinsam mit dem Europäischen Parlament die dem zentrierten Unions-demos zustehende Dezisionsmacht85. Diese Ausübung von Dezisionsmacht als Organmehrheit beeinträchtigt ebenfalls die über die Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation86. Noch folgenschwerer ist, dass die Kontrollmöglichkeiten, die an die periodisch wiederkehrende Abwahlmöglichkeit sowie an die parlamentarische Verantwortlich­ keit der Kommission anknüpfen, letztlich nicht sonderlich effektiv und nachhaltig sind. Denn dass sie sich alle fünf Jahre der Wiederwahl stellen muss, inzitiert die Kommission nur mäßig, sich bei jeder ihrer Entscheidungen den Willen der ihr vorgesetzten demokratischen Kontrollinstanzen und damit letztlich den Volkswillen anzuverwandeln87. Auch die Möglichkeit, die Kommission durch Misstrauensvotum zum Rücktritt zu zwingen, ist zwar per se ein überaus wirksames Kontrollinstrument. Doch ist zu berücksichtigen, dass ein im Europäischen Parlament eingebrachter Misstrauensantrag mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen werden muss88.

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Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (1) = S. 449. Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (5) = S. 466. 84 Zu diesen Zusammenhängen oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. 85 Dazu vertiefend auch Bieber (Fn. 48), § 4 Rn. 62. 86 Vgl. allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (6) = S. 468. 87 Anderer Ansicht wohl Schmitt von Sydow, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.),  EUV /  EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 214 Rn. 35 f. 88 Vgl. etwa Fetscher, Zukunftsprobleme und Perspektiven der Demokratie in Europa, in: Herb / Hidalgo (Hrsg.), Die Zukunft der Demokratie, 2006, S. 13 (15). Dies vernachlässigt Nass, Eine beliebtes Phantom: das Demokratiedefizit der EU, in: FAZ vom 29.03.1999, S. 15 eklatant.

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Infolgedessen wird die Kommission auch durch ihre parlamentarische Verantwortlichkeit nicht wirklich effektiv und nachhaltig dazu angeregt, demokratisch legitime Entscheidungen zu treffen89. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass die über die Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation im Modell doppelter Legitimationsbasis zwar wirkkräftiger ausfällt als bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation90. Denn anders als dort erwächst materiell-kontrollative Legitimation auch aus der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Kommission. Jedoch darf dies wegen der relativ geringen Wirkkraft, die der an die parlamentarische Verantwortlichkeit anschließenden materiell-kontrollativen Legitimation zukommt, nicht überbewertet werden. So bleibt die von der Kommission vermittelte materiellkontrollative Legitimation auch in puncto Wirkkraft hinter der zurück, die der Rat vermittelt. Denn dessen Mitglieder müssen schon dann zurücktreten, wenn ihr Heimatparlament ihnen beziehungsweise ihrer Regierung das Vertrauen entzieht.

dd) Die in den übrigen Rechtsetzungsverfahren von den EG-Organen vermittelte materiell-kontrollative Legitimation Aus den vorangegangenen Erwägungen ergibt sich, welches Niveau materiell-kontrollativer Legitimation die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EGNormsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht prägt. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun unschwer auch Rückschlüsse für die in den übrigen Rechtsetzungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte ziehen. Entscheidend ist insofern, dass dem Europäischen Parlament in den übrigen Rechtsetzungsverfahren eine deutlich beschränktere oder gar keine Mitentscheidungsmacht zukommt. Infolgedessen werden EG-Normsetzungsakte, die nicht im Mitentscheidungsverfahren ergehen, deutlich weniger oder überhaupt nicht von der über das Europäische Parlament vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation geprägt, die sich – trotz der unter den genannten Gesichtspunkten abgeschwächten Wirkkraft  – als vergleichsweise leistungsstark darstellt.

89 Etwas weniger skeptisch Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union, 2001, S. 112 f. sowie Raworth, A Timid Step Forwards: Maastricht and the Democra­ tisation of the European Community, in: ELR 1994, S. 16 (31 f.). Vgl. auch Preuß, Regieren ohne Demos, in: Bruha / Nowak (Hrsg.), Europäische Union nach Nizza, 2003, S. 49 (55 f.) und Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 208. 90 Dazu oben Kapitel 11 II. 1. c) = S. 925.

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d) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller Legitimation Bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis wächst sämtlichen Typen von EG-Normsetzungsakten und mithin auch den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen revisionäre demokratische Legitimation erstens dadurch zu, dass die demokratisch zusammenwirkenden Mitgliedstaaten im Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV gleichsam mittelbar auf sie zugreifen können91. Für die in revisionärer Hinsicht verfangende personelle Legitimation lässt sich insofern – zumindest der Grundtendenz nach – festhalten, dass sie bei Zugrunde­ legung des Modells doppelter Legitimationsbasis überwiegend mehrfach und nur zu einem geringeren Teil einfach vermittelt ist. Denn die Entscheidung darüber, ob und wie die Vertragsänderungsmacht ausgeübt werden soll, wird von den normalerweise parlamentsberufenen Exekutiven der Mitgliedstaaten92 getroffen. Erst wenn die Exekutiven einen konkreten Vorschlag über die Vertragsänderung ausgehandelt haben, kommen die mitgliedstaatlichen Gesetzgebungskörperschaften, das heißt typischerweise das Parlament93, zum Zuge – allerdings mit der nur beschränkten Befugnis, die Vertragsänderung zu billigen oder zu missbilligen. In revisionärer demokratischer Legitimation erwachsen EG-Normsetzungsakte zweitens dadurch, dass  – jenseits des Vertragsänderungsverfahrens nach Art.  48  EUV  – auch die EG-Organe eine Abänderung von EG-Normsetzungs­ akten bewirken können und dabei teils die (Ko-)Revisionsmacht der in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität kooperierenden mitgliedstaatlichen Völker, teils die des zentrierten Unionsvolks vermitteln. Zur Bestimmung des hierdurch verwirklichten Maßes personeller demokratischer Legitimation kann auf die Überlegungen rekurriert werden, die zu dem in dezisionärer Hinsicht realisierten Niveau personeller Legitimation angestellt wurden94. Denn EGOrgane vermögen EG-Normsetzungsakte zumindest immer auch in den Verfahren 91 Ausgeblendet bleibt demgegenüber, dass EG-Normsetzungsakte des Weiteren auch insofern über das Primärrecht demokratisch rückgebunden sind, als der EGV nach Maßgabe allgemeinen Völkerrechts Gegenstand eines Aufhebungsvertrags beziehungsweise einer Kündigung sein kann. Denn aus den an früherer Stelle entwickelten Gründen tragen die hieran anknüpfenden Legitimationszusammenhänge in so geringem Umfang zu dem in revisionärer Hinsicht realisierten Grad demokratischer Abgeleitetheit bei, dass sie als vernachlässigbar erscheinen. 92 Ausnahmsweise kommt nach mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht dem unmittelbar gewählten Staatschef in auswärtigen Angelegenheiten eine Mitentscheidungsmacht zu. Dass die personelle Legitimation, soweit die Revisionsmacht von der Exekutive ausgeübt wird, mehrfach vermittelt ist, trifft insofern in der Tat nur der Grundtendenz nach zu. 93 Gegebenenfalls kann oder muss nach mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht an der innerstaatlichen Ratifikation der Vertragsänderung unmittelbar das Volk oder neben dem Parlament auch eine nur mittelbar vom Volk bestellte Staatenkammer beteiligt werden. Auch vor diesem Hintergrund erweist es sich als nur tendenziell zutreffend, dass die personelle Legitimation auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt, sofern zum geringeren Teil die Legis­ lative die Vertragsänderungsmacht ausübt. 94 Oben Kapitel 13 II. 1. a) = S. 1022.

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zu revidieren, in denen sie sie erlassen haben. Für einen im Mitentscheidungsverfahren in Geltung gesetzten EG-Normsetzungsakt ergibt sich daraus, dass ihm revisionäre Legitimation im Wesentlichen95 hälftig auf der dritten sowie ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit zuwächst. Denn nicht nur der Erlass solcher Normsetzungsakte, sondern auch ihre Revision obliegt hauptsächlich und zu gleichen Teilen dem dezentrierte unionsdemokratische Legitimation vermittelnden Rat sowie dem zentrierte unionsdemokratische Legitimation transportierenden Euro­ päischen Parlament. Für EG-Normsetzungsakte, bei denen es sich nicht um Durchführungsrecht handelt, sind damit auch schon abschließend die Determinanten des in revisio­ närer Hinsicht realisierten Niveaus personeller Legitimation benannt. Denn solche EG-Normsetzungsakte lassen sich – außer nach Maßgabe von Art. 48 EUV – tatsächlich nur noch in dem Verfahren revidieren, in dem sie auch erlassen worden sind. Anders verhält es sich bei Durchführungsrecht. Dieses kann außerdem noch mittelbar dadurch abgeändert werden, dass das vorrangige Sekundärrecht revidiert wird96.

e) Das in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiell-kontrollativer Legitimation Wächst EG-Normsetzungsakten revisionäre Legitimation im Rahmen von Art. 48 EUV zu, so gilt für die materiell-kontrollative Legitimation, dass sie – jedenfalls der Grundtendenz nach – überwiegend mehrfach, zum geringeren Teil einfach vermittelt ist. Denn die materiell-kontrollative Legitimation beruht hauptsächlich auf der Überwachung der Regierungsexekutiven der Mitgliedstaaten durch deren Heimatparlamente sowie  – mittelbar  – durch die nationalen Staatsvölker97 und nur sehr partiell auf der Kontrolle der mitgliedstaatlichen Parlamente durch die nationalen Staatsvölker98. Hinsichtlich der Wirkkraft dieser materiell-kontrollativen



95

Unterschlagen wird insofern die – vergleichsweise geringe – Korevisionsmacht der Kommission. 96 Zum hierarchischen Vorrang sekundärrechtlicher Normsetzungsakte vor dem darauf basierenden Durchführungsrecht Streinz (Fn. 36), Rn. 424. 97 Die über die Regierungsvertreter vermittelten materiell-kontrollativen Legitimations­ beiträge sind in Ansehung der legitimationsbedürftigen EG-Normsetzungsakte als Einheit zu betrachten und als solche auf derjenigen Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln, die für den am stärksten vermittelten Einzelbeitrag prägend ist. Deshalb wächst den EG-Normsetzungsakten über die Regierungsexekutive eine mehrfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation zu, selbst wenn diese unter anderem auf der Kontrolle durch das Staatsvolk beruht und sich folglich mitunter auch aus einfach vermittelten Legitimationsbeiträgen zusammensetzt. 98 Vgl. dazu die allgemeinen Überlegungen zu dem für einen Hoheitsakt prägenden Grad demokratischer Abgeleitetheit bei Ausübung der Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht durch eine Organmehrheit oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Legitimation ist zu berücksichtigen, dass diese wegen des Zusammenwirkens mehrerer Völker gemindert ist99. Soweit sich die revisionäre Legitimation im Rahmen derjenigen Vorschriften Bahn bricht, die für den Erlass und folglich auch für die Abänderung von EGNormsetzungsakten maßgeblich sind, so kann für deren Niveau materiell-kon­ trollativer Legitimation mutatis mutandis auf die Ausführungen verwiesen werden, die bereits zu dem in dezisionärer Hinsicht realisierten Legitimationsniveau angestellt wurden100. In dieser Perspektive wird etwa ein Revisionsverzicht, der sich auf einen im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakt bezieht, im Wesentlichen dadurch materiell-kontrollativ legitimiert, dass die im korevisionsbefugten Rat vertretenen Minister durch ihre jeweiligen Regierungschefs, ihre Heimatparlamente beziehungsweise ihre nationalen Heimatvölker kontrolliert werden, die Mitglieder des – in gleichem Maß wie der Rat zur Revision befugten – Europäischen Parlaments der Kontrolle des – zentrierten – Unionsvolks unterliegen. Damit ist die in revisionärer Hinsicht verfangende materiell-kontrollative Legitimation in den Fällen, in denen im Mitentscheidungsverfahren ergangene Normsetzungsakte in Rede stehen, annähernd hälftig auf der dritten und ersten, mithin also auf einer relativ niedrigen Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt. Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge in diesen Konstellationen aus den bereits ausführlich dargelegten Gründen, nämlich vor allem wegen des Zusammenwirkens verschiedener Völker, mehr als unerheblich abgeschwächt ist.

2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Um zu klären, ob der in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis für EG-Normsetzungsakte kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit den Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grund­ gesetzes genügt, muss er aus den dargelegten dogmatischen Erwägungen zunächst mit dem aus grundgesetzlicher Sicht insoweit ‚normalen‘ Maß personeller, materiell-direktiver sowie materiell-kontrollativer Legitimation abgeglichen werden101. Das grundgesetzliche Normalmaß bestimmt sich dabei, wie gleichfalls schon dargetan, nicht für alle EG-Normsetzungsakte nach denselben grundgesetzlichen Bestimmungen. Vielmehr sind die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte an dem durch Art.  59  GG vorgegebenen Grad demokratischer Abgeleitetheit zu messen, wohingegen sich die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte an dem vom Grundgesetz für rein innerstaatliche

99

Allgemein dazu oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. Oben Kapitel 13 II. 1. c) = S. 1028. 101 Siehe oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716.

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Normsetzungsakte vorgeschriebenen Ausmaß personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation zu orientieren haben102. Liegt der in der Bestandsaufnahme in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte rekonstruierte Grad demokratischer Abgeleitetheit höher, als es das insoweit relevante, uneinheitliche Normalmaß des Grundgesetzes vorsieht, muss im Weiteren überlegt werden, ob sich dieses Legitimationsdefizit grundgesetzlich rechtfertigen lässt. In diesem Zusammenhang wird nun freilich – zunächst – eine gewisse Verein­ fachung vorgenommen. Es gilt, den ohnedies schon komplexen Vergleich zwischen dem für EG-Normsetzungsakte kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit und dem grundgesetzlichen Normalmaß sowie die sich daran anschließenden und gleichfalls diffizilen Überlegungen zur Rechtfertigung etwaiger Legitimationsdefizite zu entlasten. Daher wird auch im Folgenden eine bereits an früherer Stelle eingeführte Fiktion zugrundegelegt: Es wird – vorläufig – unterstellt, dass die in den verschiedenen Mitgliedstaaten geltenden staatsverfassungsrechtlichen Vorschriften, welche die demokratische Rückbindung der an der Primär- oder Sekundärrechtsetzung beteiligten nationalen Organe regeln, EU-weit identisch sind103. Infolgedessen bedarf es zumindest im ersten Zugriff keiner näheren Analyse der verschiedenen staatsverfassungsrechtlichen Ordnungen, wenn der für EG-Normsetzungsakte charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit auch insoweit bestimmt werden soll, als er von den in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkenden nationalen Staatsvölkern her legitimiert wird. Vielmehr genügt es, wenn insoweit prototypisch auf die Leistungskraft der Legitimationsbeiträge abgestellt wird, wie sie in einem solchen Fall ein beliebiger mitgliedstaatlicher demos unter den Bedingungen einer idealtypischen mitgliedstaatlichen Verfassung generieren würde. Als idealtypische Regelung der unionswärtigen Staatsgewalt können dabei die einschlägigen grund­ gesetzlichen Bestimmungen gelten, sofern man die Besonderheiten ausblendet, die sich aus der Mitherrschaft der Bundesländer an der EG-Normsetzung ergeben. Nachstehend wird daher fingiert, dass alle EU-Mitgliedstaaten die legitimationsstiftende Beteiligung ihrer Organe staatsverfassungsrechtlich nach demselben Modus organisiert haben, wie es das um seine bundesstaatlichen Besonderheiten bereinigte Grundgesetz vorsieht. Diese Fiktion lässt sich unter zwei Gesichtspunkten rechtfertigen. Zum einen ist zu berücksichtigen, was der Sache nach bereits angedeutet wurde, nämlich dass die Unterschiede zwischen den Staatsverfassungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten typischerweise keine gravierenden Auswirkungen auf die Leistungsstärke der von der Gesamtheit der Staatsvölker herrührenden Legitimation von EG-Normsetzungsakten haben104. Zum anderen bleibt darauf hinzuweisen, dass am Ende dieses Gliederungsabschnitts105 noch kurz re 102

Oben Kapitel 10 III. 3. c) = S. 832. So auch schon oben Kapitel 13 II. 1. = S. 1020. 104 Ebd. 105 Unten Kapitel 13 II. 2. e) = S. 1162.

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flektiert werden soll, wie sich die Sach- und Verfassungsrechtslage darstellt, wenn man die hier vorgeschlagene Fiktion beiseite schiebt und die real existierenden Unterschiede zwischen den einzelnen staatsverfassungsrechtlichen Arrangements mit berücksichtigt. Bereits geklärt wurde, dass und weshalb EG-Normsetzungsakte, bei denen es sich nicht um sekundärrechtlich determiniertes Durchführungsrecht handelt, überwiegend dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen106. Für die hier interessierende Frage, ob der in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis für EG-Normsetzungsakte charakteristische Grad demokratischer Abgeleitetheit der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes gerecht wird, hat dies eine gewichtige Konsequenz. Denn das jedenfalls im dogmatischen Ausgangspunkt maßgebliche grundgesetzliche Normalmaß, wie es sich in Hinblick auf die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte aus Art. 59 GG und für die potenziell marktinterventionistischen aus den für die rein innerstaatliche Normsetzung geltenden Grundgesetzvorschriften erschließt, fällt deutlich höher aus, wenn – wie im Regelfall bei den im eigentlichen Sinn legislativen Normsetzungsakten der EG – der absolute Vorbehalt parlamentarischer Normierung greift, als wenn dies nicht der Fall ist107.

a) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Das durch Art. 59 GG vorgegebene Normalmaß personeller und materieller Legitimation wird durch die im Mitentscheidungsverfahren ergangenen wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte jedenfalls nicht unterschritten, teilweise sogar überschritten. Für die in den übrigen Normsetzungsverfahren erlassenen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte gilt, dass sie lediglich dann das durch Art. 59 GG vorgezeichnete Normalmaß zu wahren vermögen, wenn sie nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen und das Europäische Parlament über ihr Inkrafttreten mitentschieden hat. Im Übrigen wird das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß in unterschiedlich großem Umfang verfehlt. Allerdings lassen sich die insoweit zu konstatierenden Legitimationsdefizite durchweg rechtfertigen. Dabei kommt – gerade auch in längerfristiger Perspektive – dem Rechtfertigungspotenzial der in Art. 20 GG niedergelegten Bundesstaatsnorm besondere Bedeutung zu.

106

Oben Kapitel 11 II. 2. a) = S. 933. Siehe dazu oben, und zwar zum einen Kapitel 10 III. 1. b) = S. 730 sowie zum anderen Kapitel 10 III. 2. c) = S. 790.

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aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte wahren das in dezisionärer Hinsicht vom Grundgesetz vorgegebene Normalmaß nur, aber immerhin, wenn sie im Mitentscheidungsverfahren ergehen.

(1) Das Niveau personeller demokratischer Legitimation Für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Norm­ setzungsakte sieht Art. 59 GG vor, dass ihnen in dezisionärer Hinsicht personelle Legitimation vornehmlich von der Exekutive zuwächst und nur zu einem geringeren Teil vom unmittelbar volksbestellten Parlament108. Davon ist erst recht in den Fällen auszugehen, in denen der innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakt völkerrechtsvertraglicher Provenienz im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung ergeht. Dieses grundgesetzliche Normalmaß personeller Legitimation übertreffen die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte dann, wenn sie im Mitentscheidungsverfahren ergehen. Zwar kommt im Mitentscheidungsverfahren typischerweise auch der Kommission Kodezisionsmacht zu109, deren personelle Legitimationsbeiträge überwiegend auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt sind als die der mitgliedstaatlichen Exekutiven. Jedoch reicht die Kode­zisionsmacht der Kommission nicht sonderlich weit110; im Wesentlichen wächst den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EG-Normsetzungsakten personelle Legitimation daher vom Rat und vom Europäischen Parlament zu. Insofern ist nun freilich zu berücksichtigen, dass Rat und Europäisches Parlament im Mitentscheidungsverfahren gleichberechtigt zusammenwirken. Soweit indes EG-Normsetzungsakte von Rat und Europäischem Parlament gleichberechtigt beherrscht werden, fällt das Niveau personeller Legitimation höher aus, als Art.  59  GG dies mit seinem legitimatorischen Primat der Exekutive vorsieht111. Dadurch wird der durch die Kodezisionsmacht der Kommission bedingte Abfall des in dezisionärer Hinsicht erreichten Ausmaßes personeller Legitimation mehr als kompensiert. Davon ist insbesondere, aber eben nicht nur dann auszugehen, wenn man dasjenige grundgesetzliche Normalmaß zugrundelegt, das im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung gilt. Es bestätigt sich somit, dass die 108

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) = S. 790. Und zwar aufgrund ihres ausschließlichen Initiativ- und Vorschlagrechts  – vgl. Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 251 EGV Rn. 11. 110 Zur Bedeutung des Initiativrechts nuanciert Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 92. 111 Zu diesem oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (3) = S. 798. 109

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vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten EG-Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß personeller demokratischer Legitimation übertreffen, sofern sie im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden. Anders verhält es sich hingegen bei wesensmäßig marktkonstituierenden EGNormsetzungsakten, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, aber außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens ergehen. Sie unterschreiten mangels Beteiligung des Europäischen Parlaments112 durchweg das in dezisionärer Hinsicht vorgegebene Normalmaß personeller demokratischer Legitimation.

(2) Das Niveau materiell-kontrollativer demokratischer Legitimation Ein  – notwendig  – ähnliches Bild ergibt sich in Hinblick auf die materiellkontrollative Legitimation. Insofern sieht Art.  59  GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Normsetzungsakte vor, dass sich die materiell-kontrollative Legitimation nur zum geringeren Teil über die volksunmittelbare Überwachung des Parlaments Bahn bricht, sie stattdessen überwiegend an die Kontrollunterworfenheit der Exekutive anknüpft und infolgedessen hauptsächlich auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist113. Von den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten wird dieses Legitimationsniveau überboten. Zwar bleibt das Legitimationsniveau insoweit hinter den grundgesetzlichen Vorgaben zurück, als die materiell-kontrollative Legitimation auch über die Kommission vermittelt wird; dieses Legitimationsdefizit wird aber dadurch mehr als kompensiert, dass sich die den betreffenden EG-Norm­ setzungsakten zuwachsende materiell-kontrollative Legitimation annähernd hälftig als einfach vermittelt darstellt. Soweit wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte hingegen außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens ergehen, bleiben sie auch in Hinblick auf die materiell-kontrollative Legitimation hinter dem Normalmaß zurück, das sich für sie, soweit sie die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Norm­ setzung unterfallen, aus dem Grundgesetz herleiten lässt. Denn ihnen wächst keine unmittelbar vom Parlament vermittelte und infolgedessen besonders leistungsstarke materiell-kontrollative Legitimation zu114, sodass das grundgesetzliche Normalmaß jedenfalls unterschritten wird. 112 Zu berücksichtigen ist, dass das Zustimmungsverfahren (dazu etwa Oppermann [Fn. 19], § 5 Rn.  36) im Bereich der marktkonstituierenden Normsetzungsakte keine Anwendung findet und auch dem Zusammenarbeitsverfahren (dazu Kluth, in: Calliess / Ruffert [Hrsg.], EUV /  EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 252 EGV Rn. 1 ff.) insoweit nur jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung noch Bedeutung zukommt. 113 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (4) = S. 799. 114 Siehe oben Fn. 112.

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(3) Das Niveau materiell-direktiver demokratischer Legitimation Zu berücksichtigen bleibt, dass sich Art. 59 GG keine direkten Aussagen darüber entnehmen lassen, wo bei vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten Normsetzungsakten das Normalmaß materiell-direktiver Legitimation liegt. Ausdrücklich regelt Art. 59 GG nur die personelle sowie die materiellkontrollative Legitimation. EG-Normsetzungsakte indes werden durchweg auch materiell-direktiv legitimiert, nämlich zumindest über das gemeinschaftsrechtliche Primärrecht. Soweit diese materiell-direktive Legitimation reicht, wächst den EG-Normsetzungsakten keine personelle beziehungsweise materiell-kontrollative Legitimation zu115. Da freilich bislang nur abgeglichen worden ist, ob das für EG-Normsetzungsakte charakteristische Niveau personeller und materiell-kon­ trollativer Legitimation dem Normalmaß des Art.  59  GG entspricht, muss diese Überlegung nun auch noch in Hinblick auf die materiell-direktive Legitimation angestellt werden. Es ist mit anderen Worten zu prüfen, ob der einem EG-Normsetzungsakt aufgrund Primärrechts zuwachsende materiell-direktive Legitima­ tionsbeitrag den Grad demokratischer Abgeleitetheit erreicht, überschreitet oder aber unterschreitet, den Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt erfasste Normsetzungsakte vorsieht. Dabei zeigt sich, dass die materielle Direktive als solche durch just die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge geprägt ist, die Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung erfasste Norm­ setzungsakte vorsieht. Daraus folgt, dass der von dieser materiellen Direktive ausgehende materiell-direktive Legitimationsbeitrag auf einer genau um den Wert 1 höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit ergeht, als Art. 59 GG dies vorgibt. Infolgedessen unterschreiten EG-Normsetzungsakte, soweit sie primärrechtlich determiniert sind, das grundgesetzliche Normalmaß, das sich aus Art. 59 GG für vom Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste EG-Normsetzungsakte ergibt. Dabei ist freilich zweierlei zu beachten. Erstens hält sich das insofern zu verzeichnende Legitimationsdefizit schon deshalb in Grenzen, weil die den EGNormsetzungsakten zuwachsende materiell-direktive Legitimation eine höhere Wirkkraft aufweist als die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, die Art. 59 GG insofern als Normalmaß vorsieht116. Dadurch wird zwar der legitimationstheoretisch entscheidende Umstand nicht überspielt, dass diese Legitimationsbeiträge auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen als die an das Primärrecht anknüpfende materiell-direktive Legitimation. Jedoch verringert sich die legitimatorische Distanz zwischen dem grundgesetzlich insofern vorgegebenen Legitimationsniveau und dem im Rahmen der EG-Normsetzung erreichten. 115

Zu diesem Ausschließlichkeitsverhältnis allgemein oben Kapitel 6 I. 2. b) cc) = S. 300. Dazu allgemein Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416.

116

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Zweitens und vor allem ist zu erinnern, dass die Regelungsdichte der primärrechtlichen Vorgaben selbst bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten eher gering ist. Infolgedessen spielen für die Legitimation von EG-Normsetzungsakten die einander ergänzenden personellen sowie materiellkontrollativen Legitimationsbeiträge eine ungleich größere Rolle als die materielldirektive Legitimation. Und folglich kommt es für die Frage, ob im Rahmen der EG-Normsetzung das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation erreicht wird, deutlich stärker auf die den EG-Normsetzungsakten zuwachsenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge an als auf die materiell-direktive Legitimation. Vor diesem Hintergrund wird man denn auch festhalten können, dass wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden, insgesamt betrachtet, den Grad demokratischer Abgeleitetheit jedenfalls nicht überschreiten, den Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht vorgibt. Denn dass diese EG-Normsetzungsakte, soweit sie zu einem sehr geringen Teil materiell-direktiv legitimiert werden, das grundgesetzliche Normalmaß unterschreiten, wird dadurch zumindest kompensiert, dass sie, sofern sie in ungleich größerem Umfang durch personelle und materiell-kontrollative Legitimation demokratisch rückgekoppelt werden, das grundgesetzliche Normalmaß überschreiten. Für wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, die in anderen als dem Mitentscheidungsverfahren erlassen werden, bleibt es demgegenüber bei der Feststellung, dass sie jedenfalls in dezisionärer Hinsicht den Grad demo­ kratischer Abgeleitetheit verfehlen, der aus grundgesetzlicher Sicht für sie als normal anzusehen ist, soweit sie dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Denn bei diesen unterschreitet bereits das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation das grundgesetzliche Normalmaß117. Infolgedessen kann der Umstand, dass die materiell-direktive Legitimation auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit ergeht, als es dem grundgesetzlichen Normalmaß entspricht, auch nicht kompensiert werden; vielmehr verschärft er das in Hinblick auf das grundgesetzliche Normalmaß zu konstatierende Legitima­ tionsdefizit.

bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Unterfallen wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung, gibt Art. 59 GG insofern ein gemindertes Normalmaß personeller, materiell-direktiver und materiell 117

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) aa) (1) = S. 1041 und Kapitel 13 II. 2. a) aa) (2) = S. 1042.

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kontrollativer vor. Dies hat zur Konsequenz, dass – anders als im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung  – nicht ausschließlich nur die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte zu dem durch Art. 59 GG vorgezeichneten Normalmaß aufschließen.

(1) Das Niveau personeller demokratischer Legitimation Art. 59 GG lässt jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung eine allein von der Exekutive herrührende personelle Legitimation genügen. Dieses Normalmaß wird klar übertroffen, soweit ein EG-Normsetzungsakt im Mitentscheidungsverfahren ergeht, weil ihm in diesem Fall aufgrund der Kodezisionsmacht des Europäischen Parlaments annähernd hälftig eine einfach vermittelte, besonders wirkkräftige personelle Legitimation zuwächst. Aber auch soweit ein wesensmäßig marktkonstituierender EG-Normsetzungsakt im Verfahren der Zusammenarbeit erlassen wird118, weist er im Regelfall ein Niveau personeller Legitimation auf, das grundsätzlich leicht oberhalb des grundgesetzlichen Normalmaßes liegt. Denn außer in den (Ausnahme-)Fällen des Art. 252 Buchst. c UAbs. 2 EGV119 beruhen auch die in diesem Verfahren zustande gekommenen Normsetzungsakte – in freilich eingeschränktem Umfang – auf der Kodezisionsmacht des Parlaments. Wird ein EG-Normsetzungsakt in einem Verfahren erlassen, in dem dem Europäischen Parlament keinerlei Mitentscheidungsbefugnisse zustehen, so wird das grundgesetzliche Normalmaß personeller Legitimation immerhin gewahrt. Dies gilt auch dann, wenn neben dem Rat oder statt seiner die Kommission EG-Normsetzungsakte erlässt. Denn auch im Rahmen von Art. 59 GG kann es dazu kommen, dass statt der Regierung oder eines ihrer Mitglieder ein von ihnen dazu Bevollmächtigter das normative Verwaltungsabkommen abschließt120 und dem innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakt völkerrechtsvertraglicher Provenienz infolgedessen eine hochgradig vermittelte personelle Legitimation zuwächst.

118 Anders als diesseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung (dazu oben Fn.  112) können wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte jenseits dieses Vorbehalts durchaus im Zusammenarbeitsverfahren ergehen (vgl. zum Beispiel Art.  103 Abs. 2 EGV). 119 Die hierfür vorauszusetzende Konfrontation, bei der die Gesamtheit der im Rat ver­ tretenen Mitgliedstaaten einmütig gegen die Mehrheit des Europäischen Parlaments steht, wird allenfalls selten eintreten (vgl. dazu auch Gellermann, in: Streinz [Hrsg.], EUV / EGV, 2003, Art. 252 EGV Rn. 11). 120 Dazu etwa Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 59 Rn. 103.

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(2) Das Niveau materiell-kontrollativer demokratischer Legitimation Das Niveau materiell-kontrollativer Legitimation, das Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierte Normsetzungsakte vorsieht, wird von denjenigen EG-Normsetzungsakten übertroffen, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden. Denn insofern beruht die materiellkontrollative Legitimation annähernd hälftig auf der unmittelbaren und besonders wirkkräftigen Kontrolle des Europäischen Parlaments durch das europäische Wahlvolk121. Auch soweit EG-Normsetzungsakte mit ausdrücklicher oder stillschweigender Billigung des Europäischen Parlaments im Verfahren der Zusammenarbeit ergehen, liegt das in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau materiellkontrollativer Legitimation grundsätzlich zumindest leicht oberhalb desjenigen, das Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommene Normsetzungsakte als normal vorgibt. Die materiell-kontrollative Legitimation beruht insoweit nämlich zumindest ein Stück weit auf der unmittel­baren und besonders wirkkräftigen Kontrolle des Europäischen Parlaments durch das zentrierte Unionsvolk. Ergehen die EG-Normsetzungsakte hingegen in Normsetzungsverfahren, in denen das Europäische Parlament keinerlei Mitentscheidungsmacht innehält, dafür aber der Kommission eine mehr oder minder große (Ko-)Dezisionsmacht zukommt, so bleibt das Niveau materiell-kontrollativer Legitimation hinter dem grundgesetzlichen Normalmaß zurück. Der Niveauunterschied betrifft allerdings nicht schon die Stufe demokratischer Vermitteltheit. Denn wie schon hinsichtlich der personellen ist auch bezüglich der materiell-kontrollativen Legitimation zu berücksichtigen, dass normative Verwaltungsabkommen nicht notwendig auf Minister­ebene abgeschlossen werden müssen. Stattdessen unterschreiten die materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, die den in Rede stehenden EG-Normsetzungsakten zuwachsen, das grundgesetz­ liche Normalmaß nur, aber immerhin in puncto Wirkkraft. Dieses Legitimations­ defizit resultiert daraus, dass die von der Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation im Vergleich zu der über die nationale Exekutive vermittelten weniger wirkkräftig ist. Denn schließlich sind die Kontrollmöglichkeiten, denen sich die Kommission ausgesetzt sieht, schwächer als diejenigen, denen ein Mitglied der Gubernative oder der Administrative nach deutschem Verfassungsrecht unterworfen ist: Die Bundesregierung kann durch mit absoluter Mehrheit zu fassendes konstruktives Misstrauensvotum jederzeit durch den Bundestag gestürzt werden122; nachgeordnete Amtswalter können jederzeit vom Minister angewiesen werden123. 121

Siehe oben Kapitel 13 II. 1. c) bb) = S. 1032. Art. 67 Abs. 1 GG. 123 Siehe Oldiges, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 65 Rn. 21 sowie Schneider, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art. 65 Rn. 7. 122

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Demgegenüber kann die Kommission vom Europäischen Parlament nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit zur Amtsniederlegung gezwungen werden124. Dass der materiell-kontrollativen Legitimation, die den ohne Zutun des Parlaments, dafür aber unter (ko-)dezisiver Mitwirkung der Kommission zustande gekommenen EG-Normsetzungsakten zuwächst, eine geringere Wirkkraft eignet, als dies grundgesetzlich normal ist, könnte in einer Hinsicht freilich als zweifelhaft erscheinen. Zu bedenken ist nämlich, dass normative Verwaltungsabkommen auf eine Mehrheit von demokratisch unverbundenen Völkern zurückführen, was die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation mindert. Die in Rede stehenden EG-Normsetzungsakte indes basieren – jedenfalls bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis – nicht auf dem Gesamtwillen von demokratisch unverbundenen Völkern, sodass es insofern auch nicht zu einer Minderung der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation kommt. Wenn dennoch an der These festgehalten wird, dass den in Rede stehenden Normsetzungsakten eine materiell-kontrollative Legitimation von geringerer Wirkkraft zuwächst als normativen Verwaltungsabkommen, so hat dies zwei Gründe: Zum einen ist zu berücksichtigen, dass in dem hier interessierenden Zusammenhang ein legitimationstheoretisch relevanter Unterschied zwischen normativen Verwaltungsabkommen und den betreffenden EG-Normsetzungsakten überhaupt nur dann besteht, wenn man von Verwaltungsabkommen ausgeht, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Vergleicht man nämlich EG-Normsetzungsakte, die ohne Zutun des Parlaments, dafür aber unter (ko-) dezisiver Mitwirkung der Kommission zustande gekommen sind, mit normativen Verwaltungsabkommen, die vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung exemiert sind, so wird die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation in diesen Konstellationen in qualitativ vergleichbarer Weise beeinträchtigt. Denn die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation nimmt keinen größeren Schaden, wenn ein Normsetzungsakt auf eine demokratisch unverbundene Mehrheit von Völkern zurückführt, als wenn sie – wie bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legi­timationsbasis EG-Normsetzungsakte – an eine in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität kooperierende Völkermehrheit rückgekoppelt ist125. Zum anderen gilt es zu beachten, dass selbst dann, wenn man das grundgesetzliche Normalmaß ausgehend von den dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallenden Verwaltungsabkommen entwickelt, die in Rede stehenden EG-Normsetzungsakte in puncto Wirkkraft dahinter zurückbleiben. Zwar kommt der für die EG-Normsetzungsakte prägenden materiell-kontrollativen Legitimation insoweit eine relativ größere Wirkkraft zu, als die EG-Normsetzungsakte 124 Art.  201 UAbs.  2  EGV: Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen und Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments  – „doppelt qualifizierte Mehrheit“ (Streinz [Fn. 36], Rn. 334). 125 Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455.

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‚nur‘ durch die Rückkoppelung an eine in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkende Völkermehrheit rückgebunden sind; demgegenüber wird die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation bei normativen Verwaltungsabkommen, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen, sowohl dadurch gemindert, dass diese an eine Mehrheit demokratisch unverbundener Völker rückgekoppelt, als auch dadurch, dass sie zudem an eine in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkende Völkermehrheit rückgebunden sind. Im Ergebnis jedoch weist die materiellkontrollative Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten zuwächst, dennoch eine geringere Wirkkraft auf als diejenige, die sich den vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung erfassten Verwaltungsabkommen mitteilt. Denn das beschriebene relative Mehr an Wirkkraft vermag bei wertender Gesamtschau nicht das Weniger an Wirkkraft aufzuwiegen, das die den EG-Normsetzungsakten zuwachsende materiell-kontrollative Legitimation deshalb kennzeichnet, weil die Kommission einer ungleich schwächeren Kontrolle durch vorgesetzte Instanzen unterliegt als die normativen Verwaltungsabkommen zustimmende Bundesexekutive. Vor diesem Hintergrund bleibt es dabei, dass EG-Normsetzungsakte das für normative Verwaltungsabkommen vorgesehene Niveau materiell-kontrollativer Legitimation durchweg unterschreiten, wenn sie in Normsetzungsverfahren erlassen werden, in denen das Europäische Parlament keinerlei Mitentscheidungsmacht besitzt, dafür aber der Kommission eine mehr oder minder große (Ko-)Dezisionsmacht zusteht.

(3) Das Niveau materiell-direktiver demokratischer Legitimation Art. 59 GG sieht des Weiteren vor, dass der Abschluss eines normativen Verwaltungsabkommens von einer parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsnorm gedeckt sein muss126. Für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, gibt das Grundgesetz insofern folgendes Normalmaß materiell-direktiver Legitimation vor: An sich müssen sie eine zweifach vermittelte materiell-direktive Legitimation aufweisen. Soweit der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung reicht, genügt es hingegen, wenn der betreffende Normsetzungsakt zu etwas mehr als der Hälfte durch eine zweifach, im Übrigen durch eine dreifach vermittelte materielldirektive Legitimation rückgebunden ist127. Hinter dieser Vorgabe bleiben EG-Normsetzungsakte insofern zurück, als das Primärrecht nur zum ungleich geringeren Teil  vom Parlament beherrscht wird. Denn die den EG-Normsetzungsakten insoweit zuwachsende materiell-direktive Legitimation ist nur zum deutlich kleineren Teil zweifach, überwiegend aber 126

Hierzu etwa Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 59 Rn. 14. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) dd) (1) = S. 818.

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höherstufig vermittelt128. Allerdings dürfen aus diesem Befund keine allzu weit reichenden Schlüsse gezogen werden. So ist für EG-Normsetzungsakte, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden, gleichwohl davon auszugehen, dass sie in dezisionärer Hinsicht einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit realisieren, als Art. 59 GG dies für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommene Normsetzungsakte vorsieht129. Dies gilt auch dann, wenn man auf das in diesem Zu­ sammenhang relativ höhere legitimatorische Normalmaß abhebt, nämlich auf dasjenige, das das Grundgesetz für vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommene Normsetzungsakte vorgibt. Zu berücksichtigen ist insofern erstens, dass die Reichweite der an das Primärrecht anschließenden materiell-direktiven Legitimation selbst bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten vergleichsweise gering ist. Sie ist jedenfalls geringer als im Rahmen von Art. 59 GG. Denn hier muss die materielle Direktive wegen des relativen Parlamentsvorbehalts130 nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sein, was bei den primärrechtlichen Bestimmungen aufgrund ihres Zielcharakters typischerweise nicht der Fall ist131. Folglich darf man, wenn man den für die fraglichen EG-Normsetzungsakte charakteristischen Grad demokratischer Abgeleitetheit mit dem grundgesetzlichen Normalmaß abgleichen will, nicht nur die insoweit verfangenden materiell-direktiven Legitimationsbeiträge einander gegenüberstellen. Vielmehr muss das durch Art. 59 GG vorgegebene Niveau materiell-direktiver Legitimation auch mit dem Niveau personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation verglichen werden, das für im Mitentscheidungsverfahren erlassene EG-Normsetzungsakte charakteristisch ist. In dieser Perspektive freilich übertrifft das für normative Verwaltungsabkommen charakteristische Legitimationsniveau das für EG-Normsetzungsakte kenn­ zeichnende in allenfalls relativ geringem Umfang. Denn die personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation, die einem im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakt zuwächst, ergeht annähernd hälftig auf der ersten, zur anderen Hälfte auf der dritten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Insofern besteht bei bilanzierender Betrachtung hinsichtlich der Stufe demokratischer Vermitteltheit kein Unterschied zu der materiell-direktiven Legitimation, die einem normativen Verwaltungsabkommen jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zu 128

Siehe oben Kapitel 13 II. 1. b) = S. 1026. Ein anderes Ergebnis wäre auch nicht wirklich einsichtig. Denn wenn die im Mit­ entscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte den Grad demokratischer Abgeleitetheit jedenfalls nicht überschreiten, den Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Normsetzungsakte völkerrechtsvertraglicher Provenienz vorgibt, so drängt sich der Schluss auf, dass sie einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit realisieren, als Art. 59 GG dies für außerhalb des Vorbehaltsbereichs ergehende Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts vorgibt. 130 Oben Kapitel 10 III. 1. g) = S. 773. 131 Vgl. dazu auch BVerfGE 89, 155 (209). 129

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stimmung zuwächst; diese entfaltet lediglich eine höhere Wirkkraft. Ein Unterschied auch in Ansehung der Stufe demokratischer Vermitteltheit besteht nur insoweit, als die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte typischerweise zugleich von der Kommission dezisionär legitimiert werden. Da die Kodezisionsmacht der Kommissionsmacht aber gering ist132, braucht die These nicht revidiert zu werden, dass das Niveau demokratischer Legitimation, das ein normatives Verwaltungsabkommen aufgrund seiner materiell-direktiven Legitimation ausprägt, dasjenige allenfalls in relativ geringem Maße übersteigt, das einem im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakt qua personeller und materiell-kontrollativer Legitimation zuwächst. Hinzu tritt, dass das für normative Verwaltungsabkommen kennzeichnende Niveau materiell-direktiver Legitimation ohnehin nur dann höher liegt als das der im Mitentscheidungsverfahren generierten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, wenn die betreffenden Verwaltungsabkommen nicht dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Andernfalls nämlich wächst ihnen eine materiell-direktive Legitimation zu, die, insgesamt gesehen, auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit anzusiedeln ist als die im Mitentscheidungsverfahren erzeugte personelle und materiell-kontrollative Legitimation: Legt man das grundgesetzliche Normalmaß materiell-direktiver Legitimation zu Grunde, das im Bereich des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts gilt, so wird dieses von den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungs­ akten insoweit unterschritten, als sie primärrechtlich rückgebunden sind, und insoweit überschritten, als sich die Rückbindung qua personeller und materiell-kon­ trollativer Legitimation vollzieht. Vor diesem Hintergrund wird man den – einmal mehr bilanzierenden  – Schluss ziehen können, dass die im Mitentscheidungs­ verfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte das Niveau materiell-direktiver Legitimation (zumindest) erreichen, das ein vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfasstes normatives Verwaltungsabkommen aufweist. Dass die für normative Verwaltungsabkommen prägende materiell-direktive Legitimation auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt ist als die materiell-direktive Legitimation, die EG-Normsetzungsakten aufgrund des sie determinierenden Primärrechts zuwächst, führt nach allem nur jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung und auch dort nur in beschränktem Umfang dazu, dass im Mitentscheidungsverfahren erlassene EG-Normsetzungsakte das grundgesetzlich für normal angesehene Niveau materiell-direktiver Legitimation verfehlen. Nun ist freilich zweitens zu erinnern, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte eine personelle und materiell-kontrollative Legitimation charakterisiert, die  – zu annähernd fünfzig Prozent  – auf einer niedrigeren Stufe demokratischer Vermitteltheit erfolgt, als Art. 59 GG dies für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung aus 132 Zu den rechtlichen und tatsächlichen Grenzen der aus ihrem Initiativmonopol erwachsenden Kodezisionsmacht der Kommission siehe etwa Bieber (Fn. 48), § 7 Rn. 8 f.

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genommene Normsetzungsakte vorsieht133. Dies hat zur Konsequenz, dass normative Verwaltungsabkommen, soweit sie nicht materiell-direktiv legitimiert sind, fast zur Hälfte auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit legitimiert werden als EG-Normsetzungsakte. Bedenkt man ferner, dass die Reichweite der materiell-direktiven Legitimation die der personellen und materiell-kontrollativen bei normativen Verwaltungsabkommen normalerweise nicht übersteigen wird, lässt sich bilanzierend Folgendes konstatieren: Im Mitentscheidungsverfahren erlassene Normsetzungsakte weisen in dezisionärer Hinsicht selbst dann einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit vor als grundgesetzlich vorgezeichnet, wenn sich das grundgesetzliche Normalmaß nach den vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommenen normativen Verwaltungsabkommen bestimmt. Zwar unterschreiten die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte den grundgesetzlich als normal angesehenen Grad demokratischer Abgeleitetheit nicht schon insoweit, als er sich nach der für die fraglichen Verwaltungsabkommen charakteristischen materiell-direktiven Legitimation bestimmt; jedoch ist das insofern zu konstatierende Legitimationsdefizit geringer als das relative Mehr an Legitimation, das insoweit zu registrieren ist, als sich das grund­ gesetzliche Normalmaß nach der personellen und materiell-kontrollativen Legitimation der betreffenden Verwaltungsabkommen bestimmt. Anderes gilt für EG-Normsetzungsakte, die nicht im Mitentscheidungsverfahren ergehen. Für die im Verfahren der Zusammenarbeit erlassenen Normsetzungsakte wird man immerhin festhalten können, dass sie im Regelfall dezisionär durch einen den Vorgaben des Art. 59 GG genügenden Grad demokratischer Abgeleitetheit geprägt werden. Denn hier wird das legitimatorische Defizit, das in dem gegenüber dem grundgesetzlichen Normalmaß abgesenkten Niveau materiell-direktiver Legitimation begründet liegt, durch eine entsprechend leistungsstärkere personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation zwar nicht wie im Mitentscheidungsverfahren durchweg überkompensiert, aber doch zumindest wettgemacht. In den Normsetzungsverfahren hingegen, an denen das Europäische Parlament nicht kodezisiv beteiligt ist, scheidet ein solcher Ausgleich aus. Hier ist die personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation nicht anders als bei normativen Verwaltungsabkommen bestenfalls auf der dritten Stufe demokratischer Legitimation angesiedelt, sodass das hinsichtlich der materiell-direktiven Legitimation zu verzeichnende legitimatorische Minus nicht ausgeglichen werden kann. Dies gilt auch für das auf Basis einer sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm erlassene Durchführungsrecht. Zwar wird dieser Typus von Normsetzungsakten außer über das Primärrecht auch noch durch das Sekundärrecht materiell-direktiv rückgebunden134. Auch entspricht die für Durchführungsrecht charakteristi 133

Siehe oben Kapitel 13 II. = S. 1020 und Kapitel 10 III. 2. c) cc) = S. 809. Von daher rührt denn auch der bisweilen für das Durchführungsrecht verwandte Begriff des Tertiärrechts (vgl. etwa Streinz [Fn. 36], Rn. 424 oder Huber [Fn. 14], § 8 Rn. 117). 134

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sche Reichweite materiell-direktiver Legitimation grundsätzlich der für normative Verwaltungsabkommen kennzeichnenden135. Jedoch wächst den in Rede stehenden EG-Normsetzungsakten selbst dann ein geringeres Maß an materiell-direktiver Legitimation zu als normativen Verwaltungsabkommen, wenn die materiellen Direktiven im Mitentscheidungsverfahren ergangen sind. Denn wegen der Kodezisionsbefugnis der Kommission ergehen die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte auf einer zumindest leicht höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als die in Art. 59 GG vorausgesetzte parlamentsgesetzliche Ermächtigungsnorm; noch deutlicher fällt der legitimatorische Unterschied dann aus, wenn man die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte mit Bundesgesetzen vergleicht, die außerhalb des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts ergehen. Dieses relative Weniger an materiell-direktiver Legitimation wird auch nicht durch ein Mehr an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation kompensiert. Denn die von der Kommission vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation übertrifft die für normative Verwaltungsabkommen prägende nicht, sondern unterschreitet sie zumindest hinsichtlich der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation.

cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite Die vorstehenden Überlegungen haben ergeben, dass vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte das durch Art.  59  GG in dezisionärer Hinsicht vorgegebene Normalmaß personeller und materieller Legitimation nur, aber immerhin dann wahren, wenn sie im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden136. Für die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierten wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte gilt demgegenüber Folgendes137: Soweit sie im Mitentscheidungsverfahren ergehen, übertreffen sie das durch Art. 59 GG in dezisionärer Hinsicht vorgezeichnete Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation. Werden sie im Verfahren der Zusammenarbeit erlassen, überschreiten sie das durch Art.  59  GG insoweit vorgegebene Legitimationsniveau zwar nicht, wahren es aber zumindest. Die in den übrigen Rechtsetzungsverfahren erlassenen wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte bleiben demgegenüber hinter dem Normalmaß zurück, das Art. 59 GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts in dezisionärer Hinsicht vorsieht. Folglich kann davon ausgegangen werden, dass wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, sofern sie im Mitentscheidungsverfahren erlassen 135

Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938. Oben Kapitel 13 II. 2. a) aa) = S. 1041. 137 Oben Kapitel 13 II. 2. a) bb) = S. 1044.

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werden, unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt den Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes von vornherein entsprechen. Denn für wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte erschließt sich das grundgesetzliche Normalmaß aus Art.  59  GG, so dass, wenn die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte dieses Legitimationsniveau einhalten oder gar übertreffen, es aus grundgesetzlicher Sicht an einer rechtfertigungsbedürftigen Legitimationslücke fehlt. Entsprechendes gilt für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die vom absoluten Vor­ behalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind und im Verfahren der Zusammenarbeit erlassen werden. Vor diesem Hintergrund ergibt sich denn auch schon ein erster wichtiger Unterschied zu den Legitimationsverhältnissen, wie sie sich bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer demokratischer Legitimation darstellen. Insofern war nämlich festgestellt worden, dass speziell diejenigen wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte, die auf der Grundlage von Art. 95 EGV ergehen, in dezisionärer Hinsicht ein aus grundgesetzlicher Sicht nicht mehr zu rechtfertigendes Legitimationsdefizit aufweisen138. Aus Sicht des Modells der doppelten Legitimationsbasis indes prägen die auf Art. 95 EGV gegründeten EG-Normsetzungsakte schon gar kein Legitimationsdefizit aus, weil sie im Verfahren der Mitentscheidung ergehen und insofern das für wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht grundsätzlich geltende Normalmaß personeller beziehungsweise materieller Legitimation jedenfalls nicht unterschritten wird. Des Weiteren offenbart sich, dass das Grundgesetz in der hier näher verfolgten Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis nur dann eine Rechtfertigungslast in Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte auslöst, wenn diese dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, aber nicht im Mitentscheidungsverfahren erlassen wurden oder wenn sie zwar vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, jedoch in einem anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung beziehungsweise dem der Zusammenarbeit ergangen sind. Dabei ist Ersteres die Ausnahme, Letzteres indes die Regel. Ob sich die damit einher gehende Rechtfertigungslast in grundgesetz­ adäquater Weise abtragen lässt, soll im Folgenden schrittweise erörtert werden.

(1) Der unterschiedliche Rechtfertigungsbedarf Im Ausgangspunkt festzuhalten ist, dass die diversen Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß einen unterschiedlichen Rechtfertigungsbedarf auslösen. Wird etwa ein wesensmäßig marktkonstituierender EG-Normsetzungsakt, der nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt, auf Vor 138

Siehe oben Kapitel 11 II. 2. c) cc) = S. 953.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

schlag der Kommission nach Anhörung des Europäischen Parlaments durch den Rat erlassen139, erweist sich die Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß als im Vergleich eher gering. Denn in Hinblick auf die Stufe demokratischer Vermitteltheit wird das durch Art.  59  GG vorgezeichnete Normalmaß personeller und materieller demokratischer Legitimation von dem EG-Normsetzungsakt nicht durchweg, sondern lediglich in beschränktem Umfang verfehlt. Dies ist nämlich nur insoweit der Fall, als das grundgesetzliche Normalmaß durch die materielldirektive Legitimation determiniert wird, die den vom Vorbehalt ausgenommenen Normsetzungsakten des Völkervertragsrechts gemäß Art.  59  GG zuwächst. Soweit sich das grundgesetzliche Normalniveau indes nach der für normative Ver­ waltungsabkommen charakteristischen personellen und materiell-kontrollativen Legitimation bemisst, betrifft das Legitimationsdefizit ausschließlich die Wirkkraft: Die Kodezisionsmacht der Kommission führt zu einer in Hinblick auf das grundgesetzliche Normalmaß abgeschwächten Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation. In ungleich erheblicherem Umfang wird das grundgesetzlich vorgezeichnete Legitimationsniveau hingegen etwa dann unterschritten, wenn die Kommission in besonderen Ausnahmefällen einen Normsetzungsakt erlässt, der dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt140. Denn in diesem Fall ergeht der EG-Normsetzungsakt zu einem zumindest beträchtlichen Teil auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit, als es dem grundgesetzlichen Normalmaß entspricht. Dass die von der Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation eine in Hinblick auf das grundgesetzliche Normalmaß abgeschwächte Wirkkraft vermittelt, kommt insofern lediglich erschwerend hinzu.

(2) Die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse als zentrale Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite Nun veranschaulichen diese Beispielsfälle nicht nur, dass der Rechtfertigungsbedarf variiert, wenn wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte das durch Art. 59 GG vorgezeichnete Normalmaß unterschreiten. Gleichsam beiläufig lassen sie zugleich erkennen, welche institutionell-prozeduralen Eigentümlichkeiten der EG-Normsetzung kausal dafür sind, dass es überhaupt zu Legitimationsdefiziten kommt. Diese nämlich rühren zum einen und vor allem von 139 Beispielsweise eine kartellrechtliche Durchführungsverordnung, die ausschließlich auf Art. 83 Abs. 1 EGV gestützt ist – vgl. dazu auch Jung, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 83 Rn. 42 ff. 140 Dazu kommt es etwa dann, wenn die Kommission Durchführungsrecht auf der Grundlage einer sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm erlässt, die ausnahmsweise hinter den Anforderungen von Wesentlichkeitslehre beziehungsweise Art. 80 GG zurückbleibt – dazu oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938.

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daher, dass die parlamentarischen Dezisionsbefugnisse im Rahmen des EG-Norm­ setzungsprozesses teilweise zu knapp bemessen sind141. So bleiben wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, namentlich deshalb hinter dem grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß demokratischer Legitimation zurück, weil die primärrechtlich eingeräumte und insofern materiell-direktiv eingeschränkte Dezisionsmacht nicht annähernd hälftig auch bei einem Parlament verortet ist. Wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die vom Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung exemiert sind, unterschreiten das grundgesetzliche Normalmaß vor allem insofern, als dieses sich nach der materiell-direktiven Legitimation bemisst, das normativen Verwaltungsabkommen aufgrund der für ihren Abschluss vorauszusetzenden parlamentsgesetzlichen Ermächtigung zuwächst. Mit Rücksicht auf die historisch gewordene Institutionenordnung erweist sich folglich die teilweise zu schwache Stellung des Europäischen Parlaments innerhalb des EG-Normsetzungsprozesses als wesentliche Ursache für die diagnos­ tizierten Legitimationsdefizite142. Dies erhellt nicht zuletzt auch schon daraus, dass alle diagnostizierten Legitimationsdefizite theoretisch dadurch behebbar wären, dass man die hiervon betroffenen Typen von Normsetzungsverfahren künftighin in einem derjenigen gemeinschaftsrechtlichen Normsetzungsverfahren erlässt, die eine hinreichend starke Beteiligung des Europäischen Parlaments vorsehen. Schließlich verschwänden die Legitimationsdefizite dann, wenn die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, allesamt im Mitentscheidungsverfahren ergingen, und die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht unterfallen, entweder im Verfahren der Mitentscheidung oder in dem der Zusammenarbeit erlassen würden. Dabei handelt es sich freilich um eine wohlgemerkt theoretische Überlegung. Sie sucht lediglich deutlich zu machen, dass es tatsächlich die partiell zu schwache Stellung des Europäischen Parlaments ist, die eine wesentliche Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite darstellt. Mithin ist sie nicht in dem Sinne praktisch gemeint, dass man die durch die relative Schwäche des Europäischen Parlaments induzierten Legitimationsdefizite dadurch beheben sollte, dass man diesem in Hinblick auf alle Normsetzungsverfahren eine mehr oder minder große Mitentscheidungskompetenz einräumt. Denn in Bezug auf Normsetzungsakte, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, sind (Ko-)Dezisionsbefugnisse des Parlaments grundsätzlich nicht angezeigt. Sie würden angesichts der Vielzahl der von der EG zu erlassenden Normsetzungsakte über kurz oder lang zu einer völligen Überlastung des Europäischen Parlaments führen. 141 So auch  – aus politikwissenschaftlicher Perspektive  – Melchior, Perspektiven und Probleme der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Antalovsky / ders. / Puntscher Riekmann u. a. (Hrsg.), Integration durch Demokratie, 1997, S. 11 (23 f.). 142 In diese Richtung auch Stein / Frank, Staatsrecht, 20. Aufl. 2007, § 8 VII.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Will man daher bei dieser Art von Normsetzungsakten die durch die teilweise zu schwache Stellung des Parlaments ausgelösten Legitimationsdefizite mildern beziehungsweise ausgleichen, so erscheint es in Hinblick auf die historisch gewordene Institutionenordnung der EG als allein sinnvoll, die Befugnisse des Parlaments bezüglich der insoweit maßgeblichen materiellen Direktiven zu stärken. In dieser praktischen Perspektive lässt sich nun auch die institutionell-proze­ durale Eigentümlichkeit der EG-Normsetzung genauer fassen, die bewirkt, dass es namentlich wegen der teilweise zu schwachen Stellung des Europäischen Parlaments zu Abweichungen vom grundgesetzlich vorgegebenen Normalniveau dezisionärer demokratischer Legitimation kommt: Entscheidend ist insofern, dass sich die Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments speziell im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung als unzureichend erweisen. Für die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die selbst dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, liegt dies offen zu Tage und braucht nicht näher erörtert zu werden. Aber auch für die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die nicht schon selbst dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, offenbart sich, dass es die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung zu schwache Stellung des Europäischen Parlaments ist, die maßgeblich zu den insoweit konstatierten Legitimationsdefiziten führt. So ist in der in praktischer Hinsicht aufgezeigten Perspektive deutlich geworden, dass bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, die durch die Schwäche des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite sinnvoll nur dadurch ausgleichbar sind, dass die Stellung des Parlaments nicht unmittelbar in Bezug auf jeden einzelnen dieser Normsetzungsakte, sondern in Hinblick auf die sie steuernden materiellen Direktiven gestärkt wird. Aus Sicht des grund­ gesetzlich in dezisionärer Hinsicht vorgezeichneten Normalniveaus ergibt sich nun wiederum, dass das durch mangelnde Parlamentsbeteiligung ausgelöste Legitimationsdefizit dadurch behebbar wäre, dass die in Rede stehenden Normsetzungsakte insoweit an eine hinreichend bestimmte parlamentsgesetzliche Ermächtigung rückgebunden werden, wie dies den Vorgaben des relativen Parlamentsvorbehalts entspricht143. Damit bestätigt sich auch für die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die nicht vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden, dass die Legitimationsdefizite, die sie infolge der zu schwachen Stellung des Europäischen Parlaments kennzeichnen, auf der institutionell-prozeduralen Eigentümlichkeit beruhen, dass die Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichend sind.

143

Diese wiederum bilden – dazu oben Kapitel 10 III. 1. f) cc) = S. 771 – eine Teilmenge der für den absoluten Parlamentsvorbehalt charakteristischen Anforderungen.

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(3) Die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission als weitere Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite Nun beruhen die konstatierten Abweichungen vom grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß nicht allein auf der soeben näher spezifizierten relativen Schwäche des Europäischen Parlaments. Sie basieren auch auf der (Ko-)Dezisions­befugnis der Kommission144. Ergehen wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens, so vertieft die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission das wegen der schwachen Stellung des Europäischen Parlaments ohnehin schon vorhandene Legitimationsdefizit. Denn zum einen vermittelt die Kommission personelle und materiell-kontrollative Legitimation auf einer vergleichsweise hohen Stufe demokratischer Vermitteltheit145. Zum anderen weist die von der Kommission vermittelte materiell-kontrollative Legitimation eine relativ geringe Wirkkraft auf und führt die etwaige Kodezionsbefugnis der Kommission überdies dazu, dass sich auch die Wirkkraft der gegebenenfalls vom Rat beziehungsweise vom Europäischen Parlament vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation abschwächt. Unterschreiten wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, das grundgesetzliche Normalmaß, so führt die (Ko-)Dezisionsbefugnis auch hier zu einem weiteren Anwachsen des Defizits. Dabei gilt es zu differenzieren: Sofern das insofern grundgesetzlich maßgebliche Normalniveau durch die materielldirektive Legitimation determiniert wird, die innerstaatlich rezipierten Verwaltungsabkommen gemäß Art.  59  GG zuwächst, vertieft sich das Legitimations­ defizit aufgrund der (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission in erster Linie deshalb, weil die von der Kommission herrührenden personellen und materiellkontrollativen Legitimationsbeiträge auf einer vergleichsweise hohen Vermittlungsstufe ergehen; erst in zweiter Linie verschärft sich das Legitimationsdefizit dadurch, dass die (Ko-)Dezisionsbefugnis eine Absenkung des Niveaus materiellkontrollativer Legitimation induziert. Soweit sich das grundgesetzlich maßgebliche Normalmaß hingegen nach dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation bemisst, das für innerstaatlich rezipierte Verwaltungsabkommen charakteristisch ist, kommt es ausschließlich deshalb zu einer Vertiefung des Legitimationsdefizits, weil die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation abträglich ist. Demgemäß lassen sich die folgenden institutionell-prozeduralen Eigentümlichkeiten der EG-Normsetzung als weitere Ursache für die diagnostizierten Legi 144 Zur Teilhabe auch der Kommission am europäischen Gesetzgebungsprozess als Ursache des Demokratiedefizits des europäischen Hoheitsverbands vgl. – aus politikwissenschaftlicher Sicht  – Puntscher-Riekmann, Demokratie im supranationalen Raum, in: Antalovsky /  Melchior / dies. (Hrsg.), Integration durch Demokratie,1997, S. 69 (86 f.). 145 Oben Kapitel 13 II. 1. c) = S. 1028.

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timationsdefizite ausmachen: Zu nennen ist erstens und vor allem der Umstand, dass die Kommission auch im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung vielfach (ko-)dezisiv am EG-Normsetzungsprozess partizipiert. Denn dies führt nicht nur dazu, dass die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten EG-Normsetzungsakte mitunter auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen, als Art.  59  GG dies für normal ansieht. Auch die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen EG-Normsetzungsakte können infolgedessen die grundgesetzlich normale Vermittlungsstufe immerhin insofern verfehlen, als Art. 59 GG eine zweifach vermittelte materiell-direktive Legitimation vorsieht. Dass die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission mitunter legitimationsmindernd auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung übergreift, ist dabei in erster Linie auf das Initiativmonopol der Kommission146 zurückzuführen147. Freilich steht der Kommission insofern nur eine bescheidene Kode­zisionsbefugnis zu. Teilweise fungiert die Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung aber auch als alleiniger oder doch vorrangiger institutioneller Träger der Dezisionsmacht. Dazu kann es in den beiden folgenden (Ausnahme-)Konstellationen kommen: Entweder vermag die Kommission in Wahrnehmung originär primärrechtsverliehener Rechtsetzungsbefugnisse148 vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Regelungen zu treffen, weil die primärrechtliche Ermächtigungsnorm den Erlass wesentlicher Regelungen in wesentlichen legislativen Sachbereichen ermöglicht beziehungsweise nicht hinreichend bestimmt ist. Oder aber die Kommission trifft derartige Regelungen in Ausübung sekundärrechtlich eingeräumter Normsetzungsbefugnisse, weil die sekundärrechtliche Ermächtigungsnorm den Erlass wesentlicher Regelungen in wesentlichen Bereichen ermöglicht beziehungsweise nicht hinreichend bestimmt hat149. In der zuletzt genannten Konstellation ist die Kommission dann nicht alleiniger, sondern nur vorrangiger Träger der Dezisionsmacht, wenn ein Ausschuss von Staaten­ vertretern das Durchführungsrecht billigen muss, damit es in Kraft treten kann. Dies ist im Regelungsverfahren der Fall150. Der Kommission steht in diesem Verfahren die Dezisionsmacht deshalb vorrangig und nicht etwa nur hälftig zu, weil die Initiativbefugnis allein bei ihr liegt151.

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Dazu etwa Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 52 f. Zu diesem Huber (Fn. 14), § 13 Rn. 12 ff. 148 Huber (Fn. 14), § 13 Rn. 16. 149 Oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938. 150 Vgl. Art. 5 Abs. 3 und 5a Abs. 3 des Beschlusses des Rates vom 28. Juni 1999 zur Fest­ legung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungs­ befugnisse (1999/468/EG) (ABl. L 184, S.  23), geändert durch Beschluss des Rates vom 17. Juli 2006 (ABl. L 200, S. 11) (= Komitologiebschluss); ferner Streinz (Fn. 36), Rn. 530. 151 Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 5a Abs. 3 Satz 1 Komitologiebeschluss (Fn. 150). 147

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Zweitens ist zu berücksichtigen, dass sich das Initiativmonopol der Kommission noch in anderer Hinsicht legitimationsmindernd auswirkt. Es hat nämlich zur Konsequenz, dass bei der EG-Normsetzung vielfach Organmehrheiten als institutionelle Träger demokratischer Dezisionsmacht fungieren. Dies führt gleichfalls zu Einbußen an materiell-kontrollativer Legitimation152. Drittens ist ihre (Ko-)Dezisionsbefugnis schließlich auch insoweit kausal für die diagnostizierten Legitimationsdefizite, als der Kommission eine Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zukommt153. Da sie infolgedessen weder vom Rat noch vom Europäischen Parlament effektiv und nachhaltig kontrolliert wird, kommt der von ihr vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation nur eine geringe Wirkkraft zu. Demzufolge entfielen die Legitimationseinbußen, die sich mit der (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission gegenwärtig verbinden, wenn der Kommission eine normsetzerische Befugnis nur mehr jenseits des absoluten Vorbehalts par­ lamentarischer Normierung zuerkannt, insbesondere auch das Initiativmonopol der Kommission abgeschafft154 und die Kommission zugleich entweder zur europaparlamentarischen Regierung gouvernementalisiert oder aber zum ministerrät­ lichen Verwaltungsunterbau administralisiert würde.

(4) Die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments als Ursache von Legitimationsdefiziten Die vorstehend angestellten Erwägungen legen es nahe, im Folgenden zunächst zu überlegen, inwieweit diejenigen der konstatierten Legitimationsdefizite grundgesetzlich rechtfertigbar sind, die durch die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Euro­ päischen Parlaments bedingt sind. Denn diese erweisen sich als grundsätzlich gravierender. Erst danach wird zu untersuchen sein, ob sich auch jene Legitimations 152

Siehe oben Kapitel 13 II. 1. c) = S. 1028. „In ihrer Tätigkeit mischen sich Elemente des Regierens und Verwaltens“, konstatiert auch Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.),  EUV / EGV, 2003, Art.  211  EGV Rn.  2 im Hinblick auf die Kommission (so auch Ruffert, in: Calliess / ders. [Hrsg.],  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art.  211  EGV Rn.  1; vgl. ferner Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S.  271 ff.). Gretschmann, Traum oder Alptraum?, in: APUZ 2001, B 5, S. 25 (26 f.) bescheinigt der Kommission eine „Zwitterfunktion zwischen Ministerialverwaltung und politischem Leader und Initiator“. Wessels, Das politische System der Europäischen Union, in: Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl. 2003, S. 779 (794) zufolge ist die Kommission „weder als übliches Generalsekretariat einer internationalen Organisation noch als Exekutive nach dem Muster nationaler Regierungen zu beschreiben“. 154 Zur Reformdiskussion um das Initiativmonopol der Kommission v. Buttlar, Das Initiativrecht der Europäischen Kommission, 2003, S. 274 ff. 153

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defizite aus grundgesetzlicher Sicht rechtfertigen lassen, die daraus erwachsen, dass der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung (Ko-)Dezisionsbefugnisse zukommen, sie über ein weitreichendes Initiativmonopol verfügt und sich im Übrigen als Zwitter zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung darstellt. Wendet man sich in diesem Sinn zunächst den grundsätzlich gravierenderen Legitimationsdefiziten zu, so lassen sich insofern in einem ersten Schritt diejenigen Rechtfertigungsmuster fruchtbar machen, die bereits im Rahmen des Modells mittelbarer Demokratie an dieser Stelle angeführt worden sind. So können die Legitimationsdefizite, die den im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments geschuldet sind, zum einen immerhin teilweise mit dem nur scheinbar paradoxalen Hinweis auf das Staatsziel der Volkssouveränität gerechtfertigt werden155. Denn da sich wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte vielfach auf Sachverhalte beziehen, die anerkanntermaßen nur transnational sinnvoll regelbar sind und das auf EU-Ebene etablierte Normsetzungsregime gegenwärtig politisch alternativlos ist, würde durch einen Verzicht auf die – in Ansehung des grundgesetzlich normalen Legitimationsniveaus zweifelsohne unbefriedigende – EG-Normsetzung nicht ein Mehr, sondern ein Weniger an Demokratie realisiert156. Zum anderen lassen sich die Einbußen an personeller und materieller Legitimation, die durch die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingt sind, vielfach noch in Hinblick auf jene Besonderheiten rechtfertigen, die einen im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverband kennzeichnen157. Davon ist nicht zuletzt deshalb auszugehen, weil die primärrechtlichen Vorschriften, die zum Erlass der wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte ermächtigen, überwiegend in der Konstruktionsphase der EG geschaffen worden sind und der rechtfertigende Gesichtspunkt der strukturellen Eigenheit eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands insofern besonders schwer wiegt158. Demnach erweisen sich die durch die bereichsweise unzureichenden Dezisions­ befugnisse des Europäischen Parlaments verursachten Legitimationsdefizite gegenwärtig als überwiegend bis in zweifacher Hinsicht gerechtfertigt. Darüber darf freilich keinesfalls aus dem Blick geraten, dass diese Rechtfertigung eine auf­ lösend bedingte ist, in Zukunft also an Tragfähigkeit einbüßen kann und wird. In Hinblick auf die aus dem Staatziel der Volkssouveränität abgeleitete Rechtfertigung ist zu berücksichtigen, dass die ihr zugrundeliegende Argumentation allmählich an Überzeugungskraft einbüßt. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass wesens 155

Zu diesem Rechtfertigungsansatz allgemein oben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. So auch schon oben Kapitel 11 I. 4. a) aa) = S. 906. 157 Zu diesem Rechtfertigungsansatz allgemein oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. 158 Dazu bereits oben Kapitel 11 I. 4. a) bb) = S. 908.

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mäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte Sachverhalte betreffen, die sich grundsätzlich nur transnational regeln lassen. Allerdings können demokratisch defizitäre EG-Normsetzungsakte deshalb immer weniger als politisch alternativlos angesehen werden159, weil die Demokratisierung der EU einen zentralen Platz auf der integrationspolitischen Agenda eingenommen hat160. Hinzu kommt, dass innerhalb der EG bereits jetzt Normsetzungsverfahren praktiziert werden, die – jedenfalls aus Sicht des hier in Rede stehenden Modells der doppelten Legitimationsbasis – sämtliche Legitimationsdefizite beheben könnten, durch die wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte teilweise noch geprägt werden. Dies gilt in besonderem Maße für das auf breiter Front eingeführte161 Mitentscheidungsverfahren. Vor diesem Hintergrund wird es immer schwerer (werden), über­ zeugend darzutun, dass die Erweiterung des volksherrschaftlichen Zugriffs auf transnationale Tatbestände nur um den Preis einer demokratisch partiell insuffizienten Normsetzung möglich ist. Diesem Rechtfertigungsansatz dürfte daher nur mehr mittelfristig durchschlagende Wirkung zukommen. Auch der Rechtfertigungsgrund, der auf die strukturellen Besonderheiten historisch gewachsener überstaatlicher Hoheitsverbände abstellt, büßt sukzessive an Durchschlagskraft ein. Denn je länger jene mit dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte eingeleitete Integrationsphase andauert, die durch die Konsolidierung der europäischen Integrationsgemeinschaft als staatsähnlichem Gebilde geprägt ist, desto weniger überzeugt der Hinweis auf die Eigentümlichkeiten zwischenstaatlicher Einrichtungen. Selbst in Hinblick auf solche EG-Normsetzungsakte, die wie die meisten wesensmäßig marktkonstituierenden auf Ermächtigungsnormen aus der Zeit vor Beginn der Konsolidierungsphase beruhen, wird sich der in Rede stehende Rechtfertigungsansatz mittelfristig nicht mehr verfassungsrechtlich mobilisieren lassen. Dies bedeutet freilich nicht zwangsläufig, dass die Legitimationsdefizite, die dadurch bedingt sind, dass das Europäische Parlament im Bereich des Vorbehalts parlamentarischer Normierung über unzureichende Dezisionsbefugnisse verfügt, auf mittlere Sicht ihre  – vorläufige  – Grundgesetzkompatibilität einbüßen werden. Denn in der Perspektive des hier in Rede stehenden Modells doppelter Legiti­ mationsbasis tritt nun noch ein weiterer Rechtfertigungsgrund auf den Plan. Da nämlich die EG-Normsetzung als Ausfluss staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zu werten ist, kommt der Bundesstaatsnorm des Art. 20 Abs. 1 GG Rechtfertigungspotenzial zu162. Demgemäß lassen sich Legitimationsdefizite, die durch die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzu­ 159

Zu diesem Erfordernis oben Kapitel 10 III. 5. a) aa) = S. 847. So steht denn auch der Demokratisierungsaspekt im Vordergrund des Reformvertrags – vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat, Europa für das 21.  Jahrhundert reformieren, KOM(2007) 412 endgültig, S. 5, wo der Reformvertrag zuvörderst damit begründet wird, dass es die demokratische Infrastruktur Europas zu erneuern und zu verstärken gelte. 161 Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 35: wichtigstes Rechtsetzungsverfahren. 162 In diesen Zusammenhängen oben Kapitel 10 III. 5. c) = S. 854. 160

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reichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingt sind, insbesondere auch dann und insoweit rechtfertigen, als sie auf ein institutionellorganisatorisches Arrangement zurückführen, das  – fakultativ oder kumulativ  – eine stärkere Berücksichtigung spezifisch gliedstaatlicher Interessen und Belange im Rahmen der Hoheitstätigkeit der Union bezweckt, die föderative Integrität absichern und vertiefen hilft beziehungsweise der effektiven Bewältigung der in einem Bundesstaat deutlich erhöhten Koordinations- und Kooperationserfordernisse dient.

(5) Die zumindest vorrangige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat In Ansehung des grundgesetzlichen Normalmaßes erweisen sich die Dezisions­ befugnisse des Europäischen Parlaments insbesondere dann als unzureichend, wenn wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, in einem Verfahren erlassen werden, in dem die Dezisionsmacht zumindest überwiegend beim Rat liegt. Eine solche zumindest vorrangige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat findet sich im Wesentlichen nur, aber immerhin im Anhörungsverfahren. Die insofern zu konstatierende Schwächung des Europäischen Parlaments und die damit korrelierenden Legitimationseinbußen sind nun freilich ihrerseits geeignet, im Rahmen der EG-Normsetzung eine Berücksichtigung jener spezifisch gliedstaatlichen Interessen und Belange zu bewirken, die jedenfalls in der gegenwärtigen Phase der europäischen Integration durch ein weiterhin hohes Maß sowohl an Vitalität als auch an Partikularität geprägt sind163. Des Weiteren ist nicht ersichtlich, wie unter den Bedingungen des historisch gewordenen Institutionengefüges der EU das Ziel einer stärkeren Berücksichtigung dieser ebenso vitalen wie partikularen mitgliedstaatlichen Interessen und Belange anders als durch einen starken Rat erreicht werden könnte164. Schließlich, aber nicht zuletzt erscheint der in dieser Weise hergestellte Ausgleich zwischen demokratischen und bundesstaatlichen Elementen aus verfassungsrechtlicher Sicht als angemessen. Hierfür streiten vor allem zwei Gesichtspunkte. Erstens und vor allem ergehen wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, überhaupt nur in Einzelfällen in einem Verfahren, in dem der Rat die vorrangige oder äußerstenfalls sogar alleinige Dezisionsmacht innehält. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass 163 Vgl. in diesem Kontext auch Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. 4. Aufl. 2007, Art. 23 Rn. 35, der die Stellung des Rats im gemeinschaftlichen Institutionengefüge als Ausfluss des Föderalismus auf Unionsebene würdigt. 164 Denn der Rat fungiert als „entscheidende Schaltstelle bei der Transformation einzelstaatlicher Interessen in ein einheitliches Gemeinschaftsinteresse“ (so Wichard, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 202 Rn. 1).

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ohnehin die meisten Kompetenztitel des EGV, die zum Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte ermächtigen, auf das Mitentscheidungsverfahren verweisen165. Zum anderen geht es dort, wo die Kompetenztitel des EGV für den Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte ausnahmsweise statt auf das Mitenscheidungs- auf das Anhörungsverfahren verweisen, vielfach gar nicht um vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Normsetzungsakte166. Denn häufig werden in diesen Fällen die wesentliche legislative Sachbereiche betreffenden wesentlichen Regelungen sowie sonstige Grundzüge des zu erlassenden Sekundärrechts mit hinreichender Bestimmtheit bereits auf primärrechtlicher Ebene festgelegt167. Soweit das Primärrecht zum Erlass von wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten im Anhörungsverfahren ermächtigt, trifft es mit anderen Worten oftmals schon selbst die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen. In dieser doppelten Perspektive erhellt, dass und weshalb dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallende wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte nur in Einzelfällen auf der zumindest vorrangigen Dezisionsbefugnis des Rats beruhen. Neben ihrem Einzelfallcharakter lässt sich für die Angemessenheit der in Rede stehenden Legitimationseinbußen zweitens ins Feld führen, dass die vereinzelten Fälle, in denen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte in einem zumindest vorrangig vom Rat beherrschten Rechtsetzungsverfahren ergehen, häufig dadurch geprägt sind, dass die EG-Normsetzung hier besonders intensiv und weitreichend in die Belange sowie Interessen der Mitgliedstaaten überzugreifen vermag. Prototypisch für diesen Befund ist die Regelung des Art. 94 EGV, der als Auffangvorschrift im Bereich der Rechtsangleichung168 fungiert und tatbestandlich lediglich durch den Bezug auf die Errichtung beziehungsweise das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes beschränkt ist169. Vor diesem zweifachen Hintergrund erscheint es in der Tat als angemessen und folglich durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt, wenn das institutionelle Gemeinschaftsrecht in einzelnen Fallkonstellationen die im Mitentscheidungsverfahren herrschende Machtverteilung zwischen Rat sowie Euro­ päischem Parlament zu Gunsten der Staatenvertretung abändert und infolgedessen bestimmte wesensmäßig marktkonstituierende, vom absoluten Vorbehalt parla 165 Vgl. Art. 12 UAbs. 2, Art. 18 Abs. 2, Art. 40 EGV, Art. 44 Abs. 1, 46 Abs. 2 (auch in Verbindung mit Art. 55), 47 (auch in Verbindung mit Art. 55), Art. 65, Art. 95 EGV. 166 Bei den im Zusammenarbeitsverfahren ergehenden EG-Normsetzungsakten ist dies sogar durchweg der Fall. 167 Dies gilt namentlich im Fall der folgenden Kompetenztitel: Art. 49 Abs. 2, Art. 52 Abs. 1, Art. 75 Abs. 3, Art. 83 Abs. 1 und Art. 89 EGV (siehe dazu auch oben Kapitel 11 II. 2. a] aa] = S. 935). 168 Siehe Kahl, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 94 Rn. 16. 169 Oppermann (Fn. 19), 18 Rn. 5; v. Danwitz, Rechtsangleichung, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: Oktober 2007, B. II. 5., Rn. 93 ff.

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mentarischer Normsetzung erfasste EG-Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß personeller und materieller Legitimation unterschreiten. Dies gilt umso mehr, als sich das in Rede stehende Legitimationsdefizit fernerhin auch insofern rechtfertigen lässt, als es auf einem institutionell-organisatorischen Arrangement beruht, das die föderative Integrität der Union absichern und vertiefen hilft170. Denn die Schwächung des Europäischen Parlaments und die dadurch bedingten Legitimationseinbußen stehen, wie eben geschildert, in unmittelbarem Zusammenhang zur Stärkung des Rats und mithin also der Mitgliedstaaten. Dabei erfolgt diese Stärkung von Rat und Mitgliedstaaten speziell für solche Fallkonstellationen, in denen die gegenwärtig noch sehr vitalen und partikularen Interessen und Belange der einzelnen Nationalstaaten in besonders intensiver und weitreichender Art und Weise durch die EG-Normsetzung tangiert sind. Die institutionell-prozedurale Betonung des mitgliedstaatlichen Elements gerade in diesen Konstellationen erscheint nun freilich als ohne Weiteres geeignet und erforderlich, um auf Seiten der Mitgliedstaaten eine breite(re) Akzeptanz für die EU und seine machtvolle Normsetzung zu erreichen, zu stabilisieren und zu vertiefen. Denn indem dort, wo die EG-Normsetzungsgewalt besonders nachhaltig in die angestammten Machtbereiche der nationalen Mitgliedstaaten überzugreifen vermag, ein institutionell-prozeduraler Vorrang der mitgliedstaatlichen Belange und Interessen vor den föderalen gilt, wird die zentrifugale Kraft, die von den immer noch vitalen Partikularinteressen und -belangen der einzelnen Mitgliedstaaten ausgeht, gewissermaßen aufgefangen und gerade hierdurch die föderale Integrität der EU bewahrt. Die damit verbundene Legitimationseinbuße ist auch nicht un­angemessen, beschränkt sie sich doch, wie bereits dargetan, auf Einzelfälle. Schließlich kommt in Hinblick auf die hier interessierenden Legitimations­ defizite, die mit der in bestimmten Normsetzungsverfahren überstarken Stellung des Rats zusammenhängen, eine Rechtfertigung nach Maßgabe des Bundesstaatsprinzips auch noch unter einem dritten Gesichtspunkt in Betracht. Der norm­ setzerische Vorrang des Rats vor dem Europäischen Parlament kann nämlich als ein institutionell-prozedurales Arrangement gewertet werden, das unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht171. Dies offenbart sich nicht zuletzt dann, wenn man den bereichsweisen Primat des Rats bei der Normsetzung in den größeren Zusammenhang dessen einordnet, was man als exekutiven Föderalismus172 bezeichnen mag. Ebenso wie sich seit Beginn der sechziger Jahre in der Bundesrepublik die Einsicht durchgesetzt hat, dass sich die allermeisten Sachmaterien nicht mehr län 170

Zu diesem Rechtfertigungsansatz oben Kapitel 10 III. 5. c) dd) = S. 858. Ebd. 172 Oder: ‚gouvernementale Bundesstaatlichkeit‘ – so bereits Stern, Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 755. 171

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derpartikular, sondern nur mehr bundesstaatsweit angemessen regeln lassen173, ist seit Anfang bis Mitte der achtziger Jahre in ganz Europa das Bewusstsein neu dafür geschärft worden, dass eine zunehmende Zahl politischer Probleme nicht länger nur nationalstaatlich fragmentiert, sondern mit europaweiter Gültigkeit geregelt werden müssen174. Dem insofern massiv gewachsenen Koordina­ tionsbedarf ist nun freilich weder in Deutschland noch auf Unionsebene mit rein zentralistischen Strukturen begegnet worden. Vielmehr ist in beiden Fällen an der föderalen Grundausrichtung festgehalten, der föderale Systemgedanke weitestmöglich geschont worden. Allerdings musste das föderale System eine von den historischen Vorbildern abweichende Strukturgestalt ausprägen, damit den Koordinations­notwendigkeiten Rechnung getragen werden konnte. So hat sich sowohl in der Bundesrepublik in Form des unitarischen und des kooperativen Bundesstaats175 wie auch auf europäischer Ebene mit der Fortentwicklung intergouvernemental geprägter Normsetzungspraktiken ein exekutiver Föderalismus ausgebildet. Dieser zeichnet sich mitunter dadurch aus, dass die Regelung der koordinations­bedürftigen Sachfragen selbst dort, wo sie eigentlich dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfällt, in mehr oder minder großem Umfang föderal strukturierten Exekutivorganen überantwortet wird176. Damit einher geht zwar ein Verlust an Demokratie, weil sich über exekutive Machtakte ein geringeres Maß an demokratischer Legitimation Bahn bricht als über parlamentarische. Doch dient dieser Demokratieverlust der umfeldangemessenen Bewahrung des föderalen Systemgedankens und kann in dieser Perspektive auch unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden, sofern sich die Demokratieeinbuße insofern nicht als unverhältnismäßig entpuppt. Wenn daher in bestimmten Bereichen der EG-Normsetzung die Stellung des Rats eine besonders starke geblieben ist, so ist dies als Ausfluss des beschriebenen exekutiven Föderalismus zu werten. Der bereichsweise Primat des Rats ist in dieser Perspektive tatsächlich als ein von der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm gedecktes institutionell-prozedurales Arrangement zu werten, das als solches geeignet und auch erforderlich ist, unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen. In Ansehung der dadurch tangierten Volkssouveränität erweist sich dieses Arrangement vor allem deshalb als noch angemessen, weil es nicht etwa für den gesamten Bereich der EG-Normsetzung, sondern nur für einen kleinen Ausschnitt daraus gilt. 173 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 21. 174 Siehe etwa Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3.  Aufl. Rn. 21 ff. 175 Zu diesen Rekonstruktionen des Bundesstaats überblicksweise Hanebeck, Der demokra­ tische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, S. 31 ff. 176 Dann (Fn. 36), S. 43 ff. und zusammenfassend S. 118 ff.

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Nach allem lässt es sich damit bis auf Weiteres anhand der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm rechtfertigen, wenn sich die Dezisionsbefugnisse des Euro­ päischen Parlaments deshalb als aus Sicht des grundgesetzlichen Normalmaßes unzureichend darstellen, weil bestimmte wesensmäßig marktkonstituierende EGNormsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, in einem Verfahren erlassen werden können, in dem die Dezisionsmacht vorrangig beim Rat liegt.

(6) Die anteilige oder alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis bei der Kommission Unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm lässt es sich fernerhin rechtfertigen, wenn die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts zustehenden Dezisionsbefugnisse deshalb unzureichend sind, weil die Kommission Teil- oder Alleinverantwortung für den Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte trägt. Dies sei an dieser Stelle jedoch noch nicht weiter vertieft. Denn auf diese Konstellation soll, wie gesagt, erst an späterer Stelle eingegangen werden – und zwar unter dem Gesichtspunkt der zumindest vorrangigen Dezisionsbefugnis der Kommission im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts177.

(7) Die materiell-direktive Legitimation der vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakte Als unzureichend können sich die Dezisionsbefugnisse, die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung zustehen, freilich noch unter einem weiteren Gesichtspunkt erweisen. Dies ist – nur scheinbar paradoxerweise – insoweit der Fall, als es um diejenigen das grundgesetzliche Normalmaß unterschreitenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte geht, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normie­ rung ausgenommen sind. Denn in diesen Fällen beruht das Legitimationsdefizit praktisch darauf, dass das Europäische Parlament die materiellen Direktiven, die solche Normsetzungsakte dezisionär rückbinden, nicht in dem Maß beherrscht, wie dies erforderlich wäre, damit ein solches Maß an materiell-direktiver Legitimation zuwächst, wie es das Grundgesetz für normative Verwaltungsabkommen vorsieht. Anders formuliert: Weil dem Europäischen Parlament im Bereich des relativen Parlamentsvorbehalts nicht die Dezisions- und Revisionsbefugnisse zukommen, die der Bundestag in Hinblick auf das zum Erlass von Verwaltungsabkommen ermächtigende Gesetz innehält, verfehlen wesensmäßig marktkonstituierende 177

Siehe unten Kapitel 13 II. 2. a) cc) (14) = S. 1081.

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Normsetzungsakte, die jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung in einem anderen Rechtsetzungsverfahren als dem der Mitentscheidung oder der Zusammenarbeit178 ergehen, das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß. Um zu klären, inwieweit sich diese Legitimationsdefizite unter Rekurs auf das Bundesstaatsprinzip rechtfertigen lassen, muss zwischen den verschiedenen insofern virulenten Konstellationen unterschieden werden. Dabei soll zunächst auf zwei Ausnahmekonstellationen eingegangen werden. Die erste zeichnet sich dadurch aus, dass die Kommission aufgrund einer originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnis einen vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakt erlässt179. In der zweiten Ausnahmekonstellation werden die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte in einem Verfahren erlassen, in dem die Dezisionsmacht – abgesehen von der regelmäßig durch das Initiativmonopol bedingten und insoweit relativ begrenzten Dezisionsmacht der Kommission  – allein beim Rat verortet ist180. Nach Erörterung dieser beiden Ausnahmefälle sind sodann die praktisch ungleich bedeutsameren Konstellationen in den Blick zu nehmen, in denen wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung ausgenommen sind, auf der Grundlage einer sekundärrechtlichen Ermächtigung erlassen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen ihrerseits zwar in der überwiegenden Zahl der Fälle, aber längst nicht immer im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens in Geltung gesetzt werden181.

(8) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf rein primärrechtlicher Basis durch die Kommission Nach dem Gesagten ist zunächst die Ausnahmekonstellation zu erörtern, in der die Kommission aufgrund einer originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsermächtigung einen vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakt erlässt. Auch in dieser Konstellation ergibt sich das Legitimationsdefizit zunächst und zuvörderst daraus, dass dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung eine in Hinblick auf das grundgesetzliche Normalmaß unzureichende Dezisionsbefugnis zukommt. Zwar beruht der von der 178 Das Zustimmungsverfahren ist an dieser Stelle auszublenden, weil es im Bereich der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte keine Anwendung findet. 179 Etwa auf der Grundlage von Art. 38 oder Art. 86 Abs. 3 EGV. 180 Zum Beispiel auf Basis von Art. 83 Abs. 1 EGV – dazu etwa Oppermann (Fn. 19), § 15 Rn. 52. 181 Vgl. Bieber (Fn. 48), § 7 Rn. 23.

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Kommission erlassene Normsetzungsakt auf einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage. Ansonsten unterfiele er nämlich  – anders als hier unterstellt – dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung. Die primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage indes bleibt hinter den Anforderungen zurück, die Art. 59 GG in Hinblick auf materielle Direktiven statuiert, die zum Erlass norma­ tiver Verwaltungsabkommen ermächtigen. Diese Anforderungen würden nur erfüllt, wenn die Ermächtigungsgrundlage zumindest hälftig von einem Parlament herrührte182. Dies freilich wäre praktisch überhaupt nur dann denkbar, wenn das Europäische Parlament den die Kommission zur exekutiven Rechtsetzung ermächtigenden Normsetzungsakt erlassen hätte. Das insofern durch unzureichende Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingte Legitimationsdefizit lässt sich letztlich jedoch wiederum unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen. Dabei ist im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass dem Europäischen Parlament deswegen unzureichende Dezisionsbefugnisse zustehen und es infolgedessen zu einer Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß kommt, weil der betreffende EGNormsetzungsakt statt auf einer von ihm gebilligten Sekundärrechtsnorm auf dem Primärrecht fußt und dieses einem vertragsrechtlichen Regime unterliegt. Die Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht ist nun freilich erstens als ein institutionell-organisatorisches Arrangement zu werten, das eine stärkere Berücksichtigung spezifisch mitgliedstaatlicher Interessen und Belange bei der Hoheitstätigkeit der Union bezweckt. Denn hängt die Veränderung der Verfassung der Union183 von einer einvernehmlichen vertraglichen Einigung zwischen den Einzelstaaten ab, so wird nicht nur verhindert, dass genuin einzelstaatliche Interessen und Belange bei der Fortentwicklung der Verfassungsordnung majorisiert werden; vielmehr wird zugleich gewährleistet, dass die genuin einzelstaatlichen Interessen und Belange schon wegen des vertragsrechtlich geprägten Verfahrens in den Mittelpunkt etwaiger Ver­ fassungsreformen gerückt werden184. Letzteres ist seinerseits wiederum angetan, die Akzeptanz der EU durch die Einzelstaaten zu fördern185. Insoweit stellt sich die Verankerung des sekundären 182

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) dd) = S. 817. Zur Qualifikation des primären Unionsrechts als Verfassungsrecht der EU vgl. Huber (Fn. 14), § 8 Rn. 15. 184 Darin liegt denn auch die tiefere Bedeutung der Redewendung von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ (dazu etwa Cremer, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 48 EUV Rn. 4. 185 Deswegen war auch weder im Rahmen des – gescheiterten – Europäischen Verfassungsvertrags noch im – nunmehr zur einzelstaatlichen Ratifikation anstehenden – Reformvertrags jemals daran gedacht, die Änderungen an diesen Regelwerken von der Zustimmung aller Mitgliedstaaten abzulösen (vgl. zum VVE nur Puttler, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-5 Rn. 7 sowie zum Reformvertrag Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, in: EuZW 2008, S. 7 [13 f.]). 183

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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Gemeinschaftsrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht zweitens als ein insti­tutionell-prozedurales Arrangement dar, das die föderative Integrität der Union befördert. Schließlich bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die von dessen Gliedern verantwortete vertragliche Steuerung der in einem föderativen Gemeinwesen Platz greifenden Normsetzung als kooperative Koordination zu qualifizieren ist186 und sich insofern als geradezu klassischer Ausfluss des exekutiven Föderalismus darstellt187. Folglich entpuppt sich die primärrechtliche Verankerung des Gemeinschaftsrechts drittens als ein institutionell-prozedurales Arrangement, das unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem bün­ dischen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu be­ wältigen sucht. Demnach kommt der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm hinsichtlich des hier in Rede stehenden Legitimationsdefizits gleich in dreifacher Hinsicht Rechtfertigungspotenzial zu188. Dieses erweist sich bis auf Weiteres auch als ausreichend, um die Legitimationseinbußen zu rechtfertigen, die mit der primärrechtliche Verankerung des Sekundärrechts einhergehen. Dies kann nicht zuletzt auch deshalb

186 Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Benda / Maihofer / ders. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1994, § 22 Rn. 125: Staatsverträge und Verwaltungsabkommen als Ausfluss des kooperativen Föderalismus. 187 Zum exekutiven Föderalismus auf europäischer Ebene siehe in anderem Zusammenhang Jacqué, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 202 Rn. 7. 188 Die These, wonach die Legitimationseinbußen, die mit der Verankerung des Sekundärrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht zusammenhängen, sich jedenfalls bis auf Weiteres unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, könnte sich allenfalls noch einem Einwand ausgesetzt sehen: Ihr mag entgegengehalten werden, dass eine vertragsrechtlich geprägte Verfassungsordnung dem Bundesstaat fremd und die Bundesstaatsnorm infolgedessen untauglich sei, Legitimationseinbußen zu rechtfertigen, die aus der Rückkoppelung des Sekundärrechts an das vertragsrechtlich geprägte Primärrecht erwachsen. Allerdings greift dieser Einwand nicht durch. Nun trifft es zwar zu, dass die Verfassung eines Bundesstaats ihren Geltungsgrund niemals in einem völkerrechtlichen Vertrag haben kann. Ein solcher vermag allenfalls die materielle Verfassung eines Staatenbundes zu entbinden. Ebenso ist richtig, dass bislang noch nie ein Bundesstaat existiert hat, dessen Verfassung nur durch einvernehmliches Zusammenwirken der Gliedstaaten fortentwickelt werden konnte. Jedoch ist es weder rechtlich-theoretisch noch politisch-praktisch ausgeschlossen, dass die Verfassung eines Bundesstaats nur durch – wohlgemerkt nicht völkerrechtliche, sondern staatsrechtliche – Verträge der Einzelstaaten verändert werden kann. Zu denken ist etwa an folgendes Szenario: Eine bisher als Staatenbund zu qualifizierende Staatenverbindung mutiert zum Bundesstaat, indem die bisher souveränen Einzelstaaten ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen erklärtermaßen in staatsrechtliche Bundespflichten umwidmen, sich mit anderen Worten also dem neu ge­schaffenen Bundesstaat unterwerfen. Um freilich den prekären zwischenstaatlichen Interessenausgleich zu wahren, auf dem der neue Bundesstaat beruht, stipuliert dieser, dass Änderungen seiner Verfassungsordnung nur durch vertragliche Einigung der Glieder bewirkt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist daran festzuhalten, dass Legitimationseinbußen, die von der Verankerung des Sekundärrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht herrühren, auch bundesstaatlich rechtfertigbar sind.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

angenommen werden, weil sich das rechtfertigungsbedürftige Legitimationsdefizit in doppelter Hinsicht in Grenzen hält. Denn zum einen rührt das Primärrecht – wenn auch nur zum geringeren Teil  – von Parlamenten her189, was das Fehlen zureichender Dezisionsbefugnisse auf Seiten des Europäischen Parlaments zwar nicht voll kompensiert, aber doch immerhin relativiert. Zum anderen erweist sich der Teil eines EG-Normsetzungsakts, der über das Primärrecht rückgebunden wird als relativ klein190.

(9) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf rein primärrechtlicher Grundlage allein durch den Rat Ein rechtfertigungsbedürftiger Mangel an unmittelbar parlamentsvermittelter materiell-direktiver Legitimation ist des Weiteren dann auszumachen, wenn wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, ausnahmsweise in Verfahren erlassen werden, in denen die Dezisionsmacht – abgesehen von der regelmäßig durch ihr Initiativmonopol bedingten und insoweit relativ begrenzten Kodezisionsmacht  – allein beim Rat liegt. Dieses Legitimationsdefizit lässt sich gleich in zweifacher Weise unter Rückgriff auf bereits angestellte Erwägungen rechtfertigen. So wurde zum einen bereits ausführlich die Konstellation erörtert, in der ein vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasster wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakt in einem Verfahren erlassen wird, in dem die Erlassentscheidung zumindest vorrangig vom Rat getroffen wird191. Die Argumentation, mit der in dieser Konstellation die fehlende Einflussmacht des Europäischen Parlaments gerechtfertigt wurde, lässt sich auf die hier in Rede stehende übertragen. Zwar scheidet ein Erst-recht-Schluss aus192. Denn zu der hier interessierenden Konstellation mag es etwas häufiger kommen als zu der bereits diskutierten. Wenn daher in der obigen Konstellation unter anderem mit deren Einzelfallcharakter argumentiert wird, so kann dies nicht einfach a fortiori auf die hiesige Fallgestaltung übertragen werden. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Rat vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene EG-Normsetzungsakte zwar vielleicht nicht nur in Einzel-, aber jedenfalls bloß in engen Ausnahmefällen ohne kodezisives Mitwirken des Euro­päischen Parlaments erlässt. Bedenkt man zusätzlich, dass das Legitimations­ defizit in der hier in Rede stehen Konstellation deutlich geringer ist als dort, wo 189

Oben Kapitel 13 II. 1. b) = S. 1026. Ebd. 191 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. 192 Zu dessen Voraussetzungen Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, § 11 II a) und c). 190

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der Rat einen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten EG-Normsetzungsakt im Wesentlichen allein erlässt, so wird man davon ausgehen dürfen, dass sich die für die obige Konstellation entwickelte Rechtfertigung auch in der hiesigen Fallgestaltung als hinreichend tragfähig erweist. Zum anderen lassen sich für diese fernerhin dieselben Erwägungen anstellen, wie sie eben in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte angestellt wurden, die jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts auf rein primärrechtlicher Basis von der Kommission erlassen werden193. Denn auch in der nunmehr zu diskutierenden Konstellation erweisen sich die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts eingeräumten Dezisionsbefugnisse allein deshalb als unzureichend, weil die primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage hinter den Anforderungen zurückbleibt, die Art. 59 GG an die normative Verwaltungsabkommen legitimierenden materiellen Direktiven stellt. Folglich liegt das rechtfertigungsbedürftige Legitimationsdefizit vorliegend gleichfalls darin begründet, dass EGNormsetzungsakte auf den das Primärrecht konstituierenden völkerrechtlichen Verträgen beruhen. Somit kann ohne Weiteres auf die Erwägungen rekurriert werden, mit denen gerade die Legitimationsdefizite gerechtfertigt wurden, die mit der primärrechtlichen Verankerung des Sekundärrechts einhergehen.

(10) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf Basis einer sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm durch die Kommission Nun wird ein vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommener EG-Normsetzungsakt normalerweise natürlich nicht auf rein primärrechtlicher Grundlage von der Kommission194 beziehungsweise vom Rat195 erlassen. Vielmehr wird ein solcher Normsetzungsakt zumeist auf der Grundlage einer sekundärrechtlichen Ermächtigung von der Kommission als Durchführungsrecht in Geltung gesetzt. In diesem Regelfall lässt sich das durch die unzureichenden Befugnisse des Euro­ päischen Parlaments bedingte Legitimationsdefizit daran festmachen, dass die den betreffenden EG-Normsetzungsakten zugrundeliegenden materiellen Direk­ tiven in geringerem Umfang unmittelbar parlamentarisch legitimiert sind, als Art. 59 GG dies in Hinblick auf normative Verwaltungsabkommen vorsieht. Denn nicht einmal dann, wenn die sekundärrechtliche Ermächtigungsnorm wie in der überwiegenden Zahl der Fälle im Mitentscheidungsverfahren ergangen ist, wird dieses grundgesetzliche Normalmaß ganz erreicht. Allerdings lassen sich die insofern zu verzeichnenden Legitimationsdefizite grundgesetzlich durchweg rechtfertigen. 193

Dazu den vorhergehenden Gliederungsabschnitt Kapitel 13 II. 2. a) cc) (8) = S. 1067. Zu dieser Konstellation siehe oben ebd. 195 Zu dieser Fallgestaltung siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (9) = S. 1070.

194

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Um dies im Einzelnen zu belegen, soll zunächst auf die praktisch bedeutsamste Konstellation eingegangen werden. Dass die materiell-direktive Legitimation von Durchführungsrecht selbst dann nicht an das von Art. 59 GG für normative Verwaltungsabkommen vorgegebene Niveau heranreicht, wenn die ihm zugrunde­ liegende Ermächtigungsnorm im Mitentscheidungsverfahren ergangen ist, hat typischerweise drei Gründe: Erstens erweisen sich selbstverständlich auch die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen als primärrechtlich determiniert. Soweit dies der Fall ist, bewegen sich die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakte auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als formelle Bundesgesetze, die im Sinne von Art.  59  GG zum Abschluss normativer Verwaltungsabkommen ermächtigen. Zweitens sieht das Mitentscheidungsverfahren eine kodezisive Mitwirkung des Rats vor, der eine im Vergleich zum Parlament leistungsschwächere Legitimation vermittelt. Demgegenüber fordert das grundgesetzliche Gesetzgebungsverfahren eine kodezisive Mitwirkung der Staatenkammer nicht überall, sondern nur dort, wo der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung greift196. Drittens kommt der Kommission im Mitentscheidungsverfahren grundsätzlich eine – wenn auch nur beschränkte – Kodezisionsmacht zu. Hingegen stehen der Bundesexekutive in Hinblick auf formelle Gesetze, wie sie normativen Verwaltungsabkommen zugrundeliegen197, keinerlei Entscheidungsbefugnisse zu198. Soweit nun die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen jedenfalls199 deshalb vom grundgesetzlichen Normalmaß abweichen, weil sie teilweise im Primärrecht der Gemeinschaft wurzeln, erweist sich dies aus den bereits ausgeführten Gründen als durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt. Denn die Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht stellt sich als ein institutionell prozedurales Arrangement dar, das in demokratisch jedenfalls gegenwärtig noch angemessener

196

Siehe nur Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 45 III 2. Vgl. etwa Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. 4. Aufl. 2007, Art. 59 Rn. 36. 198 Insbesondere begründet mangels Initiativmonopols auch die in Art.  76 Abs.  1 GG normierte Befugnis der Bundesregierung, Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen, keine Entscheidungsmacht. 199 In besonders gelagerten Ausnahmekonstellationen rührt die durch unzureichende Parlamentsbefugnisse bedingte Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß nur vom ersten der drei genannten Gründe her. Davon ist dann auszugehen, wenn ausnahmsweise (zu diesen [Ausnahme-]Fällen oben Kapitel 11 II. 2. a] aa] = S. 935) bereits das Primärrecht sämtliche dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen enthält. Denn in diesem (Ausnahme-)Fall muss lediglich das Primärrecht hinreichend parlamentarisch legitimiert sein, damit den Anforderungen des Art.  59  GG genügt ist (zu den entsprechenden Anforderungen des Art. 59 GG etwa Zuleeg, in: Azzola u. a. [Bearb.], Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 1989, Art. 59 Rn. 33). Dass eine im Mitentscheidungsverfahren erlassene Ermächtigungsnorm auch aus zwei weiteren Gründen noch in geringerem Maß parlamentarisch legitimiert ist als formelle Bundesgesetze, erweist sich in dieser (Ausnahme-)Konstellation als unerheblich. 197

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Weise dafür sorgt, dass alle drei als relevant herausgearbeiteten bundesstaatlichen Zielsetzungen gefördert werden200. Die Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß, die sich damit verbindet, dass dem Rat auch jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung Kodezi­ sionsmacht zusteht, lässt sich ohne größeren argumentativen Aufwand auf das Bundesstaatsprinzip stützen. Denn es ist offensichtlich, dass es sich dabei ebenfalls um ein institutionell-organisatorisches Arrangement handelt, das eine stärkere Berücksichtigung spezifisch gliedstaatlicher Interessen und Belange im Rahmen der Hoheitstätigkeit der Union bezweckt, zugleich die föderative Integrität der Union abzustützen hilft und im Übrigen unter größtmöglicher Schonung des föderativen Systemgedankens die in einem föderativen Gemeinwesen massiv erhöhten Koordinationsbedürfnisse effektiv zu bewältigen sucht. Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb ein solches bundesstaatlich motiviertes Arrangement in Ansehung der grundgesetzlichen Demokratienorm unverhältnismäßig sein sollte: Dem verfassungsändernden Gesetzgeber wäre es sicherlich nicht verwehrt, sämtliche Bundesgesetze für zustimmungspflichtig zu erklären201. Bundesstaatlich gerechtfertigt ist auch das Legitimationsdefizit, das sich aufgrund des Initiativmonopols der Kommission ergibt. Allerdings soll dies an dieser Stelle zunächst nur arbeitshypothetisch unterstellt werden. Denn die Legitimations­ problematik, die sich mit der auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erstreckten (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission verbindet, wird, wie bereits erwähnt202, vertieft erst an späterer Stelle erörtert werden203. Bei Zugrundelegung der angesprochenen Arbeitshypothese kann demnach resümierend festgehalten werden, dass es sich als durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt erweist, wenn Durchführungsrecht, das auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm beruht, wegen unzureichender Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlaments das Niveau demokratischer Legitimation verfehlt, das Art. 59 GG in Hinblick auf normative Verwaltungsabkommen vorgibt. Damit kommt nunmehr dasjenige wesensmäßig marktkonstituierende Durchführungsrecht in den Blick, das auf sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen beruht, die in einem anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung ergangen sind. Auch die materiell-direktive Legitimation dieser Durchführungsbestim­mungen bleibt hinter den Anforderungen zurück, die Art. 59 GG in Hinblick auf normative Verwaltungsabkommen formuliert. Allerdings besteht insofern ein gewichti 200

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (8) = S. 1067. Problematisch ist allenfalls, unter welchen Voraussetzungen er die Kategorie der Zustimmungsgesetze abschaffen darf (siehe zu dieser Problematik etwa Dreier, in: ders. [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 79 III Rn. 24 und Hain, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 79 Rn. 134). 202 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 203 Siehe unten Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078. 201

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ger Unterschied zwischen wesensmäßig marktkonstituierendem Durchführungsrecht, das auf im Mitentscheidungsverfahren ergangenen Ermächtigungsnormen beruht, und wesensmäßig marktkonstituierenden Durchführungsbestimmungen, die auf im Anhörungs- oder Zusammenarbeitsverfahren erlassenen Ermächtigungen basieren. Bei letzteren nämlich lässt sich das fragliche Legitimationsdefizit nicht nur ausnahmsweise, sondern – im Gegenteil – zumindest häufig allein schon darauf zurückführen, dass das Primärrecht nicht in dem Umfang unmittelbar parlamentarisch legitimiert ist, wie Art. 59 GG dies für eine normative Verwaltungsabkommen legitimierende materielle Direktive fordert. So ist zu erinnern, dass das Primärrecht, sofern es ausnahmsweise zum Erlass von wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten im Anhörungsverfahren ermächtigt, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen vielfach bereits selbst trifft204. Beruht das Durchführungsrecht auf im Zusammenarbeitsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen ist dies sogar durchweg der Fall205. Infolgedessen erweisen sich die parlamentarischen Dezisionsbefugnisse bei Durchführungsrecht, das auf im Anhörungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen beruht, häufig lediglich deshalb als zu knapp bemessen, weil das für alles Sekundärrecht maßgebliche Primärrecht völkervertragsrechtlich geprägt ist. Bei Durchführungsrecht, das auf im Zusammenarbeitsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen basiert, gilt dies sogar ausnahmslos. Die dieserart bedingten Legitimationsdefizite indes erweisen sich, wie dargelegt, als unter Berufung auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm ohne Weiteres rechtfertigbar206. Bei wesensmäßig marktkonstituierendem Durchführungsrecht, das auf einer im Anhörungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm gründet, ist nun allerdings die Verankerung des Sekundär- im Primärrecht nicht immer der alleinige Grund dafür, dass es nicht in dem Umfang durch unmittelbar parlamentsvermittelte materielle Direktiven geprägt wird, wie dies den Vorgaben des Art. 59 GG entspricht. Davon kann nämlich nur dann ausgegangen werden, wenn das Primärrecht sämtliche dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen trifft. Indes kommt es in Einzelfällen auch im Bereich der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte vor, dass dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallende Bestimmungen von im Anhörungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen getroffen werden. In diesen Konstellationen erweist sich der parlamentarische Einfluss auf die das Durchführungsrecht determinierenden materiellen Direktiven auch deshalb als in Ansehung des grundgesetzlichen Normalmaßes zu gering, weil der Kommission im Anhörungsverfahren das Initiativmonopol zukommt und  – vor allem  – weil in diesen Verfahren die Einflussmacht des Parlaments zugunsten des Rats nicht nur beschnitten, sondern gänzlich eliminiert ist.

204

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. Vgl. Fn. 112. 206 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (8) = S. 1067.

205

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Was die durch das Initiativmonopol bedingten Legitimationseinbußen anbelangt, soll  – wie eben schon hinsichtlich der im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen – nach unten verwiesen werden207. Hingegen ist die weitaus bedeutsamere Abweichung von den Vorgaben des Art. 59 GG, nämlich diejenige, die mit der mangelnden Kodezisionsmacht des Europäischen Parlaments einhergeht, bereits an dieser Stelle zu diskutieren. Diese zusätzliche Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß lässt sich letztlich unter denselben bundesstaatlichen Gesichtspunkten rechtfertigen, unter denen bereits gerechtfertigt wurde, dass bestimmte wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, zumindest vorrangig vom Rat erlassen werden208. Freilich kommt insofern wiederum209 kein unvermitteltes argumentum  a fortiori in Betracht. Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass die hier in Rede stehenden sekundärrecht­lichen Ermächtigungen letztlich noch stärker von dem für sie maßgeblichen grundgesetzlichen Normalmaß abweichen, als dies bei den zumindest vorrangig vom Rat entschiedenen und vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten der Fall ist. Schließlich bestimmt sich das Normalmaß für die insoweit in Rede stehenden sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen nach dem Normalmaß, das für die rein innerstaatliche Normsetzung diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts charakteristisch ist. Demgegenüber müssen sich wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, lediglich an dem auch innerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts stark exekutivisch geprägten Normalmaß messen lassen, das für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts prägend ist. Gleichwohl kann im vorliegenden Zusammenhang grundsätzlich an die obige Argumentation angeknüpft werden. Zwar ist die Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß hier gegebenenfalls größer als dort. Jedoch erstreckt sie sich nicht auf den Normsetzungsakt insgesamt, sondern betrifft ihn nur teilweise  – nämlich nur so weit, wie sich die sekundärrechtliche Ermächtigungsnorm auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erstreckt. Damit ist, bilanzierend betrachtet, das zu rechtfertigende Legitimationsdefizit hier jedenfalls nicht größer als dort. Insofern erscheint ein Rückgriff auf die oben angestellten Erwägungen als statthaft. Nach allem lassen sich die defizitären Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments auch für die Fälle ausnahmslos unter Berufung auf das Bundesstaatsprinzip rechtfertigen, in denen wesensmäßig marktkonstituierende Durchführungsbestimmungen auf Ermächtigungsnormen beruhen, die im Anhörungs- oder Zusammenarbeitsverfahren erlassen wurden. 207

Siehe unten Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. 209 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (9) = S. 1070.

208

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(11) Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigung Nach allem erweist es sich als bis auf Weiteres auch in Ansehung der Bundesstaatsnorm gerechtfertigt, dass die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung eingeräumten Dezisions­ befugnisse insoweit unzureichend sind, als vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte zumindest vorrangig von Rat beziehungsweise Kommission in Geltung gesetzt werden können und die vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierten wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte auf rein primärrechtlicher Grundlage vom Rat beziehungsweise der Kommission oder auf sekundärrechtlicher Basis durch die Kommission erlassen werden dürfen. Die Legitimationsdefizite, die den im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments geschuldet sind, erweisen sich demnach nicht nur mittelfristig durch das Staatsziel der Volkssouveränität sowie in Hinblick auf die Besonderheiten als gerechtfertigt, die einen im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverband kennzeichnen. Vielmehr kommt in durchaus längerfristiger Perspektive auch eine Rechtfertigung durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm in Betracht. Freilich darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die aus der Bundesstaatsnorm des Art. 20 GG fließende Rechtfertigung in entfernterer Zukunft versiegen kann. Denn der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm konnte in den vorstehend diskutierten Konstellationen nur deshalb eine rechtfertigende Wirkung zuerkannt werden, weil die für die Legitimationsdefizite kausalen institutionell-prozeduralen Arrangements in Hinblick darauf als verhältnismäßig qualifiziert wurden, dass sie für eine Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Interessen und Belange bei der Hoheitstätigkeit der Union sorgen, die föderale Integrität der EU zu bewahren helfen beziehungsweise unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den innerhalb der Union deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen versprechen. Diese für die rechtfertigende Wirkung der Bundesstaatsnorm tragenden Erwägungen können freilich an Gewicht verlieren, wenn die EU à la longue ihre Strukturgestalt verändert. Denn ob und in welchem Umfang sich unter den drei genannten Gesichtspunkten Legitimationseinbußen noch als verhältnismäßig erweisen, lässt sich nicht außerhalb von Zeit und Raum, sondern immer nur in Ansehung des konkreten föderativen Gemeinwesens bestimmen; ein und derselbe Rechtfertigungsdiskurs mag zum Zeitpunkt z’ noch greifen, zum Zeitpunkt z’’ aber bereits obsolet sein210.

210 Dem entspricht es, wenn Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 23 Rn. 24 Zweifel anmeldet, ob die mit dem EUV verbundene Stärkung des Europäischen Parlaments der ‚Verpflichtung auf demokratische Grundsätze‘ im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bei dem gegenwärtig erreichten Integrationsstand genüge.

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So ist nicht auszuschließen, sondern spricht im Gegenteil einiges dafür, dass sich langfristig die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange, die in der gegenwärtigen Integrationsphase noch durch ein hohes Maß an Vitalität und Partikula­ rität geprägt sind211, unter dem allmählich mächtiger werdenden Eindruck der übergreifenden Unionsinteressen und -belange sukzessive sowohl temperieren als auch homogenisieren werden. In dem Maße freilich, in dem dies geschieht, fällt es zusehends schwerer, gravierende Demokratieeinbußen in Hinblick darauf zu rechtfertigen, dass es einer besonderen Berücksichtigung spezifisch mitgliedstaatlicher Interessen und Belange an der Hoheitstätigkeit der Union bedarf. Denn da diese dann in hohem Maße auch in den Unionsinteressen und -belangen aufge­ hoben sind, erweist sich ihre herausgehobene Beachtung als weniger zwingend und wächst damit korrelierend der Volkssouveränitätsnorm wieder ein entsprechend größeres Gewicht zu. Relativieren sich die Unterschiede, die gegenwärtig noch in puncto Lebenskraft und hinsichtlich ihres Inhalts zwischen mitgliedstaatlichen und unionseigenen Interessen auszumachen sind, nimmt die rechtfertigende Kraft der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt schrittweise ab. Da unter den skizzierten Bedingungen die föderative Integrität der Union nicht mehr ernsthaft gefährdet ist, lassen sich schwerwiegendere Legitimationsein­bußen auch unter diesem Gesichtspunkt nur noch sehr eingeschränkt am Maßstab der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm rechtfertigen. Schließlich, aber nicht zuletzt kann durch eine veränderte Normalität der EU auch derjenige für das Rechtfertigungspotenzial der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm konstitutive Gesichtspunkt an Gewicht einbüßen, demzufolge der in einem föderativen Gemeinwesen erhöhte Koordinationsbedarf unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens effektiv bewältigt werden soll. Der Koordinationsbedarf ist in einem föderativen Gemeinwesen nämlich nicht statisch. Er kann durchaus auch rückläufig sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die öffentlichen Hände im Zuge einer Aufgabenkritik bestimmte Sachmaterien in die gesellschaftliche Verantwortung entlassen212. Denn wenn die in hoheitlicher Verantwortung liegenden Aufgaben weniger werden, vermindert sich naheliegenderweise auch der Koordinationsbedarf zwischen den hoheitlichen Akteuren innerhalb des föderativen Systems. Von einem geringeren Koordinationsbedarf ist des Weiteren auch dann auszugehen, wenn sich das föderative Gemeinwesen in Richtung des Wettbewerbsföderalismus213 fortentwickelt. Schließlich setzt diese Variante des Föderalismus eine Entflechtung der verschiedenen föderalen Ebenen

211 Exemplarisch hierfür waren die Voten des französischen sowie des niederländischen Volkes zum VVE. 212 Dazu etwa Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 35 IV 5; mit nuancierter Kritik v. Weizsäcker / Young / Finger (Hrsg.), Grenzen der Privatisierung, 2006. 213 Hierzu v. Münch, Staatsrecht I. 6. Aufl. 2000, Rn. 607, Hanebeck (Fn. 175), S. 37 f. sowie Zippelius / Würtenberger (Fn. 196), § 14 II 4. 

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

voraus, setzt auf Kompetition statt auf Koordination214. Kommt es indes in der einen oder anderen Weise zu einer Verringerung des Koordinationsbedarfs, fällt es zunehmend schwerer, Abweichungen vom demokratischen Normalmaß damit zu rechtfertigen, dass dies der gleichermaßen effektiven wie föderalismusschonenden Koordination innerhalb des föderativen Gemeinwesens geschuldet sei. Nimmt der Koordinationsdruck ab, verringert sich zugleich die Gefahr, dass die verbleibenden Koordinationsaufgaben zu Überlastungen des föderativen Systems beziehungsweise zu übermäßigen Zentralisierungsschüben führen. Infolgedessen büßt die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm bezogen auf die sich nunmehr bietende Situation an Wertigkeit gegenüber der mit ihr in Ausgleich zu bringenden Volkssouveränitätsnorm ein.

(12) Die Erstreckung der (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung, ihr weitreichendes Initiativmonopol sowie ihre Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung als Ursache von Legitimationsdefiziten Vorstehend ist eingehend dargelegt worden, dass sich selbst diejenigen Einbußen an personeller und materieller Legitimation bis auf Weiteres rechtfertigen lassen, die wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte insoweit in dezisionärer Hinsicht prägen, als das Europäische Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung über unzureichende Dezisionsbefugnisse verfügt. Es nimmt daher nicht wirklich wunder, dass jene überwiegend geringeren Legitimationseinbußen gleichfalls rechtfertigbar sind, die sich mit der Erstreckung der (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung, ihrem weitreichenden Ini­tiativmonopol sowie ihrer Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Ver­waltung und parlamentsabhängiger Regierung verbinden. Insofern kann in einem ersten Schritt ebenfalls auf das Staatsziel der Volkssouveränität sowie auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands rekurriert werden, um die fraglichen Legitimationseinbußen zu rechtfertigen; allerdings gilt auch hier, dass diese Rechtfertigungsansätze aus den dargelegten Gründen allenfalls noch mittelfristig tragen215. Umso nachhaltiger stellt sich die Frage, inwieweit das Rechtfertigungspotenzial der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm auch in Hinblick auf die hier in Rede stehenden Legitimationseinbußen fruchtbar gemacht werden kann. 214

Siehe etwa Gubelt, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 30 Rn. 4. 215 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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(13) Das Initiativmonopol der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Dabei soll zunächst auf die Legitimationseinbußen eingegangen werden, die darauf beruhen, dass der Kommission aufgrund ihres Initiativmonopols speziell auch im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Kodezisionsbefugnisse zukommen. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Legitimationsdefizite nicht schon insoweit rechtfertigen lassen, als die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm in ihrer Staatszieldimension eine möglichst weitgehende Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Belange und Interessen fordert. Denn das Initiativmonopol dient gerade nicht der stärkeren Berücksichtigung gliedstaatlicher Interessen und Belange, sondern zielt im Gegenteil darauf ab, diese zugunsten von Gemeinschaftsinteressen zurückzudrängen216. Schließlich soll durch das Initiativmonopol verhindert werden, dass der EG-Normsetzungsprozess durch konkurrierende mitgliedstaatliche Interessen blockiert wird217 beziehungsweise sich Regelungsfragen zuwendet, die zwar aus der partikularen Sicht einzelner Mitgliedstaaten virulent sein mögen, denen aber in Hinblick auf das Wohl der Union insgesamt keine oder nur nachrangige Bedeutung zukommt. Allerdings lassen sich die in Rede stehenden Legitimationseinbußen zum einen insofern unter Hinweis auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen, als das Initiativmonopol die föderative Integrität der Union abzusichern und zu vertiefen hilft218: In Hinblick darauf, dass die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange zum gegenwärtigen Zeitpunkt gleichermaßen durch Vitalität und Partikularität gekennzeichnet sind, erscheint es als für die Bewahrung der föderativen Integrität der Union jedenfalls geeignet und auch erforderlich, wenn das primäre Gemeinschaftsrecht die Kommission in Hinblick auf den EG-Normsetzungs­ prozess mit einer gewissen Dezisionsmacht ausstattet. Denn vermöge des Initiativmonopols kann die Kommission in höchst effektiver Weise dahingehend steuernd auf den EG-Normsetzungsprozess einwirken, dass dieser nicht nur nicht an den nach wie vor vitalen Partikularinteressen der Mitgliedstaaten scheitert219, sondern zugleich auch auf das Interesse der Union hin orientiert bleibt220. Des Weiteren ist der zu entrichtende demokratische Preis nicht unangemessen hoch, wenn zur Absicherung der föderalen Integrität der Union das Initiativmonopol auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung erstreckt wird. Schließlich vermittelt das Initiativmonopol der Kommission aus den bereits dar­ gelegten Gründen eine nur sehr beschränkte Kodezisionsmacht. Infolgedessen 216

Vgl. Art. 213 Abs. 2 UAbs. 1 und 2 EGV; siehe auch Bieber (Fn. 48), § 4 Rn. 62. Siehe etwa Bauer, Orientierungsnot im Machtdreieck, in: integration 2005, S. 47 (48). 218 Zur konsensfördernden Funktion der Kommission auch Scharpf, Die Problemlösungsfähigkeit der Mehrebenenpolitik in Europa, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 121 (134). 219 Siehe dazu Scharpf, Regieren in Europa, 1999, S. 73. 220 In diesem Sinne auch Raworth (Fn. 89), S. 26. 217

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halten sich auch die durch das Initiativmonopol bedingten Legitimationseinbußen in eng bemessenen Grenzen. Die zu wahrende föderative Integrität ist indes nicht der einzige bundesstaatliche Gesichtspunkt, unter dem die Legitimationseinbußen gerechtfertigt werden können, die sich mit der Erstreckung des Initiativmonopols auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung verbinden. Vielmehr lassen sie sich zum anderen auch insofern unter Rekurs auf das Bundesstaatsprinzip rechtfertigen, als sie auf einem institutionell-prozeduralen Arrangement beruhen, das unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht221. So trägt das Initiativmonopol erstens maßgeblich dazu bei, dass in den koordinationsbedürftigen Sachbereichen in systematisch-strukturierter Abfolge die gebotenen Normsetzungsakte erarbeitet werden222 und deren Erlass im Folgenden nicht am unvermittelten Gegeneinander mitgliedstaatlicher Interessen oder gegebenenfalls am Gegensatz zwischen Rat und Parlament scheitert223. Das Initiativmonopol ermöglicht mit anderen Worten eine effektive Bewältigung des im Rahmen der EU erheblichen Koordinationsbedarfs224, indem es der Kommission in Hinblick auf den EG-Normsetzungsprozess die doppelte Funktion eines ‚Motors‘225 und ‚ehrlichen Maklers‘226 zuordnet. Zweitens lässt sich das Initiativmonopol gleich in doppelter Hinsicht zum exekutiven Föderalismus227 in Bezug setzen. Denn aus den eben dargelegten Gründen stellt sich das Initiativmonopol als Funktionsvoraussetzung dafür dar, dass die mitgliedstaatlichen Regierungen effektiv an der Bewältigung der Koordinations­ aufgaben teilhaben können228. Des Weiteren bleibt die Kommission trotz formaler Unabhängigkeit gerade bei der Wahrnehmung ihres Initiativmonopols an die im Rat repräsentierten Mitgliedstaaten rückgebunden229. Denn letztlich haben ihre Normsetzungsvorschläge nur bei Unterstützung durch die Ratsmehrheit Aussicht auf Positivierung230. Das Initiativmonopol sieht sich vor diesem Hintergrund in der Tat in das Bestreben eingeschrieben, die im Rahmen einer föderativen Struktur er-

221

In diese Richtung wohl auch Epiney u. a. (Fn. 146), S. 170. Vgl. auch Schloh, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, Stand: Juni 2007, A. II. Rn. 232 und Schmitt von Sydow, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV /  EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 211 Rn. 41. 223 Dazu etwa Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 92 sowie Schmitt von Sydow (Fn. 222), Rn. 42. 224 Dazu auch Nass, Europa am Scheideweg, in: Zehetner (Hrsg.), Festschrift für Folz, 2003, S. 243 (248) sowie Schmitt von Sydow (Fn. 222), Rn. 34 ff. 225 Etwa Huber (Fn. 14), § 13 Rn. 33 oder Streinz (Fn. 36), Rn. 336. 226 Dazu etwa Kugelmann (Fn. 153), Rn. 61; vertiefend Nugent (Fn. 89), S. 146 f. 227 Dazu grundlegend Dann (Fn. 36). 228 Insbesondere wird eine „Zerfaserung“ des Gemeinschaftsinteresses vermieden (so Oppermann [Fn. 19], § 5 Rn. 92). 229 Zu den integrationsgeschichtlichen Hintergründen Schmitt von Sydow (Fn. 222), Rn. 38 ff. 230 Schmitt von Sydow (Fn. 222), Rn. 48: „Nichts geschieht gegen den Willen des Rates …“ 222

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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heblichen Koordinationsaufgaben effektiv abzuarbeiten, ohne sich mehr als nötig vom föderalen Prinzip zu lösen.

(14) Die alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Mitunter kommt es, wie dargelegt231, auch deshalb zu Legitimationseinbußen, weil der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung die Dezisionsbefugnis allein zusteht. Nun dient diese institutionell-pro­ zedurale Eigentümlichkeit der EG-Normsetzung ersichtlich nicht der stärkeren mitgliedstaatlichen Mitwirkung an der Unionstätigkeit. Denn ist schon in Hinblick auf das der Kommission Kodezisionsmacht vermittelnde Initiativmonopol fest­ gehalten worden, dass es die Zurückdrängung und nicht etwa die Aufwertung der mitgliedstaatlichen Interessen und Belange bezweckt232, so gilt dies erst recht für ihre Alleindezisionsbefugnis. Unter diesem Gesichtspunkt können die in Rede stehenden Legitimationseinbußen daher nicht nach Maßgabe der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden. Des Weiteren kann die alleinige beziehungsweise vorrangige Dezisionsbefugnis der Kommission auch nicht als Mittel zum Zweck gewertet werden, die föderative Integrität der Union zu sichern und zu erhalten. Denn dieses institutionellprozedurale Arrangement dient nicht dazu, die zentrifugal wirkende Heterogenität der mitgliedstaatlichen Interessen und Belange konstruktiv, also einheitsfördernd zu verarbeiten233. Auch unter diesem Gesichtspunkt scheidet infolgedessen eine von der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm getragene Rechtfertigung des diskutierten Legitimationsdefizits aus. Damit bleibt zu fragen, ob ein rechtfertigender Rekurs auf die grundgesetz­ liche Bundesstaatsnorm nicht zumindest insofern in Betracht kommt, als es sich bei der auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erstreckten Alleindezisionsmacht der Kommission um ein institutionell-prozedurales Arrangement handelt, das unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht. Dies wird man bejahen können. Denn zum einen führt die Übertragung bestimmter Normsetzungsaufgaben auf die Kommission dazu, dass namentlich der Rat entlastet wird und die legislativ zu bewältigenden Koordina­ tionsaufgaben nicht deswegen unerledigt bleiben, weil der Rat als nach wie vor

231

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (3) = S. 1057. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (13) = S. 1079. 233 Zur Kommission als Repräsentantin des Gemeinschaftsinteresses Kugelmann (Fn. 146), Rn. 4. 232

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zentrales Beschlussorgan der EG überbeansprucht wird234. Mit der Zuordnung von Dezisionsbefugnissen zur Kommission soll der EG-Normsetzungsprozess dahingehend effektiviert werden, dass er die von ihm erwartete direktive Koordination leisten kann. Zum anderen wird der föderale Systemgedanke durch dieses institutionellorganisatorische Arrangement aber auch nicht mehr als nötig beeinträchtigt. Zwar weist die Kommission in Hinblick darauf, dass sie von mitgliedstaatlichen Weisungen freigestellt235 und auf das Gemeinschaftsinteresse verpflichtet ist236, Strukturmerkmale auf, die für ein unitarisches Organ typisch sind237. Andernfalls wäre die Kommission auch überhaupt nicht in der Lage, den Rat wirksam zu entlasten. Denn wäre die Kommission strikt an den Rat und die mitgliedstaatlichen Interessen rückgebunden, würden in vielen Fällen eben doch wieder die Ratsmitglieder in die normsetzerischen Entscheidungsprozesse hineingezogen und infolgedessen die effektive Bewältigung der im föderalen Rahmen anfallenden Koordinationsaufgaben gefährdet. Berücksichtigt man jedoch, wie die Kommission bestellt und kontrolliert wird, so erweist sie sich als zugleich auch föderatives Organ: Sie ist nun einmal das Zwitterwesen zwischen regierungsabhängiger Administrative und parlamentsabhängiger Gubernative, als die sie bereits beschrieben wurde238 und an späterer Stelle auch noch eingehender zu würdigen sein wird239. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass die legitimationsmindernde Verortung der alleinigen Dezisionsmacht bei der Kommission tatsächlich geeignet und auch erforderlich ist, um – im Sinne der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm – den innerhalb der EU erheblichen Koordinationsdruck effektiv zu bewältigen und dabei dennoch den föderalen Systemgedanken so weit als möglich aufrechtzuerhalten. Dieses institutionell-prozedurale Arrangement erscheint darin, wie es das Spannungsverhältnis zwischen grundgesetzlicher Bundesstaats- und Volkssouveränitätsnorm auflöst, auch als angemessen. Dafür spricht entscheidend, dass die Kommission im Bereich der hier interessierenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte letztlich nur in Einzelfällen allein- beziehungsweise hauptverantwortlich über den Erlass von Regelungen entscheiden darf, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen. Dies ist im Folgenden schrittweise zu erläutern. Festzuhalten ist zunächst, dass bezüglich wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte originär primärrechtsverliehene Normsetzungsbefugnisse der Kommission im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts so gut wie überhaupt nicht existieren. Denn sofern der Kommission insoweit vereinzelt eine originär 234

Siehe nur Huber (Fn. 14), § 20 Rn. 50 sowie Petersen / Heß, Das Komitologieverfahren im Gemeinschaftsrecht, in: ZUR 2007, S. 567 (568). 235 Vgl. Art. 213 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 1 EGV sowie Bieber (Fn. 48), § 4 Rn. 62. 236 Vgl. Art. 213 Abs. 2 UAbs. 1 EGV. 237 Vgl. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 408 f. 238 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (3) = S. 1057. 239 Unten Kapitel 13 II. 2. a) cc) (16) = S. 1085.

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primärrechtsverliehene Normsetzungsbefugnis eingeräumt wird, trifft das Primärrecht typischerweise bereits selbst die wesentliche legislative Sachbereiche betreffenden wesentlichen Regelungen beziehungsweise erweist es sich als hinreichend bestimmt240. Etwas genauer zu analysieren ist hingegen diejenige Konstellation, in der die Kommission durch Sekundärrecht zum Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte als Durchführungsrecht ermächtigt wird. Insofern spricht nämlich einiges für die Annahme, dass die Anforderungen, die – nach zumindest bisheriger Auslegung des EuGH241 – das primäre Gemeinschaftsrecht an die Regelungsdichte der zur Durchführungsgesetzgebung ermächtigenden Sekundärrechtsnormen stellt, ausnahmsweise hinter den Vorgaben zurückbleiben, die sich insoweit nach deutschem Verfassungsrecht aufgrund von Wesentlichkeitslehre und Art. 80 GG ergeben242. Zumindest auf den ersten Blick ist infolgedessen wohl davon auszugehen, dass Durchführungsnormen der Kommission zwar gewiss nicht häufiger als in engen Ausnahmefällen, aber möglicherweise eben auch nicht nur vereinzelt im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergehen. In Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierendes Durchführungsrecht muss diese prima-facie-Einschätzung nun freilich korrigiert werden. Denn die genauere Analyse ergibt für diese Konstellation, dass von der Kommission erlassenes wesensmäßig marktkonstituierendes Durchführungsrecht letztlich eben doch nur in Einzelfällen im doppelten Sinn wesentliche Fragen243 normativ entscheidet beziehungsweise dem relativen Parlamentsvorbehalt unterfallende Regelungen trifft, ohne dass ihm eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsnorm zugrundeläge. So gilt es erstens zu berücksichtigen, dass sich die Wesentlichkeit einer Regelung und ihre damit verbundene Zugehörigkeit zum Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts entscheidend nach ihrer Grundrechtswesentlichkeit bestimmt244. Für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte gilt nun wiederum, dass sie sich durch eine vergleichsweise geringere Grundrechtsintensität auszeichnen. Schließlich wird der Raum bürgerlicher Freiheit durch solche Normsetzungsakte tendenziell erweitert und nicht verengt245. Vor diesem Hintergrund steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die im Bereich der Marktkonstituierung zu treffenden, im dop 240

Vgl. etwa Art.  86 Abs.  3  EGV  – dazu auch EuGH, verb. Rs. C-271/90, C-281/90 und C-289/90, Slg. 1992, I-5833, Rn. 12 (Telekommunikationsdienste), wo der konkretisierende, mithin Durchführungscharakter der auf der Grundlage von Art.  86 Abs.  3  EGV ergangenen Normsetzungsakte der Kommission betont wird. 241 Siehe etwa Wichard (Fn. 164), Rn. 11. 242 Vgl. etwa Hummer / Obwexer, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 202 Rn. 34 und 35. 243 Siehe dazu unten Kapitel 10 III. 1. f) bb) = S. 769. 244 Hesse (Fn. 173), Rn. 509 sowie Stein / Frank (142), § 20 II 6. 245 Dies zu konstatieren, heißt indes nicht, die demokratische Legitimationsbedürftigkeit solcher wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte zu leugnen – dazu mit dem gebotenen Nachdruck Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 246 (251 ff.).

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pelten Sinn wesentlichen Regelungen wenn schon nicht auf der Ebene des Primärrechts, so doch spätestens auf der der sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen getroffen werden. Schließlich kann unter diesen Voraussetzungen eine erschöpfende Regelung der wesentliche legislative Sachbereiche betreffenden wesentliche Fragen schon relativ früh bejaht werden. Dementsprechend nimmt im Gegenzug auch die Wahrscheinlichkeit deutlich ab, dass wesensmäßig marktkonstituierendes Durchführungsrecht seinerseits wesentliche Regelungen in wesentlichen Bereichen trifft. Damit sieht sich die These bestätigt, dass von der Kommission erlassenes wesensmäßig marktkonstituierendes Durchführungsrecht nicht schon in engen Ausnahmefällen, sondern überhaupt nur in Einzelfällen über wesentliche legislative Sachbereiche betreffende wesentliche Regelungen entscheidet. Zweitens ist zu bedenken, dass der Erlass wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte ein gutes Stück weit durch den Marktbezug vorbestimmt wird. Dies bedeutet zwar nicht, dass sich schon allein aus dem Primärrecht durchweg hinreichend bestimmte Normsetzungsprogramme ergäben246. Jedoch führt der Marktbezug dazu, dass immerhin die das Primärrecht ergänzenden sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen regelmäßig ein Normsetzungsprogramm entbinden, das als hinreichend bestimmt qualifiziert werden kann. Für das wesensmäßig marktkonstituierende Durchführungsrecht hat dies zur Konsequenz, dass es tatsächlich nur in Einzelfällen auf einer unzureichend bestimmten Ermächtigung beruht und folglich auch unter diesem Gesichtspunkt lediglich in Einzelfällen auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts übergreift. Die schrittweise Analyse bestätigt somit, dass der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung eine alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis nur in Einzelfällen zusteht. Der Einzelfallcharakter der diskutierten Konstellation ist nun, wie gesagt, angetan, die insofern zu konstatierenden Legitimationsdefizite als bundesstaatlich nicht nur geeignet und erforderlich, sondern in Ansehung der grundgesetzlichen Demokratienorm auch angemessen zu qualifizieren. Insofern greift dasselbe Argumentationsmuster, das schon in Hinblick auf die vorrangige oder alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat bemüht wurde247.

(15) Das Initiativmonopol der Kommission außerhalb des Bereichs des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Keines großen argumentativen Aufwands bedarf es, um zu begründen, weshalb sich auch diejenigen Legitimationseinbußen als durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt erweisen, die darauf beruhen, dass der Kom 246

Dazu bereits oben Kapitel 11 II. 2. a) aa) = S. 935. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062.

247

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mission mitunter auch in Hinblick auf den Erlass von Normsetzungsakten, die nicht dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, ein Initiativmonopol zusteht. Denn wenn schon die Legitimationseinbußen, die sich mit der Erstreckung des Initiativmonopols auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung verbinden, unter zwei Gesichtspunkten durch die grundgesetzlichen Bundesstaatsnormen rechtfertigbar sind248, so gilt dies erst recht für die nunmehr interessierenden Legitimationseinbußen. Schließlich erweist sich lediglich die Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation als gemindert, wenn das Initiativmonopol außerhalb des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung greift. Diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts führt das Initiativmonopol hingegen überdies dazu, dass das Niveau personeller und materieller Legitimation auch hinsichtlich der – legitimatorisch bedeutsameren – Stufe demokratischer Vermitteltheit unter das grundgesetzliche Normalmaß absinkt.

(16) Die Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung Damit kommen abschließend diejenigen Legitimationseinbußen in den Blick, die der Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zuzuschreiben sind249. Diese lassen sich aus Sicht der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm nicht schon unter dem Gesichtspunkt rechtfertigen, dass es sich insofern um ein institutionell-prozedurales Arrangement handelt, das der besonders intensiven Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Interessen und Belange dient. Schließlich wird die Kommission durch ihre relative Unabhängigkeit vom Rat in die Lage versetzt, sich von den dort repräsentierten mitgliedstaatlichen Partikularinteressen und -belangen ein Stück weit zu emanzipieren, um daneben die namentlich vom Europäischen Parlament zu vergegenwärtigenden Unionsinteressen und -belange in Bedacht nehmen zu können250. Freilich gilt es zu bedenken, dass die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange auf absehbare Zeit recht heterogen und allein schon deshalb vital bleiben dürften. Folglich erweist es sich als für die Bewahrung der föderativen Integrität der Union ohne Weiteres geeignet, wenn das primäre Gemeinschaftsrecht die Kommission nicht als bloße Dienerin der mitgliedstaatlichen Regierungen, sondern zugleich in einem gewissen Distanzverhältnis zum Rat institutionalisiert. Denn durch die re­lative Ratsdistanziertheit sieht sich die Kommission ein Stück weit aus den Konfrontationen herausgenommen, zu denen es aufgrund der Vitalität sowie der Partikularität ihrer Interessen und Belange im Verhältnis der Mitgliedstaaten un 248

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (13) = S. 1079. Zu dieser Zwitterstellung auch Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 195 ff. 250 Siehe dazu Kugelmann (Fn. 153), Rn. 4. 249

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tereinander immer wieder kommen kann; sie ist infolgedessen in der Lage, moderierend auf die Mitgliedstaaten einzuwirken und dadurch einer Verschärfung von mitgliedstaatlichen Interessenkonflikten entgegenzuwirken251. Die hier in Rede stehenden Legitimationsdefizite beruhen somit auf einem institutionell-prozeduralen Arrangement, das die föderative Integrität der Union zu befördern geeignet ist. Weiterhin ist kein Arrangement ersichtlich, das in Hinblick auf das Ziel föderaler Integrität gleich effektiv, aber zugleich demokratieschonender wäre als das einer in relativer Distanz zum Rat stehenden Kommission. Zwar ließen sich die durch die beschriebene Zwitterstellung der Kommission bewirkten Legitimationseinbußen etwa dadurch minimieren, dass das Quorum für Misstrauensvoten des Europäischen Parlaments abgesenkt wird. Doch würde die Kommission dadurch im Wesentlichen zu einem Organ der Mehrheit des Europäischen Parlaments252. Insofern diente eine solche institutionelle Änderung gerade nicht dem Ziel föderativer, sondern höchstens dem unitarischer Integrität. Die Legitimationseinbuße, die sich mit der Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung verbindet, kann schließlich auch als angemessen qualifiziert werden. Denn sie betrifft lediglich Wirkkraft der materiell-kontrollativen Legitimation, nicht aber die für das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation ungleich bedeutsamere Stufe demokratischer Vermitteltheit253. Infolgedessen bleibt diese Legitimationseinbuße beschränkt. Zusätzlich erweist sich diese Legitimationseinbuße noch unter einem weiteren Gesichtspunkt als in Hinblick auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt. Denn das für sie ursächliche institutionell-prozedurale Arrangement dient außerdem dazu, den in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarf unter größtmöglicher Schonung des föderativen Systemgedankens effektiv zu bewältigen. Schließlich besteht die Gefahr, dass eine fundamentale Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten, zu der es wegen der Partikularität und Vitalität der mitgliedstaatlichen Interessen gegenwärtig noch leicht kommen kann, die für notwendig erachtete Koordinierung blockiert. Dieselbe Gefahr existiert, wenn zwischen Rat und Europäischem Parlament ein grundsätzlicher Konflikt ausbricht. Die Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Administrative und parlamentsabhängiger Gubernative, die für die Kommission kennzeichnend ist, bewirkt nun freilich, dass die Kommission nicht vollständig in diese Konflikte einbezogen und von deren paralysierenden Wirkung erfasst wird. Da sie keinen 251

Vgl. dezidiert in diesem Sinne Schmitt von Sydow (Fn. 222), Rn. 65. Dies ist gegenwärtig nicht der Fall. Zutreffend weist daher etwa Bieber, in: v. d. Groeben /  Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 201 EGV Rn. 3 darauf hin, dass im Hinblick auf die das Misstrauensvotum regelnde Bestimmung des Art. 201 EGV berücksichtigt werden müsse, dass sich das Verhältnis von Kommission und Europäischem Parlament nur teilweise mit dem von staatlicher Regierung und Parlament vergleichen lasse. 253 Zu diesen Zusammenhängen allgemein Kapitel 6 V. 1. b) ee) (3) = S. 441. 252

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Weisungen des Rats unterworfen ist254 und das Europäische Parlament ihr nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit das Misstrauen aussprechen kann255, wahrt sie eine gewisse Distanz zu den beiden zentralen Akteuren des EG-Normsetzungsprozesses und zu deren einander mitunter unversöhnlich gegenüberstehenden Belangen und Interessen. Infolgedessen kann sie sowohl im Rahmen ihres Initiativmonopols als auch aufgrund ihrer Alleindezisionsbefugnis darauf hinwirken, dass etwaige Blockaden im EG-Normsetzungsprozess nach Möglichkeit vermieden und ansonsten rasch überwunden werden. Dies aber trägt nicht unmaßgeblich zur effektiven Bewältigung des Koordinationsbedarfs innerhalb der EU bei. Zugleich bleibt das in Rede stehende institutionell-prozedurale Arrangement dem föderativen Gedanken verbunden. Denn die Kommission ist gerade nicht vollständig aus der Abhängigkeit des Rats in die des Europäischen Parlaments entlassen worden. Trotz ihres auf den ersten Blick unitarischen Charakters bleibt die Kommission, wie bereits erörtert, in Hinblick auf den Modus ihrer Bestellung und Kontrolle ein auch föderatives Organ256. Vor diesem Hintergrund erweist sich die beschriebene Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung tatsächlich als ein institutionell-prozedurales Arrangement, das geeignet und nach allem auch erforderlich ist, um den im Rahmen der EU bestehenden Koordinationsbedarf zu decken, ohne sich vom föderalen Systemgedanken zu verabschieden. Dieses Arrangement ist auch als angemessen zu bewerten, denn die rechtfertigungsbedürftige Legitimationseinbuße erweist sich, wie gesagt, in Hinblick darauf als vergleichsweise gering, als sie lediglich die Wirkkraft materiellkontrollativer Legitimation betrifft.

(17) Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigung Die Legitimationsdefizite, die auf die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission zurückzuführen sind, lassen sich unter bis zu zwei Gesichtspunkten durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen, nämlich in Ansehung der zu bewahrenden föderativen Integrität der EU beziehungsweise in Hinblick auf eine gleichermaßen effektive wie föderative Bewältigung des im Rahmen der EU gegebenen Koordinationsbedarfs. Dies gilt freilich uneingeschränkt nur für die gegenwärtige Integrationsphase. Denn in dem Maße, in dem die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange sich nicht mehr in lebhafter Konkurrenz, sondern zunehmender Kongruenz begegnen, fällt es zusehends schwerer, unter Hinweis auf die andernfalls gefährdete föderative Integrität der Union jene Demokratieeinbußen zu rechtfertigen, die aus der institutionell-prozeduralen Stellung der Kommission 254

Art. 213 Abs. 2 UAbs. 1 und 2 EGV; auch Streinz (Fn. 36), Rn. 332. Art. 201 UAbs. 1; auch Streinz (Fn. 36), Rn. 334. 256 Siehe dazu auch Schmitt von Sydow (Fn. 87), Rn. 16 ff.

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erwachsen257. Sollte das föderale System der EU von einer anhaltenden Dynamik liberalistischer Deregulierung258 beziehungsweise intraföderaler Politikentflechtung259 ergriffen werden, verlöre das Argument an Durchschlagskraft, wonach sich eine effektive Bewältigung des innerhalb der EU immensen Koordinationsbedarfs ohne Aufgabe der föderaler Grundstruktur der Union nur um den Preis von Legitimationseinbußen erreichen lässt260. Auf längere Sicht mag daher irgendwann die Situation erreicht sein, in der sich die an die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission anknüpfenden Legitimationseinbußen auch unter Rückgriff auf die grund­ gesetzliche Bundesstaatsnorm nicht (mehr) rechtfertigen lassen.

(18) Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten Es ist gegenwärtig nicht absehbar, wann sich die Legitimationseinbußen, die wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte in Hinblick auf die zu geringen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse und in Ansehung der (Ko-)Dezi­ sionsbefugnisse der Kommission prägen, nicht mehr unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm werden rechtfertigen lassen. Doch aus den eben nochmals angestellten Erwägungen lässt es sich gleichwohl nicht ausschließen, dass die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfende Rechtfertigung längerfristig auch einmal in Wegfall geraten kann. Es macht daher Sinn, erneut zu überlegen, ob nicht noch eine weitere grundgesetzliche Verbürgung Anhaltspunkte dafür bietet, dass die konstatierten Legitimationsdefizite auch dann gerechtfertigt bleiben, wenn der aus der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm sprudelnde Rechtfertigungsquell versiegen sollte. In Betracht zu ziehen ist insofern allenfalls noch das Staatsziel der europäischen Einigung261. Der Vorschlag, sich abschließend nochmals dem Staatsziel der europäischen Einigung zuzuwenden, mag zunächst verwundern. Schließlich wurde dieser Rechtfertigungsgrund bereits insofern bemüht, als die für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte charakteristischen Legitimationseinbußen unter Hinweis auf die Struktureigenheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands gerechtfertigt worden sind262. Dabei ist festgestellt worden, dass dieses Rechtfertigungsmuster nur noch auf mittlere Sicht durchzuschlagen vermag263. 257

Siehe in diesem Sinne auch schon oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (11) = S. 1076. Zur Deregulierung vgl. überblicksartig Ottnad, Art. ‚Deregulierung‘, in: Honecker (u. a.), Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 265 f. 259 Sofern damit die Re-Nationalisierung einzelner aktuell gemeinschaftsrechtlich geregelter Bereiche verbunden wäre, stünde dem kein gemeinschaftsverfassungsrechtliches „Rückschrittverbot“ entgegen – vgl. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 48 EUV Rn. 2. 260 Siehe nochmals oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (11) = S. 1076. 261 Allgemein zu diesem Staatsziel Rojahn (Fn. 210), Rn. 3 f. 262 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059 und Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078. 263 Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 258

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Von daher wird es denn auch nicht mehr mobilisierbar sein, falls, längerfristig gesehen, die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfende Rechtfertigung in Wegfall geraten sollte. Nun ist allerdings an früherer Stelle darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich die Absenkung des grundgesetzlichen Normalmaßes demokratischer Legitimation zwar primär insofern durch das Staatsziel der europäischen Einigung rechtfertigen lässt, als die Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheits­ akts adäquat zu berücksichtigen sind; daneben können unter Rekurs auf das Staatsziel der europäischen Einigung aber auch solche Legitimationsdefizite gerechtfertigt werden, die darauf zurückzuführen sind, dass andere EG-Mitgliedstaaten aufgrund ihrer spezifischen Verfassungstradition geringere Anforderungen an die demokratische Legitimation von Normsetzungsakten stellen und diese verfassungsrechtlichen Wertungen in die kompromisshafte (Fort-)Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Normsetzungsverfahren einbringen264. Unter diesem Gesichtspunkt indes ist das Staatsziel der europäischen Einigung bis hierher allenfalls am Rande diskutiert worden. Ausschlaggebend hierfür war, dass die Verfassungstraditionen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht allzu stark divergieren265, sodass ein Rückgriff auf diese Rechtfertigungsmuster nicht sonderlich versprechend erschien. Die nachstehenden Überlegungen bestätigen diese Einschätzung im Wesentlichen. Sie werden ergeben, dass sich unter Hinweis auf die spezifische Verfassungstradition anderer Mitgliedstaaten zwar einzelne der konstatierten Legitimationsdefizite rechtfertigen lassen. Jedoch können in dieser Perspektive niemals alle Legitimationsdefizite gerechtfertigt werden, die einen beliebigen vom grundgesetzlichen Normalmaß abweichenden wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakt kennzeichnen. Im Ergebnis wird daher festzuhalten sein, dass die Grundgesetzkonformität der konstatierten Legitimationsdefizite mit der Tragfähigkeit des bundesstaatlichen Rechtfertigungsmusters steht und fällt. Das Staatsziel der europäischen Einigung kann unter dem Gesichtspunkt alternativer Verfassungstraditionen erstens zur Rechtfertigung solcher Legitimationsdefizite herangezogen werden, die sich bei in unwesentlichen Regelungsbereichen ergehenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten daraus ergeben, dass die parlamentarischen Dezisionsbefugnisse zu knapp bemessen sind. Denn die verfassungsrechtlichen Ordnungen einzelner EU-Mitgliedstaaten sehen für die Regulierung als unwesentlich eingestufter Sachbereiche autonome Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive vor266. Das Staatsziel der europäischen Einigung gebietet es, bei der Konkretisierung der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes hierauf Bedacht zu nehmen, ohne deshalb gegenläufige Ver 264

Siehe oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. Siehe oben Kapitel 13 II. 1. = S. 1020. 266 Hierauf weist – im Ansatz zutreffend – Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Euro­ päischen Gemeinschaft, in: Badura / Scholz (Hrsg.), Festschrift für Lerche, 1993, S. 425 (426 und 431) hin. 265

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fassungstraditionen anderer Mitgliedstaaten über Gebühr zu vernachlässigen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich diejenigen der vorstehend diagnostizierten Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß als mit Rücksicht auf die alternative Verfassungstradition anderer Mitgliedstaaten rechtfertigbar, die mit den im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments insoweit zusammenhängen, als sich dem Grundgesetz zufolge der absolute Parlamentsvorbehalt auch auf unwesentliche Regelungsbereiche erstreckt. Dafür streitet insbesondere, dass sich bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten die Legitimationsdefizite, die aus den im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts unzureichenden Dezisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments resultieren, ohnehin auf bloße Ausnahme- oder gar auf Einzelfälle beschränken. Dies gilt erst Recht dann, wenn man insofern nur die in unwesentlichen legislativen Sachbereichen ergehenden Normsetzungsakte in den Blick nimmt. Wegen dieses Ausnahmecharakters können die Legitimationsdefizite, die sich bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten aus den in unwesentlichen Regelungsbereichen zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnissen ergeben, durchaus als Folge eines Kompromisses gedeutet werden, der zwischen den teils stärker exekutivisch orientierten267, teils aber auch klassisch parlamentarischen Verfassungstraditionen268 der verschiedenen EUMitgliedstaaten erzielt wurde. Infolgedessen erscheint in Hinblick auf besagte Legitimationsdefizite eine auf das Staatsziel der europäischen Einigung rekur­ rierende Rechtfertigung denn auch problemlos als möglich. Freilich muss man sich davor hüten, aus dieser Rechtfertigungsmöglichkeit voreilig allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen. Denn rechtfertigbar ist unter dem geschilderten Blickwinkel nur, dass die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte zu einem relativ geringen Teil in der Hinsicht vom grundgesetzlichen Normalmaß abweichen, als dieses auch in Hinblick auf in unwesentlichen Regelungsbereichen ergehende Normsetzungsakte entweder eine nicht zu knapp bemessene parlamentarische Kodezisionsbefugnis oder aber eine hinreichend bestimmte parlamentsgesetzliche Ermächtigungsgrundlage voraussetzt. Nicht gerechtfertigt werden daher von vornherein Legitimationsdefizite, die wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte insofern prägen, als sie in wesentlichen Regelungsbereichen ergehen. Aber auch bei in unwesentlichen Regelungsbereichen ergehenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten bleiben Legitimationsdefizite ungerechtfertigt. So lässt es sich unter Berufung auf das Staatsziel der europäischen Einigung im Allgemeinen und unter Hinweis 267 Paradigmatisch ist insofern die französische Verfassungsrechtslage. Dazu etwa Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 97 ff. 268 Prototypisch hierfür ist die britische Verfassungsrechtslage  – vgl. Knemeyer (Fn.  267), S. 86 ff.

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auf die für andere mitgliedstaatlichen Verfassungen selbstverständliche Existenz autonomer Exekutivverordnungen im Besonderen nicht rechtfertigen, dass EGNormsetzungsakte, die in unwesentlichen Regelungsbereichen ohne entscheidende Mitwirkung des Europäischen Parlaments ergehen, auch deshalb defizitär sind, weil die Dezisionsmacht insofern beim Rat und / oder der Kommission liegt und die von diesen Exekutivorganen vermittelte materiell-kontrollative Legitimation eine im Vergleich zu den mitgliedstaatlichen Exekutiven geringere Wirkkraft aufweist. Zweitens mag den unterschiedlichen Verfassungstraditionen der EU-Mitgliedstaaten und insofern dem Staatsziel der europäischen Einigung auch dort ein gewisses Rechtfertigungspotenzial zukommen, wo sich die parlamentarischen Dezisionsbefugnisse, die in Hinblick auf in wesentlichen Regelungsbereichen ergehende wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte bestehen, als zu knapp bemessen erweisen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass nach deutschem Verfassungsrecht eine bestimmte Regelung dem Parlamentsgesetzgeber vorbehalten ist, weil es sich um eine wesentliche Bereiche betreffende wesentliche Regelung handelt beziehungsweise der Bestimmtheitsgrundsatz dies fordert, indessen das Verfassungsrecht anderer Mitgliedstaaten einen Erlass der entsprechenden Regelung durch die Exekutive nicht sperrt269. Allerdings wird sich eine solche Diskrepanz zwischen dem Grundgesetz und dem Verfassungsrecht anderer Staaten nur punktuell ausmachen lassen. Denn selbst für EU-Mitgliedstaaten, in denen der dem Parlament vorbehaltene Regelungsbereich vergleichsweise restriktiv gefasst ist, lässt sich konstatieren, dass der dortige Parlamentsvorbehalt im Grunde genommen mit den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre kongruiert270. Infolgedessen wird man es denn auch höchstens in Einzelfällen als durch das Staatsziel der europäischen Einigung gerechtfertigt ansehen können, wenn Legitimations­ defizite daraus erwachsen, dass die Entscheidungen, die in wesentlichen legislativen Sachbereichen über wesentliche Fragen zu treffen sind, nicht in unmittelbar parlamentsvermittelter Legitimation erwachsen. Zudem ist auch hier zu berücksichtigen, dass die eben entwickelte und ohnedies nur in Einzelfällen greifende Rechtfertigungsmöglichkeit nicht zugleich auch diejenigen Legitimationsdefizite erfasst, die sich daraus ergeben, dass die euro­ päischen Exekutivorgane, also Rat und Kommission, ein geringeres Maß an materiell-kontrollativer Legitimation vermitteln, als dies bei den mitgliedstaatlichen Exekutiven von Staatsverfassungs wegen der Fall ist271. 269

Dazu – wenn auch etwas zu weitgehend – Frowein, Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, in: EuR 1983, S. 301 (305 f.). 270 Vgl. zu Frankreich nur Arnold, Das französische Verfassungsrecht in der deutschen Rechtswissenschaft, in: Beaud / Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtwissenschaft?, 1999, S. 237 (251). 271 Zu diesen Legitimationsdefiziten oben Kapitel 13 II. 1. c) aa) = S. 1028 und Kapitel 13 II. 1. c) cc) = S. 1033.

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Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass der Rekurs auf die spezifischen Verfassungstraditionen anderer EU-Mitgliedstaaten tatsächlich nur in äußerst beschränktem Maße dazu beizutragen vermag, für wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte charakteristische Legitimationsdefizite zu rechtfertigen. Insbesondere wäre dieses Rechtfertigungsmuster, für sich betrachtet, bei weitem nicht in der Lage, den gänzlichen Wegfall der aus der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm erwachsenden Rechtfertigungsmöglichkeiten zu kompensieren.

b) Das bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Soweit sie im Mitentscheidungsverfahren in Geltung gesetzt werden, übertreffen wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte durchweg das für sie in revisionärer Hinsicht grundgesetzlich vorgegebene Normalniveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation. Ergehen sie als Durchführungsrecht auf der Grundlage von im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen, wird das grundgesetzliche Normalmaß zumindest gewahrt. Demgegenüber schließen auf andere Weise erlassene wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte nur, aber immerhin jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts zu dem grundgesetzlich vorgezeichneten Normalmaß auf. Abweichendes gilt lediglich für diejenigen Durchführungsbestimmungen, die auf einer ausnahmsweise im Anhörungsverfahren erlassenen sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm beruhen: Sie erreichen in ihrer Mehrheit nicht einmal jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts das grundgesetzliche Normalmaß. Freilich lassen sich alle in diesem Zusammenhang zu konstatierenden Legitimationslücken ausnahmslos rechtfertigen – und zwar nicht zuletzt aufgrund eines neuerlichen Rekurses auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm des Art. 20 GG.

aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Zu dem Normalmaß personeller und materieller Legitimation, das Art. 59 GG im Anwendungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung vorsieht, schließen EG-Normsetzungsakte unter den folgenden Voraussetzungen auf: Sie müssen den Grad demokratischer Abgeleitetheit einhalten, der die innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts insofern prägt, als sie erstens zu rund drei Fünfteln der Revisionsmacht unterworfen sind, die Exekutive und Bundestag beziehungsweise Exekutive, Bundestag und Bundesrat je-

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weils gemeinsam ausüben, und sie zweitens zu zwei Fünfteln von der Revisionsbefugnis erfasst werden, die allein der Exekutive zusteht272. Das dieserart zu bestimmende grundgesetzliche Normalmaß wahren EG-Normsetzungsakte jedenfalls insofern, als sie im Rahmen von Art.  48  EUV an den Volkswillen rückgebunden sind. Denn Art.  48  EUV verweist für die Änderung des primären Gemeinschaftsrechts im Kern auf die Verfahren, die sich in den demokratischen Verfassungsstaaten zur Änderung von völkerrechtlichen Verträgen etabliert haben273. Art. 48 EUV lässt sich mit anderen Worten als Analogon zu dem insofern prototypischen Art. 59 GG lesen. Freilich erschöpft sich die revisionäre Legitimation von EG-Normsetzungs­ akten nicht in den an Art. 48 EUV anschließenden revisionären Legitimationszusammenhängen. Denn auf EG-Normsetzungsakte führt zumindest ein zusätzlicher revisionärer Legitimationszusammenhang zurück274. Die zusätzlichen Legitimationszusammenhänge knüpfen ihrerseits an die Revisionsbefugnisse an, die EGOrganen in Hinblick auf die betreffenden EG-Normsetzungsakte zukommen. Insofern ergibt sich folgendes Bild: Soweit eine bestimmte Revision wesensmäßig marktkonstituierender EG-Normsetzungsakte nur durch eine Änderung des Primärrechts bewirkt werden kann und also die Revisionsmacht der EG-Organe materiell-direktiv gesperrt ist, werden die betreffenden Normsetzungsakte revisionär allein im Rahmen von Art. 48 EUV rückgebunden. Der Grad demokratischer Abgeleitetheit, den der primärrechtlich vorgegebene Regelungsgehalt des betreffenden EG-Normsetzungsakts in revisionärer Hinsicht aufweist, entspricht insoweit demjenigen, den Art. 59 GG im Anwendungsbereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung als grundgesetzliches Normalmaß vorgibt. Soweit sich indes die Revision eines EG-Normsetzungsaktes auch ohne Änderung des Primärrechts bewirken lässt, soweit also die Revisionsmacht der EGOrgane nicht materiell-direktiv gesperrt ist, wird der fragliche Normsetzungsakt – außer von dem an Art. 48 EUV anschließenden – noch von mindestens einem weiteren revisionären Legitimationszusammenhang erfasst. Insoweit bestimmt sich der für den betreffenden Normsetzungsakt in revisionärer Hinsicht charakteris­ tische Grad demokratischer Abgeleitetheit anteilig nach allen ihn erfassenden revisionären Legitimationszusammenhängen275. Ob er dabei den Grad demokratischer Abgeleitetheit wahrt oder gar unterschreitet, den Art. 59 GG als für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Normsetzungsakte normal qualifiziert, hängt entscheidend davon ab, in welchem Normsetzungsverfahren er erlassen worden ist und demnach auch wieder revidiert werden kann.

272 Zur Rekonstruktion dieses Legitimationsniveaus siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (8) = S. 803. 273 In diesem Sinn auch Oppermann (Fn. 19), § 6 Rn. 52. 274 Siehe oben Kapitel 13 II. 1. d) = S. 1036. 275 Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433.

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Es bleibt, darauf hinzuweisen, dass die in diesem Gliederungsabschnitt interessierenden EG-Normsetzungsakte, nämlich die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten, in nur sehr beschränktem Umfang allein im Rahmen von Art. 48 EUV rückgebunden werden. Denn dieser revisionäre Legitimationszusammenhang wird, wie gesehen, nur dort nicht von zumindest einem weiteren Legitimationszusammenhang ergänzt, wo das Primärrecht die Norm­ setzungstätigkeit von EG-Rechtsetzungsorganen determiniert. Enthält nämlich ausnahmsweise bereits das Primärrecht detaillierte Vorgaben, die für wesentliche legislative Sachbereiche wesentliche Regelungen treffen beziehungsweise die sekundärrechtlich einzulösenden Normsetzungsprogramme hinreichend bestimmt vorgeben, so werden die auf dieser Grundlage erlassenen EG-Normsetzungsakte zwar über weite Strecken allein im Rahmen vom Art. 48 EUV rückgebunden; sie unterfallen dann aber auch nicht länger dem Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts.

(1) Im Mitentscheidungsverfahren erlassene Normsetzungsakte EG-Normsetzungsakten, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen wurden und in diesem Verfahren folglich auch revidiert werden können, wächst in revisionärer Hinsicht ein deutlich höheres Maß an personeller und materiell-kon­ trollativer Legitimation zu, als Art.  59  GG dies für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste Normsetzungsakte fordert: Soweit diese Normsetzungsakte zum ungleich geringeren Teil allein über das Primärrecht revisionär rückgebunden sind276, entspricht der in revisionärer Hinsicht realisierte Grad demokratischer Abgeleitetheit, wie eben dargetan, dem grundgesetzlichen Normalmaß. Soweit sie indes anteilig auch durch den revisionären Legitimationszusammenhang geprägt werden, der an die Vorschriften über das Mitentscheidungsverfahren anschließt, wird das grundgesetzliche Normalmaß klar überstiegen. Denn die revisionäre Legitimation wird insoweit annähernd hälftig unmittelbar über das Europäische Parlament vermittelt – und nicht, wie von Art. 59 GG vorgesehen, teils überwiegend, teils sogar allein über die Exekutive. Infolgedessen ist die personelle und materiell-kontrollative Legitimation, die den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten revisionär zuwächst, in deutlich größerem Umfang, als von Art. 59 GG gefordert, auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit angesiedelt277. 276

Oben Kapitel 10 III. 5. c) = S. 854. Der Befund, dass die im Mitentscheidungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht ein klar niedrigerer Grad demokratischer Abgeleitetheit charakterisiert, als Art. 59 GG dies für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasste völkerrechtsvertragliche Normsetzungsakte vorgibt, mag auf den ersten Blick verwundern. Denn dieser Befund weicht von dem ab, der in dezisionärer Hinsicht gemacht wurde: Sehr viel zurückhaltender war dort davon die Rede, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte denjenigen Grad demokratischer Abgeleitetheit jedenfalls nicht über 277

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(2) Im Anhörungsverfahren erlassene Normsetzungsakte Wird das Normalmaß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das Art.  59  GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte vorsieht, von den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten noch deutlich überschritten, so wird es von den im Anhörungsverfahren ergehenden Normsetzungsakten bereits unterschritten278. Freilich wird das in Rede stehende grundgesetzliche Normalmaß auch von diesen EG-Normsetzungsakten immerhin insofern gewahrt, als sie – zu einem indes nur geringen Anteil – allein nach Maßgabe von Art. 48 EUV rückgebunden sind. Soweit die fraglichen EG-Normsetzungsakte außer im Rahmen von Art.  48 EUV noch nach Maßgabe der Vorschriften über das Anhörungsverfahren revi­ sionär rückgekoppelt werden, bleiben sie hinter dem Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation zurück, das sich aus Art. 59 GG für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ableitet. Denn die Vorschriften über das Anhörungsverfahren sehen nicht einmal rudimentäre parlamentarische Revisionsbefugnisse vor und entbinden daher eine ausschließlich mehrfach vermittelte revi­sionäre Legitimation. In dem Umfang, in dem dieser revisionäre Legitimationsstrang mit demjenigen kongruiert, der an Art. 48 EUV anknüpft, wird folglich in revisionärer Hinsicht ein Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation erzeugt, das unterhalb desjenigen anzusiedeln ist, das im Rahmen von Art. 48 EUV allein erzeugt wird und seinerseits, wie gesagt, dem grundgesetzlichen Normalmaß entspricht. Legitimationstheoretischer Hintergrund ist, dass kongruierende Legitimationszusammenhänge in einem Konkurrenz- und keinem Kumulativverhältnis stehen279.

schreiten, der sich aus Art. 59 GG für solche Norm­setzungsakte ergibt, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen. Dies ist freilich nicht nur nicht (wertungs-) widersprüchlich, sondern durchaus konsequent. Zu berücksichtigen ist nämlich zweierlei. Erstens ist es die den EG-Normsetzungsakten aufgrund des Primärrechts zuwachsende materielldirektive Legitimation, die verhindert, dass der Grad demokratischer Abgeleitetheit, der die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht charakterisiert, deutlich unterhalb desjenigen liegt, den Art. 59 GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte vorgibt. Da es nun freilich eine materiell-direktive Legitimation in revisionärer Hinsicht gerade nicht gibt, kann es im Ergebnis nicht verwundern, wenn die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht stärker über das grundgesetzliche Normalmaß hinauswachsen als in dezisionärer Hinsicht. Zweitens sei an dieser Stelle schon darauf hingewiesen, dass das Primärrecht auch in revisionärer Hinsicht zu einer gegenüber dem grundgesetzlichen Normalmaß abgeschwächten Legitimation führt – aber eben nicht in Hinblick auf den Grad demokratischer Abgeleitetheit, wohl aber bezüglich des Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. 278 Auf das Zustimmungsverfahren sowie das Anhörungsverfahren wird nicht eingegangen. Diesen Verfahren kommt im Bereich der marktkonstituierenden Normsetzungsakte zumindest jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung keine Bedeutung (mehr) zu. Vgl. auch schon oben Fn. 112. 279 Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433.

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(3) Normsetzungsakte, die auf originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnissen der Kommission beruhen Wenngleich sie bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts so gut wie keine Rolle spielen280, sei der Vollständigkeit halber noch kurz auf die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte eingegangen, die auf originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnissen der Kommission beruhen. Was die Legitimationsverhältnisse bei diesen Normsetzungsakten anbelangt, kann im Wesentlichen auf die Ausführungen zu den im Anhörungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten verwiesen werden. Von den dort herrschenden Legitimationsverhältnissen unterscheiden sich die hier interessierenden lediglich insofern, als sich über die Kommission ein (noch) geringeres Maß an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation Bahn bricht als über den Rat und insofern das grundgesetzliche Normalmaß noch stärker unterschritten wird als bei den im Anhörungsverfahren ergangenen Normsetzungsakten.

(4) Als Durchführungsrecht erlassene Normsetzungsakte Durchführungsrecht ergeht im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts nur ausnahmsweise281. Für diese Ausnahmekonstellation lässt sich Folgendes festhalten: Soweit Durchführungsrecht zu sekundärem Gemeinschaftsrecht allein im Rahmen von Art.  48  EUV revisionär rückgebunden ist, wird das Normalmaß gewahrt, das Art.  59  GG im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts vorsieht282. Allerdings wird es nur zu einem beschränkten Teil allein im Rahmen von Art. 48 EUV revisionär legitimiert. Im Übrigen gilt es zu differenzieren. Soweit das Durchführungsrecht – außer durch eine Modifikation des Primärrechts – nur durch eine Änderung der sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm revidiert werden kann, wird es außer im Rahmen von Art.  48  EUV auch noch nach Maßgabe der Verfahrensvorschriften revisionär rückgekoppelt, die für den Erlass der Ermächtigungsnorm maßgeblich waren. Nun ist das insoweit in revisionärer Hinsicht generierte Legitimations­ niveau bereits vorstehend mit dem Normalmaß abgeglichen worden, das Art. 59 GG für den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung vorgibt. Denn der Sache nach geht es insofern um das Niveau demokratischer Legitimation, das die im Mitentscheidungs- beziehungsweise Anhörungsverfahren ergangenen Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht aufweisen. Übertragen auf das Durchführungsrecht ergibt sich daher Folgendes: Soweit es außer über das Primärrecht nur noch über die für den Erlass der Ermächtigungsnorm maßgeb­ 280

Siehe oben Fn. 148 und 179. Oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938. 282 Oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) = S. 1092.

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lichen Verfahrensvorschriften revisionär rückgebunden ist, vermag es das grundgesetzliche Normalmaß dann zu wahren (und sogar deutlich zu übertreffen), wenn die betreffende Ermächtigungsnorm im Mitentscheidungsverfahren ergangen ist283. Beruht das Durchführungsrecht hingegen auf einer Ermächtigungsnorm, die im Anhörungsverfahren ergangen ist, so unterschreitet es das grundgesetzliche Normalmaß bereits insoweit, als es lediglich im Rahmen von Art. 48 EUV und der für den Erlass seiner Ermächtigungsnorm maßgeblichen Verfahrensnormen revisionär rückgebunden wird284. Nun wird das Durchführungsrecht partiell aber auch durch drei kongruierende revisionäre Legitimationszusammenhänge geprägt. Zu demjenigen, der an Art. 48 EUV anknüpft, und dem, der an die für den Erlass der sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm maßgeblichen Verfahrensvorschriften anschließt, tritt noch ein weiterer revisionärer Legitimationszusammenhang. Dieser greift im Rahmen des Verfahrensrechts Platz, das den Erlass (und eben auch die Revision) von Durchführungsnormen determiniert. Er vermittelt demzufolge eine ausschließlich mehrfach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation und bleibt insofern deutlich hinter den Anforderungen zurück, die sich aus Art.  59  GG für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ergeben. Dieser zusätzliche revisionäre Legitimationszusammenhang erfasst die Durchführungsnormen insoweit, als die Revisionsmacht der für ihren Erlass Verantwortlichen weder durch materielle Direktiven des Primär- noch durch solche des Sekundärrechts gesperrt ist. Für die Frage, ob Durchführungsrecht das durch Art.  59 GG für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts vorgezeichnete Legitimationsniveau wahrt, ergibt sich vor diesem Hintergrund Folgendes: Beruht das Durchführungsrecht auf Ermächtigungsnormen, die im Anhörungsverfahren ergangen sind, so verfehlt es das grundgesetzliche Normalmaß in jedem Fall. Denn in diesen Fällen bleibt das Durchführungsrecht schon insofern hinter den grundgesetzlichen Erwartungen zurück, als es revisionär über die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge rückgebunden wird, die an Art. 48 EUV beziehungsweise an die Vorschriften über den Erlass seiner Ermächtigungsnorm anknüpfen. Folglich wird das grundgesetzliche Normalmaß erst recht dort unterboten, wo zu den zwei genannten ein weiterer revisionärer Legitimationszusammenhang hinzutritt, der sich seinerseits als in Hinblick auf das Normalmaß sogar deutlich defizitär erweist. Abweichendes gilt in den Fällen, in denen das Durchführungsrecht auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm beruht. Denn hier übersteigt das Durchführungsrecht das grundgesetzliche Normalmaß jedenfalls insoweit deutlich, als es im Rahmen von Art.  48  EUV und nach Maßgabe von Art. 251 EGV revisionär rückgebunden ist. Nun mag zwar das bereichsweise Hin 283

Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) (1) = S. 1094. Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) (3) = S. 1096.

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zutreten des dritten revisionären Legitimationszusammenhangs, der an die Revisionsbefugnis der Kommission285 anknüpft, dazu führen, dass das von Art. 59 GG für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts vorgegebene Legitimationsniveau unterschritten wird. Allerdings weist das Durchführungsrecht insofern ein lediglich eingeschränktes Legitimationsdefizit auf. Schließlich bleibt sein Legitimationsniveau auch insofern durch die im Rahmen von Art.  251  EGV ver­ fangende revisionäre Legitimation geprägt, die ihrerseits das grundgesetzliche Normalmaß deutlich übertrifft286. Ohnedies greift der an die Revisionsbefugnis der Kommission anschließende revisionäre Legitimationsstrang, wie gesagt, nur bereichsweise. Vor diesem Hintergrund lässt sich bilanzierend festhalten, dass Durchführungsrecht, das auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm beruht, in revisionärer Hinsicht das Niveau demokratischer Abgeleitetheit jedenfalls nicht unterschreitet, das Art. 59 GG im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts vorgibt.

bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte Für innerstaatlich rezipierte Normsetzungsakte des Völkervertragsrechts, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, sieht Art.  59  GG in revisionärer Hinsicht einen Grad demokratischer Abgeleitetheit vor, der sich grundsätzlich287 aus zwei inkongruenten revisionären Legitimations­ zusammenhängen rekonstruiert288: Soweit es um die Aufhebung beziehungsweise Kündigung eines normativen Verwaltungsabkommens geht oder dessen angestrebte Revision von einer parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung gedeckt ist, liegt die legitimationsstiftende Revisionsmacht allein bei der Exekutive. Der für den betreffenden Normsetzungsakt prägende Grad demokratischer Abgeleitetheit bestimmt sich insofern allein nach der Leistungsstärke der personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge, durch die der Revisionsverzicht der Exekutive demokratisch rückgebunden wird. Soweit die Regierungsexekutive indes durch die materielle Direktive des ermächtigenden Parlamentsgesetzes daran gehindert ist, die Revisionsmacht allein auszuüben, wird diese gemeinsam von Parlament und Exekutive ausgeübt. Insoweit wächst den normativen Verwaltungsabkommen in revisionärer Hinsicht personelle und materiell-

285 Beziehungsweise an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Kommission und Ausschuss der Staatenvertreter, sofern die Durchführungsnorm im Regelungsverfahren erlassen wird. 286 Oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) (1) = S. 1094. 287 Zu den Besonderheiten, die gelten, wenn der Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung greift, siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) dd) (2) = S. 819. 288 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (7) = S. 801.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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kontrollative Legitimation nicht nur über die Exekutive, sondern zugleich – wenn auch nicht in gleichem Maße – unmittelbar vom Parlament zu. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass normative Verwaltungsabkommen in größerem Umfang über den rein exekutiven Legitimationszusammenhang revisionär rückgekoppelt werden als über denjenigen, der an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Exekutive und Parlament anschließt. Dies hängt damit zusammen, dass der Exekutive schon über die parlamentarische Verordnungsermächtigung eine beachtliche Alleinrevisionsbefugnis zuwächst. Durch die parlamentarische Verordnungsermächtigung indes werden Normsetzungsakte in etwa hälftig revisionär rückgekoppelt289. Hinzu tritt, dass völkerrechtliche Abkommen von der Exekutive auch gekündigt beziehungsweise im Zusammenwirken mit den Vertragspartnern aufgehoben werden können, ohne dass es der Zustimmung des Parlaments bedürfte. Der in Ansehung dieser Legitimationszusammenhänge zu rekonstruierende Grad demokratischer Abgeleitetheit ergibt das Normalmaß, an dem sich  – jedenfalls in einem ersten Schritt290 – diejenigen wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte von Grundgesetzes wegen messen lassen müssen, die vom Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind. Dabei zeigt die genauere Analyse, dass die in Rede stehenden EG-Normsetzungsakte dieses für sie maßgebliche Normalmaß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation – von einer Ausnahme abgesehen – wahren.

(1) Im Mitentscheidungsverfahren erlassene Normsetzungsakte Wenn die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakte bereits diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts das grundgesetzliche Normalmaß überschreiten, muss dies erst recht für den Bereich jenseits des absoluten Par­lamentsvorbehalts gelten. Denn hier ist das grundgesetzliche Normalmaß ent­ sprechend geringer. Im Einzelnen ergibt sich dabei folgendes Bild: Ergehen EGNormsetzungsakte im Mitentscheidungsverfahren, weisen sie, sofern ihre Abänderung allein im Rahmen von Art. 48 EUV möglich ist, in revisionärer Hinsicht ein Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation auf, das das grundgesetzliche Normalmaß zur einen Hälfte zumindest wahrt, zur anderen Hälfte sogar übersteigt. So wird im Rahmen von Art. 48 EUV in jedem Fall das Legitimationsniveau erreicht, das Art. 59 GG für normative Verwaltungsabkommen insoweit vorsieht, als diese nicht schon aufgrund der parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung allein von der Exekutive revidiert werden können. Soweit nämlich normative Ver 289

Dazu und zum Folgenden oben Kapitel 10 III. 2. c) cc) (2) = S. 814. Siehe oben Kapitel 10 II. 5. d) = S. 721.

290

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waltungsabkommen von der Exekutive zwar ohne Mitwirkung des Parlaments gekündigt beziehungsweise vertraglich aufgehoben werden können, ansonsten aber nur mit Zustimmung des Parlaments revidiert werden können, vollzieht sich ihre revisionäre Legitimation in derselben Weise, wie Art. 59 GG dies für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte völkerrechtsvertraglicher Provenienz vorsieht. Dies wiederum entspricht den revisionären Legitimationszusammenhängen, die Art. 48 EUV entbindet291. Nun werden normative Verwaltungsabkommen freilich auch im Rahmen der parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsnorm an die – alleinige – Revisionsmacht der Exekutive rückgebunden, und zwar ungefähr hälftig. Das insofern generierte Niveau revisionärer demokratischer Legitimation überschreiten EG-Normsetzungs­ akte, soweit sie allein über Art. 48 EUV revisionär rückgebunden sind. Denn über Art. 48 EUV bricht sich gerade keine rein exekutivische revisionäre Legitimation Bahn. Somit bestätigt sich, dass, sofern ihre Revision nur im Rahmen von Art. 48 EUV möglich ist, EG-Normsetzungsakte – und mithin auch die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen – das Niveau demokratischer Legitimation zur einen Hälfte wahren, zur anderen Hälfte übertreffen, das Art. 59 GG für außerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts angesiedelte Normsetzungsakte vorsieht. Soweit die Revision von im Mitentscheidungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungsakten nicht nur im Rahmen von Art. 48 EUV, sondern zugleich auch nach Maßgabe von Art. 251 EGV betrieben werden kann, wächst ihnen in revisionärer Hinsicht ein durchgehend höheres Maß an personeller und materiell-kontrol­ lativer Legitimation zu, als Art. 59 GG dies für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommene Normsetzungsakte vorgibt292. Denn soweit sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit teils nach dem an Art. 48 EUV, teils nach dem an das Mitentscheidungsverfahren anschließenden Legitimationszusammenhang bestimmt, wird er in stärkerem Maße durch unmittelbar parlaments­ vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge geprägt, als Art. 59 GG dies dort vorsieht, wo die Exekutive gemeinsam mit dem Parlament die Revisionsmacht ausübt – und erst recht stärker als dort, wo Art. 59 GG eine rein exekutive Revisionsbefugnis genügen lässt.

291

Oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) = S. 1092. Die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte überschreiten das Normalmaß des Art. 59 GG bereits insofern, als dieses für Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, ein entsprechend höheres Niveau von in revisionärer Hinsicht verfangender personeller beziehungsweise materiell-kontrollativer Legitimation vorsieht. Erst recht wahren die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EGNormsetzungsakte daher das niedrigere Niveau von in revisionärer Hinsicht erzeugter personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das Art. 59 GG für vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommene EG-Normsetzungsakte vorgibt. 292

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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(2) Im Zusammenarbeitsverfahren erlassene Normsetzungsakte Im Zusammenarbeitsverfahren ergehen wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte ausschließlich jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung293. Das durch Art. 59 GG in revisionärer Hinsicht vorgezeichnete Normalmaß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation erreichen sie insoweit mühelos. So wird das grundgesetzliche Normalmaß in dem Umfang, in dem diese Normsetzungsakte allein über das Primärrecht revisionär rückgebunden sind, zur Hälfte gewahrt, zur anderen Hälfte überschritten294. Soweit die im Zusammenarbeitsverfahren ergangenen Normsetzungsakte außer über das Primärrecht zugleich noch im Rahmen von Art. 252 EGV revisionär rückgebunden werden, ergibt sich bei bilanzierender Betrachtung, dass sie das Legitimationsniveau übertreffen, das Art. 59 GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierte Normsetzungsakte vorgibt. Dies sei im Folgenden veranschaulicht. Die kongruierend an Art. 48  EUV und Art. 252 EGV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge weisen ein höheres Niveau demokratischer Legitimation auf, als Art. 59 GG dies dort vorgibt, wo die Revision eines Normsetzungsakts völkerrechtsvertraglicher Provenienz allein von der Exekutive bewirkt werden kann; denn Art. 59 GG lässt insofern eine ausschließlich mehrfach vermittelte revisionäre Legitimation genügen, wohingegen den im Zusammen­ arbeitsverfahren ergehenden EG-Normsetzungsakten eine revisionäre Legitimation zuwächst, die immer auch von auf die Korevisionsmacht des Europäischen Parlaments zurückführenden Legitimationszusammenhängen geprägt ist. Dafür generieren die beiden an Art. 48  EUV beziehungsweise Art. 252 EGV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge ein niedrigeres Legitimationsniveau, als Art. 59 GG dies insoweit vorsieht, als die Revision innerstaatlich rezipierter Normsetzungsakte des Völkerrechts nur durch Exekutive und Parlament gemeinsam bewirkt werden kann. Im Rahmen bilanzierender Betrachtung ist nun zunächst festzuhalten, dass die konstatierten Abweichungen vom Normalmaß – eine nach unten, die andere nach oben – im Wesentlichen vergleichbar sind: In dem einen Fall weisen die im Zusammenarbeitsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte ein leichtes Defizit an parlamentsvermittelter Legitimation auf, in dem anderen Fall ein ähnlich leichtes Plus. Zwar macht es insofern sicherlich einen gewissen Unterschied, ob man das außerhalb des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts Platz greifende Normalmaß zugrundelegt oder auf das im Bereich des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts geltende Normalmaß abstellt. Denn im Hinblick auf das vom Grundgesetz jenseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts vorgegebene Normalmaß 293

Siehe oben Fn. 118. Oben Kapitel 13 II. 2. b) bb) (1) = S. 1099.

294

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dürften die Abweichungen nach unten die nach oben geringfügig übersteigen; in Ansehung des vom Grundgesetz diesseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts vorgezeichneten Normalmaßes wird das Gegenteil der Fall sein. Diese feinen Unterschiede brauchen hier jedoch nicht weiter vertieft zu werden. Zu berücksichtigen ist nämlich ferner, dass das grundgesetzliche Normalmaß überwiegend von dem rein exekutiven revisionären Legitimationszusammenhang und somit durch dasjenige Legitimationsniveau geprägt wird295, das die im Zu­sammenarbeitsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte überschreiten. Insofern sieht sich der bilanzierende Schluss gerechtfertigt, dass die im Zusammenarbeitsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte, soweit sie sowohl im Rahmen von Art. 48 EUV als auch nach Maßgabe des Art. 252 EGV revisionär rückgebunden sind, das Legitimationsniveau übertreffen, das Art. 59 GG für vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierte Normsetzungsakte in revisionärer Hinsicht vorgibt. Damit kann denn auch für die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte insgesamt fest­ gehalten werden, dass sie, sofern sie im Zusammenarbeitsverfahren ergehen, das für sie in grundgesetzlicher Perspektive maßgebliche Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation klar übertreffen.

(3) Im Anhörungsverfahren erlassene Normsetzungsakte sowie Normsetzungsakte, die auf originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnissen der Kommission beruhen Zumindest leicht überschritten wird das grundgesetzliche Normalmaß auch von den jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Anhörungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten. Insoweit gilt es im Ausgangspunkt zweierlei zu bedenken: Erstens ist wie schon hinsichtlich der im Mitentscheidungs- und Zusammenarbeitsverfahren erlassenen Normsetzungsakte davon auszugehen, dass die im Anhörungsverfahren ergangenen Normsetzungsakte das für normative Verwaltungsabkommen grundgesetzlich charakteristische Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation insoweit zur einen Hälfte wahren, zur anderen übertreffen, als sie allein im Rahmen von Art. 48 EUV revisionär rückgebunden sind296. Zweitens übersteigen sie dieses vom Grundgesetz vorgegebene Normalmaß insofern, als sie auch dort, wo sie im Rahmen der Vorschriften über das Anhörungsverfahren revisionär rückgebunden sind, durchweg auch, ergänzend, im Rahmen von Art. 48 EUV rückgebunden sind. Demgegenüber wächst normativen Verwaltungsabkommen, soweit sie auf der parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung beruhen, eine ausschließlich mehrfach vermittelte Legitimation zu. 295

Oben Kapitel 13 II. 2. b) bb) = S. 1098. Oben Kapitel 13 II. 2. b) bb) (1) = S. 1099 und Kapitel 13 II. 2. b) bb) (2) = S. 1101.

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Allerdings reichen die beiden genannten Gesichtspunkte allein nicht aus, um den legitimatorischen Mehrwert der im Anhörungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte zu begründen. Wären die fraglichen EG-Normsetzungsakte nämlich nur zu einem geringen Teil allein im Rahmen von Art. 48 EUV revisionär rück­ gebunden, würden sie auch unter diesen Voraussetzungen das bei normativen Verwaltungsabkommen charakteristische Legitimationsniveau unterschreiten297. Zu erinnern ist daher, dass es vorliegend um jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergangene EG-Normsetzungsakte geht. Folglich interessieren hier nur solche im Anhörungsverfahren erlassene EG-Normsetzungsakte, hinsichtlich derer das Primärrecht bereits alle für wesentliche Regelungsbereiche wesentlichen Regelungen enthält und im Übrigen ein hinreichend bestimmtes Normsetzungsprogramm entbindet. Dies wiederum hat zu Konsequenz, dass die betreffenden EG-Norm­ setzungsakte nur dort nicht ausschließlich über Art. 48 EUV revisionär rückgebunden sind, wo auch bei einem normativen Verwaltungsabkommen die parlamentsgesetzliche Revisionsermächtigung greift. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgendes Bild: Die jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Anhörungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungs 297 Immerhin wird dieses grundgesetzliche Normalmaß zumindest teilweise von dem – auf die gemeinsame Revisionsmacht von Exekutive und Parlament zurückführenden – Legitima­ tionszusammenhang geprägt. An das hierdurch vorgegebene Maß personeller und materiellkontrollativer Legitimation reichen EG-Normsetzungsakte indessen dort bei Weitem nicht heran, wo sie außer im Rahmen von Art.  48  EUV noch über die Verfahrensvorschriften für das Anhörungsverfahren revisionär rückgebunden sind. Würde die revisionäre Rückbindung von im Anhörungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten nun lediglich zu einem sehr geringen Teil allein über Art. 48 EUV erfolgen, fiele dieses Legitimationsdefizit zwangsläufig so groß aus, dass es auch dadurch nicht kompensiert werden könnte, dass die im Anhörungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte das für Verwaltungsabkommen charakteristische Legitimationsniveau zumindest insoweit übertreffen, als dieses zum (größeren) Teil durch eine rein exekutivisch vermittelte und materielle Legitimation geprägt wird. Denn das hiermit angesprochene legitimatorische Plus beruht allein darauf, dass die EG-Normsetzungsakte außer über den auf die Revisionsmacht von Rat und Kommission zurückführenden zusätzlich auch noch über den an Art. 48 EUV anschließenden revisionären Legitimationszusammenhang rück­ gebunden sind. Das damit verbundene legitimatorische Mehr fällt indes gering aus. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die revisionären Legitimationszusammenhänge, die einerseits im Rahmen von Art. 48 EUV und andererseits nach Maßgabe der Vorschriften über das Anhörungsverfahren verfangen, dort, wo sie kongruieren, das für den betreffenden EGNormsetzungsakt charakteristische Legitimationsniveau nicht zu gleichen Teilen determinieren. Vielmehr bestimmt der an Art. 48 EUV anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang wegen seiner hohen Störungsanfälligkeit das für den EG-Normsetzungsakt in revisionärer Hinsicht kennzeichnende Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation in nur sehr geringem Umfang (siehe oben Kapitel 6 V. 1. a] bb] [3] = S. 401 mit Fn. 670). Dieses wird, soweit die beiden revisionären Legitimationszusammenhänge kongruieren, stärker durch denjenigen geprägt, der an die Bestimmungen über das Anhörungsverfahren anknüpft und insofern durch eine ausschließlich mehrfach vermittelte personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation geprägt ist. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass das partielle legitimatorische Plus, das im Anhörungsverfahren erlassene EG-Normsetzungsakte im Vergleich zum grundgesetzlichen Normalmaß aufweisen, relativ schmal ausfällt.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

akte werden gemäß Art. 48 EUV im selben Umfang ausschließlich über die gemeinsame Revisionsbefugnis von Parlament und Exekutive rückgebunden, wie dies bei normativen Verwaltungsabkommen der Fall ist. In dem Umfang freilich, in dem die normativen Verwaltungsabkommen im Rahmen der parlamentsgesetzlichen Revisionsermächtigung allein über die Exekutive rückgebunden sind, werden die in Rede stehenden EG-Normsetzungsakte nicht nur im Rahmen der Verfahrensvorschriften über das Anhörungsverfahren an die Revisionsmacht des Rats, sondern nach Maßgabe von Art. 48 EUV immer zugleich auch an die gemeinsame Revisionsbefugnis von Parlament und Exekutive rückgebunden. Insofern wird das grundgesetzliche Normalmaß denn auch geringfügig übertroffen. Die vorstehenden Ausführungen gelten cum grano salis auch für die jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergangenen Normsetzungsakte, die in extremen Ausnahmefällen von der Kommission aufgrund einer originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnis erlassen wurden. Zwar ist hier die über die Kommission in revisionärer Hinsicht vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation mehrfach vermittelt. Dies kann wegen der Möglichkeit der Sub­ delegation298 aber auch bei den normativen Verwaltungsabkommen der Fall sein. Insofern lässt sich auch für diese EG-Normsetzungsakte festhalten, dass sie das grundgesetzliche Normalmaß teils wahren, teils wegen der durchgängigen revisionären Rückbindung im Rahmen von Art. 48 EUV leicht überschreiten.

(4) Als Durchführungsrecht erlassene Normsetzungsakte Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass es vorliegend nur um solches Durchführungsrecht geht, das – wie im Regelfall299 – nicht dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfällt. Dabei gilt es zu differenzieren. Ausnahmsweise unterfällt das Durchführungsrecht schon deshalb nicht dem absoluten Parlamentsvorbehalt, weil das Primärrecht bereits alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen trifft. Hauptursache dafür, dass Durchführungsrecht in aller Regel jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergeht, ist freilich, dass (erst) das Sekundärrecht alle wesentliche legislative Sachbereiche betreffenden wesentlichen Regelungen enthält und im Übrigen ein hinreichend bestimmtes Normsetzungsprogramm vorgibt. Des Weiteren ist zu erinnern, dass die das grundgesetzliche Normalmaß ausprägenden normativen Verwaltungsabkommen teils über die auf der Verordnungsermächtigung beruhenden Revisionsbefugnis der Exekutive rückgebunden sind. Teils vollzieht sich die revisionäre Legitimation bei normativen Verwaltungs­ abkommen in derselben Weise wie bei den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Völkerrechtsabkommen. Die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen 298

Siehe Kempen (Fn. 120), Rn. 22. Oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938.

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verläuft aus Sicht demokratierechtlicher Modellbildung dort, wo der Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts endet. Für Durchführungsrecht, das auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm gründet, bedeutet dies, dass es das grundgesetzliche Normalmaß in jedem Fall übersteigt. Denn insoweit, als normative Verwaltungsabkommen wie ein vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasstes Völkerrechtsabkommen revisionär rückgebunden sind, wird das in Rede stehende Durchführungsrecht entweder allein im Rahmen von Art. 48 EUV oder – sehr viel häufiger – außer nach Maßgabe von Art. 48 EUV noch im Rahmen von Art. 251 EGV rückgebunden. Damit ist das bei dem fraglichen Durchführungsrecht insoweit realisierte Legitimationsniveau jedenfalls nicht niedriger, im Regelfall sogar deutlich höher als grundgesetzlich vorgegeben. Auch insofern, als normative Verwaltungsabkommen ausschließlich über die auf der Verordnungsermächtigung beruhende Revisionsbefugnis der Exekutive revisionär rückgebunden sind, weisen EG-Normsetzungsakte revisionär einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit auf. Denn sie werden außer über die Revisionsbefugnis der Kommission immer auch im Rahmen von Art. 251  EGV rückgebunden. Von Durchführungsrecht, das auf einer im Zusammenarbeitsverfahren ergangenen Ermächtigungsnorm gründet, wird das grundgesetzliche Normalmaß ebenfalls überschritten. So schließen die fraglichen Durchführungsbestimmungen durchweg dort zu dem grundgesetzlichen Normalmaß auf, wo normative Verwaltungsabkommen wie ein vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasstes Völkerrechtsabkommen revisionär legitimiert werden. Denn wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte können überhaupt nur jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung im Zusammenarbeitsverfahren erlassen werden. Infolgedessen erfasst das Primärrecht alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen und erfolgt die revisionäre Rückkoppelung in diesem Bereich allein über Art. 48 EUV . Jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts wird das fragliche Durchführungsrecht zusätzlich immer auch im Rahmen von Art. 252 EGV revisionär rückgebunden. Insoweit wird – wegen der Einbindung des Europäischen Parlaments – ein höheres Maß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation realisiert, als das grundgesetzliche Normalmaß dies vorsieht, das insofern eine rein exekuti­ vische Rückkoppelung genügen lässt. Überwiegend unterschritten wird das grundgesetzliche Normalmaß dann, wenn das Durchführungsrecht auf einer Ermächtigungsnorm gründet, die im Anhörungsverfahren erlassen wurde. Dies ist freilich nicht schon dort der Fall, wo die revisionäre Rückbindung im Rahmen des Anhörungsverfahrens ausnahmsweise nur jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts Platz greift. Denn dann wird das grundgesetzliche Normalmaß dort gewahrt, wo normative Verwaltungsabkom-

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men in derselben Weise wie ein vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasstes Völkerrechtsabkommen revisionär legitimiert werden, und insoweit leicht überschritten, als normative Verwaltungsabkommen partiell lediglich im Rahmen der parlamentsgesetzlichen Revisionsermächtigung und damit im Unterschied zum Durchführungsrecht ausschließlich exekutiv rückgebunden werden. Hingegen unterschreiten Durchführungsnormen, die auf im Anhörungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten basieren, das grundgesetzliche Normalmaß typischerweise dann, wenn – wie im Regelfall – nicht allein das Primärrecht, sondern auch und vor allem die sekundärrechtliche Ermächtigungsnorm die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen trifft. Denn dann wird das grundgesetzliche Normalmaß dort nicht mehr gewahrt, wo normative Verwaltungsabkommen in der Weise revisionär legitimiert sind, wie dies für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Völkerrechtsabkommen grundgesetzlich vorgegeben ist. Dieses legitimatorische Minus kann typischerweise300 auch dadurch nicht kompensiert werden, dass in diesen Fällen das grundgesetzliche Normalmaß insoweit überschritten wird, als normative Verwaltungsabkommen partiell lediglich im Rahmen der parlamentsgesetzlichen Revisionsermächtigung und damit im Unterschied zum Durchführungsrecht ausschließlich exekutiv rückgebunden werden.

cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite Das von Art. 59 Abs. 2 GG in revisionärer Hinsicht vorgezeichnete Normalmaß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation unterschreiten wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte zum einen dann nicht, wenn sie301 oder die ihnen zugrundeliegenden sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen302 im Mitentscheidungsverfahren erlassen wurden. Zum anderen wird das grundgesetzliche Normalmaß in aller Regel dann gewahrt, wenn die betreffenden Normsetzungsakte jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergangen sind; das vom Grundgesetz in revisionärer Hinsicht vorgegebene Normalmaß wird jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts allenfalls von solchen wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten verfehlt, die auf der Grundlage einer im Anhörungsverfahren ergangenen sekundärrechtlichen Ermächtigung erlassen wurden303. In diesem Zusammenhang ist nun zunächst festzuhalten, dass die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß in revisionärer Hinsicht geringer ausfallen 300 In besonders gelagerten Ausnahmefällen mag dies anders zu bewerten zu sein, nämlich dann, wenn das Primärrecht nahezu alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen trifft. 301 Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) (1) = S. 1094. 302 Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. b) aa) (4) = S. 1096. 303 Oben Kapitel 13 II. 2. b) bb) (4) = S. 1104.

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als im Rahmen dezisionärer Legitimation304. Dies gilt in besonderem Maße, aber keineswegs ausschließlich für die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte, die außerhalb des Vorbehalts parlamentarischer Normierung angesiedelt sind. Der Grund hierfür liegt darin, dass dem Grundgesetz zufolge die parlamentarische (Ko-)Revisionsmacht dort materiell-direktiv blockiert ist, wo das normative Verwaltungsabkommen auf einer parlamentsgesetzlichen Verordnungsermächtigung gründet, wohingegen EG-Normsetzungsakte zwar vielfach nur ergänzend, jedenfalls aber vollumfänglich im Rahmen des parlamentarische (Ko-) Revisionsmacht generierenden Art.  48  EUV rückgebunden sind. Ein vergleich­ barer struktureller Unterschied zwischen nach Art. 59 GG innerstaatlich rezipierten Völkerrechtsabkommen und den diversen EG-Normsetzungsakten lässt sich in Ansehung der parlamentarischen (Ko-)Dezisionsbefugnisse gerade nicht aus­ machen. Die Ursachen für die in revisionärer Hinsicht verbleibenden Legitimationsdefizite können ihrerseits prototypisch am Beispiel derjenigen EG-Normsetzungsakte veranschaulicht werden, die das vom Grundgesetz für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte vorgesehene Normalmaß nicht nur diesseits, sondern typischerweise auch jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts unterschreiten. Denn bei EG-Normsetzungsakten, die auf der Grundlage einer im Anhörungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm in Geltung gesetzt wurden, zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit, dass es zunächst und vor allem die zu knapp bemessenen parlamentarischen Revisionsbefugnisse sind, die die Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß induzieren305. Erschwerend tritt als weitere Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission hinzu. Denn die Legitimationslücke, die durch die unzureichenden parlamentarischen Zugriffsmöglichkeiten gerissen wird, vertieft sich zusätzlich dadurch, dass die von der Kommission vermittelte und materiell-kontrollative Legitimation vergleichsweise leistungsschwach ist306. Analysiert man diesen Befund etwas genauer, so zeigt sich, dass die institutionell-prozeduralen Eigentümlichkeiten, auf denen die in revisionärer Hinsicht feststellbaren Legitimationsdefizite beruhen, strukturell denen entsprechen, die für die in dezisionärer Hinsicht konstatierten Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß ausschlaggebend sind. Dementsprechend erweisen sich zum einen die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments als Ursache von Legitimationsdefiziten307. Denn die Legitimationsdefizite, die durch die zu knapp bemessenen parlamentarischen Revisionsbefugnisse bedingt sind, ließen sich in Hinblick 304 Dieselbe Beobachtung konnte auch schon im Rahmen des Modells mittelbarer Legitimation angestellt werden – siehe etwa oben Kapitel 11 II. 2. c) = S. 946. 305 Oben Kapitel 13 II. 2. b) bb) (4) = S. 1104. 306 Oben Kapitel 13 II. 1. c) cc) = S. 1033. 307 Vgl. strukturparallel dazu die Ausführungen zum dezisionären Legitimationszusammenhang oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (2) = S. 1054.

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auf die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte dadurch beseitigen, dass exekutive Revisionsentscheidungen – seien es solche des Rats oder aber solche der Kommission – an die Zustimmung des Europäischen Parlaments geknüpft werden. Bei den vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierten Normsetzungsakten würden die entsprechenden Legitimationsdefizite dann behoben, wenn dem Europäischen Parlament zumindest in Hinblick auf diejenigen Revisionsentscheidungen eine Vetoposition zustünde, die den betreffenden Normsetzungsakt in seiner programmatischen Zwecksetzung modifizieren und insofern den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts tangieren. Zum anderen lassen sich die konstatierten Legitimationsdefizite damit in Zusammenhang bringen, dass sich die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung erstreckt, der Kommission auch jenseits des absoluten Vorbehalts ein Korevisionsmacht vermittelndes Initiativmonopol zusteht und ihr im Übrigen eine Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zukommt308: Ist ein vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasster Normsetzungsakt beispielsweise im Anhörungsverfahren revidierbar, so führt eine an das Initiativmonopol anknüpfende Korevisionsbefugnis der Kommission dazu, dass der wegen der defizitären parlamentarischen Revisionsbefugnisse ohnedies schon relativ hohe Grad demokratischer Abgeleitetheit noch weiter angehoben wird. Letzteres gilt erst recht dann, wenn der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ausnahmsweise eine alleinige oder doch vorrangige Revisionsbefugnis zusteht. Jenseits des Vorbehalts parlamentarischer Normierung führt das Initiativmonopol deswegen zu einem Absinken des in revisionärer Hinsicht erzeugten Niveaus demokratischer Legitimation, weil die Wahrnehmung der Revisionsbefugnis durch eine Organmehrheit die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation mindert309. Die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission erhöht den Grad demokratischer Abgeleitetheit schließlich auch deshalb, weil die Kommission als Zwitter zwischen regierungsabhängiger Adminis­ trative und parlamentsabhängiger Gubernative eine materiell-kontrollative Legitimation von vergleichsweise geringer Wirkkraft vermittelt310. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass sich die in revisionärer Hinsicht konstatierten Legitimationsdefizite mit denselben Erwägungen rechtfertigen lassen, wie sie in der gebotenen Ausführlichkeit bereits in Hinblick auf diejenigen Legitimationsdefizite angestellt wurden, die wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht charakterisieren.

308 Vgl. strukturparallel dazu die Erwägungen zum revisionären Legitimationszusammenhang oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078. 309 Oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (4) = S. 461. 310 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (4) = S. 1124.

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(1) Rechtfertigung der durch die unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite Soweit die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments ursächlich für die Legitimationsdefizite sind, ergibt sich folgendes Bild: Diese lassen sich mittelfristig noch unter Rekurs auf die Volkssouveränitätsnorm sowie in Hinblick auf die Besonderheiten rechtfertigen, die einen im Werden begriffenen Hoheitsverband kennzeichnen; in dem Maße freilich, in dem diese Rechtfertigungsgründe an Tragfähigkeit einbüßen, wird das Augenmerk auf das der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm innewohnende Rechtfertigungspotenzial gelenkt311. Dabei gilt es der Klarheit halber zu differenzieren. Beruht das Legitimationsdefizit darauf, dass eine Revisionsbefugnis, die Gemeinschaftsorgane in Hinblick auf einen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Sekundärrechtsakt ausüben, überwiegend beim Rat verortet ist312, so lässt es sich in Hinblick auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm unter allen drei insofern als relevant herausgearbeiteten Gesichtspunkten rechtfertigen. Denn das Legitimationsdefizit beruht insofern auf einem institutionell-prozeduralen Arrangement, das – kumulativ – eine stärkere Berücksichtigung spezifisch gliedstaat­ licher Interessen und Belange im Rahmen der Hoheitstätigkeit der Union bezweckt, die föderative Integrität absichern hilft und der effektiven Bewältigung der in einem Bundesstaat deutlich erhöhten Koordinations- und Kooperationserfordernisse dient313. Insbesondere erweist es sich auch als angemessen, um dieser bundesstaatlichen Zwecke willen die in Rede stehenden Legitimationsdefizite in Kauf zu nehmen. Dafür streitet vor allem, dass vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste wesensmäßig marktkonstituierende Sekundärrechtsakte überhaupt nur in Einzelfällen außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens ergehen314 und es von daher auch nur in Einzelfällen dazu kommt, dass die den Gemeinschaftsorganen zukommende Revisionsmacht zumindest vorrangig vom Rat ausgeübt wird. Diese Rechtfertigungsmuster greifen erst recht bei denjenigen Legitimationsdefiziten, die dadurch zustande kommen können, dass vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene Durchführungsbestimmungen auf Sekundärrechtsakten beruhen, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Anhörungsverfahren ergangen sind. Denn die hierdurch verursachte Legitimationslücke ist, allein für sich betrachtet, vergleichsweise kleiner und daher entsprechend leichter zu rechtfertigen. 311 Vgl. ebd. die sinngemäß auch hier gültigen Überlegungen, die dort zum dezisionären Legitimationszusammenhang angestellt wurden. 312 Dies kann im Zusammenarbeits- und Anhörungsverfahren sowie dann der Fall sein, wenn Durchführungsrecht auf in diesen Verfahren erlassenen Ermächtigungsnormen beruht. 313 Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. 314 Ebd.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

(2) Rechtfertigung der durch die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission bedingten Legitimationsdefizite Für die Legitimationsdefizite, die mit der (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission in Zusammenhang stehen, ist im Ausgangspunkt ebenfalls festzuhalten, dass sie sich mittelfristig noch unter Rekurs auf die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm sowie in Hinblick auf die Besonderheiten rechtfertigen lassen, die einem im Werden begriffenen Hoheitsverband eigen sind; zunehmend aber muss zur Rechtfertigung auf das Bundesstaatsprinzip zurückgegriffen werden315. Beruhen die Legitimationsdefizite darauf, dass der Kommission aufgrund ihres Initiativmonopols im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung eine Korevisionsbefugnis zusteht, so kommt dem Bundesstaatsprinzip unter zwei Gesichtspunkten rechtfertigende Wirkung zu316. Denn das Initiativmonopol hilft nicht nur die föderative Integrität der Union abzusichern; es dient zugleich dazu, den in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarf effek­ tiv zu bewältigen – und zwar unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens. Die mit dem Initiativmonopol verbundenen Legitimationsdefizite erweisen sich in Hinblick auf diese bundesstaatliche Zwecksetzung auch nicht als unangemessen. Denn die Korevisionsbefugnis, die der Kommission aufgrund ihres Initiativmonopols zusteht, erweist sich als vergleichsweise bescheiden. Infolgedessen hält sich auch das dadurch bedingte Legitimationsdefizit in eng bemessenen Grenzen. Legitimationsdefizite erwachsen im Bereich der hier interessierenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte des Weiteren auch daraus, dass der Kommission in Einzelfällen eine Revisionsbefugnis auch bezüglich der vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Regelungen zusteht317. Diese Legitimationsdefizite lassen sich bundesstaatlich lediglich, aber immerhin unter dem Gesichtspunkt rechtfertigen, dass es sich insofern um ein institutionell-prozedurales Arrangement handelt, das  – unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens – den in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen hilft. Die Angemessenheit dieses demokratisch defizitären Arrangements lässt sich nicht zuletzt damit begründen, dass es nur in Einzel- beziehungsweise in Ausnahmefällen greift. Fernerhin sind unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm diejenigen Legitimationsdefizite rechtfertigbar, die sich daraus herleiten, dass der Kommission jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ein Initiativmonopol zusteht. Denn wenn sich schon diejenigen Legitimationsdefizite 315 Auch kann wiederum auf die Argumentation rekurriert werden, die insoweit zum dezisionären Legitimationszusammenhang vorgetragen worden ist, oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078. 316 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kapitel 13 II. 2. a) cc) (13) = S. 1079. 317 Hierzu und zum Folgenden Kapitel 13 II. 2. a) cc) (14) = S. 1081.

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in Ansehung der Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, die mit der Er­streckung des Initiativmonopols auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung verbunden sind, so gilt dies erst recht für die hier in Rede stehende Konstellation, in der ungleich geringere Legitimationsdefizite zu verzeichnen sind318. Soweit Abweichungen von dem in revisionärer Hinsicht grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß demokratischer Legitimation dem Umstand zuzurechnen sind, dass die Kommission eine Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung einnimmt, lässt sich dies aus Sicht der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm in zweifacher Hinsicht rechtfertigen319. Denn es handelt sich insofern um ein institutionell-prozedurales Arrangement, das zum einen die föderative Integrität der Union befördert und zum anderen den in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht. Die Legitimationseinbußen erscheinen in Hinblick auf diese Zwecksetzung auch als angemessen, denn die Zwitterstellung der Kommission verringert lediglich die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation, sodass der Demokratieverlust gering bleibt.

(3) Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigung und Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten Vorstehend ist im Einzelnen dargelegt worden, dass und weshalb sich die Legitimationsdefizite, die durch die im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts partiell unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments einerseits und die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission andererseits bedingt sind, bis auf Weiteres unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen. Zu erinnern ist nun freilich, dass die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfende Rechtfertigung eine aufschiebend bedingte ist. Denn alle drei das bundesstaatliche Rechtfertigungsmuster tragenden Gesichtspunkte können, wie dargelegt320, im Laufe der Zeit an Gewicht und damit an Durchschlagskraft verlieren. Insofern drängt sich die Frage auf, ob der insofern zumindest langfristig denkbare Rechtfertigungsbedarf nicht dadurch befriedigt werden könnte, dass man die bundesstaatlich nicht mehr rechtfertigbaren Legitimationsdefizite durch den Hinweis auf entsprechende Verfassungstraditionen anderer EU-Mitgliedstaaten und 318 Vgl. den parallelen a-fotiori-Schluss im Bereich der dezisionären Legitimation – oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (15) = S. 1084. 319 Dazu auch schon oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (16) = S. 1085. 320 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (11) = S. 1076 und Kapitel 13 II. 2. a) cc) (17) = S. 1087.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

mithin unter Rekurs auf das Staatsziel der europäischen Einigung rechtfertigt321. Im Ergebnis wird man jedoch feststellen müssen, dass sich auch die in revisionärer Hinsicht zu konstatierenden Legitimationsdefizite nur ganz partiell unter diesem Gesichtspunkt rechtfertigen lassen. Insbesondere wäre das an die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen anknüpfende Rechtfertigungsmuster ungeeignet, den vollständigen Wegfall der sich aus der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm ergebenden Rechtfertigungsmöglichkeiten aufzufangen. So ist zwar zum einen einzuräumen, dass sich mit Blick auf die Verfassungsord­ nungen anderer EU-Mitgliedstaaten mitunter solche Legitimationsdefizite rechtfertigen lassen, die in unwesentlichen Regelungsbereichen ergehende wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte insoweit kennzeichnet, als die parlamentarischen Dezisions- und damit korrelierend auch die parlamentarischen Revisionsbefugnisse zu knapp bemessen sind. Schließlich kennen die Verfassungsordnungen einiger EU-Mitgliedstaaten eine gesetzesunabhängige Verordnungstätigkeit der Exekutive322. Insofern kommt dem in Rede stehenden Rechtfertigungsansatz speziell auch in Hinblick auf diejenigen Legitimationsdefizite Relevanz zu, die von den in unwesentlichen Regelungsbereichen unzureichenden Revisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments herrühren. Allerdings sind damit nicht alle Legitimationsdefizite gerechtfertigt, die einen das grundgesetzliche Normalmaß in unwesentlichen Regelungsbereichen unterschreitenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakt in revisio­ närer Hinsicht kennzeichnen. Dass sich in diesen Fällen über die Revisionsmacht des Rats und / oder der Kommission eine im Vergleich zum grundgesetzlichen Normalmaß abgeschwächte materiell-kontrollative Legitimation Bahn bricht, lässt sich mit Rücksicht auf alternative Verfassungstraditionen anderer Mitgliedstaaten nicht rechtfertigen323. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass dem Rekurs auf die unterschiedlichen Verfassungstraditionen der EU-Mitgliedstaaten und damit auf das Staatsziel der europäischen Einigung auch insoweit ein gewisses Rechtfertigungspotenzial zukommt, als die parlamentarischen Revisionsbefugnisse zu knapp bemessen sind, die in Hinblick auf die in wesentlichen Regelungsbereichen ergehenden wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte existieren. Denn punktuell mögen andere Verfassungsordnungen den Bereich, in dem die Exekutive allein revisionsbefugt ist, weiter fassen, als die grundgesetzliche Wesentlichkeitslehre dies in Verein mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 80 GG tut324. Freilich vermag dieser ohnehin nur sehr eingeschränkt greifende Rechtfertigungsansatz wiederum nicht alle in revisionärer Hinsicht konstatierten Legitma­ 321

Siehe dazu eingehend oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (18) = S. 1088. Zu Frankreich v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 262 ff. und S. 284. 323 So auch schon oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (18) = S. 1088. 324 Dazu Frowein (Fn. 269), S. 305 f.

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tionsdefizite zu erfassen, die einen in wesentlichen Regelungsbereichen ergehenden wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakt prägen. Denn auch insofern gilt es zu berücksichtigen, dass die materiell-kontrollative Legitimation, die Rat und / oder Kommission im Rahmen ihrer Revisionsbefugnisse vermitteln, eine relativ geringe Wirkkraft aufweist.

c) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in dezisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Soweit sie im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergehen, unterschreiten potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht durchweg das grundgesetzliche Normalmaß, das sich seinerseits aus den für die rein innerstaatliche Normsetzung maßgeblichen Grundgesetzvorschriften erschließt. Dasselbe gilt für potenziell marktinterven­ tionistische Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemiert sind, es sei denn, sie sind ausnahmsweise entweder im Mit­ entscheidungs- oder im Zustimmungsverfahren ergangen325. Freilich lassen sich die konstatierten Legitimationsdefizite zumindest mittelfristig noch unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen.

aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte Rein innerstaatliche Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst sind, werden in dezisionärer Hinsicht durch eine personelle demokratische Legitimation geprägt, die entweder allein vom Parlament oder  – im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung  – zu exakt gleichen Teilen von Bundestag und Bundesrat herrührt326. Dieses Normalmaß indes unterschreiten selbst die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normset 325 Theoretisch betrachtet, reichten marktinterventionistische Normsetzungsakte, die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, auch dann an das grundgesetzliche Normalmaß heran, wenn sie im Zusammenarbeitsverfahren erlassen würden, ohne dass die Konstellation des Art. 252 Buchst. d UAbs. 2 EGV einschlägig wäre. Jedoch ergehen nach gegenwärtiger Vertragslage ausschließlich einzelne wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte im Zusammenarbeitsverfahren (vgl. Art. 102 Abs. 2 und Art. 103 Abs. 2 EGV). Im Bereich der hier interessierenden potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte hat das Zusammenarbeitsverfahren indes ausgedient. 326 Oben Kapitel 10 III. 1. b) = S. 730.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

zungsakte327: Sofern man diese EG-Normsetzungsakte an dem Normalmaß misst, das das Grundgesetz jenseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts vorsieht, ergibt sich das legitimatorische Defizit in erster Linie aus der dem Rat im Mit­entscheidungsverfahren zustehenden Kodezisionsmacht328; stellt man auf das Normalmaß ab, das dem Grundgesetz zufolge im Bereich des Vorbehalts bundes­ rätlicher Zustimmung gilt, so beruht das Legitimationsdefizit immerhin darauf, dass auch der Kommission im Mitentscheidungsverfahren eine, wenn auch nur geringe Kodezisionsmacht zukommt329. Wächst schon den im Mitentscheidungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungsakten eine aus Sicht des grundgesetzlichen Normalmaßes defizitäre personelle Legitimation zu, so gilt dies erst recht für die in den übrigen Rechtsetzungsverfahren erlassenen. Denn insofern werden die EG-Normsetzungsakte in noch geringerem Maße oder überhaupt nicht durch die vom Europäischen Parlament herrührenden und mithin einfach vermittelten personellen Legitimationsbeiträge geprägt. Entsprechendes lässt sich in Hinblick auf das Niveau materiell-kontrolla­tiver Legitimation feststellen. Auch insofern kommen die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte dem Normalmaß zwar relativ nahe, das die grundgesetzlichen Einzelbestimmungen in Hinblick auf rein innerstaatliche Normsetzungsakte entfalten, die sowohl dem absoluten Vorbehalt parlamenta­ rischer Normierung als auch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Allerdings führt die Kodezisionsmacht der Kommission dazu, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte selbst in dieser Konstellation das grundgesetzliche Normalmaß verfehlen. Denn die materiellkontrollative Legitimation rührt nicht exakt hälftig von Parlament und Exekutive her; zudem kommt der über die Kommission vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation eine vergleichsweise geringe Wirkkraft zu330. Das insoweit zu konstatierende legitimatorische Defizit vertieft sich nun zum einen dann, wenn man für das Normalmaß auf die vom Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung ausgenommenen innerstaatlichen Normsetzungsakte abstellt. Zum anderen und vor allem verfehlen EG-Normsetzungsakte, die in anderen Recht­ setzungsverfahren als dem der Mitentscheidung ergehen, das grundgesetzliche Normalmaß, weil ihnen unmittelbar parlamentsvermittelte materiell-kontrollative Legitimation nur in geringem Maße oder auch gar nicht zuwächst. Anders als EG-Normsetzungsakte, die durchweg primärrechtlich determiniert sind, erwachsen dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallende rein innerstaat 327 Insbesondere fungiert das Europäische Parlament auch in diesem Verfahren nicht als „Vollparlament“ – vgl. Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 31. 328 Zur nach wie vor zentralen legislatorischen Funktion des Rats Huber (Fn.  14), § 11 Rn. 31 ff. 329 Art. 251 Abs. 2 UAbs. 1 und Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz EGV sowie Art. 250 Abs. 1 EGV. 330 Siehe oben Kapitel 13 II. 1. c) cc) = S. 1033.

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liche Normsetzungsakte dem Grundgesetz zufolge nicht in materiell-direktiver Legitimation331. Für den Abgleich des für die EG-Normsetzungsakte prägenden Legitimationsniveaus mit dem grundgesetzlichen Normalmaß bedeutet dies Folgendes: Zu prüfen ist, ob EG-Normsetzungsakte, soweit sie materiell-direktiv rückgebunden werden, das Maß an demokratischer Legitimation aufweisen, das rein innerstaatlichen Normsetzungsakten aufgrund personeller und materiell-kontrollativer Legitimation zuwächst. Davon kann selbstverständlich nicht ausgegangen werden. Denn selbst insoweit, als das Primärrecht zum geringeren Teil von den mitgliedstaatlichen Parlamenten herrührt, vermag es den EG-Normsetzungs­ akten nicht das Maß an demokratischer Legitimation zu vermitteln, das den vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten rein innerstaatlichen Normsetzungsakten dort zukommt, wo sie zumindest hälftig in unmittelbar parlamentsvermittelter personeller und materiell-kontrollativer Legitimation erwachsen. Schließlich ergeht die an sich wirkkräftigere materiell-direktive Legitimation332 insofern auf einer um den Wert 1 erhöhten Stufe demokratischer Vermitteltheit. Berücksichtigt man fernerhin, dass das Primärrecht überwiegend über die Dezisions- und Revisionsmacht der Exekutive demokratisch rückgebunden ist, so tritt die Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß noch deutlicher hervor. Zu erinnern ist freilich, dass die Regelungsdichte der primärrechtlichen Vor­ gaben gering ist. Dies gilt in besonderem Maße für die hier in Rede stehenden potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte333. Folglich wird das Legitimationsniveau der EG-Normsetzungsakte insgesamt nur in vergleichsweise geringem Maße von dem Legitimationsniveau des an das Primärrecht anknüpfenden materiell-direktiven Legitimationsbeitrags geprägt. Dementsprechend ist für die Frage, ob die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß erreichen, statt auf den primärrechtlich bedingten materiell-direktiven Legitimationsbeitrag entscheidend auf die den EG-Normsetzungsakten zuwachsende personelle und materiell-kontrollative Legitimation abzustellen. Dies ist speziell in Hinblick auf die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte von Bedeutung. Denn diese weichen, soweit sie materiell-direktiv rückgebunden sind, deutlich stärker vom grundgesetzlichen Normalmaß ab, als dies insoweit der Fall ist, als sie durch personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge rückgekoppelt werden.

331 Dies gilt jedenfalls dann, wenn man, wie bereits eingehend begründet (Kapitel 10 II. 5. d] = S. 721), die materiell-direktiven Legitimationsbeiträge ausgeblendet lässt, die den rein inner­ staatlichen Normsetzungsakten vom Grundgesetz selbst zuwachsen können. 332 Zur Wirkkraft materiell-direktiver Legitimation allgemein siehe oben Kapitel 6 V. 1. b) dd) (3) = S. 416. 333 Siehe oben Kapitel 11 I. 3. a) aa) = S. 886.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte Für potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte, die nicht vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden, erschließt sich das grundgesetzliche Normalmaß aus Art.  80  GG. Demnach genügt es, wenn den betreffenden EG-Normsetzungsakten eine ausschließlich von der Exekutive herrührende personelle demokratische Legitimation zuwächst. Infolgedessen übertreffen die im Mitentscheidungs- sowie die im Zustimmungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungsakte das vom Grundgesetz vorgegebene Niveau personeller demokratischer Legitimation334. Von den in den übrigen Rechtsetzungs­ verfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten wird dieses Niveau immerhin gewahrt. In Hinblick auf die materiell-kontrollative Legitimation lässt es Art. 80 GG ausreichen, wenn diese ausschließlich mehrfach vermittelt ist335. Dieses Maß materiell-kontrollativer Legitimation wird im Rahmen des Mitentscheidungs- und des Zustimmungsverfahrens übertroffen336. In den übrigen Rechtsetzungsver­fahren wird das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß materiell-kontrollativer Legitimation hingegen unterschritten. Dies folgt aus der der Kommission insoweit typischerweise zukommenden (Ko-)Dezisionsbefugnis. Die Niveauunterschreitung ergibt sich insofern zwar nicht schon hinsichtlich der Stufe demokratischer Vermitteltheit, wohl aber in Ansehung der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation. Denn die Kommission unterliegt Kontrollzusammenhängen, die weniger effektiv sind als diejenigen, denen sich die grundgesetzlich verfasste Exekutive ausgesetzt sieht337. Darüber hinaus weist die den EG-Normsetzungsakten zuwachsende materiellkontrollative Legitimation teilweise auch deshalb eine geringere Wirkkraft auf, als dies zur Erreichung des grundgesetzlichen Normalmaßes erforderlich wäre, weil EG-Normsetzungsakte durchweg auf eine Völkermehrheit zurückführen, wohingegen dies bei Rechtsverordnungen nur dann der Fall ist, wenn sie dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterliegen. Die Rückkoppelung an eine Mehrheit

334 Dasselbe gälte, außer in den Fällen des Art. 252 Buchst. d UAbs. 2 EGV, an sich auch für die im Zusammenarbeitsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte; vgl. dazu auch schon oben Fn. 325. 335 Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741; zur Möglichkeit der Subdelegation auch Bryde, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 4./5. Aufl. 2003, Art. 80 Rn. 25. 336 Und, außer in den Fällen des Art. 252 Buchst. d UAbs. 2 EGV, theoretisch auch im Zusammenarbeitsverfahren; vgl. oben Fn. 325. 337 Zur Leistungsschwäche der über die Kommission vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation oben Kapitel 13 II. 1. c) cc) = S. 1033.

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von Völkern indes führt zu Einbußen bei der Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation338. Die materiell-direktive Legitimation muss Art. 80 GG zufolge auf einem Gesetz beruhen, das entweder allein vom Parlament herrührt oder aber außer vom Parlament annähernd hälftig vom Bundesrat mitbeherrscht wird339. Soweit EGNormsetzungsakte über das Primärrecht rückgebunden werden, wird dieses grund­ gesetzliche Normalmaß ersichtlich verfehlt. Denn über das Primärrecht wächst den EG-Normsetzungsakten nur zum deutlich geringeren Teil eine zweifach vermittelte, überwiegend aber eine höherstufig vermittelte materiell-direktive Legitimation zu340. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der materiell-direktiven Legitimation im Rahmen der Administrativgesetzgebung gemäß Art.  80  GG typischerweise eine ungleich größere Reichweite zukommt, als dies bei EG-Normsetzungsakten aufgrund der primärrechtlichen Determinierung der Fall ist. Denn speziell in Hinblick auf die an dieser Stelle interessierenden potenziell marktinterventionistischen EGNormsetzungsakte entfaltet das Primärrecht eine nur geringe Direktivkraft341. Um festzustellen, ob beziehungsweise inwieweit die hier in Rede stehenden EG-Normsetzungsakte das durch Art. 80 GG vorgegebene Normalmaß materiell-direktiver Legitimation unterschreiten, darf daher nicht allein auf die primärrechtlich ver­ mittelte materiell-direktive Legitimation abgestellt werden. Vielmehr müssen daneben auch die den EG-Normsetzungsakten im Übrigen zuwachsenden Legitimationsbeiträge in Betracht gezogen werden. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für Normsetzungsakte, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden, dass sie, soweit sie nicht primärrechtlich determiniert sind, das vom Grundgesetz vorgegebene Niveau materiell-direktiver Legitimation allenfalls geringfügig unterschreiten. Denn die Rechtsverordnungen zuwachsende materielle Direktive ergeht bestenfalls auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit342. Dies ist dann der Fall, wenn die parlaments­ gesetzliche Ermächtigung keiner bundesrätlichen Zustimmung bedurfte. Auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit lässt sich freilich bei zusammenfassend-bilanzierender Betrachtung auch die personelle sowie materiell-kontrollative Legitimation verorten, die einem EG-Normsetzungsakt im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens von Rat und Europäischem Parlament zuwächst. Wenn die EG-Normsetzungsakte in dieser Konstellation dennoch nicht vollständig zu dem durch Art.  80  GG vorgegebenen Niveau materiell-direktiver Legitimation aufschließen, so liegt dies darin begründet, dass im Mitentscheidungsverfahren auch der Kommission eine  – allerdings geringe  – Kodezisionsmacht zukommt 338

Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ff) (3) = S. 455. Siehe oben Kapitel 10 III. 1. b) dd) (1) = S. 752. 340 Oben Kapitel 13 II. 1. b) = S. 1026. 341 Oben Kapitel 11 II. 1. b) = S. 923. 342 Oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741.

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und im Übrigen der materiell-direktiven Legitimation eine höhere Wirkkraft eignet als den sich wechselseitig ergänzenden personellen sowie materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen. Demnach lässt sich in der Tat konstatieren, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte, soweit sie nicht primärrechtlich rückgebunden sind, das durch Art. 80 GG vorgegebene Legitimationsniveau allenfalls geringfügig unterschreiten. Und selbst wenn man die Abweichung mit einbezieht, die sich beim Abgleich zwischen grundgesetzlich an sich geforderter und primärrechtlich bewirkter materiell-direktiver Legitimation ergibt, kann immer noch festgehalten werden, dass das grundgesetzliche Normalmaß materiell-direktiver Legitimation nur in beschränktem Umfang verfehlt wird. Denn die Reichweite der primärrechtlich bedingten materiell-direktiven Legitimation ist, wie gesagt, gerade bei den hier interessierenden potenziell marktkonstituierenden Normsetzungsakten äußerst beschränkt. Obgleich die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte – wie eben dargelegt  – nicht umfänglich zu dem Niveau materiell-direktiver Legitimation aufschließen, das vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt ausgenommene Rechtsverordnungen gemäß Art. 80 GG bestenfalls aufweisen, wächst ihnen insgesamt betrachtet aber doch ein höheres Maß an demokratischer Legitimation zu als den fraglichen Rechtsverordnungen. Denn diese müssen ausweislich Art. 80 GG nicht in größerem Umfang durch materiell-direktive Legitimation geprägt sein als durch personelle sowie materiell-kontrollative Legitimations­beiträge. Die Rechtsverordnungen zuwachsenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge ergehen indes zumindest teilweise auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit als die personelle und materiell-kontrollative Legitimation, die den EG-Normsetzungsakten zuwächst und zu annähernd fünfzig Prozent unmittelbar parlamentsvermittelt ist. Dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte das Niveau materiell-direktiver Legitimation in relativ geringem Umfang unterschreiten, das vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt exemierte Rechtsverordnungen von Grundgesetzes wegen aufweisen, wird mithin dadurch mehr als wettgemacht, dass sie das für diese Rechtsverordnungen prägende Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation deutlich überschreiten. Das legitimatorische Plus, das die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte im Vergleich zu den Rechtsverordnungen gemäß Art.  80 kennzeichnet, tritt dann noch deutlicher hervor, wenn man auf die vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfassten Rechtsverordnungen abstellt. Denn in dieser Perspektive sind die im Mitentscheidungsverfahren verfangenden personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge leistungsstärker als die die Rechtsverordnungen prägende materiell-direktive Legitimation. Dadurch wird zumindest kompensiert, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EGNormsetzungsakte das für Rechtsverordnungen kennzeichnende Niveau materiell-

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direktiver Legitimation insofern verfehlen, als sie primärrechtlich rückgebunden sind. Sofern das grundgesetzliche Normalmaß in Ansehung der vom bundes­ rätlichen Zustimmungsvorbehalt erfassten Rechtsverordnungen zu bestimmen ist, fehlt es daher im Ergebnis schon an einer Abweichung vom grundgesetzlich vorgegebenen Niveau materiell-direktiver Legitimation. Umso stärker fällt ins Gewicht, dass die personelle und materiell-kontrollative Legitimation, die den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten zuwächst, deutlich leistungsstärker ist als diejenige, durch die Rechtsverordnungen dezisionär rück­ gebunden werden. Die Erwägungen, mit denen im Einzelnen plausibel gemacht wurde, dass die im EG-Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte zwar mitunter das in Art. 80 GG vorgezeichnete Normalmaß materiell-direktiver Legitimation unterschreiten, im Ergebnis aber dennoch einen niedrigeren Grad demokratischer Abgeleitetheit realisieren als Rechtsverordnungen, lassen sich entsprechend auch auf die im Zustimmungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte übertragen. Zwischen Mitentscheidungs- und Zustimmungsverfahren gibt es insofern keine relevanten Unterschiede343. Soweit vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene EG-Normsetzungsakte weder im Mitentscheidungs- noch im Zustimmungsverfahren ergehen, unterschreiten sie das vom Grundgesetz für Rechtsverordnungen vorgezeichnete Niveau materiell-direktiver Legitimation, ohne dass dieses Legitimationsdefizit durch ein Plus an personeller und materiell-kontrollativer Legitimation kompensiert würde. Dies gilt namentlich auch für das auf sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen basierende Durchführungsrecht.

cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite Sofern es sich nicht um sekundärrechtlich fundiertes Durchführungsrecht handelt, halten wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte das für sie in dezisionärer Hinsicht grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation überwiegend ein. Dies hängt damit zusammen, dass die Kompetenztitel des  EGV, die zum Erlass von wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten ermächtigen, über 343

Theoretisch gesehen, ließen sich die Erwägungen, die zu den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Normsetzungsakten angestellt wurden, mutatis mutandis auch in Hinblick auf die im Zusammenarbeitsverfahren ergehenden Normsetzungsakte fruchtbar machen. Für den Regelfall könnte insofern angenommen werden, dass diese Normsetzungsakte den Grad demokratischer Abgeleitetheit zumindest wahren, der für Rechtsverordnungen gemäß Art.  80 GG charakteristisch ist; Abweichendes gälte nur, wenn die betreffenden Normsetzungsakte gemäß Art. 252 Buchst. d UAbs. 2 EGV, also ohne kodezisionäre Mitwirkung des Europäischen Parlaments, erlassen worden wären. Allerdings ist dies keine praktisch relevante Konstellation.

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wiegend auf das Mitentscheidungsverfahren verweisen344. Unter den Verfahrensbedingungen des Art. 251 EGV nämlich wahren wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte den durch Art. 59 GG vorgegebenen Grad demokratischer Abgeleitetheit – sofern sie ihn nicht sogar unterschreiten345. Anders verhält es sich bei den potenziell marktinterventionistischen Norm­ setzungsakten. Sie schließen in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht zu dem grundgesetzlich in dezisionärer Hinsicht vorgegebenen Normalmaß auf. Zurückführen lässt sich dies darauf, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte überhaupt nur dann das grundgesetzliche Normalmaß erreichen, wenn sie jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung in einem Rechtsetzungsverfahren erlassen werden, in dem dem Europäischen Parlament Kodezisionsmacht zukommt346. Nun ist freilich bereits dargetan worden, dass EGNormsetzungsakte überwiegend dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen347; anderes gilt nur, wenn es sich um auf sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen basierendes Durchführungsrecht handelt348, also gerade nicht um Normsetzungsakte, die unter kodezisiver Beteiligung des Europäischen Parlaments erlassen werden. Vor diesem Hintergrund kommt den Konstellationen, in denen die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß erreichen, tatsächlich nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung für die EG-Normsetzungspraxis zu. Schon aus diesen Erwägungen erhellt, dass und weshalb der grundgesetzliche Rechtfertigungsbedarf bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten ersichtlich größer ist als bei den wesensmäßig marktkonstituierenden: Das grundgesetzliche Normalmaß personeller, materiell-direktiver und materiell-kontrollativer Legitimation liegt bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten höher als bei wesensmäßig marktkonstituierenden. Dies gilt insbesondere im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung. Denn dort betreffen die Unterschiede zwischen den respektiven Normalniveaus sogar die Stufe demokratischer Vermitteltheit, auf der die personellen und materiellen Legitimationsbeiträge ergehen. Aber auch jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts bleibt das für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte grundgesetzlich vorgegebene Normalniveau leicht hinter dem zurück, das für potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte maßgeblich ist. Denn die sich normativen Verwaltungsabkommen kommunizierende materiell-kontrollative Legitimation wird  – anders als bei Rechtsverordnungen  – jedenfalls dadurch in ihrer Wirkkraft beeinträchtigt, dass normative Verwaltungs-

344

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062 (mit Fn. 165). Zusammenfassend siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) = S. 1040. 346 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) bb) = S. 1116. 347 Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) aa) = S. 935. 348 Also um das teilweise sogenannte Tertiärrecht – Huber (Fn. 14), § 8 Rn. 117 sowie Streinz (Fn. 36), Rn. 4. 345

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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abkommen auf eine Mehrheit demokratisch untereinander unverbundener Völker zurückführen. Ob sich nun der bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten relativ größere Rechtfertigungsbedarf dennoch decken lässt, soll im Folgenden näher diskutiert werden. Dabei kann und soll an die Überlegungen angeknüpft werden, die zur Rechtfertigung der entsprechenden Legitimationsdefizite bei potenziell marktkonstituierenden Normsetzungsakten entwickelt worden sind349. Denn die Rechtfertigungsproblematik ist, wie sich zeigen wird, bei potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten strukturell dieselbe wie bei wesensmäßig marktkonstituierenden – ‚nur‘ erweist sie sich eben als größer.

(1) Der unterschiedliche Rechtfertigungsbedarf Soweit die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte überwiegend vom grundgesetzlichen Normalmaß abweichen, verfehlen sie dieses nicht in exakt demselben Umfang350. Natürlich sind die Legitimationsdefizite größer, wenn man einen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten Normsetzungsakt, der im Anhörungsverfahren ergangen ist, an dem jenseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts geltenden grundgesetzlichen Normalmaß misst, als wenn man einen vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen Normsetzungsakt, der auf Basis einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm von der Kommission in Geltung gesetzt wurde, mit dem diesseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts gültigen Normalmaß abgleicht. Denn in der erstgenannten Konstellation ergeht der EG-Normsetzungsakt durchweg auf einer höheren Stufe demokratischer Vermitteltheit, als dies aus grundgesetzlicher Sicht normal wäre. In der zweiten Konstellation wird die für Rechtsverordnungen kennzeichnende Stufe demokratischer Vermitteltheit hingegen nahezu durchgängig eingehalten. Überschritten wird sie lediglich insofern, als die materiell-direktive Legitimation etwas stärker exekutivisch als parlamentarisch legitimiert ist und nicht wie vom grundgesetzlichen Normalmaß gefordert ein wenig stärker parlamentarisch als exekutivisch.

(2) Die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse als zentrale Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite Die beiden Beispielsfälle werfen bereits ein erhellendes Licht auf die institutionell-prozeduralen Eigentümlichkeiten der EG-Normsetzung, denen sich die konstatierten Legitimationsdefizite verdanken. Ausschlaggebend sind insofern 349

Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) = S. 1040. Vgl. dazu oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (1) = S. 1053.

350

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vor allem die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse351. Schließlich verfehlen potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, das vom Grundgesetz in dezisionärer Hinsicht vorgegebene Normalmaß demokratischer Legitimation, weil sie nicht einmal zur Hälfte in unmittelbar parlamentsvermittelter personeller sowie materiell-kontrollativer Legitimation erwachsen352. Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, bleiben in erster Linie deshalb hinter dem durch das Grundgesetz vorgezeichneten Normalmaß zurück, weil es an einer zumindest hälftig vom Parlament bewirkten materiell-direktiven Legitimation fehlt, die den legitimationsbedürftigen Hoheitsakt hinreichend weit erfasst353. Nun liegt es fernerhin auf der Hand, dass sich die Legitimationseinbußen, die im Wesentlichen durch die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisions­ befugnisse bedingt sind, nicht dadurch beheben lassen, dass etwa die Rolle der nationalen Parlamente im EG-Normsetzungsprozess aufgewertet wird354. Denn selbst wenn jeder sekundärrechtliche Normsetzungsakt mit Ausnahme des Durchführungsrechts durch alle mitgliedstaatlichen Parlamente oder zumindest durch eine Mehrheit von ihnen gebilligt werden müsste, würde niemals das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation erreicht, das bei vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten und mittelbar auch bei den hiervon exemierten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten vom Grundgesetz für normal angesehen wird. Denn die nationalen Parlamente müssten sich notwendig intermediärer Instanzen bedienen, die den Text der Normsetzungsakte überhaupt erst auszuhandeln hätten, bevor er dann abschließend von den nationalen Parlamenten nur noch angenommen oder verworfen werden könnte. Infolgedessen käme es bei einer Stärkung der Position der mitgliedstaatlichen Parlamente im EG-Normsetzungsprozess bestenfalls zu einer Verminderung, niemals aber zu einer Behebung der Legitimationsdefizite, die durch die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezisionsbefugnisse bedingt sind. Damit ist nicht gesagt, dass es demokratiepolitisch unsinnig ist, die Rolle der mitgliedstaatlichen Parlamente im EG-Normsetzungsprozess aufzuwerten355. Im Gegenteil: Um eine weitere Demokratisierung des EG-Normsetzungsprozesses zu erreichen, erweisen sich insbesondere solche institutionell-prozeduralen Arrangements als geeignet, durch die Ratsmitglieder stärker an Vorgaben ihrer 351

So im Ergebnis auch schon Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (42). 352 Vg. oben Kapitel 13 II. 2. c) aa) = S. 1113. 353 Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. c) bb) = S. 1116. 354 Im Ergebnis gleich Steinberger (Fn. 351), S. 42; zur gegenwärtigen Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle des Rates vgl. Huber (Fn. 14), § 19 Rn. 6 ff. 355 In diese Richtung auch schon Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 56 (75 ff.).

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Heimatparlamente rückgebunden werden356. Des ungeachtet wird man die Legitimationsdefizite, die durch die zu knapp bemessenen parlamentarischen Dezi­ sionsbefugnisse verursacht sind, nur dann immerhin annähernd beheben können, wenn man die Stellung des Europäischen Parlaments im EG-Normsetzungsprozess stärkt357. Dies lässt sich sowohl für die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten als auch für die hiervon ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte veranschaulichen. Würden beispielsweise alle potenziell marktinterventionistischen Normsetzungs­ akte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normsetzung unterfallen, in einem Verfahren erlassen, in dem allein Europäisches Parlament und Rat gleichberechtigt zusammenwirken, so erreichten sie nahezu den Grad demokratischer Abgeleitetheit, den das Grundgesetz für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorsieht, die sowohl dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung als auch dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Die geringfügige Abweichung von diesem grundgesetzlichen Normalmaß wäre allein dem Umstand geschuldet, dass EG-Normsetzungsakte primärrechtlich rückgebunden sind, was freilich bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten in nur sehr beschränktem Maße der Fall ist. Beruhten alle potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, auf hinreichend bestimmten Ermächtigungsnormen, die ihrerseits in dem eben geschilderten Verfahren und mithin gleichberechtigt durch Europäisches Parlament und Rat erlassen wurden, so wiesen die betreffenden Normsetzungsakte annähernd dasselbe Legitimationsniveau auf, wie es das Grundgesetz für vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt erfasste Rechtsverordnungen vorgibt. Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß wären insofern – abgesehen von den primärrechtlich bedingten – nur noch in der Hinsicht zu verzeichnen, dass die mit dem Erlass des Durchführungsrechts betraute Kommission eine in ihrer Wirkkraft abgeschwächte materiell-kontrollative Legitimation vermittelt. Vor diesem doppelten Hintergrund lässt sich nun auch genauer präzisieren, welche institutionell-prozedurale Eigentümlichkeit maßgeblich dazu beiträgt, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß unterschreiten. Es ist dies die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichende Dezisionsmacht des Europäischen Parlaments.

356 Als mustergültig erweist sich insofern Art.  23e Abs.  2 B-VG. Danach ist die Bundes­ regierung bei Verhandlungen und Abstimmungen in der Europäischen Union grundsätzlich an die Stellungnahmen des Nationalrats gebunden, sofern diese sich auf Normsetzungsmaterien beziehen, die – wenn sie nicht europäisiert wären – bundesgesetzlich zu regeln wären. 357 So auch Rack / Eisenberger / Hammerer / Rattinger / Riedler / Schwarzbauer / Urbantitsch (Fn. 56), S. 877 ff.

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(3) Die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission als weitere Ursache für die konstatierten Legitimationsdefizite Außer auf die im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments lassen sich die konstatierten Legitimationsdefizite des Weiteren auf die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommis­sion zurückführen. Denn die von der Kommission vermittelte personelle und materiellkontrollative Legitimation erweist sich sowohl hinsichtlich der Stufe demokratischer Vermitteltheit als auch bezüglich ihrer Wirkkraft als relativ leistungsschwach. Dadurch vertieft sich das Legitimationsdefizit, das schon aufgrund der unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments ausnahmslos alle vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten und überwiegend auch die hiervon ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte kennzeichnet. Dass die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission mit ursächlich sind für die konstatierten Legitimationsdefizite, lässt sich auf drei institutionell-prozedurale Eigentümlichkeiten des EG-Normsetzungsprozesses zurückführen358. Entscheidend ist insofern erstens und vor allem, dass sich die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung erstrecken. Denn die von der Kommission vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge verfehlen die grundgesetzlich für normal angesehene Stufe demokratischer Vermitteltheit. Hinzu tritt zweitens, dass das Initiativmonopol der Kommission zur Konsequenz hat, dass die Dezisionsmacht bei einer Organmehrheit liegt. Dies führt diesseits und jenseits des Vorbehalts parlamentarischer Normierung dazu, dass den legitimationsbedürftigen Hoheitsakten eine materiell-kontrollative Legitimation zuwächst, die das grundgesetzliche Normalmaß in puncto Wirkkraft unterschreitet. Schließlich ist drittens und letztens die Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zu bedenken. Sie hat zur Kon­ sequenz, dass der von der Kommission vermittelten materiell-kontrollativen Legitimation eine vergleichsweise geringe Wirkkraft zukommt.

(4) Die im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments als Ursache von Legitimationsdefiziten Unterschreiten potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß demokratischer Legitimation deshalb, weil dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentari 358 Vgl. dazu bereits die Überlegungen zu den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (3) = S. 1057.

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scher Normierung unzureichende Dezisionsbefugnisse zukommen, lässt sich dies gegenwärtig nur noch in sehr beschränktem Maße unter Rekurs auf die grund­ gesetzliche Volkssouveränitätsnorm beziehungsweise unter Verweis auf die Besonderheiten rechtfertigen, die einen im Werden begriffenen Hoheitsverband kennzeichnen. Insoweit unterscheidet sich die Sach- und Rechtslage deutlich von der bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten359. So ist zu erinnern, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte lediglich ausnahmsweise solche Regelungen treffen, die  – anerkanntermaßen  – allein auf transnationaler Ebene sinnvoll getroffen werden können360. Infolgedessen lässt sich überhaupt nur in Ausnahmefällen argumentieren, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte zwar das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation unterschreiten, dieses Legitimationsdefizit aber deshalb durch das grundgesetzliche Staatsziel der Volkssouveränität gerecht­fertigt ist, weil ohne die fraglichen Normsetzungsakte ein demokratischer Zugriff auf die von ihnen erfasste Regelungsmaterie ausgeschlossen wäre361. Im Regelfall indes lässt sich die Demokratienorm nicht argumentativ in Stellung bringen, um die gerade bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten durchaus erheblichen Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß personeller und materieller Legitimation zu rechtfertigen, die durch die unzureichenden Dezi­ sionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingt sind. Überwiegend lassen sich diese Legitimationsdefizite auch dadurch nicht rechtfertigen, dass man sie mit den Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands in Zusammenhang bringt. Insofern gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass diese Rechtfertigungsstrategie speziell bei solchen EG-Normsetzungsakten nur mehr sehr eingeschränkt greift, zu deren Erlass der Gemeinschaftsgesetzgeber erst mit oder nach Erlass der Einheitlichen Europäischen Akte ermächtigt hat362. Die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte indes beruhen mehrheitlich auf Primärrecht, das erst nach Beginn der Konsolidierungsphase in Kraft getreten ist363. In Hinblick auf die erheblichen Legitimationsdefizite, die bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten konstatiert wurden, greift das in Rede stehende Rechtfertigungsmuster daher überwiegend nicht durch. Abweichendes gilt allerdings für diejenigen marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die auf primärrechtlichen Ermächtigungsnormen aus der Konstruk­ tionsphase der EG beruhen. Dazu zählen insbesondere die marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die im Bereich der gemeinsamen Zoll-, Agrar-, Verkehrs 359

Zu der diesbezüglichen Sach- und Rechtslage oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. Siehe oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. 361 Dazu auch Lübbe-Wolff (Fn. 245), S. 254 f. 362 Siehe oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. 363 Vgl. etwa Art. 62, 63, 64, 65, 125, 129, 137, 151, 152, 153, 155, 156, 157, 159, 161, 162, 166, 167, 168, 172, 175, 179, 181a und 286 EGV. 360

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und autonomen Handelspolitik erlassen werden364. Kommt es bei diesen Normsetzungsakten aufgrund der unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments zu Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Legitimation, so lassen sie sich gegenwärtig noch unter Hinweis auf die Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rechtfertigen. Denn dieser rechtfertigende Gesichtspunkt wirkt hier ungleich stärker nach als bei EG-Normsetzungsakten, die auf Primärrecht aus der Konsolidierungsphase der EG beruhen. Damit bestätigt sich, dass es sich tatsächlich nur ausnahmsweise unter Rückgriff auf das Staatsziel der Volkssouveränität und nur zum wohl geringeren Teil unter Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten von im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbänden rechtfertigen lässt, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte wegen der im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß personeller und materieller Legitimation unterschreiten. Erschwerend kommt hinzu, dass diese ohnehin nur in beschränktem Umfang wirksamen Rechtfertigungen lediglich mittelfristig tragfähig sind365; und braucht daher an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden. Vor diesem doppelten Hintergrund stellt sich noch sehr viel nachdrücklicher als bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten die Frage, ob sich die mit den unzureichenden Dezisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments zusammenhängenden Legitimationsdefizite nicht auch im Fall der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen. Denn bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis kommt ein Rekurs auf diesen Rechtfertigungsgrund grundsätzlich in Betracht366.

(5) Die im Wesentlichen alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat Als in Hinblick auf das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß unzureichend erweisen sich die dem Europäischen Parlament zustehenden Dezisionsbefugnisse insbesondere dann, wenn potenziell marktinterventionistische EGNormsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung unterfallen, ohne kodezisive Mitwirkung des Europäischen Parlaments vom Rat erlassen werden. Zwar erreichen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte, selbst wenn sie im Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren erlassen werden, nicht gänzlich das dem Grundgesetz nach für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorgesehene Legitimationsniveau. Sie nähern sich ihm aber deutlich an. Qualitativ ungleich 364

Vgl. insbesondere Art. 26, 37, 71, 72, 80, 132 und 133 EGV. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 366 Ebd.

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bedeutsamere Abweichungen vom grundgesetzlich vorgegebenen Normalniveau sind daher in der Tat dann zu verzeichnen, wenn und soweit dem Rat in bestimmten Rechtsetzungsverfahren – abgesehen von der Kodezisionsmacht der Kommission – die alleinige Dezisionsbefugnis zusteht. Nun ist freilich bereits dargetan worden, dass eine derart starke Stellung des Rats, die damit korrelierende Schwäche des Europäischen Parlaments und die daraus resultierenden Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß personeller und materieller Legitimation geeignet und erforderlich sind, um im Sinne der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch überaus heterogenen und vitalen Belange und Interessen der Mitgliedstaaten im Rahmen der Hoheitstätigkeit der Union hinreichend zu berücksichtigen367. Zu überlegen bleibt freilich, ob insofern auch ein angemessener Ausgleich zwischen den Zielsetzungen der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm und denen der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm realisiert wird368. Diese Frage stellt sich umso nachdrücklicher, als die Legitimationseinbußen, um die es vorliegend geht, größer sind als bei den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten. Bei den vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten wesensmäßig markt­ konstituierenden Normsetzungsakten ist die Angemessenheit der Legitimationseinbußen, die mit der im Wesentlichen alleinigen Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat verbunden sind, in einem ersten und entscheidenden Schritt damit begründet worden, dass es überhaupt nur in Einzelfällen zu derartigen Legitimationsdefiziten kommt369. Eine solche Argumentation verfängt in Hinblick auf die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte zumindest prima vista nicht. Zwar verweist auch hier die Mehrheit der primärrechtlichen Ermächtigungsnormen auf das Mitentscheidungsverfahren. Jedoch werden immer noch etliche und nicht etwa nur vereinzelte vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte im Anhörungsverfahren370 beziehungsweise gänzlich ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments auf Vorschlag der Kommission371 oder ohne einen solchen372 durch den Rat erlassen. Zu berücksichtigen ist indessen, dass etliche der vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die ohne kodezisive Mitwirkung des Europäischen Parlaments vom Rat erlassen werden, auf Ermächtigungsnormen beruhen, die schon vor Erlass der Einheitlichen 367

Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. Zu diesem Angemessenheitserfordernis allgemein oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. 369 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. 370 Vgl. etwa 37, 13 Abs. 1, 62 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i und iii, 137 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. c, d, f und g, 166 Abs. 4, 175 Abs. 2, 181a Abs. 2 und 308 EGV. 371 Vgl. beispielsweise Art. 26, 60 Abs. 1, 100 Abs. 1, 132 Abs. 1und 301 EGV. 372 Vgl. insbesondere Art. 72 2. Halbsatz, 119 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b, 167 und 168 EGV. 368

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Europäischen Akte in Geltung standen373. Für diese Normsetzungsakte gilt, dass sich ihre Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß mittelfristig noch unter Hinweis auf die strukturellen Besonderheiten rechtfertigen lassen, die im Werden begriffene Hoheitsverbände kennzeichnen374. Lässt man daher diese EGNormsetzungsakte zunächst, eben mittelfristig, außen vor und betrachtet nur diejenigen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte, die auf Ermächtigungsnormen aus der hier sogenannten Konsolidierungsphase der EU basieren, so wird man auch für diese festhalten können, dass sie letztlich nur in Einzelfällen außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens ergehen375. Sofern sich indes die durch die Vorrangstellung des Rats bedingten Legitimationseinbußen in dieser mittelfristigen Perspektive auf Einzelfälle beschränken, wird man wie bei den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten376 davon ausgehen können, dass Bundesstaats- und Volkssouveränitätsnorm angemessen zum Ausgleich gebracht worden sind. Dem widerstreitet auch nicht, dass die rechtfertigungsbedürftige Legitimations­ lücke bei den wesensmäßig marktkonstituierenden vergleichsweise schmaler ist als bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten377. Zu erinnern ist nämlich, dass die Angemessenheit der Legitimationseinbußen bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten in einem zweiten Schritt damit begründet wurde, dass diese EG-Normsetzungsakte überhaupt nur dann außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens ergehen, wenn die Interessen und Belange der Mitgliedstaaten besonders intensiv und weitreichend tangiert sind378. Dasselbe gilt für die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte. Symptomatisch hierfür ist, dass die Rolle des Parlaments speziell im Bereich der Sozial- und Umweltpolitik gegenüber der des Rats teilweise sichtlich abgeschwächt ist379. Nun darf wohl davon ausgegangen werden, dass die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange dort sowohl heterogener als auch vitaler sind, wo es um Einzelheiten der Marktintervention geht, als wenn solche der Marktkonstitution tangiert sind. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass es in Hinblick auf die 373

Zu nennen sind hier insbesondere die Ermächtigungsnormen der Art. 26, 37, 132 Abs.1 und 308 EGV (= Art. 28, 37, 112 und 308 EWGV). 374 Dazu oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. 375 Dies gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil es sich um Normsetzungsakte handelt, die überwiegend eher randständige Regelungsbereiche betreffen (vgl. zum Beispiel Art. 62 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i und iii, 100 Abs. 1, 167, 168 und 181a Abs. 2 EGV) und im Übrigen nicht selten dem die legislative Produktion eindämmenden Einstimmigkeitsprinzip unterliegen (vgl. etwa Art.  13 Abs.  1, 72 2.  Halbsatz, 137 Abs.  2 UAbs.  1 Satz  1 in Verbindung mit Abs.  1 Buchst. c, d, f und g, 175 Abs. 2 und 308 EGV). 376 Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. 377 Dazu oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) = S. 1119. 378 Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. 379 Vgl. insbesondere Art. 137 Abs. 2 UAbs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. c EGV – dazu etwa Krebber, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.),  EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art.  137  EGV Rn.  16 f.  – sowie Art.  175 Abs.  2  EGV  – dazu Kahl, in: Streinz (Hrsg.),  EUV / EGV, 2003, Art. 175 EGV Rn. 14 ff.

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Marktkonstitution einen grundsätzlichen mitgliedstaatlichen Konsens gibt380, wohingegen Fragen gerade der sozial- und umweltpolitischen Intervention durchaus kontrovers beantwortet werden381. Daraus folgt dann aber auch, dass der Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Interessen und Belange in Hinblick auf potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte ein höheres Gewicht in der Abwägung beigemessen werden kann, als dies hinsichtlich wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakte möglich wäre. Infolgedessen erweist sich im Ergebnis der Ausgleich zwischen bundesstaatlichen und demokratischen Zielsetzungen auch bei den potenziell martktinterventionistischen Normsetzungsakten als angemessen, selbst wenn die Legitimationseinbuße eine größere ist als bei den wesensmäßig marktkonstituierenden. Die Legitimationseinbußen, die mit der partiellen Vorrangstellung des Rats verbunden sind, lassen sich des Weiteren insofern unter Rekurs auf die grund­ gesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen, als sie durch ein institutionell-organisatorisches Arrangement bedingt sind, das die föderative Integrität der Union abzusichern und zu vertiefen hilft. Auch insofern kann im Ausgangspunkt auf die Überlegungen verwiesen werden, die zu den wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten angestellt wurden. Dort ist nämlich bereits dargelegt worden, weshalb die partielle Stärkung des Rats geeignet und erforderlich ist, um diese bundesstaatliche Zwecksetzung zu erreichen382. Dass die dabei in Kauf genommenen Legitimationseinbußen in Hinblick auf die bundesstaatliche Zwecksetzung darüber hinaus angemessen sind, wird man ebenfalls annehmen können. Dafür spricht erstens der Einzelfallcharakter dieser Legitimationseinbußen. Wie eben dargelegt, lässt sich ein solcher Einzelfallcharakter dann unterstellen, wenn man nur diejenigen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte in den Blick nimmt, die auf primärrechtlichen Ermächtigungsnormen beruhen, welche mit oder nach Erlass der Einheitlichen Europäischen Akte ins Grundgesetz Eingang gefunden haben. Eine solche reduzierende Betrachtungsweise ist mittelfristig zulässig, weil die Legitimationseinbußen, die den auf älteren primärrechtlichen Ermächtigungsnormen basierenden marktinterventionistischen Normsetzungsakten anhaften, derzeit noch anderweitig gerechtfertigt werden. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange noch einmal deutlich heterogener und – damit zusammenhängend – auch vitaler sind, wenn es statt um marktkonstituierende um marktinterventionistische Normsetzungsakte geht383. Infolgedessen erweist sich die föderative Integrität im Rahmen 380

So im Ausgangspunkt auch Scharpf (Fn. 219), S. 53. Scharpf (Fn. 219), S. 74 ff. 382 Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062. 383 Denn im Fall der marktkonstituierenden Normsetzungsakte kann von tendenziell übereinstimmenden Präferenzen der Mitgliedstaaten ausgegangen werden, weil sie alle sich ökonomische Vorteile von der Schaffung eines funktionsfähigen Binnenmarkts erhoffen. Demgegenüber sind im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte die Interessen der Mitgliedstaaten diffus bis divergierend. 381

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der Marktintervention als vergleichsweise prekärer und können daher Abweichungen vom demokratischen Normalmaß in noch größerem Umfang bundesstaatlich gerechtfertigt werden, als dies bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten der Fall ist. Schließlich lassen sich die in Rede stehenden Legitimationsdefizite auch noch in der Hinsicht anhand der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm rechtfertigen, als sich die partielle Vorrangstellung des Rats in das Bemühen einschreibt, den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens effektiv zu bewältigen. Dass sich weitgehende normsetzerische Befugnisse des Rats als ein in Hinblick auf diese bundesstaatliche Zwecksetzung geeignetes und erforderliches insti­tutionell-prozedurales Arrangement erweisen, braucht an dieser Stelle nicht nochmals dargelegt zu werden384. Die Angemessenheit der damit verbundenen Legitima­tionsdefizite ergibt sich zum einen daraus, dass diese jedenfalls dann nur Einzelfälle betreffen, wenn man mittelfristig die bereits vor der Einheitlichen Euro­päischen Akte ins primäre Gemeinschaftsrecht inkorporierten Ermächtigungsnormen ausblendet, die ihrerseits häufiger als nur in Einzelfällen auf das Anhörungsverfahren verweisen. Zum anderen erschließt sich die Angemessenheit daraus, dass der Koordinationsbedarf im Bereich der Marktintervention nochmals deutlich höher ausfällt als im Bereich der Marktkonstitution, weil hier das Ob und Wie der Koordination nicht schon durch den Bezug auf den Marktmechanismus vorgezeichnet ist. Infolgedessen wiegt dieser bundesstaatliche Gesichtspunkt in Hinblick auf potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte stärker als bei wesensmäßig marktkonstituierenden und vermag infolgedessen bei jenen in noch größerem Umfang als bei diesen Legitimationsdefizite zu rechtfertigen.

(6) Die Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht Die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts eingeräumten Dezisionsbefugnisse erweisen sich noch unter einem weiteren Gesichtspunkt als unzureichend. So ist eben bereits angesprochen worden, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die vom Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst werden, nicht einmal dann das grundgesetzlich vorgezeichnete Normalmaß personeller und materieller Legitimation erreichen, wenn sie im Mitentscheidungsverfahren erlassen werden. Der entscheidende Grund hierfür ist, dass auch die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EGNormsetzungsakte primärrechtlich determiniert sind. Insoweit nämlich er­weisen sich die betreffenden EG-Normsetzungsakte als durchweg mehrfach vermittelt. Dabei müssten sie, um das grundgesetzliche Normalmaß zu wahren, mindestens 384

Dazu eingehend oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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hälftig auf der ersten Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen, was nach der Institutionenordnung der EU eine zumindest hälftige Dezisionsbefugnis des Europäischen Parlaments voraussetzte. Nun ist allerdings bereits ausführlich dargetan worden, weshalb es sich nach Maßgabe der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm rechtfertigen lässt, wenn dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung deshalb unzureichende Dezisionsbefugnisse zustehen, weil EG-Norm­ setzungsakte im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht gründen; insofern kann an dieser Stelle pauschal nach oben385 verwiesen werden. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte in stärkerem Umfang vom grundgesetzlichen Normalmaß abweichen als die wesensmäßig marktkonstituierenden. Denn oben ging es ausschließlich um die Recht­ fertigung derjenigen Legitimationslücke, die sich auftut, wenn man das Primärrecht an dem für ein Parlamentsgesetz maßgeblichen Legitimationsniveau misst. Dies aber ist just die Legitimationslücke, die auch vorliegend interessiert und zu rechtfertigen ist.

(7) Die Kodezisionsbefugnis des Rats auch jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung Aus Sicht des grundgesetzlichen Normalmaßes unzureichend sind die Dezi­ sionsbefugnisse, die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts eingeräumt werden, des Weiteren auch insofern, als es sich dabei durchweg um Kodezisionsbefugnisse handelt, das Europäische Parlament den Erlass eines Normsetzungsakts also immer nur gemeinsam mit dem Rat verfügen kann. Demgegenüber ist für das grundgesetzliche Normalmaß personeller und materieller Legitimation prägend, dass Normsetzungsakte jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung allein vom Parlament erlassen werden. Dass sich die insofern zu verzeichnende Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lässt, ist indes ebenfalls schon dargetan worden. Insofern kann einmal mehr nach oben verwiesen werden386. Dem widerstreitet auch nicht, dass dort die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte in Rede standen, die in geringerem Maße von dem grundgesetzlichen Normalmaß abweichen als die nunmehr thematischen potenziell marktinterventionistischen. Denn oben ging es nicht anders als hier um die Rechtfertigung des legitimatorischen Defizits, das auszumachen ist, wenn man das Legitimationsniveau von Sekundärrecht an demjenigen misst, das nach dem Grundgesetz für Parlamentsgesetze prägend ist.

385

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (8) = S. 1067. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (10) = S. 1071.

386

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

(8) Die partielle, vorrangige oder alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis bei der Kommission Die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvor­ behalts zustehenden Dezisionsbefugnisse erweisen sich schließlich auch insoweit als unzureichend, als sie durch Dezisionsbefugnisse der Kommission entweder eingeschränkt oder verdrängt sind. Eingeschränkt werden sie insofern, als der Kommission in Hinblick auf vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste Normsetzungsakte im Regelfall das Initiativmonopol zusteht; verdrängt sehen sich die Dezisionsbefugnisse dann, wenn der Kommission ausnahmsweise auch im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts eine alleinige oder doch vorrangige Dezisionsbefugnis zusteht. Darauf soll vertiefend allerdings erst an späterer Stelle eingegangen werden – nämlich dann, wenn auf die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission als weiterer Ursache der konstatierten Legitimationsdefizite ein­ gegangen wird387.

(9) Die materiell-direktive Legitimation der vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakte Vielfach erweisen sich die Dezisionsbefugnisse, die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts zustehen, auch dann als aus Sicht des grundgesetzlichen Normalmaßes unzureichend, wenn es um das Legitimationsniveau solcher potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakte geht, die selbst vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind. So ist zu erinnern, dass die vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemierten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte das für sie von Grundgesetzes wegen maßgebliche Normalmaß dann unterschreiten, wenn sie nicht ausnahmsweise in einem Verfahren erlassen werden, das dem Europäischen Parlament Kodezisionsbefugnis zuerkennt388. Die insofern zu konstatierenden Legitimationsdefizite lassen sich mit Rücksicht auf die Institutionenordnung der Union maßgeblich darauf zurückführen, dass das Europäische Parlament die materiellen Direktiven, die solche Normsetzungsakte dezisionär rückkoppeln,  – wenn überhaupt389 – in geringerem Ausmaß beherrscht, als Wesentlichkeitslehre und Art. 80 GG dies vom Bundestag in Hinblick auf zur Verordnungsgebung ermächtigende Gesetze erwarten. In dieser Perspektive können die Dezisionsbefugnisse, die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvor­ 387

Siehe unten Kapitel 13 II. 2. c) cc) (13) = S. 1139. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) bb) = S. 1116. 389 Werden EG-Normsetzungsakte ausnahmsweise aufgrund einer im Anhörungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm als Durchführungsrecht erlassen, trägt das Europäische Parlament nicht einmal geringfügig zur materiell-direktiven Legitimation bei. 388

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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behalts zukommen, tatsächlich auch insofern zur Erreichung des grundgesetzlichen Normalmaßes unzureichend sein, als es die materiell-direktive Legitimation solcher potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakte betrifft, die selbst außerhalb des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung angesiedelt sind. Jedenfalls mittelfristig lassen sich die insofern in Rede stehenden Legitima­ tionsdefizite durchweg rechtfertigen. Um dies im Einzelnen zu belegen, ist – anders als bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten390 – statt zwischen drei, lediglich zwischen zwei Konstellationen zu unterscheiden: In Ausnahmefällen ergehen vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte in Verfahren, in denen die Dezisionsmacht – abgesehen von der durch das Initiativmonopol bedingten und also relativ begrenzten Kodezisionsmacht der Kommission – allein beim ausschließlich primärrechtsgebundenen Rat liegt. Im Regelfall hingegen wird dieser Typus von EG-Normsetzungsakt durch die Kommission aufgrund sekundärrechtlicher Ermächtigungen als Durchführungsrecht erlassen; die insofern maßgeblichen sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen werden dabei überwiegend im Mitentscheidungsverfahren in Geltung gesetzt. Demgegenüber spielt die Ausnahmekonstellation, in der die Kommission aufgrund einer originär primärrechtsverliehenen Normsetzungsbefugnis einen vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierten Normsetzungsakt erlässt, im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte keine Rolle. Denn das primäre Gemeinschaftsrecht sieht solche Dezisionsbefugnisse der Kommission überhaupt nur für wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte vor.

(10) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf rein primärrechtlicher Grundlage durch den Rat Ein aus grundgesetzlicher Sicht rechtfertigungsbedürftiges Defizit an unmittelbar parlamentsvermittelter materiell-direktiver Legitimation lässt sich dann ausmachen, wenn vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte ausnahmsweise in Verfahren erlassen werden, in denen die Dezisionsmacht – abgesehen von der regelmäßig durch das Initiativmonopol bedingten und also relativ begrenzten Kodezisionsmacht der Kommission – allein beim Rat liegt391. Die in dieser Hinsicht zu diagnostizierenden Legitimationsdefizite sind freilich rasch gerechtfertigt.

390

Zu diesen oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (7) = S. 1066. Oben Kapitel 13 II. 2. c) bb) = S. 1116.

391

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Denn erstens wird man insofern  a fortiori392 auf die Erwägungen rekurrieren können, mit denen schon für vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte begründet worden ist, dass die vorrangige oder alleinige Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat in Hinblick auf die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes rechtfertigbar ist393. Zweitens und vor allem ist zu berücksichtigen394, dass die hier interessierenden, durch unzureichende Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments induzierten Legitimationsdefizite mit der Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im völkerrechtsvertraglich basierten Primärrecht zusammenhängen. Dass sich solcherart bedingte Legitimationsdefizite nach Maßgabe der Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, wurde – auch in Hinblick auf potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte395  – bereits dargetan. Dabei erweist sich in der vorliegenden Konstellation der Ausgleich zwischen bundesstaatlichen und demokratischen Anforderungen deshalb erst recht als gerechtfertigt, weil der Rat nur in Ausnahmefällen allein- oder hauptverantwortlich EG-Normsetzungsakte erlässt. Dieser zweite Rechtfertigungsansatz ist dabei deshalb besonders hervorzuheben, weil er allein an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpft und sich insofern auf längere und nicht nur auf mittlere Sicht als tragfähig erweist. Demgegenüber bezieht sich der erste Rechtfertigungsansatz a fortiori auf ein Rechtfertigungsmuster, das nicht nur auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rekurriert, sondern darüber hinaus auf die strukturellen Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands abstellt und sich insofern als nur mittelfristig belastbar erweist.

392 Hinsichtlich der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte konnte in derselben Konstellation (vgl. oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (9) = S. 1070) nicht unvermittelt auf das a-fortiori-Argument rekurriert werden. Dies hängt damit zusammen, dass dem Rat eine im Wesentlichen alleinige Dezisionsbefugnis in Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts nur in Einzelfällen zukommt, jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts indes in nicht nur vereinzelten Ausnahmefällen. Bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten ist jedoch tendenziell das Gegenteil der Fall, sodass problemlos auf das a-fortiori-Argument zurückgegriffen werden kann. 393 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. 394 Das im Folgenden angesprochene Rechtfertigungsmuster ließe sich auch dann ins Feld führen, wenn die Kommission im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte auf rein primärrechtlicher Basis vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommene EG-Normsetzungsakte erließe. Doch, wie gesagt (siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (8) = S.  1132), ist dies  – anders als im Bereich der wesensmäßig marktkonstituierenden Norm­ setzungsakte – nicht der Fall. 395 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (6) = S. 1130.

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(11) Erlass eines vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen EG-Normsetzungsakts auf Basis einer sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm durch die Kommission Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die vom absoluten Parlamentsvorbehalt exemiert sind, beruhen normalerweise nicht auf der im Wesentlichen alleinigen Dezisionsmacht des Rats. Vielmehr werden sie in der Regel aufgrund sekundärrechtlicher Ermächtigungsnormen von der Kommission als Durchführungsrecht erlassen396. Das den unzureichenden Dezisionsbefugnissen des Europäischen Parlaments zuordenbare Legitimationsdefizit beruht in diesen Konstellationen darauf, dass die den Durchführungsbestimmungen zuwachsende materiell-direktive Legitimation ein niedrigeres Legitimationsniveau aufweist, als Wesentlichkeitslehre und Art. 80 GG dies für die einer Rechtsverordnung zuwachsende materielle Direktive vorgeben. Soweit die legitimationsbedürftige Durchführungsbestimmung wie im Regelfall auf Basis einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Sekundärrechtsnorm erlassen wurde, kann zur Rechtfertigung der in Rede stehenden Legitimations­ defizite pauschal auf die Überlegungen verwiesen werden, die in diesem Zusammenhang zu den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten an­ gestellt worden sind. Denn erstens sind die grundgesetzlichen Anforderungen an die materiell-direktive Legitimation von normativen Verwaltungsabkommen einerseits und von Rechtsverordnungen andererseits identisch397. Dies hat zur Konsequenz, dass das Defizit an unmittelbar parlamentsvermittelter materiell-direktiver Legitimation bei potenziell marktinterventionistischem Durchführungsrecht nicht größer ist als bei wesensmäßig marktkonstituierendem, sofern denn die sekundärrechtliche Ermächtigungsnorm in beiden Fällen im Mitentscheidungs­verfahren ergangen ist. Zweitens knüpft die Rechtfertigung, die oben in Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte entwickelt wurde, nicht an Besonderheiten dieses Normsetzungstyps an398. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als unproblematisch, wenn die in Hinblick auf wesensmäßig marktkonsti­ tuierendes Durchführungsrecht angestellten Überlegungen auf die hier in Rede stehende Konstellation übertragen werden. Ein pauschaler Rückgriff auf die zu den wesensmäßig marktkonstituierenden Durchführungsbestimmungen entwickelten Gedanken scheidet indes aus, soweit die zur Durchführungsgesetzgebung ermächtigenden Sekundärrechtsbestimmungen ausnahmsweise statt im Mitentscheidungs- oder Zustimmungs- in einem Rechtsetzungsverfahren ergangen sind, das dem Europäischen Parlament keine Mitentscheidungsbefugnis einräumt. Zwar ist auch in diesem Fall das Defizit an 396

Dazu allgemein oben Kapitel 11 II. 2. a) = S. 933. Vgl. oben Kapitel 10 III. 1. b) cc) (1) = S. 741 und Kapitel 10 III. 2. c) bb) (1) = S. 807. 398 Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (10) = S. 1071.

397

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unmittelbar parlamentsvermittelter materiell-direktiver Legitimation bei potenziell marktinterventionistischem Durchführungsrecht nicht größer als bei wesensmäßig marktkonstituierendem. Jedoch knüpft die bundesstaatliche Rechtfertigung, die in diesem Zusammenhang in Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte vorgeschlagen worden ist, mitunter an Besonderheiten dieses Normsetzungstyps an, nämlich daran, dass außerhalb des Mitentscheidungs­ verfahrens erlassene wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts nur in Einzelfällen anzutreffen sind399. Demgegenüber ermächtigt das primäre Gemeinschaftsrecht zwar nicht häufiger als ausnahmsweise, aber eben nicht nur in Einzelfällen dazu, potenziell markt­ interventionistische Normsetzungsakte, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen, in einem anderen Rechtsetzungsverfahren als dem der Mitentscheidung beziehungsweise der Zustimmung zu erlassen400. Vor diesem Hintergrund ist folgendermaßen zu differenzieren: Beruht potenziell marktinterventionistisches Durchführungsrecht auf solchen im Anhörungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnormen, die ausnahmsweise vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommen sind, so basiert der in Ansehung des grund­ gesetzlichen Normalmaßes zu konstatierende Mangel an parlamentarischer Dezisionsmacht allein darauf, dass das Primärrecht auf völkerrechtlichen Verträgen beruht. Ein hierdurch bedingter Legitimationsabfall erweist sich freilich, wie nun schon mehrfach hervorgehoben401, als unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm ohne Weiteres rechtfertigbar. Soweit das potenziell marktinterventionistische Durchführungsrecht demgegenüber auf Ermächtigungsnormen basiert, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts  – auf Vorschlag der Kommission oder auch ohne eine solchen  – allein vom Rat in Geltung gesetzt werden, lässt sich das durch die unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingte Legitimationsdefizit mit denselben Argumenten rechtfertigen, mit denen bereits gerechtfertigt wurde, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen, im Wesentlichen allein vom Rat entschieden werden402. Denn wenn sich ein derartiges Legitimationsdefizit schon dann recht­ fertigen lässt, wenn es einen Normsetzungsakt insgesamt erfasst, dann gilt dies erst recht für die Fälle, in denen es einen Normsetzungsakt nur partiell erfasst, nämlich lediglich insoweit, wie sich die ihm zugrundeliegende Ermächtigungsnorm auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erstreckt403. 399

Ebd. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. 401 Siehe etwa oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (6) = S. 1130. 402 Dazu oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. 403 Anders als in der entsprechenden Konstellation bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten (vgl. oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (10) = S. 1071) vermag das argumentum  a fortiori in der hiesigen Konstellation zu verfangen. Dies hängt damit zusammen, dass Art.  59  GG geringere Anforderungen an die unmittelbar parlamentsvermittelte 400

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang freilich, dass die Legitimations­ defizite, die sich mit der im Wesentlichen alleinigen Verortung der Dezisionsbefugnis beim Rat verbinden, im Fall der vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte nicht allein in Ansehung der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden konnten. Vielmehr musste zusätzlich auf den rechtfertigenden Umstand abgestellt werden, dass das Anhörungsverfahren den Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands geschuldet ist. Insofern freilich lassen sich die fraglichen Legitimationsdefizite nur mittelfristig noch rechtfertigen404. Mithin erweist sich denn auch der hier vorgeschlagene a-fortiori-Schluss nur mehr mittelfristig als tragfähig.

(12) Rechtfertigung unter Vorbehalt Dass die dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts eingeräumten Dezisionsbefugnisse ganz überwiegend zu knapp bemessen sind, um das aus grundgesetzlicher Sicht in Hinblick auf potenziell markt­ interventionistische EG-Normsetzungsakte gebotene Normalmaß personeller und materieller Legitimation zu erreichen, lässt sich, wie dargelegt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch rechtfertigen. Allerdings steht die vorstehend entwickelte Rechtfertigung unter Vorbehalt. Sie kann sich nämlich zum kleineren Teil bereits mittelfristig, zum größeren Teil immerhin langfristig als nicht mehr tragfähig erweisen: Ergehen potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst sind, ausnahmsweise in einem Normsetzungsverfahren, in dem das Europäische Parlament nicht als Mitentscheider neben den Rat tritt, sondern dieser über eine relativ größere Dezisionsmacht verfügt, so kann das hieraus resultierende Legitimationsdefizit rein bundesstaatlich nicht mehr gerechtfertigt werden. Vorstehend ist daher zusätzlich auf die Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rekurriert worden405. Entsprechendes gilt für die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die auf der Basis sekundärrechtlicher Ermächtigungsnormen ergehen. Dass die

Legitimation von diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehenden Normsetzungsakten völkerrechtsvertraglicher Provenienz stellt als an die normativen Verwaltungsabkommen zugrunde liegenden parlamentsgesetzlichen Ermächtigungen; demgegenüber entspricht das Legitimations­niveau, das die im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehenden rein innerstaatlichen Normsetzungsakte prägt, selbstverständlich demjenigen, das eine Bundesrechtsverordnungen determinierende Parlamentsdirektive von Grundgesetzes wegen aufweisen muss. 404 Dazu oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 405 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (5) = S. 1062.

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ihnen zuwachsende materiell-direktive Legitimation das grundgesetzliche Normalmaß unterschreitet, lässt sich allein auf das Bundesstaatsprinzip gestützt nur rechtfertigen, wenn die Ermächtigungsnormen im Mitentscheidungs- beziehungsweise – vereinzelt – im Zustimmungsverfahren ergangen sind und / oder wenn das Primärrecht bereits alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen trifft. Ansonsten bedarf es einer zusätzlichen Rechtfertigung. Diese ist aus den strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands hergeleitet worden406. Nun kommt dem Hinweis auf die strukturellen Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands freilich nur mittelfristig noch rechtfertigende Wirkung zu407. Denn in dem Maße, in dem sich das europäische Gemeinwesen als staatsähnliches Gebilde konsolidiert, verblasst dieser Rechtfertigungsgrund auch in Ansehung solcher EG-Normsetzungsakte, die auf primärrechtlichen Ermächtigungsnormen beruhen, die aus der Konstruktionsphase der EWG / EG stammen. Für das vorgeschlagene Rechtfertigungsmuster hat dies folgende Konsequenz: Es vermag nur noch mittelfristig die Grundgesetzkompatibilität solcher potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakte zu begründen, bei der sich die durch die unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite ausnahmsweise nicht allein unter Rückgriff auf die grund­ gesetzliche Bundesstaatsnorm, sondern nur unter zusätzlichem Rekurs auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rechtfertigen lassen. Aber auch soweit sich die durch die unzureichenden Dezisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite  – wie im Regelfall  – allein unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, besteht diese Rechtfertigungsmöglichkeit nicht ad infinitum: Die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfende Rechtfertigung kann im Verlauf der weiteren Integration an Durchschlagskraft verlieren, weil die mitgliedstaatlichen Interessen und Belange homogener werden beziehungsweise der auf EU-Ebene zu konstatierende Koordinationsbedarf geringer wird408.

406

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (11) = S. 1135. Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 408 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (11) = S. 1076.

407

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(13) Die Erstreckung der (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission auf den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung, ihr weitreichendes Initiativmonopol sowie ihre Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung als Ursache von Legitimationsdefiziten Zumindest mittelfristig lassen sich demnach die Legitimationseinbußen rechtfertigen, die die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte insofern ausprägen, als dem Europäischen Parlament  – gemessen an dem grundgesetz­ lichen Normalmaß  – unzureichende Dezisionsbefugnisse zukommen. Ähnliches gilt für die Legitimationsdefizite, die potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte insofern kennzeichnen, als sie auf der (Ko-)Dezisionsmacht der Kommission beruhen. Dabei ist im Ausgangspunkt zum einen klarzustellen, dass sich diese Legitimationsdefizite nur ausnahmsweise unter Berufung auf die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm rechtfertigen lassen. Denn in Hinblick auf potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte vermag dieser Rechtfertigungsansatz in der Regel nicht zu verfangen409. Zum anderen ist festzuhalten, dass die in Rede stehenden Legitimationseinbußen nur zum kleineren Teil unter Rekurs auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands rechtfertigbar sind. Denn bei erheblicheren Legitimationseinbußen, wie sie auch durch die (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission hervorgerufen werden, erweist sich dieser – ohnedies bestenfalls mittelfristig wirksame – Rechtfertigungsansatz unter einer einzigen Bedingung als tragfähig: Die rechtfertigungsbedürftige Legitimationslücke muss einen Normsetzungsakt betreffen, der selbst beziehungsweise dessen sekundärrechtliche Ermächtigungsgrundlage durch primärrechtliche Vorschriften determiniert wird, die bereits vor Erlass der Einheitlichen Europäischen Akte in Geltung standen. Dies aber ist bei den potenziell marktinterventionis­ tischen Normsetzungsakten überwiegend nicht der Fall410. Es ist folglich ganz entscheidend, wenn auch nicht ausschließlich auf das Recht­ fertigungspotenzial der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm zurückzuführen, wenn durchweg alle Legitimationsdefizite, die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten aufgrund der (Ko-)Dezisionsmacht der Kommission anhaften, zumindest mittelfristig einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zugänglich sind. Begründen lässt sich dies – jedenfalls im ersten Zugriff – ausgehend von den Argumentationsmustern, die im selben Zusammenhang bereits in Hinblick auf die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte entwickelt wurden411. 409

Oben Kapitel 11 I. 4. c) = S. 914. Ebd. 411 Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078.

410

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(14) Das Initiativmonopol der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Das Legitimationsdefizite auslösende Initiativmonopol der Kommission erweist sich gleich in zweifacher Hinsicht als geeignet und erforderlich, um bundesstaatliche Zwecke zu fördern. Denn das Initiativmonopol kann als institutionell-pro­ zedurales Arrangement qualifiziert werden, das nicht nur die föderative Integrität der Union absichern hilft, sondern zugleich – unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens – den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht412. In Hinblick auf die dadurch verfolgten Zwecksetzungen stellen sich die durch das Initiativmonopol bedingten Legitimationsdefizite des Weiteren auch nicht etwa als unverhältnismäßig dar. Dafür spricht insbesondere das Argument, das in diesem Zusammenhang auch schon bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten ins Feld geführt worden ist: Das Initiativmonopol vermittelt der Kommission nur eine vergleichsweise geringe Kodezisionsmacht; infolge­ dessen hält sich auch die Legitimationseinbuße in eng bemessenen Grenzen413. Werden nun freilich Legitimationsdefizite, die potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte aufgrund der (Ko-)Dezisionsbefugnis der Kommission ausprägen, in derselben Weise gerechtfertigt, wie dies bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten geschehen ist, so mag dies in immerhin einer Hinsicht als zweifelhaft erscheinen. Schließlich wurde festgestellt, dass der Rechtfertigungsbedarf bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten höher ist als bei wesensmäßig marktkonstituierenden414. Insofern stellt sich in der Tat die Frage, ob ein in Hinblick auf wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte entwickeltes Rechtfertigungsmuster auch bei den potenziell marktinterventionistischen noch als hinreichend tragfähig angesehen werden kann. Dies ist deshalb zu bejahen, weil den von der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm getragenen Gesichtspunkten in Hinblick auf potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte ein noch größeres Gewicht zukommt als bei wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten415. Infolgedessen können im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte von bundesstaatlichen Zwecksetzungen gedeckte Legitimationsdefizite auch dort noch als in Ansehung der Volkssouveränitätsnorm angemessen qualifiziert werden, wo dies im Fall eines wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakts nicht mehr möglich wäre.

412

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (13) = S. 1079. Oben Kapitel 13 II. 2. c) aa) = S. 1113. 414 Oben Kapitel 13 II. 2. b) cc) = S. 1106. 415 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126.

413

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Vor diesem Hintergrund lässt sich denn auch gut vertreten, dass die Legitima­ tionsdefizite, die potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte aufgrund des Initiativmonopols der Kommission prägen, nicht etwa als demokratisch unverhältnismäßig, sondern als durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt anzusehen sind.

(15) Die alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Dass der Kommission im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ausnahmsweise eine alleinige oder jedenfalls vorrangige Dezisionsbefugnis zukommt, ist zumindest einer der drei Zwecksetzungen subsumierbar, die als der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm entsprechend angesehen werden können. Dieses institutionell-prozedurale Arrangement sucht nämlich unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen416. Ist eine sich auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erstreckende Alleindezisionsbefugnis der Kommission demnach geeignet und erforderlich, bundesstaatliche Zwecke zu erfüllen, so bleibt zu klären, ob diese Form der Zweckverwirklichung unter Demokratiegesichtspunkten auch angemessen ist. Für die Kategorie der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte ist dies unter Hinweis darauf bejaht worden, dass die Kommission diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts nur in Einzelfällen allein- beziehungsweise hauptverantwortlich über wesentliche Regelungen in wesentlichen legislativen Sachbereichen beziehungsweise über sonstige dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallende Bestimmungen entscheiden darf417. Insofern stellt sich die Frage, ob auch für den Bereich der vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte davon ausgegangen werden kann, dass der Kommission nur Einzelfällen eine alleinige oder jedenfalls hauptverantwortliche Dezisionsbefugnis zukommt. Denn wäre dies der Fall, könnte auch für die Kategorie der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte unterstellt werden, dass das in Rede stehende institutionell-prozedurale Arrangement bundesstaatliche Zwecke in demokratisch noch angemessener Weise fördert. Dem ließe sich insbesondere nicht entgegenhalten, dass das recht­ fertigungsbedürftige Legitimationsdefizit bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten größer ist als bei den wesensmäßig marktkonstituierenden. Denn aus den eben erst in Erinnerung gerufenen Gründen kommt der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm im Bereich der potenziell marktinterven­ 416

Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (13) = S. 1079. Ebd.

417

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

tionistischen Normsetzungsakte ein entsprechend größeres Rechtfertigungspotenzial zu418. Bei bilanzierend-wertender Betrachtung kann nun tatsächlich, wenn auch nur mittelfristig, davon ausgegangen werden, dass die Kommission im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte lediglich in Einzelfällen allein- beziehungsweise hauptverantwortlich über wesentliche legislative Sach­ bereiche betreffende wesentliche Regelungen entscheidet beziehungsweise sonstige dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallende Regelungen trifft. Dafür streiten im Wesentlichen drei Gesichtspunkte. Zwar würden diese, jeweils für sich betrachtet, womöglich nicht ausreichen, um den Einzelfallcharakter der in Rede stehenden Konstellation zu begründen. Anderes ergibt sich indes im Fall der Zusammenschau. So ist erstens festzuhalten, dass der Kommission originär primärrechtsvermittelte Normsetzungsbefugnisse überhaupt nur im Bereich des wesensmäßig marktkonstituierenden, nicht aber in Hinblick auf potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte zustehen419. Wenn die Kommission auch im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte Regelungen zu treffen vermag, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen, so hängt dies von daher allein damit zusammen, dass, wie bereits besprochen, die primärrechtlichen Anforderungen an die Regelungsdichte der dem Durchführungsrecht zugrundeliegenden sekundärrechtlichen Ermächtigungsnormen nur in aller Regel den Anforderungen genügen, die das Grundgesetz an die zum Verordnungserlass ermächtigenden Parlamentsgesetze stellt420. Insofern bleibt unter dem ersten Gesichtspunkt fest­ zuhalten, dass der Kommission eine alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung von vornherein überhaupt nur in engen Ausnahmefällen zusteht. Nun ist zweitens zu berücksichtigen, dass zumindest partiell auch im Bereich der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte der Rechtfertigungsgrund greift, der auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Normsetzungsakts abstellt. Dies gilt, wie bereits dargelegt, gerade auch für viele der ausnahmsweise ohne kodezisive Mitwirkung des Europäischen Parlaments vom Rat erlassenen Normsetzungsakte421. Insofern lässt sich folgendes Tableau entwerfen: Greift die Kommission bei Erlass von Durchführungsrecht ausnahmsweise auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts über, weil die ohne entscheidende Mitwirkung des Europäischen Parlaments erlassene sekundärrechtliche Bestimmung nicht alle im doppelten Sinn wesentlichen Regelungen getroffen hat beziehungsweise nicht hinreichend bestimmt ist, so wird dies

418

Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (8) = S. 1132. 420 Oben Kapitel 11 II. 2. a) bb) = S. 938. 421 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126.

419

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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häufig, wenn auch bloß mittelfristig, durch die Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund kann tatsächlich davon ausgegangen werden, dass  – bei Erlass des zur Durchführungsgesetzgebung ermächtigenden Sekundärrechts ohne kodezisives Mitwirken des Europäischen Parlaments  – ein unter Rückgriff auf die grund­ gesetzliche Bundesstaatsnorm zu deckendes Legitimationsdefizit mittelfristig nur in Einzelfällen vorkommt. Somit bleibt drittens noch darauf hinzuweisen, dass dort, wo die Kommission auf der Grundlage einer im Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren erlassenen sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte erlässt, ein Übergreifen auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts gleichfalls auf Einzelfälle beschränkt sein dürfte. Diese Annahme stützt sich auf eine realistische Analyse der in diesem Zusammenhang relevanten Normsetzungsverfahren: Zumindest in der gegenwärtigen und längst nicht abgeschlossenen Integrationsphase ist das Europäische Parlament noch dabei, seine Machtstellung innerhalb des Institutionengefüges der EU auszubauen422. Es ist ihm mit anderen Worten daran gelegen, so viele Machtbefugnisse wie möglich in seiner Hand zu vereinen und zu halten. Insbesondere hat das Europäische Parlament  – anders als zum Teil  der Rat  – keinerlei Interesse daran, in größerem Umfang als unbedingt nötig Normsetzungsbefugnisse an die Kommission abzutreten. Diese Realanalyse legt den Schluss nahe, dass es sich das Euro­ päische Parlament im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens nur in Einzelfällen nehmen lassen wird, die wesentliche Sachbereiche betreffenden wesentlichen Regelungen selbst zu treffen beziehungsweise das von der Kommission qua Durchführungsrecht umzusetzende Normsetzungsprogramm hinreichend bestimmt zu fixieren. Infolgedessen wird die Kommission letztendlich nur in Einzelfällen aus dem demokratisch hinreichend eng geschnürten Rahmen ausbrechen, der ihren Durch­führungsbestimmungen durch den typischerweise im Mitentscheidungs- und vereinzelt im Zustimmungsverfahren ergangenen Basisrechtsakt gesetzt ist. Wenn nach allem bei bilanzierend-wertender Betrachtung auf immerhin mittlere Sicht davon ausgegangen werden kann, dass der Kommission im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung eine alleinige oder vorrangige Dezisionsbefugnis nur in Einzelfällen zukommt, so lassen sich die dadurch bedingten Legitimationsdefizite als mit Rücksicht auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch als demokratisch angemessen qualifizieren.

422 Paradigmatisch hierfür ist das Ringen um den Verfassungs- beziehungsweise Reformvertrag – siehe etwa Bieber (Fn. 48), § 4 Rn. 38.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

(16) Das Initiativmonopol der Kommission außerhalb des Bereichs des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung Wie bereits dargelegt, lassen sich die durch das Initiativmonopol der Kommission bedingten Legitimationsdefizite selbst dann unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen, wenn es um diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehende Normsetzungsakte geht423. A fortiori können die insofern entwickelten Argumente zur Rechtfertigung derjenigen Legitimations­ defizite herangezogen werden, die sich daraus ergeben, dass der Kommission ein Initiativmonopol in Hinblick auf solche Normsetzungsakte zufällt, die außerhalb des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergehen. Denn in dieser Konstellation sind die Legitimationsdefizite geringer.

(17) Die Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung Ebenso wie ihr Initiativmonopol kann auch die Zwitterstellung, die die Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung einnimmt, als institutionell-prozedurales Arrangement gewertet werden, das gleich unter zwei Gesichtspunkten bundesstaatliche Zwecke befördert. Denn besagte Zwitterstellung trägt erstens zur föderativen Integrität der Union bei und sieht sich zweitens in den Versuch eingeschrieben, den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens effektiv zu bewältigen424. Dabei erweist sich die in Rede stehende Zwitterstellung der Kommission in Hinblick auf die genannten bundesstaatlichen Zwecke nicht etwa nur als geeignet und erforderlich, sondern zugleich auch als demokratisch angemessen. Hierfür spricht entscheidend, dass die Legitimationsdefizite, die durch die Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Wirkkraft generiert werden, nicht die Stufe demokratischer Vermitteltheit, sondern lediglich die Wirkkraft materiell-kontrollativer Legitimation betreffen. Einer solchen bundesstaatlichen Rechtfertigung der durch die Zwitterstellung der Kommission bedingten Legitimationsdefizite widerstreitet es im Übrigen nicht, dass mit exakt derselben Begründung auch schon die vergleichsweise geringeren Legitimationsdefizite gerechtfertigt worden sind, die bei wesensmäßig marktkons­ tituierenden Normsetzungsakten durch die Zwitterstellung der Kommission ausgelöst werden. Denn der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm wohnt im Kontext der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte ein vergleichsweise 423

Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (14) = S. 1140. Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (16) = S. 1085.

424

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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größeres Rechtfertigungspotenzial inne425, sodass es auch die relativ größeren Legitimationseinbußen zu rechtfertigen vermag, die die potenziell marktinterven­ tionistischen im Vergleich zu den wesensmäßig marktkonstituierenden Norm­ setzungsakten kennzeichnen.

(18) Rechtfertigung unter Vorbehalt Soweit sich die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte in Hinblick auf die (Ko-)Dezisionsbefugnisse der Kommission als demokratisch defizitär erweisen, kommt, wie dargetan, gegenwärtig noch eine Rechtfertigung in Betracht. Allerdings steht diese Rechtfertigung wiederum unter Vorbehalt. Sie ist nämlich aufschiebend bedingt, und zwar zum geringeren Teil  mittelfristig, zum größeren Teil langfristig. Erweist sich Durchführungsrecht deshalb als demokratisch defizitär, weil die dazu ermächtigende Sekundärrechtsnorm im Anhörungsverfahren erlassen wurde und den Erlass von im doppelten Sinn wesentlichen Regelungen gestattet oder aber unzureichend bestimmt ist, so kann das dadurch bedingte Legitimationsdefizit nicht allein unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden. Es wurde daher vorstehend zusätzlich auf die strukturellen Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands abgestellt. Freilich kommt diesem Rechtfertigungsgrund nur noch mittelfristig rechtfertigende Wirkung zu426. Soweit die Legitimationsdefizite, die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten infolge von (Ko-)Dezisionsbefugnissen der Kommission anhaften, im Übrigen durchweg allein unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigbar sind, steht auch diese Rechtfertigung unter Vorbehalt. Denn auch die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anschließende Rechtfertigung kann in Wegfall geraten427.

(19) Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten Speziell in Hinblick auf diejenigen Legitimationsdefizite, die nicht unter Rekurs allein auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm und daher nur mehr mittelfristig gerechtfertigt werden können, ist zu prüfen, ob insoweit nicht auf jenes zweite vom Staatsziel der europäischen Einigung gedeckte Rechtfertigungs­muster rekurriert werden kann, wonach in Hinblick auf alternative Demokratiearrangements der übrigen EU-Mitgliedstaaten gewisse Abweichungen vom grundgesetz 425

Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 427 Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (11) = S. 1076.

426

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

lichen Normalmaß zugelassen werden können428. Doch auch soweit sich die für potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte charakteristischen Legitimationsdefizite allein unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, bleibt es jedenfalls in einer Langzeitperspektive von Belang, ob sich diese Legitimationsdefizite außerdem noch in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer Mitgliedstaaten rechtfertigen lassen. Nun zeigt freilich die nähere Analyse, dass sich die partiell schon mittelfristig und überwiegend immerhin langfristig zu gewärtigenden Rechtfertigungslücken unter Hinweis auf alternative nationalstaatliche Verfassungstraditionen nicht annähernd vollständig schließen lassen. Wendet man sich in diesem Zusammenhang zunächst den Legitimationsdefiziten zu, die nicht allein unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden können, so ergibt sich folgendes Bild: Diese Legitimationsdefizite entstehen, wenn potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts angesiedelt sind, ausnahmsweise vom Rat ohne kodezisive Mitwirkung des Parlaments erlassen werden429, ferner wenn potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts zu verorten sind, auf einer außerhalb des Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahrens vom Rat erlassenen sekundärrechtlichen Ermächtigung beruhen und das insofern maßgebliche Primärrecht nicht schon alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen getroffen hat430, sowie dann, wenn die Kommission aufgrund einer vom Rat ohne kodezisive Mitwirkung des Europäischen Parlaments erlassenen Sekundärrechtsnorm Durchführungsrecht erlässt, das auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts übergreift431. Soweit diese Legitimationsdefizite darauf beruhen, dass Regelungen, die unwesentliche Sachbereiche betreffen, ausnahmsweise ohne hinreichend bestimmte parlamentsgesetzliche Ermächtigung von einem oder mehreren Exekutivorganen getroffen werden, lässt sich dies mit Rücksicht auf die in anderen EU-Mitgliedstaaten anerkannte autonome Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive432 rechtfertigen433. Beruhen die fraglichen Legitimationsdefizite hingegen darauf, dass Exekutivorgane in wesentlichen Regelungsbereichen autonom Recht setzen, so kann dies allenfalls in Einzelfällen unter Hinweis auf die Verfassungs­ tradition anderer Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden434. Hieraus erhellt, dass dort, wo die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm allein nicht ausreicht, um die konstatierten Legitimationsdefizite zu rechtfertigen, der Rechtfertigungstopos der alternativen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen 428

Dazu Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. 430 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (11) = S. 1135. 431 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (15) = S. 1141. 432 Vgl. insbesondere Art. 37 frz. Verf. sowie Art. 198 Abs. 1 Buchst. a port. Verf. 433 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (18) = S. 1088. 434 Ebd.

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Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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nur partiell in der Lage ist, die insoweit bestehenden Rechtfertigungslücken zu schließen. In Hinblick auf besonders prekäre Legitimationsdefizite muss auch bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Verfassungstraditionen der EU-Mitgliedstaaten weiterhin auf den nur mittelfristig noch wirksamen Rechtfertigungsgrund der strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rekurriert werden. Dies gilt für diejenigen Legitimationsdefizite, die daraus erwachsen, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die in wesentlichen legislativen Sachbereichen wesentliche Regelungen treffen, zwar nur in Ausnahme-, nicht aber in bloßen Einzelfällen im Anhörungsverfahren er­ gehen435, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die unwesentliche Regelungen in wesentlichen Regelungsbereichen treffen, nicht nur in Einzelfällen auf einer im Anhörungsverfahren erlassenen sekundärrechtlichen Ermächtigung beruhen436 und dass die Kommission aufgrund einer im Anhörungsverfahren ergangenen Sekundärrechtsnorm häufiger als nur vereinzelt Durch­ führungsrecht erlässt, das für wesentliche Regelungsbereiche Wesentliches entscheidet437. Damit bleibt noch auf die Legitimationsdefizite einzugehen, die sich allein unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen. Sie können in Hinblick auf die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen nur sehr eingeschränkt gerechtfertigt werden. Zwar ist es in dieser Perspektive in zumindest bestimmtem Umfang rechtfertigbar, wenn die parlamentarischen Dezisionsbefugnisse zu knapp bemessen sind. Jedoch ändert diese Rechtfertigungsmöglichkeit nichts daran, dass diejenigen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation unterschreiten, bei Wegfall der bundesstaatlichen Rechtfertigungsmöglichkeit nicht mehr zu rechtfertigen wären. Dies folgt allein schon daraus, dass sich das demokratische Defizit in diesen Fällen immer zumindest auch daraus ergibt, dass an der EG-Normsetzung stets zumindest eines der beiden zentralen Exekutivorgane der EU beteiligt ist und diese, Rat beziehungsweise Kommission, eine demokratisch defizitäre materiell-kontrollative Legitimation vermitteln. Das hierdurch bedingte Legitimationsdefizit indes lässt sich unter Berufung auf alternative Verfassungstraditionen anderer Mitgliedstaaten gerade nicht rechtfertigen438. Sollte mit anderen Worten der bundesstaatliche Rechtfertigungstopos an Durchschlagskraft verlieren, würden ausnahmslos alle potenziell marktinterventionis­ tischen Normsetzungsakte dem Verdikt der Grundgesetzwidrigkeit anheimfallen, die sich – was überwiegend der Fall ist – als in Hinblick auf das grundgesetzliche Normalmaß defizitär erweisen. Daran könnte auch der Hinweis, dass einzelne mit 435

Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (11) = S. 1135. 437 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (15) = S. 1141. 438 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (18) = S. 1088.

436

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

gliedstaatliche Verfassungsordnungen geringere Demokratieanforderungen stellen als die deutsche, nichts ändern.

d) Das bei den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht realisierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte unterschreiten in revi­ sionärer Hinsicht fast durchweg das grundgesetzliche Normalmaß. Dieses wahren sie nämlich nur in den seltenen Ausnahmefällen, in denen sie jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts, aber diesseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts im Mitentscheidungs- beziehungsweise Zustimmungsverfahren erlassen wurden. In allen anderen Konstellationen und damit in der großen Mehrzahl der Fälle indessen wird das grundgesetzliche Normalmaß in mehr oder minder großem Umfang verfehlt. Die Legitimationsdefizite, die den potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht ganz überwiegend anhaften, können jedoch zumindest mittelfristig noch unter Rekurs auf die grund­ gesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden.

aa) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte müssten, um in revisionärer Hinsicht das für sie maßgebliche grundgesetzliche Normalmaß zu erreichen, den Grad demokratischer Abgeleitetheit realisieren, der die im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ergangenen rein innerstaatlichen Normsetzungsakte insofern prägt439. Nun werden die in Rede stehenden rein innerstaatlichen Norm­ setzungsakte, wie bereits dargelegt, durch einen beziehungsweise zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden440: Jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung existiert nur der an alleinige Revisionsbefugnis des Parlaments anschließende Legitimationszusammenhang. Diesseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung werden formelle Gesetze dem Grundgesetz zufolge zwar überwiegend über den an die gemeinsame Revisionsmacht von Bundestag und Bundesrat anknüpfenden Legitimationszusammenhang rückgebunden; dieser steht jedoch nicht allein, sondern wird durch einen an die alleinige Revisionsmacht des 439

Zu den dogmatischen Hintergründen oben Kapitel 10 III. 3. = S. 827. Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) aa) (8) = S. 803.

440

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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Parlaments anknüpfenden Legitimationszusammenhang ergänzt, der die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallenden Gesetze insoweit erfasst, als es um ihre Aufhebung geht. Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten rein innerstaatlichen Normsetzungsakten weisen somit in revisionärer Hinsicht einen Grad demokratischer Abgeleitetheit auf, der  – zumindest überwiegend  – von einer unmittelbar parlamentsvermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimation geprägt wird. Dieses vom Grundgesetz im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts für normal angesehene Legitimationsniveau wird – in unterschiedlichem Umfang – von durchweg allen EG-Normsetzungsakten verfehlt. Dies gilt selbst für diejenigen EG-Normsetzungsakte, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen wurden. Diese bleiben schon dort hinter dem grundgesetz­ lichen Normalmaß zurück, wo die Nichtrevisionsentscheidung allein nach Maßgabe von Art. 48 EUV an den Volkswillen rückgebunden ist. Denn insofern erfolgt die personelle und materiell-kontrollative Legitimation überwiegend auf der zweiten Stufe demokratischer Vermitteltheit, weil die nationalen Regierungsexeku­tiven in größerem Umfang an der Revisionsmacht teilhaben als die nationalen Parlamente441. Aber auch soweit die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte nicht allein nach Maßgabe des Art. 48 EUV, sondern zusätzlich noch im Rahmen des Art. 251 EGV revisionär rückgebunden sind, unterschreiten sie das Niveau demokratischer Legitimation, das das Grundgesetz für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorsieht, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfasst sind: Betrachtet man zunächst nur den an die Vorschriften über das Mitentscheidungsverfahren anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang, so zeigt sich, dass die einem Normsetzungsakt insofern zuwachsende per­sonelle und materiell-kontrollative Legitimation stärker exekutivisch vermittelt wird, als dies bei vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung erfassten rein innerstaatlichen Normsetzungsakten selbst dann der Fall ist, wenn diese dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Denn schließlich kommt im Rahmen von Art. 251 EGV neben dem Rat auch der Kommission Korevisionsmacht zu, sodass das Europäische Parlament unter diesen Verfahrensbedingungen nicht einmal über die Hälfte der Revisionsmacht verfügt442. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass sich bei einer Rückbindung über mehrere revisionäre Legitimationszusammenhänge der Grad demokratischer Abge­ leitetheit anteilig nach allen insoweit verfangenden revisionären Legitimationszusammenhängen bestimmt443. Nun wird das hier interessierende grundgesetzliche Normalmaß nicht nur insofern unterschritten, als die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte im Rahmen von Art. 251 EGV rückge 441

Oben Kapitel 13 II. 1. d) = S. 1036. Ebd. 443 Dazu allgemein oben Kapitel 6 V. 1. b) ee) (1) = S. 433.

442

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

bunden sind. Vielmehr ist dies, wie dargetan, auch insofern der Fall, als sich die revisionäre Rückkoppelung nach Maßgabe von Art. 48 EUV vollzieht. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Mitentscheidungsverfahren erlassenen potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte auch insoweit hinter dem für sie grundgesetzlich maßgeblichen Normalmaß zurückbleiben, als sie nicht nur über den an Art. 48 EUV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhang rückgebunden sind. Unterschreiten indes schon die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EGNormsetzungsakte in revisionärer Hinsicht das Legitimationsniveau, das vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste rein innerstaatliche Normsetzungsakte aufweisen, so gilt dies a fortiori für die in den übrigen Normsetzungsverfahren ergangenen. Denn dafür, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte dieses Legitimationsniveau verfehlen, sind in erster Linie die unzureichenden parlamentarischen Revisionsbefugnisse maßgeblich. Dieser Umstand bewirkt, dass die personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträge auf einer in Ansehung des grundgesetzlichen Normalmaßes zu hohen Stufe demokratischer Vermitteltheit ergehen. In den übrigen Normsetzungsverfahren freilich ist die parlamentarische Normsetzungs- und -revisionsmacht noch knapper bemessen als im Mitentscheidungsverfahren444. Infolgedessen wird insofern das grundgesetzliche Normalmaß erst recht nicht gewahrt.

bb) Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung nicht erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte Im Fall der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommen sind, bestimmt sich das grundgesetzliche Normalmaß nach dem in Art. 80 GG vorgezeichneten Legitimationsniveau. Insofern ist zu erinnern, dass Rechtsverordnungen, soweit 444 Für das Zusammenarbeits- sowie das Anhörungsverfahren versteht sich dies von selbst. Soweit es freilich um Durchführungsrecht geht, das auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen und revidierbaren Ermächtigungsnorm beruht, könnte man prima vista den Eindruck gewinnen, dass die parlamentarische Revisionsmacht hier nicht knapper bemessen ist als im Mitentscheidungsverfahren. Denn schließlich kann das Europäische Parlament unter den Voraussetzungen des Art. 251 EGV nicht nur auf die in diesem Verfahren erlassenen Normen, sondern mittelbar auch auf Durchführungsrecht zugreifen, das auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Norm gründet. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die parlamentarische Revisionsmacht, sofern sie sich auf das betreffende Durchführungsrecht bezieht, insoweit nicht alleine steht, als das Durchführungsrecht immer auch – unabhängig vom Parlament – von der Kommission revidiert werden kann. Mithin reicht die parlamentarische Revisionsmacht bei Durchführungsrecht, das auf einer im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Ermächtigungsnorm beruht, eben doch weniger weit als bei gemäß Art. 251 EGV in Geltung gesetzten Normsetzungsakten.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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sie dem bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt nicht unterfallen, durch zwei revisionäre Legitimationszusammenhänge rückgebunden sind445. Der eine, der sie vollumfänglich erfasst, knüpft an das parlamentarische Zugriffsrecht an; der andere, der sie nur materiell-direktiv eingeschränkt erfasst, gründet auf der Änderungs­ befugnis des Verordnungsgebers. Soweit die Änderungsbefugnis des Verordnungsgebers materiell-direktiv gesperrt ist, wächst den betreffenden Rechtsverordnungen folglich eine einfach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation zu; dort, wo neben den an das parlamentarische Zugriffsrecht anschließenden der an die Änderungsbefugnis des Verordnungsgebers anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang tritt, bestimmt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit teils nach den einfach vermittelten, teils nach den mehrfach vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimationsbeiträgen. Dabei ist davon auszugehen, dass die rein parlamentsvermittelte revisionäre Legitimation die Verordnung von Grundgesetzes wegen in etwa hälftig erfassen muss446. Denn das Grundgesetz verlangt, dass die materielle Direktive, die die administrative Revisionsmacht blockiert, hinreichend bestimmt ist447. Unterfallen die vorliegend für die Bestimmung des grundgesetzlichen Normalmaßes ausschlaggebenden Rechtsverordnungen dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung448, so führen nicht bloß zwei, sondern gleich vier revisionäre Legitimationszusammenhänge auf sie zurück449: Die ersten beiden knüpfen an das gesetzgeberische Zugriffsrecht an, die beiden anderen an die exekutive Änderungsbefugnis. Denn das gesetzgeberische Zugriffsrecht wird in diesen Konstellationen überwiegend gemeinsam und zu gleichen Teilen von Bundestag und Bundesrat ausgeübt – teilweise aber eben auch vom Bundestag allein. Entsprechendes gilt für die exekutive Änderungsbefugnis, die in diesen Fällen überwiegend gemeinsam und zu gleichen Teilen von Regierungsexekutive und Bundesrat wahrgenommen wird  – zum kleineren Teil jedoch auch von der Regierungsexekutive allein. Soweit die Änderungsbefugnis des Verordnungsgebers materiell-direktiv gesperrt ist, wächst den vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen Normsetzungsakten daher überwiegend eine zur Hälfte einfach, zur anderen Hälfte mehrfach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation zu. Tritt neben den an das gesetzgeberische Zugriffsrecht anknüpfenden noch der an die Änderungs­ befugnis der Exekutive anschließende revisionäre Legitimationszusammenhang, bestimmt sich der Grad demokratischer Abgeleitetheit zum größeren Teil  nach den mehrfach vermittelten personellen und materiell-kontrollativen Legitimations­ beiträgen, die von Bundesrat und Regierungsexekutive gemeinsam beziehungsweise von der Regierungsexekutive allein herrühren. Die an das gesetzgeberische 445

Oben Kapitel 10 III. 2. c) cc) (2) = S. 814. Ebd. 447 Zum Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 GG siehe nur Bryde (Fn. 335), Rn. 20 ff. 448 Dazu Ramsauer, in: Azzola u. a. (Bearb.), Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd.  2, 2. Aufl. 1989, Art. 80 Rn. 79 ff. 449 Siehe oben Kapitel 10 III. 2. c) dd) (2) = S. 819. 446

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Zugriffsrecht anschließenden revisionären Legitimationszusammenhänge erfassen die Rechtsverordnungen dabei, wie gesagt, etwa hälftig. Bildet nun der aus diesen revisionären Legitimationszusammenhängen ableitbare Grad demokratischer Abgeleitetheit das Normalmaß, an dem sich die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte messen lassen müssen, so ergibt sich folgendes Bild: Die fraglichen EG-Normsetzungsakte wahren dieses Normalmaß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation nur, wenn sie ausnahmsweise im Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren ergangen sind und überdies in den Bereich des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts fallen. In allen übrigen Konstellationen wird das grundgesetzliche Normalmaß unterschritten. Dies gilt insbesondere auch für den Fall, dass die betreffenden EG-Normsetzungsakte als Durchführungsrecht erlassen werden, was die praktische Regel ist. Sind EG-Normsetzungsakte im Mitentscheidungsverfahren ergangen, unterschreiten sie, soweit sie allein im Rahmen von Art.  48  EUV revisionär rückgebunden sind, das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das Art.  80  GG außerhalb des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts vorgibt. Denn im Rahmen von Art.  48  EUV wächst EG-Normsetzungsakten eine überwiegend exekutivisch vermittelte revisionäre Legitimation zu450. Demgegenüber werden zustimmungsfreie Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht zur einen Hälfte durch rein parlamentsvermittelte Legitimationsbeiträge, zur anderen Hälfte zwar teils durch exekutivisch vermittelte, teils aber auch durch rein parlamentsvermittelte Legitimationsbeiträge geprägt. Ihnen wächst daher, insgesamt betrachtet, eine überwiegend parlamentsvermittelte revisionäre Legitimation zu. Insofern übertrifft das für zustimmungsfreie Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht kennzeichnende Legitimationsniveau in der Tat dasjenige, das EG-Normsetzungsakte insofern prägt, als sie allein über Art. 48 EUV revisionär rückgekoppelt sind. Aber auch dort, wo die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte außer über Art. 48 EUV auch noch im Rahmen der für ihren Erlass maßgeblichen Verfahrensvorschriften revisionär rückgebunden sind, unterschreiten sie das Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das für zustimmungsfreie Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht kennzeichnend ist. Denn diesen wächst zur einen Hälfte eine ausschließlich einfach vermittelte personelle und materiell-kontrollative Legitimation zu. Demgegenüber sind die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte, selbst wenn sie nicht nur im Rahmen von Art. 48 EUV revisionär rückgekoppelt sind, in immer noch leicht größerem Umfang über die Revisionsmacht der Exekutive rückgebunden als über die des Parlaments. Nun wächst den zustimmungsfreien Rechtsverordnungen zwar zur anderen Hälfte eine revisionäre Legitimation zu, die in stärkerem Maße exekutivisch vermittelt ist, als dies bei EG-Normsetzungsakten insoweit der Fall ist, 450

Oben Kapitel 13 II. 1. d) = S. 1036.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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als sie außer über Art. 48 EUV auch noch über Art. 251 EGV revisionär rückgebunden sind. Jedoch ist das legitimatorische Plus, das insofern in Hinblick auf die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte zu konstatieren ist, geringer als das zuvor ausgemachte legitimatorische Minus. Bei bilanzierender Betrachtung ist daher festzustellen, dass die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte das für zustimmungsfreie Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht prägende Legitimationsniveau auch insoweit unterschreiten, als sie außer über Art. 48 EUV auch noch über Art. 251 EGV revisionär rückgebunden sind. Abweichendes ergibt sich, wenn man die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakte an dem in revisionärer Hinsicht generierten Grad demokratischer Abgeleitetheit misst, der für die im Bereich des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts ergangenen Rechtsverordnungen kennzeichnend ist. Denn sie wahren, soweit sie allein im Rahmen von Art. 48 EUV revisionär rückgekoppelt sind, das Legitimationsniveau, das Art. 80 GG diesseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts vorgibt. Zustimmungsbedürftige Rechtsverordnungen werden nämlich zur einen Hälfte durch revisionäre Legitimationsbeiträge geprägt, die zum etwas größeren Teil vom Parlament, zum etwa geringeren Teil vom exekutivischen Bundesrat herrühren; zur anderen Hälfte wächst den fraglichen Rechtsverordnungen eine revisionäre Legitimation zu, die zum deutlich größeren Teil rein exekutivisch vermittelt ist, zum unerheblich geringeren Teil  parlamentarisch451. Insgesamt betrachtet, werden sie daher durch eine letztlich überwiegend exekutivisch vermittelte revisionäre Legitimation geprägt. Insofern besteht denn auch kein wesentlicher Unterschied zu der revisionären Legitimation, die EG-Norm­ setzungsakten im Rahmen von Art. 48 EUV zuwächst. Und auch dort, wo die im Mitentscheidungsverfahren ergangenen EG-Norm­ setzungsakte außer im Rahmen von Art. 48 EUV auch noch gemäß Art. 251 EGV revisionär rückgebunden sind, schließen sie zu dem Legitimationsniveau auf, das in revisionärer Hinsicht für die zustimmungsbedürftigen Rechtsverordnungen charakteristisch ist. Denn die betreffenden EG-Normsetzungsakte werden insoweit in größerem Umfang über die Revisionsmacht der Exekutive rückgebunden als über die parlamentarische. Dies wiederum entspricht dem Legitimationsniveau bei zustimmungsbedürftigen Rechtsverordnungen, das ja – bei bilanzierender Betrachtung – gleichfalls zum größeren Teil durch Legitimationsbeiträge exekutiver Provenienz geprägt wird. Hingegen erreichen EG-Normsetzungsakte, die nicht im Mitentscheidungsverfahren ergangen sind, den gemäß Art. 80 GG für Rechtsverordnungen in revisionärer Hinsicht kennzeichnenden Grad demokratischer Abgeleitetheit selbst dann nicht, wenn man insofern auf die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallenden Rechtsverordnungen abstellt. Zwar wird dieses Legitimationsniveau 451

Oben Kapitel 10 III. 1. b) dd) (2) = S. 755.

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von den sonstigen EG-Normsetzungsakten insofern gewahrt, als sie allein über Art. 48 EUV revisionär rückgebunden sind. Soweit sie indes zum ungleich größeren Teil außer über Art. 48 EUV auch noch im Rahmen jener Verfahrensvorschriften revisionär rückgebunden werden, die für ihren Erlass beziehungsweise für den Erlass der ihnen gegebenenfalls zugrundeliegenden sekundärrechtlichen Ermächtigungsnorm maßgeblich sind, so wird das fragliche Legitimationsniveau durchweg verfehlt. Denn wegen der in diesen Konstellationen umfangreicheren Revisionsmacht der Exekutive kann die Stufe demokratischer Vermitteltheit nicht gehalten werden, auf der die vom bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt er­ fassten Rechtsverordnungen revisionär rückgebunden sind.

cc) Zur grundgesetzlichen Rechtfertigung der konstatierten Legitimationsdefizite In revisionärer Hinsicht wahren potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte das für sie grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß personeller und materiell-kontrollativer Legitimation lediglich dann, wenn sie jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts, aber diesseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts im Verfahren der Mitentscheidung oder Zustimmung ergangen sind. Denn nur in diesen Ausnahmefällen schließen EG-Normsetzungsakte zu dem Legitimationsniveau auf, das rein innerstaatliche Normsetzungsakte von Grundgesetzes wegen in revisionärer Hinsicht aufweisen müssen. In allen übrigen Konstellationen wächst den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten eine revisionäre Legitimation zu, die sich in Ansehung des grundgesetzlichen Normalmaßes personeller und materiell-kontrollativer Legitimation als mehr oder minder defizitär erweist. Bemerkenswert ist dabei, dass die potenziell marktinterventionistischen EGNormsetzungsakte das für sie ausschlaggebende Normalmaß in revisionärer Hinsicht noch stärker unterschreiten als in dezisionärer452. Dieses Phänomen lässt sich folgendermaßen erklären: Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, dass potenziell marktinterventionistische EG-Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß wahren, ist, dass sie außerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehen. Insofern freilich schreibt das Grundgesetz in dezisionärer Hinsicht eine bestenfalls zweifach vermittelte, in revisionärer Hinsicht hingegen eine durchweg zumindest auch einfach vermittelte personelle und materielle Legitimation vor. Dies erklärt, weshalb potenziell marktinterventionistische EG-Norm­ setzungsakte eher an das in dezisionärer als an das in revisionärer Hinsicht vor­ gegebene Normalmaß heranreichen.

452

Bemerkenswert ist dies deshalb, weil bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten das entgegengesetzte Phänomen zu beobachten ist – oben Kapitel 13 II. 2. b) cc) = S. 1106.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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Nun ist des Weiteren schon angeklungen, dass sich die in revisionärer Hinsicht zu konstatierenden Legitimationsdefizite in erster Linie den zu knapp bemessenen parlamentarischen Revisionsbefugnissen verdanken. Denn damit wurde begründet, dass die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte selbst in den Fällen das grundgesetzliche Normalmaß unterschreiten, in denen sie im Mitentscheidungsverfahren ergangen sind453, und die vom absoluten Parlamentsvorbehalt ausgenommenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten bereits dann hinter dem grundgesetzlichen Normalmaß zurückbleiben, wenn sie zwar im Mitentscheidungsverfahren, aber jenseits des bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalts erlassen wurden454. Zusätzlich vertieft werden die Legitimationsdefizite, die potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte aufgrund der unzureichenden parlamentarischen Revisionsbefugnisse ganz überwiegend aufweisen, durch die (Ko-)Revisionsbefugnisse der Kommission. Denn die hieran anschließende personelle und materiell-kontrollative Legitimation ergeht nicht nur auf einer vergleichsweise hohen Stufe demokratischer Vermitteltheit; die insofern verfangende materiell-kontrollative Legitimation zeichnet sich außerdem durch eine relativ geringe Wirkkraft aus455. Die in revisionärer Hinsicht konstatierten Legitimationsdefizite, die sich in allgemeiner Perspektive auf die unzureichenden parlamentarischen Revisionsbefugnisse sowie die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission zurückführen lassen, können bei genauerer Analyse mit just den institutionell-prozeduralen Eigentümlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden, auf denen strukturell auch die in dezisionärer Hinsicht feststellbaren Abweichungen vom grundgesetzlichen Normal­maß beruhen456. Ausschlaggebend für die Legitimationsdefizite ist nämlich erstens, dass dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung keine ausreichenden Revisionsbefugnisse zustehen. Schließlich wären die Legitimationsdefizite, die durch die zu knapp bemessenen parlamentarischen Revisionsbefugnisse bedingt sind, in Hinblick auf die vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte dann beseitigt, wenn die diesbezügliche Revisionsmacht teils allein dem Europäischen Parlament, teils dem Europäischen Parlament und dem Rat zur gesamten Hand zustünde. Die vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung exemierten Normsetzungsakte würden ihrerseits dann zum grundgesetzlichen Normalmaß aufschließen, wenn ihnen zur einen Hälfte eine ausschließlich vom Europäischen Parlament beziehungsweise von Europäischem Parlament und Rat gemeinsam vermittelte revisionäre Legitimation zuwüchse, sie zur anderen Hälfte 453

Oben Kapitel 13 II. 2. d) aa) = S. 1148. Oben Kapitel 13 II. 2. d) bb) = S. 1150. 455 Vgl. bereits oben Kapitel 13 II. 1. c) cc) = S. 1033. 456 Zu diesen oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (2) = S. 1121.

454

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zumindest auch über das vom Europäischen Parlament allein beziehungsweise über das von Europäischem Parlament und Rat gemeinsam ausgeübte Zugriffsrecht revisionär legitimiert würden. Zweitens beruhen die konstatierten Legitimationsdefizite darauf, dass sich die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erstreckt, der Kommission auch jenseits des absoluten Parlaments­ vorbehalts ein Korevisionsmacht vermittelndes Initiativmonopol zusteht und ihr im Übrigen eine Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zukommt. Ist etwa ein vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasster Normsetzungsakt im Mitentscheidungsverfahren revidierbar, so führt eine an das Initiativmonopol anknüpfende Korevisionsbefugnis der Kommission dazu, dass das in revisionärer Hinsicht generierte Niveau personeller und materiell-kontrollativer Legitimation, das wegen der an Art.  48 EUV anknüpfenden revisionären Legitimationszusammenhänge das grundgesetzliche Normalmaß ohnehin schon unterschreitet, noch weiter abgesenkt wird. Es drängt sich daher auf, die in revisionärer Hinsicht diagnostizierten Legitimationsdefizite mit denselben Argumenten zu rechtfertigen, die bereits an früherer Stelle entwickelt worden sind, als es um die für potenziell marktinterventionis­ tische Normsetzungsakte in dezisionärer Hinsicht prägenden Legitimationsdefizite ging.

(1) Rechtfertigung der durch die unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite Erweisen sich potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte deshalb als demokratisch defizitär, weil dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts unzureichende Revisionsbefugnisse zustehen, so kann dies überwiegend nicht unter Rückgriff auf die Volkssouveränitätsnorm oder unter Hinweis auf die strukturellen Eigenheiten gerechtfertigt werden, die einen im Werden begriffenen Hoheitsverband charakterisieren; die Rechtfertigungslast muss daher in der Hauptsache von der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm geschultert werden457. Ergeben sich die betreffenden Legitimationsdefizite daraus, dass die von Gemeinschaftsorganen in Hinblick auf vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte ausgeübte Revisionsbefugnis im Wesentlichen allein beim Rat verortet ist, so lässt sich dies gleich in dreifacher Hinsicht Zwecken zuordnen, die von der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm gedeckt sind. Allerdings ist der Rekurs auf die Bundesstaatsnorm in 457

Entsprechend oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (4) = S. 1124.

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Ansehung der grundgesetzlichen Demokratievorgaben nur insoweit noch angemessen, als sich die betreffenden Legitimationsdefizite als Einzelfälle darstellen458. Davon wird man freilich nur mittelfristig noch ausgehen können. Denn Einzelfallcharakter kann den Legitimationsdefiziten, die einen diesseits des ab­ soluten Parlamentsvorbehalts, aber außerhalb des Mitenscheidungs- beziehungsweise Zustimmungsverfahrens erlassenen potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakt in revisionärer Hinsicht kennzeichnen, nur dann zuerkannt werden, wenn man diejenigen Normsetzungsakte ausblendet, die auf Ermächtigungsnormen aus der Zeit vor der Einheitlichen Europäischen Akte beruhen. Dies ist in Hinblick auf den partiell auch bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungs­akten noch greifenden Rechtfertigungsgrund der strukturellen Eigen­heiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands statthaft  – aber eben lediglich mittelfristig. Beruhen die fraglichen Legitimationsdefizite darauf, dass die Nichtrevisions­ entscheidung – wegen der Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht  – immer auch im Rahmen von Art.  48 EUV rückgebunden ist, so lässt sich dies gleichfalls unter drei Gesichtspunkten zu von der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm gedeckten Zwecken in Bezug setzen459. Die Angemessenheit dieser bundesstaatsgemäßen Demokratieein­bußen resultiert dabei schon daraus, dass die Bereiche, in denen sich die revisionäre Rückbindung allein im Rahmen von Art. 48 EUV Bahn bricht, gerade im Fall der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte sehr klein sind460. Entstehen Legitimationsdefizite deshalb, weil dem Rat auch jenseits des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung Korevisionsbefugnisse in Hinblick auf vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte zustehen, so erweist sich dies als in Ansehung der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm ohne Weiteres gerechtfertigt. Es steht außer Frage, dass es dem verfassungsändernden Gesetzgeber grundgesetzlich unbenommen wäre, sämtliche Gesetzgebungsakte der Kodezisions- und mithin auch der Korevisionsmacht des Bundesrats und damit einer exekutivischen Staatenvertretung zu unterwerfen461. Sind durch unzureichende Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingte Legitimationsdefizite in solchen (Ausnahme-)Fällen zu konstatieren, in denen ein vom absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung ausgenommener potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakt im Anhörungsverfahren ergangen und revidierbar ist, so gilt für deren Rechtfertigung das eben 458

Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126. Siehe entsprechend oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (6) = S. 1130. 460 Hinzu kommt außerdem, dass der an Art.  48  EUV anknüpfende revisionäre Legitima­ tionszusammenhang den Grad demokratischer Abgeleitetheit in ungleich schwächerem Maße bestimmt als die mit ihm korrelierenden Legitimationszusammenhänge, die an die Vorschriften über die Sekundärrechtsetzung anschließen. 461 Vgl. oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (7) = S. 1131. 459

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Gesagte462. Denn insoweit rühren die fraglichen Legitimationsdefizite allein von daher, dass und wie die Nichtrevisionsentscheidung im Rahmen von Art. 48 EUV demokratisch rückgebunden ist. Hierdurch bedingte Einbußen an unmittelbar parlamentsvermittelter revisionärer Legitimation aber sind, wie dargelegt, unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigbar463. Entsprechend lässt sich – teilweise – in Hinblick auf die Fälle argumentieren, in denen die dem Europäischen Parlament zustehenden Revisionsbefugnisse insofern unzureichend sind, als jenseits des absoluten Parlaments erlassene Durchführungsbestimmungen auch über diejenigen revisionären Legitimationszusammenhänge rückgebunden sind, die einerseits an das Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV sowie andererseits an ein beliebiges Verfahren zum Erlass von Sekundärrecht anknüpfen. Denn immerhin dann, wenn ausnahmsweise bereits das Primärrecht alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen trifft, können die durch die unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments bedingten Legitimationsdefizite mit der Verankerung des Sekundärrechts im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht in Zusammenhang gebracht werden. Sie lassen sich dann, wie eben nochmals in Erinnerung gerufen, unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen464. Allerdings erweist sich dieses Rechtfertigungsmuster dann nicht mehr als hinreichend tragfähig, wenn das Primärrecht nicht alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Bestimmungen enthält. In diesem (Regel-)Fall kann der Mangel an unmittelbar parlamentsvermittelter revisionärer Legitimation aber im Wege des A-fortiori-Schlusses gerechtfertigt werden. Schließlich ist bereits dargelegt worden, dass sich die in Ansehung des grundgesetzlichen Normalmaßes unzureichenden Revisionsbefugnisse des Europäischen Parlaments rechtfertigen lassen, wenn ein diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehender potenziell marktinterventionistischer Normsetzungsakt nach Maßgabe von Art. 48 EUV einerseits und im Rahmen eines beliebigen sekundärrechtlichen Normsetzungsverfahrens andererseits rückgebunden ist. Dieser Rechtfertigungsansatz muss daher erst recht dort tragen, wo es um außerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts angesiedelte EG-Normsetzungsakte geht. Denn bei diesen ist aus Sicht des grundgesetzlichen Normalmaßes auch in revisionärer Hinsicht ein höherer Grad demokratischer Abgeleitetheit zulässig als bei den innerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts erlassenen.

462

Vgl. eben Text zu Fn. 459. Im Übrigen lassen sich die betreffenden Legitimationsdefizite auch im Wege des Erstrecht-Schlusses rechtfertigen. Denn wenn es sich schon in Hinblick auf vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte rechtfertigen lässt, dass die von Gemeinschaftsorganen ausgeübte Revisionsmacht im Wesentlichen allein beim Rat angesiedelt ist, so gilt dies erst recht bei vom absoluten Parlamentsvorbehalt aus­ genommenen. 464 Siehe auch nochmals Kapitel 13 II. 2. c) cc) (6) = S. 1130. 463

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(2) Rechtfertigung der durch die (Ko-)Revisionsbefugnis der Kommission bedingten Legitimationsdefizite Beruhen die Legitimationsdefizite darauf, dass der Kommission im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts aufgrund seines Initiativmonopols Korevisionsmacht zuwächst, so erweist sich dies gleich unter zwei Gesichtspunkten als durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt; insbesondere ist die Demokratieeinbuße in Hinblick auf die dadurch verfolgten bundesstaatlichen Zwecke auch als angemessen zu qualifizieren465. Rühren die Legitimationsdefizite von daher, dass der Kommission im Rahmen der Durchführungsgesetzgebung ausnahmsweise auch diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts die alleinige oder zumindest vorrangige Revisionsbefugnis zusteht, so lassen sie sich immerhin insoweit der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm zuordnen, als mit diesem institutionell-prozeduralen Arrangement der – taugliche – Versuch unternommen wird, den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen466. In Ansehung der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm angemessen ist diese bundesstaatlich induzierte Absenkung des Legitimationsniveaus dabei deshalb, weil sie sich bei bilanzierend-wertender Betrachtung auf zumindest mittlere Sicht als bloßes Einzelfallphänomen darstellen lässt467: Soweit die zur fraglichen Durchführungsgesetzgebung ermächtigende Sekundärrechtsnorm ausnahmsweise im Anhörungsverfahren erlassen wurde, lässt sich das Defizit an revisionärer Legitimation, das durch die auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ausgreifende (Ko-)Revisionsmacht der Kommission bedingt ist, häufig noch durch die Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rechtfertigen. Ein nur mehr durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigbares Legitima­ tionsdefizit besteht in dieser Konstellation folglich auf mittlere Sicht tatsächlich nur in Einzelfällen. Und auch soweit die Ermächtigungsnorm im Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren ergangen ist, ergibt die Realanalyse, dass das Europäische Parlament jedenfalls in der gegenwärtigen Integrationsphase nur in Einzelfällen darin einwilligen wird, dass die Kommission zur Durchführungs­ gesetzgebung im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ermächtigt wird. Folglich wird der Kommission auch in diesen Konstellationen nur in singulären Fällen diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts eine alleinige oder doch zumindest vorrangige Revisionsbefugnis zustehen. Unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigbar sind überdies diejenigen Einbußen an revisionärer Legitimation, die damit zusammenhängen, dass der Kommission ausnahmsweise ein Initiativmonopol auch in Hin 465 Dazu mutatis mutandis das oben Kapitel 13 II. 2.  c)  cc)  (14) = S.  1140 ausführlich Entwickelte. 466 Vgl. dazu entsprechend oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (15) = S. 1141. 467 Ebd.

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blick auf Normsetzungsakte zusteht, die außerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts zu verorten sind. Insofern gilt erst recht, was zu den diesseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung angesiedelten Normsetzungsakten ausgeführt wurde468. Schließlich lassen sich auch diejenigen Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß revisionärer Legitimation unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen, die mit der Zwitterstellung der Kommission zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zusammenhängen. Mutatis mutandis lässt sich wiederum auf die Ausführungen ver­ weisen, die zu den in dezisionärer Hinsicht konstatierten Legitimationsdefiziten angestellt worden sind469.

(3) Rechtfertigung unter Vorbehalt und Rechtfertigung von Legitimationseinbußen in Hinblick auf die Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten Die Legitimationsdefizite, die potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte aufgrund zu knapp bemessener parlamentarischer Revisionsbefugnisse oder aber wegen der Ko-Revisionsbefugnis der Kommission kennzeichnen, konnten vorstehend überwiegend in Hinblick auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt werden; teilweise musste zur Rechtfertigung aber auf die strukturellen Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands und damit auf das grundgesetzliche Staatsziel der europäischen Einigung abgestellt werden. Diese Rechtfertigungsansätze stehen freilich unter Vorbehalt. Denn aus den dargelegten Gründen kann die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfende Rechtfertigung immerhin langfristig in Wegfall geraten und ist vor allem der Rekurs auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands nur mittelfristig noch tragfähig470. Vor allem in Hinblick auf diejenigen Legitimationsdefizite, die sich in allein bundesstaatlicher Perspektive nicht rechtfertigen lassen, stellt sich infolgedessen das Problem, ob insoweit nicht jener zweite aus dem Staatsziel der europäischen Einigung resultierende Rechtfertigungstopos mobilisiert werden kann, demzufolge aus Rücksicht auf alternative Verfassungstraditionen anderer Mitgliedstaaten gewisse Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß zugelassen werden können471. Dies kommt jedoch nur sehr eingeschränkt in Betracht. Defizite an revisionärer Legitimation, die nur unter zusätzlichem Rekurs auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands 468

Siehe oben bei Fn. 465. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (17) = S. 1144. 470 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (12) = S. 1137. 471 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (19) = S. 1145.

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gerechtfertigt werden können, liegen dann vor, wenn potenziell marktinterven­ tionistische Normsetzungsakte, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts angesiedelt sind, ausnahmsweise vom Rat ohne kodezisive Mitwirkung des Europäischen Parlaments erlassen werden472, ferner wenn potenziell marktinterven­ tionistische Normsetzungsakte, die jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts zu verorten sind, auf einer ausnahmsweise im Anhörungsverfahren erlassenen sekundärrechtlichen Ermächtigung beruhen und das insofern maßgebliche Primärrecht nicht schon alle dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallenden Regelungen getroffen hat473 sowie dann, wenn die Kommission aufgrund einer im Anhörungsverfahren ergangenen Sekundärrechtsnorm Durchführungsrecht erlassen hat, das auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts übergreift474. Beruhen diese Legitimationsdefizite darauf, dass Regelungen, die unwesentliche Sachbereiche betreffen, ausnahmsweise  – außer im Rahmen von Art.  48  EUV  – nur mehr in Normsetzungsverfahren revidiert werden können, in denen die Revisionsbefugnisse im Wesentlichen bei einem oder mehreren exekutivisch geprägten Gemeinschaftsorganen verortet sind, so kann dies in Hinblick auf die in einigen anderen EU-Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich anerkannte autonome Verordnungstätigkeit der Exekutive gerechtfertigt werden; rühren die Legitimationsdefizite indes von daher, dass in wesentlichen Regelungsbereichen verortete Bestimmungen außer nach Maßgabe von Art. 48 EUV nur noch im Rahmen solcher gemeinschaftsrechtlicher Normsetzungsverfahren revisionär rückgebunden sind, in denen dem Europäischen Parlament keine Mitentscheidungsbefugnis zukommt, lässt sich dies höchstens in Einzelfällen unter Hinweis auf alternative Verfassungstraditionen anderer EU-Mitgliedstaaten rechtfertigen475. Es zeigt sich mithin, dass gerade in Hinblick auf die demokratisch schwerwiegendsten Abweichungen vom grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß revisionärer Legitimation nur dasjenige der beiden an das Staatsziel der europäischen Einigung anschließenden Rechtfertigungsmuster die bestehende Legitimationslücke vollständig zu schließen vermag, das an die strukturellen Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands anknüpft. Der Rekurs auf alternative Verfassungstraditionen greift hier ganz überwiegend zu kurz. Es vermag daher nichts daran zu ändern, dass die betreffenden Legitima­ tionsdefizite nur mehr auf mittlere Sicht als gerechtfertigt erscheinen. Wendet man sich abschließend noch den Defiziten an revisionärer Legitimation zu, die sich allein unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, so ist festzustellen, dass dem Hinweis auf alternative Verfassungstraditionen anderer Mitgliedstaaten auch insofern ein nur äußerst eingeschränktes Rechtfertigungspotenzial zukommt. Denn damit lässt es sich zwar in bestimmtem Umfang rechtfertigen, wenn parlamentarische Revisionsbefugnisse zu knapp bemessen sind. Doch hilft dies nicht darüber hinweg, dass diejenigen 472

Oben Kapitel 13 II. 2. d) cc) (1) = S. 1156. Ebd. 474 Oben Kapitel 13 II. 2. d) cc) (2) = S. 1159. 475 Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (19) = S. 1145.

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potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die – was ganz überwiegend der Fall ist – vom grundgesetzlich vorgezeichneten Normalmaß revisionärer Legitimation abweichen, immer auch dadurch geprägt sind, dass EG-Normsetzungsakte zwingend über die (Ko-)Revisionsmacht zumindest eines der beiden zentralen Exekutivorgane der EU demokratisch rückgekoppelt sind und ihnen insofern in revisionärer Hinsicht zumindest eine demokratisch defizitäre materiellkontrollative Legitimation zuwächst476. Bei Wegfall der an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anknüpfenden Rechtfertigungsmöglichkeiten ließe sich daher nicht einer der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, die in revisionärer Hinsicht vom grundgesetzlichen Normalmaß abweichen, unter Berufung auf alternative Verfassungstraditionen anderer Mitgliedstaaten vor dem Verdikt der Grundgesetzwidrigkeit bewahren.

e) Staatsverfassungsrechtliche Besonderheiten bei der demokratischen Rückbindung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts über die nationalen Organe Bei der grundgesetzlichen Würdigung des im Rahmen der EG-Normsetzung realisierten Grads demokratischer Abgeleitetheit ist bislang unterstellt worden, dass die staatsverfassungsrechtlichen Vorschriften, welche die demokratische Rückbindung der an der Primär- und Sekundärrechtssetzung beteiligten nationalen Organe regeln, EU-weit identisch sind477. Am Ende dieses Gliederungsabschnitts bleibt daher noch kurz zu überlegen, wie sich die Sach- und Verfassungsrechtslage darstellt, wenn man diese Fiktion beiseiteschiebt und berücksichtigt, dass sich die demokratische Rückkoppelung der an der Setzung von Gemeinschaftsrecht beteiligten nationalen Organe in den unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten durchaus verschiedenartig gestalten kann. So ist vorstehend fingiert worden, dass sich die unionswärtige Staatsgewalt in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich nach dem um bundesstaatliche Besonderheiten bereinigten Modell des Grundgesetzes organisiert. Stellt man nun stattdessen auf die insofern in Wirklichkeit verfangenden Legitimationszusammenhänge ab, so sind die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß personeller und materieller Legitimation teils geringer, teils aber auch größer, als dies bis hierher angenommen und im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes diskutiert worden ist. Geringer sind die Legitimationseinbußen etwa dann, wenn eine mitgliedstaatliche Verfassung die nationalen Regierungsvertreter an die Direktiven ihrer Heimatparlamente bindet478. Größer als in der idealtypischen Perspektive können die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß insbesondere dann ausfallen, wenn in einzelnen Mitgliedstaaten den Ländern be 476

Ebd. Siehe oben Kapitel 13 II. 2. = S. 1038. 478 Vgl. insbesondere Art. 23e B-VG.

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ziehungsweise Regionen Mitentscheidungsmacht am EG-Normsetzungsprozess eingeräumt wird479. Für die Konstellation, dass die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß bei realistischer Betrachtung geringer sind als bei idealtypischer, ist zweierlei zu bemerken: Zum einen greifen die oben entwickelten Rechtfertigungs­ ansätze insofern natürlich erst recht. Zum anderen fällt das Mehr an personeller und materieller Legitimation in dieser Konstellation aber auch nicht so gewaltig aus, dass nunmehr plötzlich Rechtfertigungsalternativen in Betracht zu ziehen wären, für die bei Zugrundelegung der idealtypischen Sichtweise kein Raum bleibt. Insbesondere nimmt das Legitimationsdefizit nicht so stark ab, dass der Rechtfertigungsgrund, der an die strukturellen Eigenheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands anknüpft, auch dort noch Platz griffe, wo dies vorstehend mit Rücksicht auf das massive Legitimationsdefizit ausgeschlossen wurde480. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass immer nur allenfalls ein Teil der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen eine im Vergleich zum Grundgesetz demokratieintensivere Mitbeherrschung des EG-Normsetzungsprozesses durch nationale Organe vorsieht. Interessanter sind daher diejenigen Konstellationen, in denen die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß bei realistischer Betrachtung größer ausfallen als bei idealtypischer. Eine solche Abweichung ist bereits insofern zu konstatieren, als das Grundgesetz  – anders als in seiner idealtypisch bereinigten Version  – den Bundesländern Mitentscheidungsbefugnisse einräumt, was zu einer zusätzlichen, im Einzelnen schon an früherer Stelle beschriebenen Absenkung des demokratischen Legitimationsniveaus führt481. Dass sich eine hierdurch bedingte Ab­weichung vom grundgesetzlichen Normalmaß unter Berufung auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lässt, ist freilich ebenfalls schon dargetan worden, sodass insofern umstandslos nach oben verwiesen werden kann482. Nun führen gerade föderale Arrangements auch bei manch anderem EU-Mitgliedstaat dazu, dass die über die nationalen Organe vermittelte demokratische Rückbindung von EG-Normsetzungsakten schwächer ausfällt, als es das um seine bundesstaatlichen Partikularitäten verkürzte grundgesetzliche Legitimationsmodell vorsieht. Fraglich ist daher, ob sich dies gleichfalls unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lässt. Eine solche Rechtfertigung scheitert nun nicht schon daran, dass sich unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm überhaupt nur solche föderal bedingten Legitimationseinbußen rechtfertigen ließen, die aus dem institutionell-prozeduralen Miteinander des Bundesstaats Bundesrepublik Deutschland mit seinen sechzehn Gliedstaaten 479 Vgl. dazu beispielsweise die den autonomen Gemeinschaften in Spanien eingeräumten Mitwirkungsrechte. 480 Vgl. insbesondere oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (4) = S. 1124. 481 Siehe oben Kapitel 11 II. 2. f) aa) = S. 961. 482 Oben Kapitel 11 II. 2. f) bb) = S. 963.

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

erwachsen. Denn im Rahmen des hier zugrundeliegenden Modells doppelter Legitimationsbasis kommt der binnenverfassungsrechtlich geltenden Bundesstaatsnorm jedenfalls auch insofern Rechtfertigungspotenzial zu, als Legitimationsdefizite durch das institutionell-prozedurale Eingebundensein der EU-Mitgliedstaaten in die EU induziert sind483. Damit ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, ob der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm auch insofern ein Rechtfertigungspotenzial zukommt, als die Legitimationsdefizite durch Föderativstrukturen innerhalb bestimmter EU-Mitgliedstaaten ausgelöst werden. Dies ist  – letztlich  – zu bejahen: Im Ausgangspunkt ist dabei zu bedenken, dass die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm nur insofern zur Rechtfertigung eines der EG-Normsetzung inhärenten Demokratiedefizits beitragen kann, als dies strukturanalog auch im Rahmen der Bundesgesetzgebung möglich wäre. Ein Föderativverhältnis gibt die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm freilich nur im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, nicht aber zwischen den Ländern und ihnen nachgeordneten Gebietskörperschaften vor484. Zumindest prima vista könnte dies dagegen sprechen, Legitimationsdefizite, die nicht etwa durch das bündische Zusammenwirken der EU-Mitgliedstaten innerhalb der Union, sondern allein durch die Föderativstruktur einzelner EU-Mitgliedstaaten bedingt sind, unter Rückgriff auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen zu wollen. Bei dieser Betrachtungsweise würde freilich übersehen, dass die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm die Bundesländer zwar nicht auf eine Föderativverfassung festlegt, wohl aber ihre Verfassungsautonomie gewährleistet485. Unter diesem Gesichtspunkt erhellt indes, weshalb die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm auch dort rechtfertigende Wirkung entfaltet, wo Legitimationsdefizite daraus resultieren, dass sich einzelne EU-Mitgliedstaaten vermöge ihrer sogar völkerrechtlich abgesicherten Verfassungsautonomie486 eine föderale Ordnung ge­ geben haben. Der in dieser Weise an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anschließende Rechtfertigungsansatz greift des Weiteren auch dort, wo Legitimationsdefizite durch andere Eigenheiten des mitgliedstaatlichen Demokratiemodells ausgelöst werden als durch föderalstaatliche. Er trifft sich insofern mit derjenigen Rechtfertigung, die dem Staatsziel der europäischen Einigung entspringt und auf die 483

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. Bestätigt sieht sich diese These durch Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, der die Länder auf die grundgesetzlichen Prinzipen „des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“, aber gerade nicht auf eine föderative Binnenstruktur verpflichtet. 485 Dazu etwa Zippelius / Würtenberger (Fn. 196), § 14 IV 1; vertiefend Hanebeck (Fn. 175), S. 231 ff. 486 Zur völkergewohnheitsrechtlichen Verbürgung der Verfassungsautonomie durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker vgl. etwa Murswiek, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Präambel Rn. 221; zur völkerrechtsvertraglichen Gewährleistung der Verfassungsautonomie durch Art. 6 Abs. 3 EUV siehe Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 6 EUV Rn. 27. 484

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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kompromisshaft zu berücksichtigende alternative Verfassungstradition anderer EU-Mitgliedstaaten abstellt. Denn in dieser Perspektive ist es gleichfalls möglich, Legitimationseinbußen zu rechtfertigen, die sich aus staatsverfassungsrechtlichen Besonderheiten bei der demokratischen Rückbindung von Gemeinschaftsrecht durch mitgliedstaatliche Organe ergeben487.

III. Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit In Hinblick auf das Ausmaß der Exklusivität und Perpetualität demokratischer Legitimation sowie in Ansehung des Grads demokratischer Abgeleitetheit macht es bereits auf der Ebene der Bestandsaufnahme einen gewaltigen Unterschied, ob man das Modell mittelbarer Legitimation oder – wie in diesem Kapitel – das der doppelten Legitimationsbasis zugrundelegt. Denn das Legitimationsniveau ist denkbar niedriger, wenn man statt der Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker als dezentrierter demos nur das deutsche Staatsvolk als Subjekt demokratischer Legitimation in Bezug nimmt. Anders verhält es sich hinsichtlich des für EGNormsetzungsakte kennzeichnenden Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Hier lässt sich in beiden Modellperspektiven ein gleich hohes beziehungsweise gleich niedriges, mithin ein identisches Legitimationsniveau konstatieren. Unterschiede ergeben sich allerdings dort, wo es darum geht, den im Rahmen der EG-Normsetzung realisierten Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes zu würdigen. Anders als bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation lassen sich in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis nämlich ausnahmslos alle Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß rechtfertigen.

1. Bestandsaufnahme Für die Bestandsaufnahme kann mutatis mutandis auf die Ausführungen verwiesen werden, die hierzu bereits im Rahmen des Modells mittelbarer Legitimation gemacht worden sind. So wurde dort dargelegt, dass und weshalb EG-Normsetzungsakte infolge ihrer materiell-direktiven Legitimation durch das Primärrecht schon in dezisionärer Hinsicht ein beträchtliches Maß an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit aufweisen488. Auch in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis gilt, dass die revisionäre Legitimation des Primärrechts, die sich als für die dezisionäre Rückkoppelung von EG-Normsetzungsakten mitentscheidend erweist, relativ störungsanfällig ist. Denn zum einen wird die Revisionsmacht insofern von einer 487

Siehe hierzu allgemein oben Kapitel 10 III. 5. b) = S. 850. Siehe oben Kapitel 11 III. 1. = S. 967.

488

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Mehrheit von Völkern ausgeübt: Soweit die Revisionsmacht bei den mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamenten liegt, wirken verschiedene nationale Staatsvölker in Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammen; soweit die Revisionsmacht außer von den nationalen Regierungen und Parlamenten zusätzlich noch bei der einen oder anderen nationalen Staatenkammer verortet ist, wirken die verschiedenen mitgliedstaatlichen Völker in Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zudem mit einer Reihe gliedstaatlicher Völker zusammen. Zum anderen sehen die mitgliedstaatlichen Verfassungen durchweg vor, dass die den nationalen Staatsvölkern zuordenbaren Korevisionsbefugnisse von zumindest zwei Organen wahrgenommen werden, nämlich von den nationalen Regierungsexekutiven und den nationalen Parlamenten. Auch dies trägt dazu bei, dass die EG-Normsetzungsakte schon in dezisionärer Hinsicht durch eine vergleichsweise große Störungsanfälligkeit geprägt sind489. Auf das Modell doppelter Legitimationsbasis sind des Weiteren auch die Überlegungen übertragbar, die aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation zu dem bei EG-Normsetzungsakten in revisionärer Hinsicht konstatierbaren Umfang der Störungsanfälligkeit angestellt worden sind490. So ist auch in der hier zugrunde liegenden Modellperspektive zunächst zu bedenken, dass die im Rahmen von Art.  48  EUV Platz greifende revisionäre Legitimation von EG-Normsetzungsakten noch störungsanfälliger ist als die eben diskutierte revisionäre Legitimation des Primärrechts. Sie wird nämlich nicht nur dadurch gemindert, dass die Revisionsmacht bei einer Mehrheit von Völkern und Organen verortet ist491, sondern zusätzlich dadurch, dass die nationalverfassungsrechtlich mit der Änderung des Primärrechts betrauten Instanzen in einem verantwortlichkeitsmindernden Distanzverhältnis zu den legitimationsbedürftigen EG-Normsetzungsakten stehen492. Allerdings steht auch in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis der an Art. 48 EUV anknüpfende und hochgradig störungsanfällige revisionäre Legitimationszusammenhang nicht alleine, sondern kongruiert immerhin partiell mit zumindest einem weiteren Legitimationszusammenhang. Es handelt sich um denjenigen, der an die Verfahrensvorschriften über den Erlass und mithin auch die Abänderung des betreffenden EG-Normsetzungsakts durch EG-Organe anschließt. Dieser ist störungsunanfälliger als der an Art. 48 EUV anknüpfende revisionäre Legitimationszusammenhang. Schließlich stehen die EG-Organe, die 489 Dazu, dass der in dezisionärer Hinsicht zu konstatierende Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit partiell dadurch relativiert wird, dass die vom Primärrecht ausgehende materiell-direktive Legitimation nicht sonderlich weit reicht und dass in den mitgliedstaat­ lichen Verfassungsordnungen durchweg eine mehr oder minder ausgeprägte Abhängigkeit der Regierung vom Parlament vorgesehen ist, vgl. mutatis mutandis die hierzu bereits zum Modell mittelbarer Legitimation angestellten Erwägungen. 490 Dazu oben Kapitel 11 III. 1. = S. 967. 491 Allgemein zu diesem legitimationsmindernden Faktor oben Kapitel 6 V. 1. c) dd) = S. 477. 492 Allgemein zu diesem legitimationsmindernden Faktor oben Kapitel 6 V. 1. c) cc) = S. 475.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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einen legitimationsbedürftigen Normsetzungsakt in Geltung gesetzt haben, auch nach dessen Erlass in einem strukturellen Näheverhältnis zu diesem. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass EG-Normsetzungsakte in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis in gleichem Umfang durch revisionär bedingte Störungsanfälligkeit geprägt werden, wie dies schon aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation beobachtet wurde. Dies kann nicht weiter verwundern, wenn man erinnert, wie sich der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit rekonstruiert. Entscheidend ist zunächst die Prägung des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts durch die verschiedenen mehr oder minder störungsanfälligen revisionären Legitimationszusammenhänge493; des Weiteren kommt es darauf an, wie störungsanfällig diese verschiedenen revisionären Legitimationszusammenhänge ihrerseits sind494. Nun ist zu bedenken, dass die revisionären Legitimationszusammenhänge in der Perspektive der beiden in Rede stehenden Modelle zwar inhaltlich gewiss nicht identisch sind. Schließlich brechen sich insofern unterschiedliche Volkssouveränitäten Bahn. Sie knüpfen jedoch an dieselben institutionell-prozeduralen Arrangements an, nämlich daran, dass und wie sich die EG-Normsetzungsakte durch Modifikation des Primärrechts beziehungsweise im Rahmen der EG-Normsetzungsverfahren revidieren lassen. Dies hat zur Konsequenz, dass sich in Hinblick auf die Bestimmungsgrößen, die für die Prägung eines EG-Normsetzungsakts durch die verschiedenen revisionären Legitimationszusammenhänge einerseits und die Störungsanfälligkeit der einzelnen revisionären Legitimationszusammenhänge andererseits maßgeblich sind, keine Unterschiede zwischen den beiden Modellen ausmachen lassen.

2. Der im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Nach dem eben Ausgeführten ist davon auszugehen, dass hinsichtlich des Umfangs revisionär bedingter Störungsanfälligkeit keine Unterschiede zwischen dem Modell mittelbarer Legitimation und dem der doppelten Legitimationsbasis bestehen. Daraus ergibt sich, dass auch die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, die unter diesem legitimatorischen Gesichtspunkt im Rahmen des Modells mittelbarer Legitimation diagnostiziert worden sind495, denen entsprechen, die für das Modell doppelter Legitimationsbasis anzunehmen sind. Folglich ist im Rahmen des hier in Rede stehenden Legitimationsmodells zu unterstellen, dass sowohl die wesensmäßig marktkonstituierenden als auch die potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakte vom grundgesetzlichen Normalmaß

493

Oben Kapitel 6 V. 1. c) bb) = S. 473 Oben Kapitel 6 V. 1. c) cc) = S. 475. 495 Oben Kapitel 11 III. 2. = S. 970.

494

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

revisionär bedingter Störungsanfälligkeit abweichen, bei letzteren die Rechtfertigungslücke freilich besonders groß ist. Die insofern zu konstatierenden Legitimationsdefizite lassen sich lediglich teilweise und ohnedies nur übergangsweise noch unter Hinweis auf Volkssouveränitätsnorm sowie die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands rechtfertigen. Speziell bei der großen Mehrzahl der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte ist eine solche Rechtfertigung bereits jetzt nicht mehr möglich496. An dieser Stelle kommt nun freilich erstmals auch in Hinblick auf den Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit die Differenz zwischen dem Modell mittelbarer Legitimation und dem hier in Rede stehenden Modell doppelter Legitimationsbasis zum Tragen. Denn im Rahmen dieses Legitimationsmodells lassen sich die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, die in Ansehung der revisionär bedingten Störungsanfälligkeit festzustellen sind, allesamt auch unter Hinweis auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen497. So ist zu erinnern, dass es nicht mehr als drei potenzielle Ursachen dafür gibt, dass ein EG-Normsetzungsakt das grundgesetzliche Normalmaß revisionär bedingter Störungsanfälligkeit überschreitet, und zwar ganz gleich, ob er sich als wesensmäßig marktkonstituierend oder aber als potenziell marktinterventionistisch präsentiert, ob er diesseits oder jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergeht498. Als Ursache kommt erstens in Betracht die Verankerung des sekundären Gemeinschaftsrechts im Primärrecht, zweitens die Verortung der Revisionsmacht bei einer transnationalen Völkermehrheit sowie drittens die organmehrheitliche Ausübung von Revisionsmacht. Die Verankerung des sekundären im primären Gemeinschaftsrecht erweist sich indes als geeignet und erforderlich, föderale Zwecke zu verwirklichen499. Das damit einhergehende Mehr an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit steht fernerhin selbst dort nicht außer Verhältnis zu den hierdurch beförderten föderalen Zwecksetzungen, wo sich das diesbezügliche Legitimationsdefizit als besonders ausgeprägt erweist, nämlich bei den diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts ergehenden potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten. Denn insofern gilt es wiederum zu bedenken, dass speziell die potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte typischerweise nur in geringem Umfang durch das Primärrecht dezisionär legitimiert500 und mithin auch nur in geringem Umfang allein nach Maßgabe von Art. 48 EUV revisionär rückgebunden werden. 496

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (4) = S. 1124. Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 498 Siehe dazu im Einzelnen oben Kapitel 11 III. 2. = S. 970. 499 Oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (8) = S. 1067. 500 Oben Kapitel 13 II. 2. c) aa) = S. 1113.

497

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Beruht das relative Mehr an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit darauf, dass die Revisionsmacht bei einer Völkermehrheit verortet ist, so muss im Rahmen des hier zugrundegelegten Legitimationsmodells bedacht werden, dass die frag­ liche Völkermehrheit in Verwirklichung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die in Rede stehenden Legitimationsdefizite als ohne Weiteres durch das Bundesstaatsprinzip gerechtfertigt. Schließlich sind derartige Legitimationsdefizite notwendige Begleiterscheinung einer föderal gegliederten Demokratie501. Übersteigt die revisionär bedingte Störungsanfälligkeit von EG-Normsetzungsakten das grundgesetzliche Normalmaß schließlich deshalb, weil die Revisionsmacht organmehrheitlich ausgeübt wird, so gilt es zu differenzieren. Zum einen nämlich rührt die Ausübung der Revisionsmacht durch Organmehrheiten und mithin auch das damit einhergehende Plus an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit von daher, dass das Sekundärrecht der Gemeinschaft im vertragsrechtlich geprägten Primärrecht wurzelt. Denn in Hinblick auf das Primärrecht üben die nationalen Regierungsexekutiven und das Parlament gemeinsam die mitgliedstaatliche Korevisionsmacht aus. Dass sich das Mehr an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit, das mit der primärrechtlichen Verankerung des Sekundärrechts zusammenhängt, in bundesstaatlicher Perspektive rechtfertigen lässt, ist nun freilich eben erst rekapituliert worden und bedarf folglich keiner nochmaligen Erörterung. Zum anderen wird die Revisionsmacht in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte aber auch aus dem Grund organmehrheitlich ausgeübt und das grundgesetzliche Normalmaß revisionär bedingter Störungsanfälligkeit deshalb überschritten, weil nach dem Verfahrensrecht der Gemeinschaft vielfach mehrere EG-Organe gemeinsam für den Erlass und mithin auch für die Revision von EG-Normsetzungsakten zuständig sind. Soweit die organmehrheitliche Ausübung der Revisionsmacht darauf beruht, dass neben dem Europäischen Parlament der Rat und die Kommission beziehungsweise neben dem Rat die Kommission entscheidungsbefugt sind, kann zur Rechtfertigung des hierdurch bedingten Zuwachses an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit mutatis mutandis auf die an früherer Stelle angestellten Erwägungen verwiesen werden. Es wurde nämlich bereits dargetan, dass und weshalb es in Ansehung der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm gerechtfertigt ist, wenn Legitimationsdefizite dadurch hervorgerufen werden, dass die Mitherrschaftsbefugnisse der Staatenkammer ‚Rat‘ über das grundgesetzliche Normalmaß hinausgehen502 beziehungsweise der Kommission aufgrund ihres Initiativ­ monopols Mitherrschaftsbefugnisse zuwachsen503. Aber auch soweit sich die organmehrheitliche Ausübung der Revisionsmacht daraus herleitet, dass am Erlass von Durchführungsrecht neben der Kommission noch der Ausschuss der Staatenvertreter beteiligt ist, erweist sich dies als durch 501

Vgl. insofern für die Bundesrepublik Deutschland oben Kapitel 10 III. 1. c) = S. 758. Zum Beispiel oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (7) = S. 1131. 503 Beispielsweise oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (14) = S. 1140.

502

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die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt. Denn auch dieses institu­ tionell-prozedurale Arrangement ist geeignet, erstens eine Berücksichtigung der gegenwärtig noch überaus vitalen gliedstaatlichen Interessen und Belange zu bewirken, zweitens die föderative Integrität der Union abzusichern beziehungsweise zu vertiefen und drittens unter größtmöglicher Schonung des föderativen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen massiv erhöhten Koordina­ tionsbedarf zu bewältigen504. Da des Weiteren nicht ersichtlich ist, wie diese bundesstaatlichen Zwecke im Rahmen der Durchführungsgesetzgebung anders als durch einen solchen Ausschuss der Staatenvertreter befördert werden sollten, und sich im Übrigen der dadurch bedingte Zuwachs an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit schon deshalb in Grenzen hält, weil Mitherrschaftsbefugnisse des Ausschusses nach wie vor eine Ausnahme darstellen, kann im Ergebnis festgehalten werden, dass sich auch die insofern zu verzeichnenden Legitimationseinbußen als durch die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm gerechtfertigt erweisen. Damit bestätigt sich, dass die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß revisionär bedingter Störungsanfälligkeit unter Rekurs auf die grundgesetz­ liche Bundesstaatsnorm rechtfertigbar sind.

IV. Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation Zumindest auf den ersten Blick stellt sich aus Sicht des Modells doppelter Legitimationsbasis die Frage, ob in Ansehung der EG-Normsetzungsakte eine grundgesetzlich hinreichende Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation gegeben ist, nachdrücklicher, als dies in der Perspektive des Modells mittelbarer Legitimation der Fall gewesen ist. Dies hängt damit zusammen, dass sich bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation – anders als beim Modell mittel­barer Legitimation505  – nicht mehr nahezu ausschließlich nach denjenigen staats- und gesellschaftsorganisatorischen Vorgaben des Grundgesetzes bestimmt, die in Hinblick auf EG-Normsetzungsakte die Willensbildung speziell des deutschen Volks determinieren. Des ungeachtet kann auch im Kontext des nunmehr interessierenden Legitimationsmodells verschiedentlich auf die Ergebnisse zurückgegriffen werden, die unter dem Blickwinkel des Modells mittelbarer Legitimationsbasis in Hinblick auf die für EG-Normsetzungsakte charakteristische Qualität demokratischer Staatsund Gesellschaftsorganisation erzielt worden sind. Dadurch kann erneut die Komplexität der in Rede stehenden Legitimationszusammenhänge ein Stück weit reduziert werden. 504

Zu diesen Rechtfertigungsansätzen allgemein oben Kapitel 10 III. 5. c) dd) = S. 858. Dazu oben Kapitel 11 IV. = S. 977.

505

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1. Bestandsaufnahme Das in Hinblick auf einen EG-Normsetzungsakt realisierte Niveau demokra­ tischer Legitimation bemisst sich bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis danach, inwieweit der Erlass beziehungsweise die (Nicht-) Revision des betreffenden Normsetzungsakts von dem aus den mitgliedstaatlichen Völkern konstituierten dezentrierten Unions-demos beziehungsweise von dem  – davon zu unterscheidenden  – zentrierten Unions-demos beherrscht wird506. Anders als aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation interessieren im Folgenden daher nicht nur die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen, die zur Rückkoppelung von EG-Normsetzungsakten speziell an den Willen des deutschen Staatsvolks beitragen. Vielmehr hängt die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation in der nachstehend verfolgten Perspektive außerdem davon ab, welche diesbezüglichen Arrangements insofern innerhalb der anderen mitgliedstaatlichen Völker, im Hinblick auf deren Zusammenwirken in EU-Zusammenhängen sowie im Bereich der Unionsbürgerschaft als zentriertem Unionsvolk existieren. Freilich kann, wie gesagt, in einem ersten Schritt auf die Erwägungen zurückgegriffen werden, die in diesem Zusammenhang aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation angestellt worden sind. Denn was insofern zu den staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen ausgeführt worden ist, unter denen EG-Normsetzungsakte an den Willen gerade des deutschen Staatsvolks rück­ gebunden sind, gilt cum grano salis auch für die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen, unter denen EG-Normsetzungsakte an den Willen der übrigen mitgliedstaatlichen Völker rückgekoppelt werden; schließlich sind sämtliche EU-Mitgliedstaaten als repräsentative Demokratie mit freiheitlicher Gesellschaftsordnung verfasst und unterliegen im Übrigen denselben gemeinschafts­ verfassungsrechtlichen Vorgaben. Einer genaueren Analyse bedarf es daher von vorneherein nur in zweierlei Hinsicht. Sie ist zum einen dort erforderlich, wo das Zusammenwirken der mitgliedstaatlichen Völker als Völkergesamtheit die Horizontaldimension von Volks­ souveränität in spezifischer Weise tangiert und sich infolgedessen die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation, wie sie für die auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge charakteristisch ist, nicht schon danach bestimmen lässt, wie EG-Normsetzungsakte unter diesem Gesichtspunkt an den Willen der einzelnen Staatsvölker rückgebunden sind507. Zum anderen ist eine eingehendere Analyse selbstverständlich dort geboten, wo diejenigen staats- und gesellschaftsorganisatorischen Determinanten in Rede stehen, von denen die Genese des Unionsvolks als zentrierter demos ab-

506

Siehe oben Kapitel 13 = S. 1014. Dazu unten Kapitel 13 IV. 1. a) = S. 1172.

507

1172

Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

hängt508. Ein partieller Rückgriff auf die in Zusammenhang mit dem Modell mittelbarer Legitimation gesammelten Erkenntnisse wird indes auch hier möglich sein.

a) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation hinsichtlich der auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker zurückführenden Legitimationszusammenhänge Zwischen dem staats- und gesellschaftsorganisatorischen Arrangement, in dessen Rahmen EG-Normsetzungsakte an den Willen speziell des deutschen Volks rückgebunden werden, und denjenigen staats- und gesellschaftsorganisatorischen Bedingungen, unter denen EG-Normsetzungsakte an den Willen anderer Mitgliedsvölker rückgekoppelt sind, lassen sich keine substanziellen Unterschiede ausmachen: Die Staatsrechte sämtlicher EU-Mitgliedstaaten formulieren in Hinblick auf die Freiheit und Gleichheit der Stimmbürger, die Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie die Pu­ blizität im gesellschaftlichen Bereich identische oder doch nahezu identische Anforderungen509. Soweit es die staatsorganisatorische Publizität der EG-Normsetzungsakte anbelangt, wird diese in erster Linie durch die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts einheitlich bestimmt510, sodass auch insoweit keine Unterschiede hinsichtlich der Rückbindung von EG-Normsetzungsakten an den Willen der verschiedenen EU-Mitgliedsvölker festzustellen sind. Bemerkenswerte, wenngleich im Ergebnis vernachlässigbare Abweichungen ergeben sich insofern lediglich unter zwei Gesichtspunkten: Die Einbußen an demokratischer Wahlrechtsgleichheit, die sich aus der Beteiligung des Bundesrats am EG-Normsetzungsprozess ergeben511, sind – zumindest dem Umfang nach – selbst denjenigen EU-Mitgliedstaaten unbekannt, die föderalstaatlich verfasst sind512. 508

Dazu unten Kapitel 13 IV. 1. b) = S. 1177. Dies hängt primär mit den in hohem Maße konvergenten Grundrechtsgewährleistungen in den EU-Mitgliedstaaten zusammen. Dort ist ein „europäisches Grundrechtsverständnis heimisch geworden, das im Grundsätzlichen mit dem des Grundgesetzes homogen ist“ (so Stern, Staatsrecht, Bd. 3/1, 1988, S. 224). 510 Zu den gemeinschaftsrechtlichen Verbürgungen transparenten Gemeinschaftshandelns vgl. überblicksartig Oppermann (Fn. 19), § 8 Rn. 11 f. 511 Dazu oben Kapitel 11 IV. 1. b) aa) = S. 979. 512 Hinsichtlich des österreichischen Bundesrats ist zu berücksichtigen, dass er das Inkraft­ treten von Gesetzen grundsätzlich nur aufzuschieben vermag. Im Fall des belgischen Senats ist zu sehen, dass sich deren legislative Kodezisionsmacht ebenfalls in engen Grenzen hält und sich im Wesentlichen auf staatsorganisatorische Regelungen, insbesondere auf die das föderale Institutionengefüge betreffenden Vorschriften, beschränkt; hinzu kommt, dass die Abweichung vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit bei dem teils unmittelbar, teils mittelbar demokratisch bestellten Senat deswegen vergleichsweise gering ausfällt, weil die proportionale Reprä­sentanz der belgischen Bevölkerung dort ungleich stärker ausgeprägt ist als die der deutschen Bevölkerung im Bundesrat. 509

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Gewisse Divergenzen ergeben sich ferner daraus, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsrechte zum Teil besondere Publizitätsanforderungen im Hinblick auf die Mitwirkung staatlicher Organe am Normsetzungsprozess statuieren513. Die genannten Unterschiede können nun freilich deshalb vernachlässigt werden, weil die Staatsrechte der anderen EU-Mitgliedstaaten insoweit allenfalls eine (leicht) höhere demokratische Qualität fordern. Hinsichtlich der Wahlrechtsgleichheit ergibt sich dies allein schon daraus, dass, wie erwähnt, selbst die EU-Mitgliedstaaten mit föderalstaatlicher Staatsorganisation keine derart weitreichenden Abweichungen von diesem Prinzip vorsehen, wie sie das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vorgibt. In Bezug auf die Publizität ist zu berücksichtigen, dass die grundgesetzlichen Verfahrensvorschriften, die eine größere Transparenz des EG-Normsetzungsprozesses zum Ziel haben, in der Regel nur eine bessere Information des Staatsorgans Bundestag gewährleisten, nicht aber demokratische Öffentlichkeit im hiesigen Sinn ins Werk setzen514. Damit schreibt das Grundgesetz gerade kein höheres Niveau staatsorganisatorischer Publizität vor, als es Mitgliedstaaten aufweisen, die insofern ganz auf staats(verfassungs)rechtliche Vorgaben verzichten. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich, dass in Ansehung der auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation überhaupt nur dort näher erörtert zu werden braucht, wo sie gerade durch die spezifische Art und Weise des Zusammenwirkens der mitgliedstaatlichen Völker (mit-)bestimmt sein könnte. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo der zwischen den mitgliedstaatlichen Völkern etablierte Kooperationsmodus den Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Gleichheit determiniert. Eine vertiefende Betrachtung macht die Annahme einer völkermehrheitlich bewirkten Genese gebietseinheitlicher Volkssouveränität aber auch insoweit erforderlich, als der Umfang staatsorganisatorischer Publizität in Rede steht.

aa) Der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Gleichheit im Besonderen Wendet man sich zunächst der Gleichheitsproblematik zu, so ist zu konstatieren, dass die Abstimmungsmodalitäten im Rat dem Prinzip demokratischer Gleich-

513 Unterschiede bestehen insbesondere auch insofern, wie umfangreich über Vorgänge auf EU-Ebene informiert werden muss. So sieht beispielsweise Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG eine umfassende Unterrichtungspflicht vor (siehe nur v. Münch [Fn. 213], Rn. 937), wohingegen etwa die Informationsermächtigung des Art. 84–4 Abs. 1 Satz 2 frz. Verf. deutlich zurückhaltender formuliert ist. 514 Dazu bereits oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (5) = S. 992 sowie allgemein Zippelius (Fn. 212), § 24 I.

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heit widerstreiten515. Dieses nämlich besagt, dass die zu demokratischer Partizipation Berufenen alle die gleiche Chance politischer Einflussnahme haben sollen516. Da nun freilich bei Abstimmungen im Rat die Voten der Mitgliedstaaten nicht entsprechend ihrer Bevölkerungs- respektive Stimmbürgerzahl gewichtet werden, sondern den kleinen Staaten eine  – bezogen auf die Staatsvolksgröße  – über­ proportionale Einflussmacht zugestanden wird, steht den Angehörigen der europäischen Völkergesamtheit eine je nach nationaler Zugehörigkeit divergierende, kurzum ungleiche Chance politischer Einflussnahme zu517. Dabei ist die Beeinträchtigung der demokratischen Gleichheit dann am stärksten ausgeprägt, wenn das Einstimmigkeitsprinzip gilt beziehungsweise das Erfordernis absoluter Mehrheit Platz greift518. Deutlich geringer fällt sie demgegenüber im Regelfall der qualifizierten Mehrheit aus519. Dieses demokratische Defizit betrifft dabei nicht nur die ratsbeschlossenen EGNormsetzungsakte. Es infiziert auch solches Sekundärrecht, das auf der ermächtigenden Grundlage ratsbeschlossener EG-Normsetzungsakte erlassen wurde. Hinzu tritt, dass der Rat maßgeblich an der Investitur der Kommission beteiligt ist520. Infolgedessen stehen EG-Normsetzungsakte, soweit sie auf der (Ko-)Dezi­ sions- beziehungsweise (Ko-)Revisionsmacht der Kommission beruhen, ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zum Gebot demokratischer Gleichheit. Schließlich laufen EG-Normsetzungsakte dem Prinzip demokratischer Gleichheit auch in den Fällen zuwider, in denen dem Ausschuss der Staatenvertreter Mitherrschaftsmacht zusteht. Denn dieser entscheidet nach den im Rat für die qualifizierte Mehrheit geltenden Regeln. Insofern ergeben sich die bereits für das Ratsverfahren beschriebenen Unzuträglichkeiten für das Prinzip demokratischer Gleichheit. 515 Eingehend Marschall, Transnationale Repräsentation in Parlamentarischen Versammlungen, 2005, S. 113 ff.; ferner Grözinger, Die ‚Vereinigten Parlamente von Europa‘ und weitere Überlegungen zur subsidiären Demokratie, in: Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, 2003, S. 211 (212 f.) sowie Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, S. 33 f. Negiert wird das Gleichheitsproblem von Di Fabio, Demokratie im System des Grundgesetzes, in: Brenner / Huber / Möstel (Hrsg.), Festschrift für Badura, 2004, S. 77 (94). 516 Vgl. oben Kapitel 10 III. 1. d) aa) = S. 761. 517 Melchior (Fn. 141), S. 33; Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 106 f; Kellner, Die ‚doppelte Mehrheit‘ im Ministerrat, in: Zuleeg / Savat / Derosier (Hrsg.), Eine Verfassung für ein Europa mit 25 Mitgliedstaaten, 2005, S. 50 (51 f.). 518 Dass das Mehrheitsprinzip insofern demokratiefreundlicher ist als das Einstimmigkeitsprinzip, vertritt – mit abweichender Begründung – auch Doehring (Fn. 4), S. 1133 ff. 519 Dies ist vor allem auch im Vergleich zum Modell mittelbarer Legitimation hervorzu­ heben. Schließlich war in diesem Kontext das Mehrheitsprinzip als zentrales Legitimationsproblem ausgemacht worden, wenn auch nicht unter dem Gesichtspunkt staatsorganisatorischer Gleichheit, sondern unter dem exklusiv-perpetueller Legitimation (oben Kapitel 11 I. 4. = S. 905). 520 Art. 214 Abs. 2 EGV; auch Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 78.

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Auch wenn die eben skizzierten Abweichungen vom demokratischen Gleichheitsgebot die ungleich bedeutsameren sind, sollte nicht verkannt werden, dass die auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker, also auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge noch unter einem weiteren Gesichtspunkt das Prinzip demokratischer Gleichheit tangieren. Denn die verschiedenen mitgliedstaatlichen Volkswillen, die gemeinsam gebietseinheitliche Volkssouveränität generieren, artikulieren sich in national unterschiedlichen Wahlsystemen521. Dies bedingt, dass den Stimmen der Unionsbürger auch unter diesem Gesichtspunkt ein unterschiedlicher Erfolgswert522 zukommt. Ein französischer Sympathisant der Verts hat nicht nur deshalb eine relativ geringere Chance politischer Einflussnahme als ein luxemburgischer Unterstützer von Déi Gréng, weil Luxemburgern im Vergleich zu Franzosen eine bezogen auf ihren Anteil an der EU-Bevölkerung überproportionale Einflusschance in Hinblick auf die Zusammensetzung und die Entscheidungen von Rat, Kommission sowie Ausschuss der Staatenvertreter zukommt523. Hinzu tritt, dass in Luxemburg das Verhältnis-524, in Frankreich das Mehrheitswahlrecht525 gilt und sich auch aus diesem Grund eine bei den nationalen Parlamentswahlen in Luxemburg für Déi Gréng abgegebene Stimme eher auf die Hoheitstätigkeit der EU auszuwirken vermag, als dies bei einem anlässlich französischer Parlaments- oder Präsidentenwahlen für den Kandidaten der Verts abgegeben Votum der Fall ist526. Es zeigt sich damit, dass die auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker, mithin also auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge – anders als die vom einzelnen nationalen Staatsvolk ausgehenden – durch nicht nur erhebliche, sondern auch verschieden geartete Abweichungen vom demokratischen Gleichheitsgebot geprägt sind.

bb) Der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Publizität im Besonderen Im Hinblick auf das Ausmaß staatsorganisatorischer Öffentlichkeit ist im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass sich dieses anders rekonstruiert, wenn man – wie im Modell doppelter Legitimationsbasis – die den dezentrierten Unions-demos 521 Diese Uneinheitlichkeit des Wahlrechts ist allerdings nicht mit derjenigen zu verwechseln, die die Wahlen zum Europäischen Parlament prägt – dazu unten Kapitel 13 IV. 1. b) bb) = S. 1178 sowie überblicksweise Bieber (Fn. 48), § 4 Rn. 30. 522 Dazu etwa v. Münch (Fn. 213), Rn. 170. 523 Während ein luxemburgischer Europaparlamentarier 79.000 Luxemburger vertritt, besteht in Frankreich ein Verhältnis von 1: 888.0000. Siehe auch v. Beyme, Europa in Forschung und Lehre, in: Chrysos / Schultheiß, EuropaPerspektiven, 2007, S. 105 (115). 524 Ismayr (Fn. 31), S. 38. 525 Ismayr (Fn. 31), S. 37 f. 526 Zu diesen Konsequenzen des Mehrheits- beziehungsweise Verhältniswahlrechts all­gemein Zippelius (Fn. 212), § 24 II.

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verkörpernde Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker als Legitimationssubjekt setzt und nicht  – wie beim Modell mittelbarer Legitimation  – allein dem nationalen Staatsvolk entsprechende Subjektqualität zuschreibt. Denn in diesem Fall gilt das Publizitätsgebot für den EG-Normsetzungsakt insgesamt und nicht nur für den diesbezüglichen Normsetzungsbeitrag eines bestimmten nationalen Staatsvolks527. Allerdings zeigt sich rasch, dass ungeachtet dieses die dogmatische Rekonstruktion betreffenden Unterschieds der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Publizität, der im Rahmen der auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker zurückführenden Legitimationszusammenhänge erreicht wird, qualitativ demjenigen entspricht, der im Hinblick auf die von einem einzelnen mitgliedstaatlichen Staatsvolk ausgehenden Legitimationszusammenhänge erzeugt wird. Denn das staatsorganisatorische Publizitätsgebot gilt dann, wenn eine Völkermehrheit in Realisierung staatsgebietseinheitlicher Volkssouveränität zusammenwirkt, in der Weise, dass für jedes der mitwirkenden Völker die Verantwortung ihrer Repräsentanten für Erlass und Fortbestand des legitimationsbedürftigen Hoheitsakts hinreichend transparent sein muss528. Vor diesem Hintergrund offenbart sich, dass all die gemeinschaftsrechtlich bedingten Umstände, die dem deutschen Staatsvolk den Einblick in die auf die EG-Normsetzung bezogene Tätigkeit ihrer nationalen Repräsentanten erlauben, erschweren oder verunmöglichen, in entsprechender Weise auch das Maß demokratischer Transparenz determinieren, das bei der Rückkoppelung der EG-Normsetzungsakte an den dezentrierten Unions-demos erreicht wird. Den Angehörigen von deutschem Staatsvolk respektive deutscher Gebietsgesellschaft sind in Hinblick auf die Tätigkeit ihrer am europäischen Rechtsetzungs­ prozess beteiligten Magistrate gemeinschaftsrechtlich keine anderen, geringeren oder weitergehenden Informationsmöglichkeiten eingeräumt, als sie den Staatsbeziehungsweise Gebietsangehörigen eines beliebigen Mitgliedstaats insoweit zustehen, wie der EG-Normsetzungsprozess von den Staatenvertretern gemeinsam verantwortet wird. Anders als unter dem Gesichtspunkt demokratischer Gleichheit529 führt es demnach zu keiner anderen Beurteilung des im Rahmen der EG-Normsetzung generierten Legitimationsniveaus, wenn hinsichtlich des Realisierungsgrads staatsorganisatorischer Publizität statt auf den von einem einzelnen Staatsvolk herrührenden auf den sich vom dezentrierten Unions-demos herleitenden Legitimationszusammenhang abgestellt wird.

527

Siehe oben Kapitel 6 III. 3. a) cc) = S. 347. Ebd. 529 Siehe oben Kapitel 13 IV. 1. a) aa) = S. 1173.

528

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b) Die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation hinsichtlich der auf den zentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge Das staats- und gesellschaftsorganisatorische Arrangement, innerhalb dessen sich die Unionsvolkswerdung vollzieht, entspricht überwiegend demjenigen, das die Rückkoppelung rein innerstaatlicher Normsetzungsakte an den Willen des deutschen oder eines anderen mitgliedstaatlichen Volks determiniert. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Schließlich beruht die Union auf Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit  – und somit auf Prinzipien, die dem Verfassungsrecht aller Mitgliedstaaten gemeinsam sind530.

aa) Weitgehende Übereinstimmung mit dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Legitimationsniveau Den aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen her bekannten Vorgaben entsprechen allen voran die Anforderungen, die das Gemeinschaftsverfassungsrecht insoweit an die Freiheit der Stimmbürger stellt, als es die vom zentrierten Unionsvolk herrührenden und über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationszusammenhänge anbelangt. Zwar wird der Grundsatz der Freiheit der Wahl in Art. 190 Abs. 1 EGV nicht ausdrücklich erwähnt531. Jedoch kann er mit Rücksicht auf Art. 6 Abs. 1 2. und 3. Variante EUV als durch das Gemeinschaftsverfassungsrecht implizit verbürgt angesehen werden532. Denn durch sonstiges, namentlich spezielleres, Gemeinschaftsverfassungsrecht wird ein solcher inter­pretatorischer Rekurs auf Art. 6 Abs. 1 2. und 3. Variante EUV weder ausgeschlossen noch inhaltlich näher konkretisiert. Wird nun freilich der dem Gemeinschaftsverfassungsrecht unausgesprochen inhärente und auf die Wahlen zum Europäischen Parlament beziehbare Grundsatz der Freiheit der Wahl inhaltlich im Wesentlichen durch Art. 6 Abs. 1 2. und 3. Variante EUV orientiert, so liegt es auf der Hand, dass sein Anforderungsprofil im Wesentlichen demjenigen entspricht, das den mitgliedstaatlichen Verfassungsrechten zufolge für die Wahlen zu den nationalen Parlamenten gilt. Eine andere Auslegung widerspräche dem zweiten Halbsatz von Art. 6 Abs. 1 EUV 533. Soweit die demokratische Qualität der vom zentrierten Unions-demos herrührenden und über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationszusammenhänge von der Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung innerhalb der ge 530

Vgl. Art. 6 EUV . Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 190 EGV Rn. 7. 532 Im Ergebnis gleich Kluth, in: Calliess / Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 190 Rn. 9. 533 Dazu differenzierend Calliess, in: ders. / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 EUV Rn. 6. 531

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sellschaftlichen Willensbildungsprozesse sowie der Publizität gesellschaftlicher Sachverhalte abhängt, bestimmt sie sich zunächst und zuvörderst nach den auch innerhalb der mitgliedstaatlichen Verfassungsräume geltenden nationalrechtlichen Verbürgungen. Den gemeinschaftsverfassungsrechtlichen Verbürgungen und das heißt insbesondere den Gemeinschaftsgrundrechten534 kommt wegen ihres begrenzten Anwendungsbereichs insofern nur sekundär Bedeutung zu535. Ohnedies bestätigen sie, sofern sie eingreifen, die Vorgaben der mitgliedstaatlichen Verfassungen; dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem Homogenitätsgebot des Art.  6 Abs. 1 und 2 EUV  536. Insbesondere kongruieren die Anforderungen an Freiheit und Gleichheit innerhalb der gesellschaftlichen Willensbildungsprozesse, die sich für ihren Anwendungsbereich aus den Gemeinschaftsgrundrechten ableiten, mit denjenigen, die innerhalb der mitgliedstaatlichen Verfassungsräume – und damit auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Gemeinschaftsgrundrechte  – nach Maßgabe nationalrechtlicher Grundrechtsverbürgungen Geltung beanspruchen537. Denn die Gemeinschaftsgrundrechte speisen sich ausweislich Art. 6 Abs. 2 EUV hauptsächlich aus zwei Rechtserkenntnisquellen538: der von allen Mitgliedstaaten rezipierten Europäischen Menschenrechtskonvention539 sowie den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen540. Nach allem kann die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation, wie sie für die vom zentrierten Unionsvolk ausgehenden und über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationszusammenhänge prägend ist, lediglich in zweierlei Hinsicht nicht mit dem Qualitätsniveau gleichgesetzt werden, das für die Rückbindung rein innerstaatlicher Normsetzungsakte an den Willen des deutschen oder eines anderen mitgliedstaatlichen Volks charakteristisch ist. Unterschiede bestehen erstens hinsichtlich des Prinzips demokratischer Gleichheit sowie zweitens in Bezug auf die staatsorganisatorische Publizität.

bb) Der Realisierungsgrad staatsorganisatorischer Gleichheit im Besonderen In Hinblick auf die über das Europäische Parlament vermittelten Legitima­ tionszusammenhänge findet sich im Gemeinschaftsrecht keine ausdrückliche Ver 534 Zu diesen etwa Bleckmann / Pieper, Rechtsquellen, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EUWirtschaftsrechts, Stand: Juni 2007, B. I. Rn. 60 ff. 535 Zum beschränkten Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte vgl. Streinz (Fn. 36), Rn. 768 sowie v. Komorowski, Europarechtskonforme Beiladungspraxis im Normenkontrollverfahren, in: BayVBl. 2003, S. 360 (366). 536 Zu diesem etwa Huber (Fn. 14), § 5 Rn. 59. 537 So offensichtlich auch Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie ohne Völker?, in: Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 27 (46 f.). 538 Zum Terminus der Rechtserkenntnisquelle auch v. Komorowski (Fn. 535), S. 365. 539 Siehe Oppermann (Fn. 19), § 6 Rn. 35 ff. 540 Epiney, in: Bieber / dies. / Haag, Die Europäische Union, 7. Aufl. 2006, § 2 Rn. 16.

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bürgung des Prinzips der Wahlrechtsgleichheit541. Doch ist in Ansehung des Art. 6 Abs. 1 Variante 2 und 3 EUV – ebenso wie hinsichtlich des Grundsatzes der Freiheit der Wahl – davon auszugehen, dass das Gemeinschaftsverfassungsrecht die Gleichheit der Wahl implizit gewährleistet542. Allerdings muss bei der Konkretisierung des gemeinschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit die Spezialregelung des Art. 190 EGV berücksichtigt werden543. Dies gebietet nicht nur der interpretatorische Topos der Einheit der Rechtsordnung544, sondern auch das völkerrechtliche Souveränitätsprinzip, aus dem sich ergibt, dass völkerrechtliche Verträge  – und auf solchen beruht das Gemeinschaftsrecht nach wie vor545 – nicht entgegen dem im Vertragstext manifestierten Willen der Vertragsparteien ausgelegt werden dürfen546. Insofern besteht ein entscheidender Unterschied zur normativen Situation beim Grundsatz der Freiheit der Wahl, wo eine derartige Spezialregelung nicht auszumachen war547. Den für den demokratischen Verfassungsstaat charakteristischen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit modifiziert das Gemeinschaftsverfassungsrecht in zweifacher Hinsicht548. Zunächst und vor allem sieht es in Art.  190 Abs.  2  EGV nationale Abgeordnetenkontingente vor, die sich nicht proportional zur Einwohner- oder Stimmbürgerzahl der einzelnen EU-Mitgliedstaaten verhalten549. Soweit daher EG-Normsetzungsakte vom Europäischen Parlament mitentschieden werden, prägt sie insofern ein nicht unerhebliches Maß an Wahlrechtsungleichheit550. Denn Angehörige kleiner Mitgliedstaaten haben eine relativ größere Chance, über das Europäische Parlament auf die von diesem mitzuentscheidenden EG-Norm 541

Dazu auch Huber (Fn. 537), S. 41. In diese Richtung auch Huber (Fn. 531), Rn. 14. 543 Zu dieser etwa Bieber (Fn. 48), § 3 Rn. 29. 544 Hierzu Bleckmann / Pieper (Fn. 534), Rn. 53 ff. 545 Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 1 EUV Rn. 5 f. 546 Wohl anderer Ansicht Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Euro­ päischen Union, Bd. 3, Stand: Oktober 2007, Art. 220 EGV Rn. 55 und auch schon Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: VVDStRL 1966, S. 34 (55); zumindest im Ergebnis tendenziell wie hier Bleckmann / Pieper (Fn. 534), Rn. 10. 547 Siehe oben Kapitel 13 IV. 1. b) aa) = S. 1177. 548 Dazu auch Spieß, Sozialer Dialog und Demokratieprinzip, 2005, S. 128 ff. 549 Steffani, Das Demokratie-Dilemma der Europäischen Union, in: ders. / Thaysen, Demokratie in Europa: Zur Rolle der Parlamente, 1995, S. 33 (38 ff.); vgl. auch Tiedtke, Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 36 ff.; Erberich, Ein Parlament ohne Stimme, in: Scherzberg / Pieper (Hrsg.), Deutschland im Binnenmarkt, 1994, S. 207 (223 f.); Nohlen, Wie wählt Europa?, in: APuZ B 17/2004, S.  29 (31 f.); Klein, Entwicklungsperspektiven für das Euro­ päische Parlament, in: EuR 1987, S. 97 (103 f.). 550 Vgl. Augustin (Fn. 517), S. 104 ff.; Beierwaltes, Demokratie und Medien, 2. Aufl. 2002, S. 216; dezidiert auch Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 31 Rn. 62; vgl. de constitutione ferenda auch Schoo, Das institutionelle System aus der Sicht des Europäischen Parlaments, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 63 (65). 542

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setzungsakte Einfluss zu nehmen, als Bürger großer Mitgliedstaaten551. Es verhält sich also ähnlich wie bei den auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhängen, wo die besondere Stimmverteilung im Rat beziehungsweise im Ausschuss der Staatenvertreter ebenfalls dazu führt, dass den Unionsbürgern je nach nationalstaatlicher Provenienz eine verschieden große Chance zur Beeinflussung des EG-Normsetzungsprozesses zukommt552. Und ebenso wie die durch die Zusammensetzung des Rats bedingte Wahlrechtsungleichheit nicht nur die demokratische Qualität des ratsbeschlossenen Rechts beeinträchtigt, berührt auch die durch die Abgeordnetenkontingente des Art. 190 Abs. 2 EGV hervorgerufene Wahlrechtsungleichheit EG-Normsetzungsakte nicht allein in dem Umfang, in dem sie der Kodezisions- beziehungsweise -revisionsmacht des Europäischen Parlaments unterliegen. Da neben dem Rat auch das Europäische Parlament an der Investitur der Kommission beteiligt ist, werden EGNormsetzungsakte, soweit sie auf der alleinigen oder anteiligen Dezisions- beziehungsweise Revisionsmacht der Kommission beruhen, zusätzlich von der durch Art. 190 Abs. 2 EGV bedingten Abweichung vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit negativ tangiert. Der Vollständigkeit halber sei freilich darauf hingewiesen, dass die durch die Abgeordnetenkontingente nach Art.  190 Abs.  2  EGV bedingte Wahlrechtsungleichheit weniger stark ausgeprägt als die, die einen EG-Normsetzungsakt im Modell der doppelten Legitimationsbasis insofern kennzeichnet, als er vom Rat oder vom Ausschuss der Staatenvertreter mitentschieden wird. Das für den demokratischen Verfassungsstaat prägende Ausmaß an Wahlrechtsgleichheit verfehlen die über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationszusammenhänge des Weiteren insofern, als es nach wie vor an einem einheitlichen System für die Wahlen zum Europäischen Parlament fehlt553. Art. 190 Abs. 4 EGV lässt sich ein darauf abzielender und an das Europäische Parlament sowie den Rat gerichteter Handlungsauftrag zwar entnehmen554. Jedoch wurde dieser Handlungsauftrag bislang nicht, jedenfalls nicht vollständig, eingelöst555. Denn auch in seiner aktuell geltenden Fassung normiert der Direktwahlakt kein einheitliches Wahlsystem, sondern setzt dem nationalen Wahlgesetzgeber lediglich einen gewissen Rahmen556. Allerdings ist mit der letzten Änderung des Direktwahlakts immerhin erreicht worden, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments in jedem Mitgliedstaat

551

Melchior (Fn. 141), S. 33 und Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?, in: NJW 1993, S. 38 (40). 552 Siehe oben Kapitel 13 IV. 1. a) aa) = S. 1173. 553 Tiedtke (Fn. 549), S. 35 f. 554 Kluth (Fn. 532), Rn. 5; ausführlich Lenz (Fn. 515), S. 43 ff. (zusammenfassend S. 89). 555 Bieber (Fn. 48), § 4 Rn. 30. 556 Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 16.

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nach dem Verhältniswahlsystem gewählt werden557. Die besonders gravierende Abweichung vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit, die lange Zeit damit einher ging, dass in dem einen Mitgliedstaat bei den Wahlen zum Europaparlament das Mehrheits-, im anderen aber das Verhältniswahlrecht galt558, gehört damit der Vergangenheit an559. Uneinheitlich bleiben die mitgliedstaatlichen Europawahlen indes nach wie vor in Hinblick auf das passive Wahlrechtsalter, die Wahlkreiseinteilung, das Sitzzuteilungsverfahren, die Frage der Wahlpflicht, den Typus des Wahlsystems und vor allem in Hinblick auf die Sperrklausel560. Infolgedessen haben etwa die französischen Unterstützer der europäischen Grünen allein schon deshalb eine relativ geringere Chance politischer Einflussnahme als deren luxemburgische Parteigänger, weil es bei den Europawahlen im Großherzogtum – anders als bei seinem südlichen Nachbarn – an einer Sperrklausel fehlt. Nach allem wiegen die durch das uneinheitliche Wahlsystem bedingten Abweichungen vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit zwar unzweifelhaft weniger schwer als diejenigen, die durch die Abgeordnetenkontingente gemäß Art. 190 EGV bedingt sind561. Zu vernachlässigen sind sie deshalb aber nicht.

cc) Das Ausmaß staatsorganisatorischer Publizität im Besonderen Um im Weiteren das Qualitätsniveau zu veranschaulichen, das die vom zentrierten Unions-demos herrührenden und über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationszusammenhänge in puncto staatsorganisatorischer Publizität realisieren, ist zwischen den im Mitentscheidungsverfahren sowie den in den übrigen Rechtsetzungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten zu differenzieren. So lässt sich für das Mitentscheidungsverfahren festhalten, dass dort im Rahmen der vom zentrierten Unionsvolk ausgehenden Legitimationszusammenhänge ein hohes Maß an Verfahrensöffentlichkeit generiert: Zwar gewährleistet Art. 199 UAbs.  2  EGV lediglich eine nachlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit562. Perfekte Verfahrensöffentlichkeit wird jedoch nach Maßgabe von Art. 96 Abs. 2 und 3 GeschOEP verbürgt. Der Grundsatz perfekter Verfahrensöffentlichkeit dürfte, soweit es die Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments anbelangt, überdies auch schon durch das gemeinschaftsverfassungsrechtliche Demokra 557 Vgl. Denkschrift zum Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 zur Änderung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, EURATOM (2002/772/EG, EURATOM), in: BT-Drs. 15/1059, S. 11. 558 Namentlich das Vereinigte Königreich hat bis 1994 nach dem relativen Mehrheitswahlrecht gewählt (vgl. Nohlen [Fn. 549], S. 33 und Nugent [Fn. 89], S. 214). 559 Dies übersieht Kluth (Fn. 532), Rn. 7. 560 Dazu eingehend Nohlen (Fn. 549), S. 31 ff. 561 So auch Tiedtke (Fn. 549), S. 125. 562 Vgl. dazu Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 199 EGV Rn. 15.

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tieprinzip des Art. 6 Abs. 1 EUV garantiert sein563. Darüber hinaus gewährleistet Art. 97 GeschOEP mit- und nachlaufende semi- beziehungsweise imperfekte Verfahrensöffentlichkeit564. Nun wird freilich im Mitentscheidungsverfahren nicht nur über das Europäische Parlament, sondern – zumindest im Regelfall – auch über die Kommission zen­ trierte Unionsvolksmacht vermittelt. Sofern und soweit dies der Fall ist, mangelt es zwar an perfekter Verfahrensöffentlichkeit; jedoch bricht sich insofern immerhin eine – jedenfalls überwiegend – nachlaufende semi- beziehungsweise imperfekte Verfahrensöffentlichkeit Bahn565. Da im Übrigen die Kommission im Mitentscheidungsverfahren allenfalls beschränkten Anteil an der zentrierten Unionsvolksmacht hat566, kann daran festgehalten werden, dass sich im Mitentscheidungsverfahren hinsichtlich der vom zentrierten Unions-demos herrührenden Legitimation ein doch erhebliches Maß an Verfahrensöffentlichkeit realisiert. Ähnliches lässt sich in puncto Ergebnisöffentlichkeit konstatieren. Denn aufgrund von Art. 254 Abs. 1 EGV erwachsen die im Mitentscheidungsverfahren verabschiedeten EG-Normsetzungsakte insoweit in perfekter Ergebnisöffentlichkeit, als das Europäische Parlament allein wegen der Veröffentlichung im Amtsblatt für den Normerlass unmittelbar demokratisch haftbar gemacht werden kann567. Hinsichtlich der im Vergleich weniger bedeutsamen Entscheidungsbeiträge der Kommission besteht immerhin semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit. Denn unter zusätzlicher Berücksichtigung der Veröffentlichungen wegen Art.  9 Abs.  1 GeschORat lässt die Promulgation im Amtsblatt, wie an früherer Stelle bereits dargelegt, Rückschlüsse darauf zu, ob die Kommission für den Normerlass demokratisch haftet oder nicht568. Aufgrund der allgemeinen Transparenzbestimmungen besteht semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit auch hinsichtlich der sehr beschränkten Fragestellung, inwieweit sich die Kommission dafür zu verantworten hat, dass ein bestimmtes Thema in den Normsetzungsprozess eingespeist wurde569. Während für das Zustimmungsverfahren hinsichtlich der staatsorganisatorischen Publizität der vom zentrierten Unionsvolk herrührenden Legitimationsverhältnisse im Wesentlichen auf die eben zum Mitbestimmungsverfahren angestellten Überlegungen verwiesen werden kann, ist für das Verfahren der Zusammenarbeit von einem insofern relativ geringeren Demokratieniveau auszugehen. So ist zu berücksichtigen, dass sich der Rat im Verfahren der Zusammenarbeit bei Einstimmigkeit über das Votum des Europäischen Parlaments hinwegsetzen kann570. Dies 563 Siehe dazu auch Kluth, in: Calliess / Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 199 Rn. 4. 564 Zur Typologie demokratischer Öffentlichkeit oben Kapitel 6 III. 3. c) bb) = S. 351. 565 Siehe dazu bereits oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (1) = S. 981. 566 Ebd. 567 Zur perfekten Ergebnisöffentlichkeit allgemein oben Kapitel 6 III. 3. c) bb) = S. 351 568 Dazu oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (2) = S. 986. 569 Ebd. 570 Streinz (Fn. 36), Rn. 509.

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hat zum einen zur Konsequenz, dass die im Verfahren der Zusammenarbeit erlassenen EG-Normsetzungsakte in geringerem Maße von der perfekten Verfahrensöffentlichkeit geprägt werden, die im Rahmen des Europäischen Parlaments Platz greift, als dies bei den im Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren ergangenen Norm­setzungsakten der Fall ist. Zum anderen bedeutet die Befugnis des Rats, unter Umständen gegen den Willen des Europäischen Parlaments den EGNormsetzungsakt erlassen zu können, dass dieser – anders als wenn er im Mitbestimmungsverfahren ergeht – nicht einmal teilweise in perfekter Ergebnisöffentlichkeit erwächst. Denn die demokratische Haftung des Europäischen Parlaments für den erlassenen EG-Normsetzungsakt lässt sich hier nicht schon allein wegen der Veröffentlichung im Amtsblatt behaupten. Allerdings besteht infolge der Veröffentlichungen gemäß Art. 9 Abs. 1 GeschORat immerhin semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit. In den übrigen Rechtsetzungsverfahren vermittelt ausschließlich die Kommission die vom zentrierten Unions-demos herrührende Legitimation. Insofern besteht zum einen zwar keine perfekte, wohl aber eine teils mit-, teils nachlaufende semi- beziehungsweise imperfekte Verfahrensöffentlichkeit571. Zum anderen sieht sich – in unterschiedlichem Umfang – Ergebnisöffentlichkeit verwirklicht: Bei den vom Rat verabschiedeten Normsetzungsakten ist dies insofern der Fall, als sich aus der Veröffentlichung im Amtsblatt in Verbindung mit den Veröffentlichungen gemäß Art. 9 GeschORat ableiten lässt, ob die Kommission für den Normerlass verantwortlich gemacht werden kann oder nicht. Es handelt sich insofern um eine semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit. Im Fall des Durchführungsrechts steht außer Frage, dass die Kommission an ihrem Erlass beteiligt ist572, und zieht die Veröffentlichung im Amtsblatt folglich perfekte Ergebnisöffentlichkeit nach sich.

2. Die im Rahmen der EG-Normsetzung realisierte demokratische Qualität der Staats- und Gesellschaftsorganisation im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Nach allem ergibt sich für das Modell doppelter Legitimationsbasis im Ergebnis kein anderes Bild als für das Modell mittelbarer Legitimation: In Hinblick auf die Freiheit der Stimmbürger, die Freiheitlichkeit und Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Willensbildungsprozess sowie die Publizität im gesellschaftlichen Raum weisen EG-Normsetzungsakte dieselbe demokratische Qualität auf, wie sie durch das Grundgesetz  – oder ein beliebiges anderes mitgliedstaatliches Staatsrecht  – für rein innerstaatliche Normsetzungsakte vorgegeben ist. Dies gilt im Rahmen des Modells doppelter Legitimationsbasis wohlgemerkt für beide insofern relevanten Legitimationszusammenhänge, also sowohl für den von der Ge 571

Vgl. dazu oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (3) = S. 988. Fraglich ist nur, ob sie allein verantwortlich ist oder aber der Ausschuss der Staatenvertreter eine Mitverantwortung trägt – zur Komitologie Streinz (Fn. 36), Rn. 526 ff. 572

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samtheit der mitgliedstaatlichen Staatsvölker herrührenden, als auch für den vom zentrierten Unionsvolk ausgehenden. Ein grundgesetzlich rechtfertigungsbedürftiges Legitimationsdefizit ist insofern jedenfalls nicht gegeben. Ein solches besteht lediglich in Hinblick auf die Wahlrechtsgleichheit sowie in Ansehung der staatsorganisatorischen Publizität. Wie tief diese Legitimationslücke reicht und ob sie mit dem Grundgesetz noch vereinbar ist, wird im Folgenden zu erörtern sein.

a) Wahlrechtsgleichheit Die Abweichungen vom Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, die für EG-Normsetzungsakte prägend sind, gehen durchweg deutlich über das hinaus, was unter Berücksichtigung der bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalte allenfalls noch als grundgesetzlich normal eingestuft werden kann573. Allerdings lassen sich diese Gleichheitseinbußen jedenfalls zum gegenwärtigen Stand der europäischen Integration grundgesetzlich noch rechtfertigen.

aa) Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß Betrachtet man zunächst allein diejenigen Beeinträchtigungen demokratischer Gleichheit, die durch die Abstimmungsmodalitäten im Rat bedingt sind, so übersteigen sie in jedenfalls qualitativer Hinsicht das, was das Grundgesetz bei innerstaatlich wirksamen Normen äußerstenfalls, nämlich im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung, gestattet. Schließlich ist die Disproportionalität zwischen dem Stimmgewicht der einzelnen Mitgliedstaaten und ihrer Bevölkerungsbeziehungsweise Stimmbürgerzahl selbst dann, wenn der Rat  – wie im Regelfall574 – seine Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit beschließt575, immer (noch) stärker ausgeprägt, als dies im Bundesrat der Fall ist. Dies wird evident, wenn man das Stimmgewicht der jeweils größten und kleinsten Staaten in Relation zu ihren respektiven Bevölkerungszahlen setzt und die fraglichen Zahlenverhältnisse miteinander vergleicht. Es zeigt sich nämlich, dass im Rat das Verhältnis von Stimme pro Einwohnerzahl zwischen rund 1:2.280.000 (für die Bundesrepublik Deutschland) und 1:115.000 (für das Großherzogtum Luxemburg) schwankt576, während sich die Spannbreite im Bundesrat zwischen 1:3.000.000 (für Nordrhein-West­ falen) und 1:180.000 (Bremen) bewegt. Hieraus erschließt sich, dass die Diskre 573

Um die für EG-Normsetzungsakte charakteristische Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß festzustellen, braucht nicht zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen Sekundärrechtsnormen unterschieden werden. Zur Begründung kann auf die an früherer Stelle angestellten Überlegungen verwiesen werden – siehe oben Kapitel 10 III. 2. e) = S. 825. 574 Hummer / Obwexer, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 205 Rn. 11. 575 Dazu Art. 205 Abs. 2 EGV. 576 Dazu auch v. Münch (Fn. 213), Rn. 941.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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panz zwischen der Chance eines Luxemburgers, auf Ratsentscheidungen Einfluss zu nehmen, und der entsprechenden Chance eines deutschen Wahlbürgers noch größer ist als die, die sich zwischen der Chance eines Nordrhein-Westfalen und der eines Bremers in Hinblick auf die Beeinflussung des bundesrätlichen Verfahrens auftut. Die Beeinflussungschance eines Luxemburgers ist nämlich rund 20 mal so hoch wie die eines deutschen Stimmbürgers, wohingegen die eines Bremers ‚nur‘ rund 16,5 mal so hoch ist wie die eines Nordrhein-Westfalen. Die Abweichung von dem, was in puncto demokratischer Gleichheit im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung normal ist, fällt im Übrigen dann noch krasser aus, wenn der Rat ausnahmsweise mit absoluter Mehrheit entscheidet577 oder nach dem Einstimmigkeitsprinzip verfährt, die Stimmenspreizung nach Art. 205 Abs. 2 EGV also nicht greift. Denn dann ist die Beeinflussungschance des Luxemburgers rund 180 mal so groß wie die des deutschen Stimmbürgers. Was eben zu den ratsbedingten Beeinträchtigungen demokratischer Gleichheit ausgeführt wurde, lässt sich mutatis mutandis auf diejenigen Abweichungen vom demokratischen Gleichheitsprinzip übertragen, die durch die Abstimmungsmodalität in den Ausschüssen der Staatenvertreter hervorgerufen werden. Denn das Abstimmungsverfahren dort folgt, worauf bereits hingewiesen wurde, der Sache nach ebenfalls Art. 205 Abs. 2 EGV578. Insofern fällt die Gleichheitsbeeinträchtigung qualitativ ebenfalls stärker aus, als dies vom Grundgesetz für den Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung vorgesehen ist. Die Feststellung, dass die durch die Abstimmungsmodalitäten im Rat beziehungsweise im Ausschuss der Staatenvertreter bedingten Beeinträchtigungen demokratischer Gleichheit qualitativ über das hinausreichen, was das Grundgesetz innerstaatlich wirksamen Normen höchstens – nämlich (nur) im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung  – gestattet, wird nun im Weiteren auch nicht etwa dadurch relativiert, dass EG-Normsetzungsakte in quantitativ geringerem Umfang in demokratischer Ungleichheit erwüchsen, als dies bei den für den grundgesetzlichen Normalfall charakteristischen Normsetzungsakten maximal der Fall sein kann. Vielmehr infizieren Abweichungen vom Prinzip demokratischer Gleichheit, die durch das Abstimmungsprocedere im Rat sowie in den Ausschüssen der Staatenvertreter bedingt sind, die EG-Normsetzungsakte mindestens in dem Umfang, in dem die grundgesetzlich regulierten Normsetzungsakte dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen können, nämlich in jedem Fall hälftig. Für das Mitentscheidungsverfahren ergibt sich dies aus folgenden Erwägungen: Dem Rat steht hier – in demselben Umfang wie dem Europäischen Parlament – 577 Bei der einfachen Mehrheit nach Art. 205 Abs. 1 EGV handelt es sich um eine absolute Mehrheit (dazu Hummer / Obwexer [Fn. 574], Rn. 9). 578 Zum Einstimmigkeitserfordernis im Gemeinschaftsverfassungsrecht vgl. nur Streinz (Fn. 36), Rn. 300.

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eine (zumindest) nahezu hälftige Mitentscheidungsmacht zu. Soweit im Übrigen der Kommission Mitentscheidungsmacht zukommt, ist zu berücksichtigen, dass der Rat zur Hälfte an ihrer Investitur beteiligt ist579 und sich daher die Beeinträchtigungen demokratischer Gleichheit, die durch die Abstimmungsmodalitäten im Rat bedingt sind, in ihren Mitentscheidungsbeiträgen gewissermaßen hälftig fortpflanzen. Vor diesem Hintergrund bestätigt sich für das Mitentscheidungsverfahren, dass die darin ergehenden EG-Normsetzungsakte zur Hälfte von den durch das Ratsverfahren bedingten Gleichheitsbeeinträchtigungen geprägt sind. Für das übrige ratsbeschlossene Sekundärrecht ist davon auszugehen, dass dieses zumindest hälftig, teilweise – etwa bei Erlass im Anhörungsverfahren – in sogar noch größerem Umfang, von der durch das Ratsverfahren induzierten Verkürzung demokratischer Gleichheit geprägt ist. In Hinblick auf das Durchführungsrecht bedarf es der Differenzierung. Soweit es allein von der Kommission verantwortet wird, erfassen die ratsbedingten Gleichheitsbeeinträchtigungen es gleichsam zur Hälfte. Wird das Durchführungsrecht von einem Ausschuss der Staatenvertreter mit verantwortet580, so erwächst es nur zu einem Viertel in ratsbedingter Wahlrechtsungleichheit. Allerdings treten zur Hälfte die Beeinträchtigungen demokratischer Gleichheit hinzu, die Folge des Abstimmungsverfahrens in den Ausschüssen der Staatenvertreter sind. Dies bedeutet, dass dieser (Ausnahme-)Typus von Durchführungsrecht zu fünfundsiebzig Prozent von der Ungleichheit geprägt wird, die aus den Abstimmungsprocedere im Rat und den Ausschüssen der Staatenvertreter resultiert. Damit lässt sich das Zwischenresümee ziehen, dass allein schon die Abweichungen vom Prinzip demokratischer Gleichheit, die die EG-Normsetzungsakte im Rahmen der vom dezentrierten Unions-demos herrührenden Legitimationszusammenhänge prägen, ausnahmslos über das hinausgehen, was für innerstaatlich wirksame Normsetzungsakte allenfalls, nämlich im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung, als grundgesetzlich (noch) normal angesehen werden kann581. 579

Vgl. Art. 214 Abs. 2 EGV. Dies ist ausschließlich im Regelungsverfahren der Fall – siehe oben Kapitel 11 I. 3. c) bb) = S. 899. 581 Eine Abweichung von diesem grundgesetzlichen Normalmaß wird man allerdings nicht auch insoweit konstatieren können, als es die  – nachrangigen  – Gleichheitseinbußen anbelangt, die durch das Fehlen eines einheitlichen Wahlsystems bedingt sind (zu diesen Epiney u. a. [Fn. 146], S. 160; Erberich [Fn. 549], S. 223). Zwar leiten die mitgliedstaatlichen Vertreter im Rat – anders als gegenwärtig die Ländervertreter im deutschen Bundesrat (vgl. Nohlen [Fn. 549], S.  33)  – ihr Amt nicht durchweg aus Volkswahlen ab, die nach dem Verhältniswahlrecht organisiert sind. Vielmehr gilt in einzelnen Mitgliedstaaten und gerade auch in den beiden klassischen Demokratien, Frankreich und Großbritannien, das Mehrheitswahlrecht (Ismayr [Fn. 31], S. 37 f.). Dennoch wird man aus der durchgängigen Anwendung des Verhältniswahlsystems bei Landtagswahlen einerseits und den von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschiedenen nationalen Wahlsystemen andererseits nicht den Schluss ziehen können, dass die Gleichheitseinbußen, die – im Rahmen der auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staats 580

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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Nun ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass EG-Normsetzungsakte nicht nur insoweit vom Prinzip demokratischer Gleichheit abweichen, als sie vom dezentrierten Unions-demos her legitimiert werden. Hinzu kommt, dass EG-Normsetzungsakte  – vor allem wegen der Abgeordnetenkontingente nach Art.  190 Abs. 2 EGV – auch insofern mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit kollidieren, als sie unmittelbar oder mittelbar über das Europäische Parlament an den zentrierten Unionsvolkswillen rückgebunden sind582. Dies ist sowohl da der Fall, wo das Europäische Parlament über die EG-Normsetzung unmittelbar mitentscheidet, als auch dort, wo die vom Europäischen Parlament mit bestellte Kommission wegen ihres Initiativmonopols oder aufgrund ihrer Kompetenz zum Erlass des Durchführungsrechts EG-Normsetzungsprozesse teilweise oder ganz beherrscht. Die in dieser Perspektive zu konstatierenden Abweichungen vom Gleichheitsprinzip583 bleiben zwar hinter denjenigen zurück, die dem Grundgesetz zufolge für innerstaatlich wirksame EG-Normsetzungsakte prägend sind, die dem Vorbehalt bundesrätlicher Zustimmung unterfallen. Schließlich schwankt innerhalb des Europäischen Parlaments das Verhältnis von Parlamentssitz pro Einwohnerzahl ‚nur‘ zwischen rund 1:830.000 (für die Bundesrepublik Deutschland) und 1:77.000 (für das Großherzogtum Luxemburg)584; die Chance eines Luxemburgers, über das Europäische Parlament den EG-Normsetzungsprozess zu beeinflussen, ist demnach ‚lediglich‘ zirka 11 mal so groß wie die entsprechende Einflusschance eines deutschen Wahlbürgers585. Allerdings darf dieser Befund zu keinem Fehlschluss verleiten. Zu erinnern ist vielmehr, dass die Abweichungen vom Prinzip demokratischer Gleichheit, die für das grundgesetzliche Normalmaß allenfalls – nämlich im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung – charakteristisch sind, weder qualitativ noch quantitativ über das Maß an relativer Ungleichheit hinausgehen, das für EG-Normsetzungsakte insoweit prägend ist, als sie an den dezentrierten Unions-demos rückgebunden sind. Für die Frage nach der für die EG-Normsetzung zu konstatierenden Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß bedeuvölker zurückführenden Legitimationszusammenhänge – durch das uneinheitliche Wahlsystem hervorgerufen werden, größer ausfallen, als dies im Bereich des Vorbehalts bundesrätlicher Zustimmung als grundgesetzlich noch normal anzusehen ist. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass es den Ländern verfassungsrechtlich unbenommen wäre, bei Landtagswahlen statt des Verhältnis- das Mehrheitswahlsystem einzuführen (Nierhaus, in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art.  28 Rn.  19). Dass alle Länder das Verhältniswahlrecht anwenden, ist daher, ver­ fassungsrechtlich gesehen, ein Zufall und insofern nicht konstitutiv für das grundgesetz­liche Normalmaß, an dem sich EG-Normsetzungsakte im Ausgangspunkt messen lassen müssen. 582 Vgl. etwa Marschall (Fn. 515), S. 103 ff. 583 Dazu auch Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, 2005, S. 473 (495). 584 Vgl. auch Strohmeier, Die EU zwischen Legitimität und Effektivität, in: APuZ 2007, 10, S. 24 (30). 585 Zu diesem in der Literatur immer wieder hervorgehobenen Unverhältnis vgl. auch Nohlen (Fn. 549), S. 32 sowie v. Arnim, Wohin treibt Europa?, in: NJW 2007, S. 2531 (2533).

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tet dies, dass die durch den bundesrätlichen Zustimmungsvorbehalt induzierten Gleichheitswidrigkeiten schon beim Abgleich mit den auf den dezentrierten ­Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhängen gleichsam verbraucht worden sind und daher nicht noch einmal beim Abgleich mit den vom zentrierten Unionsvolk ausgehenden Legitimationszusammenhängen in Anschlag gebracht werden dürfen. Hieraus folgt, dass die Gleichheitswidrigkeiten, die im Rahmen der auf den zentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge zu konstatieren sind, vollumfänglich als rechtfertigungsbedürftige Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß zu werten sind. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass zu den durch die Abgeordnetenkontingente bedingten und insoweit als zentral anzusehenden Abweichungen vom Gleichheitsprinzip noch diejenigen hinzutreten, die durch das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts hervorgerufen werden586.

bb) Rechtfertigung der Gleichheitseinbußen Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass sämtliche EG-Normsetzungsakte das aus grundgesetzlicher Sicht normale Maß demokratischer Gleichheit in durchweg erheblichem Maße unterschreiten587. Sie erweisen sich insofern als ausnahmslos rechtfertigungsbedürftig.

(1) Gleichheitseinbußen im Bereich der auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staatsvölker zurückführenden Legitimationszusammenhänge Soweit die Abweichungen vom grundgesetzlich ausgeformten Prinzip demokratischer Gleichheit im Bereich derjenigen Legitimationszusammenhänge zu verzeichnen sind, die auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Staatsvölker zurückführen, lassen sie sich unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen588. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Die fraglichen Gleichheitseinbußen sind erstens und vor allem darauf zurückzuführen, dass die Abstimmungsprocedere im Rat beziehungsweise in den Ausschüssen der Staatenvertreter den kleinen Staaten ein Stimmgewicht einräumen, das in Ansehung ihrer jeweiligen Bevölkerungszahl als – mehr oder minder – überproportional anzusehen ist589. Mit diesem institutionell-prozeduralen Arrangement wird sicher­gestellt, 586

Dazu oben Kapitel 13 IV. 1. b) bb) = S. 1178. Lübbe-Wolff (Fn.  245), S.  248 f. erblickt darin  – neben der zentralen Stellung des Rats im überdies intransparenten Rechtsetzungsverfahren und der schwachen Stellung des Euro­ päischen Parlaments – den Kern des EG-spezifischen Demokratiedefizits. 588 Wohl anderer Ansicht Grözinger (Fn. 515), S. 211 (213). 589 Dazu nuanciert Nohlen (Fn. 549), S. 31 f. 587

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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dass die Belange und Interessen der kleinen Staaten neben denen der großen Staaten noch Berücksichtigung finden und die europäische Integration infolgedessen speziell für die kleinen Mitgliedstaaten akzeptabel bleibt. Mit dieser Privilegierung der kleinen Mitgliedstaaten, die ihrerseits für die hier fokussierten Gleichheitseinbußen ursächlich ist, wird demnach der Zweck verfolgt, das föderative Gemeinwesen zu stabilisieren590. In Hinblick auf diesen bundesstaatlichen Zweck erweist sich die Besserstellung der kleinen Staaten im Abstimmungsverfahren des Rats und der Ausschüsse der Staatenvertreter nicht nur als geeignet, sondern auch als erforderlich. Denn jede den Gleichheitsaspekt stärker berücksichtigende Ausgestaltung der Abstimmungsverfahren wäre angetan, auf Seiten der kleinen Staaten die Akzeptanz der EUHoheitstätigkeit zu gefährden. Es ist des Weiteren auch nicht ersichtlich, dass das um dieser Abstimmungsverfahren willen in Kauf genommene Gleichheitsdefizit als demokratisch unangemessen zu qualifizieren wäre. Vielmehr ist schon dargetan worden, dass das an sich strikt formale Verständnis demokratischer Gleichheit dann relativiert werden kann und gegebenenfalls sogar relativiert werden muss, wenn in einem Gemeinwesen strukturell verfestigte Minderheiten existieren591. Eine solche Konstellation ist im Rahmen der EU in Hinblick auf die Angehörigen der kleinen Staaten gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass auch die kleinen europäischen Staaten eine vielfach lange und zugleich je eigene nationale Geschichte haben, stellen sich ihre Angehörigen als strukturell verfestigte Minderheit dar. Diese muss gegen eine Dominanz der großen Staaten und ihrer Angehörigen ein Stück weit protegiert werden. Durch die besonderen Abstimmungsverfahren, die die Voten der kleinen Staaten, relativ gesehen, stärker gewichten als die der großen Staaten, wird tendenziell das demokratische Credo592 befolgt, wonach Mehrheitsherrschaft nur als Herrschaft auf Zeit legitim ist, die Minderheit die reelle Chance haben muss, auch einmal zur Mehrheit zu werden. Die mit den besonderen Abstimmungsverfahren verbundene stärkere Betonung des Gesichtspunkts materieller Gleichheit bedeutet nun freilich nicht, dass der gegenläufige Gesichtspunkt der formalen Gleichheit deshalb über Gebühr verkürzt wäre. So ist zu berücksichtigen, dass sich der Abstimmungsmodus in den meisten Fällen nach Art. 205 Abs. 2 EGV bestimmt: Für die normsetzerischen Entscheidungen des Rats ist dies immerhin die Regel593; soweit die Ausschüsse der Staa 590

In diese Richtung auch Klein, Die Europäische Union und ihr demokratisches Defizit, in: Goydke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Remmers, 1995, S. 195 (205) sowie Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 497. Ablehnend Lenz (Fn. 515), S. 228 ff. 591 Dazu allgemein oben Kapitel 6 III. 1. a) = S. 328. 592 Zu diesem etwa Hesse, Rundfunk zwischen demokratischer Willensbildung und dem Zugriff der EG, in: JZ 1993, S. 545 (548) oder Rittstieg, Staatsangehörigkeit und Minderheiten in der transnationalen Industriegesellschaft, in: NJW 1991, S.1383 (1386). 593 Wichard, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 205 Rn. 3.

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tenvertreter über den Erlass von EG-Normsetzungsakten mitentscheiden, findet das in Art. 205 Abs. 2 EGV geregelte Abstimmungsprocedere sogar ausnahmslos Anwendung594. Dieser Abstimmungsmodus freilich sieht eine ponderierte Stimmgewichtung, eine Stimmenspreizung vor, mit der der unterschiedlichen Bevölkerungsgröße der einzelnen Mitgliedstaaten immerhin ansatzweise Rechnung getragen wird595. Er verwirklicht insofern par excellence die verfassungsrechtlich gebotene praktische Konkordanz zwischen den widerstreitenden Gesichtspunkten formaler und materialer Wahlrechtsgleichheit. Für die vergleichsweise geringe Zahl von Fällen, in denen der Rat mit absoluter Mehrheit oder einstimmig über EG-Normsetzungsakte entscheidet und die Gleichheitseinbuße insofern besonders massiv ausfällt, ist zu berücksichtigen, dass sich die Mitgliedstaaten Entscheidungen nach diesen Abstimmungsmodi primärrechtlich speziell in Hinblick auf solche Angelegenheiten vorbehalten haben, bei denen die Interessen und Belange der einzelnen Mitgliedstaaten besonders stark berührt sind596. Dementsprechend kommt hier dem Gesichtspunkt zusätzliches Gewicht zu, dass die Interessen und Belange der kleinen Staaten in spezifischer Weise geschützt sein müssen, um die Akzeptanz und damit die föderative Integrität der Union zu bewahren. Und vor diesem Hintergrund können letztlich auch diese bundesstaatlich zweckmäßigen Abweichungen vom Prinzip formaler Wahlrechtsgleichheit als demokratisch noch angemessen qualifiziert werden, zumal sie, wie gesagt, innerhalb der EG-Normsetzungsrealität längst nicht die Regel darstellen. Vergleichsweise problemlos können des Weiteren diejenigen Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt werden, die im Rahmen der auf die mitgliedstaatlichen Völker zurückführenden Legitimationszusammenhänge dadurch bedingt sind, dass es an einem einheitlichen Wahlsystem fehlt. Es lassen sich hierfür gleich zwei bundesstaatliche Rechtfertigungszwecke ins Feld führen. So bräche man ersichtlich zu tief in die mitgliedstaatliche Verfassungsautonomie ein, verlangte man, dass die nationalen Vertreter im Rat unmittelbar oder mittelbar aus einem nach einheitlichem Muster gestalteten Volkswahlverfahren hervorgehen müssen597. Die Uneinheitlichkeit der nationalen Wahlverfahren und die damit verbundenen Gleichheitseinbußen sind daher ohne Weiteres dadurch gerechtfertigt, dass diese Verfahrensrealität dem elementaren Belang und zentralen Interesse der Mitgliedstaaten Rechnung trägt, sich 594

Vgl. Art. 5 Abs. 2 Satz 3 und Art. 5a Abs. 2 Satz 3 Komitologiebeschluss (Fn. 150). Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 54. 596 Hummer / Obwexer (Fn. 574), Rn. 22: „politisch oder wirtschaftlich sensible Bereiche“. 597 In diesem Zusammenhang sei auch an die grundgesetzliche Regelungssituation erinnert: Ungeachtet des Homogenitätsgebots des Art. 28 Abs. 1 GG bleibt es den Ländern etwa unbenommen, ihre Volksvertretungen nach dem Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht zu wählen, sind sie also grundsätzlich frei darin, für welches Wahlsystem sie sich entscheiden – so die ganz überwiegende Meinung, siehe nur Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein (Begr.), Grund­ gesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 28 Rn. 22. 595

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trotz Europäisierung die eigene nationalstaatliche Verfassungsidentität zu bewahren598. Würde diese gefährdet, so dürfte der europäische Integrationsprozess überdies aller Voraussicht nach in eine tiefe Akzeptanzkrise geraten599. In dieser Perspektive sieht sich die in Rede stehende und ohnedies vergleichsweise geringe Gleichheitseinbuße bundesstaatlich nicht nur dadurch gerechtfertigt, dass die Interessen und Belange der Gliedstaaten hinreichend berücksichtigt werden müssen. Hinzu kommt, dass durch den Verzicht, die nationalen Wahlverfahren zu vereinheitlichen, aufgrund derer die nationalen Vertreter im Rat in ihr Amt gelangen, die föderative Integrität der Union gewahrt wird.

(2) Gleichheitseinbußen im Bereich der auf das zentrierte Unionsvolk zurückführenden Legitimationszusammenhänge Betrachtet man in einem weiteren Schritt die Abweichungen vom grundgesetzlich ausgeformten Gleichheitsprinzip, die im Rahmen der auf den zentrierten ­Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge registriert wurden, so ist zunächst festzuhalten, dass der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm insofern kein Rechtfertigungspotenzial zukommt. Denn nunmehr stehen die über das Europäische Parlament vermittelten Legitimationsströme in Rede. Das Europäische Parlament aber ist aus den dargelegten Gründen und trotz seiner den einzelnen Mitgliedstaaten vorbehaltenen Abgeordnetenkontingente nicht als föderales Organ zu qualifizieren600. Wenn daher gleich in zweifacher Weise vom Prinzip demokratischer Wahlrechtsgleichheit abgewichen wird, nämlich dadurch, dass erstens die in den kleinen Staaten gewählten Europaabgeordneten eine geringere Zahl von Unionsbürgern repräsentieren als die in den großen Staaten gewählten und zweitens ein einheitliches Europawahlsystem nach wie vor aussteht601, so lässt sich dies – anders als die entsprechenden Gleichheitsdefizite im Kontext des Rates und der Ausschüsse der Staatenvertreter – nicht schon in Hinblick auf die andernfalls gefährdete föderative Integrität oder einen sonstigen bundesstaatlichen Zweck rechtfertigen602. Denn um föderale Zwecksetzungen kann es wegen der

598

Diese wird durch Art. 6 Abs. 2 EUV verbürgt – siehe Pechstein (Fn. 486), Rn. 27. Zur Notwendigkeit der Achtung nationaler Identität siehe auch Beutler, in: v. d. Groeben /  Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 6 EUV Rn. 196 f. 600 Anderer Ansicht freilich Preuß, Transformation des europäischen Nationalstaates  – Chance für die Herausbildung einer Europäischen Öffentlichkeit, in: Franzius / ders. (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, 2004, S. 44 (50): „Das Europäische Parlament bildet (…) so etwas wie eine europäische Föderativkammer.“ 601 Siehe oben Kapitel 13 IV. 2. a) aa) = S. 1184. 602 So aber Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (369) und Magiera, Das Europäische Parlament als Garant demokratischer Legitimation in der Europäischen Union, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 789 (797). 599

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national heterogenen Zusammensetzung der den einzelnen Mitgliedstaaten zu­ stehenden Abgeordnetenkontingente stricto senso gar nicht gehen. In Hinblick auf die erheblichen Gleichheitseinbußen, die durch die mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente bedingt sind, kommt jedoch der Strukturnorm der Volkssouveränität rechtfertigendes Potenzial zu. Diese ist nämlich – nur scheinbar paradoxer Weise – angetan, Demokratiedefizite demokratisch zu rechtfertigen, sofern sie institutionell-prozeduralen Arrangements zurechenbar sind, die dem Minderheitenschutz dienen. Nun ist zu beachten, dass sich die Unionsbürger, die in einem kleinen Mitgliedstaat ansässig sind, gegenüber denjenigen, die in einem bevölkerungsreichen Mitgliedstaat leben, als strukturelle Minderheit darstellen. Denn das, was sie als zahlenmäßige Minderheit ausmacht, nämlich die in der Regel biographische, historisch-politische, sozio-ökonomische, kulturelle, nicht zuletzt sprachliche Verwurzelung in dem betreffenden und im Vergleich eben kleinen Mitgliedstaat, lässt sich von ihnen kaum beeinflussen und verändern, ist also struktureller Natur. Solche strukturellen Minderheiten aber müssen in der Demokratie in die Lage versetzt werden, sich politisch mit Aussicht auf Erfolg und das heißt mit der Perspektive effektiver Machtteilhabe zu aktivieren603. Um dies zu erreichen, kann es als zweckmäßig angesehen werden, den Minderheiten einen im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung überproportionalen Anteil an den im Gemeinwesen zu vergebenden öffentlichen Ämtern vorzubehalten604. Das insofern zum Minderheitenschutz geeignete und – mangels gegenteiliger Anhaltspunkte  – zugleich erforderliche institutionell-prozedurale Arrangement der mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente erweist sich  – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Integration – auch als demokratisch angemessen605. Dies zeigt sich, wenn man die mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente und die dadurch bedingten Gleichheitseinbußen aus zwei Blickrichtungen her be­ trachtet. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass die Bevölkerungen der kleinen Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als strukturelle Minderheiten zumindest zum jetzigen Integrationszeitpunkt sehr viel schutzbedürftiger gegenüber den Bevölkerungen der großen Mitgliedstaaten sind, als dies innerhalb der Mitgliedstaaten im Verhältnis zwischen den Angehörigen kleiner Bundesländer beziehungsweise kleiner Regionen und den übrigen Einwohnern des jeweiligen nationalen Mitgliedstaats der Fall ist. Denn ihre, wie gesagt, im Regelfall biographisch, historisch-politisch, kulturell und nicht zuletzt sprachlich bedingte Minderheitenposition ist strukturell 603

Dazu auch oben Kapitel 6 III. 1. b) bb) = S. 334. Kritisch diesem Ansatz gegenüber allerdings Lenz (Fn. 515), S. 234 ff. 605 So auch Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, in: Verw. 1993, S.  449 (482); ferner Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (241) und Bryde, Demokratisches Europa und Europäische Demokratie, in: Gaitanides / Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 131 (133 f.). 604

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sehr viel verfestigter als dort, wo der Nationalstaat das Trennende zwischen seinen verschiedenen regionalen Bevölkerungsgruppen bereits weithin aufgebrochen und nivelliert hat. Zum anderen ist zu bedenken, dass die Abweichungen vom Prinzip der formalen Wahlrechtsgleichheit, die auf die mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente zurückzuführen sind, relativ beschränkt sind. So wurde bereits dargelegt, dass die Gleichheitseinbußen jedenfalls geringer sind, als sie nationalverfassungsrechtlich im Bereich der zweiten Kammer eines Parlaments demokratisch hinnehmbar erscheinen606. Zu erinnern ist auch, dass sich die Mitgliedstaaten bereits zu einer Korrektur der Abgeordnetenkontingente veranlasst sahen, als sich im Kontext der Wiedervereinigung die Abweichung vom Prinzip formaler Wahlrechtsgleichheit zu Lasten der in Deutschland beheimateten Unionsbürger deutlich zu verschärfen drohte607. Vor diesem doppelten Hintergrund bestätigt sich, dass die Gleichheitseinbußen, die den nationalen Abgeordnetenkontingenten zuzuschreiben sind, noch als demokratisch angemessen qualifiziert werden können608. Nimmt man schließlich noch die Gleichheitseinbußen in den Blick, die durch das uneinheitliche Wahlsystem bedingt sind, so ist zunächst festzustellen, dass der Rechtfertigungszweck des Minderheitenschutzes hier nicht greift. Denn das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts lässt sich nicht als durch den Minderheitenschutz bedingt begründen. Rechtfertigende Wirkung vermag stattdessen allein das Staatsziel der europäischen Einigung zu entfalten. Denn das Fehlen eines einheitlichen Wahlsystems beziehungsweise das Scheitern der bisherigen Bemühungen, ein solches zu etablieren, hängt mit den divergierenden Wahlrechtstraditionen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zusammen609. Insofern lässt es sich denn auch als strukturelle Besonderheit eines sich geschichtlich entwickelnden überstaat­lichen Hoheitsverbands rechtfertigen, wenn es infolge der nach wie vor von­einander abweichenden mitgliedstaatlichen Europawahlsysteme zu Demokratiedefiziten kommt610. Dem widerstreitet nicht, dass das rechtfertigende Potenzial im Schwinden begriffen ist, das dem Staatsziel der europäischen Einigung insofern zukommt, als es Demokratieeinbußen verfassungsrechtlich sanktioniert, die durch die historisch besondere Struktur der EU bedingt sind. Denn die an dieser Stelle in Rede ste 606

Siehe oben Kapitel 13 IV. 2. a) = S. 1184. Vgl. Haag / Bieber, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 190 Rn. 19. 608 Mit anderer Begründung, aber im Ergebnis gleich Spieß (Fn.  549), S.  128 ff., Schmitz (Fn. 590), S. 497 sowie Tiedtke (Fn. 549), S. 119 ff. Anderer Ansicht zum Beispiel Schachtschneider (Fn. 583), S. 495 f. und wohl auch Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: ZfP 1998, S. 267 (269). 609 Nohlen (Fn. 549), S. 36. 610 Im Ergebnis ebenso Tiedtke (Fn. 549), S. 125. 607

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

hende Gleichheitseinbuße ist, seitdem das Verhältniswahlrecht allen Mitgliedstaaten für die Durchführung der Europawahlen verbindlich vorgegeben ist und etwaige Sperrklauseln nicht mehr als 5 % betragen dürfen611, nur noch relativ gering. Infolgedessen vermag das Staatsziel der europäischen Einigung die durch das Fehlen eines einheitlichen Wahlsystems generierten Gleichheitsdefizite selbst dort zu legitimieren, wo – wie im Bereich der potenziell marktinterventionistischen EGNormsetzungsakte  – dem Gesichtspunkt der strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands nur noch ein schwacher Rechtfertigungs­ gehalt zuerkannt werden kann612.

cc) Rechtfertigung unter Vorbehalt Länger als mittelfristig wird die an das Staatsziel der europäischen Einigung anknüpfende Rechtfertigung allerdings nicht tragen können. Die Schaffung eines einheitlichen Wahlsystems erweist sich daher aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts als eine besonders dringliche Forderung613. Unter Vorbehalt steht freilich nicht nur die Rechtfertigung derjenigen Gleichheitseinbußen, für die das Fehlen eines einheitlichen Wahlsystems kausal ist. Auch soweit Abweichungen vom Prinzip formaler Wahlrechtsgleichheit vor­ stehend minderheitenschützerisch unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaats- oder aber die Volkssouveränitätsnorm gerechtfertigt worden sind, kann die rechtfertigende Wirkung à la longue entfallen614: Im Zuge des weiteren Integrationsprozesses nivellieren sich die im weitesten Sinne kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Dies wird zur Konsequenz haben, dass die kleinen Mitgliedstaaten beziehungsweise die in den kleinen Mitgliedstaaten wohnhaften Unionsbürger ihre Stellung als strukturelle Minderheit sukzessive einbüßen und infolgedessen auch die an diese Qualifizierung anschließenden Rechtfertigungsdiskurse zunehmend an Überzeugungskraft verlieren werden.

611 Vgl. Art. 1 Abs. 2 und Art. 2A Satz 2 des Beschlusses und Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20.09.1976 (BGBl. 1977 II S. 733/734), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 25.06.2002 und 23.09.2002 (BGBl. 2003 II S. 810; 2004 II S. 520) (= Direktwahlakt). 612 In diese Richtung offensiv Nohlen (Fn. 549), S. 36 f. 613 So wohl auch Epiney u. a. (Fn. 146), S. 162 f. 614 Vgl. hierzu auch Hofmann, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S.  161 (194), der für die Bundesrepublik Deutschland darauf hinweist, dass nach dem dort „erreichten ‚Unitarisierungs‘-Grad (…) Eigen­staatlichkeit und kommunale Selbstverwaltung, die an sich ebenfalls dem im weitesten Sinne ethnischen Minderheitenschutz gewidmet sein können, unter diesem Aspekt nicht mehr angemessen zu begreifen sind.“

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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b) Staatsorganisatorisches Publizitätsgebot Beim Abgleich des für EG-Normsetzungsakte charakteristischen Umfangs staatsorganisatorischer Publizität mit dem insoweit grundgesetzlich vorgegebenen Normalmaß muss einmal mehr die doppelte Differenzierung zwischen wesensmäßig marktkonstituierenden und potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakten sowie zwischen vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfassten und davon ausgenommenen EG-Normsetzungsakten vorgenommen werden.

aa) Die bei den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte müssen sich nach dem hier entwickelten dogmatischen Ansatz an dem Niveau staatsorganisatorischer Publizität messen lassen, das für die nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich rezipierten Normsetzungsakte völkerrechtsvertraglicher Provenienz prägend ist. Für den Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ist damit gefordert, dass immerhin die definitive Inkraftsetzungsentscheidung in – perfekter – Verfahrensöffentlichkeit erwächst und daneben eine wenigstens hälftig perfekte, ansonsten mindestens semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit Platz greift. Jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts reicht bloße Ergebnisöffentlichkeit aus, wobei diese ebenfalls zumindest zur Hälfte perfekt und im Übrigen wenigstens semiperfekt zu sein hat615. Von den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten wird dieses grundgesetzliche Normalmaß typischerweise nur in den Konstellationen unterschritten, in denen sie diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts in einem im Wesentlichen allein vom Rat beherrschten Recht­setzungsverfahren ergehen oder jenseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung von der Kommission im Regelungsverfahren als Durchführungsrecht erlassen werden. Diese Demokratiedefizite sind in Hinblick auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm (noch) rechtfertigbar. In den übrigen, im Vergleich sehr viel häufigeren Rechtsetzungskonstellationen wird das grundgesetzlich vorgegebene Normalmaß zumindest gewahrt, vielfach sogar (deutlich) übertroffen. Um dies im Einzelnen zu begründen, kann im Ausgangspunkt auf die Überlegungen zurückgegriffen werden, die zu diesem Punkt für das Modell mittelbarer Legitimation angestellt worden sind616. Denn was dort zu den Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß entwickelt wurde, gilt, wie an früherer Stelle näher 615

Siehe oben Kapitel 10 III. 2. e) = S. 825. Dazu oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) = S. 980.

616

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

begründet617, entsprechend für die Legitimationszusammenhänge, die nach dem Modell der doppelten Legitimationsbasis auf den dezentrierten Unions-demos zurückführen. Folglich muss im Folgenden lediglich analysiert werden, wie das für wesensmäßig marktkonstituierende EG-Normsetzungsakte kennzeichnende Maß staatsorganisatorischer Publizität und mithin auch ihr Verhältnis zum grundgesetzlichen Normalmaß zusätzlich dadurch beeinflusst werden, dass im Rahmen der auf den zentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge demokratische Öffentlichkeit generiert wird. Wendet man sich zunächst dem Mitentscheidungsverfahren zu, so ist zu konstatieren, dass die in diesem Rechtsetzungsverfahren ergangenen wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß deutlich überschreiten, das sich aus Art. 59 Abs. 2 GG für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts erschließt. Ein legitimatorisches Plus ergibt sich nämlich bereits nach dem Modell mittelbarer Legitimation und damit auch hinsichtlich der auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhänge618. In Hinblick auf den vom zentrierten Unionsvolk herrührenden Legitimationsstrang ist nun zusätzlich zu berücksichtigen, dass insoweit – dem grundgesetzlichen Normalmaß entsprechend  – perfekte Verfahrensöffentlichkeit Platz greift619. Dies geschieht indes in einem deutlich größeren Maß, als es nach Art. 59 Abs. 2 GG gefordert ist. Hinzu tritt, dass sich im Rahmen des auf den zentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhangs perfekte Ergebnisöffentlichkeit in einem dem grundgesetzlichen Normalmaß stark angenäherten Umfang Bahn bricht620. Damit ergibt sich als Gesamtbild, dass EG-Normsetzungsakte das aus Art. 59 Abs. 2 GG für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts vorgezeichnete Normalmaß in Ansehung der legitimatorisch bedeutsameren Verfahrensöffentlichkeit ganz erheblich übertreffen, in Hinblick auf die nach­ rangige Ergebnisöffentlichkeit geringfügig unterschreiten. Soweit dem Europäischen Parlament in den übrigen Normsetzungsverfahren keine Mitentscheidungsmacht zukommt621 und allein die Kommission die vom zentrierten Unionsvolk herrührende Legitimation vermittelt, ergeben sich der Sache nach dieselben Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, wie sie auch schon im Modell mittelbarer Legitimation diagnostiziert worden sind. Denn dort ist der Sache nach bereits berücksichtigt worden, inwieweit sich in Zusammenhang mit den Mitentscheidungsbeiträgen der Kommission demokra­ 617

Oben Kapitel 13 IV. 1. b) bb) = S. 1178. Oben Kapitel 11 IV. 2. b) aa) = S. 980. 619 Oben Kapitel 13 IV. 1. b) cc) = S. 1181. 620 Dass das grundgesetzliche Normalmaß nicht ganz erreicht wird, hängt mit der – eingeschränkten – Mitentscheidungsmacht der Kommission zusammen. Denn insofern ist die Ergebnisöffentlichkeit eine lediglich semiperfekte – siehe oben Kapitel 13 IV. 1. b) cc) = S. 1181. 621 Zu erinnern ist, dass zumindest diesseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte weder im Zustimmungs- noch im Zusammenarbeitsverfahren erlassen werden. 618

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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tische Öffentlichkeit Bahn bricht622. Daher ist von Folgendem auszugehen: Soweit Normsetzungsakte, die dem absoluten Vorbehalt parlamentarischer Normierung subsumierbar sind, außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens ergehen, wahren sie das grundgesetzliche Normalmaß in puncto Verfahrens-, nicht aber das hinsichtlich der Ergebnisöffentlichkeit vorgegebene grundgesetzliche Normalmaß623. Wesensmäßig marktkonstituierende Normsetzungsakte, die außerhalb des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung ergehen, verfehlen das grundgesetzlich normale Maß an demokratischer Öffentlichkeit dann, wenn es sich um Durchführungsrecht der Kommission handelt, das im Regelungsverfahren in Geltung gesetzt wird624. Damit ist auch bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis davon auszugehen, dass die wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakte das durch Art. 59 GG determinierte Normalmaß staatsorganisatorischer Publizität dort verfehlen, wo sie im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung in einem anderen Verfahren als dem der Mitentscheidung ergehen oder außerhalb des absoluten Parlamentsvorbehalts von der Kommission nach Maßgabe des Regelungsverfahrens als Durchführungsrecht erlassen werden. Diese Legitimationsdefizite lassen sich relativ unaufwendig rechtfertigen, zumal sie quantitativ beschränkt bleiben und qualitativ nur die relativ weniger bedeutsame Ergebnisöffentlichkeit betreffen. Dabei braucht im Rahmen des Modells doppelter Legitimationsbasis nicht auf die zumindest auf der Zeitachse prekären625 Rechtfertigungstopoi zurückgegriffen werden, die auf die Ermöglichung eines anerkanntermaßen nur transnational sinnvollen volksherrschaftlichen Zugriffs beziehungsweise auf die strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands abstellen. Stattdessen kommt das Rechtfertigungspotenzial der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm zum Tragen: Zwar lassen sich die skizzierten Einbußen an statischer Öffentlichkeit weder mit der bundesstaatlich gebotenen stärkeren Berücksichtigung spezifisch mitgliedstaatlicher Interessen und Belange noch mit der bundesstaatlich gleichfalls angezeigten Stabilisierung des föderativen Gesamtgefüges in Zusammenhang bringen. Jedoch können besagte Demokratiedefizite als Ausfluss eines institutionell-prozeduralen Arrangements gewertet werden, das unter größtmöglicher Schonung des föderalen Systemgedankens den in einem föderativen Gemeinwesen deutlich erhöhten Koordinationsbedarf effektiv zu bewältigen sucht626. Wenn es abweichend vom grundgesetzlichen Normalmaß im Anhörungsverfahren sowie den übrigen im Wesentlichen vom Rat beherrschten Rechtsetzungsverfahren an perfekter Ergebnisöffentlichkeit fehlt, so hängt dies damit zusam 622

Oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (3) = S. 988 und Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (4) = S. 990. Siehe oben Kapitel 11 IV. 2. b) aa) = S. 980. 624 Ebd. 625 Dazu oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059. 626 Zu diesem Rechtfertigungsansatz allgemein oben Kapitel 10 III. 5. c) dd) = S. 858.

623

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

men, dass hier das Mehrheitsprinzip gilt und sich infolgedessen allein aufgrund der Veröffentlichung im Amtsblatt die demokratische Verantwortlichkeit der einzelnen Staatenvertreter für den erlassenen Normsetzungsakt nicht rekonstruieren lässt. Das Mehrheitsprinzip indes ist nicht nur geeignet, sondern zugleich erforderlich, um das Anhörungsverfahren sowie die Übrigen im Wesentlichen vom Rat beherrschten Rechtsetzungsverfahren, die in besonderem Maße dem föderalen Systemgedanken Rechnung tragen627, funktionstauglich zu halten628. Soweit im Regelungsverfahren von der Kommission erlassenes Durchführungsrecht zur Hälfte von einer allenfalls rudimentären semi- beziehungsweise imperfekten Ergebnisöffentlichkeit geprägt ist, rührt dies von daher, dass das Abstimmungsverhalten der Staatenvertreter an sich nicht offengelegt werden beziehungsweise  – soweit das Durchführungsrecht entgegen dem Votum des Ausschusses der Staatenvertreter ergeht629 – das genaue Meinungsbild innerhalb des stillschweigend duldenden Rats prinzipiell nicht veröffentlich werden soll. Nun lässt es sich umstandslos dem föderativen Systemgedanken zuordnen, wenn im Regelungsverfahren der Erlass von Durchführungsrecht durch die Kommission an das explizite respektive konkludente Plazet eines Komitologie-Ausschusses beziehungsweise des Rats selbst rückgebunden wird. Dass die Ausschüsse der Staatenvertreter vertraulich beraten und insbesondere auch die Haltung der einzelnen Mitgliedstaaten zu den jeweiligen Beratungspunkten geheim bleiben soll, hat seinerseits den Zweck, eine möglichst unbefangene, offene und sachorientierte Debatte zu ermöglichen, um dadurch wiederum eine möglichst effektive Koordinierung der nationalen Interessen zu ermöglichen. Die Rückkoppelung des Durchführungsrechts an eine bloße Duldung des Rats lässt sich ihrerseits als Ausdruck des Bemühens werten, die Gefahr einer gesetzgeberischen Blockade630, dem das Regelungsverfahren aufgrund seiner betont föderativen Ausgestaltung ausgesetzt ist, weiter zu minimieren. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das im Regelungsverfahren zu diagnostizierende Defizit an statischer Öffentlichkeit einem institutionell-prozeduralen Arrangement geschuldet ist, das geeignet und erforderlich ist, um den in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarf unter größtmöglicher Schonung des föderativen Systemgedankens effektiv zu bewältigen. Als demokratisch angemessen erscheinen die geschilderten Einbußen an demokratischer Ergebnisöffentlichkeit aus folgendem Grund: Bei den politisch bedeutsameren und mithin auch demokratietheoretisch gewichtigeren EG-Normsetzungsakten – nämlich bei denen, die dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallen und mithin typischerweise im Anhörungsverfahren ergehen – betrifft die Demokratie 627 Zum Rat als föderalem Organ etwa Schweitzer in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 3, Stand: Oktober 2007, Art. 203 EGV Rn. 1. 628 Dazu auch BVerfGE 89, 155 (183). 629 Zu dieser Möglichkeit vgl. Art. 5 Abs. 6 UAbs. 3 und Art. 5a Abs. 4 Buchst. d) Satz 2 Komitologiebeschluss (Fn. 150). 630 Vgl. Wichard (Fn. 164) Rn. 17.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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einbuße nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Ergebnisöffentlichkeit. Damit hält sich das Demokratiedefizit in eng bemessenen Grenzen. Soweit bei im Regelungsverfahren erlassenen Durchführungsrecht auch das „Ob“ der Ergebnisöffentlichkeit betroffen ist, bleibt zu berücksichtigen, dass sich die demokratische Öffentlichkeit nur sozusagen hälftig als defizitär erweist. Im Hinblick auf das eigentliche Rechtsetzungsorgan, die Kommission, ist nämlich statische Öffentlichkeit, zudem perfekte, ohne Weiteres gewährleistet.

bb) Die bei den potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten realisierte staatsorganisatorische Publizität im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Um diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts das für sie aus dem Grundgesetz herleitbare Normalmaß zu erreichen, müssten potenziell marktinterven­ tionistische Normsetzungsakte umfänglich in perfekter Verfahrens- und zumindest hälftig in perfekter Ergebnisöffentlichkeit erwachsen. Dieses Legitimationsniveau erreichen aber nicht einmal die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen, geschweige denn die in den übrigen Rechtsetzungsverfahren ergangenen EG-Normsetzungsakte. Für die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, die einen im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakt insoweit prägen, als er an den dezentrierten Unions-demos rückgebunden ist, kann der Sache nach auf die Ausführungen verwiesen werden, die hierzu im Modell mittelbarer Legitimation angestellt worden sind631. Hinsichtlich des auf das zentrierte Unionsvolk zurückführenden Legitimationsstrangs ist zu bemerken, dass insoweit das grund­ gesetzliche Normalmaß nahezu erreicht wird. Schließlich bricht sich im Rahmen der Mitherrschaft des Europäischen Parlaments sowohl perfekte Verfahrens- als auch perfekte Ergebnisöffentlichkeit Bahn632. Wenn dennoch auch in diesem Legitimationszusammenhang nicht vollends zum grundgesetzlichen Normalmaß aufgeschlossen wird, so ist dies darauf zurückzuführen, dass die vom zentrierten Unions-demos generierte Legitimation außer vom Europäischen Parlament zudem, wenngleich nur zu einem geringen Teil, von der Kommission vermittelt wird und insofern weder eine perfekte Verfahrens- noch eine perfekte Ergebnisöffentlichkeit Platz greift633. Bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten, die ausnahmsweise im Zustimmungsverfahren ergehen, ist zu berücksichtigen, dass hier im 631

Dazu oben Kapitel 11 IV. 2. b) bb) = S. 1003. Vgl. Art.  96 Abs.  2 und 3 GeschOEP und Art.  254  EGV sowie oben Kapitel 13 IV. 1. b) cc) = S. 1181. 633 Ebd. 632

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Rahmen des auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitima­ tionszusammenhangs ein tendenziell geringeres Maß an Verfahrensöffentlichkeit realisiert wird als bei den im Mitentscheidungsverfahren erlassenen EG-Normsetzungsakten. Denn insofern greift statt des Absatzes 1 des Art. 8 GeschORat lediglich dessen Abs. 2 und ist insofern ein grundsätzlich geringeres Maß an perfekter Verfahrensöffentlichkeit gewährleistet, als dies beim Mitentscheidungsverfahren der Fall ist634. Exakt dieselbe Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß wie bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation635 ist schließlich dort zu verzeichnen, wo vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte nach Maßgabe des Anhörungsverfahrens oder eines anderen im Wesentlichen vom Rat beherrschten Normsetzungsverfahrens in Geltung gesetzt werden. Um zu dem vom Grundgesetz jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts vorgezeichneten Normalmaß aufzuschließen, müssen potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte eine zumindest zur Hälfte perfekte, im Übrigen wenigstens semiperfekte Ergebnisöffentlichkeit aufweisen. Nun ergehen EG-Normsetzungsakte jenseits des Vorbehalts parlamentarischer Normierung typischerweise als Durchführungsrecht636. Da vom zentrierten Unionsvolk erzeugte Legitimation insofern nur über die Kommission vermittelt wird und der im Rahmen der Kommissionsbeiträge realisierte Grad staatsorganisatorischer Publizität auch schon im Modell mittelbarer Legitimation beschrieben wurde, kann hinsichtlich des Abgleichs mit dem grundgesetzlichen Normalmaß wiederum auf die dortigen Erwägungen verwiesen werden637: Das Durchführungsrecht unterschreitet das grundgesetzliche Normalmaß dann, wenn es im Regelungsverfahren erlassen wird. Festzuhalten bleibt damit, dass potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts immer, außerhalb dieses Bereichs aber lediglich dann verfehlen, wenn sie als Durchführungsrecht im Regelungsverfahren ergehen. Anders als bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation638 lassen sich die insofern zu konstatierenden Legitimationsdefizite in der Perspektive des Modells der doppelten Legitimationsbasis gegenwärtig noch durchweg rechtfertigen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass im Modell der doppelten Legitimationsbasis zu Rechtfertigungszwecken auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm zurückgegriffen werden kann. Man ist also nicht allein auf die Rechtfertigungstopoi verwiesen, die im Bereich der potenziell marktinterventio 634

Siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (3) = S. 988. Vgl. oben Kapitel 11 IV. 2. b) bb) = S. 1003. 636 Siehe oben Kapitel 11 II. 2. a) = S. 933. 637 Oben Kapitel 11 IV. 2. b) bb) = S. 1003. 638 Vgl. ebd.

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Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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nistischen Normsetzungsakte nur noch eingeschränkt Wirkung entfalten, nämlich auf den Rechtfertigungstopos vom anerkanntermaßen nur transnational sinnvollen volksherrschaftlichen Zugriff beziehungsweise auf denjenigen Rechtfertigungstopos, der auf die strukturellen Besonderheiten überstaatlicher Hoheitsverbände abstellt. Zum anderen ist zu erinnern, dass jedenfalls im – demokratietheoretisch heikleren – Bereich diesseits des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normierung die Legitimationsdefizite aus Sicht des Modells doppelter Legitimationsbasis bei der großen Mehrzahl der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte, nämlich bei den im Mitentscheidungsverfahren ergangenen, sichtlich geringer ausfallen als im Modell mittelbarer Legitimation. Im Einzelnen ergibt sich folgendes Bild: Potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Mitentscheidungsverfahren ergehen, weichen deshalb vom grundgesetzlichen Normalmaß ab, weil der Rat nicht durchgängig öffentlich tagt, der von ihm verantwortete Teil des EG-Normsetzungsakts wegen der Geltung des Mehrheitsprinzips in lediglich semiperfekter Ergebnisöffentlichkeit erwächst und die Beratungen der Kommission an sich vertraulich sind. Dabei handelt es sich jeweils um institu­ tionell-prozedurale Arrangements, die der effektiven Bewältigung des in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarfs dienen und zugleich den föderativen Systemgedanken größtmöglich schonen: Für das Mehrheitsprinzip ist diese Zwecksetzung der Sache nach bereits an früherer Stelle angesprochen worden639. Für die jedenfalls temporäre Vertraulichkeit der Rats- und die Nichtöffentlichkeit der Kommissionsberatungen ist sie gleichfalls zu unterstellen. Zur Begründung kann sinngemäß auf die Erwägungen verwiesen werden, mit denen verdeutlicht wurde, dass und weshalb die Vertraulichkeit in den Komitologie-Ausschüssen dieser Zwecksetzung dient640. Als demokratisch unangemessen sind die genannten, zur Verwirklichung ihres bundesstaatlichen Zwecks geeigneten und erforderlichen institutionell-prozeduralen Arrangements nicht einzustufen. Denn die durch sie induzierten Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß halten sich in engen Grenzen. Dies gilt gerade auch für die im Mittelpunkt des demokratietheoretischen Interesses stehende Verfahrensöffentlichkeit. Die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts im Zustimmungsverfahren ergehenden potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte weichen zusätzlich deshalb vom grundgesetzlichen Normalmaß ab, weil hier hinsichtlich des Rats ein noch etwas geringeres Maß an Verfahrensöffentlichkeit realisiert ist als im Mitentscheidungsverfahren641. Indes lassen sich teilweise geheime Ratsver‑

639

Oben Kapitel 13 IV. 2. b) aa) = S. 1195. Ebd. 641 Denn die mitlaufende semiperfekte Verfahrensöffentlichkeit ist hier in schwächerem Umfang realisiert als dort – siehe oben Kapitel 11 IV. 1. b) bb) (3) = S. 988. 640

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handlungen, wie eben schon hinsichtlich des Mitentscheidungsverfahrens angesprochen, als zur Realisierung bundesstaatlicher Zwecksetzungen geeignet und erforderlich qualifizieren. Dass im Fall des Zustimmungsverfahrens die Ratsverhandlungen noch etwas vertraulicher ablaufen als im Mitentscheidungsverfahren führt deshalb noch nicht zu einem unangemessenen Demokratiedefizit, weil das Zustimmungsverfahren eine nur noch ganz untergeordnete Rolle in der Rechtsetzungswirklichkeit der EG spielt642. Vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte werden, soweit sie nicht im Mitentscheidungs- beziehungsweise im Zustimmungsverfahren ergehen, in aller Regel im Anhörungsverfahren oder jedenfalls in einem im Wesentlichen vom Rat beherrschten Normsetzungsverfahren in Geltung gesetzt. Das grundgesetzliche Normalmaß staatsorganisatorischer Publizität unterschreiten diese EG-Normsetzungsakte deshalb, weil die Beratungen von Rat und Kommission zumindest teilweise vertraulich sind und der Rat typischerweise643 nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips entscheidet. Wie bereits dargelegt, sind diese institutionell-prozeduralen Arrangements erforderlich, um den in einem föderativen Gemeinwesen erhöhten Koordinationsbedarf unter größtmöglicher Schonung des föderativen Systemgedankens effektiv zu be­ wältigen. Die demokratische Angemessenheit der demnach bundesstaatlich grundsätzlich rechtfertigbaren Defizite an staatsorganisatorischer Publizität ergibt sich zum einen in Hinblick darauf, dass dem Anhörungsverfahren eine zwischenzeitlich nur mehr untergeordnete Bedeutung zukommt644. Zum anderen und vor allem bleibt zu berücksichtigen, dass dem bundesstaatlichen Rechtfertigungstopos in den Kon­stellationen des Anhörungsverfahrens ein besonderes Gewicht beizumessen ist. Denn das Anhörungsverfahren findet typischerweise in Hinblick auf solche Rechtsmaterien Anwendung, in denen aus ihrer Sicht elementare Interessen und Belange der Mitgliedstaaten berührt sind645; der Gesichtspunkt der größtmöglichen Schonung des föderativen Systemgedankens wiegt hier besonders schwer. Die Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, die potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts prägen, entsprechen exakt denjenigen, die für die wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte in diesem Bereich charakteristisch sind. Für die Rechtfertigung des Legitimationsdefizits, das das im Regelungsverfahren erlassene Durchführungsrecht der Kommission prägt, kann daher ohne Weiteres auf die dortigen Erwägungen646 verwiesen werden. 642

Vgl. Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 36. Zu den Ausnahmen vgl. zum Beispiel Art. 93 oder Art. 137 Abs. 2 UAbs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. c EGV. 644 Borchardt (Fn. 174), § 6 Rn. 475. 645 Vgl. Oppermann (Fn. 19), § 5 Rn. 33. 646 Siehe oben Kapitel 13 IV. 2. b) = S. 1195. 643

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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V. Die Normalität demokratischer Volkswerdung Für das Modell mittelbarer Legitimation ließ sich die Frage, ob die grundgesetzlich geforderte Normalität demokratischer Volkswerdung gegenwärtig gewährleistet ist, noch rasch und gänzlich unaufwendig beantworten. Denn wiewohl auch auf nationalstaatlicher Ebene die demokratische Öffentlichkeit partiell erodiert, die Systemintegration zunehmend an die Stelle der identitätsstabilisierenden und -stiftenden Sozialintegration tritt, kann in Hinblick auf das vom Modell mittelbarer Legitimation als alleiniges Legitimationssubjekt fokussierte deutsche Staatsvolk (noch) ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass insofern die grundgesetz­ lichen Minimalanforderungen an die Normalität demokratischer Volkswerdung eingehalten sind647. Deutlich komplizierter stellt sich die Sach- und Rechtslage hingegen im Rahmen des hier interessierenden Modells doppelter Legitimation dar. Denn in dieser Perspektive müssen die grundgesetzlichen Minimalanforderungen an die Normalität demokratischer Volkswerdung bezüglich der Gesamtheit der mitgliedstaat­ lichen Völker beziehungsweise in Ansehung des zentrierten Unionsvolks eingehalten sein648. Dazu lässt sich in tatsächlicher wie verfassungsjuristischer Hinsicht schon deshalb weniger leicht und selbstverständlich Stellung nehmen, weil hier Volkswerdungsprozesse angesprochen sind, der quer liegen zu dem geschichtlich etablierten Modell nationaldemokratischer Volkswerdung.

1. Bestandsaufnahme Soweit es um die Normalität demokratischer Volkswerdung in Hinblick auf die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker geht, ist im Ausgangspunkt Folgendes zu erinnern: Allein für sich betrachtet vermitteln die einzelnen Mitherrschaftsbeiträge der mitgliedstaatlichen Völker den EG-Normsetzungsakten noch keine staatsgebietseinheitliche Volkssouveränität. Schließlich sind an der mitgliedstaatlichen Mitherrschaft über den EG-Normsetzungsprozess nicht alle Individuen beteiligt, die von den EG-Normsetzungsakten in vergleichbar nachhaltiger Weise betroffen sind, nämlich nicht alle (wahlberechtigten) Staatsangehörigen der EUMitgliedstaaten. Infolgedessen vermag der dezentrierte Unions-demos die grundgesetzlichen Mindestanforderungen an die Normalität demokratischer Volkswerdung auch nicht schon deshalb ohne Weiteres zu erfüllen, weil die betreffenden Vorgaben ohne Umschweife in Hinblick auf das deutsche Staatsvolk und – nicht minder – in Ansehung der übrigen mitgliedstaatlichen Völker als gegeben unterstellt werden können. Vielmehr müssen die  – gelingenden und bereits gelunge 647

Siehe oben Kapitel 11 V. = S. 1004. Vgl. auch Schmitz, Das europäische Volk und seine Rolle bei einer Verfassunggebung in der Europäischen Union, in: EuR 2003, S. 217 (224).

648

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nen – Verständigungsprozesse, die die Normalität demokratischer Volkswerdung ausmachen, müssen demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität alle innerhalb der mitgliedstaatlichen Völkergesamtheit zur Partizipation Befugten miteinbeschließen. Nur unter dieser Bedingung wahrt die EG-Normsetzung, soweit sie an die Mitgliedstaaten rückgebunden ist, die Zurechnungsstruktur von Volkssouveränität auch in der hier sogenannten Tiefendimension649. Hieraus folgt weiter, dass sich demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität dort, wo sie den auf den dezentrierten Unions-demos zurückführenden Legitimationszusammenhang tragen, auf denselben Personenkreis beziehen wie dort, wo sie der vom zentrierten Unionsvolk herrührenden Legitimation Tiefendimension verleihen. Während nämlich in dem einen Fall, wie eben dargelegt, die gelingenden und bereits gelungenen Verständigungen auf alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten zu beziehen sind, liegt es für den anderen Fall auf der Hand, dass demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität die Unionsbürger erfassen müssen. Die Gesamtheit der Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten indes ist mit der Gesamtheit der Unionsbürger deckungsgleich650. Für die Bestandsaufnahme bedeutet dies, dass auch bei Zugrundelegung des Modells doppelter Legitimationsbasis von nur einer Normalität demokratischer Volks­ werdung auszugehen ist, nämlich der Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung. Es ist hier nicht der Ort, um erschöpfend zu bilanzieren, wie weit die Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung gediehen ist. Die dazu erforderlichen sozialwissenschaftlichen und vor allem auch empirischen Studien würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen651. Es muss daher bei einigen allgemeineren, aber dennoch belastbaren Beobachtungen bleiben. Eine Öffentlichkeit, wie sie aus dem nationalstaatlichen Raum bekannt ist, existiert auf europäischer Ebene nicht652. Dies lässt sich allein schon an dem Umstand festmachen, dass transnational-europäische Medien weithin fehlen und jedenfalls eine echte Breitenwirkung vermissen lassen653. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass europäische Themen sowohl von den Medien als auch in der Zivilgesellschaft vielfach noch in einer vornehmlich nationalen Perspektive disku 649

Dazu grundlegend oben Kapitel 6 I. 1. d) bb) (4) = S. 270. Vgl. Epiney (Fn. 146), § 2 Rn. 24. 651 Einen Überblick über den empirischen Forschungsstand zum Thema europäische Öffentlichkeit bietet etwa Risse, Auf dem Weg zu einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft, in: Franzius / Preuß (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, 2004, S. 139 (140 f.). 652 Peters, Europäische Öffentlichkeit im europäischen Verfassungsprozess, in: EuR 2004, S. 375 (378); vgl. ferner auch Merkel, Legitimitätsüberlegungen zu einem unionsspezifischen Demokratiemodell, in: Giering u. a., Demokratie und Interessenausgleich in der Europäischen Union, 1999, S. 27 (36). 653 Vgl. Grimm, Die größte Erfindung unserer Zeit, in: FAZ vom 16.06.2003, S.  35; auch schon Glotz, Integration und Eigensinn, in: Stiftung Mitarbeit (Hrsg.), Wieviel Demokratie verträgt Europa? Wieviel Europa verträgt Demokratie?, 1994, S. 47 (51). 650

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

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tiert werden654. Schließlich, aber nicht zuletzt kann im europäischen Raum schon wegen der extremen Sprachenvielfalt eine Öffentlichkeit nach nationalstaatlichem Muster nicht Platz greifen655. Nun ist freilich schon in kommunikationstheoretischer Perspektive sorgsam entwickelt worden, dass sich demokratische Öffentlichkeit auch gleichsam mosaikartig durch die diskursive Verzahnung von Teilöffentlichkeiten konstituieren kann656. In diesem Sinne existieren auf europäischer Ebene deutliche Ansätze einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit657. So berichten die nationalen Medien in zunehmendem Maße auch über europäische Themen658. Allein zwischen 1995 und 1999 stieg die Europaberichterstattung in den EU-Mitgliedstaaten um 60 Prozent an659; für das Jahr 2000 konnte am Beispiel von Qualitätszeitungen aus einem halben Dutzend europäischer Länder nachgewiesen werden, dass ein Drittel der dortigen Nachrichten einen direkten oder indirekten Europabezug auf­ wiesen660. Dass europäische Themen in der Regel nur dann nachhaltig in die national fragmentierten Öffentlichkeiten diffundieren, wenn sie sich als von den nationalen Debattenzusammenhängen her anschlussfähig erweisen, ist ein Fakt661, den es allerdings in zweifacher Hinsicht zu relativieren gilt: In dem Maße, in dem die politische und ökonomische Integration der EU-Staaten voranschreitet, nimmt zwangsläufig die Zahl der auf EU-Ebene verhandelten Sujets ab, die von den nationalen Öffentlichkeiten gänzlich oder doch überwiegend ignoriert werden. Indem EU-Institutionen und Mitgliedstaaten vor allem über entsprechende Bildungs- und Ausbildungsprogramme sowie die Förderung von Nichtregierungsorganisationen dafür sorgen, dass Europas Bürger in Kontakt miteinander kommen662, tragen sie wesentlich dazu bei, dass die nationalen Öffentlichkeiten die

654

Dazu Meyer, Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre, 2002, S. 190. Vgl. Kirchner / Haas, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Euro­ päische Gemeinschaft, in: JZ 1993, S. 760 (767); Grimm (Fn. 653), S. 35; Gellner / Glatzmeier, Die Suche nach der europäischen Zivilgesellschaft, in: APuZ 2005, 36, S. 8 (13). 656 Siehe oben Kapitel 6 IV. 2. d) aa) = S. 370 sowie Wessler, Europa als Kommunikations­ netzwerk, in: Hagen (Hrsg.), Europäische Union und mediale Öffentlichkeit, 2004, S. 13 (23). 657 So bereits Glotz (Fn. 653), S. 51 f. 658 Lübbe-Wolff (Fn.  587), S.  264; Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Ver­ fassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, 2003, S. 932. Siehe dazu auch die Presseauswertung von Landfried zum europäischen Verfassungsprozess (Wo bleiben die Bürger in der Europäischen Union?, in: Bruha / Nowak [Hrsg.], Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 89 [86 ff.]). 659 Meyer (Fn. 654), S. 124. 660 Risse (Fn. 651), S. 140. 661 Zutreffend insofern Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995, S. 14 f.; siehe auch Peters, Nationale und transnationale Öffentlichkeiten, in: ders., Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, S. 284 (289 f.). 662 Vgl. dazu zuletzt Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Weißbuch über eine europäische Kommunikationspolitik, KOM(2006) 35 endg., S. 8 f. 655

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Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

Debatten anderer Mitgliedstaaten besser rezipieren können und dadurch die Vernetzung der nationalen Teildiskurse zu einer europäischen Öffentlichkeit weiter voranschreitet663. Die Vielsprachigkeit der EU hat das ansatzweise Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit vor allem deshalb nicht verhindern können664, weil die einzelnen nationalen Öffentlichkeiten von Medienvertretern aus den jeweils anderen Mitgliedstaaten beobachtet werden. In ihren Medienberichten tragen sie Meinungen, Stimmungen und Forderungen über die Sprachbarriere hinweg von der einen nationalen Öffentlichkeit in die andere665. Hinzu tritt, dass sich Parteien, Verbände, Nichtregierungsorganisationen zunehmend europaweit vernetzen666 und es in der Folge auch hierdurch zu einem kommunikativen Austausch zwischen den nationalen Öffentlichkeiten kommt. Zu häufig unterschätzt wird schließlich, dass eine immer größere Zahl von Unionsbürgern sich in – einfachem – Englisch verständigen kann. Das Pidgin-Englisch ist die Grundlage für zahllose grenzüberschreitende Kontakte  – vom Emailverkehr zwischen Schülern über die Zusammenarbeit von Bürgerinitiativen bis zu den traditionellen Städtepartnerschaften. Just diese Kontakte indes sind der Humus, auf dem europäische Öffentlichkeit gedeiht667. Eine kollektive Identität, wie Angehörige eines Nationalstaats sie aufweisen, lässt sich in Hinblick auf die Unionsbürger gegenwärtig nicht ausmachen668. Das Sich-eins-Fühlen mit anderen Individuen, die dasselbe Territorium besiedeln, demselben Hoheitsverband angehören, derselben Rechtsordnung unterworfen sind, auf dieselbe Gruppengeschichte zurückschauen und dieselbe Gruppenkultur ihr Eigen nennen, hat im Nationalstaat infolge teils längerer669, teils kürzerer670 historischer Prozesse eine beispiellose Intensität erlangt. In keiner anderen der heute existenten sozialen Großgruppen lässt sich ein auch nur annähernd gleich starkes Gefühl kollektiver Identität nachweisen. Dies gilt selbst dann, wenn – wie im Fall der

663

In diesem Sinne auch Peters (Fn. 652), 379. Dazu etwa Lenz, Maastricht und das Grundgesetz, in: Letzgus, Klaus u. a.(Hrsg.), Festschrift für Herbert Helmrich, 1994, S. 269 (275); Giegerich (Fn. 658), S. 932. 665 Dazu eingehend und empirisch untersetzt Meyer (Fn. 654). 666 So auch schon Lenz, Vertrag von Maastricht – Ende demokratischer Staatlichkeit, in: NJW 1993, S. 1962 (1963). 667 Skeptisch Grimm (Fn. 661), S. 42 ff. 668 Insofern zutreffend Richter, Demokratietheorie und europäische Integration, in: Thiemeyer / Ullrich (Hrsg.), Europäische Perspektiven der Demokratie, 2005, S. 67 (77); Zürn, Über den Staat und die Demokratie in der Europäischen Union, in: Preuß / ders., Probleme einer Verfassung für Europa, S. 1 (18); Neunreither, The Democratic Deficit of the European Union, in: Government and Opposition 1994, S. 299 (313). 669 Zu Frankreich eindrücklich der mit ‚Le roman de la nation‘ überschriebene erste Teil der Histoire de France, 2003, von Marc Ferro (S. 29 ff.). 670 Für die deutsche Geschichte nur Möllers, Artikel ‚Nationalstaat‘, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 1601 (1603). 664

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

1207

EU  – die Gruppenangehörigen gleichfalls dasselbe Territorium besiedeln, dem­ selben Hoheitsverband angehören, derselben Rechtsordnung unterworfen sind, auf dieselbe Gruppengeschichte zurückschauen und dieselbe Gruppenkultur ihr Eigen nennen können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die für die Normalität demokratischer Volkswerdung teilkonstitutive kollektive Identität nur unter den Bedingungen und im Rahmen des Nationalstaats entstehen könnte671. Die kommunikationstheoretische Rekonstruktion kollektiver Identität lehrt stattdessen, dass diese sich auch dort ausbilden und bestehen kann, wo das Sich-eins-Fühlen mit den anderen Gruppenangehörigen nicht allein auf die gleichsam ererbte Zugehörigkeit zu einer historisch gewordenen Schicksalsgemeinschaft, sondern mindestens ebenso sehr darauf zurückführen ist, dass man bestimmte Grundüberzeugungen teilt, die das Ergebnis rationaler Diskurse sind672. In diesem Sinn lassen sich denn auch bei den Unionsangehörigen Ansätze einer kollektiven Identität ausmachen673. So sehen sie beispielsweise in ihrer weit überwiegenden Mehrheit den Frieden als zentralen politischen Wert an674 und befürworten aus diesem Grund sowohl eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als auch eine europäische Außenpolitik675. Sie bekennen sich ferner zur gemeinsamen europäischen Verfassungstradition676 und favorisieren daher auf breiter Front eine europäische Verfassung677, durch die namentlich das demokratische Element der EU gestärkt werden soll. Diese Beispiele veranschaulichen, wie sich unter den Unionsangehörigen identitätsstiftende Grundsatzüberzeugungen ausprägen, die ihrerseits sozial integrierend wirken678. Sie offenbaren zugleich, dass die ansatzweise Gestalt

671

Siehe oben Kapitel 6 IV. 2. e) = S. 378. Siehe oben Kapitel 6 IV. 2. e) = S. 378; kritisch gegenüber einer Identitätsstiftung durch demokratische Werte  – in der Nachfolge Carl Schmitts  – Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S.  42 (60 f.). 673 So auch Grözinger (Fn. 515), S. 215. 674 Dazu auch Hrbek, Staatsbürger – Unionsbürger: Konkurrenz oder Komplementarität, in: ders. (Hrsg.), Bürger und Europa, 1994, S. 119 (122 f.). 675 Und zwar zu 62 % (vgl. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 67. Erste Ergebnisse, 2007, S. 13). 676 Dazu auch Magiera (Fn. 602), S. 798. 677 Und zwar zu 66 % (vgl. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 67. Erste Ergebnisse, 2007, S.  13). Vgl. hierzu auch Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 147 (187 f.). 678 Eingehend Nettesheim, Demokratisierung der EU und Europäisierung der Demokratietheo­ rie, in: Bauer / Huber / Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 143 (172 ff.). – Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in einigen wichtigen Bereichen die identitätsstiftenden Grundsatzdiskurse erst am Anfang stehen. Zu nennen ist hier namentlich der Sozialbereich, denn hier ist nach wie vor ein Mangel an europaweit akzeptierten sozialen Rechtsgrundsätzen auszumachen (siehe hierzu v. Komorowski, Der Beitrag der ESC zur europäischen Wertegemeinschaft, in: Blumenwitz / Gornig / Murswiek [Hrsg.], Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 99 [100 ff.]). 672

1208

Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

annehmende kollektive Identität der Unionsbürger das Ergebnis rationaler Verständigungen ist, die ihrerseits durch gemeinsame geschichtliche Erfahrungen und ein gemeinsames kulturelles Erbes679 lebensweltlich abgesichert und befördert werden680.

2. Die auf EU-Ebene realisierte Normalität demokratischer Volkswerdung im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Das von der grundgesetzlichen Strukturnorm der Volkssouveränität geforderte Minimum demokratischer Normalität ist (erst) unterschritten, wenn es an einer demokratischen Öffentlichkeit fehlt, die zumindest die wesentlichen Entscheidungsprozesse des Hoheitsverbands hinreichend breit diskutiert, beziehungsweise die soziale Desintegration innerhalb des Hoheitsverbands so weit fortgeschritten ist, dass eine wachsende Zahl von Verbandsangehörigen nicht länger willens ist, die verbindlichen Hoheitsentscheidungen zu akzeptieren und zu respektieren681. Gleicht man diese von Art. 20 Abs. 2 GG entbundene positive Normalität mit der eben erfolgten Bestandsaufnahme ab, gelangt man unschwer zu dem Ergebnis, dass in Hinblick auf die EG-Normsetzungstätigkeit das verfassungsrechtsverbindliche Mindestmaß an demokratischer Normalität gegenwärtig auch in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis (bereits respektive noch) gewahrt ist. Dass sich die nationalen Teildiskurse bereits heute zu einer europäischen Öffentlichkeit verzahnen682, wenn es denn wirklich um politisch wesentliche EGNormsetzungsvorhaben geht683, konnte zuletzt anlässlich der Debatte um die 679 Vgl. Smith, National identity and the idea of European unity, in: International Affairs, 1992, S. 55 (70 f.); Pernice (Fn. 605), S. 470 betont in diesem Zusammenhang vor allem „die gemeinsame Basis einer über Jahrhunderte gewachsenen Rechts- und Verfassungskultur“. 680 Wegweisend Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, S.  154 ff.; vgl. auch ­Epiney u. a. (Fn. 146), S. 141 f. Dagegen Scharpf, Die europäische Verfassungsdiskussion vor einem Dilemma, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, S.  447 (458). 681 Siehe oben Kapitel 10 II. 4. a) = S. 706. 682 Davon gehen so unterschiedliche Autoren wie Herzog, Demokratische Legitimation in Europa, in den Nationalstaaten, in den Regionen in: Jäger / Jurt / Mangold (Hrsg.), Demo­ kratische Legitimation in Europa, in den Nationalstaaten, in den Regionen, 2000, S. 25 (33), Zuleeg, Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, in: JZ 1993, S.  1069 (1074), Beier­ waltes (Fn. 550), S. 223 und Huber (Fn. 537), S. 47 f. aus. 683 In diesem Sinne auch – auf empirischer Grundlage – van de Steeg, Does a public sphere exist in the European Union?, in: European Journal of Political Research 2006, S. 609 (627 f.) sowie Koopmans, Who inhabits the European public sphere, in: Europpean Journal of Political Research, 2007, S.  183 (205): „In those policy fields where Europe matters, European actors and actors from other Member States are frequently covered in national media, and national actors, including the medias themselves, often refer to European dimensions of

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

1209

Dienstleistungsrichtlinie684 beobachtet werden685. Die Medien der europäischen Mitgliedstaaten haben relativ breit darüber berichtet, und zwar sowohl über das Normsetzungsprojekt an sich, als auch über die Reaktionen dazu in anderen Mitgliedstaaten. Die mitgliedstaatlichen Parteien und Verbände haben sich gleichfalls auffallend intensiv dieses Themas angenommen, haben es zum Gegenstand von politischen Diskursen innerhalb der national segmentierten Zivilgesellschaften gemacht, sich zugleich aber auch um grenzüberschreitende Koordination und Aktion bemüht686. Am 21. Februar 2006 kam es dann zu einer besonders eindrücklichen Manifestation (im doppelten Wortsinn) dieser europäischen demokratischen Öffentlichkeit687, als in Straßburg viele zehntausend Menschen unterschiedlicher Provenienz gegen die Dienstleistungsrichtlinie demonstrierten688. Auch eine generelle Akzeptanzkrise in dem Sinne, dass die Unionsbürger nicht länger in der EU beheimatet sein wollten, lässt sich nicht ausmachen689. Der prozentuale Anteil derjenigen Unionsbürger, die die EU regelrecht ablehnen, hat zu keinem Zeitpunkt die 20 %-Marke überschritten690. Wenn eine wachsende Zahl von Europäern der europäischen Institutionenordnung und den europäischen Entscheidungsfindungsprozessen kritisch gegenüber steht, so liegt dies hauptsächlich daran, dass sie diese für zu intransparent und zu wenig demokratisch halten. Eine generelle Infragestellung der EU ist damit nicht verbunden. Dies lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass sich die Unionsbürger mit satter Mehrheit für eine europäische Verfassung aussprechen, die zur Lösung des Transparenz- und Demo­ issues.“ Ebenso Wessler, Europa als Kommunikationsnetzwerk, in: Hagen (Hrsg.), Euro­päische Union und mediale Öffentlichkeit, 2004, S. 13 (22). Dagegen Höreth (Fn. 249), S. 62; Scharpf (Fn. 680), S. 451. Kritisch Greven, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum, in: KohlerKoch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, 1998, S. 249 (266). 684 Zu dieser Debatte etwa Schwarze (Fn. 54), Rn. 753 f. Zum Inhalt der Dienstleistungsrichtlinie in ihrer letztlich beschlossenen Fassung Hatje, Die Dienstleistungsrichtlinie  – Auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert, NJW 2007, S. 2357 ff. 685 Ähnlich Calliess, Europäischer Binnenmarkt und europäische Demokratie, in: DVBl. 2007, S. 336. 686 Vgl. dazu auch Hatje (Fn. 684), S. 2357 und 2363. 687 Dass Demonstrationen mit Europarelevanz als „Ansätze zur Ausbildung eines euro­ päischen politischen Bewußtseins und damit eines corps politique“ gewertet werden können, unterstreicht auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, in: Staat 2002, S. 331 (352 f.). 688 Die rege Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie hat im Übrigen auch durchscheinen lassen, was als gleichermaßen integraler wie integrierender Bestandteil der sich verdichtenden europäischen Identität anzusehen ist, nämlich das Ethos des Sozialstaats (vgl. dazu auch Weiler, European Citizenship: The Selling of the European Union, in: Antalovsky / Melchior /  Puntscher Riekmann [Hrsg.], Integration durch Demokratie,1997, 266 [286 f.]). 689 So im Ergebnis auch Lord, A democratic audit of the European Union, 2004, S. 73; vgl. ferner Schwaabe, Politische Identität und Öffentlichkeit in der Europäischen Union, in: ZfP 2005, 421 (422). 690 In der letzten Dekade bewegte sich der Prozentsatz der EU-Gegner in einer Spannbreite zwischen 10 % (2002) und 17 % (2004) (vgl. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 67. Erste Ergebnisse, 2007, S. 15).

1210

Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

kratieproblems beiträgt691: Indem sie eine solche europäische Verfassung befürworten, geben sie zugleich zu erkennen, dass sich ihrer Auffassung nach die EU als weiterer Hoheitsverband neben dem souveränen Nationalstaat konsolidieren soll. Es bleibt somit resümierend festzustellen, dass die bescheidenen Anforderungen, die das Grundgesetz an die Normalität demokratischer Volkswerdung auf Unionsebene stellt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorliegen692. Das von Grund­ gesetzes wegen zu wahrende Mindestmaß an unionsweiter demokratischer Öffentlichkeit und kollektiver Identität wird erreicht693. Dies kann allerdings nicht darüber täuschen, dass die Normalität demokratischer Volkswerdung auf europäischer Ebene äußerst fragil ist694. Werden die lebensweltlichen Gemeinsamkeiten der Unionsbürger nicht dadurch nachhaltig bewirtschaftet, dass einerseits bestehende Demokratiestrukturen konsequent verbreitert sowie vertieft werden695 und andererseits das politische Kulturerbe Europas achtsam gepflegt wird696, so werden die dadurch bedingten Störungen des europäischen Kommunikationszusammenhangs über kurz oder lang dazu führen, dass sich die europäische demokratische Öffentlichkeit sowie die kollektive Identität der Unionsbürger in einem grundgesetzlich nicht mehr hinnehmbaren Umfang zurückentwickeln.

VI. Fazit Was sich erst am Ende dieses Kapitels vollends gezeigt hat, steht am Anfang des Fazits: Im heutigen Stadium der europäischen Integration können die grundgesetzlichen Voraussetzungen als erfüllt angesehen werden, unter denen dezen­trierter 691 Vgl. Europäische Kommission, Standard-Eurobarometer 66, 2007, S. 202 ff., insbesondere auch S. 213. 692 Vgl. auch das recht apodiktische Urteil von Zuleeg (Fn.  602), S.  367 f., wenn er hinsichtlich der Demokratie auf EU-Ebene festhält: „Empirische Belege für mangelhafte Randbedingungen der Demokratie sind nicht erbracht.“ Dagegen – ebenso apodiktisch – v. Arnim (Fn.  585), S.  2533 sowie  – aus politikwissenschaftlicher Perspektive  – Schmidt, Die Euro­ päische Union in der Vergleichenden Politikwissenschaft, in: Lauth (Hrsg.), Vergleichende Regierungslehre, 2002, S. 156 (158 f.). 693 Zur Herausbildung einer europäischen Identität und Öffentlichkeit spätestens seit den 1990er Jahren auch Kaelble, Wege zur Demokratie, 2001, S. 129 ff. Vgl. ferner Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2002, S. 320 ff., der auch schon Ansätze einer globalen politischen Öffentlichkeit diagnostiziert. Ferner Bandilla / Hix, Demokratie, Transparenz und Bürgerrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: NJW 1997, S. 1217. Skeptisch Seiler, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, 2005, S. 283 f. 694 Grözinger (Fn. 515), S. 216. 695 Dazu etwa Zürn (Fn. 668), S. 24 und 30 ff. 696 Zum Erfordernis einer gemeinsamen politischen Kultur vgl. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, 1991, S. 15 f.; ders., Warum braucht Europa eine Verfassung, in: Die Zeit vom 29.06.2001, S. 7; auch Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan 1996, S.339 (348).

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

1211

und zentrierter Unions-demos als Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zu qualifizieren sind697. Daraus wiederum folgt, dass – jedenfalls gegenwärtig – weder das Modell mittelbarer Legitimation noch das des Zweckverbands funktionaler Integration, sondern allein das Modell der doppelten Legitimationsbasis die Legitimationsverhältnisse im Bereich der EG-Normsetzung so rekonstruiert, wie sie in grundgesetzlicher Perspektive zu konstatieren und in der Folge auch zu bewerten sind698. Die Analyse der EG-Normsetzung auf Basis des nach allem grundgesetz­ adäquaten Modells doppelter Legitimationsbasis hat nun gezeigt, dass die europaspezifischen Demokratievorgaben des Grundgesetzes durchweg gewahrt sind. Ein nuancierteres Bild ergibt sich erst dann, wenn man den Zeitfaktor in die Betrachtungen mit einbezieht und also die Frage aufwirft, ob, vom Standpunkt des Grundgesetzes aus betrachtet, Demokratiekompatibilität auch à la longue unterstellt werden kann. Hierzu ist zum einen zu erinnern, dass sich sowohl in der Vertikal- als auch in der Horizontaldimension von Volkssouveränität aus den einschlägigen Verfassungseinzelbestimmungen ein grundgesetzliches Normalmaß demokratischer Legitimation herleiten lässt, das EG-Normsetzungsakte von Verfassungs wegen nur mit hinreichender Rechtfertigung unterschreiten dürfen. Soweit nun verschiedene Typen von EG-Normsetzungsakten von diesem grundgesetzlichen Normalmaß abweichen, lassen sich die betreffenden Legitimationsdefizite heutzutage zwar noch ausnahmslos rechtfertigen. Die Rechtfertigungsgründe aber können im Laufe der Zeit, aufgrund gewandelter Verhältnisse, auch entfallen. So kann in der großen Mehrzahl der Fälle, in denen EG-Normsetzungsakte das grundgesetzliche Normalmaß hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit oder in Ansehung der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen unterschreiten, zur Rechtfertigung der fraglichen Legitimations­defizite auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm zurückgegriffen werden. Auch die an die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm anschließenden Rechtfertigungsdiskurse sind selbstverständlich nicht davor gefeit, zu obsoleszieren699. Allerdings ist dies so lange nicht absehbar, wie die mitgliedstaatlichen Interessen durch ein hohes Maß an Vitalität und Partikularität geprägt bleiben, die föderative Integrität der Union noch nicht definitiv gesichert erscheint, sich der europaweite Koordinations­ bedarf auf hohem Niveau bewegt und die in den kleinen Mitgliedstaaten wohnhaften Unions­bürger mangels – in weitestem Sinne – kultureller Homogenisierung Europas als strukturelle Minderheiten erscheinen. Daneben existieren aber immerhin drei Konstellationen, in denen ein Rückgriff auf das Rechtfertigungspotenzial der grundgesetzlichen Bundesstaatsnorm 697

Siehe Kapitel 13 V. = S. 1203. Dazu oben Vorbemerkung zu Teil V = S. 862. 699 Siehe etwa Kapitel 13 II. 2. a) cc) (11) = S. 1076.

698

1212

Teil V: Die EU-spezifischen Legitimationsmodelle

ent­weder nicht ausreicht oder von vornherein nicht in Betracht kommt, um Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß zu rechtfertigen: Soweit der aus grundgesetzlicher Sicht normale Grad demokratischer Abgeleitetheit deshalb verfehlt wird, weil dem Rat beziehungsweise der Kommission im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts ausnahmsweise die alleinige oder doch vorrangige Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis in Hinblick auf einen potenziell marktinterventionistischen EG-Normsetzungsakt zukommt, lässt sich dieses Legitimationsdefizit allein unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm nicht rechtfertigen. Zusätzlich muss auf das Staatsziel der europäischen Einigung abgestellt werden, das Legitimationsdefizite zu rechtfertigen vermag, die den Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands geschuldet sind. Allerdings trägt dieser Rechtfertigungsansatz in Hinblick darauf, dass die EU den Zustand eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands mit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte hinter sich gelassen hat, nur noch mittelfristig700. Gleich zwei Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß, die sich nicht schon unter Rekurs auf die grundgesetzliche Bundesstaatsnorm rechtfertigen lassen, sind in Ansehung der staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung herausgearbeitet worden. Gemeint sind die Gleichheitsdefizite, die im Rahmen des Europäischen Parlaments durch den überproportionalen Anteil von Abgeordneten aus kleinen Mitgliedstaaten sowie das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts für die Europawahlen bedingt sind. Hinsichtlich des auf die mitgliedstaatlichen Abgeordnetenkontingente zurückführbaren Legitimationsdefizits zeitigt die Strukturnorm der Volkssouveränität rechtfertigende Wirkung. Denn um ihrer selbst willen gewährleistet sie auch einen hinreichenden Minderheitenschutz. Diese rechtfertigende Wirkung ist potenziell endlich, denn sie greift dann nicht mehr, wenn sich die in den kleinen Mitgliedstaaten wohnhaften Unionsbürger infolge einer – im weitesten Sinne – kulturellen Homogenisierung Europas nicht länger als strukturelle Minderheiten begreifen. Eine solche Entwicklung ist gegenwärtig aber noch längst nicht absehbar. Was die Gleichheitsdefizite anbelangt, die durch das Fehlen eines einheitlichen Wahl­ systems hervorgerufen werden, so lassen sie sich nur mit den Besonderheiten eines im Werden begriffenen Hoheitsverbands und damit anhand des Staatsziels der europäischen Einigung rechtfertigen. Dieser Rechtfertigungsansatz ist freilich nur mittelfristig noch wirksam. Dass die Demokratiekompatibilität des EG-Normsetzungsprozesses zeitlich-situativ bedingt ist, bewahrheitet sich zum anderen auch, wenn man abschließend die Tiefendimension der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm in den Blick nimmt. Eine die Unionsangehörigen erfassende demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität ist gegenwärtig im grundgesetzlich geforderten (Minimal-)

700

Dazu etwa Kapitel 13 II. 2. a) cc) (4) = S. 1059.

Kap. 13: Modell der doppelten Legitimationsbasis

1213

Umfang gegeben. Beides kann aber rasch zerbrechen, wenn es nicht gelingt, die Demokratie auf europäischer Ebene zu stärken und sich des gemeinsamen europäischen Kultur- und Geschichtserbes in einer Weise rückzuversichern701, dass es sich als gegenüber den Systemimperativen Geld und Macht widerständig erweist702.

701 Zur Bedeutung einer reflexiven kollektiven Erinnerung für die Ausbildung europäischer demokratischer Identität etwa Eder, Konstitutionsbedingungen einer transnationalen Gesellschaft in Europa, in: Heyde / Schaber (Hrsg.), Demokratisches Regieren in Europa?, 2000, S. 87 (98). 702 Entscheidende Voraussetzung hierfür ist, dass die EU „die Monomanie der binnenmarktbezogenen Perspektive“ (Scharpf, Kann es in Europa eine stabile föderale Balance geben?, in: ders., Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 117 [124]) über­windet.

Teil VI

Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Vorbemerkung: Zu den Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union Vorbemerkung

Die europäische Integration hat prozesshaften Charakter. Das Grundgesetz indes verlangt, dass auch ein im Wandel begriffener europäischer Hoheitsverband bestimmten Demokratieanforderungen zu genügen hat, wenn seine Normsetzungsakte weiterhin auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Geltung beanspruchen können sollen. Inwieweit der Gestaltwandel der EU mit den grundgesetzlichen Demokratieanforderungen in Einklang steht beziehungsweise dagegen verstößt, hängt vom weiteren Verlauf der Integration ab. Damit stellt sich die Frage nach dem weiteren Gang des europäischen Einigungsprozesses. Als Jurist sieht man sich insofern auf die – hier nur idealtypisch darstellbaren – politikwissenschaftlichen Integrationstheorien rückverwiesen. Als klassische Integrationstheorien sind die föderalistische sowie die (neo-)funktionalistische zu nennen; neuere Ansätze lassen sich unter den Stichworten des ‚Regierens im Mehrebenensystem‘ sowie des ‚Liberalen Intergouvernementalismus‘ fassen1. Die föderalistische Theorie2, die auch als konstitutionalistische bezeichnet wird, stellt das politisch-voluntaristische Moment in den Vordergrund. Sie geht davon aus, dass die europäischen Integrationsprozesse der vergangenen Jahrzehnte darauf zurückzuführen seien, dass es das politische Bekenntnis und den politischen Willen zu einem zusammenwachsenden, vereinten Europa gab. Ohne die Vision eines föderalen Europas hätte auch die wirtschaftliche Integration nicht erreicht werden können, auf die der europäische Einigungsprozess zunächst beschränkt war. Schließlich sei die EWG bewusst aus dem Grund geschaffen wor

1

Vgl. Meyers, Theorien internationaler Kooperation und Verflechtung, in: Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Politik, 9. Aufl. 2005, S. 482 (495 ff.). 2 Grundlegend Friedrich, Trends of Federalism in Theory and Practice, 1968. Zu diesem Theoriestrang überblicksartig Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 126 ff.; Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 104 ff.; Lemmens, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und die Integration der Euro­ päischen Gemeinschaft, 1994, S.  43 f.; Newman, Democracy, Sovereignty and the European Union, 1996, S. 15 ff.

Vorbemerkung

1215

den, um das Scheitern der föderal konzipierten EVG zu kompensieren. Dass ein anti-föderal eingestellter Staatsmann wie de Gaulle den Integrationsprozess habe hemmen können, stehe nicht in Widerspruch zur föderalistischen Integrations­ theorie, sondern belege stattdessen eindrücklich die Bedeutung des autoritativpolitischen Elements im Integrationsprozess. Sieht man mit der föderalistischen Theorie die europäische Integration als primär politisch motiviert an, so erscheint es als zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die EU à la longue zu einem föderalen Staatswesen mutiert, das heißt ihre Sachkompetenzen noch weiter ausdehnt und sich institutionell im Sinne demokratischer Verfassungsstaatlichkeit fortentwickelt3. Denn die föderalstaatliche Europavision hat, gerade weil sie an eine geschichtsmächtige und in der mémoire collective präsente Strukturvorstellung anknüpft, nach wie vor erhebliche Wirkkraft. Der Maastricht-Vertrag sowie zuletzt die Debatte um die – wenn auch (vorläufig) gescheiterte4  – Europäische Verfassung scheinen denn auch die föderalstaatliche Entwicklungshypothese zu bestätigen. Im Unterschied zur föderalistischen geht die funktionalistische5 beziehungsweise neofunktionalistische6 Integrationstheorie7 von einem mehr oder minder eigendynamischen Prozess der Gemeinschaftsbildung aus8. Für die Funktionalisten nimmt Integration dort ihren Anfang, wo dem technischen, (vorgeblich) un­politischen Koordinationsbedarf einer sich internationalisierenden Wirtschaft nicht länger durch bilaterale Diplomatie Rechnung getragen werden könne und es infolgedessen zur Schaffung internationaler agencies komme. Diese funktionsspezifische sektorale Zusammenarbeit wirke musterbildend für andere Sachbereiche, sodass auch dort internationale Organisationen entstünden, die die ehedem staatlichen Aufgaben übernähmen und sich im Weiteren untereinander vernetzten. Auf diese Weise vertiefe sich Schritt für Schritt die – funktionale – Integration. In – im Detail durchaus kritischer – Anknüpfung hieran betonen die Neofunktionalisten vor allem den sogenannten ‚Spillover‘-Mechanismus9. Danach würden 3 In diese Richtung auch v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999. 4 Siehe hierzu Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrags, in: NJW 2007, S. 3153. 5 Grundlegend Mitrany, The Process of International Government, 1933, S. 97 ff. 6 Grundlegend Haas, Beyond the Nation State, 1964, S. 26 ff.; guter Überblick bei Nugent, The Government and Politics of the European Union, 5. Aufl. 2003, S. 479 ff.; vgl. auch Mutimer, 1992 and the political integration of Europe, in: Revue d’intégration européenne 1989, S. 75 ff. 7 Überblick bei Kaufmann (Fn. 2), S. 164 ff., Höreth (Fn. 2), S. 112 ff. und Lemmens (Fn. 2), S. 44 f. 8 Funktionalismus und Neo-Funktionalismus hätten seit der Einheitlichen Europäischen Akte „eine späte und schon gar nicht mehr erwartete Bestätigung ihrer Theorien registrieren können“, heißt es – nicht zu Unrecht – bei Czempiel Die neue Souveränität – ein Anachronismus?, in: Hartwich / Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik V, 1993, S.  145 (153). Ähnlich Hix, The Study of the European Community, in: West European Politics 1994, S. 1 (5). 9 Dazu Mutimer (Fn. 6), S. 79 ff.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

selbst eng begrenzte Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften infolge von Sachzwängen stillschweigend, aber umso wirksamer auf benachbarte Politikfelder ausgreifen10. Dies wiederum habe zur Folge, dass die politischen Eliten und Interessengruppen sich immer stärker auf europäischer Ebene engagierten, was seinerseits neue spillovers provoziere11. Aus Sicht der funktionalistischen Integrationstheorie ist eine föderalstaatliche Entwicklung der EU weder zu erwarten noch überhaupt wünschenswert. Stattdessen kann allenfalls von einer quantitativen Kompetenzausweitung ohne qualitative institutionelle Vertiefung ausgegangen werden. Demgegenüber erscheint aus Sicht der neofunktionalistischen Integrationstheorie die föderalstaatliche Entwicklungshypothese als durchaus belastbar. In neuerer Zeit ist den klassischen Integrationstheorien insbesondere vorge­ worfen worden, sie vernachlässigten die machtvolle Rolle, die den Nationalstaaten innerhalb des Integrationssystems zukomme. Diese politikwissenschaftliche Neuorientierung stellt eine bemerkenswerte Parallele zur Wiederentdeckung von Staat und Souveränität im rechtswissenschaftlichen Europa-Diskurs dar. Die in der Politikwissenschaft heute herrschende Sichtweise begreift die Europäische Union als dynamisches ‚Multi-Level-System‘12. Dabei müsse den zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen ein besonderes Gewicht beigemessen werden13. Diese seien allerdings eingebunden in ein komplexes, ebenenübergreifendes Beziehungsgeflecht, das durch Heterarchie, die Pluralität staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, Policy-Netzwerke sowie die Interdependenz bestimmter Politikfelder charakterisiert werde14. Der ‚Liberale Intergouvernementalismus‘15 rückt die Nationalstaaten vollends in den Mittelpunkt des Integrationsprozesses16. Dieser sei die Konsequenz inter

10 Dazu auch Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, in: Depenheuer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Isensee, 2007, S. 875 (882). 11 Zum Ganzen etwa Hix (Fn. 8), S. 4 ff. 12 Überblicksartig Nugent (Fn. 6), S. 473 f., Höreth (Fn. 2), S. 143 ff. sowie Meyers (Fn. 1), S.  496 f. Zu Begriff und Konzept des Mehrebenensystems Schmidt, Die Europäische Union in der Vergleichenden Politikwissenschaft, in: Lauth (Hrsg.), Vergleichende Regierungslehre, 2002, S.  156 (162 ff.), Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 474 ff., Wessels, Das politische System der Europäischen Union, in: Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl. S. 779 (783) sowie Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S.  31 ff. (Detail-)Kritisch zu diesem Ansatz Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2002, S. 189 ff. 13 Vgl. zum Beispiel Scharpf, Legitimationsprobleme der Globalisierung, in: Böhret / Wewer (Hrsg.), Festgabe für Hartwich, 1993, S. 165 ff.: Der Beitrag trägt den symptomatischen Untertitel ‚Regieren in Verhandlungssystemen‘. Siehe auch Singer, Nationalstaat und Souveränität, 1993, S. 92 ff., 133 ff. sowie Wessels (Fn. 12), S. 809 f. 14 Dazu auch Peters (Fn. 12), S. 215 ff. 15 Überblicksartig Höreth (Fn. 2), S. 123 ff. sowie Nugent (Fn. 6), S. 482 ff.; ferner Peters (Fn. 12), S. 199 ff. 16 Dazu Kaufmann (Fn. 2), 1997, S. 194 unter der Zwischenüberschrift ‚Der Staat als Akteur‘.

Vorbemerkung

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gouvernementaler bargains, die – in Abhängigkeit von den involvierten nationalen Präferenzen sowie der variierenden Verhandlungsmacht der verschiedenen nationalen Regierungen – bestimmte materielle Politikergebnisse hervorbrächten und um eines credible commitment willen institutionalisiert würden17. Da der ‚Liberale Intergouvernementalismus‘ die überstaatlichen Institutionen nur als Agenten der nationalstaatlichen Prinzipale anerkennt, dürfte seine Hypothese für die weitere Entwicklung der EU dahingehend lauten, dass der EU womöglich noch weitere materielle Kompetenzen zuwachsen werden, weil dies dem Kosten-Nutzen-Kalkül der Nationalstaaten entspricht. Eine – substanzielle – institutionelle Vertiefung der Europäischen Union steht nach dieser sich als ‚realistisch‘ begreifenden Integrationstheorie indes nicht bevor. Auf das insoweit kontraindizierende ‚institutionelle Eigeninteresse der Nationalstaaten‘ weisen auch Vertreter des ‚Multi-level-governance‘-Ansatzes hin. Die historisch unvergleichliche Aufgaben- und Kompetenzexpansion des europäischen Integrationsverbunds habe bislang zu keiner auch nur annähernd so weitreichenden institutionellen Vertiefung geführt. Vielmehr sei der Einfluss der nationalen Regierungen auf die europäischen Entscheidungsprozesse gewachsen – auf Kosten der nationalen Parlamente18. Die Kompetenzverlagerungen hätten mithin keine föderalstaatliche Entwicklung eingeläutet, sondern lediglich die konföderativintergouvernementale Komponente gestärkt. Für die Zukunft seien daher keine wesentlichen Veränderungen der institutionellen Strukturen der Union zu erwarten. Der europäische Integrationsverband befinde sich in der ‚Politikverflechtungsfalle‘19 und könne sich daher institutionell weder in der Richtung auf mehr Integration noch auf mehr Desintegration fortentwickeln  – auch wenn es materiell durchaus zu weiteren Kompetenzverlagerungen nach oben kommen könne20. Konsultiert man die vier wichtigsten politikwissenschaftlichen Integrationstheorien, so lassen sich in extremis zwei diametral verschiedene Entwicklungshypothesen für den weiteren Verlauf der europäischen Integration aufstellen: Entweder es tritt, was das Institutionengefüge anbelangt, ein zumindest relativer Integrationsstillstand ein und die EU verharrt, obwohl ihr durchaus noch weitere materielle Zuständigkeiten zuwachsen, im Stadium eines nach wie vor stark intergouvernementalistisch geprägten Staatenbunds sui generis. Oder aber es kommt zu weiteren kräftigen, auch institutionellen Integrationsschüben, durch die eine bundesstaatlich verfasste Europäische Union Gestalt gewinnt. Nun kann es hier nicht darum gehen, die empirische Belastbarkeit dieser gänzlich konträren Entwicklungshypothesen auszuloten. Sicher ist nur, dass beide Ex

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Vgl. Hix (Fn. 8), S. 6 ff. Bothe, Föderalismus – ein Konzept im geschichtlichen Wandel, in: Evers (Hrsg.), Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994, S. 19 (27). 19 Grundlegend Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle, in: PVS 1985, S. 323 (331 ff.). 20 Vgl. Scharpf, Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, in: Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens, 1998, S. 81 (96 ff.).

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

trapolationen, schon weil sie theoriebedingt einzelne Integrationsfaktoren tendenziell übergewichten, mit Vorsicht zu genießen sind. Schließlich ist der europäische Integrationsprozess nie von nur einem Faktor beeinflusst worden. Die Zukunft der europäischen Integration dürfte sich daher eher – irgendwo und irgendwie – in der Mitte zwischen den beiden einander diametral entgegengesetzten Entwicklungshypothesen abspielen. Treffend schreibt Willy Brandt in seinen ‚Erinnerungen‘ und bezogen auf den europäischen Integrationsprozess: „Die Geschichte kennt selten ein Entweder-Oder.“21 Wenn in diesem letzten Teil dennoch an die beiden skizzierten, extremen Entwicklungshypothesen angeknüpft wird, so hat dies heuristische Gründe. Denn zwischen den beiden auf ihre Weise weitreichendsten Entwicklungshypothesen tut sich die gesamte Bandbreite denkbarer Integrationsfortgänge auf. Vor dem Hintergrund dieser beiden gegensätzlichen Entwicklungsperspektiven lassen sich die Probleme, die mit der Überschrift ‚Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang‘ evoziert werden, denn auch in aller Konsequenz durch­ deklinieren und verfassungsjuristisch zu Ende denken. Ein im institutionellen status quo verharrendes Europa einerseits, ein bundesstaatliches Europa andererseits lassen sich nun einmal besser fassen und bewerten, als ein Europa, das sich  – irgendwo und irgendwie – zwischen diesen beiden Polen bewegt. Um auf der Folie der beiden aufgeworfenen Entwicklungsperspektiven die Vereinbarkeit des Integrationsfortgangs mit den grundgesetzlichen Demokratieanforderungen überprüfen zu können, muss freilich zunächst noch einmal in die normwissenschaftliche Analyse der Demokratiebestimmungen des Grundgesetzes eingestiegen werden. Bislang nämlich sind nur die internen Vorgaben erörtert worden, denen der europäische Hoheitsverband aus Sicht der EU-spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes zu genügen hat. Um die potenziellen Integrationsfortgänge demokratierechtlich angemessen beurteilen zu können, reicht es indes nicht aus, lediglich die grundgesetzlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung in den Blick zu nehmen. Zu berücksichtigen ist, dass selbst in der europaskeptischen Perspektive des institutionellen Integra­ tionsstillstands mit einem weiteren Kompetenzzuwachs der EU gerechnet und in der europaeuphorischen Perspektive bundesstaatlicher Integration sogar eine Vergliedstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland vorhergesehen wird. Insofern stellt sich mit Nachdruck die Frage, inwieweit die EU-spezifische Demokratienorm dem europäischen Hoheitsverband auch externe Schranken setzt, und zwar durch ein von ihr mit verbürgtes Souveränitätsprinzip. Im Folgenden wird daher in einem ersten Schritt das Verhältnis von Staats- und Volkssouveränität normwissenschaftlich ausgeleuchtet. Bei der Konkretisierung der souveränitätsbezogenen Gewährleistungen der europaspezifischen Demokra­



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Brandt, Erinnerungen, 1989, S. 482.

Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

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tienorm kann, darf und soll dabei – einmal mehr – auf die entsprechenden staatstheoretischen Einsichten rekurriert werden. In einem zweiten Schritt geht es dann konkret darum, im Rahmen der beiden Entwicklungshypothesen zu erörtern, ab wann ein bestimmter Integrationsfortgang in Widerspruch zu den internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes treten und wo er auf deren externe Schranke stoßen würde.

Kapitel 14

N

Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität als ‚äußere Schranke‘ einer Beteiligung Deutschlands an der sich fortentwickelnden EU Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

Aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre erweisen sich Staats- und Volkssouveränität als teilidentisch1. Denn Volkssouveränität setzt jedenfalls gegenwärtig und auf unabsehbare Zeit Staatssouveränität konstitutiv voraus. Insofern werden der substanziellen Volkssouveränität durch die instrumentelle Staatssouveränität auch Grenzen gezogen2: Führen Entscheidungen beziehungsweise Entwicklungen, die im Übrigen mit den Anforderungen von Volkssouveränität als Zurechnungsstruktur übereinstimmen, zu einem Verlust der Staatssouveränität, so erweist sich dies in Hinblick auf Staats- und Volkssouveränität als strukturwidrig, sofern nicht der betreffende Souveränitätsverlust auf einem formellen Souveränitätsverzicht beruht, den  – vermöge des ihm demokratierechtlich zustehenden pouvoir constituant – das hinsichtlich seines politischen Status dispositionsbefugte Staatsverbandsvolk erklärt hat. Unter Umständen kann die von der Volkssouveränität vor­ausgesetzte Staatssouveränität daher auch einem ansonsten demokratisch legitimen Prozess überstaatlicher Integration Schranken setzen. Vor diesem Hintergrund sieht sich die Frage aufgeworfen, ob auch das Grundgesetz eine Strukturnorm der Staatssouveränität enthält, die mit der grundgesetzlichen Verbürgung der Volkssouveränität teilidentisch ist3. Denn dann würde die in Art.  20 Abs.  2  GG grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität der Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der EU nicht nur insofern ‚innere Schranken‘4 setzen, als ein taugliches demokratisches Legitimationssubjekt sowie eine



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Dazu bereits oben Einleitung I. 5. c) = S. 66. Dazu und zum Folgenden eingehend Kapitel 7 = S. 512. 3 Dagegen etwa Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 239 f. 4 Zu diesem Terminus sowie dem der ‚äußeren Schranken‘ einführend Einleitung I. 5. c) = S. 66.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

demokratisch tragfähige Zurechnungsstruktur für Hoheitsakte der Union gefordert wird. Vielmehr könnten der grundgesetzlichen Bestimmung der Volkssouveränität auch ‚äußere Schranken‘ entnommen werden, nämlich die, dass die Bundesrepublik nur solange an einer sich fortentwickelnden EU partizipieren darf, wie die Strukturnorm der Staatssouveränität nicht volkssouveränitätswidrig verletzt wird. Dementsprechend wird in der folgenden normwissenschaftlichen Analyse zunächst ausführlich dargetan, dass die grundgesetzliche Volkssouveränität eine Strukturnorm der Staatssouveränität entbindet und sie insofern – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt  – die Staatssouveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland mitnormiert. Daran anschließend soll der Inhalt der der grundgesetzlichen Volkssouveränität normativ eingeschriebenen Staatssouveränität näher präzisiert werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann zuletzt im Einzelnen die ‚äußeren Schranken‘ erörtern, die einer Mitwirkung Deutschlands an der EU durch die mit der grundgesetzlichen Volkssouveränität teilidentischen Staatssouveränität gesetzt sind.

I. Die Staatssouveränität als Regelungsinhalt der grundgesetzlich verbürgten Volkssouveränität Der sprachlich knapp gefassten Struktur- und Zielnorm des Art. 20 Abs. 2 GG konnten im Verlauf dieser Arbeit bereits etliche normative Aussagen entnommen werden. Aus ihr leitet sich nicht nur ein durchaus anspruchsvolles Volksverständnis her5; sie normiert zugleich eine höchst differenzierte Struktur demokratischer Zurechnung6. Vor diesem Hintergrund kann es nicht wirklich erstaunen, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG trotz seines zumindest prima vista nicht sonderlich aufschlussreichen Normtexts zugleich eine Strukturnorm der Staatssouveränität entbindet und diese jedenfalls gegenwärtig die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland verbürgt. Im Zuge der normwissenschaftlichen Begründung dieser These wird sich dabei einmal mehr zeigen, dass die klassischen Auslegungs­regeln bei derart fundamentalen Normen wie der der Volkssouveränität nur bedingt weiterhelfen7. Es bedarf hier immer wieder eines Rückgriffs auf die sonstigen Interpretationselemente: Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG muss in seiner Rückbezogenheit auf die außerrechtliche Normativität wie auch auf die vorrechtliche Normalität interpretiert werden. Allerdings ändert dies nichts am Vorrang der klassischen Auslegungsregeln8, an denen daher auch die folgenden Überlegungen orientiert bleiben.



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Siehe oben Kapitel 9 = S. 562. Siehe oben Kapitel 10 = S. 688. 7 Siehe bereits oben Einleitung II. = S. 72. 8 Zu diesem etwa Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 251.

Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

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1. Normtextbefund Weder die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG vorausgesetzte Existenz von Staat und Staatsgewalt noch der in dieser Verfassungsbestimmung gleichfalls als gegeben unterstellte pouvoir constituant lassen bei reiner Wortlautinterpretation den Schluss zu, dass die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland ganz oder teilweise durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgt wäre9.

a) Kein Rückschluss aus der normtextuell vorausgesetzten Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland auf deren Souveränität Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG setzt normtextuell voraus, dass es überhaupt eine Staatsgewalt und einen diese ausübenden Staat gibt10. Dies steht auch nicht in Widerspruch zu der oben entwickelten These, der zufolge Art. 20 Abs. 2 GG die Ausübung hoheitlicher Macht generell erfasst11. Denn diese Auffassung beruht maßgeblich darauf, dass der Staat vermöge seiner Staatsgewalt mitunter auch die hoheitliche Betätigung nichtstaatlicher Machtträger zulassen kann und dem Grundgesetz zufolge auch diese hoheitliche Betätigung der in Art. 20 Abs. 2 GG verbürgten Volkssouveränität unterfallen soll. Damit ist bei der an früherer Stelle unternommenen Interpretation von Art. 20 Abs. 2 GG das Vorhandensein von Staat und Staatsgewalt ebenfalls als notwendig gegeben unterstellt worden. Außer Frage dürfte fernerhin stehen, dass es sich bei dem in Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG vorausgesetzten Staat und seiner Staatsgewalt in erster Linie um die Bundesrepublik Deutschland und dessen Hoheitsgewalt handelt. Schließlich gilt das Grundgesetz ausweislich seiner Überschrift ‚für die Bundesrepublik Deutschland‘12 und handelt es sich bei dieser – wie sich aus dem der Grundgesetzbestimmung über die Volkssouveränität unmittelbar vorausgehenden Absatz ergibt – um einen Staat. Dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG den Staat Bundesrepublik Deutschland samt seiner Staatsgewalt als existent voraussetzt, sagt nun freilich noch nichts über dessen 9 So auch Murswiek, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Präambel Rn.  243: „Das Prinzip der souveränen Staatlichkeit ist im Grund­ gesetz nicht expressis verbis normiert worden.“ Ähnlich, allerdings normtextuell ausgehend von Art. 79 Abs. 3 GG auch Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grund­ gesetzes, in: Bender u. a. (Hrsg.), Festschrift für Redeker, 1993, S. 131 (135). 10 Vgl. insofern auch Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Staat 1993, S.161 (162); ders., Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999, S. 36; Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 185 f. Saalfrank, Funktionen und Befugnisse des Europäischen Parlaments, 1995, S. 171. 11 Siehe oben Kapitel 9 IV. 2. c) = S. 591. 12 Zur Bedeutung dieser Überschrift Murswiek, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Stand: September 2007, Überschrift Rn. 1 ff.

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Souveränität aus13. Denn seinem Wortlaut nach bestimmt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nur eine einzige Eigenschaft, die der grundgesetzlich verfasste und mit Hoheitsmacht ausgestattete Staat Bundesrepublik Deutschland erfüllen muss: Er soll in dem Sinne demokratisch sein, dass er die Anforderungen der demokratiezentralen Volkssouveränität erfüllt. Die Eigenschaft, normativ und normaliter als oberster Normsetzer zu fungieren und das gebietsuniversale Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt innezuhaben14, gehört hingegen nicht zu den in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG bereits normtextuell angelegten Charaktermerkmalen der Bundesrepublik. Dies lässt sich insbesondere auch aus den Begriffen Staatsgewalt beziehungsweise Staat nicht herleiten15. Wie nicht zuletzt der Blick auf die deutschen Bundesländer lehrt16, sind Staat und Staatsgewalt nicht notwendig mit Souveränität gleichzusetzen17. Festzuhalten bleibt daher, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG seinem bloßen Wortlaut nach zwar die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland voraussetzt, nicht aber ihre Souveränität.

b) Kein Rückschluss aus dem normtextuell verbürgten pouvoir constituant auf eine immerhin teilweise Verbürgung der Souveränität Deutschlands Wie so eben dargelegt, bezieht sich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zunächst und zuvörderst auf die Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland. Diese wird als existent vorausgesetzt. Nun wäre die Staatsgewalt keine Staatsgewalt, wenn sie sich nicht zumindest partiell selbst organisieren und (auto-)limitieren könnte18. Denn würde

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Anderer Ansicht Storost, „… dem Frieden der Welt zu dienen“, in: Festschrift für Quaritsch, 2000, S.  31 (34 ff.); Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 567 (588 f.); Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 41; Huber, Maastricht – ein Staatsstreich?, 1993, S. 22; Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. / Schäfer / Tietmeyer, Europa als politische Idee und als recht­liche Form, 2. Aufl. 1994, S, 63 (96 f.); ders., Die Identität der Verfassung, in: Isensee / ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 71. 14 Also souverän zu sein – hierzu oben zusammenfassend Kapitel 7 III. = S. 542. 15 In diesem Sinne auch Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, in: Staat 2002, S. 331 (334). 16 Siehe hierzu auch Dorau (Fn. 10), S. 186 sowie Isensee (Fn. 10), S. 577. 17 In diesem Sinne auch Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Staat 1993, S. 191 (201). Zur Staatlichkeit der Länder nur Siekmann, Staat und Staatlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Burmeister (Hrsg.), Festschrift für Stern, 1997, S. 342 (351 f.). 18 So manifestiert sich etwa auch die Staatsgewalt der wohlgemerkt nicht souveränen Länder der Bundesrepublik Deutschland in der Fähigkeit, sich in einer Verfassung selbst zu organisieren und zu beschränken – vgl. etwa Löwer, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 28 Rn. 2.

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die Ausübung der Staatsgewalt vollends von einer staatsexternen Macht heteronom reguliert, entfiele sowohl die Staatlichkeit als auch die originäre Staatsgewalt. Aus diesem Grund nimmt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn er von der Staatsgewalt spricht, immer auch die der Bundesrepublik Deutschland zu­stehende verfassunggebende Gewalt in Bezug und setzt speziell auch diese als vorhanden voraus19. Nicht überzeugend ist die Gegenauffassung20, wonach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Staatsgewalt nur als verfasste Gewalt thematisiere, der pouvoir constituant hingegen lediglich in der Präambel und Art. 146 GG angesprochen werde. Insbesondere zwingt Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nicht zu der Annahme, dass die von ihm in Bezug genommene Staatsgewalt nur als pouvoir constitué begriffen werden könne. Denn selbstverständlich kann auch der pouvoir constituant nur über Wahlen und Abstimmungen ins Werk gesetzt werden21. Dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine verfassungsrechtliche Aussage über die Art und Weise der Ausübung des pouvoir constituant trifft, beraubt diesen ebenso wenig seiner prä- und suprakonstitutionellen Wesensnatur, wie wenn er in der Präambel oder in Art. 146 GG normativ in Bezug genommen wird. Setzt Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG demnach voraus, dass die Bundesrepublik Deutschland einen pouvoir constituant aufweist, so könnte dies zumindest auf den ersten Blick den Schluss nahelegen, dass diese Verfassungsbestimmung immerhin in einem wesentlichen Teilaspekt an die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland anknüpft22. Denn wie im allgemeinen Teil  dargelegt wurde, kann überhaupt nur der Staat souverän sein, dem ein pouvoir constituant zukommt23. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass pouvoir constituant nicht gleich pouvoir constituant ist. Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung von Staatssouveränität ist das Innehaben des pouvoir constituant verstanden als höchste Normsetzungsgewalt auf einem Staatsgebiet. Darunter ist jene urtümliche, bindungslose verfassunggebende Gewalt zu verstehen, die auch der Verfassungs­ theorie des Abbé Sieyès24 zugrundeliegt und danach dem Staatsverbandsvolk zusteht25. Von verfassunggebender Gewalt kann freilich auch dann die Rede sein, wenn diese nicht die höchste staatsgebietlich wirksame Normsetzungsgewalt ist. So steht etwa den Bundesländern von Grundgesetzes wegen eine verfassung­

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Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rn. 27. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (D) Rn. 86. 21 Vgl. etwa Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 6 I 1, der auf die Möglichkeiten des Verfassungsreferendums beziehungsweise der verfassunggebenden Versammlung verweist. 22 In diese Richtung etwa Murswiek (Fn. 10), S. 162 f. 23 Oben Kapitel 7 II. 1. a) = S. 522. 24 Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État (Champion [Hrsg.]), 1888, S. 64 ff. (Chapitre V); vgl. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 26 ff. 25 Die Lehre vom pouvoir constituant ist eines der wenigen Beispiele für die Rezeption französischen Verfassungsdenkens durch die deutsche Staatsrechtslehre – siehe Arnold, Das französische Verfassungsrecht in der deutschen Rechtswissenschaft, in: Beaud / Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtwissenschaft?, 1999, S. 237 (243 f.).

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gebende Gewalt zu26. Sie besteht allerdings nur im Rahmen des Bundesstaats und dessen vorrangiger Verfassungs- und Rechtsordnung27: Namentlich aus Art.  28 Abs.  1  GG erschließt sich, dass die verfassunggebende Gewalt der Länder mitnichten die höchste Normsetzungsgewalt auf ihrem Territorium darstellt28. Damit stellt sich die Frage, welcher Typus von verfassunggebender Gewalt in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG dem bloßen Wortlaut nach vorausgesetzt wird. Normtextueller Anknüpfungspunkt dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG über einen pouvoir constituant verfügen muss, ist der nicht näher präzisierte Terminus der Staatsgewalt. Ob diese Staatsgewalt und mithin auch der von ihr umfasste pouvoir constituant die auf dem Bundesgebiet höchste Macht ist, lässt sich dem Normtext indes gerade nicht entnehmen. Folglich setzt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG seinem Wortlaut nach nicht notwendig einen ­pouvoir constituant voraus, wie er für die Staatssouveränität konstitutiv ist.

2. Die Staatssouveränität als conditio sine qua non der grundgesetzlich in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Volkssouveränität Auch wenn sich den fünf Worten, aus denen sich Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zusammensetzt, bei reiner Wortlautinterpretation keine Aussage zur Staatssouveränität im Allgemeinen und der der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen entnehmen lässt, so heißt dies nicht, dass der Normtext insofern stumm wäre. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in notwendig abstrakter und konzentrierter Form eine politische Struktur normiert, der eine komplexe Normativität, eine nicht minder ausdifferenzierte Normalität zugrundeliegt und die überhaupt erst in Ansehung dieser vorpositiven Determinanten vollends Gestalt anzunehmen vermag29. Daher trifft Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn er den Ausgang aller Staatsgewalt vom Volk postuliert, immer auch die Aussage, dass Volkssouveränität gelten soll – und zwar insoweit als ihre in Normativität und Normalität erwachsene Strukturgestalt als vom Grundgesetz rezipiert angesehen werden kann. Folglich lassen sich aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG durchaus auch solche Regelungsinhalte ableiten, die bei einer nur vordergründig normtextorientierten Auslegung verborgen bleiben müssen30.

26 Löwer (Fn. 18), Rn. 5 und Denninger, Staatsrecht 2, 1979, S. 95; vgl. auch Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 167 und Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (360). 27 Vgl. dazu die Grundsatznorm des Art. 31 GG (zu dieser nur Gubelt, in: v. Münch / Kunig [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 31 Rn. 1). 28 Vogel, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Benda / Maihofer / ders. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1994, § 22 Rn. 32 f. 29 Siehe dazu im Einzelnen oben Teil IV = S. 544. 30 Zum hohen Abstraktionsgrad der grundgesetzlichen Demokratieverbürgung des Art.  20 Abs. 2 Satz 1  GG siehe etwa auch Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen

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Im Allgemeinen Teil ist entwickelt worden, dass und weshalb Volkssouveränität Staatssouveränität voraussetzt, diese beiden Strukturen folglich teilidentisch sind: Volkssouveränität kann sich nur dort Bahn brechen, wo eine staatliche Gebietsordnungsgewalt – vermöge ihrer gebietsuniversal höchsten Normsetzungsgewalt und des bei ihr lokalisierten Monopols physischer Zwangsgewalt – sicherstellt, dass sich der demokratische Volkswille im Regelfall gegen die von innen und außen auf das gebietsgesellschaftliche Zusammenleben einwirkenden sozialen Mächte durchsetzt31. Die Staatssouveränität ist mit anderen Worten conditio sine qua non von Volkssouveränität. Anknüpfend an diese staatstheoretische Einsicht soll im Folgenden zunächst begründet werden, dass die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm eine Strukturnorm der Staatssouveränität entbindet32. Im Weiteren ist darzulegen, weshalb diese Strukturnorm jedenfalls gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundes­republik Deutschland verbürgt.

a) Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als normative Verbürgung von Staatssouveränität Dem Normtext des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG lässt sich nichts entnehmen, was den Eindruck erwecken könnte, dass er die angesprochene basale Rückgebundenheit der Volks- an die Staatssouveränität in Abrede stellen wollte. Doch entbindet Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht allein schon deshalb eine Strukturnorm der Staatssouveränität, durch die die Verankerung der obersten Normsetzungsgewalt sowie die Monopolisierung physischer Zwangsgewalt beim Staat zum Verfassungsgebot avancieren. Denn schließlich ist Regelungsgegenstand des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG zunächst und zuvörderst die Volkssouveränität, und zwar verstanden als Gebot der Rückkoppelung aller Hoheitsgewalt an das Volk. Die so konturierte Volkssouveränität setzt nun zwar aus den staatstheoretisch dargelegten Gründen das Vorhanden-Sein von Staatssouveränität faktisch voraus. Von einem solchen Faktum kann aber normwissenschaftlich nicht ohne Weiteres, unvermittelt, auf ein verfassungsrechtliches Sollen geschlossen werden33. Dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Staatssouveränität zum grundgesetzlichen Postulat erhebt, lässt sich normwissenschaftlich korrekt nur durch das  – wohl­ Selbstverwaltung, 1991, S. 39; allgemein zu den lapidaren und voraussetzungsvollen Formulierungen der Verfassungsgrundsätze auch Badura, Verfassungsänderung, -wandel, -gewohnheitsrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 160 Rn. 8. 31 Siehe oben Kapitel 7 I. 1. = S. 514. 32 Dagegen plädiert beispielsweise Meessen, Maastricht nach Karlsruhe, in: NJW 1994, S.  549 (552) für eine Dissoziierung von Demokratieprinzip und dem Grundsatz souveräner Staatlichkeit. 33 Dazu etwa oben Vorbemerkung zu Teil IV = S. 544.

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gemerkt zum klassischen Auslegungskanon gehörende34 – teleologische Interpretationselement begründen. In der Tat läuft es dem Sinn und Zweck von Art.  20 Abs. 2 Satz 1 GG zuwider, wenn er dahingehend ausgelegt wird, dass zwar die demokratische Zurechnungsstruktur, nicht aber die für sie fundamentale Staatssouveränität gewährleistet ist. Denn in diesem Fall wäre die Verbürgung der demokratischen Zurechnungsstruktur potenziell leerlaufend. Zwar ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass alle faktischen Realisierungsvoraussetzungen verfassungsrechtlicher Normen an der positivrechtlichen Geltung dieser Verfassungs­ bestimmungen partizipieren35. Vorliegend freilich handelt es sich um eine solche Realisierungsvoraussetzung, die erstens normativ klar konturiert ist, sich zweitens in zumindest staatstheoretischer Perspektive als mit dem primären Regelungs­ inhalt teilidentisch darstellt und drittens für die Normentfaltung schlechthin, nämlich immer und überall, konstitutiv ist. Vor diesem spezifischen Hintergrund ist es überzeugend, aus Art. 20 Abs. 2 GG nicht nur das Gebot einer demokratischen Zurechnungsstruktur, sondern auch das der Staatssouveränität abzuleiten.

b) Die Staatssouveränität der Bundesrepublik Deutschland als zumindest gegenwärtiger Regelungsinhalt von Art. 20 Abs. 2 GG Mit den vorstehenden Erwägungen ist nun freilich nur begründet, dass die Staatssouveränität als solche zu den Regelungsinhalten des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG rechnet. Der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm kann mit anderen Worten zwar entnommen werden, dass die Struktur der Staatssouveränität zu wahren und zu achten ist. Hingegen lassen die bislang angestellten teleologischen Überlegungen, für sich betrachtet, noch nicht den Rückschluss zu, dass speziell die Staats­souveränität der Bundesrepublik Deutschland geschützt sein muss. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die in Normativität und Normalität angelegte, grundgesetzlich rezipierte Rückverwiesenheit der Volks- auf die Staatssouveränität nicht bedeutet, dass notwendig diejenige Gebietskörperschaft die Eigenschaft der Staatssouveränität aufweisen muss, hinsichtlich derer die Volkssouveränität konkret Geltung beansprucht und das Gebot einer demokratischen Zurechnungsstruktur formuliert36. Vielmehr kann die Stabilität und Kontinuität der in einem bestimmten Gebietsverband realisierten Volkssouveränität auch durch eine außerhalb dieser Gebietskörperschaft angesiedelte Gebietsordnungsgewalt gewährleistet werden. Aus der Verschränkung von Volks- und Staatssouveränität ergibt sich ebenfalls nur, dass diese oberste Gebietsordnungsgewalt in demokra­ tischer Weise auch auf die Angehörigen des Personenverbands zurückführen muss,

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Hierzu nur Zippelius / Würtenberger (Fn. 21), § 56 7 I 1 d). Dazu auch Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 46 f. 36 So verbürgt ja auch der mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG nahezu wortlautidentische Art. 25 Abs. 1 Satz 1 und 2 LV BW anerkanntermaßen nicht die Souveränität Baden-Württembergs.

Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

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auf den sich die Volkssouveränitätsnorm konkret bezieht. Beispielhaft hierfür ist erneut die bundesstaatliche Demokratie, in der im Rahmen der Landesvolks­ verbände Volkssouveränität praktiziert wird37, deren Funktionsfähigkeit ihrerseits durch die Souveränität des Bundesstaats gewährleistet wird38, wobei die Angehörigen der Landesvolksverbände am bundesstaatlichen pouvoir constituant demokratisch teilhaben39. Dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zumindest gegenwärtig die Staatssouveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland mitnormiert40, erschließt sich nach allem nicht schon per se aus der im staatstheoretischen Teil sorgsam erschlossenen und soeben in normwissenschaftlicher Perspektive auch für das Grundgesetz bestätigten Teilidentität von Volks- und Staatssouveränität. Um dies zu begründen, muss man vielmehr den Blick heben und die durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Strukturnorm der Staatssouveränität von der außerverfassungsrechtlichen, nämlich völkerrechtlichen Normativität und der machtpolitischen Normalität her ausdeuten41. In dieser Perspektive offenbart sich nämlich rasch, dass es nach der gegenwärtigen völkerrechtlichen und machtpolitischen Lage durchaus die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland ist, die die von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zunächst und zuvörderst verbürgte Zurechenbarkeit deutscher Staatsgewalt zum demos sicherstellt. Diese außerverfassungsrechtliche Normativität und politische Normalität müssen bei der Konkretisierung der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Staatssouveränität deshalb berücksichtigt werden, weil sie andernfalls als Strukturnorm sinnlos wäre. Denn als für die Volkssouveränität konstitutive Struktur lässt sich die Staatssouveränität überhaupt nur dann achten und schützen, wenn sie der Totalität politischer Wirklichkeit eingeschrieben und dort diagnostizierbar ist. Wie schon die These, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Staatssouveränität verbürgt, beruht somit auch die Auffassung, dass die Verfassungsbestimmung zumindest gegenwärtig die Staatssouveränität der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet, auf einer letztlich teleologischen Erwägung: Ebenso wie es dem Sinn und Zweck der Volkssouveränität zuwiderliefe, wenn sie nicht auch die für sie fundamentale Staatssouveränität mitnormierte42, erweist es sich als teleologisch geboten, die durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG mitnormierte Staatssouveränität in Anschauung

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38

Vgl. dazu nur die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Dabei braucht hier der – unfruchtbaren (so auch Bothe, in: Azzola u. a. [Bearb.], Grundgesetz. Alternativkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3 I Rn. 22 sowie ­Denninger [Fn. 26], S. 101) – Frage nicht nachgegangen zu werden, ob die Souveränität nun beim Gesamtstaat oder beim Bund zu verorten ist (zu den verschiedenen Bundesstaatstheorien vgl. nur Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, § 86). 39 Hierzu instruktiv Fleiner / Fleiner, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, S. 548 f. 40 Insofern zutreffend Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, in: EuGRZ 1992, S. 589 (590). 41 In diese Richtung auch Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, S. 364 ff. 42 Siehe dazu eingehend oben Kapitel 7 II. = S. 520.

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der völkerrechtlichen und machtpolitischen Lage zu deuten. Denn Strukturnormen ohne Anschauung sind leer und tragen juristisch nichts aus. Dass die Inbezugnahme der außerverfassungsrechtlichen Normativität und politischen Normalität teleologisch vermittelt erfolgt, ist auch deshalb zu betonen, weil der Eindruck zu vermeiden ist, die in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG mitnormierte Staatssouveränität werde allein durch außerverfassungsrechtliche Faktoren determiniert. Tatsächlich nämlich verhält es sich genau andersherum: Die außer­ verfassungsrechtlichen Faktoren sind nur insofern maßgeblich und beachtlich, wie dies dem normativen Eigen-Sinn43 der durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG mit verbürgten Staatssouveränität entspricht. Selbstverständlich sind daher etwa Entwicklungen in der politischen Normalität, die zu einem Souveränitätsverlust Deutschlands zu führen drohen, von verfassungsrechtlicher Warte aus betrachtet als Bruch des Grundgesetzes zu bewerten, wenn und soweit sich die im Entstehen be­griffene Normalität als aus Sicht der grundgesetzlichen Staatssouveränitätsnorm widersinnig erweist.

3. Grundgesetzsystematische Erwägungen Die in vornehmlich teleologischer Perspektive entwickelte These, dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine Strukturnorm der Staatssouveränität entbindet und jedenfalls gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland verbürgt, lässt sich in grundgesetzsystematischer Hinsicht weiter erhärten. Denn im Grundgesetz findet sich noch eine Reihe weiterer Normen, die jedenfalls in ihrer Gesamtheit auf eine entsprechende Strukturnorm der Staatssouveränität schließen lassen. Insofern zeigt sich, dass dem Grundgesetz die normative Kategorie der Staatssouveränität keineswegs fremd ist und die hier vorgeschlagene Kon­ kretisierung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine dem grundgesetzlichen Kontext gemäße ist.

a) Art. 59 Abs. 1 sowie Art. 32 Abs. 1 und 2 GG Die Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG knüpften dann an einen wesentlichen Aspekt von Staatssouveränität an, wenn sich aus diesen Bestimmungen ableiten ließe, dass sich die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu auswärtigen Staaten jedenfalls im Prinzip ausschließlich nach völkerrechtlichem Koordinationsrecht gestalten; in diesem Fall nämlich würde die Bundesrepublik Deutschland als nach außen rechtlich unabhängiger und völkerrechtsunmittel­ barer Staat vorausgesetzt. Die rechtliche Unabhängigkeit nach außen und die Völkerrechtsunmittelbarkeit freilich sind wesentliche Elemente souveräner Staatlich

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Dazu auch schon oben Kapitel 2 II. 2. c) aa) = S. 145.

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keit44. Denn dass erstens ein Staat prinzipiell nur solchen Bindungen unterworfen ist, denen er zumindest stillschweigend zugestimmt hat und von denen er sich nach Maßgabe des Völkerrechts gegebenenfalls auch wieder lösen kann, und dass zweitens das Völkerrecht gerade einen ansonsten rechtlich ungebundenen Staat originär adressiert und in die Pflicht nimmt, ist beides Ausdruck und Ausfluss seiner Staatssouveränität. Schließlich kann nur ein souveräner Staat, mithin also ein Staat, dem die gebietsuniversal höchste Rechtsmacht und das Monopol legitimer physischer Zwangsgewalt zukommt, für sich in Anspruch nehmen, anderen souveränen Staaten von gleich zu gleich zu begegnen, und kann auch nur von einem solchen Staat die gebietsuniversale Durchsetzung des Völkerrechts erwartet werden. Insoweit stellen sich rechtliche Unabhängigkeit nach außen und Völkerrechtsunmittelbarkeit in der Tat als wesentlicher Aspekt von Staatssouveränität dar. Dies lässt sich zusätzlich noch durch den Hinweis illustrieren, dass rechtliche Unabhängigkeit nach außen und Völkerrechtsunmittelbarkeit herkömmlich unter den freilich nicht sonderlich glücklichen Begriff der äußeren Staatssouveränität45 subsumiert werden46. Der bloße Wortlaut der Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG lässt nun freilich noch nicht den Schluss zu, dass sich die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu auswärtigen Staaten im Prinzip ausschließlich nach völkerrechtlichem Koordinationsrecht gestalten, die Bundesrepublik Deutschland mithin als nach außen unabhängiger, völkerrechtsunmittelbarer Staat vorausgesetzt wird47. Denn Art. 59 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG ergeben durchaus auch im Hinblick auf einen Staat Sinn, der nach außen rechtlich abhängig und insofern auch nicht völkerrechtsunmittelbar ist. So können anerkanntermaßen auch nicht souveräne Staaten nach Maßgabe staatsrechtlicher Kompetenzzuweisungen über eine immerhin partielle (und potenzielle48) Völkerrechtsubjektivität verfügen und insofern völkerrechtliche Beziehungen zu auswärtigen Staaten aufnehmen49. In seinem Art.  32 Abs. 3 GG geht das Grundgesetz sogar selbst von dieser Möglichkeit aus – nämlich hinsichtlich der Bundesländer50. Vor diesem Hintergrund lässt der reine Normtext der Art. 59 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG in der Tat keinerlei Rückschlüsse auf die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland zu. Im Weiteren ist nun freilich zu berücksichtigen, dass auch die bloß partielle und potenzielle Völkerrechtssubjektivität eines Gliedstaats nur begreifbar ist, wenn man die für souveräne Staaten charakteristische rechtliche Unabhängigkeit und 44 Dazu nur Gading, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maß­ nahmen des Sicherheitsrates – das Ende staatlicher Souveränität?, 1996, S. 185. 45 Zu diesem Begriff bereits oben Kapitel 7 II. 4. = S. 540. 46 Epping, Völkerrechtssubjekte, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 5 Rn. 8. 47 Anderer Ansicht Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, 1998, S. 160. 48 Fassbender, Der offene Bundesstaat, 2007, S. 453. 49 Siehe Epping (Fn. 46), § 5 Rn. 26. 50 Vgl. Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 117; Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 7. Aufl. 2006, Art. 32 Rn. 11.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Völkerrechtsunmittelbarkeit mitbedenkt  – in diesem Fall die des Mutterstaats. Denn seine partielle (und potenzielle) Völkerrechtssubjektivität wird dem Gliedstaat durch den nach außen rechtlich unabhängigen und völkerrechtsunmittel­baren Mutterstaat überhaupt erst eingeräumt51 und kann von ihm auch revoziert werden52. Verliert der Mutterstaat seine rechtliche Unabhängigkeit nach außen und seine Völkerrechtsunmittelbarkeit, so bleibt die partielle und potenzielle Völkerrechtssubjektivität des Gliedstaats nur erhalten, wenn sie vom neuen Souverän anerkannt wird. In dieser Perspektive erhellt, dass die in Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs.  1 und 2  GG vorausgesetzte Völkerrechtssubjektivität nicht zu denken ist, wenn man sie von der Existenz eines nach außen rechtlich unabhängigen und insoweit völkerrechtsunmittelbaren Staates völlig abstrahiert, mithin also einen wesentlichen Teilaspekt von souveräner Staatlichkeit ignoriert. Dies lässt den teleologischen Schluss zu, dass Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs. 1 und 2  GG  – zumindest in Zusammenschau mit den im Folgenden noch zu besprechenden Verfassungsbestimmungen – eine Staatsstrukturnorm der Staatssouveränität entbinden. Zwar setzen Art.  59 Abs.  1 sowie 32 Abs.  1 und 2  GG die Staatssouveränität lediglich voraus, und dies auch nur in einem, wenngleich wesentlichen, Teilaspekt. Doch auch wenn nicht jede Realisierungsvoraussetzung einer verfassungsrechtlichen Bestimmung an deren positivrechtlicher Geltung teilhat53, wird man für die hiesige Konstellation doch zu dem Schluss gelangen können, dass Art.  59 Abs.  1 sowie 32 Abs.  1 und 2  GG  – in Kombination mit den übrigen erwähnten und noch zu besprechenden Verfassungsbestimmungen – eine Strukturnorm der Staatssouveränität gewährleisten. Hierfür spricht, dass die Staatssouveränität, wie bereits erwähnt54, normativ klar umreißbar, für die Anwendbarkeit von Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG schlechthin konstitutiv und, wie zu zeigen sein wird, auch in Hinblick auf andere Normen als unabdingbare Realisierungsvoraussetzung anzusehen ist. Damit bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die von Art.  59 Abs.  1 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG mit ausgeprägte Strukturnorm der Staatssouveränität zumindest gegenwärtig die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland verbürgt. Denn die Strukturnorm der Staatssouveränität kann, wie gleichfalls schon dargelegt55, ihre steuernde Funktion nur in Anschauung der Totalität politischer Wirklichkeit entfalten. Diese aber weist die in Hinblick auf Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG fundamentale Staatssouveränität gegenwärtig der Bundesrepublik Deutschland zu.

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Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 32 Rn. 7; auch Schweitzer (Fn.  50), Rn.  112 ff.; anderer Ansicht hingegen Kempen, in: v. Mangoldt /  Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 32 Rn. 9. 52 Wird diese Revokation von anderen Staaten nicht respektiert, so verletzt dies das Interventionsverbot (zu diesem Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2007, § 35). 53 Dazu oben Einleitung II. = S. 72. 54 Oben Kapitel 14 I. 2. a) = S. 1225. 55 Siehe oben Kapitel 14 I. 2. b) = S. 1226.

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b) Art. 146 GG Aus Art. 146 GG ergibt sich, dass der pouvoir constituant des wiedervereinigten Deutschen Volks jederzeit zum Zwecke der Verfassungsneuschöpfung aktiviert werden kann56. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass Art. 146 GG alter Fassung, der die Aktivierbarkeit des pouvoir constituant unstreitig normierte, durch die Wiedervereinigung obsolet geworden wäre57 und Art.  146  GG neuer Fassung als Werk des verfassungsändernden Gesetzgebers normative Aussagen allenfalls über den durch Art. 79 GG, also insbesondere auch durch die Ewigkeitsklausel beschränkten pouvoir constituant constitué treffen könnte58. Denn da sich die Wiedervereinigung nach Maßgabe von Art. 23 GG alter Fassung vollzogen hat und dies schon aus grundgesetzsystematischen Gründen59 nicht als gesamtdeutsche Verfassunggebung im Sinne von Art. 146 GG alter Fassung gewertet werden kann60, hat sich allein durch den Beitritt der DDR zum Grundgesetz der Regelungsgehalt von Art. 146 alter Fassung GG keineswegs erledigt61. 56 Wie hier Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, in: Grawert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Böckenförde, 1995, S. 29 (43 ff.); Schilling, Die deutsche Verfassung und die europäische Vereinigung, in: AöR 1991, S.  32 (68 f.); Moelle, Der Verfassungsbeschluß nach Artikel 146 GG, 1996, S. 107 ff.; Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in: StWiss 1995, S, 155 (159); grundsätzlich anderer Auffassung Isensee, Am Ende der Demokratie – oder am Anfang?, 1995, S. 28 ff.; ders., Schlußbestimmung des Grundgesetzes: Artikel 46, in: ders. / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 166 Rn. 61; Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, S. 417; v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 146 Rn. 18. 57 So aber beispielsweise Würtenberger, Art. 146 GG n. F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 1, 1991, S. 95 (99), Murswiek (Fn. 9), Rn. 171, v. Münch, Staatsrecht I. 6. Aufl. 2000, Rn. 109, Kirchhof (Fn. 13), Rn.  58, Huba, Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung, in: Staat 1991, S.  367 ff., Leder, Verfassungsrecht  – Sprache  – Verfassungspolitik, in: Gabriel u. a. (Hrsg.), Festschrift für Buchheim, 1992, S. 211 (222 ff.), Speckmaier, in: Umbach / Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, 2002, Bd. 2, Art. 146 Rn. 20 und Isensee, Das Grundgesetz zwischen Endgültigkeitsanspruch und Ablösungsklausel, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 1, 1991, S. 63 (75 f.). Im Ergebnis wie hier Merkel, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1996, S. 33 ff.; Moelle (Fn. 56), S. 164 ff., Stückrath, Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997, S.  180 ff. und Wiederin, Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland, in: AöR1992, 410 (417 ff.). 58 So indes zum Beispiel Kirchhof (Fn. 13), S. 76 ff. und Isensee (Fn. 13), S. 590. Im Ergebnis wie hier Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 57 ff. und Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, 1996, S. 220 f. 59 Dazu zutreffend Merkel (Fn. 57), S. 33 ff. und Moelle (Fn. 56), S. 34 f. 60 Dazu eingehend Moelle (Fn. 56), S. 155 ff.; siehe auch Heckmann, Das Unvollkommenplebiszitäre Element“ des Art.  146  GG, in: Borgmann u. a. (Hrsg.), Verfassungsreform und Grundgesetz, 1992, S. 9 (15). 61 So aber die wohl herrschende Meinung  – vgl. nur Kirn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2003, Art. 146 Rn. 4 sowie Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grund-

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Daran, dass dem Grundgesetz zufolge das Deutsche Volk seinen pouvoir c­ onstituant aktivieren kann, hat des Weiteren auch der vom verfassungsändernden Gesetzgeber in Art. 146 GG alter Fassung eingefügte Relativsatz nichts geändert62. Denn abgesehen davon, dass sich dieser als ein informationshalber nachgetragenes historisches Update ohne jegliche normative Relevanz liest63, wäre der verfassungsändernde Gesetzgeber auch gar nicht kompetent gewesen, die vom pouvoir constituant getroffene Entscheidung über seine Aktivierbarkeit zu revidieren64. Denn schließlich liegt die Pointe der vom Grundgesetz positivrechtlich rezipierten Unterscheidung von verfassunggebender Gewalt und verfassten Gewalten65 verfassungstheoretisch gerade darin, dass die pouvoirs constitués als vom pouvoir constituant verfasst begriffen werden66. Mit dem Abbé Sieyès67 macht sich das Grundgesetz die Fiktion zu Eigen, der pouvoir constituant habe die pouvoirs constitués als kompetenziell limitierte Träger hoheitlicher Gewalt überhaupt erst erzeugt68. Dann aber vermag der zum pouvoir constitué rechnende verfassungsändernde Gesetzgeber jedenfalls nicht solche Verfassungsbestimmungen zu streichen oder sonst im Kern abzuändern, mit denen der pouvoir constituant originaire den pouvoir constituant constitué gerade beschränken wollte69. Kurzum: Der pouvoir constituant constitué hat Hoheitsmacht nur innerhalb der ihm vom pouvoir constituant originaire normativ gesetzten Grenzen, nicht über sie. Bei Art. 146 GG freilich handelt es sich um eine solche den verfassungsändernden Gesetzgeber limitierende Bestimmung. Denn darin hat der ursprüngliche Verfassunggeber normativ zum Ausdruck gebracht, dass die dem pouvoir constituant constitué zugewiesene Befugnis zur Verfassungsänderung dadurch überlagert und begrenzt wird, dass sich der pouvoir constituant die Macht zur grundgesetzlegalen Verfassungsneuschöpfung vorbehält70. Dem pouvoir constituant constitué war und ist es folggesetz, 7. Aufl. 2007, § 146 Rn. 6 f. Wie hier Hesse, Verfassungsentwicklung, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 3 Rn. 17: „Das Grundgesetz ist zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland geworden, wenn auch unter dem Vorbehalt ihrer Ablösung durch eine Verfassung, ‚die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist‘ (Art. 146 GG).“ 62 Anders Leder (Fn. 57), S. 222 ff. und Lerche (Fn. 9), S. 146; wie hier Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, in: StWiss 1990, S. 468 (476). 63 Enders (Fn. 56), S. 45: „Klarstellung“; anderer Ansicht freilich Isensee (Fn. 57), S. 83. 64 In diesem Sinne auch Wegge (Fn. 58), S. 224; ferner Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 33. 65 Vgl. Bryde, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.  3, 4./5. Aufl. 2003, Art. 79 Rn. 3 f. 66 Grundsätzlich anderer Auffassung Wiederin (Fn. 57), S. 413 ff. 67 Vgl. Sieyès (Fn. 24), S. 7 f. (Chapitre V). 68 Insoweit zutreffend Huber, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 7.  Aufl. 2007, Präambel Rn. 25. 69 Sieyès (Fn. 24), S. 67 (Chapitre V): „Aucune sorte de pouvoir délégué ne peut rien changer aux conditions de sa délégation.“ 70 Nicht anders als Art. 79 Abs. 3 GG begreift sich Art. 146 GG als negative Kompetenzbestimmung für den verfassungsändernden Gesetzgeber. Vgl. auch Würtenberger (Fn.  57), S. 100.

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lich verwehrt, den seine Befugnisse limitierenden Vorbehalt des Art. 146 GG einfach zu eliminieren und sich dadurch gewissermaßen selbst zu perpetuieren71. Denn damit würde er über die ihm vom pouvoir constituant originaire gesetzten Kompetenzgrenzen verfügen und sich damit eine Befugnis anmaßen, die ihm nach dem Grundgesetz nicht zukommt72. Nach zutreffender Auffassung normiert der gegenwärtig gültige Art.  146  GG demnach, dass die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volks jederzeit zum Zwecke der Verfasssungsneuschöpfung aktiviert werden kann73. Daran knüpft sich im hier interessierenden Zusammenhang die Frage an, was unter dem Deutschen Volk zu verstehen ist, dessen vom Grundgesetz als existent vorausgesetzter pouvoir constituant grundgesetzlegal aktiviert werden kann. Richtigerweise wird man diesen unbestimmten Verfassungsrechtsbegriff dahingehend konkretisieren müssen, dass er den deutschen Staatsvolksverband, also die staatlich verfasste Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen und Statusdeutschen in Bezug nimmt74. Dies erschließt sich zum einen aus Art. 116 Abs. 1 GG75, der es systematisch nahelegt, das Deutsche Volk in personeller Hinsicht als Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen sowie der Statusdeutschen zu interpretieren. Zum anderen ist auf die alte wie auch auf die neue Fassung der Präambel zu verweisen, wo das die verfassunggebende Gewalt ausübende Deutsche Volk als ein Personenverband charakterisiert wird, der wesensmäßig auf die Wahrung seiner staatlichen Einheit ausgerichtet ist76 beziehungsweise seine staatliche Einheit vollendet hat77. Vor diesem Hintergrund lässt sich in der Tat festhalten, dass Subjekt des in Art. 146 GG als existent vorausgesetzten pouvoir constituant das Staatsverbandsvolk der deutschen Staatsangehörigen und Statusdeutschen ist. Dies wiederum bedeutet, dass das Grundgesetz in Art.  146  GG davon ausgeht, dass der Staat Bundesrepublik Deutschland über die verfassunggebende Gewalt verfügt. Denn wenn sein Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt figuriert, so bedeutet dies, dass der Staat Bundesrepublik Deutschland, der als Wirkungs- und Entscheidungseinheit dieses deutschen Volks fungiert, über den pouvoir constituant disponieren können muss. Für sich allein betrachtet, lässt dies freilich wiederum nicht den Schluss zu, dass insofern auch die Staatssouveränität der Bundesrepublik Deutschland vor

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Anderer Ansicht Wiederin (Fn. 57), S. 416. Vgl. auch Ströbele, Beschwerdeschrift der GRÜNEN vom 17./22. Dezember 1992, in: Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 77 (96): „Das Parlament, Bundestag und Bundesrat, darf keine Entscheidung treffen, die in die Zuständigkeit der verfassunggebenden Gewalt eingreifen.“ 73 Anderer Ansicht zum Beispiel Huba (Fn. 57), S. 367 ff. 74 So auch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 290 ff. 75 Dazu beispielsweise Hobe, Das Staatsvolk des Grundgesetzes, in: JZ 1994, S. 191 (192). 76 Hierzu etwa Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 6 f. und 48 ff. 77 Dazu pointiert Huber (Fn. 68), Rn. 16 f.

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ausgesetzt wird. Zwar stellt der pouvoir constituant einen wesentlichen Aspekt von Staatssouveränität dar. Doch ist damit allein der pouvoir constituant im Sinne der gebietsuniversal höchsten Normsetzungsgewalt gemeint. Dem entspricht, dass nach herkömmlicher, wenn auch terminologisch nicht ganz überzeugender Auffassung78 die Kompetenz-Kompetenz79 als Wesensmerkmal der sogenannten inneren Staatssouveränität begriffen wird80, die Kompetenz-Kompetenz freilich allein dem als gebietsweit höchste Normsetzungsgewalt verstandenen pouvoir ­constituant zustehen kann. Ob nun allerdings Art. 146 GG gerade einen solchen pouvoir constituant als existent unterstellt, lässt sich bei rein normtextueller Betrachtung gerade nicht erschließen. Er könnte sich bei ausschließlich grammatischer Interpretation auch auf die verfassunggebende Gewalt eines nicht souveränen Staats beziehen. Insofern erweist sich der Wortlaut des Art. 146 GG als ebenso stumm wie der des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Anders verhält es sich allerdings, wenn man das teleologische Argumentationsmuster zugrundelegt, das sich sowohl in Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als auch in Ansehung der Art.  59 Abs.  1 sowie 32 Abs.  1 und 2  GG als ertragreich erwiesen hat. So ist zu berücksichtigen, dass der pouvoir constituant eines nicht souveränen Staates die verfassunggebende Gewalt eines souveränen Staates voraussetzt. Denn nur wenn die gebietsuniversal höchste Normsetzungsgewalt den pouvoir constituant, der selbst nicht höchste Normsetzungsgewalt ist, initial anerkennt und in der Folgezeit auch respektiert, kann dieser in Geltung erwachsen. Hieraus lässt sich zunächst der Schluss ziehen, dass es dem Art. 146 GG zufolge auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland überhaupt einen mit der höchsten Normsetzungsgewalt ausgestatteten pouvoir constituant geben soll und diese Verfassungsbestimmung daher  – jedenfalls zusammen mit den anderen relevanten Normen  – eine Strukturnorm der Staatssouveränität positivrechtlich gewährleistet. Dass insofern der Sache nach von den Realisierungsvoraussetzungen einer verfassungsrechtlichen Bestimmung auf dessen Regelungsgehalt geschlossen wird, ist, wie schon dargetan81, in der hiesigen Konstellation angängig. Schließlich ist der hinreichend klar umrissene, schon durch andere Grund­ gesetzbestimmungen normativ ausgeprägte Tatbestand der Staatssouveränität zumindest für die normative Geltung auch des Art. 146 GG schlechthin konstitutiv. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass in Ansehung der völkerrechtlichen Normativität und der politischen Normalität die in Art. 146 GG mit verbürgte Staatssouveränität nur dann normativ Sinn macht, wenn man sie im Sinne einer Verbürgung der Staatssouveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland liest.

78 Auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 149 f. hält den Begriff der Kompetenz-Kompetenz für missverständlich. 79 Siehe BVerfGE 89, 155 (190 ff.). 80 In diesem Sinne etwa auch Hatje, Artikel ‚Europäische Union, Europäische Gemeinschaften‘, in: Heun, Werner u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 486 (501). 81 Siehe erstmals oben Kapitel 14 I. 2. a) = S. 1225.

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c) Art. 20 Abs. 1 GG Aus Art. 20 Abs. 1 GG ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Gemeinwesen ist, das bestimmte Strukturmerkmale erfüllt, nicht zuletzt das des Staates82. Die Charakterisierung als Staat hat dabei ebenso wenig wie die als republikanisch, demokratisch, sozial oder föderal lediglich deskriptive Bedeutung, sondern besitzt wie alle Artikelbestimmungen des Grundgesetzes einen norma­ tiven Gehalt. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur ein Staat, sondern soll es auch sein. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass die Bundesrepublik zugleich ein souveräner Staat sein soll83. Die Eigenschaft, als gebietsweit oberster Normsetzer zu fungieren und das gebietsuniversale Monopol physischer Zwangsgewalt innezuhaben, gehört in Art. 20 Abs. 1 GG ebenso wenig zu den ausdrücklich normierten Strukturmerkmalen der Bundesrepublik Deutschland wie im Rahmen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Abweichendes ergibt sich insbesondere auch nicht aus der Strukturbestimmung des Bundestaats. Mit ihr verbindet sich, rein semantisch betrachtet, lediglich die normative Aussage, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Staatenverbindung ist, in der erstens nicht nur dem Gesamtstaat, sondern auch den Gliedstaaten Staatsqualität zukommt und sich zweitens die Rechtsbeziehungen zwischen Gesamtstaat sowie Gliedstaaten nicht länger nach Völkerrecht, sondern ausschließlich nach Staatsverfassungsrecht richten84. Dass es sich bei den Gesamtstaaten in praxi typischerweise um souveräne Staaten handelt, erweist sich bei rein grammatischer Auslegung dieser Strukturnorm als eine bloße Koinzidenz, nicht als normatives Postulat. Dafür spricht im Übrigen auch, dass die Bundesstaatsnorm des Art.  20 Abs.  1  GG die staatsrechtlichen Beziehungen innerhalb des föderal gegliederten Gemeinwesens und nicht dessen Beziehung zu auswärtigen Staaten regeln will85. Dementsprechend wäre es mit Art. 20 Abs. 1 GG vom Wortlaut her durchaus vereinbar, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland als ‚Bundesstaat im Bundesstaat‘, nämlich als föderales Glied einer souveränen EU präsentierte. Doch ebenso wie bei den bisher besprochenen Grundgesetzbestimmungen markiert auch im Fall des Art. 20 Abs. 1 GG der Wortlaut lediglich die äußere Grenze, nicht aber das Ende der Interpretation86. Daher kann auch hinsichtlich der zen

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So auch Sachs (Fn. 19), Rn. 7. In diesem Sinne allerdings beispielsweise Hillgruber (Fn.  13), Rn.  41; wie hier Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 59 f. 84 Kritisch hierzu Hain, in: v. Mangoldt / Klein / Starck [Hrsg.], Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 79 Rn. 136. 85 In diese Richtung weist auch die herkömmliche Definition von Bundesstaat, die diesen als „eine durch die Verfassung geformte staatsrechtliche Beziehung von Staaten“ fasst, bei der „die Teilnehmer Staaten bleiben oder sind (Gliedstaaten), aber auch der organisierte Staatenverband selbst (Gesamtstaat) die Qualität eines Staates besitzt“ (Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 644 f.). 86 Zippelius / Würtenberger (Fn. 21), § 7 I 1 a).

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tralen Strukturbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG ein weiteres und letztes Mal auf das teleologische Argumentationsmuster zurückgegriffen werden, das bereits bei den übrigen bislang diskutierten Verfassungsnormen angewandt wurde. In dieser Perspektive ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich auch als nicht souveräner Staat die Strukturgestalt annehmen kann, die ihr Art. 20 Abs. 1 GG ansinnt. So lassen sich etwa bundesstaatliche Verhältnisse auch dann etablieren und erhalten, wenn ein Bundesstaat nicht souverän ist. Voraussetzung ist in diesem Fall nur, dass die souveräne En­ tität hin­reichend Raum lässt für die Schaffung und Bewahrung einer föderalen Organisation innerhalb seiner Glieder, also selbst ein – souveräner – Bundesstaat ist. Entsprechendes gilt für die übrigen Strukturmerkmale. Diese kann auch ein nicht souveräner Staat erfüllen, soweit ihm die souveräne Wirkungs- und Entscheidungseinheit dazu Gelegenheit gibt. Art. 20 Abs. 1 GG lässt sich mithin grundsätzlich auch dann einlösen, wenn die Bundesrepublik Deutschland selbst nicht souverän ist, sondern in einen übernationalstaatlichen souveränen Verband ein­ gebunden ist. Insofern deutet sich freilich auch schon an, dass Art. 20 Abs. 1 GG zwar ohne Staatssouveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland, nicht aber ohne Souveränität überhaupt denkbar ist. Denn es bedeutet nicht nur keinen notwendigen Widerspruch zu den Strukturvorgaben des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn sich eine nicht souveräne Bundesrepublik Deutschland als Teil eines übernationalstaatlichen souveränen Verbands darstellt; die Einbettung in einen souveränen Verband ist zugleich conditio sine qua non für die Realisierung der Strukturvorgaben des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht schon selbst souverän ist. So kann die Bundesrepublik Deutschland überhaupt nur dann als Bundesstaat in Wirklichkeit erwachsen, wenn durch eine souveräne Gewalt sichergestellt wird, dass die bundesstaatliche Ordnung insbesondere auch gegenüber renitenten Gliedstaaten durchgesetzt werden kann. Wenn die Bundesrepublik Deutschland hierzu nicht aufgrund eigener souveräner Macht in der Lage ist, muss die ihr gegenüber den Gliedstaaten verfassungsrechtlich eingeräumte Hoheitsmacht notwendig von der souveränen Macht des Oberverbands her effektuiert werden87. Entsprechendes gilt für die übrigen Struktureigenheiten der Bundesrepublik Deutschland, die sich gleichfalls nur dann nachhaltig realisieren lassen, wenn der Normalisierungsprozess von einer souveränen Macht getragen und gegen Störungen von innen wie außen abgesichert wird. Bei teleologischer Betrachtung sprechen vor diesem Hintergrund zunächst durchgreifende Gründe dafür, dass Art.  20 Abs.  1  GG eine Strukturnorm der Staatssouveränität entbindet. Denn in Hinblick auf die fundamentale Abhängigkeit der normativ vorgegebenen Strukturmerkmale des Art.  20 Abs.  1  GG von souverä

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In diesem Sinne auch v. Simson / Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda / Maihofer / Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2.  Aufl. 1994, § 4 Rn. 151 ff.

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ner Macht sowie mit Rücksicht auf die hinreichende normative Bestimmtheit von Staatssouveränität erscheint ein Schluss von dem in Art.  20 Abs.  1  GG vorausgesetzten Vorhanden-Sein von Staatssouveränität auf eine entsprechende verfassungsrechtliche Sollens-Anordnung als grundgesetzlich konsequent. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass Art. 20 Abs. 1 GG gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland verbürgt. Denn die Totalität politischer Wirklichkeit weist die Bundesrepublik Deutschland selbst als Trägerin jener souveränen Macht aus, die zu schützen Art. 20 Abs. 1 GG um seiner Rea­ lisierung willen fordert.

d) Zusammenfassende Überlegungen zum grundgesetzsystematischen Interpretationsansatz Dass Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine Strukturnorm der Staatssouveränität ent­ bindet und jedenfalls gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundesrepublik normiert, ist, wie der Blick auf die eben diskutierten Verfassungsbestimmungen lehrt, beileibe keine grundgesetzferne These88. Denn sowohl in Hinblick auf die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland als auch mit Rücksicht auf ihren pouvoir constituant, vor allem aber zum Zwecke ihrer Selbsterhaltung als demokratischer und sozialer, föderaler und republikanischer Rechtsstaat setzt das Grundgesetz die Struktur der Staatssouveränität nicht nur vorrechtlich voraus, sondern normiert sie positivrechtlich. Diese grundgesetz­ liche Strukturnorm der Staatssouveränität gebietet  – zwar nicht ad infinitum, in Ansehung von völkerrechtlicher Normativität und machpolitischer Normalität aber doch jedenfalls gegenwärtig – die Achtung und den Schutz der Souveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland. Der grundgesetzsystematische Parallelschluss plausibilisiert insofern die in vornehmlich teleologischer Perspektive vorgenommene Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als (einem) Sitz der grundgesetzlichen Strukturnorm der Staatssouveränität. Für die Aussagekraft und Pertinenz des grundgesetzsystematischen Arguments spricht dabei nicht zuletzt, dass es sich nicht nur auf solche Verfassungsbestimmungen stützt, die – wie Art. 59 Abs. 1 sowie 32 Abs. 1 und 2 GG – zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers stehen und von denen daher nicht ohne Weiteres auf den Regelungsgehalt veränderungsfester Verfassungsnormen wie den Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geschlossen werden darf89. Vielmehr gründet es zugleich auf Verfassungsbestimmungen, die – wie Art. 20 Abs. 1 GG, aber auch Art. 146 GG90 – vom pouvoir constituant constitué nicht abgeändert werden dür 88 Eher zurückhaltend demgegenüber Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, S. 60 f. 89 Vgl. zu dieser Problematik zum Beispiel Bryde (Fn. 65), Rn. 36. 90 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 2000, Art. 146 Rn. 38 ff.

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fen und sich folglich in besonderem Maße als Anknüpfungspunkte für eine grundgesetzsystematische Interpretation des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG anbieten.

4. Entstehungsgeschichte Die im grundgesetzsystematischen Parallelschluss erhärtete Auslegung, der zufolge Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine Strukturnorm der Staatssouveränität entbindet und dadurch gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland abgeschirmt wird, lässt sich auch durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nicht widerlegen. Zwar war die Bundesrepublik Deutschland bei Erlass des Grundgesetzes aufgrund des fortgeltenden Besatzungsregimes nicht souverän91. Daraus allein kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, das Grundgesetz habe sich einer Normierung der Staatssouveränität enthalten. Denn es gab bekanntlich eine ganze Reihe besatzungsrechtlich bedingter Zustände und Vorgaben, die mit dem Grundgesetz unvereinbar waren. Völlig zutreffend hat sich das BVerfG daher auch der Annahme widersetzt, dass die mit den besatzungsrechtlichen Verhältnissen unvereinbaren Grundgesetznormen obsolet wären92. Stattdessen hat es an der Verbindlichkeit der betreffenden Grundgesetzbestimmung festgehalten und die daraus entstehenden Spannungen im Zuge seiner ‚Näher-beim-Grundgesetz‘Rechtsprechung verfassungsjuristisch zu bewältigen gesucht93. Die Entstehungsgeschichte ließe sich vor diesem Hintergrund allenfalls dann dem Ergebnis der bisherigen Grundgesetzauslegung entgegenhalten, wenn die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes nachweislich davor zurückgescheut hätten, das Grundgesetz eines souveränen Deutschlands zu erlassen. Gegen diese Annahme lässt sich freilich bereits die Präambel ins Feld führen, in der der Parlamentarische Rat die Motive für die Schaffung des Grundgesetzes skizziert hat. So hieß es schon in der ursprünglichen Präambelfassung, dass das Deutsche Volk das Grundgesetz in dem Bewusstsein beschlossen habe, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen94. Dies lässt angesichts der vom Besatzungsregime geprägten Zeitumstände nur den Schluss zu, dass das deutsche Volk für seinen Staat den Souveränitätsstatus beanspruchte, den auch die anderen (west-)europäischen Nationalstaaten innehatten95. Insofern liegt es ersichtlich fern anzunehmen, das Grundgesetz habe von vornherein nicht für ein souveränes Deutschland gelten sollen und habe die Staatssouveränität daher auch nicht normativ verankert.

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Vgl. nur Hesse (Fn. 61), Rn. 12. Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 2000, S. 1428 f. 93 BVerfGE 15, 337 (348 f.); 36, 146 (169 f.). 94 Zu dieser Präambelpassage Abendroth, Deutsche Einheit und europäische Integration in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, in: Europa-Archiv 1951, 4385 (4390 f.). 95 Dazu Murswiek (Fn. 9), Rn. 27 ff. und 243 f.

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Bestätigt wird dies durch einen Blick in die Materialien. Bezeichnend ist insofern die Haltung des Grandseigneurs des Parlamentarischen Rats, Carlo Schmid. So hob Schmid sehr viel stärker als andere Mitglieder des Parlamentarischen Rats hervor, dass das deutsche Volk mit den Frankfurter Dokumenten seine staatliche Souveränität noch längst nicht zur Gänze zurückerhalten habe96. Infolgedessen betonte er auch, dass das Grundgesetz lediglich ein ‚Staatsfragment‘, keinen ‚VollStaat‘ organisiere97. Doch trotz dieses bei der unvollkommenen Souveränität ansetzenden Denkens, das politisch vom Wiedervereinigungsgedanken bestimmt98 und theoretisch-konstruktiv dem französischen Verständnis von Nationalsouveränität verbunden war99, ließ selbst Schmid schon in seiner ersten großen Rede vor dem Plenum des Parlamentarischen Rats keinen Zweifel daran, dass das Grundgesetz inhaltlich so gefasst werden sollte, dass ein Gestaltwandel der Bundesrepublik Deutschland in Richtung auf einen souveränen Staat nicht nur ermöglicht, sondern auch gefördert wird: „Aber wenn auch die Ordnung, die wir gestalten sollen, nur die Ordnung eines Staatsfragments ist, so kann und sollte sie unserer Meinung nach doch so ausgestaltet werden, dass bei der Ausweitung der heute gewährten Freiheitssphäre die geschaffene Organisation fähig ist, sie voll auszufüllen. Und darüber hinaus möchte ich noch sagen: Man sollte diese Organisation so stark und vollständig machen, daß sie fähig werden kann, durch ihr Wirken eine solche Ausweitung in Fluß zu bringen und durchzusetzen.“100 Dass sich dem Grundgesetz eine Staatsstrukturnorm der Staatssouveränität entnehmen lässt, wird somit durch die Entstehungsgeschichte nicht nur nicht widerlegt, sondern im Gegenteil bestätigt. Insofern durfte das BVerfG im Rahmen seiner erwähnten Rechtsprechung denn auch davon ausgehen, dass durch den Abschluss des Deutschlandvertrags und die damit verbundene Retablierung der Souveränität Deutschlands „allgemein ein Zustand erreicht“ wurde, der „erheblich ‚näher beim Grundgesetz steht‘ als der vorausgehende“101.

II. Inhaltliche Präzisierung der von der grundgesetzlichen Volkssouveränität mitnormierten Staatssouveränität Die nach allem durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG mit verbürgte Staatssouveränität wird vom Grundgesetz nicht näher expliziert. Allerdings lässt eine staatstheoretisch informierte Betrachtung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG den normwissenschaftlichen Schluss zu, dass die grundgesetzliche Strukturnorm der Volkssouveränität insofern im Rahmen des traditionalen Souveränitätsverständnisses zu entfalten ist

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Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 8 ff.). Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 11 f.). 98 Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 10 f.). 99 Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 11). 100 Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 12). 101 BVerfGE 15, 337 (348 f.). 97

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und die nähere Konkretisierung nach Maßgabe eines gemischt formell-materiellen Ansatzes zu erfolgen hat.

1. Das traditionale Staatssouveränitätsverständnis als starting point Angesichts eines prima vista wenig aufschlussreichen Normtexts liegt nichts näher, als für die Interpretation der durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG mit normierten Staatssouveränität im Ausgangspunkt an das traditionale Verständnis von Staatssouveränität anzuknüpfen, das im Zweifel auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes zugrundegelegt haben werden. Für diesen Konkretisierungsansatz spricht ferner, dass auch die staatstheoretischen Erwägungen ergeben haben, dass die Staatssouveränität sinnvollerweise von ihrer traditionalen Ausprägung her zu erschließen ist102. Schließlich sieht sich die positive Rechtswissenschaft dort in besonderem Maße auf die Transmitterdienste der allgemeinen Staatslehre verwiesen, wo der Verfassungstext wie im Fall der durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Staatssouveränität weithin schweigt103. Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, die in der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm mit gesetzte der Staatssouveränität im Ausgang folgendermaßen zu konkretisieren: Sie verlangt, dass für den territorialen Geltungsbereich des Grundgesetzes104 eine Wirkungs- und Entscheidungseinheit existiert, die insoweit als oberste Normsetzerin fungiert und das Monopol physischer Zwangsgewalt innehält; dabei soll mit Rücksicht auf völkerrechtliche Normativität und machtpolitische Normalität derzeit der Staat Bundesrepublik Deutschland diese Wesenseigenschaften aufweisen. Allerdings darf dieses dem Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG unterstellte traditionale Souveränitätsverständnis keinesfalls konkretisch verstanden werden. Zu berücksichtigen ist vielmehr, dass die Staatssouveränität allein deshalb an der Geltungskraft von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG partizipiert, weil sie conditio sine qua non der Volkssouveränität ist. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Staatssouveränität ist also nicht Selbst-, sondern Hilfszweck. Sie kann der Volkssouveränität infolgedessen auch nur insoweit Grenzen ziehen, als dies um der Volkssouveränität willen geboten erscheint. Folglich läuft es der in der Volkssouveränitätsnorm gewährleisteten Staatssouveränität nicht schon prinzipiell zuwider, wenn die Bundesrepublik Deutschland sich völkerrechtlich dahingehend bindet, dass sie Normsetzungsakte und gegebenenfalls auch physische Zwangsakte auf ihrem Territorium anerkennt und duldet, die sich nicht (ausschließlich) auf ihre Hoheitsmacht zurückführen lassen105. Denn derartige völkerrechtliche Bindungen sind zunächst und zuvör 102

Siehe oben Kapitel 7 II. 1. a) = S. 522. Dazu allgemein oben Kapitel 5 = S. 182. 104 Zur Differenzierung zwischen territorialem und personellem Geltungsbereich des Grundgesetzes Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Einführung Rn. 28 ff. 105 Vgl. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 9 (18). 103

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derst als Ausfluss von Volkssouveränität zu werten106. Damit gilt Entsprechendes auch für die Staatssouveränität. Mit dem traditionalen (und nicht neoabsolutistischen) Verständnis von Staatssouveränität verträgt sich dies insoweit, als durch die freiwillige und nach Maßgabe des Völkerrechts gegebenenfalls auch rever­ sible Hinnahme von ganz oder teilweise fremdbestimmtem Recht das gebietsuniversale Zuhöchstsein der staatlichen Normsetzungsgewalt in der Regel nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern im Gegenteil bestätigt wird und dass Entsprechendes auch hinsichtlich der Monopolisierung legitimer physischer Zwangsgewalt anzunehmen ist, wenn durch völkerrechtlichen Vertrag staatliche Zwangsbefugnisse aus freien Stücken – und unter bestimmten Umständen rückholbar – delegiert werden107. Bestätigt sieht sich diese Sichtweise durch den grundgesetzsystematischen Parallelschluss. Denn aus den anderen Verbürgungen von Staatssouveränität erhellt ebenfalls, dass diese kein Selbstzweck ist, sondern der völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit108, der Verfassungsautonomie109 und der Gewährleistung bestimmter staatlicher Eigenschaften110 zu dienen bestimmt ist. Des Weiteren verbietet es sich in dieser Perspektive auch, Staatssouveränität neoabsolutistisch zu fassen. Es kann der Bundesrepublik Deutschland durch die funktional zu interpretierende Staatssouveränität nicht verwehrt sein, die staatsgebietliche Wirkung solcher Normsetzungs- und Zwangsakte völkerrechtsvertraglich zu akzeptieren, die sich in der Sache nicht oder nicht allein auf ihren Hoheitswillen zurückführen lassen. Denn in derartigen völkerrechtsvertraglichen Bindungen manifestiert sich gerade die Völkerrechtsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, ihre verfassungsautonom getroffene Entscheidung für die offene Staatlichkeit111 sowie ihre demokra­ tische Staatsstruktur; ferner können die völkerrechtlichen Verträge zur Konsolidierung auch der anderen Staatsstrukturmerkmale beitragen, etwa wenn nur mehr in einem größeren, nationalstaatsübergreifenden Zusammenhang die den Sozialstaat prägenden Errungenschaften gewahrt werden können112. Schließlich streitet auch der entstehungsgeschichtliche Kontext dafür, dass das Grundgesetz zwar an die traditionale Konzeption von Staatssouveränität anknüpft, jedoch nicht an deren machtstaatliche Version, sondern an ihre funktionalistisch temperierte Ausprägung. So lässt sich der ursprüngliche Präambeltext zwar durch 106 Steinberger, Artikel ‚Sovereignty‘, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, 2000, S. 500 (517). 107 Dazu etwa Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 1. Kap. / Rn. 43. 108 Schweisfurth (Fn. 107), 1. Kapitel / Rn. 39. 109 Fassbender (Fn. 48), S. 436; auch Epping (Fn. 46), § 5 Rn. 7 f. 110 Siehe Herdegen (Fn. 52), § 28 Rn. 7. 111 Vgl. grundlegend Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; auch Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundes­ republik Deutschland, Bd. 7, 1999, § 172. 112 Siehe dazu etwa Zippelius / Würtenberger (Fn. 21), § 1 III 4 c).

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aus dahin ausdeuten, dass es dem Parlamentarischen Rat ein besonderes Anliegen war, die deutsche Souveränität in der Weise zu retablieren, dass die Bundesrepublik Deutschland den anderen europäischen Nationalstaaten möglichst schon bald wieder von gleich zu gleich begegnet113. Bedenkt man weiterhin, dass die anderen Nationalstaaten und insbesondere die Besatzungsmächte bezogen auf sich selbst ein sehr traditionales Souveränitätsverständnis verfochten und verfechten, so spricht dies in genetischer Auslegungsperspektive dafür, dass dem Grundgesetz schon um der seinerzeit erstrebten Gleichberechtigung Deutschlands willen ein traditionales Konzept der Staatssouveränität zugrundeliegt. Jedoch ist gleichfalls zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz ganz wesentlich von der historischen Erfahrung faschistischer Staatsvergottung114 geprägt ist115. Bis in seine Gliederung hinein, die den Bestimmungen über die Staatsorganisation einen Abschnitt über die Grundrechte voranstellt, spiegelt die Verfassung die leidvoll gewonnene Einsicht wider, dass der Staat um des Menschen, nicht der Staat um des Staates willen existiert116. Insofern verbietet es sich entstehungsgeschichtlich, die tradierte Struktur Staatssouveränität anders als funktional, nämlich anders als im Dienste der Menschen und ihrer demokratisch vereinbarten Zwecke stehend zu deuten117.

2. Das gemischt formell-materielle Souveränitätsverständnis des Grundgesetzes Die in Art.  20 Abs.  2  GG normierte Staatssouveränität ist aus den dargelegten Gründen im Ausgangspunkt traditional zu begreifen. Die für einen souveränen Staat herkömmlicherweise maßgeblichen Wesenseigenschaften, nämlich die, staatsgebietlich oberster Normsetzer und Inhaber des Monopols legitimer physischer Zwangsgewalt zu sein, dürfen allerdings nicht von der Vorstellung eines selbstzweckhaften, machtvollkommenen Staates her konkretisiert, sondern müssen in Ansehung ihrer Hilfszweckhaftigkeit, ihrer Funktionalität ausgedeutet werden. Infolgedessen muss die der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm normativ eingeschriebene Struktur der Staatssouveränität – ebenso wie die in Art. 20 Abs.  2 Satz  1  GG gleichfalls positivierte Zurechnungsstruktur  – als (entwicklungs-)offen verstanden werden. (Entwicklungs-)Offenheit darf nun freilich nicht mit Konturenlosigkeit verwechselt werden. Das Grundgesetz enthält keine bloßen Tendenzbeschreibungen, Absichtserklärungen oder Wunschvorstellungen, sondern etabliert eine genuin 113

Hierzu nochmals Murswiek (Fn. 9), Rn. 27 ff. und 243 f. Hierzu hellsichtig Heller, Europa und der Fascismus, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl. 1992, S. 463 (505). 115 Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 11 f. 116 Vgl. Art. 1 HChE. 117 Ähnlich Saalfrank (Fn. 10), S. 172 ff. 114

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rechtliche Rahmenverfassung für das gebietsgesellschaftliche Zusammenleben in seinem territorialen Geltungsbereich. Daher ist zu erörtern, was genau es bedeutet, dass die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm zwar an das traditionale Souveränitätsverständnis anknüpft, sich zugleich aber als (entwicklungs-)offen darstellen soll. Es stellt sich mit anderen Worten in nunmehr normwissenschaft­licher Perspektive118 die Frage, was unter dem von der grundgesetzlichen Staatssouveränitätsnorm postulierten Zuhöchstsein gebietsuniversaler Normsetzungsmacht und gebietsuniversaler Monopolisierung legitimer physischer Zwangsgewalt konkret zu verstehen ist, wenn sich ein wortwörtlich-konkretisches Verständnis verbietet.

a) Die Herleitung des gemischt formell-materiellen Souveränitätsverständnisses aus der Volkssouveränität In Hinblick darauf, dass die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Staatssouveränität im Dienst der Volkssouveränität steht, macht es Sinn, bei dieser anzusetzen119. Zur grundgesetzlichen Volkssouveränität gehört es, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, wenn es dem demos beliebt, völkerrechtsvertraglich in hohem Maße binden kann120. Dies erschließt sich nicht nur aus einer Zusammenschau der Art. 23, 24 und 59 GG. Symptomatisch hierfür ist auch – einmal mehr – die Präambel. Wenn dort von einem vereinten Europa die Rede ist, so signalisiert dies, dass das Grundgesetz zu einer überaus weitgehenden Integration der Bundesrepublik Deutschland in übernationalstaatliche Wirkungs- und Entscheidungszusammenhänge ermächtigt121. Für die im Dienste der Volkssouveränität stehende Staatssouveränität bedeutet dies, dass ihr Petitum, nämlich dass der Staat auf seinem Territorium über die höchste Normsetzungsmacht und das Monopol physischer Zwangsgewalt verfügen muss, so zu interpretieren ist, dass es die Öffnung des Staates gegenüber fremder Hoheitsmacht so wenig wie möglich, also nur so weit als nötig, hemmt. In dieser Perspektive geht die Staatssouveränität erst dann verloren, wenn nicht (allein) vom Staat gewillkürtes Recht beziehungsweise Akte nicht staatlicher physischer Gewalt ohne staatliche Autorisation innerstaatlich in Wirksamkeit erwachsen. Solange sich indes alle gebietsgesellschaftlich wirk­ samen Rechts- und Zwangsakte zumindest formell von der staatlichen Gebiets­ ordnungsgewalt ableiten, kann diese als souverän qualifiziert werden122. 118

Zur wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektive siehe oben Kapitel 7 II. 2. b) = S. 532. So auch der Ausgangspunkt von Grimmer, Demokratie und Grundrechte, 1980, S. 191: „Die Staatssouveränität ist verfassungsrechtlich nicht selbständig und unabhängig von der Volkssouveränität konstituiert.“ 120 Vgl. auch Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Grundgesetz, in: Hailbronner / Ress / Stein (Hrsg.), Festschrift für Doehring, 1989, S. 63 (73). 121 Oppermann / Classen, Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes, in: APuZ 1993, B28, S. 11 (19). 122 In diese Richtung Schweisfurth (Fn. 107), 1. Kapitel / Rn. 43 f. 119

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Dieses formelle Verständnis verarbeitet beide Vorgaben, die das Grundgesetz an seine Staatssouveränitätsnorm stellt. Es bleibt zum einen dem traditionellen, wenn auch funktionalistisch gewendeten Verständnis von Staatssouveränität verbunden. Denn es hält daran fest, dass Staatssouveränität als gebietsuniversal höchste Normsetzungsmacht und Monopol physischer Zwangsgewalt darstellbar sein muss. Zum anderen berücksichtigt das formelle Verständnis die Demokratiefunktiona­ lität von Staatssouveränität. Denn in Hinblick darauf, dass die Relativierung staatlicher Omnipotenz Ausfluss von Volkssouveränität sein kann, wird die traditionelle Souveränitätsdoktrin so nachgiebig-flexibel wie mit ihren Kerngehalten eben noch vereinbar gedeutet und der Souveränitätsverlust erst für den Zeitpunkt angenommen, dass mangels auch bloß formeller Ableitbarkeit staatsgebietswirksamer Rechts- und Zwangsakte von der staatlichen Gebietsordnungsgewalt diese end­ gültig nicht mehr als gebietsuniversal höchste Normsetzungsgewalt und Trägerin des Monopols physischer Gewaltsamkeit angesehen werden kann. Allerdings darf die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Staatssouveränität nicht allein im Sinne des formellen Verständnisses ausgelegt werden. Vielmehr muss auch der materielle Aspekt von Staatssouveränität hinreichend berücksichtigt werden. Um dies zu begründen, ist wiederum bei der Volkssouveränität anzusetzen, der die Staatssouveränität zu dienen bestimmt ist. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz  1 GG verbürgte Volkssouveränität stellt sich als eine im Einzelnen hochkomplexe Zurechnungsstruktur für Akte hoheitlicher Gewalt dar. Deren Zweck erschöpft sich nun nicht etwa darin, dass bestimmte Hoheitsakte in größerem oder geringerem Maße auf den Volkswillen zurückführen. Vielmehr soll durch die Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität erreicht werden, dass das Gebietsverbandsvolk über die Gebietsgesellschaft herrscht beziehungsweise die ge­ bietsgesellschaftlichen Zustände in größtmöglicher Übereinstimmung mit den Auto­nomieansprüchen der Gebietsgenossen reguliert werden123. Unabhängig vom zugrundegelegten Demokratieverständnis steht und fällt die in Art.  20 Abs.  2 Satz 1 GG verbürgte Volkssouveränität insofern mit der Intaktheit der demokratisch zu legitimierenden Hoheitsmacht124. Ohne funktionierende Hoheitsmacht gibt es keine Zurechnungsstruktur der Volkssouveränität, kann das Verbandsvolk nicht zum herrschenden werden und fehlt es an dem für eine emanzipatorischpartizipatorische (Re-)Organisation der gebietsgesellschaftlichen Verhältnisse unverzichtbaren Machtsubstrat. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass die in Art. 20 Abs.  2 Satz  1  GG mit normierte Staatssouveränität auch nach der Machtseite hin konkretisiert werden muss. Nur so vermag sie den ihr vom Grundgesetz angesonnenen Demokratievoraussetzungsschutz125 zu bewirken. Die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm verlangt insofern immer auch, dass der Träger souveräner Macht über eine hinreichend effektive Hoheitsmacht verfügt, um für den 123

Siehe dazu oben Kapitel 10 II. 5. c) = S. 716. Auch Bryde (Fn. 65), Rn. 49a weist darauf hin, dass das grundgesetzliche Demokratieprinzip es ausschließt, die Bundesrepublik in anarchische Verhältnisse zu überführen. 125 Zu diesem oben Kapitel 14 I. 2. = S. 1224. 124

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Regelfall sicherstellen zu können, dass auf seinem Gebiet demokratisch beschlossenes Recht tatsächlich durchgesetzt und nur die hierzu demokratisch legitimierten Hoheitsträger physische Gewalt ausüben. Auch diese Ergänzung des grundgesetzlichen Souveränitätsverständnisses um die materielle Komponente liegt auf der Linie der übrigen grundgesetzlichen Vorgaben: Dass es der Demokratiefunktionalität von Staatssouveränität entspricht, wenn sie zusätzlich im Sinne eines Effektivitätsvorbehalts gedeutet wird, wurde eben dargetan. Aber auch und gerade ihre Verankerung im traditionellen Souveränitätsverständnis kommt damit nachhaltig zum Tragen. Schließlich macht die traditionelle Doktrin, die Souveränität definitorisch mit Zuhöchstsein der Normsetzungsgewalt sowie Monopolisierung physisch legitimer Zwangsgewalt verknüpft, schon semantisch deutlich, dass sie dem Aspekt der Gewalt, der Macht, besondere Bedeutung beimisst. Insofern bewirkt seine hier vorgeschlagene macht­politische Erdung, dass der grundgesetzliche Souveränitätsbegriff nicht nur begriffsjuristisch, sondern auch der Sache nach dem traditionellen Souveränitätsbegriff verbunden bleibt.

b) Das gemischt formell-materielle Souveränitätsverständnis in grundgesetzsystematischer und entstehungsgeschichtlicher Perspektive Dafür, dass das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG von einem gemischt formell-materiellen Souveränitätsverständnis ausgeht, streitet auch der systematische Seitenblick auf die übrigen verfassungsrechtlichen Normen, die die grundgesetzliche Strukturnorm der Staatssouveränität mit ausprägen126. Diese Normen implizieren zumindest ihrem Sinn und Zweck nach die Möglichkeit zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Im Fall der Art.  32 Abs.  1 und 2  GG sowie Art 59  GG ist dies evident127. Aber auch der Sinn und Zweck der Art.  146  GG und 20 Abs. 1  GG würde verfehlt, wenn sich der pouvoir constituant daran gehindert sähe, die pouvoirs constitués zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge zu ermächtigen, oder die Bundesrepublik Deutschland ihre Staatsstruktur nicht auch durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge konsolidieren könnte. Da sich aus den betreffenden Vorschriften fernerhin keine expliziten materiellen Grenzen ableiten lassen, die dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge gesetzt sein könnten, spricht dies dafür, die grundgesetzliche Strukturnorm der Staatssouveränität so völkerrechtsfreundlich zu interpretieren, wie dies im Rahmen des grundgesetzlich rezipierten traditionellen Souveränitätsverständnisses möglich erscheint. Insofern sieht sich das oben entwickelte formelle Souveränitätsverständnis be­ stätigt. 126

Siehe dazu die grundgesetzsystematischen Erwägungen oben Kapitel 14 I. 3. = S. 1228. Dazu bereits oben Kapitel 14 I. 3. a) = S. 1228.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Zugleich liegt aber auch auf der Hand, dass ein formelles Souveränitätsverständnis aus Sicht der genannten, die grundgesetzliche Staatssouveränität gleichfalls ausprägenden Normen dort an Grenzen stößt, wo die Effektivität von Staat und Staatsgewalt berührt ist. Denn ohne effektiven Staat und effektive Staatsgewalt fehlt es an einem nach außen rechtlich unabhängigen und völkerrechtsunmittelbaren Staatssubjekt, ohne das die in Art. 32 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 59 GG vorausgesetzte Volkssouveränität nicht denkbar ist. Des Weiteren mangelt es in diesem Fall an dem in Art. 146 GG als existent vorausgesetzten pouvoir constituant, weil dieser unter diesen Umständen undurchsetzbar, mithin kein pouvoir ist. Und auch der in Art. 20 Abs. 1 GG thematisierte, durch bestimmte Eigenschaften qualifizierte Staat Bundesrepublik Deutschland kann ohne effektive Staatsgewalt nicht Strukturgestalt annehmen. Dass die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm formell-materiell zu präzisieren ist, wird grundgesetzsystematisch noch in anderer Hinsicht bestätigt. So ist zu berücksichtigen, dass das hier entwickelte Souveränitätsverständnis mit dem völkerrechtlichen kongruiert. Denn auch der völkerrechtliche Souveränitätsbegriff geht davon aus, dass Staaten grundsätzlich solange souverän bleiben, wie sie keiner anderen Macht staatsrechtlich subordiniert, sondern bloß dem auf zwischenstaatlichem Konsens basierenden Völkerrecht128 unterworfen sind129. Zugleich kennt das Völkerrecht den Grundsatz der Effektivität, demzufolge die vom Staat etablierte Ordnung normalisierend wirken, der Staat sich mithin auch gegenüber Normverletzern durchsetzen können muss, damit er überhaupt als Staat im völkerrechtlichen Sinn qualifiziert werden kann130. Auch das Völkerrecht geht mithin von dem gemischt-formellen Souveränitätsverständnis aus, das vorstehend für das Grundgesetz diagnostiziert wurde. Diese Parallele stellt nun deshalb ein grundgesetzsystematisches Argument für die hier vorgeschlagene Deutung der grundgesetzlichen Souveränitätsnorm dar, weil sein Normtext das Grundgesetz als völkerrechtsfreundliche Verfassung131 ausweist. Dieser Völkerrechtsfreundlichkeit indes entspricht es, die grundgesetzliche Staatssouveränität inhaltlich am völkerrechtlichen Souveränitätsbegriff zu orientieren. Denn die Staatssouveränität ist ein Scharnierbegriff. Sie benennt nicht nur eine Voraussetzung von Völkerrecht und Verfassungsrecht, sondern zugleich  – jedenfalls solange es den Weltstaat132 nicht gibt – die strukturellen Bedingungen dafür, dass Recht aus der einen Ordnung in die andere Ordnung transferiert werden kann. Ohne souveräne Staatlichkeit kann es keine nachhaltige Rezeption des Völkerrechts in den innerstaatlichen 128

Dazu auch Schaumann, Artikel ‚Gegenseitigkeit‘, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1960, S. 630. 129 Vgl. hierzu nur Schweisfurth (Fn. 107), 1. Kapitel / Rn. 125. 130 Epping (Fn. 46), § 5 Rn. 10 ff. 131 Vgl. die Präambel des GG sowie Art. 25, 26 und 100 Abs. 2 GG; auch Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1999, § 172 Rn. 3 sowie Cremer, Europäische Hoheitsgewalt und deutsche Grundrechte, in: Staat 1995, S. 268 (273). 132 Dazu – kritisch – Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 10 IV.

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Bereich geben und können auch innerstaatliche Normvorstellungen nicht im Wege des Konsensverfahrens dauerhaft völkerrechtlich etabliert werden133. Würde nun der Scharnierbegriff der Staatssouveränität für das Grundgesetz anders konkretisiert als für das Völkerrecht, wären Konflikte zwischen Verfassungs- und Völkerrechtsordnung vorprogrammiert. Denn es bestünde Uneinigkeit darüber, wer als Rezeptor und Generator völkerrechtlicher Normen in Betracht kommt. Vor diesem Hintergrund entspricht es der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, wenn sein Strukturbegriff der Staatssouveränität in Einklang mit dem völkerrechtlichen Souveränitätsbegriff ausgelegt wird und dadurch die konfliktfreie Koexistenz von Völkerrechts- und Verfassungsrechtsordnung gewährleistet wird. Hieran schließt sich nahtlos das entstehungsgeschichtlich inspirierte Argument an, mit dem sich die gemischt formell-materielle Interpretation der grundgesetzlichen Staatssouveränitätsnorm ebenfalls rechtfertigen lässt. Genetisch sind das Grundgesetz und seine Bestimmungen im Sinne einer entschiedenen Abkehr vom faschistischen Unrechtsstaat zu begreifen und zu deuten134. Einem Staat, der Deutschland über alle anderen Nationen setzte und darauf aus war, sich in verbrecherischen Kriegen andere Staaten und Völker untertan zu machen, wollte der Parlamentarische Rat einen Staat entgegensetzen, der „dem Frieden der Welt zu dienen“ bestimmt ist135. Zu diesem grundgesetzlichen Friedensauftrag aber passt ein Souveränitätsverständnis, das die fortschreitende Implikation des Staates in völkerrechtlich basierte Zusammenhänge internationaler Zusammenarbeit billigt, durch den Effektivitätsvorbehalt aber zugleich sicherstellt, dass der souveräne Staat als Garant stabiler Verhältnisse sowohl im zwischenstaatlichen als auch innerstaatlichen Bereich erhalten bleibt und damit die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung von Friedlichkeit intakt bleibt.

III. Die grundgesetzliche Volkssouveränität als ‚äußere Schranke‘ einer Mitwirkung Deutschlands an der EU Der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm lässt sich eine mit ihr teilidentische Strukturnorm der Staatssouveränität entnehmen136, die zumindest gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland verbürgt. Hieraus 133 Steinberger (Fn. 106), S. 517: „The concept of sovereignty reflects the fact that contemporary international law is a legal order predominantly between coordinated, juxtaposed States as its typical subjects. The basis instruments of international organizations, innumerable multilateral treaties, as well as many State constiutions again and again refer to the external sovereignty of States. The daily practice of States and of international institutions transacting international relations and involved in affairs reveals similar reliance to the concept.“ 134 Siehe dazu nur Hesse (Fn. 61), Rn. 16. 135 Zu dem in der Präambel normierten Friedensgebot des Grundgesetzes siehe nur Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Präambel Rn. 4. 136 Von einer Identität (statt Teildentität) von Volks- und Staatssouveränität geht demgegenüber Di Fabio (Fn. 17), S. 206 aus.

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folgt, dass die grundgesetzliche Volkssouveränität einer Mitwirkung Deutschlands an der EU auch ‚äußere Schranken‘ setzen kann, nämlich eben die der Staatssouveränität. Wo diese Schranke im Einzelnen verläuft, erschließt sich aus der eben unternommenen inhaltlichen Präzisierung der von der grundgesetzlichen Volkssouveränität verbürgten Staatssouveränität137. Danach bewahrt sich ein Staat solange die Souveränität vermittelnde Wesenseigenschaft, gebietsuniversal höchste Normsetzungsgewalt und Monopolist der gebietsuniversal allein legitimen physischen Zwangsgewalt zu sein, wie sich die innerstaatliche Wirksamkeit staatsfremder Normsetzungs- und Zwangsgewalt zumindest formell aus der Normsetzungsund Zwangsgewalt des Staates ableitet und die vom Staat etablierte Ordnung in dem Sinne effektiv ist, dass sich ihre Normativität in aller Regel in einer entsprechenden Normalität niederschlägt. Die ‚äußeren Schranken‘, die der Mitwirkung Deutschlands an der EU durch die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm gesetzt sind, verlaufen mithin dort, wo im Überschreitensfall in formeller oder materieller Hinsicht Souveränitätsverlust eintritt oder zumindest ernsthaft droht. Die durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Staatssouveränität nimmt insofern als ein die Organe der Bundesrepublik Deutschland adressierendes Mitwirkungsverbot Gestalt an. Allerdings ist die ‚äußere Schranke‘, die die in der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm mit normierte Staatssouveränität errichtet, keineswegs absolut, unüberwindbar138. Vielmehr kennt das Grundgesetz auch einen aus seiner Sicht legalen Fall des Souveränitätsverlusts, nämlich den vom deutschen pouvoir constituant originaire geübten Souveränitätsverzicht. Insofern ist das der Staatssouveränitätsnorm eingeschriebene Mitwirkungsverbot ein lediglich relatives.

1. ‚Äußere Schranke‘ und Souveränitätsverlust Die ‚äußeren Schranken‘, die der Mitwirkung Deutschlands an der EU gesetzt sind, müssen nach dem Gesagten von der Konstellation des Souveränitätsverlusts her entwickelt werden. Dabei bringt es das von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG rezipierte gemischt formell-materielle Souveränitätsverständnis mit sich, dass der insofern maßgebliche Souveränitätsverlust nach zwei Seiten hin zu konkretisieren ist. Die der Volkssouveränitätsnorm inhärenten ‚äußeren Schranken‘ werden daher im Folgenden zunächst aus der Perspektive des formellen und anschließend in der Blickrichtung des materiellen Souveränitätsverständnisses erörtert.

137

Vgl. eben Kapitel 14 II. 2. b) = S. 1245. So im Ergebnis auch Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 (28 f.). 138

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a) ‚Äußere Schranke‘ und Souveränitätsverlust aus der Perspektive des formellen Souveränitätsverständnisses Formell betrachtet büßt die Bundesrepublik Deutschland ihre zumindest gegenwärtig von der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm verbürgte Souveränität dann ein, wenn auf ihrem Staatsgebiet auch solche Normsetzungs- und Zwangsakte Platz greifen, deren innerstaatliche Wirksamkeit sich nicht einmal formell aus ihrer Normsetzungs- und Zwangsgewalt ableitet. Der Souveränitätsverlust tritt in der Perspektive des formellen Souveränitätsverständnisses mithin dann ein, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland der Normsetzungs- und Zwangsgewalt eines souveränen Gemeinwesens formell unterordnet oder von dieser formell untergeordnet wird. Kennzeichnend für den Souveränitätsverlust ist in dieser Blickrichtung, dass die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einem Gemein­ wesen, dessen Rechtsakte für sie vorrangige Geltung beanspruchen, nicht länger auf völkerrechtlichem Koordinationsrecht beruhen, sondern sich nach (bundes-) staatsrechtlichem Subordinationsrecht gestalten139. Vor diesem Hintergrund zieht die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm der Beteiligung Deutschlands an der EU zum einen insofern eine ‚äußere Schranke‘, als die Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Weiteres einen völkerrechtlichen Vertrag des Inhalts abschließen darf, dass sie einer souveränen EU förmlich beitritt oder aber mit den anderen EU-Mitgliedstaaten zu einer souveränen EU fusioniert140. Zum anderen ergibt sich eine ‚äußere Schranke‘ für die Beteiligung Deutschlands an der EU daraus, dass es die Bundesrepublik Deutschland nicht voraussetzungslos hinnehmen darf, sondern sich gegebenenfalls von der EU zurückziehen muss, wenn diese ihre bislang auf eine völkerrechtliche Grundlage rückführbaren Beziehungen zu den Mitgliedstaaten ausdrücklich oder konkludent in staatsrechtliche umwidmet oder ernsthaft umzuwidmen droht141. Wo die ‚äußere Schranke‘ genau verläuft, die einer Beteiligung Deutschlands in Zusammenhang mit Beitritt oder Fusion zu einer souveränen EU souveränitätsrechtlich gezogen ist, lässt sich dabei relativ leicht bestimmen. Sie wird grundsätzlich erst mit der völkerrechtlich endgültigen Annahme eines entsprechenden Beitritts- oder Fusionsvertrags überschritten. Denn erst damit tritt der Souveränitätsverlust ein. Dies bedeutet insbesondere, dass sich Verhandlungen der Bundesrepublik Deutschland über einen Beitritts- oder Fusionsvertrag noch diesseits der ‚äußeren Schranke‘ bewegen. Außer mit der Natur des formellen Souverä 139

Vgl. dazu auch Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 92; Möllers (Fn. 138), S. 25. 140 Vgl. Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht, in: DÖV 1993, 412 (418); Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant (Fn. 10), S. 164 f. 141 Vgl. auch James, The Practice of Sovereign Statehood in Contemporary International Society, in: Jackson (Hrsg.), Sovereignty at the Millenium, 1999, S. 35 (39): „A sovereign state may have all sorts of links with other states and with international bodies. But one sort of link which it cannot have (…) is a constitutional one.“

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nitätsverständnisses lässt sich dies damit rechtfertigen, dass  – wie bereits angeklungen und im nächsten Gliederungsabschnitt noch näher darzulegen142  – die ‚­äußere Schranke‘ der Staatssouveränität keine grundgesetzlich unüberwindliche ist. Vielmehr kann sich die Bundesrepublik Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen auch grundgesetzlegal zugunsten einer souveränen EU ihrer Staats­ souveränität begeben. Da diese Voraussetzungen auch während oder nach den Vertragshandlungen geschaffen werden können, ist davon auszugehen, dass mit der bloßen Beteiligung der Bundesrepublik an den fraglichen Vertragsverhandlungen das (relative) Mitwirkungsverbot der grundgesetzlichen Staatssouveränitätsnorm noch nicht ausgelöst wird. Etwas schwieriger zu bestimmen ist, wann genau jene ‚äußere Schranke‘ der grundgesetzlichen Volkssouveränitätsnorm virulent wird, die gegen Versuche der EU gerichtet ist, sich die Mitgliedstaaten staatsrechtlich zu subordinieren. Diese ‚äußere Schranke‘ ist überschritten, sobald die EU einen von ihren völkerrecht­ lichen Grundlagen losgelösten Primat gegenüber den Mitgliedstaaten in Anspruch nimmt oder ernsthaft in Anspruch zu nehmen droht. Davon ist zum einen dann auszugehen, wenn die EU – ausdrücklich oder konkludent – vorgibt, sie könne unabhängig von den sie verfassenden völkerrechtlichen Gründungs- und Änderungsinstrumenten mit Wirkung für das Territorium ihrer Mitgliedstaaten völkerrechtliche Abkommen abschließen. Zum anderen lässt sich ein solcher Suprematieanspruch diagnostizieren, sofern sich die EU den auf ihrem Gebiet höchsten Normsetzungsanspruch, also den in diesem Sinn umfassenden pouvoir constituant – ausdrücklich oder konkludent – anverwandelt143. Nun kann freilich von einer konkludenten Inanspruchnahme originär-unbeschränkter Völkerrechtssubjektivität oder einer Usurpation des pouvoir ­constituant nicht schon dann ausgegangen werden, wenn die EU beziehungsweise ihre Organe aus ihren Außen- oder Binnenkompetenzen ausbrechen. Denn damit allein verbindet sich noch keine stillschweigende Behauptung, dass die EU sich von ihrer völkerrechtlichen Grundlage gelöst habe und die Mitgliedstaaten ihr staatsrechtlich subordiniert seien. Just auf eine solche Behauptung kommt es aber aus Sicht des formellen Souveränitätsverständnisses an. Von einer stillschweigenden Inanspruchnahme souveräner Macht durch die EU ist stattdessen etwa dann auszugehen, wenn sie gegenüber den Mitgliedstaaten auf der gemeinschaftsrechtlichen Verbindlichkeit von mit Dritten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen beharrt, obwohl der Vertrag – zugegebenermaßen – evident ultra vires zustande gekommen ist144. Entsprechendes gilt für den Fall, dass die EU das Unionsvolk eine verfassunggebende Versammlung wählen lässt, die eine europäische Verfassung mit gebietsgesellschaftlich umfassendem Geltungsvorrang erlassen soll. 142

Siehe unten Kapitel 14 III. 2. = S. 1257. So etwa auch Blanke (Fn. 140), S. 418. 144 Zur Völkerrechtsfähigkeit der EG / EU vgl. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 30 Rn. 9 f. 143

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Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass in den Fällen, in denen die Staatssouveränitätsnorm gegen eine Anmaßung souveräner Gewalt durch die EU gerichtet ist, das ihr eigene (relative) Mitwirkungsverbot nicht erst dann greift, wenn die EU tatsächlich – ausdrücklich oder konkludent – für sich in Anspruch genommen hat, rechtlich unabhängig und völkerrechtsunmittelbar beziehungsweise Trägerin der EU-weiten sogenannten Kompetenz-Kompetenz zu sein. Vielmehr darf die Bundesrepublik Deutschland schon dann nicht mehr ohne Weiteres an der EU partizipieren, wenn ernsthaft zu gewärtigen ist, dass es zu einer solchen Usurpation souveräner Macht kommt. Denn Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verlangt, dass die staatliche Souveränität gewahrt wird. Sie fordert insofern nicht nur, dass die Bundesrepublik Deutschland Konsequenzen aus einer grundgesetzwidrigen Verletzung ihrer Souveränität zieht, sondern dass sie es erst gar nicht dazu kommen lässt145. Freilich wird man nur in sehr engen Ausnahmekonstellationen überhaupt annehmen können, dass die ernsthafte Gefahr eines unilateral von der EU betriebenen Souveränitätswechsels besteht und infolgedessen das (relative)  Mitwirkungsverbot der Staatssouveränitätsnorm greift. Für diese restriktive Sichtweise spricht zum einen wiederum die Essenz des formellen Souveränitätsverständnisses. Die formelle Grenzziehung würde verwischt, wenn der Souveränitätsfall zu weit im Vorland dieser Grenze lokalisiert würde. Zum anderen und vor allem soll die Bundesrepublik Deutschland nicht daran gehindert werden, die drohende Souveränitätsanmaßung abzuwenden oder einen grundgesetzkonformen Souveränitäts­ wechsel herbeizuführen.

b) ‚Äußere Schranke‘ und Souveränitätsverlust in der Blickrichtung des materiellen Souveränitätsverständnisses Materiell gesehen verliert die Bundesrepublik Deutschland ihre jedenfalls gegenwärtig von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Souveränität dann, wenn es ihrer Staatsgewalt an Effektivität gebricht146. In der Blickrichtung des materiellen Souveränitätsverständnisses tritt der Souveränitätsverlust mithin dann ein, wenn der Staat nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft außer Stande ist, die – gegebenenfalls zwangsweise – Durchsetzung seiner Rechtsordnung faktisch zu gewährleisten. Davon ist in zwei Konstellationen auszugehen. Entweder ist der Staat de facto zu schwach, um zu verhindern, dass seine rechtliche Ordnung durch ein neofeudales Neben- und Gegeneinander unkoordiniert konkurrierender Machtordnungen147 abgelöst wird und folglich schlimmstenfalls ein soziales Chaos aus-

145 Für ihre Organe besteht mit anderen Worten nicht nur eine Störungsbeseitigungs-, sondern auch bereits eine Gefahrenabwehrpflicht. 146 Weitergehend in seinem materiellen Souveränitätsverständnis Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), in: NVwZ 1994, 417 (422); enger offensichtlich Kaufmann (Fn. 56), S. 418 ff. 147 Vgl. dazu auch Siekmann (Fn. 17), S. 357.

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bricht148. Oder aber es besteht überhaupt keine eigene Staatsgewalt mehr, mit der der Staat seine Rechtsordnung gewährleisten könnte, weil er in der Ausübung seiner Hoheitsmacht de facto vollständig von einem anderen Staat abhängt149. Vor diesem Hintergrund zieht die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm der Beteiligung Deutschlands an der EU in zweifacher Hinsicht eine ‚äußere Schranke‘. Zum einen darf die Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Weiteres an der EU partizipieren und insbesondere auch keine Hoheitsbefugnisse auf sie übertragen, wenn dies dazu führt oder ernsthaft befürchten lässt, dass die deutsche Staatsgewalt infolgedessen nicht mehr in der Lage ist, im Geltungsbereich des Grundgesetzes die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Zum anderen darf die Bundesrepublik Deutschland es nicht voraussetzungslos hinnehmen, dass die EU sie – und sei es im Gewand eines völkerrechtlichen Vertrags – de facto gänzlich von sich abhängig macht und sie infolgedessen ihre autonome Staatsgewalt faktisch einbüßt.

aa) Souveränitätsverlust wegen Nichtdurchsetzbarkeit der staatlichen Ordnung Die Frage, ab wann die deutsche Staatsgewalt so geschwächt ist, dass sie die staatliche Ordnung nicht mehr effektiv durchzusetzen vermag, lässt sich nun nicht etwa unter Hinweis auf ein konkretes Bündel von Hoheitsbefugnissen beant­ worten, über das jeder Staat um der Effektivität seiner Staatsgewalt willen notwendig selbst verfügen müsste150. Denn es hängt in hohem Maße von den unterschiedlichen außerrechtlichen Normativitäten und Normalitäten, von dem von Staatsgebietsgesellschaft zu Staatgebietsgesellschaft verschiedenen esprit général151 ab, in welchem Umfang ein Staat auf die eigene Hoheitsausübung verzichten und seine Bevölkerung stattdessen den Maßnahmen bestimmter anderer, von ihm autorisierter Hoheitsträger aussetzen kann, bevor hierdurch die regelmäßige Befolgung und nötigenfalls zwangsweise Durchsetzung der staatlichen Rechtsordnung beeinträchtigt wird. Infolgedessen lassen sich auch die souveränitätsrechtlichen Anforderungen, die an die Effektivität der deutschen Staatsgewalt zu stellen sind, nur dergestalt beantworten, dass man für die konkrete deutsche Situation überlegt, ob beispielsweise die Übertragung weitgehender physischer Zwangs­befugnisse auf die EU dazu führen würde, dass die Akzeptanz der staatlichen Rechts- und 148

Dazu Epping (Fn. 46), § 6 Rn. 11. Zu den „Puppen-“, „Marionetten-“ beziehungsweise „Scheinstaaten“ vgl. Schweisfurth (Fn. 107), Kapitel 1 / Rn. 95. 150 Tendenziell in diese Richtung allerdings Herdegen (Fn. 52), § 28 Rn. 7. 151 Hierzu Montesquieu, De l’esprit des lois (Goldschmidt [Hrsg.], Bd. 1, 1979, S. 461 (Livre XIX / Chapitre IV): „Plusieurs choses gouvernent les hommes, le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les mœurs, les manières, d’où il se forme un esprit général qui en résulte.“ 149

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Zwangsordnung erschüttert wird. Nur soweit dies zu prognostizieren ist, wird das (relative) Mitwirkungsverbot der Staatssouveränitätsnorm ausgelöst und sieht sich die Bundesrepublik Deutschland gehindert, einer solchen Hoheitsübertragung ohne Weiteres zuzustimmen. Soweit jedoch  – was zu vermuten ist  – eine solche Prognose nicht gestellt werden kann, tun derartige Hoheitsübertragungen der Effektivität der deutschen Staatsgewalt keinen Abbruch und werden der Beteiligung Deutschlands an der sich vertiefenden EU durch die Volkssouveränitätsnorm keine ‚äußeren Schranken‘ gesetzt. Die Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland kann demnach in hohem Maße entmaterialisiert werden, ohne dass sie deswegen zwangsläufig ihre Effektivität einbüßt: Die historisch gewachsene, in demokratischen Prozessen beständig erneuerte Autorität der deutschen Staatsgewalt teilt sich auch den Hoheitsakten mit, die sich nur formaliter aus ihr ableiten. Im Übrigen werden diese Hoheitsakte – und namentlich die von der EU herrührenden – zunehmend auch um ihrer selbst willen akzeptiert; gegebenenfalls kann die Rücknahme von Staatsgewalt zugunsten anderer Hoheitsträger sogar die Autorität der Staatsgewalt stärken, weil und sofern dadurch ihre allfälligen Unzulänglichkeiten überwunden werden152. Vor diesem Hintergrund kann in der Tat auch eine in hohem Maße nur mehr formelle Staatsgewalt als effektiv qualifiziert werden, weil die von ihr etablierte und unterfangene Staatsordnung weiterhin in Normalität erwächst. Diese (entwicklungs-)offene, nicht konkretische Rekonstruktion des Effektivitätsvorbehalts liegt ganz auf der Linie des grundgesetzlich rezipierten Souveränitätsverständnisses. Danach ist Staatssouveränität zwar im Ausgangspunkt vom traditionalen Verständnis her zu konkretisieren. Und insofern mag man zunächst auch versucht sein, die souveränitätsdogmatisch postulierte effektive Staatsgewalt mit der gegenständlich-konkreten Vorstellung ganz bestimmter Hoheitsbefugnisse zu assoziieren – nämlich derjenigen Hoheitsbefugnisse, die der Staat im Prozess neuzeitlicher Staatswerdung bei sich konzentriert hat und die seither als für den souveränen Staat wesensprägend angesehen werden. Jedoch liegt dem Grundgesetz allgemein und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG im Besonderen das traditionale Souveränitätsverständnis nicht in seiner anachronistisch machtstaatlichen Ausprägung, sondern in seiner funktionalistisch gewendeten Version zu Grunde. Die grund­gesetzliche Staatssouveränität ist nicht um ihrer selbst und damit auch nicht in einer konkreten Strukturgestalt geschützt, sondern immer nur in Funktion der Zwecke, denen sie dem Grundgesetz zufolge dienen soll. Dem entspricht, dass sich auch die souveränitätsdogmatisch geforderte Effektivität der Staatsgewalt allein danach bemisst, ob die von ihr verantwortete Gebietsordnung dauerhaft Normalität erzeugt. Wie dies geschieht, in welcher konkreten Strukturgestalt die deutsche Staatsgewalt die Wahrung der staatlichen Ordnung bewirkt, ist aus Sicht der grundgesetzlichen Souveränitätsnorm prinzipiell unerheblich. Grundsätzlich beeinträchtigt es daher auch nicht die Effektivität der Staatsgewalt, wenn sie sich in 152

Vgl. Zippelius / Würtenberger (Fn. 21), § 1 III 4 c).

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weitem Umfang entmaterialisiert, solange sie anderweitig – also etwa durch das Zusammenwirken mit von ihr autorisierten Hoheitsträgern wie der EU – die Stabilität der staatlichen Rechtsordnung gewährleistet.

bb) Souveränitätsverlust wegen Wegfalls der Staatsgewalt Bereits angeklungen ist nun freilich, dass der Effektivitätsvorbehalt der grundgesetzlichen Staatssouveränitätsnorm nicht nur dann durchbrochen wird, wenn der Staat zu schwach ist, um die Durchsetzung seiner Rechtsordnung staatsgebietsweit durchzusetzen. Dies gilt vielmehr auch dann, wenn – unabhängig davon, ob die staatsgebietsweite Rechtsordnung erschüttert ist oder im Gegenteil völlig stabil erscheint – der Staat seine Staatsgewalt faktisch eingebüßt hat153. Dies bedeutet, dass zwar eine weitgehende, nicht aber eine vollständige Entmaterialisierung der Staatsgewalt mit dem in der grundgesetzlichen Staatssouveränitätsnorm verankerten Effektivitätsvorbehalt vereinbar ist. Zumindest bei vordergründiger Betrachtung könnte diese These freilich als zweifelhaft erscheinen. Denn spinnt man den eben entwickelten Gedankengang fort, demzufolge die grundgesetzliche Souveränitätsnorm insgesamt und mithin auch ihr Effektivitätsvorbehalt funktional zu konkretisieren sind, so mag dies tatsächlich zu dem – voreiligen – Schluss verleiten, die faktische Ausschaltung der Staatsgewalt souveränitätsdogmatisch müsse dann irrelevant sein, wenn die Effektivität der staatsgebietlichen Ordnung anderweitig, beispielsweise durch die EU, sichergestellt werden könne. Diese Schlussfolgerung geht freilich bereits deshalb fehl, weil sowohl Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als auch die übrigen Verfassungsbestimmungen, aus denen teleologisch auf die grundgesetzliche Souveränitätsnorm rückgeschlossen werden kann, an das Vorhandensein der deutschen Staatsgewalt anknüpfen und den – zumindest primären – Zweck verfolgen, die Ausübung gerade dieser deutschen Staatsgewalt zu regeln. Vor diesem Hintergrund aber verbietet es sich, die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm und ihren Effektivitätsvorbehalt dahin auszulegen, dass sie die vollständige Entmaterialisierung der Staatsgewalt erlauben. Denn andernfalls ermöglichten sie den Leerlauf derjenigen Normen, als deren conditiones sine qua non sie überhaupt erst in grundgesetz­licher Geltung erwachsen. Damit stellt sich die vorliegend eigentlich bedeutsame Frage: Worin besteht dieses Mindestmaß an faktischer Staatsgewalt, das der aus der grundgesetzlichen Souveränitätsnorm ableitbare Effektivitätsvorbehalt postuliert und aus dem sich jene andere ‚äußere Schranke‘ erschließt, die der Mitwirkung Deutschlands an der EU in materieller Hinsicht gesetzt ist? Vom faktischen Vorhandensein einer Staatsgewalt kann souveränitätsdogmatisch dann ausgegangen werden, wenn dem Staat

153

Dazu etwa Stein / v. Buttlar, Völkerrecht, 11. Aufl. 2005, Rn. 286 ff.

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überhaupt ein domaine reservé verbleibt154, ihm insofern Verfassungsautonomie zusteht155. Es bedarf insofern eines Residuums staatlicher Machtbefugnisse, die in der alleinigen Zuständigkeit des Staates stehen und von ihm autonom organisiert werden können. Dieser Restbestand an staatlichen Machtbefugnissen muss sich auf alle drei materiellen Staatsfunktionen erstrecken156. Andernfalls nämlich ist es nicht mehr gerechtfertigt vom domaine réservé, von der Verfassungsautonomie eines Staates zu sprechen. Schließlich unterscheidet sich ein Staat gerade dadurch von – gegebenenfalls auch hochpotenzierten – nichtstaatlichen Gebietskörperschaften, dass er sowohl über legislative und exekutive als auch über judikative Befugnisse verfügt157. Ansonsten aber stellt der Effektivitätsvorbehalt keine besonderen Anforderungen an jenes Residuum staatlicher Machtbefugnisse. Insbesondere gehört die auswärtige Gewalt, mithin also die aktuelle völkerrechtliche Handlungsfähigkeit nicht zu dem souveränitätsdogmatisch zwingend vorauszusetzenden Mindestbestand an Staatsgewalt158. Die in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG normierte Staatssouveränität stellt nach allem nur geringe Anforderungen an die Effektivität der Staatsgewalt: Sie lässt eine hochgradige Entmaterialisierung von Staatsgewalt zu, sofern die Durchsetzung der staatlichen Rechtsordnung gewährleistet bleibt, und verlangt ansonsten nur einen Restbestand an legislativen, exekutiven und judikativen Befugnissen. Für dieses Auslegungsergebnis spricht in der bereits näher dargelegten grundgesetzsystematischen Perspektive159, dass es sich mit dem völkerrechtlichen Souveränitätsbegriff deckt. Denn auch aus Sicht des Völkerrechts kommt es für die Souveränität in materieller Hinsicht allein darauf an, ob es der Staatsgewalt gelingt, seine Staatsordnung gebietsuniversal durchzusetzen160. Solange dies der Fall ist, trifft eine auf völkerrechtlicher Grundlage basierende Beschränkung der Staatsgewalt aus Sicht des völkerrechtlichen Souveränitätsverständnisses letztlich erst dort auf Grenzen, wo ein anderer Verband einen Staat im Gewand des Völkervertragsrechts zu einem État fantoche161 werden lässt. Dementsprechend verliert ein Staat seine Souve­ ränität etwa auch dann nicht, wenn er im Rahmen eines echten, völkerrechtlichen Protektoratsvertrags einer anderen Macht die Befugnis einräumt, seine auswärtigen und auch bestimmte innere Angelegenheit wahrzunehmen162. Anderes gilt freilich, wenn der Protektoratsvertrag lediglich dazu dient, eine Wirklichkeit zu beschönigen, in der die Ausübung der staatlichen Befugnisse letztlich insgesamt von 154

Stein / v. Buttlar (Fn. 153), Rn. 637 ff. Schweisfurth (Fn. 107), Kapitel 1 / Rn. 39. 156 Ebenso Saalfrank (Fn. 10), S. 83 f. 157 In diesem Sinne auch Hain (Fn. 84), Rn. 130. 158 So auch Saalfrank (Fn. 10), S. 83; vorsichtiger Steinberger (Fn. 106), S. 512. 159 Siehe zusammenfassend oben Kapitel 14 I. 3. d) = S. 1237. 160 Stein / v. Buttlar (Fn. 153), Rn. 285. 161 Siehe nochmals Schweisfurth (Fn. 107), Kapitel 1 / Rn. 95. 162 Kirchschläger, Artikel ‚Protektorat‘, in: Strupp / Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd.  2, 2. Aufl. 1961, S.  808 f.; auch Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2004, Rn. 131. 155

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dem vermeintlichen Protektor kontrolliert und beherrscht wird, es also an einem Residuum originär staatlicher Macht mangelt163.

cc) Souveränitätsverlust und europäische Integration Kehrt man vor diesem Hintergrund nochmals abschließend zu den ‚äußeren Schranken‘ zurück, die der Mitwirkung Deutschlands an der EU materialiter gesetzt sind, so ergibt sich folgendes Bild: Souveränitätsverlust tritt in materieller Perspektive erstens dann ein, wenn die staatlicherseits etablierte Ordnung nicht mehr dauerhaft durchgesetzt wird. Dies bedeutet zum einen, dass die Bundesrepublik Deutschland die ‚äußeren Schranken‘ mit der endgültigen Annahme eines Vertrags überschreitet, der eine solch umfängliche Übertragung von Hoheits­ befugnissen auf die EU zur Folge hat, dass nach wirklichkeitswissenschaftlicher Prognose von einer dauerhaften Durchsetzbarkeit der staatlich etablierten Ordnung nicht mehr ausgegangen werden kann. Das (relative) Mitwirkungsverbot der Staatssouveränitätsnorm wird dabei allerdings nicht schon durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen ausgelöst. Dies folgt allein schon daraus, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht daran gehindert sein soll, den Souveränitätsfall abzuwenden. Zum anderen wird die ‚äußere Schranke‘ insofern aber auch dann überschritten, wenn der europäische Integrationsprozess rein faktisch, also ohne Änderung der vertraglichen Grundlagen, dazu führt, dass die staatsgebietlich etablierte Ordnung nicht länger in Normalität erwächst. In diesem Fall greift das (relative)  Mitwirkungsverbot nicht erst dann, wenn die staatliche Ordnung undurchsetzbar geworden ist, sondern bereits dann, wenn ihre Undurchsetzbarkeit ernsthaft zu gewärtigen ist. Zweitens kommt es in der materiellen Perspektive dann zum Souveränitäts­ verlust, wenn die europäische Integration so weit vorangetrieben wird, dass die Bundesrepublik Deutschland de facto über keine eigene Staatsgewalt mehr verfügt. Wie die Erschütterung der staatsgebietlichen Rechtsordnung kann auch der Verlust der Staatsgewalt entweder durch ein völkerrechtsvertragliches Abkommen oder durch einen rein faktischen Prozess induziert sein. Während das aus der grundgesetzlichen Souveränitätsnorm ableitbare (relative) Mitwirkungsverbot in dem ersten Fall nicht schon die Vertragsverhandlungen, sondern erst den Vertragsschluss untersagt, greift es im zweiten Fall bereits dann, wenn der für die deutsche Staatsgewalt essentielle und existenzielle Mindestbestand an legislativen, exeku­ tiven und judikativen Befugnissen aufgrund eines schleichend-informellen Pro­ zesses ausgehöhlt zu werden droht.

163 Dies war der Fall des – völkerrechtlich zu Unrecht – so benannten Protektorats Böhmen und Mähren (siehe Kirchschläger [Fn. 162], S. 809).

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2. ‚Äußere Schranken‘ und Souveränitätsverzicht Nach allem zeigt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich auch an einer (noch) machtvoll(er)en EU mitwirken darf, ohne an die ‚äußeren Schranken‘ zu stoßen, die sich aus der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Staats­ souveränitätsnorm ableiten. Solange die EU formell im Völkerrecht gründet, löst die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm erst dort ein (relatives) Mitwirkungsverbot aus, wo die von der deutschen Staatsgewalt unterfangene Rechtsordnung seine Wirksamkeit einzubüßen oder Deutschland seiner Staatsgewalt verlustig zu gehen droht. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch deutlich wahrscheinlicher, dass in Zukunft diejenigen ‚äußeren Schranken‘ virulent werden, die die Bundesrepublik in der Perspektive des formellen Souveränitätsverständnisses zu beachten hat, als diejenigen, die ihrer Mitwirkung an der EU aus Sicht des materiellen Souveränitätsverständnisses Grenzen setzen. Konkreter: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich im Zuge der europäischen Integration zu einem bestimmten Zeitpunkt die Frage der formellen Bundesstaatswerdung stellt164, ist ungleich höher, als dass infolge der europäischen Integration auf dem Territorium der Mitgliedstaaten quasi-anarchische Verhältnisse ausbrechen oder die Mitgliedstaaten zu Marionettenstaaten der EU degenerieren. Wenn daher im Folgenden der Frage nachgegangen wird, inwieweit sich die souveränitätsrechtlichen ‚äußeren Schranken‘ grundgesetzlegal öffnen lassen, so geschieht dies vor dem Hintergrund dessen und in Hinblick darauf, dass die formelle Bundesstaatswerdung eine durchaus in Betracht zu ziehende Entwicklungshypothese für die EU darstellt165. Die ‚äußeren Schranken‘, die der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der EU durch die grundgesetzliche Staatssouveränitätsnorm gesetzt werden, sind vorstehend von der Konstellation des Souveränitätsverlusts her konkretisiert worden. Dem entspricht, wenn in Hinblick auf eine allfällige Öffnung dieser ‚äußeren Schranke‘ nachstehend erörtert wird, ob es stets einen von Grundgesetzes wegen zu vermeidenden Verlust darstellt, wenn die Bundesrepublik Deutschland ihre staatliche Souveränität einbüßt, oder ob nicht auch aus dem Grundgesetz heraus auf die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland verzichtet werden kann. In dieser Perspektive wird zunächst zu entwickeln sein, weshalb überhaupt nur das deutsche Staatsvolk in seiner Eigenschaft als pouvoir constituant in grundgesetzkonformer Weise auf die Souveränität der Bundesrepublik verzichten kann166. Daran anschließend soll dann eingehend diskutiert werden, inwiefern die pouvoirs constitués dazu befugt sind, eine Entscheidung des pouvoir constituant über den Souveränitätsverzicht grundgesetzlegal herbeizuführen167.

164 Siehe dazu nur Zuleeg, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Präambel EUV Rn. 5. 165 Dazu näher unten Kapitel 15 II. = S. 1294. 166 Dazu sogleich unten Kapitel 14 III. 2. a) = S. 1258. 167 Unten Kapitel 14 III. 2. b) = S. 1262.

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a) Souveränitätsverzicht nur durch das deutsche Staatsvolk in seiner Eigenschaft als Träger des pouvoir constituant originaire Bei dem im Grundgesetz thematisierten pouvoir constituant handelt es sich nicht etwa um eine bloße historische Reminiszenz, außerverfassungsmäßige politische Größe168 oder extrakonstitutionelle Geltungsvoraussetzung169. Vielmehr wird der pouvoir constituant vom Grundgesetz als eine besonders bedeutsame und jederzeit aktivierbare Ausformung von Staatsgewalt normativ in Bezug genommen170 und gleichsam in die positive Rechtsordnung hineingenommen171. So lässt sich Art. 146 GG aus den bereits dargelegten Gründen nicht etwa dahin auslegen, dass er eine letzten Endes lediglich deklaratorische Vorschrift über die Abänderbarkeit des Grundgesetzes in den Grenzen des Art. 79 enthielte und insofern nur die Ausübung des pouvoir constituant constitué beträfe172; vielmehr geht Art. 146 GG normativ davon aus, dass der pouvoir constituant auch tatsächlich mobilisierbar ist173. Entsprechendes gilt nach zutreffender Auffassung für Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Wenn dort von Staatsgewalt die Rede ist, wird aus den dargelegten Gründen174 notwendig auch der pouvoir constituant in Bezug genommen175. Zugleich erhellt aus dieser Verfassungsbestimmung, dass der pouvoir constituant vom Grundgesetz als ausübbar, mithin also wirkmächtig gedacht wird176. Träger dieses pouvoir constituant ist das sich aus den deutschen Staatsangehörigen sowie den Statusdeutschen zusammensetzende deutsche Staatsverbands 168

Kaufmann (Fn.  56), S.  47; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominalverwaltung, 1993, S. 157 f. 169 Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes (Fn. 56), Rn. 46. 170 Wie hier Rupp, Europäische „Verfassung“ und demokratische Legitimation, in: AöR 1995, S. 269 (271 f.). Dagegen etwa Roellecke, Verfassunggebende Gewalt als Ideologie, in: JZ 1992, S. 992 (933), der zur verfassunggebenden Gewalt bemerkt: „Jedem Versuch, sie rechtlich zu erfassen, entzieht sie sich.“ Den hoch differenzierten Meinungsstand zu der Frage, was mit der verfassunggebenden Gewalt nach dem Inkrafttreten einer Verfassung geschieht, skizziert Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – und Verfassungsänderung, 2007, S. 197 ff. 171 Siehe Murswiek (Fn. 9), Rn. 131. 172 So letztlich auch Dreier (Fn. 90), Rn. 23. 173 In diesem Sinne auch Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, in: JZ 1993, S. 594 (600); restriktiver Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant (Fn. 10), S. 186 f. 174 Vgl. oben Kapitel 10 II. 1. = S. 695. 175 Für diese Sichtweise lässt sich im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte ins Feld führen. So erklärte der Abg. Dr. Mangoldt (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 193), ohne dass dem in der Sache widersprochen worden wäre: „Indem wir an­ erkannt haben, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, haben wir ein unverzichtbares, aber auch unabdingbares Recht des Volkes anerkannt, über sein politisches Schicksal selbst zu entscheiden.“ 176 So konstatiert etwa auch Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 90 (98) für das Grundgesetz: „Sowohl der Begriff der verfassunggebenden Gewalt als auch das Volk als (notwendiger) Träger der ver­ fassunggebenden Gewalt sind (…) als staatsrechtliche Größe anerkannt.“

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volk. In Hinblick auf Art. 146 GG ist dies bereits dargetan worden177. Aber auch im Rahmen von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist davon auszugehen, dass allein das aus den deutschen Staatsangehörigen sowie den Statusdeutschen gebildete Staatsvolk der Deutschen den pouvoir constituant auszuüben berufen sein kann. Zwar prägt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in seiner primären Bedeutungsdimension, nämlich als Verbürgung einer demokratischen Zurechnungsstruktur, einen (entwicklungs-)offenen, polyvalent-variablen Volksbegriff aus178. Soweit die grundgesetzliche Volkssouveränitätsnorm aber in ihrer sekundären Bedeutungsdimension die verfassunggebende Gewalt des Volks gewährleistet, kann mit Volk nur die Gesamtheit der Deutschen im Sinne von Art. 116 GG gemeint sein179. Dies ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit Präambel und Art. 146 GG180. Zumindest gegenwärtig ist mit diesem vom Grundgesetz normativ in Bezug genommenen und letztlich dem deutschen Staatsvolk zugeschriebenen pouvoir ­constituant originaire nun nicht etwa nur die eingeschränkte verfassunggebende Gewalt eines Gliedstaats, sondern jene demokratische Urmacht181 gemeint, über die allein ein souveräner Staat verfügen kann. Dies erschließt sich zwar nicht schon aus dem Normtext der Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Art. 146 GG. Doch ist im Zuge einer im Wesentlichen teleologischen Argumentation bereits ausführlich dargetan worden, dass und weshalb das Grundgesetz jedenfalls gegenwärtig die Souveränität gerade der Bundesrepublik Deutschland verbürgt182. Ausdruck und Ausfluss dieser Souveränität ist indessen, dass die Bundesrepublik Deutschland die gebietsuniversal höchste Normsetzungsgewalt innehat. Vor diesem Hintergrund erhellt denn auch, dass der von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG und 146 GG in Bezug genommene pouvoir constituant derzeit als jene urtümliche, bindungslose ver­ fassunggebende Gewalt zu verstehen ist, von der auch der Abbé Sieyès in seiner Verfassungstheorie ausgegangen ist183. Vermöge seines in diesem Sinn zu verstehenden pouvoir constituant ist das deutsche Staatsvolk in der Lage, frei über seinen politischen Status zu entscheiden. Dazu gehört auch, über den pouvoir constituant und mithin über die Souveränität des eigenen Staatsverbands disponieren zu können184. Es ist dem deutschen Staatsvolk daher unbenommen, kraft seines pouvoir constituant die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in ein anderes souveränes Gemeinwesen zu bil 177

Wolf (Fn. 173), S. 600. Dazu zusammenfassend oben Kapitel 9 X. = S. 687. 179 Davon, dass das Grundgesetz in diesem Sinn zwischen Volk als pouvoir constituant und Volk als pouvoir constitué differenziert, geht auch Frank, Ausländerwahlrecht und Rechtsstellung der Kommune, in: KJ 1990, 290 (293) aus. 180 Dreier (Fn. 90), Rn. 52. 181 Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands, 1990, S. 30. 182 Siehe oben Kapitel 14 I. 2. b) = S. 1226. 183 Vgl. Sieyès (Fn. 24), S. 64 ff. (Chapitre V). 184 Dazu auch Beaud, La puissance de l’Etat, 1994, S. 482 f. 178

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ligen185, selbst wenn es infolgedessen seinen unbeschränkten pouvoir ­constituant verliert und allenfalls noch den beschränkten pouvoir constituant eines Gliedstaatsvolks besitzt. Stützen lässt sich diese Sichtweise auf die an früherer Stelle angestellten staatstheoretischen Überlegungen186. So ist dargelegt worden, dass die Verfügungsgewalt des demos über sich selbst Ausdruck von Volkssouveränität allgemein und seines pouvoir constituant im Besonderen ist. Da das Grundgesetz die Volkssouveränität normiert und die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt rezipiert hat, können die staatstheoretischen Erwägungen auch im Rahmen einer genuin normwissenschaftlichen Interpretation des Grundgesetzes Berücksichtigung finden. Damit ist freilich bislang lediglich ausgesagt, dass das deutsche Staatsvolk als Träger des pouvoir constituant in grundgesetzkonformer Weise auf die Souveränität Deutschlands verzichten kann187. Noch zu klären ist, weshalb der Souveränitätsverzicht nur durch den pouvoir constituant geübt werden kann; es bleibt mit anderen Worten zu begründen, weshalb nicht auch die pouvoirs constitués188 und in Sonderheit der pouvoir constituant constitué hierzu befugt sind189. Ausschlaggebend dafür ist, dass das Grundgesetz eine klare Trennlinie zwischen der verfassunggebenden Gewalt und den verfassten Gewalten zieht190. Anders als der pouvoir constituant sind die pouvoirs constitués wesensmäßig limitiert191. Insbesondere verfügt auch der pouvoir constituant constitué über eine vom pouvoir constituant kompetenzrechtlich eingehegte, mithin also lediglich beschränkte Macht192: Neben Art. 146 GG193 limitiert vor allem Art. 79 Abs. 3 GG194 die Handlungsmöglichkeiten des verfassungsändernden Gesetzgebers. Dies aber bedeutet, 185 Dass das Grundgesetz einer Eingliederung in einen europäischen Bundesstaat nicht entgegensteht, war in den Jahren unmittelbar nach seinem Inkrafttreten weithin unbestritten (vgl. dazu nur Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus Sicht der Mitgliedstaaten, in: EuR 1995, S. 315 [318]). 186 Siehe oben Kapitel 7 II. 3. = S. 534. 187 Dazu ist das deutsche Staatsvolk völkerrechtlich auch schon aufgrund seines Selbst­ bestimmungsrechts befugt, vgl. Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 1993, Sonderheft 6, S. 11 (20). 188 So freilich Siekmann (Fn. 17), S. 359 ff. 189 Für einen Souveränitätstransfer durch den pouvoir constituant constitué plädiert im Rahmen des luxemburgischen Verfassungsrechts Frieden, L’Union Européenne et la Constitution luxembougeoise: une cohabitation nécessaire, in: Ann. dr. lux. 1992, S. 53 ff. 190 In diesem Sinne auch Murswiek Maastricht und der Pouvoir Constituant (Fn. 10), S. 171 und Penski, Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 III GG, in: ZRP 1994, S. 192 (195). 191 Murswiek Maastricht und der Pouvoir Constituant (Fn. 10), S. 171. 192 Murswiek, Was vom Wiedervereinigungsgebot übrig blieb, in: Ipsen / Schmidt-Jorzig (Hrsg.), Festschrift für Rauschning, 2001, S. 57 (60 f.). 193 Art. 146 GG ist nicht nur positive (dazu etwa Merkel [Fn. 57], S. 101 ff.), sondern auch negative Kompetenznorm (in diese Richtung auch Huber [Fn. 61], Rn. 11). 194 Vgl. Rupp, Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden ?, in: NJW 1993, S. 38 (39 f.) sowie Würtenberger (Fn. 57), S. 101 f.

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dass die verfassten Gewalten einschließlich des verfassungsändernden Gesetzgebers gerade nicht die  – souveränitätsvermittelnde  – gebietsuniversal höchste Normsetzungsmacht innehaben. Deren Träger ist dem Grundgesetz zufolge allein das deutsche Staatsvolk als pouvoir constituant. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb die pouvoirs constitués nicht über die Souveränität Deutschlands disponieren können: Sie würden in diesem Fall Machtbefugnisse beanspruchen, die ihnen dem Grundgesetz zufolge nicht zustehen. Sucht man diese Erkenntnis zu veranschaulichen, so ergibt sich folgendes Bild: Angesichts der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage könnte der verfassungs­ ändernde Gesetzgeber auf die Idee verfallen, die formelle Eingliederung Deutschlands in eine EU über Art.  23 Abs.  1 Satz  3  GG ins Werk zu setzen. Dass dies nicht möglich ist, ergibt sich im Ergebnis daraus, dass der (materiell) verfassungsändernde Gesetzgeber an Art.  79 Abs.  3  GG gebunden ist, was Art.  23 Abs. 1 Satz 3 GG eigens hervorhebt195. Denn die grundgesetzliche Ewigkeitsklausel schützt, wie dargelegt, die dort in Bezug genommene Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in vollem Umfang196. Zu der in dieser Weise von Art. 79 Abs.  3  GG gewährleisteten Volkssouveränität gehört zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch die Staatssouveränität der Bundesrepublik Deutschland197. Nun scheitert ein vom verfassungsändernden Gesetzgeber betriebener Souveränitätsverzicht freilich nicht schon daran, dass ein solcher mit der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG mit normierten Staatssouveränität schlechterdings unvereinbar wäre198. Schließlich ist es dem deutschen Staatsvolk aufgrund seines in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG verbürgten pouvoir constituant durchaus möglich, über seinen politischen Status als Verbandsvolk eines souveränen Staats zu disponieren. Art. 79 Abs. 3 GG greift demzufolge nicht schon deshalb ein, weil die vom Grundgesetz derzeit garantierte Staatssouveränität Deutschlands aus grundgesetzlicher Sicht gänzlich unverfügbar wäre. Entscheidend ist vielmehr, dass Art. 79 Abs. 3 GG von der strikten Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoir (constituant) constitué ausgeht. Denn zum einen nimmt er Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG in Bezug, der in seiner sekundären Bedeutungsschicht diese Unterscheidung verfassungskräftig rezipiert hat; zum anderen und vor allem muss die Ewigkeitsklausel um ihrer selbst willen voraussetzen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber limitierbar und limitiert ist. Vor diesem Hintergrund drängt sich bei teleologischer Betrachtung der Schluss auf, dass es mit Art.  79 Abs.  3  GG unvereinbar wäre, wenn sich der verfassungsändernde Gesetzgeber, indem er den Souveränitätsverzicht Deutschlands billigte, die Dispositionsfreiheit über den pouvoir constituant anmaßte. Denn dadurch nähme er eine Macht für sich in Anspruch, die ihm nach

195

Im Ergebnis gleich Breuer (Fn. 146), S. 423. Siehe oben Kapitel 9 III. = S. 571. 197 Im Ergebnis gleich Schilling (Fn. 56), S. 65. 198 So auch Dreier (Fn. 20), Rn. 60.

196

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Sinn und Zweck von Art. 79 Abs. 3 GG überhaupt nicht zustehen kann und daher auch nicht zustehen soll. Aus dieser teleologischen Erwägung lässt sich weiterhin der Schluss ziehen, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber auch dadurch nicht in grundgesetz­ legaler Weise auf die Souveränität Deutschlands verzichten kann, dass er in einem ersten Schritt Art. 79 Abs. 3 GG abschafft und in einem zweiten Schritt dann gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in den Souveränitätsverzicht einwilligt199. Da die grundgesetzliche Ewigkeitsklausel die Verschiedenheit von illimitiertem pouvoir constituant und limitiertem pouvoir constituant constitué voraussetzt, muss sie es nach ihrem Sinn und Zweck verbieten, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber sie beseitigt200. Diesen über die ihn verfassende negative Kompetenzvorschrift201 des Art. 79 Abs. 3 GG verfügen zu lassen, hieße, seine für die Ewigkeitsklausel, aber auch für ihn selbst konstitutive Wesensverschiedenheit vom pouvoir constituant zu ignorieren. Vor diesem Hintergrund wird begreifbar, dass und weshalb ein nach geltendem deutschen Verfassungsrecht legaler Souveränitätsverzicht zugunsten der EU nur, aber doch immerhin durch das deutsche Volk in seiner Eigenschaft als Träger des pouvoir constituant beschlossen werden kann202. Es schließt sich die Frage an, inwieweit das deutsche Volk als pouvoir constituant grundgesetzlegal dahingehend aktiviert werden kann, dass es über einen politisch zur Debatte stehenden Souveränitätsverzicht entscheidet.

b) Grundgesetzlegale Aktivierung des pouvoir constituant in den Fällen eines von ihm zu entscheidenden Souveränitätsverzichts In Art. 146 GG wie auch in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG wird der pouvoir constituant des deutschen Staatsvolks als jederzeit aktivierbar vorausgesetzt. Aktivieren lässt sich der pouvoir constituant freilich nur im Rahmen eines konkreten rechtsförmigen Verfahrensarrangements203. „Ohne Normierung“ nämlich hat, wie es in 199

In diesem Sinn auch Bleckmann (Fn. 47), S. 154. Anderer Auffassung allerdings Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 250 f. 201 Der Terminus der negativen Kompetenzvorschrift wird üblicherweise verwendet, um eine der objektiv-rechtlichen Bedeutungsdimensionen von Grundrechten zu bezeichnen (vgl. nur Hesse, Artikel ‚Grundrechte‘, in: Görres-Gesellschaft [Hrsg.], Staatslexikon, Bd.  2, 7. Aufl. 1987, Sp. 1111 [1116]). Er erweist sich indes auch im hiesigen Kontext als sachgemäß. 202 Wie hier Ströbele (Fn. 72), S. 94; Herdegen (Fn. 40), S. 594; Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz, in: DVBl. 1993, 629 (632 f.); Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 493; Moelle (Fn. 56), S. 231; dagegen Kaufmann (Fn. 56), S. 417; Di Fabio (Fn. 17), S. 210 ff. 203 Insofern zutreffend Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Stober (Hrsg.), Festschrift für Roellecke, 1997, S. 137 (140): „Das Volk kann über seine Verfassung nur entscheiden, wenn es handlungsfähig ist.“ Vgl. ferner Wegge (Fn. 58), S. 221. 200

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den Hellers ‚Staatslehre‘ abschließenden Bemerkungen über den pouvoir consti­ tuant heißt, „eine Menschenmenge weder einen entscheidungsfähigen Willen, noch eine aktionsfähige Macht, am allerwenigsten aber besitzt sie Autorität“204. Es bedarf mit anderen Worten eines konkreten Fahrplans für den verfassung­gebenden Prozess  – beispielsweise dahingehend, dass ein Verfassungskonvent einen Ver­ fassungsentwurf erarbeiten soll, über den dann das Volk durch Referendum zu entscheiden hat. Vor diesem Hintergrund stellt sich die zentrale Frage, inwieweit die pouvoirs constitués verfassungsrechtlich befugt sind, den pouvoir con­ stituant durch Normierung eines solchen konkreten rechtsförmigen Verfahrens­ arrangements zu mobilisieren205. Dass damit die grundgesetzlegale Aktivierung des pouvoir constituant gerade durch die Verfassungsorgane in den Mittelpunkt der nachfolgenden Erwägungen gerückt wird, darf freilich nicht zu fehlsamen Folgerungen verleiten. Denn selbstverständlich kann und soll das deutsche Staatsvolk durch das Grundgesetz nicht daran gehindert sein, sich auch außerhalb hoheitlich normierter Verfahren als ­pouvoir constituant verfahrensrechtsförmig zu organisieren206. Schließlich begreift das Grundgesetz den pouvoir constituant originaire des deutschen Staatsvolks als ungebundene, urtümliche Gewalt207. Infolgedessen wäre es verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn der in Art. 146 und 20 Abs. 2 Satz  1  GG verbürgte pouvoir constituant des deutschen Volks aus einem rein zivilgesellschaft­lichen Kontext heraus in verfahrensrechtlich organisierter Wirklichkeit erwüchse208. Doch kann von einer solchen zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation des deutschen Volks als pouvoir constituant209 nicht nur gegenwärtig keine Rede sein. Es ist auch auf lange Sicht gesehen eher unwahrscheinlich, dass sich die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volks anders als vermittels hoheitlich normierter Verfahren aktivieren lässt. Denn zivilgesellschaftliche Verfassungsbewegungen210 haben im Regelfall weder die Breitenwirkung noch die demokratische Autorität, derer es bedarf, um das deutsche Volk als pouvoir constituant verfahrensrechts­förmig zu organisieren211. In dieser Perspektive bestätigt sich, dass das Problem, wie sich das deutsche Staatsvolk in seiner Eigenschaft als Träger der verfassunggebenden Gewalt grundgesetzlegal aktivieren lässt, der Sache nach auf die Frage zuläuft, inwieweit speziell die pouvoirs constitués dazu 204

Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 (394). Dazu etwa Merkel (Fn. 57), S. 209 ff. oder Moelle (Fn. 56), S. 195 ff. 206 Lehrreich in diesem Zusammenhang Maus, Basisdemokratische Aktivitäten und rechtsstaatliche Verfassung, in: Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 99 (114 ff.). 207 Insoweit gleich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 148 f. 208 Überzeugend hierzu Moelle (Fn.  56), S.  200 ff.; im Ergebnis gleich Dreier (Fn.  90), Rn. 53. 209 Zu dieser grundsätzlichen Möglichkeit Böckenförde (Fn. 176), S. 105. 210 Beispielhaft hierfür sind die Bemühungen des ‚Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder‘. 211 Ähnlich Moelle (Fn. 56), S. 203. 205

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befugt sind, ein rechtsförmiges Verfahrensarrangement zu schaffen und durchzusetzen, durch das der ­pouvoir constituant konkret mobilisiert wird. Um diese Frage zu beantworten, muss zum einen untersucht werden, inwieweit die pouvoirs constitués formell-rechtlich dazu in der Lage sind, ein solches rechtsförmiges Verfahrensarrangement zu erlassen212. Zum anderen ist zu analysieren, welche für die pouvoirs constitués beachtlichen inhaltlichen Anforderungen das Grundgesetz an das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrens­ arrangement stellen213. Vor diesem Hintergrund wird sich dann auch offenbaren, inwiefern die pouvoir constitués in der Lage sind, eine Entscheidung des pouvoir constituant über einen Souveränitätsverzicht zugunsten eines souveränen Bundesstaats Europa grundgesetzlegal herbeizuführen214.

aa) Erlass eines den pouvoir constituant konkret aktivierenden Verfahrensarrangements in formell-rechtlicher Perspektive Inwieweit die pouvoirs constitués durch das Grundgesetz formell-rechtlich befähigt sind, durch Schaffung eines rechtsförmigen Verfahrensarrangements das deutsche Volk als pouvoir constituant zu aktivieren, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Bedeutung man insofern Art. 79 Abs. 2  GG beimisst. Teilweise wird vertreten, dass es einer vorgängigen Grundgesetzergänzung gemäß Art.  79 Abs.  2  GG bedürfe, damit verfasste Gewalten den pouvoir constituant durch Erlass eines konkreten Verfahrensarrangements mobilisieren können215. Begründet wird dies damit, dass die vorhandenen Bestimmungen keine Grundlage für eine derartige Aktivierung des pouvoir constituant böten216. Nach anderer Auf­ fassung bedarf es zur verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant keiner vorausgehenden Verfassungsänderung217. Jedoch geht ein Gutteil dieser Meinungsgruppe davon aus, dass Art. 79 Abs. 2 GG immerhin entsprechend auf die Entscheidung der pouvoirs constitués über das die verfassunggebende Gewalt aktivierende Verfahrensarrangement anzuwenden sei218. Im Folgenden wird dargetan, weshalb allein diese zuletzt angeführte Sichtweise zu überzeugen vermag.

212

Unten Kapitel 14 III. 2. b) aa) = S. 1264. Unten Kapitel 14 III. 2. b) bb) = SS. 1276. 214 Unten Kapitel 14 III. 2. b) cc) = S. 1283. 215 Stückrath (Fn. 57), S. 229 f.; vgl. auch Doehring (Fn. 162), Rn. 310, Kirn (Fn. 61), Rn. 14 und Würtenberger (Fn. 57), S. 104 f. 216 Siehe zum Beispiel Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 8. Aufl. 2006, Art. 146 Rn. 3. 217 Etwa Moelle (Fn. 56), S. 213 ff. 218 Kirn (Fn. 61), Rn. 14. 213

Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

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(1) Kompetenzrechtliche Rahmenbedingungen Im Ausgangspunkt ist darauf hinzuweisen, dass das Grundgesetz durchaus Regelungen enthält, mit denen sich diejenigen Fälle jedenfalls ansatzweise bewältigen lassen, in denen verfasste Gewalten den pouvoir constituant durch Erlass eines entsprechenden Verfahrensarrangements aktivieren wollen. Insbesondere müssen nicht erst Kompetenztitel für eine verfahrensrechtsförmige Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt geschaffen werden219. Vielmehr steht dem Bund die Verbandskompetenz, dem Bundestag die Organkompetenz zu, eine entsprechende verfahrensrechtliche Regelung zu treffen. Zwar fehlt es im Grundgesetz an einer ausdrücklichen Kompetenzbestimmung, der zufolge der Bund zur Schaffung eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements befugt wäre. Doch ist insofern von einer ungeschriebenen Bundeskompetenz ‚kraft Natur der Sache‘220 auszugehen221. Denn ebenso wie die Raumordnung222 für das gesamte Bundesgebiet sachgerecht überhaupt nur durch den Bund geregelt werden kann, stellt auch die Entscheidung über die etwaige Neuschöpfung der das gesamte Bundesgebiet erfassenden Verfassungsordnung eine der partikularen Zuständigkeit der Länder a priori entrückte Angelegenheit des Bundes dar. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Länder beim Erlass des Grundgesetzes ausweislich Art. 144 Abs. 1 GG noch unmittelbar beteiligt waren223. Denn insofern haben die Länder nicht in eigener Zuständigkeit ihre jeweils eigene Staatsgewalt aus­ geübt. Vielmehr ist die Gesamtheit der Länder als Organ des Bundes tätig geworden und hat dessen pouvoir constituant ausgeübt224. Dass der Bund zur verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant originaire befugt ist, wird demnach durch die Entstehungsgeschichte nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bekräftigt225. Die Organkompetenz des Bundestags wiederum ergibt sich daraus, dass die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant eine wesentliche An­ gelegenheit darstellt. Sie muss daher von Verfassungs wegen dem Parlament vorbehalten bleiben. Jedenfalls unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten braucht das Grundgesetz somit nicht erst gemäß Art. 79 Abs. 2 GG ergänzt zu werden, damit der pouvoir constitué den pouvoir constituant durch Erlass eines konkreten Verfahrensarrangements aktivieren kann. 219 So aber Heckmann (Fn. 60), S. 28; wie hier – wenngleich bei grundlegend anderem Verständnis von Art. 146 GG – Speckmaier (Fn. 57), Rn. 25. 220 Dazu allgemein Vogel (Fn. 28), Rn. 72. 221 Offen gelassen von Moelle (Fn. 56), S. 215, der auf eine extrakonstitutionelle Kompetenz des pouvoir constituant abstellt, auf die sich offenbar auch der pouvoir constitué berufen können soll, wenn er als dessen ‚Hilfsorgan‘ tätig wird. 222 Siehe dazu das verfassungsprozessrechtsgeschichtlich berühmte Baurechtsgutachten des BVerfG (E 3, 407 [422 ff.]). 223 So indes Schmitt Glaeser, S. 40 f. und Penski (Fn. 190), S. 196. 224 Siehe dazu auch Huber (Fn. 61), Rn. 8. 225 In diesem Sinne auch Murswiek (Fn. 207), S. 30 ff.

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(2) Die These: Kein Erlass eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements im einfachen Gesetzgebungsverfahren Dem Grundgesetz lässt sich keine unmittelbare Antwort auf die Frage entnehmen, in welchem Verfahren der Bundestag über die verfahrensrechtsförmige Mobilisierung des pouvoir constituant entscheiden darf. So scheidet ein direkter Rückgriff auf das Verfahren der Verfassungsänderung ohne Weiteres aus226. Schließlich ist die Mobilisierbarkeit des pouvoir constituant im Grundgesetz unmittelbar angelegt und normiert. Der Bundestag bewegt sich insofern innerhalb der vom Grundgesetz gesetzten Grenzen und definiert diese nicht neu, wenn er ein Verfahrensarrangement erlässt, durch das die verfassunggebende Gewalt aktiviert wird. Kurzum: Für die unmittelbare Anwendung von Art. 79 Abs. 2 GG fehlt es an der Verfassungsänderung227. Aber auch auf das normtextuell an sich einschlägige Verfahren einfacher Gesetzgebung kann vorliegend nicht rekurriert werden228. Denn die insoweit maßgeblichen Vorschriften229 sind teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass sie den Fall der verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant gerade nicht erfassen230. Dies erschließt sich aus dem insofern vorrangigen Sinn und Zweck von Art. 79 Abs. 2 GG. Art. 79 Abs. 2 GG bringt zum Ausdruck, dass das Grundgesetz als starre Verfassung231 auf Dauer und Stabilität hin angelegt ist, somit also den konfliktären Auseinandersetzungen der laufenden Politik entzogen sein soll. Eben weil sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rats bewusst waren, dass das Grund­ gesetz nur aufgrund teilweise überaus schmerzhafter Kompromisse in weitgehendem Konsens verabschiedet werden konnte232, haben sie den Grundgesetzbestimmungen in Art.  79 Abs.  2  GG eine erhöhte Bestandsgarantie233 zugesichert. Es sollte ver­hindert werden, dass schon eine knappe politische Mehrheit einzelne dieser Kompromisse unilateral aufkündigen, dadurch den mühsam errungenen Verfassungskonsens insgesamt beschädigen und infolgedessen Dauerhaftigkeit sowie Stabilität des Grundgesetzes gefährden kann. Anders formuliert: Um Dauer­ haftigkeit und Stabilität des Grundgesetzes zu erhalten, sollte das knappe Gut Verfassungskonsens künftighin dergestalt nachhaltig bewirtschaftet werden, dass 226

So zutreffend auch Moelle (Fn. 56), S. 211. Insoweit zutreffend Wegge (Fn. 58), S. 222. 228 Anderer Ansicht Murswiek (Fn. 9), Rn. 168. 229 Art. 76 bis 78 und Art. 82 GG. 230 Anderer Ansicht wohl Hofmann (Fn. 56), S. 160. 231 Heller (Fn. 204), S. 389. 232 Vgl. Abg. Dr. v. Brentano (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S.  232) und Abg. Dr. Adenauer (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 242). 233 Dazu auch Heller (Fn. 204), S. 389. 227

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ein einmal geschlossener Verfassungskompromiss nur auf der Grundlage eines breiten Mehrheitsbeschlusses aufgehoben beziehungsweise substituiert werden kann234. Dem sich in Art.  79 Abs.  2  GG insofern offenbarenden, grundgesetzzentralen Perpetuierungs- und Stabilisierungszweck würde es nun gleichfalls wider­ sprechen, könnte das den pouvoir constituant aktivierende Verfahrensarrangement im normalen Gesetzgebungsverfahren beschlossen werden235. Dies bedarf freilich der näheren Begründung. Schließlich soll der pouvoir constituant verfahrensrechtsförmig aktiviert werden, um eine neue, vom Grundgesetz verschiedene Verfassung zu schöpfen. Insofern mag es jedenfalls auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, weshalb der Zweck des Art. 79 Abs. 2 GG, nämlich Dauerhaftigkeit und Stabilität des Grundgesetzes zu erhalten, das Verfahren normativ determinieren soll, in dem der pouvoir constitué über das den pouvoir constituant aktivierende konkrete Verfahrensarrangement entscheidet. Denn die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant ist doch gerade auf den Kontinuitätsbruch ausgerichtet – und dies in vollem Einklang mit dem Grundgesetz, das den pouvoir constituant als aktivierbar voraussetzt. Es mag mit anderen Worten zunächst widersprüchlich klingen, dass der Ablauf eines Verfahrens Zwecken dienen soll, die dem Verfahrensziel diametral entgegenstehen. Eine genauere Analyse ergibt indes dreierlei: Erstens zeigt sich, warum von Art.  79 Abs.  2  GG überhaupt teleologisch auf das Verfahren rückgeschlossen werden kann, in dem der pouvoir constitué über die verfahrenrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant zu beschließen vermag236. Zweitens offenbart sich, dass es dem Sinn und Zweck von Art.  79 Abs.  2  GG tatsächlich widerstritte, wenn im einfachen Gesetzgebungsverfahren über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire entschieden werden könnte237. Drittens wird deutlich, dass der teleologische Rückgriff auf Art.  79 Abs.  2  GG auch dadurch nicht in Frage gestellt wird, dass sich diese Verfassungsbestimmung gar nicht auf das eigentliche strukturelle Pendant zur verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant bezieht, nämlich nicht auf die Initiierung einer verfassungsändernden Gesetzgebung, sondern auf die Entscheidung über die Verfassungsänderung selbst und insofern das strukturelle Pendant zum verfassunggebenden Akt betrifft238.

234 Zu dem von einer Verfassung generell erhobenen Anspruch auf dauerhafte Geltung vgl. auch Winterhoff (Fn. 170), S. 120 f. 235 So auch Bryde (Fn. 65), Rn. 44. 236 Siehe unten Kapitel 14 III. 2. b) aa) (3) = S. 1268. 237 Unten Kapitel 14 III. 2. b) aa) (4) = S. 1268. 238 Unten Kapitel 14 III. 2. b) aa) (5) = S. 1270.

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(3) Zur Statthaftigkeit des teleologischen Rückgriffs auf Art. 79 Abs. 2 GG Für die Konkretisierung des grundgesetzlichen Verfahrens, in dem der pouvoir constitué über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant entscheidet, kann deshalb auf den Zweck von Art. 79 Abs. 2 GG rekurriert werden, weil es infolge der konkreten prozeduralen Mobilisierung des pouvoir constituant originaire nicht immer und zwangsläufig zu einer Verfassungsneuschöpfung kommen muss239. Vielmehr kann der Prozess der Verfassunggebung auch scheitern  – etwa mangels entsprechender Mehrheiten im deutschen Volk. In diesem Fall gilt das Grundgesetz unverändert fort240. Die grundgesetzliche Kontinuität ist dann nicht nur nicht gebrochen, sondern wird im Gegenteil vom Grundgesetz nach wie vor unvermindert eingefordert, was sich nicht zuletzt aus Sinn und Zweck des selbstverständlich gleichfalls fortgeltenden Art. 79 Abs. 2 GG erschließt. In Hinblick auf die Erfolglosigkeit, die einem wirksam in Gang gesetzten Prozess der Verfassunggebung beschieden sein kann, erscheint es denn auch als durchaus gerechtfertigt und geboten, wenn der Art. 79 Abs. 2 GG eingeschriebene Zweck der Entzeitlichung und Verfestigung des Grundgesetzes auch dort maßgeblich berücksichtigt wird, wo es um das Verfahren geht, in dem der pouvoir constitué über die verfahrensrechtsförmige Mobilisierung des pouvoir constituant entscheidet. Knapper formuliert: Da die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant nicht notwendig in einen Akt der verfassunggebenden Gewalt und mithin in eine vom Grundgesetz selbst gebilligte Durchbrechung seiner Dauerhaftigkeit und Stabilität einmündet, muss das Verfahren, in dem der pouvoir constitué über die Aktivierung entscheidet, die Möglichkeit eines erfolglosen Ausgangs des verfassunggebenden Prozesses reflektieren und in dieser Hinsicht den Art. 79 Abs. 2 GG eingeschriebenen Zweck der Entzeitlichung sowie Verfestigung des Grundgesetzes normativ verarbeiten.

(4) Zum teleologischen Rückgriff auf Art. 79 Abs. 2 GG Aus der insofern maßgeblichen Perspektive eines allfälligen Scheiterns des verfassunggebenden Prozesses würde es nun freilich den Perpetuierungs- und Stabilisierungszweck des Art. 79 Abs. 2 GG konterkarieren, wenn über diesen Prozess im einfachen Gesetzgebungsverfahren entschieden, er also schon durch knappe politische Mehrheiten eingeleitet werden könnte. Zwar bliebe das Grundgesetz in einer solchen Konstellation im Ergebnis unverändert. Mithin würde der Verfassungs­ konsens und infolgedessen die Dauerhaftigkeit und Stabilität des Grundgesetzes nicht schon dadurch gefährdet, wogegen Art. 79 Abs. 2 GG eigentlich gerichtet ist, nämlich dass einstmals geschlossene Verfassungskompromisse in Widerspruch 239

Gegen diesen Begründungsansatz Merkel (Fn. 57), S. 109 ff. Vgl. Mahrenholz (Fn. 64), S. 48.

240

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zum Willen breiter Bevölkerungskreise förmlich revidiert werden. Zu berücksichtigen ist jedoch zum einen, dass in den Fällen, in denen eine schmale Mehrheit über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant entscheidet, die Wahrscheinlichkeit entsprechend größer ist, dass dieser Prozess scheitert. Denn je geringer die Zustimmung zur Einleitung des verfassunggebenden Prozesses ist, desto eher wird er ergebnislos enden, weil man sich nicht auf den Inhalt des verfassunggebenden Akts verständigen kann. Nun beeinträchtigt es freilich die Stabilität und Dauerhaftigkeit des Grundgesetzes, wenn es nur deshalb fortgilt, weil der verfassunggebende Prozess gescheitert ist. Denn mit der Entscheidung über dessen Einleitung sind grundgesetzzentrale Verfassungskompromisse in Frage gestellt worden und zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht worden. Allein dadurch – also ohne förmliche Aufhebung des betreffenden Verfassungskompromisses – ist der für die Stabilität und Dauerhaftigkeit des Grundgesetzes maßgebliche Verfassungskonsens nach einem letztlich erfolglosen Versuch, den pouvoir constituant originaire zu aktivieren, als erschüttert, zumindest aber als getrübt anzusehen. Schon dies belegt, dass die Mobilisierbarkeit der verfassunggebenden Gewalt durch unqualifizierte Parlamentsmehrheiten den Perpetuierungszweck des Art. 79 Abs. 2 GG konterkarieren würde. Hinzu tritt zum anderen, dass die politischen Auseinandersetzungen, die einen Prozess der Verfassunggebung unweigerlich begleiten, umso härter und unversöhn­ licher ausfallen dürften, je knapper die politische Mehrheit ist, mit der über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant entschieden wird. Denn der verfassunggebende Prozess präsentiert sich unter diesen Voraussetzungen als Folge der einseitig parteiischen Aufkündigung früher eingegangener Verfassungskompromisse. Für den hier interessierenden Fall, dass der verfassung­ gebende Prozess scheitert, hätte dies folgende Konsequenz: Die von der knappen politischen Mehrheit mit der Aktivierung des pouvoir constituant originaire zur Disposition gestellten grundgesetzkonstitutiven Verfassungskompromisse würden zwar formell fortbestehen, wären materiell aber nachhaltig erschüttert. Sie wären nicht mehr integraler Bestandteil des gebietsgesellschaftlich ganz überwiegend Konsentierten, sondern – zumindest bis auf Weiteres – Gegenstand der laufenden, in besonderem Maße angeheizten politischen Auseinandersetzung. Hierdurch freilich würde der mühsam errungene Verfassungskonsens und infolgedessen auch die Dauerhaftigkeit und Stabilität des Grundgesetzes in ähnlicher Weise unterminiert, wie wenn es entgegen Art. 79 Abs. 2 GG einer knappen politischen Mehrheit gestattet wäre, im Rahmen des Verfahrens der Verfassungsänderung einen bislang konsensuellen Verfassungskompromiss formell aufzuheben.

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(5) Zur möglichen Kritik am teleologischen Rückgriff auf Art. 79 Abs. 2 GG Die mit dieser Argumentation begründbare These, dass Art. 79 Abs. 2 GG seinem Sinn und Zweck nach eine verfahrensrechtsförmige Aktivierung des ­pouvoir constituant durch unqualifizierte Parlamentsmehrheiten ausschließt, lässt sich nun nicht etwa dadurch widerlegen, dass diese Verfassungsbestimmung nur für den Erlass eines verfassungsändernden Gesetzes eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat fordert, das Grundgesetz in Hinblick auf eine entsprechende Gesetzesvorlage hingegen keine besonderen Mehrheitserfordernisse statuiert241. Zwar lässt sich dem Grundgesetz insofern die Wertung entnehmen, dass von der Initiative knapper politischer Mehrheiten, existierende Verfassungskompromisse im Verfahren der Verfassungsänderung gemäß Art. 79 GG zu modifizieren, keine solch nachhaltigen Erschütterungen des Verfassungskonsenses zu befürchten sind, als dass bei einem Scheitern dieser Gesetzesinitiative die Dauerhaftigkeit und Stabilität der letztlich unverändert gebliebenen Verfassung ernsthaft gefährdet wäre. Andernfalls nämlich hätte der ausweislich Art. 79 GG um die Entzeitlichung und Stabilisierung des Grundgesetzes bemühte historische Verfassunggeber konsequenterweise auch schon die Vorlage von verfassungsändernden Gesetzen an die Mehrheitserfordernisse des Art. 79 Abs. 2 GG geknüpft. Indes lässt sich diese Wertung nicht auf den Fall übertragen, dass der ­pouvoir constitué den pouvoir constituant verfahrensrechtsförmig aktiviert. Denn wiewohl es auch hier letztlich nur um die Einleitung eines Verfahrens geht, an dessen Ende die Überwindung einstmals abgeschlossener Verfassungskompromisse stehen soll, sind die Implikationen für den Verfassungskonsens und mithin für Dauerhaftigkeit sowie Stabilität der Verfassung doch ungleich größer, wenn der ­pouvoir consti­ tuant originaire verfahrensrechtsförmig aktiviert wird, als wenn dem ­pouvoir constituant constitué eine Verfassungsänderung angesonnen wird. Dies ergibt sich schon daraus, dass im Prozess der Verfassunggebung erstens für das Grundgesetz wesensprägende Verfassungskompromisse zur Disposition gestellt werden und zweitens im Verlauf dieses Prozesses in der einen oder anderen Weise unmittelbar an das Volk appelliert wird. Die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire hat daher eine politische Breiten- und Tiefen­ wirkung, die die einer Initiative zur Grundgesetzänderung nach Art.  79  GG bei Weitem übertrifft. Daraus wiederum folgt, dass existierende Verfassungskompromisse im Prozess der Verfassunggebung sehr viel massiver in Frage gestellt und sehr viel stärker in die konfliktären Auseinandersetzungen der laufenden Politik hineingesogen werden, als dies bei einer Gesetzgebungsinitiative zur Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 2 GG typischerweise der Fall sein wird. Infolgedessen erweist sich auch die zu konstatierende Erschütterung des grundgesetzlichen Verfassungskonsenses dann um ein Vielfaches nachhaltiger und 241

In diese Richtung aber Moelle (Fn. 56), S. 212.

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gravierender, wenn eine Verfassunggebung scheitert, als wenn lediglich die Initiative zur Verfassungsänderung erfolglos bleibt. Bei rechtlich-wertender Betrachtung kann die Initiative zur Verfassungsänderung daher nur mit der an den zuständigen pouvoir constitué gerichteten Initiative zur verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant verglichen werden, nicht aber mit der Entscheidung dieses pouvoir constiué über die verfahrensrechtsförmige Mobilisierung des pouvoir constituant.

(6) Zwischenresümee: Kein Erlass eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements im einfachen Gesetzgebungsverfahren Vor diesem Hintergrund bleibt resümierend festzuhalten: Da die Entscheidung des Bundestags, den pouvoir constituant verfahrensrechtsförmig zu aktivieren, nicht notwendig zum Bruch grundgesetzlicher Kontinuität führt, muss die Frage, wie die grundgesetzlich verfasste Gewalt den pouvoir constituant originaire verfahrensrechtsförmig aktivieren kann, unter Berücksichtigung der Bestands­ garantie des Art.  79 Abs.  2  GG beantwortet werden242. In Hinblick darauf, dass ein durch einfache Mehrheiten ins Werk gesetzter Prozess der Verfassunggebung besonders scheiteranfällig wäre und im Scheiternsfall eine beträchtliche Prekarisierung sowie Destabilisierung des Grundgesetzes befürchtet werden müsste, ist mit Rücksicht auf den Sinn und Zweck von Art.  79 Abs.  2  GG davon auszugehen, dass das den pouvoir constituant aktivierende Verfahrensarrangement nicht schon unter den Bedingungen des einfachen Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden kann243. Auch der Umstand, dass das Grundgesetz keine besonderen Anforderungen an die Einleitung des Verfahrens der Verfassungsänderung stellt, zwingt keineswegs dazu, für die verfahrenrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant unqualifizierte Parlamentsmehrheiten genügen zu lassen244; denn in Ansehung der teleologisch maßgeblichen Stabilisierung und Perpetuierung des Grundgesetzes lassen sich die Implikationen eines erfolglosen Verfahrens der Verfassungsänderung nicht mit den Wirkungen vergleichen, die beim Scheitern eines verfassunggebenden Prozesses zu gewärtigen sind. Von daher nötigt die verfassungsrechtlich grundlegende und schon deshalb vorrangige Zwecksetzung des Art. 79 Abs. 2 GG in der Tat dazu, die Vorschriften über das einfache Gesetzgebungsverfahren teleologisch zu restringieren und seine Anwendbarkeit für den Fall der verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant originaire auszuschließen.

242

Kritisch Dreier (Fn. 90), Rn. 53. In diesem Sinn freilich Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes (Fn. 56), Rn. 19. 244 So aber Moelle (Fn. 56), S. 212.

243

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(7) Die These: Erlass eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements analog Art. 79 Abs. 2 GG Da sich nach allem weder die grundgesetzlichen Vorschriften über die Ver­ fassungsänderung noch die über das einfache Gesetzgebungsverfahren unmittelbar auf die parlamentarische Entscheidung über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire anwenden lassen, besteht insofern eine Regelungslücke. Richtiger Auffassung zufolge muss diese nun freilich nicht erst durch eine Verfassungsergänzung gemäß Art. 79 GG geschlossen werden, damit der pouvoir constitué den pouvoir constituant aktivieren kann245. Denn es handelt sich um eine planwidrige Regelungslücke. Und diese kann vorliegend durch analoge Anwendung von Art. 79 Abs. 2 GG geschlossen werden. Dass das Fehlen grundgesetzlicher Vorschriften über die verfahrensrechts­ förmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire als planwidrig zu qualifizieren ist, begründet sich folgendermaßen: Das Grundgesetz geht von der Aktivierbarkeit des pouvoir constituant originaire aus246. Des Weiteren kann unterstellt werden, dass das Grundgesetz insofern – zumindest primär – an eine Mobilisierung des pouvoir constituant originaire speziell durch den pouvoir constitué denkt; schließlich liegt eine genuin zivilgesellschaftliche Aktivierung nicht eben nahe247. Vor diesem Hintergrund spricht der Sinn und Zweck der grundgesetzlichen Regelungen dafür, dass der pouvoir constitué aus dem existierenden Verfassungsrecht heraus zur Aktivierung des pouvoir constituant originaire befähigt sein soll. In diese Richtung weist auch die Entstehungsgeschichte des Art. 146 GG alter Fassung. Denn der Parlamentarische Rat ging davon aus, dass die neue Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands von einer „aufgrund dieses Grundgesetzes ein­ gesetzten“ Nationalversammlung geschaffen werden würde248. Stellt es sich damit als planwidrige Regelungslücke dar, dass das Grundgesetz die prozeduralen Voraussetzungen für eine vom pouvoir constitué veranlasste Aktivierung des pouvoir constituant originaire nicht näher präzisiert, so kann und muss diese vom Rechtsanwender im Wege der Rechtsnormergänzung249 geschlossen werden.

(8) Zum argumentum a fortiori In diesem Zusammenhang ist verschiedentlich argumento  a maiore ad minus auf die Anwendbarkeit von Art. 79 Abs. 2 GG geschlossen worden: Wenn schon 245

Ebenso Moelle (Fn. 56), S. 213 ff.; anderer Ansicht Stückrath (Fn. 57), S. 229 f. Siehe oben Kapitel 14 III. 2. b) aa) = S. 1264. 247 Ebd. 248 So der Abg. Dr. v. Mangoldt im Ausschuss für Grundsatzfragen (siehe Pikart / Wolfram [Hrsg,], Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, 1993, S. 178). 249 Dazu Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 17 Rn. 43 ff. 246

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eine Verfassungsänderung den qualifizierten Anforderungen des Art. 79 Abs. 2 GG unterliege, dann doch erst recht die Entscheidung darüber, ob der Weg der Verfassunggebung beschritten werden soll250. Dieser Argumentation lässt sich freilich entgegenhalten, dass das strukturelle Pendant zur Entscheidung über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des deutschen Volks als pouvoir constituant originaire nicht die von Art. 79 Abs. 2 GG in Bezug genommene verfassungsändernde Entscheidung selbst ist, sondern allein die Initiative zu einer solchen Verfassungsänderung251. Der Erst-Recht-Schluss könnte daher allenfalls dahin gehen, dass die Entscheidung über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir consti­ tuant originaire zumindest die – freilich wenig anspruchsvollen – Voraussetzungen des Art. 76 Abs. 1 GG erfüllen muss. Das argumentum a fortiori lässt sich aber selbst dann nicht retten, wenn man die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant in Hinblick auf deren Zielsetzung wertungsmäßig mit der verfassunggebenden Entscheidung selbst gleichsetzt und in diesem Sinn darauf abstellt, dass, wenn schon eine Verfassungsänderung nach Art.  79 Abs.  2  GG ein Gesetz mit qualifizierter Mehrheit erfordere, dies doch erst recht für einen Beschluss gelten müsse, der auf die Verfassunggebung hin angelegt ist. Insofern wird nämlich der kategoriale Unterschied zwischen der vom pouvoir constituant constitué bewirkten Verfassungsänderung und der dem pouvoir constituant originaire vorbehaltenen Verfassunggebung verkannt252. Die Verfassungsänderung bleibt stets auf eine ganz bestimmte Verfassung bezogen. Denn der verfassungsändernde Gesetzgeber darf diese nicht überwinden, sondern sie nur nach Maßgabe ihrer eigenen Vorschriften abändern. Der Modus der Verfassungsänderung variiert dabei von Verfassung zu Verfassung. Dies bedeutet, dass die Vorschriften über die Verfassungsänderung jeweils Ausdruck einer ganz bestimmten und insoweit partikularen Verfassungsphilosophie sind. So liegt etwa Art. 79 Abs. 2 GG erkennbar die Leitvorstellung zu Grunde, dass Verfassungen auf Dauerhaftigkeit und Stabilität ausgelegt sein, mithin also auf einem möglichst breiten Verfassungskonsens beruhen sollen253. Indes beruht beispielsweise Art. 89 Abs. 2 frz. Verf. auf der Idee, dass der Volkssouveränität Vorrang vor der Verfassungsstabilität zukommen muss254. Kurzum: Wegen der Intrakonstitutionalität der Verfassungsänderung und des verfassungsändernden Gesetzgebers ist der Modus der Verfassungsänderung stets Ausfluss der für eine ganz bestimmte Verfassung charakteristischen Philosophie.

250

Schmitt Glaeser (Fn. 181), S. 41 ff. Dazu schon oben Kapitel 14 III. 2. b) aa) (5) = S. 1270. 252 Vgl. dazu auch Stückrath (Fn. 57), S. 237 f. 253 Badura (Fn. 30), Rn. 21. 254 Danach unterliegen Verfassungsänderungen dann keinen besonderen Mehrheitserfordernissen, wenn sie außer von den beiden Parlamentskammern auch durch Referendum unmittelbar vom Volk gebilligt werden. 251

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Demgegenüber soll durch die Verfassunggebung eine bestehende Verfassung überwunden werden. Der pouvoir constituant ist dabei rechtlich ungebunden. Insbesondere ist er auch nicht an die Verfassungsphilosophie der abzulösenden Verfassung gebunden. In dieser Perspektive lässt sich kein triftiger Grund finden, weshalb die verfassunggebende Gewalt nur in einem solchen Verfahren aktivierbar sein sollte, das sich als Ausfluss einer partikularen Verfassungsphilosophie darstellt. Ist die grundgesetzliche Verfassungsphilosophie für das deutsche Volk als pouvoir constituant irrelevant, so kann das diese Leitvorstellung umsetzende Verfahren nach Art. 79 Abs. 2 GG auch nicht als für die Aktivierung seiner ver­ fassunggebenden Gewalt alternativlos qualifiziert werden. Also: Wegen der Transkonstitutionalität der Verfassunggebung und der verfassunggebenden Gewalt kann der Modus der Verfassunggebung nicht auf den Modus der Verfassungsänderung relativiert werden, da dieser stets Ausfluss der für eine ganz bestimmte Verfassung charakteristischen Philosophie ist. Damit bleibt festzustellen: Auch wenn man die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant von seinem Ziel, nämlich der Verfassunggebung her betrachtet, lässt dies doch nicht den Schluss zu, dass die Entscheidung des pouvoir constitué über die Aktivierung des pouvoir constituant erst recht den für die Verfassungsänderung geltenden Anforderungen des Art. 79 Abs. 2 GG genügen müsste. Der A-fortiori-Schluss scheitert daran, dass die Verfassungsänderung kein minus, sondern ein aliud zur Verfassunggebung darstellt255.

(9) Zum argumentum a simile Die planwidrige Regelungslücke, die hinsichtlich der Aktivierung des pouvoir constituant durch den pouvoir constitué klafft, lässt sich somit überzeugend nicht schon dadurch schließen, dass die Verfahrensvorschrift des Art. 79 Abs. 2 GG unter Rekurs auf das argumentum a fortiori für anwendbar erklärt wird. Indes lässt sich die lückenschließende Anwendbarkeit des Art. 79 Abs. 2 GG auf das argumentum  a simile256 stützen. Zwar ist die Verfassungsänderung, wie eben dargelegt, ein aliud zur Verfassunggebung. Dies schließt es jedoch nicht aus, dass die Situation bei der Verfassungsänderung sowie die bei der verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant einander in rechtlich-wertender Hinsicht entsprechen. Der Sache nach ist die Bewertungsgleichheit dieser beiden Sachverhalte auch schon dargetan worden. Denn die Erwägungen, die eine im einfachen Gesetzgebungsverfahren beschlossene verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire als mit dem Sinn und Zweck von Art. 79 Abs. 2 GG unvereinbar erscheinen lassen257, streiten im Gegenschluss dafür, dass die grundgesetz­

255

Vgl. zum Methodologischen Achterberg (Fn. 249), Rn. 52. Achterberg (Fn. 249), Rn. 49. 257 Siehe oben Kapitel 14 III. 2. b) aa) (2) = S. 1266.

256

Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

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lichen pouvoirs constitués die verfassunggebende Gewalt nur unter den Verfahrensbedingungen des Art. 79 Abs. 2 GG aktivieren können sollen. Ansatzpunkt der obigen Überlegungen war gewesen, dass ein vom pouvoir c­ onstitué ins Werk gesetztes Verfahren der Verfassunggebung auch scheitern kann, sodass das Grundgesetz weder abgelöst noch in seinem identitätsstiftenden Kern abgeändert wird, sondern unverändert fortgilt. In Hinblick auf diese Konstellation aber ist es gerechtfertigt und geboten, die Entscheidung des pouvoir constitué über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire an solche Verfahrensbedingungen zu knüpfen, die es weitestmöglich verhindern, dass die von Art. 79 Abs. 2 GG maßgeblich beförderte Zwecksetzung, nämlich der Verfassung Dauerhaftigkeit und Stabilität zu verleihen, im Fall des Scheiterns des verfassunggebenden Prozesses konterkariert wird. Dementsprechend ist auszuschließen, dass schon knappe politische Mehrheiten den pouvoir constituant verfahrensrechtsförmig zu aktivieren vermögen. Denn dann würde die Verfassunggebung besonders häufig scheitern und dieses Scheitern die Dauerhaftigkeit und Stabilität des Grundgesetzes in massiver Weise konterkarieren. Schließlich müsste das Grundgesetz in dieser Konstellation fortgelten, obwohl zuvor grundgesetz­ konstitutive Verfassungskompromisse nachhaltig in Frage gestellt und zum Gegenstand hoch konfliktärer politischer Auseinandersetzungen gemacht wurden. Vor diesem Hintergrund ist es unter dem Gesichtspunkt der Bewertungsgleichheit258 tatsächlich nur konsequent, wenn für die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant die Verfahrenserfordernisse des Art. 79 Abs. 2 GG analog angewandt werden. Schließlich soll durch Art. 79 Abs. 2 GG doch gerade verhindert werden, dass knappe politische Mehrheiten durch ihre Entscheidung die Stabilität und Dauerhaftigkeit des Grundgesetzes unterminieren259. Und just dies wird auch erreicht, wenn man Art. 79 Abs. 2 GG entsprechend auf die Entscheidung des pouvoir constitué über die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant originaire anwendet. Denn zum einen ist unter diesen Voraussetzungen die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns des verfassunggebenden Prozesses herabgesetzt, weil weitgehender Konsens darüber besteht, dass eine wesentlich neue Verfassung tatsächlich erlassen werden soll. Zum anderen ist selbst für den Scheiternsfall von einer erheblich geringeren Erschütterung des Grundgesetzes auszugehen, als wenn der verfassunggebende Prozess von einer schwachen Mehrheit in Werk gesetzt wird und dann scheitert. Denn unter den Verfahrensvoraussetzungen des Art.  79 Abs.  2  GG beruht die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant nicht auf der parteiischen Aufkündigung bestehender Verfassungskompromisse260, sondern auf dem gemeinsamen Wunsch, 258

Achterberg (Fn. 249), Rn. 49. Allgemein zu den für Verfassungsänderungen typischerweise erforderlichen breiten Mehrheiten Grimm, Artikel ‚Verfassung‘, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd.  5, 7. Aufl. 1989, Sp. 633 (640). 260 Zum Kompromisscharakter des Grundgesetzes Abendroth, Das Grundgesetz, 3.  Aufl. 1972, S. 63 ff. 259

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

bestehende Verfassungskompromisse grundlegend zu verändern. Für den Scheiternsfall hat dies zur Konsequenz, dass der grundgesetzliche Verfassungskonsens nicht dadurch massiv beeinträchtigt ist, dass sich nach einer hoch konfliktären Verfassungsdebatte nunmehr zwei annähernd gleich große Gruppen, nämlich die Befürworter und die Gegner zentraler grundgesetzlicher Verfassungskompromisse, unversöhnlicher denn je gegenüberstehen. Stattdessen ist ein konsensueller Versuch gescheitert, das Grundgesetz zu verbessern, und ist man nunmehr gemeinsam auf das Grundgesetz zurückverwiesen. Damit sind die Chancen, dass das Grundgesetz als gemeinsame Grundlage weiterhin akzeptiert wird, erheblich besser, als wenn der Prozess der Verfassunggebung im Dissens eingeleitet wurde und sich diese gesellschaftlichen Antagonismen bis zum Scheitern dieses Prozesses noch weiter vertieft haben. Insofern bestätigt sich, dass sich die Situation bei der Verfassungsänderung und die bei der verfahrensrechtsförmigen Aktivierung des pouvoir constituant originaire in rechtlich-wertender Hinsicht entsprechen. Als entscheidend für diese Parallelwertung erweist sich dabei die Fokussierung auf den Scheiternsfall. Denn nimmt man die vom pouvoir constituant zu bewirkende Verfassunggebung als solche in den Blick, lässt sich, wie dargetan, nicht erklären, weshalb bei der Aktivierung des pouvoir constituant originaire auf die Dauerhaftigkeit und Stabilität des Grundgesetzes Bedacht genommen werden soll. So aber kann von einer Bewertungsgleichheit ausgegangen und im Ergebnis festgehalten werden, dass auf die Entscheidung der pouvoirs constitués über die verfahrenrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant Art. 79 Abs. 2 GG analog anzuwenden ist261.

bb) Grundgesetzliche Anforderungen an das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrensarrangement Ist geklärt, dass durch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat ein Verfahrensarrangement beschlossen werden kann, durch das der pouvoir con­ stituant des deutschen Volks aktiviert zu werden vermag, so stellt sich im Weiteren die Frage, ob dem Grundgesetz inhaltliche Vorgaben entnommen werden können, die der pouvoir constitué bei der Ausgestaltung dieses Verfahrensarrangements zu beachten hat. Insofern gerät zumindest zunächst Art. 146 GG in den Blick.

(1) Das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrensarrangement nach Maßgabe von Art. 146 GG Dieser Verfassungsbestimmung zufolge muss das vom pouvoir constitué beschlossene Verfahrensarrangement zunächst sicherstellen, dass die neue Verfassung 261

So auch Penski (Fn. 190), S. 196. Anderer Ansicht Wegge (Fn. 58), S. 222.

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„von dem deutschen Volk (…) beschlossen“ wird. Insofern verlangt Art. 146 GG zum einen, dass der verfassunggebende Akt speziell vom deutschen Staatsvolk als der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen und Statusdeutschen dezisionär legitimiert sein muss262. Dass und weshalb sonstige Staatsgebietsangehörige nicht am grundgesetzlich vorausgesetzten pouvoir constituant teilhaben, obwohl sie in anderen Konstellationen durchaus unter den polyvalent-variablen Volksbegriff des Grundgesetzes fallen können, wurde bereits dargetan263. Mit dem Passus, dass die neue Verfassung vom deutschen Volk beschlossen wird, verlangt Art. 146 GG zum anderen und vor allem, dass das deutsche Volk in spezifischer Weise an der Entscheidung über die neue Verfassung beteiligt wird. Richtiger Auffassung zufolge kann eine Verfassung nämlich nur dann als im Sinne von Art. 146 GG durch das deutsche Volk beschlossen angesehen werden, wenn dieses einen Verfassungsentwurf in einer abschließenden Volksabstimmung sanktioniert oder aber eine von ihm eigens hierfür gewählte Nationalversammlung die neue Verfassung verabschiedetet hat264. Diese nicht unumstrittene Auffassung bedarf freilich der näheren Begründung. Immerhin könnte der Wortlaut des Art.  146  GG den Schluss nahelegen, dass es zwingend einer unmittelbaren Billigung durch das Volk und mithin also einer Volksabstimmung bedarf, um eine neue Verfassung in Kraft zu setzen265. Bei genauerer Normanalyse zeigt sich freilich rasch, dass Art. 146 GG ein bloß repräsentatives Verfahren der Verfassunggebung nicht zwingend ausschließt266. Denn die Option der volksunmittelbaren Einberufung einer Nationalversammlung, die abschließend über die Verfassung entscheidet, überschreitet nicht nur nicht die Wortlautgrenze des Art.  146  GG267, sondern kann sich auch auf durchgreifende grundgesetzsystematische, genetische sowie verfassungsgeschichtliche Interpretationselemente stützen. So ist in grammatischer Hinsicht zu berücksichtigen, dass eine Verfassung selbstverständlich auch dann noch als vom Volk beschlossen qualifiziert werden kann, wenn dies mittelbar über ein repräsentatives Gremium erfolgt. Dies leitet auch schon über zum grundgesetzsystematischen Argument: Es wäre in der Tat seltsam, wenn das Grundgesetz, das so sehr auf die Formen und Wirkungsmechanismen repräsentativer Demokratie vertraut, im Fall der Ver­ fassunggebung plötzlich allein auf die direktive Demokratie setzen würde268. Dies 262

Vgl. nur Kirn (Fn. 61), Rn. 15 und 13. Siehe oben Kapitel 14 III. 2. a) = S. 1258. 264 Moelle (Fn. 56), S. 57 f.; auch Heckmann, Das Unvollkommen-plebiszitäre Element“ des Art. 146 GG, in: Borgmann u. a. (Hrsg.), Verfassungsreform und Grundgesetz, 1992, S. 27 f. 265 So offenbar Wolf (Fn. 173), S. 600; wohl auch Mahrenholz (Fn. 64), S. 39. 266 Ebenso Merkel (Fn. 57), S. 217. 267 Anderer Ansicht offenbar Jarass (Fn. 216), Rn. 5 sowie Kirn (Fn. 61), Rn. 14. 268 Genauso falsch wäre es freilich, aus der dezidiert repräsentativdemokratischen Ausrichtung des Grundgesetzes darauf schließen zu wollen, dass Art. 146 GG zwingend eine unmittelbar durch das Volk gewählte und abschließend entscheidende Nationalversammlung fordere (so im Ergebnis auch Schmitt Glaeser [Fn. 181], S. 52). 263

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gilt umso mehr, als die Option einer Nationalversammlung dem Parlamentarischen Rat, wie erwähnt269, durchaus präsent war und auch schon die zwei Vorgängerverfassungen des Grundgesetzes in dieser Weise in Geltung gesetzt worden sind270. Diese Erwägungen dürfen nun freilich nicht zu dem  – verfehlten  – Umkehrschluss verleiten, der pouvoir constituant des deutschen Volks könne ausweislich Art. 146 GG überhaupt nur durch eine volksunmittelbar gewählte Nationalversammlung in Geltung gesetzt werden271. Dagegen spricht neben dem Wortlaut, der wie gesagt eher für die Option des Verfassungsreferendums als für die Nationalversammlung streitet, wiederum die Entstehungs- sowie die Verfassungsgeschichte. So wurde in Hinblick auf das Grundgesetz zwar gerade auf ein legitimierendes Verfassungsreferendum verzichtet. Doch war dies der besonderen historischen Situation sowie dem Umstand geschuldet, dass das Grundgesetz ohnehin nur ein Provisorium sein sollte272. Ansonsten aber ist auch im Parlamen­ tarischen Rat die Auffassung unwidersprochen geblieben, dass das Grundgesetz um der Volkssouveränität willen eigentlich durch Volksabstimmung hätte angenommen werden müssen273. Dass die Annahme einer Verfassung durch Verfassungsreferendum eine gleichwertige Alternative zur Verabschiedung einer Verfassung durch eine Nationalversammlung darstellt, ergibt sich im Übrigen auch aus der gemeineuropäischen verfassungsstaatlichen Tradition274. Mit Rücksicht auf die geschilderten genetischen und verfassungshistorischen Zusammenhänge ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, inwieweit es neben dem Verfassungsreferendum und der Nationalversammlung noch andere grundgesetzkonforme Wege zur Verfassunggebung gemäß Art.  146  GG geben könnte. Die sorgsame Auslegung des Art. 146 GG ergibt somit in der Tat, dass eine Verfassung nur dann als im Sinne dieser Vorschrift vom Volk beschlossen gewertet werden kann, wenn dieses einen Verfassungsentwurf in einer den Prozess der Verfassunggebung abschließenden Volksabstimmung gebilligt oder aber eine eigens hierfür bestellte Nationalversammlung die neue Verfassung verabschiedet hat275. Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass aus grundgesetzlicher Sicht selbstverständlich nichts dagegen zu erinnern ist, wenn die verfassungskonformen Verfahrensarrangements der Nationalversammlung beziehungsweise des Verfas 269

Siehe oben Kapitel 14 III. 2. b) aa) (7) = S. 1272. Vgl. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 8 Rn. 98. 271 So aber offenbar Abendroth (Fn. 94), S. 4388. 272 Vgl. Hesse (Fn. 61), Rn. 14. 273 Abg. Dr. v. Brentano (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 193); dazu auch Murswiek (Fn. 207), S. 49. 274 Vgl. nur Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 312 ff. sowie Böckenförde (Fn. 176), S. 102 f. 275 Ebenso Moelle (Fn. 56), S. 197 f. 270

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sungsreferendums miteinander kombiniert oder sonstwie angereichert werden276, sofern nur eines dieser beiden Verfahrensarrangements integraliter realisiert ist. Insbesondere ist es daher zulässig, wenn die von einer abschließenden Nationalversammlung erarbeitete Verfassung einem abschließenden Verfassungsreferendum unterworfen wird. Aus demokratischer Sicht ist ein solches Verfahrensarrangement sogar wünschenswert, weil dem verfassunggebenden Akt dann ein höheres Maß an demokratischer Legitimation zuwächst als in den beiden Basiskonstellationen277. 276

So auch Merkel (Fn. 57), S. 217 ff. In der Konstellation des Verfassungsreferendums lässt es das Grundgesetz genügen, wenn die Verfassung nur zum geringeren Teil durch unmittelbare personelle und materielle Legitimation dezisionär an den Volkswillen rückgekoppelt wird. Schließlich wird zwingend nur gefordert, dass das Volk über das Ja oder Nein der Ingeltungsetzung der im Entwurf vorgelegten Verfassung entscheidet. Hingegen werden keinen besonderen Anforderungen an die Person oder das Gremium gestellt, das die (Vor-)Entscheidung über den konkreten Inhalt des Entwurfs trifft. Insbesondere wird insofern keine Einsetzung durch das Staatsvolk imperativ vorausgesetzt. Dies aber bedeutet, dass es in dieser Konstellation ausreicht, wenn die Verfassung zum größeren Teil durch einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation an die Dezisionsmacht des pouvoir constituant rückgebunden ist. Diese einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation ergibt sich dabei daraus, dass es dem Staatsvolk als pouvoir constituant unbenommen ist, den Entwurf zu verwerfen, diese mögliche Verwerfungsentscheidung auf die Entwurfs­ phase vorwirkt und die mit dem Verfassungsentwurf betraute(n) Person(en) hierdurch angeregt werden, sich den Willen des deutschen Volks zu eigen zu machen. In der Konstellation der Nationalversammlung wiederum setzt das Grundgesetz in dezisionärer Hinsicht zum einen eine einfach vermittelte, vergleichsweise wirkungsstarke personelle Legitimation voraus. Zum anderen geht das Grundgesetz insofern davon aus, dass der Verfassung materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge zuwachsen sollen, die teils einfach vermittelt, teils gemischt einfach und zweifach vermittelt, jedenfalls aber eher wirkungsschwach sind. Denn soweit das Grundgesetz für die Verfassunggebung den Weg der Nationalversammlung weist, beruht die materiell-kontrollative Legitimation darauf, dass das Staatsvolk in Selbstorganisation oder – sehr viel wahrscheinlicher – durch dezisive Mithilfe der pouvoirs constitués seinen pouvoir constituant zu aktivieren vermag, es infolgedessen auf eine unliebsame Entscheidung der Nationalversammlung durch erneute Verfassunggebung reagieren kann und diese volksunmittelbare Kontrollmöglichkeit die Mitglieder der Nationalversammlung vorwirkend dazu anregt, sich bei der Verfassunggebung am Willen des Staatsvolks auszurichten. Das für die grundgesetzlichen Basiskonstellationen des Verfassungsreferendums und der Nationalversammlung in dezisionärer Hinsicht jeweils vorgegebene Legitimationsniveau wird nun in der Tat erkennbar überschritten, wenn die beiden Konstellationen in der geschilderten Art und Weise kombiniert werden und der von einer Nationalversammlung erarbeitete Verfassungsentwurf einem Verfassungsreferendum unterworfen wird. Denn in diesem Fall wächst der Verfassung in dezisionärer Hinsicht zum einen Teil eine unvermittelte personelle und materielle Legitimation zu – nämlich insoweit, als durch das Verfassungsreferendum über die Ingeltungsetzung des Entwurfs entschieden wird. Zum anderen Teil wird der verfassunggebende Akt durch einfach vermittelte, vergleichsweise wirkungsstarke personelle und materiell-kontrollative Legitimationsbeiträge an die Dezisionsmacht der verfassunggebenden Gewalt rückgebunden. Dies ist insoweit der Fall, als die Verfassung durch den Entwurf der Nationalversammlung vorentschieden wird, die ihrerseits unmittelbar vom Volk bestellt wurde und durch das ausstehende Verfassungsreferendum – und nicht etwa nur durch die entfernte Möglichkeit einer nochmaligen Verfassunggebung – in seiner Entwurfsarbeit beeinflusst wird. Das in der Kombinationskonstellation dezisionär verwirklichte Legitimationsniveau übersteigt das im Fall des 277

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Abgesehen davon, dass ausschließlich das deutsche Staatsvolk am pouvoir constituant demokratisch teilhaben und es durch Verfassungsreferendum und / oder die Einberufung einer Nationalversammlung in spezifischer Weise an der Ausübung des pouvoir constituant beteiligt werden soll, setzt Art. 146 GG des Weiteren voraus, dass das den pouvoir constituant aktivierende Verfahrensarrangement dem deutschen Volk die Möglichkeit einräumt, „in freier Entscheidung“ über die Verfassung zu beschließen. Insofern setzt diese Verfassungsbestimmung voraus, dass nicht nur das vom pouvoir constitué ins Werk gesetzte Verfahrensarrangement, sondern auch die dieses hoheitliche Verfahrensarrangement unterfangenden gesellschaftlichen Verhältnisse so organisiert sein müssen, dass sich der demokra­ tische Wille unter den prozeduralen Bedingungen von Freiheit und Gleichheit Bahn brechen kann278. Art.  146  GG bringt insofern zum Ausdruck, dass Volkssouveränität auch in ihrer zweiten Bedeutungsschicht als Verbürgung des pouvoir constituant des Volks eine hinreichende demokratische Qualität der Staatsund Gesellschaftsorganisation einfordert279. Was der pouvoir constitué dabei als hinreichend ansehen kann, erschließt sich in derselben Weise, wie dies für die Volkssouveränität in ihrer ersten Dimension entwickelt worden ist280. Ausgangspunkt ist das grundgesetzliche Normalmaß; dieses kann jedoch durch tragfähige Gemeinwohlgründe unter Umständen bis zur Kernbereichsgrenze eingeschränkt werden281. Schließlich, aber nicht zuletzt nötigt Art.  146  GG zu dem Schluss, dass der ­ ouvoir constitué in Ansehung dieser Vorschrift nur ein solches Verfahrensarranp gement erlassen darf, das den pouvoir constituant des deutschen Volks gerade dazu aktiviert, das Grundgesetz abzulösen und durch eine neue Verfassung zu substituieren282. Denn schließlich verknüpft Art.  146  GG die Verfassunggebung semantisch mit dem Außerkrafttreten des Grundgesetzes283. Für die These, dass der pouvoir constitué den pouvoir constituant nach Art.  146  GG nur zu einer  – für das Grundgesetz kassatorisch wirkenden  – umfänglichen Verfassungsneuschöpfung zu aktivieren befugt ist, streitet neben dem Wortlaut insbesondere auch die Entstehungsgeschichte. Aus ihr erschließt sich, dass der alleinige Zweck des Art. 146 GG genetisch betrachtet darin bestand, dem wiedervereinigten deutschen Verfassungsreferendums verwirklichte, weil der Verfassungsentwurf insofern nicht nur mate­ riell-kontrollativ, sondern zusätzlich personell demokratisch legitimiert ist. Das in der Konstellation der Nationalversammlung verwirklichte Legitimationsniveau wird deshalb überschritten, weil es zumindest teilweise zu einer unvermittelten Legitimation kommt und sich im Übrigen die einfach vermittelte materiell-kontrollative Legitimation in der Kombinationskonstellation als relativ wirkungsstärker erweist. 278 Tendenziell in diese Richtung auch Merkel (Fn. 57), S. 218 ff.; vgl. auch Würtenberger (Fn. 57), S. 102. 279 Hierzu auch Mahrenholz (Fn. 64), S. 17. 280 Dazu auch Moelle (Fn. 56), S. 58 f. 281 Oben Kapitel 10 II. 5. = S. 711. 282 Insoweit zutreffend Di Fabio (Fn. 17), S. 212 f. 283 Siehe dazu Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes (Fn. 56), Rn. 1.

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Volk einen grundgesetzlegalen Weg zu weisen, um das provisorische, fragmenta­ rische Grundgesetz durch eine „neue, die echte Verfassung unseres Volkes“ zu substituieren284.

(2) Das den pouvoir constituant konkret aktivierende Verfahrensarrangement nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG Mit den zuletzt angestellten Überlegungen ist auch schon zum nächsten Problem übergeleitet, das sich bei der Beantwortung der Frage stellt, ob dem Grundgesetz inhaltliche Vorgaben entnommen werden können, die der pouvoir con­ stitué bei der Ausgestaltung dieses Verfahrensarrangements zu beachten hat. Zu über­legen ist nämlich nunmehr, ob der pouvoir constitué den pouvoir constituant überhaupt nur in einem solchen Verfahrensarrangement mobilisieren kann, das sämtlichen Anforderungen des Art. 146 GG genügt. Denn bejahendenfalls könnte der pouvoir constituant vom pouvoir constitué überhaupt nur zum Erlass einer das Grundgesetz kassierenden Verfassungsneuschöpfung verfahrensrechtsförmig aktiviert werden. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volks nicht nur in Art. 146 GG als aktivierbar vorausgesetzt wird, sondern aus den dargelegten Gründen auch in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG285. Aus diesem Grund können die inhaltlichen Anforderungen, die Art.  146  GG an die Ausgestaltung eines den pouvoir constituant mobilisierenden Verfahrensarrangements stellt, auch nicht als exklusiv qualifiziert werden286. Vielmehr kann der pouvoir constitué den pouvoir constituant grundsätzlich auch im Rahmen eines solchen Verfahrensarrangements mobilisieren, das allein den inhaltlichen Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG genügt. Art. 146 GG steht dieser Sichtweise weder unter dem Auslegungsgesichtspunkt des Spezialitätsgrundsatzes noch unter dem systematisch-teleologischer Reduktion entgegen. In Ansehung des Spezialitätsgrundsatzes287 ist lediglich zu beachten, dass das auf Art. 146 GG gegründete Verfahrensarrangement dem aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbaren in den Fällen vorgeht, in denen das Grundgesetz durch eine (neue) Verfassung formell abgelöst werden soll. In den Konstellationen indes, in denen der pouvoir constituant des Volkes mobilisiert werden, das Grundgesetz als solches aber gleichwohl formell bestehen bleiben soll, greift Art. 146 GG von vornherein nicht und kann ein Rekurs auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auch nicht am lex-specialis-Satz scheitern. 284

Abg. Dr. Schmid (Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht, 1948/49, S. 174). Siehe oben Kapitel 14 III. 2. a) = S. 1258. 286 In diese Richtung auch Wahl (Fn. 62), S. 478. 287 Achterberg (Fn. 249), § 17 Rn. 41.

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Einem Rückgriff auf Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG lässt sich des Weiteren auch nicht entgegenhalten, Art.  146  GG regele die  – in Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG lediglich dem Grundsatz nach angesprochene – Kompetenz des demokratischen pouvoir constituant konkret und zugleich abschließend. Eine solche systematischteleologische Reduktion des Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG ist nämlich nicht indiziert. Gegen sie spricht bereits, dass Art. 146 GG zwar auch eine Kompetenzvorschrift enthält288, es sich bei dieser Bestimmung aber schon dem Wortlaut nach zunächst und zuvörderst um eine Außerkrafttretensregelung handelt289. Schon dieses spezifischen Regelungszwecks wegen verbietet es sich, aus Art. 146 GG umfängliche Rückschlüsse darauf zu ziehen, welche Kompetenzen das Grundgesetz dem pouvoir constituant zuerkennt. Auch im Übrigen mutet eine interpretato­ rische Konstruktion seltsam an, die darauf abstellt, dass die Verbürgung des demokratischen pouvoir constituant in der Zentralnorm des Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG versehentlich überschießend ausgefallen sei und daher im Lichte der grundgesetzlichen Schlussbestimmung des Art. 146 GG restringierend ausgelegt werden müsse. Damit bleibt daran festzuhalten, dass der pouvoir constitué den pouvoir constituant prinzipiell auch im Rahmen eines solchen Verfahrensarrangements aktivieren kann, das allein den inhaltlichen Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG entspricht. Nun entsprechen die aus Art.  20 Abs.  2 Satz  1  GG ableitbaren Anforderungen an das den pouvoir constituant aktivierende Verfahrensarrangement freilich über weite Strecken denen des Art.  146  GG. So ergibt sich aus den an früherer Stelle bereits angestellten allgemeinen Erwägungen290, dass der vom Grundgesetz vorausgesetzte pouvoir constituant nur vom deutschen Volk als der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen und Statusdeutschen ausgeübt werden kann. Des Weiteren ist auch im Rahmen von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG davon auszugehen, dass der pouvoir constituant des Volkes nur durch eine die Verfassunggebung sanktionierende Volksabstimmung und / oder die volksunmittelbare Wahl einer Nationalversammlung grundgesetzkonform Strukturgestalt anzunehmen vermag. Denn die entstehungs- und verfassungsgeschichtlichen Erwägungen, die bei der Konkretisierung von Art. 146 GG für diese Sichtweise gesprochen haben291, gelten gleichermaßen auch für Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Dass schließlich auch in Hinblick auf die staats- und gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung ein Gleichlauf zwischen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Art.  146  GG besteht, ist der Sache nach bereits bei der Besprechung der letzt­ genannten Verfassungsbestimmung dargetan worden. Denn was Art. 146 GG mit

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Merkel (Fn. 57), S. 101 ff. Dazu Murswiek (Fn. 207), S. 143 f. 290 Siehe oben Kapitel 14 III. 2. a) = S. 1258. 291 Oben Kapitel 14 III. 2. b) bb) (1) = S. 1276.

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„freier Entscheidung“ im Prozess der Verfassunggebung meint, ist mit Rücksicht auf Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG entwickelt worden292. Demzufolge unterscheiden sich die Anforderungen, die einerseits Art. 146 GG und andererseits Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG an die inhaltliche Ausgestaltung eines den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements stellen, lediglich insofern, als Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant nicht allein in Hinblick auf eine das Grundgesetz ablösende umfängliche Verfassungsneuschöpfung zulässt. Vielmehr ist es den ­pouvoirs constitués gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG unbenommen, den pouvoir constituant dahingehend verfahrensrechtsförmig zu aktivieren, dass eine bloß partielle Ver­ fassungsneuschöpfung beschlossen wird, die grundgesetzliche Kontinuität im Übrigen jedoch gewahrt wird293. Dafür lassen sich im Wesentlichen zwei Argumente anführen. Erstens ist auf den Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zu verweisen. Die Volkssouveränitätsnorm, die in ihrer zweiten Bedeutungsschicht den pouvoir constituant verbürgt, ist textlich allgemein gefasst und sinnt der verfahrensrechtsförmigen Aktivierung der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volks insofern keine spezifische Finalität an. Zweitens lässt sich auch der grundgesetzsystematische Zusammenhang zu Art. 146 GG ins Feld führen. Denn wenn Art. 146 GG eine umfängliche Verfassungsneuschöpfung mit gleichzeitiger Ablösung des Grundgesetzes vorsieht, ist argumento a maiore ad minus294 nicht ersichtlich, weshalb im Rahmen von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG eine partielle Verfassungsneuschöpfung bei nur teilweiser Ab­ lösung des Grundgesetzes ausgeschlossen sein sollte.

cc) Verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant zum Zweck eines von ihm zu entscheidenden Souveränitätsverzichts Nachdem zum einen geklärt ist, unter welchen formell-rechtlichen Voraussetzungen die pouvoirs constitués befugt sind, ein den pouvoir constituant aktivierendes Verfahrensarrangement zu erlassen295, und zum anderen entwickelt wurde, welche für die pouvoirs constitués beachtlichen Anforderungen das Grundgesetz an die inhaltliche Ausgestaltung dieses Verfahrensarrangements stellt296, lässt sich abschließend eine Aussage darüber treffen, inwiefern die pouvoirs constitués eine Entscheidung des pouvoir constituant über den Souveränitätsverzicht grundgesetzlegal herbeizuführen vermögen. 292

Ebd. Anderer Ansicht Di Fabio (Fn. 17), 212 f. 294 Dazu Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rn. 897 f. 295 Oben Kapitel 14 III. 2. b) = S. 1262. 296 Oben Kapitel 14 III. 2. b) bb) = S. 1276.

293

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Notwendige Voraussetzung für eine entsprechende verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant ist zunächst, dass Bundestag und Bundesrat sie analog Art. 79 Abs. 2 GG beschließen. Des Weiteren muss gewährleistet sein, dass das den pouvoir constituant aktivierende Verfahrensarrangement bestimmten inhaltlichen Anforderungen genügt. Andernfalls ist es Bundestag und Bundesrat grundgesetzlich verboten, die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant zu betreiben.

(1) Verfassungsrechtswidriger Aktivierungsmodus Die grundgesetzlich verfassten Organe Bundestag und Bundesrat können einen grundgesetzkonformen Souveränitätsverzicht nicht schon dadurch herbeiführen, dass sie analog Art. 79 Abs. 2 GG ein Verfahrensarrangement beschließen, aufgrund dessen das deutsche Volk an der Wahl einer verfassunggebenden Unionsversammlung partizipiert, die ihrerseits mit dem abschließenden Erlass einer bundesstaatlichen Unionsverfassung betraut wird. Dieses Verfahrensarrangement verstößt freilich nicht schon deshalb gegen die für die verfassten Gewalten verbindlichen Ausgestaltungsvorgaben, weil es keinen Automatismus zwischen Verfassungsneuschöpfung und Außerkrafttreten des Grundgesetzes statuiert297. Denn ein solcher Automatismus ist nur für die Verfassunggebung nach Art. 146 GG298, aber nicht für die unter Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG vorgesehen. Gegen eine Aktivierung des ­pouvoir constituant in einem solchen Verfahren spricht des Weiteren auch nicht bereits der Umstand, dass statt eines die Verfassunggebung abschließenden Verfassungsreferendums der Weg über eine verfassunggebende Unionsversammlung gewählt wird. Denn eine verfassunggebende Versammlung stellt eine aus grundgesetz­ licher Sicht prinzipiell gleichwertige Option zum Verfassungsreferendum dar299. Der Verfassungsmäßigkeit eines solchen Verfahrensarrangements widerstreitet vielmehr, dass mit der Wahl der verfassunggebenden Unionsversammlung der pouvoir constituant des deutschen Staatsvolks überhaupt nicht aktiviert wird. Denn die bundesstaatliche Unionsverfassung, durch deren Erlass die Bundes­ republik Deutschland definitiv ihre Souveränität einbüßt, ist gerade kein Werk des deutschen, sondern des europäischen Volks300. Dieses – und nicht allein das deutsche Volk – wählt die verfassunggebende Unionsversammlung. In dieser Perspektive bleibt schon die allererste Anforderung unerfüllt, die an ein pouvoir constituant mobilisierendes Verfahrensarrangement von Grundgesetzes wegen zu stellen ist, nämlich dass der verfassunggebende Akt vom deutschen Staatsvolk dezisionär legitimiert sein muss. 297

Anders wohl Storost (Fn. 13), S. 41. Siehe etwa Speckmaier (Fn. 57), Rn. 16. 299 Siehe hierzu Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes (Fn. 56), Rn. 19. 300 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Murswiek, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 2001, S. 401 (402). 298

Kap. 14: Die grundgesetzlich verbürgte Volkssouveränität

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Betrachtet man die in Rede stehende Fallkonstellation genauer, so lässt sich noch ein Weiteres feststellen: Der Tatbestand des Souveränitätsverzichts ist hier nicht etwa erst dann verwirklicht, wenn die bundesstaatliche Unionsverfassung in Kraft tritt, sondern greift bereits mit dem Beschluss von Bundestag und Bundesrat Platz, das deutsche Volk an der Wahl zur Unionsversammlung zu beteiligen. Denn mit diesem Beschluss stellt das deutsche Volk die bislang ihm zustehende, gebietsuniversal höchste Normsetzungsgewalt zur Disposition. Zwar ist nicht ausgemacht, dass es tatsächlich zum definitiven Souveränitätsverlust kommt. Dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn die neue bundesstaatliche Unionsverfassung erlassen wird, der Prozess der Verfassunggebung also nicht scheitert. Da der Erfolg der Verfassunggebung jedoch nicht mehr allein vom deutschen Volk abhängt, vollzieht sich der Souveränitätsverzicht in der Tat schon dann, wenn die Partizipation des deutschen Volks an der Wahl der Unionsversammlung beschlossen wird. In Hinblick darauf, dass allein der pouvoir constituant einen solchen Souveränitätsverzicht zu legitimieren vermag, würde dieser in der vorliegenden Konstellation allerdings nur unter folgender Prämisse grundgesetzlegal bewirkt: Die inhaltlichen Anforderungen, die an die Ausgestaltung des den pouvoir constituant aktivierenden Verfahrensarrangements von Grundgesetzes wegen zu stellen sind, müssten auch dadurch erfüllt werden, dass Bundestag und Bundesrat unter den prozeduralen Voraussetzungen von Art.  79 Abs.  2  GG uno actu die verfahrensrechtsförmige Aktivierung des pouvoir constituant beschließen und zugleich den pouvoir constituant dahingehend ausüben, dass mit dem Beschluss über die Teilnahme des deutschen Volks an der Wahl zur Unionsversammlung auf die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland verzichtet wird. Ein solches Verfahrensarrangement läuft den grundgesetzlichen Ausgestaltungsvorgaben nicht bereits insofern zuwider, als keine umfängliche Verfassungsneuschöpfung bezweckt wird, wie sie namentlich Art.  146  GG vorsieht. Denn jedenfalls unter Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ist auch eine partielle Verfassungsneuschöpfung zulässig301. Eine solche aber liegt vor, wenn das Grundgesetz zwar nicht insgesamt abgelöst, wohl aber in einem identitätsstiftenden, nämlich von Art.  79 Abs.  3  GG geschützten Regelungsgehalt abgeändert wird. Der Verzicht auf die bislang durch Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte und daher auch von der Ewigkeitsklausel erfasste Souveränität stellt in dieser Perspektive eine partielle Verfassungsneuschöpfung dar, zu der der pouvoir constituant aus der grundgesetzlich verfassten Staatsorganisation heraus an sich durchaus aktiviert werden kann. Dass Bundestag und Bundesrat nicht befugt sind, durch einen Beschluss analog Art. 79 Abs. 2 GG uno actu die verfassunggebende Gewalt zu aktivieren und auszuüben, hängt daher vielmehr mit der zweiten jener inhaltlichen Anforderungen zusammen, die ein den pouvoir constituant mobilisierendes Verfahrensarrangement dem Grundgesetz zufolge erfüllen muss. Danach ist das Volk in Form eines 301

Siehe oben Kapitel 14 III. 2. b) bb) (2) = S. 1281.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Verfassungsreferendums und / oder durch die Wahl einer Nationalversammlung zu beteiligen, wenn die pouvoirs constitués seine verfassunggebende Gewalt grundgesetzlegal aktivieren wollen302.

(2) Verfassungsgemäßer Aktivierungsmodus Ex negativo lassen die eben angestellten Überlegungen nun freilich auch schon Rückschlüsse auf drei Verfahrensarrangements zu, in denen die verfassung­gebende Gewalt des deutschen Volks grundgesetzlegal zum Zweck des Souveränitätsverzichts aktiviert werden kann303. In Betracht kommt erstens ein nationales Referendum über die Teilnahme des deutschen Volks an einer Unionsversammlung, die dem vergemeinschafteten Europa eine bundesstaatliche Verfassung geben soll. Zweitens ist an ein nationales Referendum über die von einem Verfassungskonvent erarbeitete bundesstaatliche Unionsverfassung zu denken. Drittens kann die Ratifikation eines völkerrechtlichen Verzichts- oder Fusionsvertrags an den positiven Ausgang einer nationalen Volksabstimmung geknüpft werden. Diesen drei Verfahrensarrangements ist gemeinsam, dass dem pouvoir con­ stituant insofern keine umfängliche Verfassungsneuschöpfung, sondern lediglich eine partielle Verfassungsneuschöpfung angesonnen wird: Mit dem Beschluss über die Teilnahme an der Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung, der Billigung einer bundesstaatlichen Unionsverfassung sowie der Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Verzichts- oder Fusionsvertrag wird das Grundgesetz nicht formell außer Kraft gesetzt und durch eine neue Verfassung substituiert; vielmehr wird das Grundgesetz durch den dadurch bewirkten Souveränitätsverzicht in einer Weise modifiziert, wie dies dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht möglich wäre304. Ein solches Verfahrensarrangement entspricht nun zwar nicht den inhaltlichen Vorgaben, die Art. 146 GG insoweit normiert. Doch ist es den pouvoirs constitués aus den dargelegten Gründen unbenommen, die verfassunggebende Gewalt unter Art. 20 Abs. 2 GG auch in einem solchen Verfahrensarrangement zu mobilisieren, das auf eine bloß partielle Verfassungsneu­ schöpfung abzielt305. 302

Siehe oben Kapitel 14 III. 2. b) bb) = S. 1276. Dagegen vehement Isensee, Schlußbestimmung des Grundgesetzes (Fn. 56), 68; ebenso v. Campenhausen (Fn. 56), Rn. 22 f. 304 Siehe dazu auch Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl. 2003, § 1 Rn. 100. 305 Die partielle Verfassungsneuschöpfung hat zur Konsequenz, dass das Grundgesetz als Verfassung einer nicht souveränen Bundesrepublik Deutschland fortgilt. Das Grundgesetz ist auch ohne Weiteres in der Lage, als Verfassung einer nicht souveränen Bundesrepublik Deutschland zu fungieren. Es bedarf insofern weder einer den Wortlaut einschränkenden Auslegung bestehender Verfassungsvorschriften noch einer klarstellenden Verfassungsbereinigung. Schließlich ist ausführlich dargetan worden, dass das Grundgesetz die Staatssouveränität speziell der Bun 303

Kap. 15: Gestaltwandel der EU in der Demokratienorm des GG

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Die drei in Rede stehenden Verfahrensarrangements erfüllen die grundgesetzlich an sie gestellten inhaltlichen Anforderungen des Weiteren auch insofern, als sie die verfassunggebende Gewalt speziell des deutschen Volks aktivieren und die partielle Verfassungsneuschöpfung in dezisionärer Hinsicht ein hinreichendes Niveau demokratischer Legitimation aufweist. Denn es ist allein das deutsche Staatsvolk, das kraft seines pouvoir constituant den Souveränitätsverzicht bewirkt. Und da dies im Wege der Volksabstimmung erfolgt, wird aus den dargelegten Gründen in dezisionärer Hinsicht das grundgesetzlich gebotene Maß an demokratischer Legitimation erreicht. Insofern muss lediglich noch gewährleistet sein, dass die drei genannten Verfahrensarrangements im konkreten Fall sowohl in staats- als auch in gesellschaftsorganisatorischer Hinsicht ein hinreichendes Niveau demokratischer Legitimation aufweisen306. Ist dies gewährleistet, ist es den pouvoirs constitués erlaubt, durch einen analog Art. 79 Abs. 2 GG gefassten Beschluss den pouvoir constituant des deutschen Volks in einem dieser drei Verfahrensarrangements zum Zwecke des Souveränitätsverzichts zu aktivieren.

Kapitel 15

O

Der Gestaltwandel der EU im Licht der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Kap. 15: Gestaltwandel der EU in der Demokratienorm des GG

Welchen Gestaltwandel die EU in den kommenden Jahren durchlaufen wird, lässt sich seriös nur schwer prognostizieren. Um sich dennoch mit der Zukunft Europas und deren demokratierechtlichen Implikationen auseinandersetzen zu können1, empfiehlt sich ein Kunstgriff: Das Ungefähre des Integrationsfortgangs wird demokratierechtlich fassbar, wenn man die am Weitesten reichenden Integrationshypothesen bildet. Denn indem man eine in diesem Sinne extreme Entwicklungshypothese demokratierechtlich wägt, entfaltet man zugleich die normativen desrepublik Deutschland nicht schon aufgrund seines unveränderlichen Normtextes verbürgt, sondern sie erst in Ansehung der wandelbaren völkerrechtlichen Normativität und machtpolitischen Normalität gewährleistet. Die Normen, die heute noch die Staatssouveränität der Bundesrepublik Deutschland verbürgen, bleiben daher mit ihrem normtextuell fixierten Regelungsgehalt auch nach einem Souveränitätsverzicht ohne Weiteres und vollumfänglich anwendbar. Lediglich ihr im Wesentlichen durch die völkerrechtliche Normativität und machtpolitische Normalität determinierter souveränitätsrechtlicher Regelungsgehalt ist ein anderer: Die betreffenden Normen setzen nach erfolgtem Souveränitätsverzicht nicht mehr die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, sondern stattdessen die der neuen souveränen Gebietseinheit voraus. 306 Vgl. auch Beaud (Fn. 184), S. 301. 1 Dass solche Zukunftsüberlegungen wissenschaftlich geboten sind, betont auch Deringer, Kulturhoheit der Länder und Europäische Union, in: Lerche / Mestmäcker (Hrsg.), Festschrift für Kreile, 1994, S. 135 (146).

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Gesichtspunkte, die für die demokratierechtliche Beurteilung der beliebig vielen Entwicklungsvarianten maßgeblich sind, die sich  – wenn auch gemäßigter  – in dieselbe grundlegende Entwicklungstendenz einschreiben. Nun sind in der politikwissenschaftlich informierten Einleitung zu diesem letzten Teil  bereits zwei solcherart extreme Entwicklungshypothesen formuliert worden2. Sie lauten: institutioneller Integrationsstillstand versus bundesstaatliche Integration3. Auf der Folie dieser beiden Entwicklungshypothesen wird nachstehend in einem ersten und zweiten Schritt diskutiert, unter welchen Bedingungen der Integrationsfortgang den Anforderungen gerecht wird, die von der europa­ spezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes an ihn gestellt werden. In einem dritten Schritt soll abschließend noch eine Entwicklungsvariante demokratierechtlich gewürdigt werden, die zwar weniger extrem ist als die beiden vorerwähnten Entwicklungshypothesen, dafür aber umso realistischer. Gemeint ist die Entwicklungsmöglichkeit, die der Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Euro­ päischen Gemeinschaften4, vulgo: Reformvertrag5, verkörpert. Zwar ist noch längst nicht ausgemacht, dass der Reformvertrag tatsächlich, wie geplant, in 2009 in Kraft treten wird6. Das gescheiterte Projekt eines Verfassungsvertrags7 lehrt, die Hürden nicht zu unterschätzen, die im Zuge der mitgliedstaatlichen Ratifizierungsprozesse zu nehmen sind. Des ungeachtet präsentiert der Reformvertrag eine besonders realistische Entwicklungshypothese.

I. Die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands Die moderneren Integrationstheorien sagen der EU voraus, dass sie zwar durchaus noch manche materielle Kompetenz an sich ziehen, zu einer substanziellen Reform ihres Institutionengefüges jedoch nicht in der Lage sein werde. Sollte sich

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Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schröder, Volkssouveränität zwischen demokratischem und republikanischem Prinzip, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer euro­ päischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität, 2007, S.  17 (31 ff.), der insgesamt fünf denkbare Entwicklungsszenarien skizziert: (1) EU-Auflösung, (2) EU-Auf­ gliederung, (3) EU als demokratisch-rechtsstaatlich fortentwickelte Freihandelszone, (4) Konstitutionalisierung der EU im zweiten Anlauf, (5) EU als zivile Supermacht. 3 Siehe oben Vorbemerkung zu Teil VI = S. 1214. 4 Vom 13.12.2007 (ABl. C 306, S. 1 ff.). 5 Zu ihm etwa Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, in: EuZW 2008, S.  7 ff., Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrags, in: NJW 2007, S. 3153 ff. sowie Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 130 ff. 6 Zu diesem Zeitplan siehe nur Europäischer Rat vom 21./22. Juni 2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes (D/07/02), Ziff. 13. 7 Vgl. BT-Drs. 15/4900. Ausführlich zur Geschichte und den Inhalten dieses Projekts Hesse, Vom Werden Europas, 2007.

Kap. 15: Gestaltwandel der EU in der Demokratienorm des GG

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diese Entwicklungshypothese bewahrheiten, würden es in Zukunft vornehmlich die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes sein, die der Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland am weiteren Integrations­ prozess Grenzen setzen. Demgegenüber dürften die aus der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes erwachsenden externen Integrationsschranken eher nicht thematisch werden.

1. Die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Gegenwärtig sind die Bedingungen erfüllt, unter denen die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker einerseits, die Unionsbürgerschaft andererseits als dezentriertes beziehungsweise zentriertes Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG anzusehen sind8. Infolgedessen ist auch für die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands zumindest zunächst davon auszugehen, dass das bei EG-Normsetzungsakten realisierte Niveau demokratischer Legitimation aus grundgesetzlicher Sicht entsprechend dem Modell doppelter Legitimationsbasis zu rekonstruieren und zu bewerten ist. Allerdings erscheint es gerade in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands als keineswegs unwahrscheinlich, dass die euro­ päische demokratische Öffentlichkeit sowie die kollektive Identität der Unions­ bürger in einem Umfang regredieren, der sie die grundgesetzlichen Anforderungen an die Normalität demokratischer (Unions-)Volkswerdung verfehlen lässt. In diesem Fall lässt sich das bei EG-Normsetzungsakten realisierte Niveau demokratischer Legitimation grundgesetzlich nur mehr entsprechend dem Modell der mittelbaren Legitimation rekonstruieren und bewerten. Denn dann liegen die Voraussetzungen gerade nicht vor, unter denen die Gesamtheit der mitgliedstaatlichen Völker sowie die Unionsbürgerschaft als dezentriertes beziehungsweise zentriertes Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG qualifizierbar erscheinen.

a) Maßgeblichkeit des Modells doppelter Legitimationsbasis Welche Konsequenz hat es in der Perspektive des Modells doppelter Legitima­ tionsbasis, wenn sich die EU in der Weise weiter integriert, dass ihr neue Zuständigkeiten zuwachsen, das institutionelle Grundgefüge indes unverändert bleibt? Die Antwort ist zweigeteilt. Zum einen ist zu erwarten, dass sich manche schon heute konstatierbare Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß zusätzlich vertieft und deshalb in Zukunft nicht mehr zu rechtfertigen sein wird. Zum anderen bleibt es unverändert bei denjenigen Legitimationslücken, die aus heutiger

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Siehe oben Kapitel 13 VI. = S. 1210.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Sicht nur noch mittelfristig rechtfertigbar sind  – mit der Konsequenz, dass sich in absehbarer Zeit ein partieller Widerspruch zwischen dem institutionellen Regime der EU und den Anforderungen der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes auftut. Dass bei einem integrationspolitischen „Weiter-So“ manche Legitimations­lücke noch weiter aufreißt und dann nicht mehr gerechtfertigt werden kann, lässt sich beispielhaft hinsichtlich des Grads demokratischer Abgeleitetheit veranschau­ lichen: Ein wesensmäßig marktkonstituierender Normsetzungsakt, der dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfällt und in einem Rechtsetzungsverfahren ergeht, in dem die Dezisions- sowie Revisionsbefugnis allein oder doch zumindest vorrangig beim Rat verankert ist, unterschreitet in dezisionärer sowie revisionärer Hinsicht das grundgesetzliche Normalmaß personeller und materieller Legitimation9. Gleiches gilt für Durchführungsrecht, das auf Basis solchen Sekundärrechts er­lassen wurde. Gegenwärtig lässt sich dieses Defizit unter anderem deshalb noch unter Rekurs auf das Bundesstaatsprinzip rechtfertigen, weil es sich um bloße Einzelfälle handelt. In der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands erscheint nun freilich folgendes Zukunftsszenario als durchaus wahrscheinlich: Die Mitgliedstaaten übertragen noch weitere Normsetzungskompetenzen auf die EG. Dabei stellen sie – zumindest für eine erste Phase – sicher, dass ihnen ausgeprägte Einflussmöglichkeiten in Hinblick auf die Regelungsbereiche vorbehalten bleiben, die sie aus ihrem alleinigen legislatorischen Zugriff entlassen10. Die neuen EGNormsetzungsakte werden daher überwiegend nicht im Mitentscheidungsverfahren, sondern in einem Rechtsetzungsverfahren ausgeübt, in dem der Rat eine zumindest vorrangige Dezisionsmacht innehält. Bei Zugrundelegung dieser Entwicklungshypothese erscheint es als nicht unwahrscheinlich, dass sich das angesprochene Legitimationsdefizit, das aus im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts zumindest vorrangigen Dezisions- und Revisionsbefugnissen des Rats resultiert, ab einem bestimmten Zeitpunkt der Integration nicht mehr auf Einzelfälle beschränkt und infolgedessen auch nicht länger rechtfertigbar ist. Entsprechendes gilt für potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte, die den grundgesetzlich vorgegebenen Grad demokratischer Abgeleitetheit deshalb verfehlen, weil dem Rat diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts eine zumindest vorrangige Dezisions- und Revisionsbefugnis eingeräumt ist11. Schließlich wurde zur Rechtfertigung dieses Legitimationsdefizits unter anderem auf die entsprechenden Überlegungen zu den wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakten zurückgegriffen und insbesondere auch auf seinen

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Dazu und zum Folgenden Kapitel 13 II. 2. a) = S. 1040 und Kapitel 13 II. 2. b) = S. 1092. Oben Vorbemerkung zu Teil VI = S. 1214. 11 Dazu und zum Folgenden Kapitel 13 II. 2. c) = S. 1113 und Kapitel 13 II. 2. d)= S. 1148. 10

Kap. 15: Gestaltwandel der EU in der Demokratienorm des GG

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Einzelfallcharakter abgestellt. Folglich kann für die Frage, ab wann sich das fragliche Legitimationsdefizit in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands jedenfalls nicht mehr rechtfertigen lässt, auf die Überlegungen verwiesen werden, die eben zu den wesensmäßig marktkonstituierenden Norm­ setzungsakten angestellt worden sind. Dabei sollte indes nicht übersehen werden, dass sich die beiden Konstellationen in immerhin einer Hinsicht maßgeblich unterscheiden: Anders als bei wesensmäßig marktkonstituierenden EG-Normsetzungsakten kann es bei potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakten – unabhängig von der zugrundegelegten Entwicklungshypothese – ohnehin nur noch mittelfristig als gerechtfertigt angesehen werden, wenn die Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnisse auch diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts vorrangig beim Rat angesiedelt sind12. Damit ist auch schon zu den Legitimationslücken übergeleitet, die ohne institutionelle Fortentwicklung der EU schon mittelfristig zur Grundgesetzwidrigkeit eines Teils der EG-Normsetzung führen: Legitimationsdefizite, die man schon auf mittlere Sicht grundgesetzlich nicht mehr wird rechtfertigen kann, verdanken sich, wie an früherer Stelle ausführlich begründet, den folgenden institutionellprozeduralen Verhältnissen: erstens den nicht auf bloße Einzelfälle beschränkten alleinigen oder doch immerhin vorrangigen Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnissen des Rats sowie auch der Kommission, sofern es um potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts geht13; zweitens den durch das Fehlen eines einheitlichen Wahlsystems bedingten Gleichheitsdefiziten14. Die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands erweist sich vor diesem Hintergrund als grundgesetzlich äußerst prekär.

b) Maßgeblichkeit des Modells mittelbarer Legitimation Zu berücksichtigen ist des Weiteren die reale Gefahr, dass bei einem institutionellen Integrationsstillstand die Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung hinter die gegenwärtig noch gewahrten grundgesetzlichen Mindestanforderungen zurückfällt. Diese Gefahrprognose stützt sich auf zwei Erwägungen. So ist erstens zu erinnern, dass sich auf europäischer Ebene – anders als in den Nationalstaaten  – demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität nicht in einem Jahrhunderte währenden Prozess herausgebildet haben. Da sie infolgedessen in einem nur sehr limitierten Umfang von gemeinsamen lebensweltlichen Ge

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Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (5) = S. 1126 und Kapitel 13 II. 2. d) cc) (1) = S. 1156. Ebd. sowie Kapitel 13 II. 2. c) cc) (15) = S. 1141 und Kapitel 13 II. 2. d) cc) (2) = S. 1159. 14 Oben Kapitel 13 IV. 2. a) bb) (2) = S. 1191.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

wissheiten der Europäerinnen und Europäer zehren können, hängen sie entscheidend von deren aktualen Verständigungsleistungen ab15. Ob diese sich in dem Maße verdichten und verschränken, dass demokratische Öffentlichkeit dauerhaft stabilisiert und kollektive Identität nachhaltig gestiftet wird, hängt maßgeblich von der Qualität der demokratischen Arrangements ab16. Denn die Demokratie wirkt als Treibhaus kommunikativer Verständigung. Wird nun freilich in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands die Qualität der demokratischen Arrangements auf europäischer Ebene nicht verbessert, steht zu befürchten, dass das zarte Pflänzlein einer europäischen Öffentlichkeit und Identität verkümmert und verwelkt. Zweitens bedeutet institutioneller Integrationsstillstand  – zumal dann, wenn es zu weiteren Hoheitsübertragungen kommt  –, dass die im Rahmen des euro­ päischen Hoheitsverbands erforderliche Koordination mehr noch als heute systemisch, also über die Steuerungsmedien Geld und Macht, erfolgt17. Für die Normalität demokratischer Volkswerdung nicht nur auf europäischer, sondern – über kurz oder lang – auch auf nationaler Ebene hat dies zur Konsequenz, dass sie erodiert. Denn das Ausgreifen der Systemintegration geht zu Lasten der kommunikativ vermittelten Sozialintegration, die ihrerseits Voraussetzung und Resultat demokratischer Normalität ist18. Verwirklicht sich die in der Entwicklungshypothese des institutionellen Inte­ grationsstillstands nach allem nicht fern liegende Gefahr des ‚Normalitätsverlusts‘, wird also im EG-Kontext die grundgesetzlich vorausgesetzte Normalität demokratischer Volkswerdung verfehlt, so kommt in Ansehung der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes nur noch das deutsche Staatsvolk als Legitimationssubjekt in Betracht19. Maßgeblich sind dann die Überlegungen, die zum Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation und den modell­ spezifischen Aspekten des Demokratiedefizits angestellt worden sind. Demzufolge entsteht mit dem ‚Normalitätsverlust‘ folgende Rechtslage: Ein kleinerer Teil  der wesensmäßig marktkonstituierenden Normsetzungsakte und der überwiegende Teil  der potenziell marktinterventionistischen Normsetzungsakte verstoßen ohne Weiteres gegen die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes. Denn diese Normsetzungsakte unterschreiten bei Zugrundelegung des Modells mittelbarer Legitimation schon nach heutigem Integrationsstand das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation in einem nicht mehr zu rechtfertigenden Umfang20.

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Oben Kapitel 6 IV. 3. = S. 383. Ebd. 17 Vgl. oben Kapitel 6 IV. 3. b) = S. 387. 18 Zu diesen Zusammenhängen grundlegend Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1997, S. 275 ff. 19 Oben Vorbemerkung zu Teil V = S. 862. 20 Zusammenfassend oben Kapitel 11 VI. = S. 1005.

Kap. 15: Gestaltwandel der EU in der Demokratienorm des GG

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In den Fällen, in denen aus Sicht des Modells mittelbarer Legitimation zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Integration noch kein Verstoß gegen die europaspezifische Demokratienorm des Grundgesetzes zu diagnostizieren ist, muss immerhin mittelfristig von einem solchen ausgegangen werden. Denn dem Topos der strukturellen Besonderheiten eines im Werden begriffenen überstaatlichen Hoheitsverbands, der in diesen Fällen bestehende Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß legitimiert, kommt nur übergangsweise noch rechtfertigende Wirkung zu. Insoweit mündet die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands in ein vollends düsteres Zukunftsszenario ein.

2. Die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Entwickelt sich der europäische Hoheitsverband institutionell nicht weiter fort, sondern kommt es allenfalls noch zu weiteren Hoheitsübertragungen auf ihn, steht nicht zu befürchten, dass die ‚externe Schranke‘ erreicht wird, die das grund­ gesetzliche Demokratieprinzip einer Beteiligung Deutschlands an der sich fortentwickelnden EU setzt. Denn bei einem institutionellen Integrationsstillstand kommt es gerade nicht dazu, dass die Bundesrepublik Deutschland einer souveränen EU formell beitritt, sie mit anderen Staaten zu einer souveränen EU fusioniert oder aber von einer souveränen EU formell einverleibt wird. Mithin ist in dieser Hinsicht, also in Ansehung des formellen Souveränitätsverständnisses, ein Souveränitätsverlust nicht zu gewärtigen21. Aber auch insoweit, als die grundgesetzliche Demokratienorm dem materiellen Souveränitätsverständnis Rechnung trägt und eine Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration in diesem Sinne limitiert, ist in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands nicht ernsthaft mit dem Souveränitätsfall zu rechnen22. Dieser nämlich setzte voraus, dass sich – etwa aufgrund der Übertragung von Hoheitsbefugnissen  – die staatsgebietliche Ordnung nicht mehr durchsetzen lässt oder das für die deutsche Staatsgewalt unverzichtbare Residuum an legislativen, exekutiven sowie judikativen Befugnissen verloren geht. Während sich die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands im Hinblick auf die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratie

21 Dazu auch Hillgruber, Souveränität  – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 2002, S. 1072 (1077 f.). Vgl. allerdings – aus politikwissenschaftlicher Sicht – auch Czempiel, Die neue Souveränität – ein Anachronismus?, in: Hartwich / Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik V, 1993, S. 145 (152): „In der Welt der EG-Staaten lässt sich die Obsoleszenz des Souveränitätsbegriffs (…) besonders deutlich zeigen.“ Ferner Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, in: ZRP 1993, S. 98 ff., der zumindest eine Teilsouveränität des europäischen Integrationsverbands diagnostiziert. 22 Dazu auch Steinberger, Artikel ‚Sovereignty‘, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. 4, 2000, S. 500 (512).

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

norm des Grundgesetzes als hochgradig problematisch erweist, stellt sie sich bezüglich der externen Vorgaben als unkritisch dar.

II. Die Entwicklungshypothese der bundesstaatlichen Integration In der Perspektive zweier klassischer Integrationstheorien, nämlich der föderalistischen sowie der neofunktionalistischen, ist es nicht nur nicht auszuschließen, sondern sogar wahrscheinlich, dass sich die EU à la longue immer stärker an das Modell des klassischen Bundesstaats annähert23. Bei Zugrundelegung dieser Entwicklungshypothese werfen die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes keine wesentlichen Probleme auf. Im Fokus stehen stattdessen die externen Schranken, die sich aus der europaspezifischen Demo­ kratienorm im Hinblick auf den weiteren Integrationsverlauf ableiten. Es verhält sich in dieser Entwicklungshypothese somit genau andersherum als in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands.

1. Die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes In der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration ist die Gefahr ungleich geringer, dass die Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung hinter das grundgesetzlich geforderte Mindestmaß regrediert, als dies in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands anzunehmen ist. Denn Annäherung an das bundesstaatliche Modell bedeutet zugleich Demokratisierung gemäß dem bundesstaatlichen Modell24. Demokratische Verfahrensstrukturen indes instigieren zu rationaler Verständigung und tragen dadurch maßgeblich dazu bei, dass Verständigung gelingt sowie gelungene Verständigung verstetigt wird und just dadurch die demokratische Normalität, also die demokratische Öffentlichkeit sowie die kollektive Identität des demos, perpetuiert und fortlaufend innoviert wird25.

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24

Oben Vorbemerkung zu Teil VI = S. 1214. Vgl. dazu auch Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: ­VVDStRL 2001, S. 246 (263): „Was immer gegen die Vision eines auf den vergemeinschafteten Feldern auch wirklich vereinten Europas und gegen konkrete weitere Schritte in diese Richtung sprechen mag – dafür spricht immerhin, daß so, und nur so, das spezifische Demokratiedefizit der EG behoben werden kann.“ 25 In diesem Sinne auch Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 238 (255); ferner Steinberger, Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Beyerlin u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernhardt, 1995, S. 1313 (1329), Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004, S. 390 sowie Peters, Nationale und transnationale Öffentlichkeiten, in: ders., Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, S. 283 (296).

Kap. 15: Gestaltwandel der EU in der Demokratienorm des GG

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Sollte es dennoch zu einem ‚Normalitätsverlust‘ kommen, was natürlich auch in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration nicht gänzlich auszuschließen ist, so ergäbe sich dasselbe düstere Zukunftsszenario, wie es eben für die Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands skizziert worden ist: Allein das Staatsvolk könnte noch als Legitimationssubjekt angesehen werden; die damit verbundenen Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Legitimation ließen sich allenfalls noch bei einem Teil  der EG-Normsetzungsakte rechtfertigen, und dies auch nur noch für begrenzte Zeit26. Allerdings besteht, wie gesagt, in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration eine vergleichsweise niedrige Wahrscheinlichkeit, dass im EG-Kontext die grundgesetzlich geforderte Normalität demokratischer Unionsvolks­werdung verfehlt wird. Sofern kein Normalitätsverlust eintritt, verspricht diese Entwicklungshypothese, dass sich die zwar rechtfertigbaren, aber aus demokratischer Sicht suboptimalen Abweichungen des europäischen Legitimationsniveaus vom grundgesetzlichen Normalmaß sukzessive verringern. Denn wenn Annäherung an das bundesstaatliche Modell zugleich Demokratisierung gemäß dem bundesstaatlichen Modell bedeutet, heißt dies, dass Schritt für Schritt diejenigen institutionellprozeduralen Arrangements modifiziert werden, die für die Demokratiedefizite auf europäischer Ebene ursächlich sind. So ist in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration etwa damit zu rechnen, dass die Demokratiedefizite, die auf die im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts unzureichende Dezisions- und Revisionsbefugnisse zurückzuführen sind, dadurch zumindest deutlich reduziert werden, dass dem Europäischen Parlament durchweg dieselben Mitwirkungsbefugnisse im Gesetzgebungsprozess der EG eingeräumt werden wie dem Rat27. Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass die Kommission allmählich ihr Initiativmonopol einbüßt, ihre quasigesetzgeberische Tätigkeit diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts unterbunden wird und sie sich im Übrigen in Richtung einer parlamentsabhängigen Regierung fortentwickelt28 – mit der demokratiepolitisch erwünschten Folge, dass die gegenwärtig noch mit den (Ko-)Dezisionsbefugnissen der Kommission verbundenen Legitimationsdefizite behoben werden. Mit dem Wegfall des Initiativmonopols verringert sich im Übrigen nicht nur der für EG-Normsetzungsakte kennzeichnende Grad demokratischer Abgeleitetheit, sondern zugleich auch der Umfang revisionär bedingter Störungsanfälligkeit29.

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27

Vgl. oben Kapitel 15 I. 1. b) = S. 1291. Grundsätzlich anderer Auffassung Scharpf, Die europäische Verfassungsdiskussion vor einem Dilemma, in: Kaiser / Zittel (Hrsg.), Festschrift für Graf Kielmansegg, 2004, S.  447 (451). Ähnlich wie hier dagegen Rojahn, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Auflage, 2001, Art. 23 Rn. 24. 28 Skeptisch hinsichtlich einer Gouvernementalisierung der Kommission Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus Sicht der Mitgliedstaaten, in: EuR 1995, S. 315 (329). 29 Oben Kapitel 13 III. 2. = S. 1167.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

Was schließlich die demokratische Qualität der Staats- und Gesellschafts­ organisation anbelangt, so ist zum einen erwartbar, dass die Gleichheitseinbußen abnehmen, die gegenwärtig im Bereich der auf das zentrierte Unionsvolk zurückführenden Legitimationszusammenhänge auszumachen sind30. Denn eine föderalstaatliche Entwicklung dürfte nicht nur ein einheitliches Wahlrecht mit sich bringen, sondern auch die parlamentarische Überrepräsentation der Abgeordneten aus kleinen Mitgliedstaaten zumindest tendenziell zurücknehmen31. Zum anderen lässt sich ein Plus an staatsorganisatorischer Publizität prognostizieren, weil im Rat zunehmend die in den Staatenvertretungen der Bundesstaaten gängige perfekte Verfahrensöffentlichkeit Einzug halten wird32. Dass sich in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration eine nachhaltige Demokratisierung der EG-Normsetzung als überwiegend wahrscheinlich erweist, ist in einer Hinsicht besonders zu betonen. Zu erinnern ist nämlich, dass sich einige Demokratiedefizite, vom heutigen Stand der Integration aus betrachtet, nur noch mittelfristig rechtfertigen lassen. Gemeint sind diejenigen Demokratiedefizite, die auf das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, vor allem aber darauf zurückzuführen sind, dass Rat und Kommission teilweise immer noch eine alleinige oder doch immerhin vorrangige Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis im Hinblick auf vom absoluten Parlamentsvorbehalts erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte zukommt33. Indes werden, wie eben dargelegt, gerade auch diese mittelfristig nicht mehr rechtfertigbaren Abweichungen vom grundgesetzlichen Normalmaß im Zuge bundesstaatlicher Integration überwunden.

2. Die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes In der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration ist nach allem zu vermuten, dass das Legitimationsniveau der EG-Normsetzung massiv zunehmen wird, und zwar gerade auch in den demokratierechtlich gegenwärtig besonders prekären Konstellationen. Den internen Vorgaben, die sich aus der europaspezi­ fischen Demokratienorm des Grundgesetzes ableiten, lässt sich in dieser Entwicklungshypothese denn auch nichts entnehmen, was einer fortgesetzten Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Einigung widerstreiten könnte.

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31

Zu diesen oben Kapitel 13 IV. 2. a) bb) (2) = S. 1191. Denn dann wäre zu erwarten, dass das völkerrechtlich-staatenbündische Element, dem sich die aktuelle Stimmverteilung im Europäischen Parlament verdankt, noch weiter zurück­ gedrängt wird. 32 Bezeichnend ist, dass dieses Maß an Verfahrensöffentlichkeit bereits auf der präföderalen Stufe des Reformvertrags erreicht werden soll, vgl. Art. 9 c Abs. 8 EUV (neu) (= Art. 16 Abs. 8 [konsolidierte Fassung]). 33 Vgl. dazu auch schon oben im Text Fn. 11.

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Wie aber steht es mit den externen Schranken, die das grundgesetzliche Demo­ kratieprinzip der deutschen Beteiligung am europäischen Integrationsprozess souveränitätshalber setzt? Soweit es die externen Schranken anbelangt, die das materielle Souveränitätsverständnis grundgesetzlich positivieren, ist in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration dem Ergebnis nach keine andere Prognose zu stellen als in der Entwicklungshypothese des institutionellen Integrationsstillstands. Denn allein die Bundesstaatswerdung der EU lässt auf dem Territorium der sie konstituierenden Nationalstaaten noch keine Anarchisierung der politischen Verhältnisse befürchten und wird aller Voraussicht nach auch nicht dazu führen, dass die Nationalstaaten zu États fantoche degenerieren. Nur dann aber wäre aus Sicht des integrationsfreundlichen Souveränitätsprinzips des Grundgesetzes, das von dessen Demokratienorm mit umfasst wird, materialiter der Souveränitätsfall gegeben34. Den äußeren Schranken, die sich dem souveränitätsbezogenen Teilgehalt der grundgesetzlichen Demokratienorm entnehmen lassen, kommt in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration allerdings insoweit praktische Relevanz zu, als sie dem formellen Souveränitätsverständnis rechtlichen Ausdruck verleihen35. In dieser Entwicklungshypothese ist nämlich durchaus erwartbar, dass die EU letztendlich in bundesstaatlicher Verfasstheit erwächst. In dem Moment aber, in dem die völkerrechtsvertragliche Basis der Union durch eine staatsrecht­ liche abgelöst wird, verwirklicht sich formaliter der Souveränitätsfall36. Die äußeren Schranken, die das Grundgesetz den Trägern der deutschen Staatsgewalt im Hinblick auf einen solchen Souveränitätstransfer setzt, sind nun freilich keine absoluten. Vielmehr ist es dem deutschen Staatsvolk unbenommen, in seiner Eigenschaft als pouvoir constituant originaire auf seine Souveränität formell zu verzichten37. Auch ist es den pouvoir constituant constitués nicht prinzipiell verwehrt, ein Verfahrensarrangement zu beschließen, in dessen Rahmen der ­pouvoir constituant originaire abschließend über einen politisch zur Diskussion stehenden Souveränitätstransfer entscheidet. Grundgesetzliche Voraussetzung hierfür ist jedoch erstens, dass das den pouvoir constituant originaire aktivierende Verfahrensarrangement analog Art. 79 Abs. 2 GG von Bundestag und Parlament mit Zweidrittelmehrheit gebilligt wird38. Zweitens muss das so gebilligte Ver­fahrensarrangement sicherstellen, dass allein das deutsche Staatsvolk über den Souveränitätstransfer entscheidet39.

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35

Oben Kapitel 14 III. 1. b) = S. 1251. Siehe oben Kapitel 14 III. 1. a) = S. 1249. 36 Siehe Schilling, Die deutsche Verfassung und die europäische Vereinigung, in: AöR 1991, S. 32 (62 f.). 37 Oben Kapitel 14 III. 2. a) = S. 1258. 38 Oben Kapitel 14 III. 2. b) aa) = S. 1264. 39 Oben Kapitel 14 III. 2. b) cc) = S. 1283.

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Teil VI: Grundgesetzliches Demokratieprinzip und Integrationsfortgang

III. Der Reformvertrag Wenn sich die EU nach Maßgabe des Reformvertrags fortentwickeln sollte, so würde sich eine Entwicklungshypothese verwirklichen, die zwischen der des institutionellen Integrationsstillstands und derjenigen der bundesstaatlichen Integration angesiedelt ist40. Hinsichtlich einer solchen Entwicklung lässt sich zweierlei prognostizieren: Zum einen ginge sie – aller Voraussicht nach – mit einem trotz allem bemerkenswerten Demokratiezuwachs einher; das Niveau demokratischer Legitimation der europäischen Normsetzung fiele aller Wahrscheinlichkeit nach höher aus als gegenwärtig. Zum anderen bliebe die Souveränität der Mitgliedstaaten unberührt; der Souveränitätsfall träte (noch) nicht ein.

1. Die internen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Auch das Niveau demokratischer Legitimation, das der Reformvertrag im Hinblick auf europäische Normsetzungsakte vorsieht, rekonstruiert sich in grundgesetzlicher Perspektive entsprechend dem Modell doppelter Legitimationsbasis. Dies gilt ohne Weiteres für den jetzigen Zeitpunkt der Integration. Denn die Mindestvoraussetzungen, die das Grundgesetz an die demokratische Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung stellt, sind gegenwärtig erfüllt41. Hinzu tritt, dass bei einer Fortentwicklung der EU auf der Grundlage des Reformvertrags ein Normalitätsverlust unwahrscheinlich ist. Denn der Reformvertrag ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird42, angetan, die Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung zu stabilisieren und zu vertiefen. In der Entwicklungsperspektive des Reformvertrags dürfte das demokratische Legitimationsniveau europäischer Normsetzungsakte somit voraussichtlich auf Dauer nach Maßgabe des Modells doppelter Legitimationsbasis zu bestimmen sein43. Bei Zugrundelegung dieses 40 Vor einem Missverständnis sei freilich gewarnt. Das bildhafte Verständnis von einer Entwicklungshypothese, die sich in Äquidistanz zu zwei als extrem apostrophierten Entwicklungshypothesen bewegt, könnte suggerieren, dass der Reformvertrag gleichsam die sectio aurea des europäischen Entwicklungsbilds markiert. Zumindest demokratierechtlich ist eine solchen Annahme freilich nicht nur irreführend, sondern grundweg falsch. Ihr widerstreitet bereits und vor allem, dass sich Demokratie als Zielsetzung nicht in der Kategorie der Wohlproportioniertheit fassen lässt. Vielmehr stellt sie insofern ein Extremum dar: Das Volk – und nicht die Eliten, die Repräsentanten, die Parteien, das Kapital, die Lobbys etcetera – soll tatsächlich herrschen! Als Zielvorgabe kann sich Demokratie daher wesensmäßig nie im goldenen Schnitt bewegen, sondern bildet einen zentralperspektivischen Fluchtpunkt. 41 Siehe oben Kapitel 13 V. = S. 1203. 42 Dazu insbesondere unten unter Kapitel 15 III. 1. b) = S. 1304. 43 An dieses Modell wird im Reformvertrag ausweislich des Art. 8 a (= Art. 10 [konsolidierte Fassung]) auch ausdrücklich angeknüpft (vgl. zu dem gleichlautenden Art. I-46 VVE Oeter, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, S. 69 [74]).

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Modells indes steht der Reformvertrag tatsächlich für einen reellen Zuwachs an europäischer Demokratie.

a) Der demokratische Mehrwert des Reformvertrags: Die Vertikal- und Horizontaldimension von Volkssouveränität Um den Demokratiezuwachs zu veranschaulichen, den der Reformvertrag in der Perspektive des Modells doppelter Legitimationsbasis verspricht, macht es – wie schon in der Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration – Sinn, sich in einem ersten Schritt denjenigen institutionell-prozeduralen Arrangements zu­ zuwenden, aufgrund derer EG-Normsetzungsakte verticaliter und horizonta­liter vom grundgesetzlichen Normalmaß demokratischer Legitimation abweichen. Was den Grad demokratischer Abgeleitetheit anbelangt, so bleibt das grund­ gesetzliche Normalmaß gegenwärtig vor allem deshalb unerreicht, weil dem Europäischen Parlament im Bereich des absoluten Vorbehalts parlamentarischer Normsetzung unzureichende Dezisions- und Revisionsbefugnisse eingeräumt sind. Diese Legitimationslücke wird durch den Reformvertrag insofern erheblich verringert, als das Mitentscheidungsverfahren, das künftig ordentliches Gesetzgebungsverfahren heißen soll44, diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts nahezu flächendeckend zur Anwendung kommt45. So wird das Mitentscheidungsverfahren etwa auch in dem normsetzerisch besonders produktiven Agrarbereich eingeführt46. Ohne Billigung des Parlaments ergehen dem absoluten Parlamentsvorbehalt unterfallende Normsetzungsakte47 nur noch in Einzelfällen48. Dies erschließt sich aus 44 Vgl. Art.  249  a Abs.  1 AEUV (= Art.  289 [konsolidierte Fassung]). Siehe auch Weber (Fn. 5), S. 9; ferner Rüger, Aus der Traum? Der lange Weg zur EU-Verfassung, 2006, S. 65. 45 Der Reformvertrag greift insofern inhaltlich nahtlos an die Regelungen des Verfassungsentwurfs an. Das Parlament indes ist zu Recht zu den institutionellen Gewinnern des Verfassungsentwurfs gezählt worden (so etwa von Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, in: EuR 2003, S. 535 [549]; ähnlich Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, in: DVBl. 2003, S. 1165 [1174]; Kornack, Das Demokratiekonzept des Vertrags über eine Verfassung für Europa, in: HanseLR 2005, S. 199 [205]; Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union, in: DÖV 2003, S. 1009 [1011 f.]). Dasselbe gilt konsequenterweise für den Reformvertrag (so etwa auch Weber [Fn. 5], S. 9). 46 Siehe Art.  37 Abs.  2 AEUV (= Art.  43 Abs.  2 [konsolidierte Fassung]). Zu der entsprechenden Regelung des VVE: Streinz, Was ist neu am Verfassungsvertrag, in: Gaitanides /  Kadelbach / Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Festschrift für Zuleeg, 2005, S. 108 (119) und Schoo, Das institutionelle System aus der Sicht des Europäischen Parlaments, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 63 (66). Zur bisherigen Rechtslage Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, 2003, S. 59; das damit bislang verbundene Demokratiedefizit heben auch ausgesprochene Befürworter der europäischen Integration hervor, vgl. etwa Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: Staat 2002, S. 359 (367). 47 Zum absoluten Parlamentsvorbehalt siehe oben Kapitel 10 III. 1. f) = S. 766. 48 Vgl. hierzu auch Art. 9 a Abs. 1 Satz 1 EUV (neu) (= Art. 14 Abs. 1 Satz 1[konsolidierte Fassung]), wo die prinzipielle Gleichstellung von Rat und Europäischem Parlament im Ge-

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folgenden Erwägungen: Im Reformvertrag finden sich nur mehr wenige Bestimmungen, die diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts zur Normsetzung ohne gleichberechtigte Mitwirkung des Europäischen Parlaments ermächtigen49. Soweit sich die betreffenden Normsetzungsermächtigungen auf inhaltlich vergleichsweise eng gefasste Regelungsmaterien beziehen50, ergibt sich der Einzelfall­charakter der fraglichen Normsetzungsverfahren schon aus diesem Umstand. Bei den übrigen Normsetzungsermächtigungen51 ist zu berücksichtigen, dass sie in aller Regel einen einstimmigen Ratsbeschluss voraussetzen52. Eine intensive normsetzerische Tätigkeit ist unter diesen Verfahrensbedingungen unwahrscheinlich53. Die EG-Normsetzung verfehlt den grundgesetzlich als normal vorgegebenen Grad demokratischer Abgeleitetheit zum jetzigen Zeitpunkt der Integration des Weiteren auch deshalb, weil der Kommission im Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts (Ko-)Dezisions- und Revisionsbefugnisse zukommen, sie ein weitreichendes Initiativmonopol besitzt und ihr im Übrigen eine Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung zukommt. Auch die damit verbundenen Demokratiedefizite vermindern sich in der Entwicklungsperspektive des Reformvertrags immerhin zum Teil. So bleibt zwar das Initiativmonopol als solches letztlich intakt54 und die damit verbundenen Demokratiedefizite bis auf Weiteres bestehen55. Dies wiegt freilich deshalb nicht übermäßig schwer, weil diese Abweichung vom grundgesetzlichen Normalmaß bis auf Weiteres gut rechtfertigbar ist56. Bedeutsamer ist daher, dass es setzgebungsprozess normiert ist. Bemerkenswert ist ferner, dass die Abrundungskompetenz des Art. 308 EGV (dazu oben Kapitel 10 III. 3. c] cc] [2] = S. 838) im Rahmen des Reformvertrags dem Zustimmungsverfahren unterworfen werden soll – vgl. Art. 308 AEUV (= Art. 352 [konsolidierte Fassung]) (hierzu Streinz [Fn. 46], S. 119). 49 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass eine Reihe von Bestimmungen, die zur Normsetzung ohne kodezisive Mitwirkung des Europäischen Parlaments ermächtigen, von vornherein nur jenseits des absoluten Parlamentsvorbehalts greifen – vgl. zum Beispiel Art. 75 Abs. 3 AEUV (= Art. 95 Abs. 3 [konsolidierte Fassung]) und Art. 83 Abs. 1 AEUV (= Art. 103 Abs. 1 [konsolidierte Fassung]). 50 Vgl. zum Beispiel Art. 57 Abs. 3 (= Art. 64 Abs. 3 [konsolidierte Fassung]) und Art. 89 2. Alternative AEUV (= Art. 109 2. Alternative [konsolidierte Fassung]). 51 Zu nennen sind insbesondere die – auch in der verfassungspolitischen Diskussion – zentralen Art. 93 AEUV (= Art. 113 [konsolidierte Fassung]), 95 AEUV (= Art. 115 [konsolidierte Fassung]), 137 Abs. 2 UAbs. 3 (= Art. 153 Abs. 2 UAbs. 3 [konsolidierte Fassung]) und 175 Abs. 2 AEUV (= Art. 192 Abs. 2 [konsolidierte Fassung]). 52 In diesem Sinne auch Schoo (Fn. 46), S. 67. 53 Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 43 (49). 54 Art. 9 d Abs. 2 EUV (neu) (= Art. 17 Abs. 2 [konsolidierte Fassung]); vgl. hierzu auch Höreth, Kontinuität oder Pfadsprung?, in: ZfPol 2004, S. 1257 (1267 ff.). Zu der in der rechtspolitischen Diskussion immer wieder artikulierten Forderung, das Vorschlagsmonopol der Kommission zu durchbrechen, siehe Schmitt von Sydow, in: v. d. Groeben / Schwarze (Hrsg.), EUV / EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2004, Art. 211 Rn. 59 ff. 55 Oeter (Fn. 43), S. 78. 56 Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (12) = S. 1078 und Kapitel 13 II. 2. c) cc) (13) = S. 1139.

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nach dem Reformvertrag seltener dazu kommen kann, dass die Kommission diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts über eine alleinige oder zumindest vorrangige Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis verfügt. Hierzu ist im Ausgangspunkt zu erinnern, dass die Kommission im Wesentlichen deshalb in der angesprochenen Weise auf den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts auszugreifen vermag, weil die zum Erlass von Durchführungsrecht ermächtigenden Sekundärrechtsakte nur in aller Regel den Anforderungen genügen, die das Grundgesetz an die zum Verordnungserlass ermächtigenden Parlamentsgesetze stellt57. Nun ist bereits eingehend begründet worden, weshalb dann, wenn Sekundärrechtsakte nur mit Billigung des Europäischen Parlaments erlassen werden können, sich das Problem unzureichend spezifizierter Basisrechtsakte zumindest bis auf Weiteres allenfalls in Einzelfällen stellt58. Vor diesem doppelten Hintergrund erhellt denn auch, dass bei Realisierung des Reformvertrags lediglich in Einzelfällen damit zu rechnen ist, dass der Kommission diesseits des absoluten Parlamentsvorbehalts eine zumindest vorrangige Dezisions- beziehungsweise Revisionsbefugnis zuwächst. Schließlich sieht der Reformvertrag, wie dargetan, für den Bereich des absoluten Parlamentsvorbehalts eine annähernd flächendeckende Einführung des Mitentscheidungsverfahrens vor. Ein legitimatorisches Plus lässt sich fernerhin insofern verzeichnen, als der Reformvertrag die Kommission etwas stärker als bisher an das Parlament rückbindet. Der Rat muss nämlich bei seinem Personalvorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament berücksichtigen59. Auch wenn die Kommission hierdurch längst nicht aus der demokratisch defizitären Zwitterstellung zwischen regierungsabhängiger Verwaltung und parlamentsabhängiger Regierung herausgelöst wird60, ist das Mehr an materiell-kontrollativer Legitimation, das den europäischen Normsetzungsakten infolgedessen vom zentrierten Unionsvolk her zuwachsen kann, dennoch er­ wähnenswert61. Mit diesem  – vergleichsweise geringen  – Zuwachs an materiell-kontrolla­ tiver Legitimation korreliert dabei ein  – gleichfalls geringes  – Minus an revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Denn die Kommission sieht sich unter diesen Bedingungen ein wenig mehr als bislang mit der Frage konfrontiert, ob sie mit Rücksicht auf den durch das Europäische Parlament artikulierten Willen des zentrierten Unionsvolks auf die Revision eines bestehenden Normsetzungs

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58

Siehe oben Kapitel 13 II. 2. a) cc) (14) = S. 1081 und Kapitel 13 II. 2. c) cc) (16) = S. 1144. Oben Kapitel 13 II. 2. c) cc) (15) = S. 1141. 59 Art. 9 d Abs. 7 UAbs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EUV (neu) (= Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 1 2. Halbsatz [konsolidierte Fassung]). 60 Siehe dazu  – bezogen auf den insofern regelungsidentischen VVE  – auch Ruffert, in: ­Calliess / ders. (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-26 Rn. 2. 61 Eine sehr positive Bewertung findet sich bei Schoo (Fn. 46), S. 70; deutlich zurückhaltender Höreth (Fn. 54), S. 1265.

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aktes hinwirken oder einen existierenden Normsetzungsakt fortbestehen lassen soll62. Hinsichtlich der staatsorganisatorischen Voraussetzungen demokratischer Volkswerdung verspricht der Reformvertrag insofern einen zumindest leichten Demo­ kratiezuwachs, als er einige Änderungen in Richtung des an sich formal zu verstehenden Grundsatzes demokratischer Gleichheit vorsieht: Im Rat wird das Einstimmigkeitsprinzip weiter zugunsten von Mehrheitsentscheidungen zurückgedrängt63. Für diese gilt dem Reformvertrag zufolge ab November 2014 unter Vorbehalt64 und ab April 201765 uneingeschränkt das Prinzip der doppelten Mehrheit66. Dieses Prinzip korrigiert – jedenfalls ein Stück weit – das krasse Missverhältnis, das bei Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips zwischen dem Stimmgewicht der einzelnen Staaten im Rat und dem Anteil ihrer Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung der Union besteht. Soweit es die über das Europäische Parlament vermittelten Legitimations­ zusammenhänge anbelangt, wird das zentrale Gleichheitsdefizit auch durch den Reformvertrag im Kern nicht behoben67, sondern perpetuiert68. Vielmehr wird die seit jeher praktizierte Durchbrechung des demokratierechtlichen Grundsatzes, wonach jeder die formal gleiche Einflusschance besitzen muss, verfassungsrechtlich gleichsam geadelt: Sie nimmt – etwas euphemistisch69 – als Prinzip der degressiven Proportionalität70 normative Gestalt an71. Zumindest aus grundgesetzlicher Sicht ist dies allerdings, wie dargelegt, bis auf Weiteres nicht zu beanstanden72. Des ungeachtet mindert der Reformvertrag in zumindest zweierlei Hinsicht die in Ansehung des Europäischen Parlaments konstatierbaren Gleichheits­defizite. 62 Siehe in diesem Zusammenhang auch – bezogen auf den insoweit regelungsidentischen VVE – Ruffert, in: Calliess / ders. (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-27 Rn. 2. 63 Siehe zum Beispiel Art.  42 AEUV (= Art.  48 [konsolidierte Fassung]), 47 AEUV ) (= Art. 53 [konsolidierte Fassung]) und 161 AEUV ) (= Art. 177 [konsolidierte Fassung]). 64 Art. 9 c Abs. 5 EUV (neu) (= Art. 16 Abs. 5 [konsolidierte Fassung]) und Art. 3 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen. 65 Art. 9 c Abs. 4 EUV (neu) (= Art. 16 Abs. 4 [konsolidierte Fassung]). 66 Dazu Rüger (Fn. 44), S. 100 ff., Weber (Fn. 5), S. 10 sowie Kellner, Die ‚doppelte Mehrheit‘ im Ministerrat, in: Zuleeg / Savat / Derosier (Hrsg.), Eine Verfassung für ein Europa mit 25 Mitgliedstaaten, 2005, S. 50 (54 ff.). 67 So auch schon zum Verfassungsvertrag Höreth (Fn.  54), S.  1284 f.; Kornack (Fn.  45), S.  203; Jochum / Petersson, Vom „Mitregieren“ zu demokratischer Legitimation, in: Jochum u. a., Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung, 2007, S. 151 (184). 68 So ausdrücklich Weber (Fn. 5), S. 9. 69 Nohlen, Wie wählt Europa?, in: APuZ B 17/2004, S. 29 (30). 70 Siehe Weber (Fn. 5), S. 9. 71 Art. 9 a Abs. 2 Satz 3 EUV (neu) (= Art. 14 Abs. 2 Satz 3 [konsolidierte Fassung]). 72 Siehe oben Kapitel 13 IV. 2. a) bb) (2) = S. 1191. Zur auch künftigen Bedeutung des Minderheitenschutzes in der EU siehe Epiney u. a., Schweizerische Demokratie und Europäische Union, 1998, S. 197 f. und 201. Vgl. ferner Oeter (Fn. 43), S. 80, der davor warnt, das Problem der Proportionalität in der Sitzverteilung zu dramatisieren.

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Zum einen verpflichtet der eben erwähnte Grundsatz der degressiven Propor­ tionalität immerhin dazu, die nationalen Abgeordnetenkontingente so zu bilden, dass sie ungeachtet der Degression im Verhältnis zur jeweiligen Einwohnerzahl der Mitgliedstaaten stehen. Dass in einem Staat weniger Europaabgeordnete gewählt werden als in einem anderen, obwohl dieser mehr Einwohner zählt – solche Fälle und damit einhergehende Gleichheitsdefizite darf es nach dem Reform­ vertrag nicht mehr geben. Zum anderen und vor allem sieht der Reformvertrag imperativ ein einheitliches Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament vor73. Die bislang aus dem Fehlen eines solchen Wahlrechts resultierenden Gleichheitseinbußen74 sollten demnach aus Sicht des Reformvertrags baldmöglichst der Vergangenheit angehören. In Bezug auf die staatsorganisatorische Publizität sucht und findet der Reformvertrag endgültig Anschluss an das aus den nationalstaatlichen Demokratien gewohnte Legitimationsniveau75. Denn ungeachtet des gewählten Rechtsetzungsverfahrens darf ein europäischer Normsetzungsakt diesseits des absoluten Vor­behalts parlamentarischer Normierung nur mehr dann ergehen, wenn nicht nur das Parlament76, sondern auch der Rat ausnahmslos alle das Gesetzgebungsverfahren betreffenden Plenarsitzungen öffentlich durchgeführt haben77. Diese umfassende Gewährleistung von Verfahrensöffentlichkeit ist ein Meilenstein auf dem steinigen Weg zu einer demokratischen Gesetzgebung der EU78. 73 Richtiger Auffassung nach enthält bereits Art. 190 Abs. 4 EGV eine entsprechende Normsetzungsverpflichtung (vgl. bereits oben Kapitel 13 IV. 1. b) bb) = S. 1178). In Art. 190 Abs. 1 AEUV (= Art.  223 Abs.  1 [konsolidierte Fassung]) tritt die Rechtspflicht, ein einheitliches Wahlrecht zu erlassen, noch deutlicher hervor. Denn dort ist hinsichtlich der fraglichen Wahlrechtsvorschriften von „erforderlichen Bestimmungen“ die Rede. Einzuräumen ist freilich, dass die deutsche Version des Vertragstextes, der gemäß Art. 7 des Reformvertrags von Lissabon (Fn.  4) Verbindlichkeit, zukommt, ein Stück weit missverständlich ist. Die Wendung von den „erforderlichen Bestimmungen“ könnte nämlich auch als eine Art Subsidiaritäts­ klausel gelesen werden, der zufolge ein vom Europäischen Parlament konzipiertes und vom Rat mit Zustimmung des Europäischen Parlaments erlassenes einheitliches Wahlrecht lediglich die zwingend nötigen Bestimmungen enthalten dürfe. Der Seitenblick auf die anderssprachigen Textversionen belegt jedoch (zur Bewältigung der Auslegungsprobleme, die aus der Mehrsprachigkeit der Gemeinschaftsverträge erwachsen, vgl. Cremer, in: Calliess / Ruffert [Hrsg.], EUV / EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 53 Rn. 3 f. sowie Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 275), dass in Art. 190 AEUV nur die ‚für die allgemeine unmittelbare Wahl der EuropaParlamentarierer erforderlichen Bestimmungen‘ gemeint sein können, wenn von „erforder­ lichen Bestimmungen“ die Rede ist. In der eigentlich indizierten Lesart bestätigt sich somit, dass der Erlass eines einheitlichen Wahlrechts ein rechtliches Erfordernis und mithin eine justiziable Normsetzungsverpflichtung darstellt. 74 Siehe oben Kapitel 13 IV. 2. a) bb) (2) = S. 1191. 75 Vgl. hierzu – bezogen auf den in dieser Hinsicht regelungsidentischen VVE – auch Wegener, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-50 Rn. 5 f. 76 Art. 16 a Abs. 2 AEUV (= Art. 15 Abs. 2 [konsolidierte Fassung]). 77 Art. 9 c Abs. 8 EUV (neu) (= Art. 16 Abs. 8 [konsolidierte Fassung]) – Oeter (Fn. 43), S. 83 hält dies für bahnbrechend. 78 Jochum / Petersson (Fn. 67), S. 185: substantielle Verbesserung.

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Die gesellschaftsorganisatorischen Voraussetzungen sehen sich auf der Basis des Reformvertrags insofern zumindest konsolidiert, als den weithin schon nach geltendem Gemeinschaftsrecht verbürgten demokratiekonstitutiven Grundrechten dadurch ausdrücklich Primärrechtsqualität zuerkannt wird, dass die Grundrechtscharta in den Rang von Unionsverfassungsrecht gehoben wird79. Der eingeschränkte Anwendungsbereich der im Reformvertrag enthaltenen Grundrechte bleibt allerdings zu berücksichtigen80. Aus dem Vorstehenden erschließt sich, dass sich in der Entwicklungsperspektive des Reformvertrags die demokratischen Verhältnisse speziell auch dort zum Besseren wenden, wo nach gegenwärtigem Stand der Integration eine grundgesetzliche Rechtfertigung von Demokratiedefiziten nur mehr mittelfristig möglich erscheint: Das einheitliche Wahlrecht muss dem Reformvertrag zufolge zwingend erlassen werden81. Und diejenigen Demokratielücken, die von der zumindest vorrangigen Dezisions- respektive Revisionsbefugnis von Rat oder Kommission im Hinblick auf vom absoluten Parlamentsvorbehalt erfasste potenziell marktinterventionistische Normsetzungsakte herrühren, erweisen sich nicht mehr nur mittelfristig als gerechtfertigt. Denn sie beziehen sich nur mehr auf Einzelfälle, sodass der Rekurs allein auf das grundgesetzliche Bundesstaatsprinzip zur Rechtfertigung der Legitimationslücke ausreicht.

b) Der demokratische Mehrwert des Reformvertrags: Die Tiefendimension von Volkssouveränität In einem ersten Schritt ist somit skizziert worden, inwieweit der Reformvertrag speziell auch diejenigen institutionell-prozeduralen Arrangements im Sinne der Demokratiemehrung fortentwickelt, derethalben die europäische Gesetzgebung heutzutage das grundgesetzliche Normalmaß demokratischer Legitimation verticaliter und horizontaliter unterschreitet. In einem zweiten Schritt soll nun noch auf die Normalität demokratischer Volkswerdung eingegangen werden. Wie bereits angedeutet, ist der Reformvertrag angetan, auch diese zu stabilisieren und zu vertiefen. Dies folgt schon aus den eben besprochenen, im Reformvertrag angelegten Zuwächsen an Demokratie in der Vertikal- und Horizontaldimension von Volks­



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Art.  6 Abs.  1 UAbs.  1 2.  Halbsatz  EUV (neu)  – Weber (Fn.  5), S.  7 bezeichnet diese Bestimmung plastisch als „Grundrechtsanerkennungsartikel“. Zur bisherigen Einordnung der Grundrechtscharta als soft law und Rechtserkenntnisquelle v. Komorowski, Europa­ rechtskonforme Beiladungspraxis im Normenkontrollverfahren, in: BayVBl. 2003, S.  360 (365). 80 Vgl. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV (neu) sowie Art. 51 GRC. 81 Siehe hierzu – freilich bezogen auf den insofern regelungsidentischen VVE – Kluth, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-20 Rn. 10.

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souveränität82. Denn wenn demokratische Strukturen verstärkt werden, verstärkt dies eo ipso den sanften Druck auf die zivilgesellschaftlichen Akteure, sich kommunikativ des Gemeinsamen rückzuversichern und diskursiv Gemeinsames zu stiften83. Dass und weshalb demokratische Öffentlichkeit und kollektive Identität des demos durch demokratische Prozeduralität stabilisiert und reproduziert werden, braucht an dieser Stelle indes nicht nochmals wiederholt zu werden84. Wichtiger dürfte daher der Hinweis auf zwei Regelungen des Reformvertrags sein, denen im Hinblick auf die Tiefendimension von Volkssouveränität besondere Relevanz zukommt. Zu nennen ist zunächst und zuvörderst die Vorschrift über das Bürgerbegehren85. Dabei ist zu beachten, dass sich ein Bürgerbegehren bereits in der Vertikaldimension von Volkssouveränität auswirkt. Denn es verringert den Grad demokratischer Abgeleitetheit, den ein auf ein erfolgreiches Bürgerbegehren hin erlassener europäischer Normsetzungsakt in dezisionärer Hinsicht beziehungsweise jeder europäische Normsetzungsakt in revisionärer Hinsicht aufweist. Allerdings hält sich dieser demokratische Mehrwert in eng bemessenen Grenzen86. Denn die unmittelbare Dezisions- und Revisionsmacht beschränkt sich im Wesentlichen auf das agenda-setting. Ungleich bedeutsamer ist daher der Effekt, den nicht nur ein erfolgreiches, sondern eben auch ein erfolgloses Bürgerbegehren im Hinblick auf die Normalität demokratischer Volkswerdung haben kann87. Ein Bürgerbegehren kann, wenn die entsprechende Bewegung ein Mindestmaß an Dynamik entwickelt, die zivilgesellschaftlichen Akteure sehr viel unmittelbarer, kraftvoller und nachhaltiger zu europaweiten Öffentlichkeiten vernetzen und zu identitäts­



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Siehe oben Kapitel 15 III. 1. a) = S. 1289. Vgl. dazu auch v. Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, in: JZ 2004, S. 53 (69): „in der republikanischen Tradition ist wesentliches Moment der kollektiven Identitätsbildung die Einbeziehung der Bürger in die politische Willensbildung.“ Ferner Landfried, Wo bleiben die Bürger in der Europäischen Union?, in: Bruha / Nowak (Hrsg.), Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 89 (103 f.). 84 Dazu oben Kapitel 6 IV. 3. = S. 383. 85 Siehe Art. 8 b Abs. 4 EUV (neu) (= Art. 11 Abs. 4 [konsolidierte Fassung]) und Art. 21 Abs. 1 AEUV (= Art. 24 Abs. 1 [konsolidierte Fassung]) – Für die Einführung direktdemokratischer Elemente auch schon Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL 1991, S. 97 (131 f.) und ders. Demokratie in Europa, in: Due / Lutter / Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 2, 1995, S. 1561 (1570 f.). Die Etablierung direkt-demokratischer Elemente auf der Ebene einer überstaatlichen Organisation wäre ein Novum (vgl. Gusy, Demokratiedefizite postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, in: ZfP 1998, S. 267 [269]). Aus politikwissenschaftlicher Perspektive haben sich insbesondere Abromeit, Volkssouveränität in komplexen Gesellschaften, in: Brunkhorst / Niesen (Hrsg.), Festschrift für Maus, 1999, S. 17 (28 ff.) und Grande, Demokratische Legitimation und europäische Integration, in: Leviathan 1996, S.339 (352 ff.) für direktdemokratische Elemente auf EU-Ebene ausgesprochen. 86 So im Ergebnis auch Jankowski, Demokratie in der EU gemäß der Europäischen Verfassung, in: ZfPol 2005, S, 741 (812 f.). 87 Dies vernachlässigt Schwarze (Fn. 45), S. 556 f., wenn er am praktischen Sinn des Bürgerbegehrens zweifelt.

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bildenden Diskursen anstiften, als dies ein herkömmlicher Gesetzgebungsprozess typischerweise vermag88. Neben der Vorschrift über die Bürgerbegehren ist nochmals auf die Regelung zurückzukommen, die den Rat verpflichtet, bei seinem Vorschlag für die Besetzung des Amts des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der vorausgegangenen Parlamentswahlen zu berücksichtigen89. Der durch dieses institutionell-proze­ durale Arrangement erzielte Zugewinn an materiell-kontrollativer Legitimation ist, wie dargelegt, ebenso bescheiden wie die damit verbundene Verringerung revisionär bedingter Störungsanfälligkeit. Als demokratierechtlich perspektivreicher erscheinen daher die möglichen Implikationen dieses institutionell-prozeduralen Arrangements für die Normalität demokratischer Volkswerdung. Denn damit ist – ungeachtet des Umstands, dass das Vorschlagsrecht für das Amt des Kommissionspräsidenten beim Rat verbleibt  – die Voraussetzung für eine „europäische Spitzenkandidatur“ bei den Europawahlen geschaffen90. Ähnlich wie das Bürgerbegehren birgt eine solche „europäische Spitzenkandidatur“ die Chance, dass die euro­päische Zivilgesellschaft hierdurch in besonderem Maße mobilisiert wird und in der Folge die europaweiten Öffentlichkeiten sich festigen, die gemeinsame Identität der Unionsbürger weiter austreibt. Es bestätigt sich nach allem, dass in der Entwicklungsperspektive des Reformvertrags mit einem Demokratiezuwachs auch in der Tiefendimension von Volkssouveränität gerechnet werden kann. Dies wiederum ist zugleich für die Vertikalund Horizontaldimension von Volkssouveränität von unmittelbarer Bedeutung91: Ohne auskömmliche Normalität demokratischer Unionsvolkswerdung kann nur mehr das deutsche Staatsvolk grundgesetzlich als Legitimationsquell im Hinblick auf die europäischen Normsetzungsakte angesehen werden. In der dann maßgeblichen Perspektive des Modells mittelbarer Legitimation indes unterschreiten EG-Normsetzungsakte schon heute vielfach das vom Grundgesetz verticaliter und horizontaliter vorgegebene Normalmaß demokratischer Legitimation in einem verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigenden Umfang92.

88 In diesem Sinn offensichtlich auch Landfried (Fn.  83), S.  104; auch Peters (Fn.  25), S. 296 f. sowie – im Zusammenhang mit seinem Plädoyer für eine unionsweite Volksabstimmung über eine europäische Verfassung – Nicolaysen, EU-Mitgliedstaaten: Ein neues verfassungsrechtliches Verhältnis?, in: Bruha / Nowak, Die Europäische Union: Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit, 2006, S. 17 (32). 89 Zurückhaltend allerdings Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 267 f. 90 Vgl. etwa Schoo (Fn. 46), S. 70. 91 Zu diesen Zusammenhängen vgl. oben Vorbemerkung zu Teil V = S. 862. 92 Siehe oben Kapitel 11 = S. 864.

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2. Die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes Die Entwicklungsrichtung, für die der Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa steht, lässt die durch das grundgesetzliche Demokratieprinzip unter erhöhten Bestandschutz gestellte Souveränität der Bundesrepublik Deutschland unversehrt. Hinsichtlich der dem materiellen Souveränitätsverständnis verpflichteten Teilgehalte dieser grundgesetzlichen Verbürgung93 kann insofern umstandslos darauf verwiesen werden, was zur Entwicklungshypothese bundesstaatlicher Integration festgestellt wurde94. Denn wenn es schon bei einer Bundesstaatswerdung des europäischen Hoheitsverbands hochgradig unwahrscheinlich ist, dass hierdurch die staatliche Ordnung undurchsetzbar beziehungsweise der staatsgewaltkonstitutive domaine réservé beeinträchtigt und damit aus Sicht der grundgesetzlichen Demokratienorm der sozusagen materielle Souveränitätsfall herbeigeführt wird, so gilt dies erst recht für die souveränitätsschonendere Entwicklungsvariante des Reformvertrags. Hinzu tritt, dass der Reformvertrag zumindest zwei Änderungen gegenüber dem geltenden Vertragsrecht vornimmt, die potenziell dazu beitragen können, bereits weit im Vorfeld des materiellen Souveränitätsfalls einer schleichenden Entmächtigung der Mitgliedstaaten vorzubeugen. So wird zum einen erstmals ausdrücklich und generell-abstrakt geregelt, welche Arten von Zuständigkeiten es europarechtlich gibt, wozu sie ermächtigen und auf welche Sachmaterien sie sich jeweils beziehen95. Damit verringert sich tendenziell die Gefahr, dass die europäischen Organe aus den europarechtlich konzedierten Einzelermächtigungen auf Handlungsmöglichkeiten schließen, die ihnen die Mitgliedstaaten in dieser Regelungstiefe beziehungsweise -breite überhaupt nicht konzedieren wollten96. Eine ähnliche, gewissermaßen disziplinierende Wirkung geht zum anderen davon aus, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung97 klarer gefasst wurde98. Auch hiermit verbindet sich die nicht ganz unberechtigte Hoffnung, dass es den Organen des europäischen Hoheitsverbands weniger leicht fallen wird, die ihnen gesetzten Kompetenzgrenzen zu überdehnen99.



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Dazu eingehend oben Kapitel 14 III. 1. b) = S. 1251. Oben Kapitel 15 II. 2. = S. 1296. 95 Vgl. Titel I des AEUV. Siehe hierzu im Einzelnen Weber (Fn. 5), S. 11 ff. 96 Vgl. König, Gesetzgebung, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, 2006, § 2 Rn.  5; skeptisch Götz (Fn. 53), S. 44 f. und 50 ff. 97 Zu diesem etwa Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, in: AöR 1996, S. 173 (174 f.) sowie Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl. 2004, Rn. 335 ff. 98 Vgl. Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV (neu). Hierzu auch Weber (Fn. 5), S. 8. 99 Dass ein Beharren auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (zu diesem etwa König [Fn. 96], Rn. 3 f.) grundsätzlich geeignet ist, Kompetenzüberschreitungen des europäischen Hoheitsverbands vorzubeugen, konzediert etwa auch Herdegen, „Föderative Grund-

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Der materielle Souveränitätsfall spielt demnach in der Entwicklungshypothese des Reformvertrags keine Rolle. Dasselbe gilt für den abschließend zu betrachtenden formellen Souveränitätsfall. Denn eine formelle Unterordnung der nationalen Mitgliedstaaten und mithin der Bundesrepublik Deutschland unter die Rechts- und Zwangsgewalt der Union sieht der Reformvertrag gerade nicht vor: Schon seine offizielle Bezeichnung als ‚Vertrag zur Änderung des Vertrages über die Euro­ päische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften‘ macht deutlich, dass mit dem Reformvertrag an der völkerrechtsvertraglichen Basis von Union und Unionsrecht festgehalten wird100. Dementsprechend stehen auch etwaige Änderungen der Verfassung weiterhin ausnahmslos unter dem Vor­ behalt, dass jeder einzelne der Mitgliedstaaten der Union sie ratifiziert. Der für die formelle Souveränität der Mitgliedstaaten konstitutive Umstand, dass Hoheitsakte des europäischen Integrationsverbands nur vermöge mitgliedstaatlicher Autorisation auf dem jeweiligen nationalen Staatsgebiet wirksam werden können101, wird durch den Reformvertrag noch verstärkt. Denn im Unterschied zum bisherigen Gemeinschaftsrecht102 weist der Reformvertrag eine ausdrück­liche Bestimmung über den freiwilligen Austritt eines Mitgliedstaats aus der Union auf103. Diese Austrittsklausel104 dokumentiert und bekräftigt, dass sich die von der Union mit innerstaatlichem Wirkungsanspruch gesetzten Normen zumindest formell aus der umfassenden Gebietsordnungsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten ableiten. Denn die Wirksamkeit der Unionsregelungen auf dem Gebiet eines bestimmten Mitgliedstaats steht und fällt mit dessen Verbleib im Unionsverband; von diesem aber kann sich ein Mitgliedstaat durch gegebenenfalls unilateralen Akt lösen. Weder die internen noch die externen Vorgaben der europaspezifischen Demokratienorm des Grundgesetzes stehen somit einer Fortentwicklung des europäischen Integrationsverbandes in Richtung des Reformvertrags entgegen. Stattdessen würde bei einer solchen Entwicklung das Niveau demokratischer Legitimation sätze“ in der Europäischen Union, in: Cremer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Steinberger, 2002, S. 1193 (1201). 100 Unklar – auch schon hinsichtlich der gegenwärtig geltenden Rechtslage Pernice, Euro­ päisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 2001, S. 147 (169): „Insofern führt das vom völkerrechtlichen Souveränitätsdenken geprägte Bild, die Mitgliedstaaten seien nach wie vor die ‚Herren der Verträge‘, in die Irre; sie sind weder die Herren der Verträge, ja sie sind (…) nicht einmal mehr Herren ihrer eigenen Verfassungen.“ 101 Diese völkerrechtliche Grundlage wäre im Übrigen auch durch den VVE nicht verlassen worden – vgl. nur Kornack [Fn. 45], S. 200. 102 Dazu etwa Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 144 f.; auch Hillgruber (Fn. 21), S. 1078; Streinz, Europarecht (Fn. 73) Rn. 102 f.; Doehring, Einseitiger Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft, in: Dörr u. a. (Hrsg.), Festschrift für Schiedermair, 2001, S. 695 ff. 103 Aus integrationspolitischer Perspektive wird diese Neuregelung von Schwarze (Fn. 45), S. 558 f. sowie Nicolaysen (Fn. 88), S. 38 f. kritisiert. 104 Art. 35 EUV (neu); dazu Weber (Fn. 5), S. 13. Zum inhaltsgleichen Art. I-60 VVE Streinz (Fn. 46), S. 124, sowie Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 1. Kap. / Rn. 44.

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angehoben – bei gleichzeitiger Festigung der mitgliedstaatlichen Souveränitäten. Ob die Europäische Union den vom Reformvertrag gewiesenen Weg gehen darf, ist demnach im Kern keine verfassungsjuristische Frage. Die Antwort hierauf müssen vielmehr die Bürgerinnen und Bürger Europas sowie ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten geben, und zwar politisch. Sie müssen entscheiden, ob eine entsprechend fortentwickelte Union das Maß an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Verantwortung und Föderalität gewährleistet, das sie eingedenk des geschichtlich-kulturellen Erbes Europas als für eine politische Grundordnung, für eine Verfassung im zumindest materiellen Sinne105 unverzichtbar erachten. Und nur wenn sich das neue Gemeinschaftsrecht in die Kontinuität der europäischen Verfassungskämpfe um Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit einschreiben lässt, verdient es verfassungspolitische Unterstützung.

105 Zum Begriff der materiellen Verfassung im hiesigen, gebräuchlicheren Sinn von recht­ licher Grundordnung – im Unterschied zur materiellen Verfassung als „Gesamtzustand politischer Einheit und Ordnung“ (Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 3) – aufschlussreich Arndt, Schreiben vom 22. August 1953, in: Freiherr v. d. Heydte (Hrsg.), Der Kampf um den Wehr­ beitrag, Bd. 2 / Ergänzungsbd., 1958, S. 371 (416 f.) sowie Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. 1992, S. 79 (390 f.).

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