Die demokratische Revolution 1989 in der DDR 9783412334949, 9783412204624

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Die demokratische Revolution 1989 in der DDR
 9783412334949, 9783412204624

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Die demokratische Revolution 1989 in der DDR

Die demokratische Revolution 1989 in der DDR Herausgegeben von

Eckart Conze, Katharina Gajdukowa und Sigrid Koch-Baumgarten

© 2009 BÜHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: »Kinder an die Macht«, Johanna Poppe, 8 Jahre alt, 4. November 1989. Ausschnitt aus Plakat zur »Verfassung mit Volksentscheid«. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Familie.

© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20462-4

Inhalt Einleitung

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25

Sigrid Koch-Baumgarten, Katharina Gajdukowa, Eckart Conze „1989" - Systemkrise, Machtverfall des SED-Staates und das Aufbegehren der Zivilgesellschaft als demokratische Revolution KonradJarausch Kollaps des Kommunismus oder Aufbruch der Zivilgesellschaft ? Zur Einordnung der friedlichen Revolution von 1989

1. M e n s c h e n r e c h t s s i t u a t i o n im A l l t a g der D i k t a t u r 46

Anja Mihr Was tun gegen Menschenrechtsverletzungen in der DDR? Amnesty International und die SED-Staatsmacht

64

Bernd Lippmann Moderner Menschenhandel - Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR

78

Sandra Pingel-Schliemann Zerstörung von Biografien. Zersetzung als Phänomen der Honecker-Ära

2. D e m o k r a t i s c h e R e v o l u t i o n als f r i e d l i c h e R e v o l u t i o n 92

103

Wolfgang Templin Die osteuropäischen Befreiungsbewegungen Vorraussetzung für eine erfolgreiche friedliche Revolution 1989 Werner Schulz „Was lange gärt wird Wut" - Der Vorlauf der DDR Opposition zur friedlichen Revolution

Inhalt I 5

121

Ingrid Miethe Die übersehene Generation oder: Die 89er als 68er des Ostens ?

138

Andreas H. Apelt Sozialismus contra Wiedervereinigung? Die DDR-Opposition und die deutsche Frage

154

Eva Sänger Einfluss durch Öffentlichkeit ? Zur Bedeutung des Zentralen Runden Tisches im Umbruch der DDR

170

Joachim Gauck „Wir sagen unserer Angst auf Wiedersehen!": Von der Auflösung der Stasi zum Stasiunterlagengesetz

182

Tine Stein „Verfassung mit Volksentscheid" - Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit zwischen ,Neuanfang' und Weiter so'

3. Historisierung der DDR 203

Christoph Safferling Gerechtigkeit durch Strafrecht? - Eine Analyse des Umgangs der Strafjustiz mit dem SED-Regime

222

RalfWüstenberg Die Opfer sind unter uns - von Südafrika lernen

234

Martin Sabrow Die DDR im Gedächtnis der Gegenwart

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Autorinnen und Autoren

6

I Inhalt

Einleitung

Sigrid Koch-Baumgarten,

Katharina

Gajdukowa,

Eckart

Conze

„ 1 9 8 9 " - Systemkrise, M a c h t v e r f a l l des SED-Staates und das Aufbegehren der Z i v i l g e s e l l s c h a f t als demokratische Revolution

Die „demokratische" Revolution 1989 und ihre Folge „1989" gehört zu den Zäsuren in der neuen deutschen Geschichte, ja sogar in der europäischen und Weltgeschichte. Im - auch angesichts des Metatrends rasanter Beschleunigung in der Postmoderne - atemberaubenden Tempo, in historischer Zeitrechnung eigentlich im Verlauf von Sekunden, hörte die als stabil geltende Parteidiktatur der SED in Ostdeutschland auf zu existieren. Mit ihr wurde auch die mit der „doppelten Staatsgründung" 1945 bis 1949 entstandene deutsche Teilung beendet - und in weiterer Perspektive ein langer „Sonderweg" Deutschlands in Europa. 1 Hatten die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Italien bereits in den Nachkriegsjahren wieder zu den klassischen westlichen Demokratien und Rechtsstaaten aufgeschlossen, denen in den 1970er Jahren Spanien und Portugal gefolgt waren, so wurden 1989 neben der D D R auch die anderen ost- und südosteuropäischen „realsozialistischen" Staaten von der Transformation zur Demokratie und zur Marktwirtschaft erfasst. Mit dem Sturz der kommunistischen Ein-ParteienRegime war gleichzeitig nicht nur in Deutschland die Rückgewinnung der nationalen Selbstbestimmung, die Befreiung von der Fremdbestimmung durch die sowjetische Hegemonialmacht im Warschauer Pakt und damit das Ende der europäischen Nachkriegsordnung verbunden. Bereitet wurde der Weg für eine neue Stufe der wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas. Dass sich heute die EU und ein gemeinsamer Binnenmarkt über West-, Süd-, Nord- und Ostmitteleuropa erstrecken, wäre zu Beginn des Jahres 1989 völlig undenkbar gewesen. Und global wurde der fast das gesamte 20. Jahrhundert prägende Systemkonflikt mit dem Kalten Krieg als Höhepunkt beendet. O b mit dem Ende des Kommunismus als Gesellschaftsexperiment und als politische Utopie auch das „Zeitalter der 1

Vgl. dazu Bernd F A U L E N B A C H , Was ist zwanzig Jahre danach zu feiern? Zur Bedeutung von 1 9 8 9 in der deutschen Geschichte und Gegenwart, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 3 ( 2 0 0 9 ) , S. 2 6 - 3 0 .

Einleitung

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Extreme"2 beendet worden ist, wie manche Autoren mutmaßen,3 sei angesichts der globalen Herausforderung von Terrorismus und religiösem Fundamentalismus dahingestellt. Dennoch hat der Umbruch in Osteuropa unter Einschluss der Sowjetunion, der nunmehr „no-longer existing socialism",4 auch das internationale System fundamental verändert. Die Ursachen des U m b r u c h s in der D D R

Angesichts dieser epochalen Folgen des annus mirabilis ist es kaum verwunderlich, dass sich ein breiter wissenschaftlicher Diskurs über die Ursachen, den Verlauf und die Resultate des osteuropäischen Systemzusammenbruchs entwickelt hat. Alle gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen haben sich mit allen denkbaren theoretischen und methodischen Zugängen mit dem Ende der DDR und dem Ende des Staatssozialismus befasst. Insofern lässt sich beides heute sehr gut mit einem kompakten Ursachenbündel erklären, in dem langfristige Strukturentwicklungen und kurzfristige, situative Faktoren, zufällige Ereigniskonstellationen5 benannt werden. Grundlegend waren erstens die veränderten internationalen Kontextbedingungen, die beginnend mit den Gorbatschowschen Reformen in der Sowjetunion zur Aufgabe der Breschnewdoktrin Ende der 1980er Jahre führten: Systemwechsel oder Reformversuche in der sowjetischen Hegemonialsphäre standen plötzlich und unerwartet nicht mehr unter der Drohung einer Militärintervention der Sowjetunion. Erstmals in der Geschichte des Warschauer Paktes fiel damit die außenpolitischmilitärische Existenzgarantie für die SED-Diktatur bzw. für alle osteuropäischen Einparteien-Regime.6 Partiell wird in diesem Zusammenhang anschaulich von der „letzten Welle der Entkolonialisierung" gesprochen, die durch den Zusammenbruch

2

Eric J. H O B S B A W M , Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

3

Konrad Hugo J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung? Zur Krise des Kommunismus und Auflösung der D D R , in: Dietrich Papenfuss/Wolfgang Schieder (Hg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 564f.

4

Reginald E. ZELNIK, Not the Juice but the Juicer: On no-longer Existing Socialism and Lemonade, in: Nikki Ragozin KEDDIE (Ed.), Debating Revolutions, New York, London, 1995, S. 2 4 4 - 2 5 3 .

5

Vgl. J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 553; vgl. ferner ders., Die unverhoffte Einheit 1989 - 1990, Frankfurt am Main 1995; ders./Martin Sabrow (Hg.), Weg in den Untergang: Der innere Zerfall der D D R , Göttingen 1999.

6

Vgl. J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 551; Eckhardt JESSE, Einleitung, in: ders. (Hg.), Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin 2006, S. 7 - 2 0 ; Hans Karl RUPP, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 4. überarb. u. erw. Aufl., München 2009, S. 2 7 5 - 2 8 0 .

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Sigrid K o c h - B a u m g a r t e n , Katharina Gajdukowa, Eckart Conze

der UdSSR und deren geostrategischen Rückzug aus Ostmitteleuropa eingeleitet wurde.7 Zweitens kumulierte langfristig die wirtschaftliche Ineffizienz der bürokratischen Planwirtschaft zu einem Modernisierungsdefizit der DDR-Ökonomie und zu einem insbesondere im Vergleich zur bundesrepublikanischen Referenzgesellschaft permanenten Konsumgütermangel. Die daraus resultierende wirtschaftliche Unzufriedenheit wiederum bestärkte drittens eine generelle Delegitimation des SED-Regimes, die systemisch auf Versuche der totalitären Politisierung der Gesellschaft und auf die Verweigerung von Bürgerrechten und Partizipationsmöglichkeiten zurückzuführen war. Spätestens in den 1980er Jahren, wenn nicht bereits wesentlich früher, kam es zu einer Erosion der Loyalität der Bevölkerung in der DDR, zu einem „silent breaking with the system".8 Gleichzeitig entstanden bereits in dieser Zeit alternative Subkulturen und oppositionelle Netzwerke unter dem Dach der Kirche - randständige Ansätze von Opposition und Dissidenz in der DDR, die das Fundament des zivilgesellschaftlichen Aufbruchs von 1989 bildeten.9 Diese Unzufriedenheit zahlreicher DDR-Bürger brach sich viertens ab dem Frühsommer 1989 mit den Botschaftsbesetzungen in Budapest, Prag und Warschau bzw. mit der Grenzöffnung in Ungarn zum einen in der anschwellenden Massenflucht aus der DDR in die Bundesrepublik und zum anderen in einer wachsenden und sich politisierenden Protestbewegung in den Städten der DDR Bahn.10 Nach 40 Jahren Sprachlosigkeit entluden sich explosionsartig die „Frustrationen über die Schäbigkeit der DDR, verlor sich die Angst vor der allgegenwärtigen Stasi und äußerte sich die Enttäuschung über den realen Sozialismus".11 Gleichzeitig verschafften sich die bereits lose vernetzten Bürgerrechtler zunehmend Gehör, die im Herbst 1989 unabhängige Organisationen gründeten, die kurzzeitig zum Sprachrohr der Bürgerproteste der DDR werden konnten und sich am Runden Tisch mit Repräsentanten des SED7 8

9

Charles S. MAIER, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt am Main 1999, S. 204. Gareth DALE, "The East German Revolution of 1989, Manchester/New York 2006, S. 226; vgl. ferner: Winfried T H A A , Die Wiedergeburt des Politischen. Zivilgesellschait und Legitimitätskonflikt in den Revolutionen von 1989, Opladen 1996, S. 18; Martin SABROW, Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichdicher Perspektive, in: Jarausch/Sabrow (Hg.), Weg in den Untergang, S. 8 3 - 1 1 6 . J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 548; einen Überblick zur Opposition und Dissidenz in der DDR geben etwa: Ilko-Sascha KOWALCZUK, DDR: Opposition und Widerstand, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit 1949 - 1989 - 1 9 9 9 , Bonn 1999, S. 163-176; Ehrhart NEUBERT, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, 2. Aufl., Bonn 2000.

10 Vgl. dazu ausführlich u.a. Detlef POLLACK, Mass Pressures, Elite Responses - Roots of Democratization: the Case of the GDR, in: Communist and Post Communist Studies, 3 (2002), S. 3 0 5 - 3 2 4 . 11 Konrad J A R A U S C H , Aufbruch der Zivilgesellschait. Zur Einordnung der friedlichen Revolution von 1989. Schriftenreihe des Gesprächskreises Geschichte der FES, 55(2004), S. 23.

„1 969" - S y s t e m k r i s e ,

Machtverfall des S E D - S t a a t e s und A u f b e g e h r e n

I

9

Staates in einer Interimsphase bis zur Wahl der Volkskammer im Frühjahr 1990 die Macht teilten.12 Angesichts der Massenproteste im Land und der Massenflucht aus dem Land schließlich erwies sichfimftens eine erstarrte SED-Machtelite unfähig zur Krisenbewältigung und zum Machterhalt. Isoliert von der Sowjetunion, die nicht den Erhalt des Status Quo sondern Reformen befürwortete und nicht mehr zur militärischen Intervention zur Verteidigung des SED-Staates bereit war, ohne nennenswerten Reformflügel innerhalb der Partei, der sich mit der Protestbewegung und den gesellschaftlichen Oppositionsgruppen hätte verbünden können, zudem systemisch, d.h. infolge der monistischen Herrschaftsstruktur der DDR, von der Gesellschaft abgeschnitten, erwies sich die SED-Spitze als unfähig, hinreichende Reformen umzusetzen. Zudem zeigte sie sich im entscheidenden Moment zögerlich, das staatssozialistische Regime mit gewaltsamen Mitteln zu verteidigen. Eine sogenannte „chinesische Lösung" wurde zwar vorbereitet und von Teilen der SED-Führung, etwa von Erich Honecker, befürwortet, aber aus verschiedenen Gründen - darunter Unentschlossenheit, Furcht vor der (ökonomischen) Reaktion des Westens, Kommunikationsproblemen in der SED-Spitze - nicht umgesetzt.13 Insofern kam es zu einem rasanten Autoritätsverlust des SED-Staates und historisch beispiellosen Machtzerfall, der bisweilen als eine „unbeabsichtigte Selbstauflösung" der SED-Diktatur 14 wahrgenommen wurde. Wissenschaftlicher und geschichtspolitischer Diskurs: Systemkollaps oder Revolution?

Bei allen Differenzen im Detail sind weniger die einzelnen Bestandteile des Sets an Ursachen zur Erklärung des Systemzusammenbruchs wissenschaftlich umstritten, als vielmehr die Gewichtung einzelner Erklärungsfaktoren und die begriffliche Fassung des Gesamtphänomens. Hier lässt sich geradezu von einer Unsicherheit in der Benennung und einem Uberangebot an Deutungen sprechen.15 Was war letztlich entscheidend für den Umbruch? Handelte es sich um einen Systemkollaps, d.h. übergreifend um eine Implosion, oder um eine - noch weiter zu spezifizierende - Revolution? Etwa eine „protestantische", „friedliche", „nachholende", „konservative", „verhandel-

12

Vgl. Ehrhart N E U B E R T , Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1 9 8 9 / 9 0 , München 2 0 0 8 ; Günther Heydemann/Gunther Mai/Werner Müller (Hg.), Revolution und Transformation in der D D R 1 9 8 9 / 9 0 , Berlin 1999.

13

Vgl. u.a. Mark R. T H O M P S O N , Die „Wende" in der D D R als demokratische Revolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 4 5 (1999), S. 19; P O L L A C K , Mass Pressure, S. 3 1 4 .

14

Hans-Hermann H E R T L E , Der Fall der Mauer. Die unabsichtliche Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996.

15

J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 543.

10

I Sigrid Koch-Baumgarten, Katharina Gajdukowa, Eckart Conze

te", „gezähmte", „abgebrochene", „unvollendete" oder „Bürgerrevolution"?16 Oder lassen sich die Ereignisse treffender mit einem eher neutralen Terminus wie „Wende vom Herbst 1989" 17 oder einer neuen Wortschöpfung wie „Refolution"18 oder einem Begriffskompromiss wie „negotiated revolution"19 charakterisieren? Wissenschaftlich getrost verwerfen kann man den unspezifischen Terminus „Wende", der von Egon Krenz im Herbst 1989 zur Verharmlosung des Strukturbruchs geprägt worden und besser geeignet ist, einen Richtungswechsel beim Segeln zu bezeichnen,20 als den dramatischen historischen Prozess analytisch zu komprimieren. Auch das Angebot, den Umbruch in Osteuropa als „Refolution", also als eine Mischung aus Reform - top down - und Revolution - bottom up - zu charakterisieren, hat sich nicht durchgesetzt. Einflussreicher im wissenschaftlichen Diskurs sind Deutungsangebote insbesondere aus der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung, aus strukturalistischfunktionalistischer Perspektive, die von einem Kollaps mit Massenmobilisierung21 oder von einer Implosion der DDR 22 sprechen. Sie legen ihr Hauptaugenmerk auf Systemversagen und Machtzerfall, auf einen Systemzusammenbruch, der in erster Linie auf strukturelle Faktoren - entweder auf interne politische und ökonomische Strukturdefizite des Staatssozialismus oder auf externe Systemkonstellationen wie den Fortfall der außenpolitischen Bestandsgarantie der DDR im Warschauer Pakt zurückgeführt wird. In dieser Lesart brach das „marode System" der DDR wie ein

16 Vgl. als Literaturübersicht etwa J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 543-565; Dietrich STARITZ, Das Ende der DDR. Erklärungsansätze, in: UTOPIE kreativ, Sonderheft 2000, S. 11-20. Jonathan GRIX, Revolution and Transformation in East Germany: Revisiting the Dominant Paradigms, in: Jörn Leonhard/Ian Funk (Eds.), Ten Years of German Unification: Transfer, Transformation, Incorporation? Birmingham 2002, S. 5 6 - 8 0 ; Ludger KÜHNHARDT, Umbruch - Wende Revolution. Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 4 0 - 4 1 (1997), S. 12-18; Hartmut ZWAHR, Die Revolution in der DDR 1989/90 - Eine Zwischenbilanz, in: Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg.), Die politische „Wende" 1989/90 in Sachsen. Rückblick und Zwischenbilanz, Köln, Weimar 1995, S. 2 0 7 - 2 1 4 . 17 Manfred GÖRTEMAKER, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main, 2005, S. 285. 18 Timothy GARTON ASH, The Magic Lantern. The Revolution of 89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, New York 1990. 19 George LAWSON, Negotiated Revolutions. The Czech Republic, South Africa and Chile, Aldershot 2005. 20 J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 555; KÜHNHARDT, Umbruch, S. 12f. 21 Klaus von BEYME, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt am Main 1994; ders., Transformationstheorie - ein neuer interdisziplinärer Forschungszweig, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 9 9 - 1 1 8 ; Wolfgang MERKEL, Systemtransformation. Eine Einführung in die "Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen 1999. 22

Zuerst Fred OLDENBURG, Faktoren des Umbruchs in der DDR, in: Heinrich VOGEL (Hg.), Umbruch in Osteuropa. Interdependenzen und Konsequenzen, Köln 1990.

„ 1 9 8 9 " - S y s t e m k r i s e , M a c h t v e r f a l l des S E D - S t a a t e s

und A u f b e g e h r e n

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Kartenhaus zusammen, „als die außenpolitischen Stützpfeiler schwankten".23 Diese Interpretationen sind durch eine „over-emphasis on external, systemic and economic factors" 24 gekennzeichnet. Die gesellschaftlichen Akteure - die Protest- und Ausreisebewegung und die Bürgerrechtler - werden entweder komplett vernachlässigt oder spielen bestenfalls eine Nebenrolle als Beschleunigungsfaktor des Machtzerfalls. Bei allen strukturellen Krisenursachen und trotz des Systemversagens sind der rasante und unumkehrbare Machtverfall und Autoritätsverlust der SED im Herbst 1989 ohne die massenhaften und sich radikalisierenden Bürgerproteste und ohne die Massenflucht aus der D D R nicht vorstellbar. Es mag übertrieben scheinen, den Massensturm auf die Mauer und die Stasi-Zentralen mit dem historischen Sturm auf die Bastille in der klassischen französischen Revolution von 1789 zu vergleichen,25 dennoch bleibt die Interdependenz zwischen Machtverfall und Volksbewegung zu betonen: Selbstverständlich war die langfristige Krisenentwicklung und der sukzessive Legitimationsverlust der S E D einerseits die Voraussetzung für die Massendemonstrationen. Revolutionären Erhebungen sind immer Krisen - langfristige Strukturkrisen oder gravierende (auch internationale) Ereignisse wie verlorene Kriege - vorausgegangen. Systemerosion und Systemversagen sind notwendige Kontextbedingungen für Volksaufstände oder Revolutionen. 26 Anschaulich ist deshalb in der Revolutionsforschung darauf verwiesen worden, dass Revolutionen kommen und nicht gemacht werden. 27 Ohne die Bürgerproteste und die Zurückeroberung des politischen Raums durch die Zivilgesellschaft hätten sich die Krisenfaktoren aber andererseits kaum zu einer akuten Systemkrise im Herbst 1989 verdichtet. Ein vergleichbar schneller Machtverlust der SED und der abrupte Regimewechsel wären kaum möglich gewesen. 28 Aus dem Ursachenset der revolutionären Ereignisse 1989 - ein Dreigespann aus Verlust der externen Existenzgarantie durch die Sowjetunion, interner Systemerosion und Massenbewegung - lässt sich kein Einzelfaktor herauslösen, ohne das Interpretationsmodell insgesamt zu Fall zu bringen.

23 J E S S E , Einleitung, S. 7; auch Klaus H I L D E B R A N D T ,

Wiedervereinigung und

Staatenwelt.

Probleme und Perspektiven der Forschung zur deutschen Einheit 1989/90, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2 (2004), S. 193-210. 24

G R I X , Revolution and Transformation, S. 61.

25

M A I E R , Verschwinden der D D R , S. 194.

26

Ebd., S. 196,206; L A W S O N , Negotiated Revolutions, S. 52f., 70f.; Mark Ν. K A T Z (Ed.), Revolution. International Dimensions, Washington D . C . 1995; Z W A H R , Revolution, S. 211, 214f. Für die deutsche Revolution von 1918/19 vgl. Pierre B R O U E , The German Revolution 1 9 1 7 - 1 9 2 3 (Historical Materialism Book series; 5), Leiden/Boston 2005.

27

Theda S C O C P O L , zit. in: L A W S O N , Negotiated Revolutions, S. 60.

28

Vgl. D A L E , East German Revolution, S. 224f.; Reinhard R Ü R U P , Problems of Revolution in Germany, in: ders. (Ed.), The Problem of Revolution in Germany, 1789-1989, Oxford, New York 2000, S. 183, 197; J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 563; L E O N H A R D , S. 36; auch Jürgen H A B E R M A S , Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main, 1990.

1 2

I

Sigrid Koch-Baumgarten,

Katharina Gajdukowa,

Eckart

Conze

In der Transformationsforschung oder auch in institutionalistischen Ansätzen der Politikwissenschaft gilt aber das Hauptinteresse grundsätzlich den Machteliten und der politisch verhandelten Transition zur Demokratie als von oben gesteuertem langfristigen Transformationsprozess.29 Dieser aber fand in der DDR erst nach den Herbstereignissen 1989, nach dem Machtverlust der SED statt: Zuerst in den Verhandlungen zwischen Repräsentanten der alten Machtelite und den Repräsentanten der Bürgerbewegung an den neu gebildeten Runden Tischen der D D R . Und nachdem dort die Entscheidung für freie Wahlen zur Volkskammer gefallen war, wurden seit Beginn des Jahres 1990 die bundesdeutschen Partei-, Verbandseliten und insbesondere die bundesdeutsche Exekutive zu den entscheidenden Akteuren der Ereignisse, die den bundesdeutschen Systemtransfer innenpolitisch und international vorbereiteten, aushandelten und umsetzten. Eine „negotiated revolution"30 - mit ihren exekutiven Akteuren und dem Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen diplomatische Meisterleistung immer wieder betont wird,31 - folgte erst nach dem Umsturz des DDR-Regimes, der von den Bürgern der D D R herbeidemonstriert worden war. Anders ausgedrückt: Die .Revolution von oben' (ausgehandelter Systemtransfer) ergänzte die .Revolution von unten' (erzwungener Regimewechsel); es handelte sich um zwei Phasen des Strukturbruchs in der DDR, der insgesamt als 1989/90er Revolution bezeichnet werden kann. 32 Sobald die Massenproteste und ihre Dynamik stärker in den Blick genommen werden, erlangt somit ein dem Implosionsmodell entgegen gesetztes Deutungsmuster Plausibilität: Die spezifische historische Umbruchsituation von 1989/90 kann mit dem Begriff der Revolution charakterisiert werden, auf den wir uns auch in unserem Sammelband beziehen. Wichtige Einwände werden sowohl gegen den Begriff im Allgemeinen als auch gegen seine Anwendung auf den Umbruch in der D D R und Osteuropa im Besonderen geltend gemacht. Der Revolutionsbegriff gilt einerseits als zustark,politisiert'. Bereitshistorisch warendiewissenschaftlichen Revolutionskonzepte

29

B E Y M E , Systemwechsel; M E R K E L , Systemtransformation; O L D E N B U R G , Faktoren des Umbruchs; Klaus O F F E , Wohlstand, Nation, Republik: Aspekte des Deutschen Sonderwegs vom Sozialismus zum Kapitalismus, in: Hans Joas/Martin Kohli, Der Zusammenbruch der D D R , Franfurt a. M. 1993, S. 292. Kritisch auch: D A L E , East German Revolution, S. 224f.; P O L L A C K , Mass Pressures, S. 3 2 1 ; M A I E R , Verschwinden der D D R , S. 119.

30 31

L A W S O N , „Negotiated Revolution". Karl-Rudolf K Ö R T E , Geschichte der deutschen Einheit, Band 1. Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982 bis 1989, Stuttgart 1998; Werner W E I D E N F E L D , Geschichte der Deutschen Einheit, Band 4. Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1 9 8 9 / 9 0 , Stuttgart 1998.

32

Jürgen K O C K A , Reform and Revolution: Germany 1 9 8 9 - 1 9 9 0 , in: R Ü R U P (Ed.), The Problem of Revolution in Germany, 1 7 8 9 - 1 9 8 9 , S. 171; Jörn L E O N H A R D , Anatomies o f Failure? Revolutions in German History: 1 8 4 8 / 4 9 , 1918 and 1 9 8 9 / 9 0 , in: Ders./Ian Funk (Eds.), Ten Years o f German Unification: Transfer, Transformation, Incorporation? Birmingham 2 0 0 2 , S. 2 1 - 5 5 .

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immer auch von politischen Deutungen überlagert,33 oder stehen aktuell unter dem Verdacht, eine „spezifische historische Narration" gesellschaftlicher Bewegungen, einen „Mythos",34 zu repräsentieren. Tatsächlich steht 1989 längst im Zentrum einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung über die Ursachen, Akteure und Ergebnisse des Systemzusammenbruchs, die sich um eine Rechts-Links- und eine Ost-West-Achse dreht. In diesem Kontext ist der Revolutionsbegriff wie in allen anderen früheren Debatten auch mit politischen Deutungen und Interessen überlagert. Eingeführt zur Charakterisierung der Ereignisse wurde er von Bürgerrechtlern im Herbst 1989, die sich genauso wie später die neu gewählte DDR-Volkskammer35 in einer Erklärung zum Selbstverständnis im März 1990 damit ihrer Identität versicherten. Darüber hinaus wurde er eher unreflektiert und der spezifischen medialen Darstellungslogik folgend von den Massenmedien benutzt. Nicht wenige DDR-Bürgerrechtler, enttäuscht über die Resultate des Systemwechsels - statt der intendierten Reform der DDR erfolgte der Beitritt zur Bundesrepublik und der bundesrepublikanische System transfer, der auch als Verlust „autochthoner politischer Zukunftsgestaltung" gekennzeichnet werden kann,36 - ließen den Revolutionsbegriff entweder schnell wieder fallen oder charakterisierten die Revolution als „abgebrochen", „abgetrieben" oder „unvollendet".37 Wenn auch politisch nachvollziehbar, so bleiben diese Bezeichnungen doch analytisch nicht tragfähig, weil die mit den Bürgerprotesten und dem Sturz des SED-Regimes begonnene Systemtransformation mit der Übertragung des bundesdeutschen Institutionengefüges weitergeführt und im Ergebnis ein vollständiger Systembruch in Ostdeutschland realisiert wurde. Inzwischen wird der Revolutionsbegriff wiederbelebt, partiell im Kontext einer übergreifenden ostdeutschen Distinktionsidentität. Eingeklagt wird, bisweilen auch polemisch,38 die Anerkennung der historischen Leistung der Ostdeutschen, mit „unserer" Revolution die .einzig erfolgreiche deutsche Revolution' ausgefochten zu haben.39 33 Vgl. die ausführliche Begriffsgeschichte bei Reinhart KOSELLECK, Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koeselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.5, Stuttgart 1984, S. 6 5 3 - 7 8 8 . 34

Vgl. den Titel und das Editorial von Harald B L U H M der Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs, 5 (1998), S. 1 - 2 . 35 Abgedruckt in: Bernd LINDNER, Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, Bonn 2001, S. 148 und S. 153 sowie die Literatur aus Fußnote 16 36 Hannelore H O R N , Die Revolution in der DDRvon 1989: Prototyp oder Sonderfall; In: Aussenpolitik, I (1993), S. 61.

37

Vgl. etwa Michael SCHNEIDER, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990. 38 Vgl. Ilko-Sascha KOWALCZUK, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 5 3 6 - 5 4 8 . 39 NEUBERT, Unsere Revolution, S. 13f.; diese These stimmt kaum mit der historischen Forschung überein, die die langfristigen Strukturerfolge etwa der 1848 Doppelrevolution betont, vgl. Reinhard

1 4

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Sigrid K o c h - B a u m g a r t e n ,

Katharina Gajdukowa, Eckart

Conze

Auf der anderen Seite vermutete der britische Historiker Charles S. Maier bereits 1999, dass Westdeutsche den Revolutionsbegriff ablehnten, weil sie die Massenbewegung 1989 „vielleicht erlebten ... auch als kritischen Hinweis auf die politische Ordnung im eigenen Land und auch darauf, dass sie sich mit der Teilung Deutschlands abgefunden hatten!"40 Auch konservative Vorbehalte gegen die Verwendung des Revolutionsbegriffs und gegen akteurszentrierte Interpretationsansätze lassen sich anführen, wenn etwa von einer „Bürgerbewegungs-Legende" gesprochen wird, die nur dem Verlangen folge, auch in der deutschen Geschichte endlich auf eine geglückte Revolution zurückblicken zu können.41 Weniger die Bürgerproteste und die Bürgerrechtler mit ihrer Forderung einer Demokratisierung der DDR finden das Interesse vieler Forscher als vielmehr die deutsche Einheit und die bundesdeutsche politische Elite, die den Vereinigungsprozess gestaltete. Die nationale Frage spielte unzweifelhaft eine eminent wichtige Rolle, auch für die protestierenden Bürger der DDR, ohne dass sich die Ereignisse darin erschöpften. Wie sich in den beiden berühmten Parolen der Demonstranten anschaulich zeigen lässt, wurde sowohl die demokratische („Wir sind das Volk!") als auch die nationale Selbstbestimmung („Wir sind ein Volk!") eingefordert. Wenn wir in unserem Sammelband den Revolutionsbegriff verwenden, dann nicht nur deshalb, weil wir ihn für analytisch tragfähig und geeignet halten, spezifische historische Umbruchsituationen im Allgemeinen und den Umbruch 1989/90 im Besonderen zu kennzeichnen, wie wir im Folgenden zeigen wollen. Darüber hinaus positionieren wir uns auch in der geschichtspolitischen Debatte, die noch einmal gerade zum zwanzigsten Jahrestag der Herbstunruhen in der DDR einen Höhepunkt erreichen wird. Wir wollen das Interesse auf die Bürgerbewegung, auf den zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der DDR und jene Forderungen lenken, die über die Wiedervereinigung und das Ziel der deutschen Einheit hinausgehen. „Der Begriff .demokratische Revolution' ist also keine bloße analytische Feststellung, sondern auch eine normative Aussage über Bedeutung und Resultate der Ereignisse."42 R e v o l u t i o n als „ d e m o k r a t i s c h e " R e v o l u t i o n in d e r D D R ?

Neben der geschichtspolitischen gibt es aber auch eine wissenschaftliche Debatte der historischen und vergleichenden Revolutionsforschung über die analytische Tragfähigkeit des Revolutionsbegriffs. Bisweilen wird gegen den Terminus einge-

40 41 42

RÜRUP, Problems of Revolution in Germany, S. 181-201. MAIER, Verschwinden der DDR, S. 206. HILDEBRANDT, Wiedervereinigung, S. 204. T H O M P S O N , Die „Wende" in der DDR als demokratische Revolution, S. 16.

,1 9 6 9 " - S y s t e m k r i s e ,

M a c h t v e r f a l l des S E D - S t a a t e s

und A u f b e g e h r e n

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wandt, er sei „zerschlissen"43 und ohne „Tiefenschärfe".44 Wir halten dagegen, dass sich in mittlerweile vier Generationen Revolutionsforschung mit der Zahl der faktischen Revolutionsfälle in und außerhalb Europas und zu verschiedenen Zeiten sowie mit der Anzahl der an ihrer Untersuchung beteiligten Disziplinen auch das Deutungsangebot - man möchte sagen: ganz normal - pluralisiert hat.45 Längst wird nicht mehr von einem „Normalfall" oder Idealtypus der Revolution ausgegangen, der am Fallbeispiel der klassischen europäischen Revolutionen etwa in England 1688 oder Frankreich 1789 bzw. in Russland 1917 modelliert wird.46 Ursachen, Verlauf, Ereignisse und Merkmale von Revolutionen entziehen sich universellen Generalisierungsversuchen, so dass nationale, regionale und zeitliche Spezifika berücksichtigt werden: Jede Revolution weist ihre eigene singuläre Merkmalskonstellation auf.47 Mit der Entkopplung des Revolutionsbegriffs vom „Vorbild" der klassischen europäischen Revolutionen hat sich übrigens auch die Perspektive auf die Revolutionen von 1848 und 1918 in Deutschland verändert, die nicht mehr als erfolglos oder defizitär gelten

48

Ohne die Vergleichsfolie der jakobinischen oder bolschewistischen Aufstände sind aber auch Bürgerkrieg und Gewalt nicht mehr notwendige Bestandteile einer Revolution, wie noch in manchen klassischen Begriffsbestimmungen vorausgesetzt wird: Koselleck etwa definierte Revolution als die „mit Gewalt verbundenen Unruhen eines Aufstands, der sich zum Bürgerkrieg steigern kann, jedenfalls einen Wechsel der Verfassung herbeiführt" und „einen langfristigen Strukturwandel, der aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht".49 Pragmatischer kann man den BegrifFskern auf „fundamental shifts of power and changes of system" komprimieren, d.h. als eine Kombination von kurzfristigem politischen Regimewechsel und langfristigem gesellschaftlichem Strukturwandel.50 Eine Revolution ist eine abrupte, bruchartige, fundamentale Umwälzung des politischen Herrschaftssystems, die durch Massenmobilisierung herbeigeführt wird, und die in der Folge einen alle Gesellschaftsbereiche umfassenden radikalen Systemwandel herbeiführt. Das heisst in der Folge einer Revolution werden die Strukturen des Politischen Systems komplett

43 44

K O S E L L E C K , Revolution, S. 687f. Harald B L U H M , Revolution. Eine begriffs- und ideengeschichtliche Skizze, in: Berliner Debatte Initial: Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs, 5 (1998), S. 3 - 1 3 .

45

LAWSON, „Negotiated Revolution", S. 5,49ff.

46

RÜRUP, Problem of Revolution in Germany, S. 192 und Foreword im gleichnamigen Sammelband,

47

K E D D I E , Debating Revolutions, S. VIII, X ; Dieter L A N G E W I E S C H E , Revolution, in: Richard v.

48

RÜRUP, Problem of Revolution in Germany, S. 181 - 2 0 1 .

S. IX-XI. D Ü L M E N (Hg.), Fischerlexikon Geschichte, Frankfurt am Main, S. 2 5 0 - 2 7 0 . 49

KOSELLECK, Revolution, S. 653f.; auch Erich BAYR, Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke, 4. Überarb. Auflage, Stuttgart, 1980, S. 452.

50

RÜRUP, Problem of Revolution in Germany, S. 155; vgl. auch Stephen K. S A N D E R S O N , Revolutions: A Worldwide Introduction to Political and Social Change, London 2005, S. 8.

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Sigrid Koch-Baumgarten,

Katharina Gajdukowa, Eckart

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umgestaltet, seine normativen, also Verfassungsgrundlagen werden genauso verändert wie die Verfassungswirklichkeit, also die Institutionen und Verfahren der politischen Entscheidungsfindung, die politischen Eliten werden ausgetauscht, ein Wertewandel wird eingeleitet. Gleichzeitig können auch das ökonomische System und die internationalen Bündniskonstellationen verändert werden. 51 Dass es in der D D R zu diesem radikalen Systembruch und zu einem alle gesellschaftlichen Bereiche und die internationalen Beziehungen erfassenden Strukturwandel gekommen ist, wurde bereits eingangs ausführlich dargestellt. Das politische System der D D R als Parteidiktatur, in dem die SED ein unbeschränktes und unkontrolliertes, verfassungsmäßig abgesichertes Machtmonopol besaß, wurde bereits im Herbst 1989 abrupt, in atemberaubender Geschwindigkeit und von unten, von einer Volksbewegung, gestürzt und ein radikaler Systemwandel als Demokratisierungsprozess eingeleitet. Aufgrund der besonderen historischen Konstellation der deutschen Zweistaatlichkeit fand der Systemwandel schließlich in Form eines Institutionentransfers von Westnach Ostdeutschland seinen Abschluss. Mit dem Ende der SED-Macht gab es faktisch keine Begründung mehr für die Fortdauer der Teilung oder einen „demokratischen" Sonderweg einer reformierten D D R . O b durch Modelltransfer oder als autochthone Umgestaltung - im Ergebnis fand eine radikale und vollständige Umgestaltung aller Lebensbereiche in Ostdeutschland und Osteuropa statt. Gegen die Kennzeichnung des Umbruchs in der D D R als Revolution werden vor allem drei Argumente genannt, eins davon bezieht sich direkt auf den beschriebenen Institutionentransfer. In Anlehnung an klassische Definitionen wird Revolution erstens mit einem gewaltsamen Umsturz, mit Bürgerkrieg und Gewaltanwendung verknüpft. Im „friedlichen" Umbruch erscheint der SED-Sturz zweitens als zu einfach, als zu schnell, ohne Gegenwehr der alten Eliten und ohne Machtwillen der Bürgerbewegung durchgesetzt worden zu sein, die keine Gegenelite ausbildete oder eine Schattenregierung aufstellte, so dass ein offener Machtkampf ausblieb. Deshalb erlangte die Vorstellung eines Zusammenbruchs, eines Machtverfalls Plausibilität, was bereits weiter oben dargestellt und kritisch hinterfragt worden ist. Man kann in der Gewaltfreiheit und in der vergleichsweise stark ausgeprägten Systemerosion aber auch ein Spezifikum der osteuropäischen und DDR-Revolution sehen, die dennoch aufgrund ihrer radikalen Resultate und der Massenbeteiligung eine Revolution gewesen ist. Da es sich um einen mit Massenmobilisierung „erzwungenen", weitreichenden

51

T H A A , Wiedergewinnung des Politischen, S. 13, H O R N , Revolution D D R , S. 55f.; L E O N H A R D , Anatomies of Failure, S. 36; Ulrich W I D M A I E R , Revolution/Revolutionstheorien, in: Everhard H O L T M A N N (Hg.), Politik-Lexikon, Oldenburg 1990, S. 562; Ulrich WEISS, Revolution/ Revolutionstheorien, in: Dieter Nohlen/Rainer-OIaf Schultze (Hg.), Lexikon Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 2, 3. Aufl., München 2005, S. 868-870; Z W A H R , Revolution, passim.

„1 969" - Systemkrise, M a c h t v e r f a l l des SED-Staates und Aufbegehren

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Umbruch handelt, ist es gerechtfertigt, von Revolution zu sprechen,52 auch ohne den Versuch zu unternehmen, zur Rettung des Revolutionsbegriffs das Gewaltmerkmal in die Herbstereignisse zurückzuholen, indem auch ziviler Ungehorsam der Demonstranten zur Gewalt erklärt und auf die partielle Gewaltanwendung des SEDStaates hingewiesen wird.53 „Die Mobilisierung des Volkes, nicht das Blutvergießen ist das Kriterium. Die Mitglieder des Politbüros waren unschlüssig und über die Anwendung von Gewalt herrschten unterschiedliche Meinungen. In einem entscheidenden Moment in der Geschichte des kommunistischen Regimes spaltete sich die Führungselite und schreckte vor einer Eskalation der Gewalt zurück. Die Macht ging an die Straße über, wo sich Demonstranten in anhaltendem Protest versammelten. Wie in den seltenen revolutionären Augenblicken der deutschen Geschichte - März 1848 oder November 1918 - ging die Macht von der zur Masse gewordenen Öffentlichkeit aus, nicht mehr von der noch amtierenden Regierung. Dass der Sieg so rasch kam, sollte das Ergebnis nicht disqualifizieren. Revolutionen sind eine Folge von grandes journees, .großen' Tagen."54 Auch das dritte Argument knüpft an die klassische Revolutionsdefinition in der Doppelbedeutung des gewaltsamen Regimewechsels und „langfristigen Fundamentalwandels" an, der als „Art Zukunftssprung" begriffen wird, der alle Lebensbereiche für „die Zukunft progressiv öffnet".55 Kritisch eingewendet wird, dass im DDR-Umbruch eine Utopie, gesellschaftspolitische Visionen, eine „emphatische Idee" gefehlt haben und dass keine wirkliche Innovation erreicht worden sei: Weder seien neue Strukturen geschaffen, sondern nur das Modell der Bundesrepublik übernommen worden, noch sei ein qualitativer Wandel der Bundesrepublik durchgesetzt worden.56 Man kann auch darin ein Spezifikum der osteuropäischen Revolutionen sehen,57 da gerade die osteuropäischen Bürger unter der Last einer aufgezwungenen und missglückten kommunistischen Zukunftsvision allen Grund hatten, Gesellschaftsutopien skeptisch zu begegnen.58 Ein ,Ende der Utopie' wird vor dem Hintergrund des gescheiterten und diskreditierten Experiments des Staatssozialismus aber darüber hinaus auch in Westeuropa und als Kennzeichen neuerer Revolutionen 52

K O C K A , Reform und Revolution, S. 1 6 6 , 1 7 2 ; J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 556; MAIER, Verschwinden der D D R , S. 194f., der auch darauf verweist, dass Revolutionen in Deutschland aufgrund eines starken Etatismus und fehlender politischer Konfliktkultur generell eher moderat verliefen, S. 199.

53

Einleitung in Heydemann/Mai/Müller, Revolution und Transformation, S. 21.

54

MAIER, Verschwinden der D D R , S. 206.

55

L A N G E W I E S C H E , Revolution, S. 2 5 1 und KOSELLECK, wie Fn.49.

56

BLUHM, Revolution, S. 13.

57

Vgl. H A B E R M A S , Nachholende Revolution, S. 1 8 1 ; K O C K A , Reform und Revolution, S. 172; P O L L A C K , Mass Pressure, S. 322; T H O M P S O N , Die „Wende" in der D D R als demokratische Revolution, S. 18.

58

L A W S O N , Negotiated Revolution, S. 51.

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Sigrid K o c h - B a u m g a r t e n , Katharina Gajdukowa, Eckart Conze

bzw. der Transformation von der Diktatur zur Demokratie begriffen. Henri Lefebvre prägte bereits Ende der 1970er Jahre das bon mot\ Die Revolution ist auch nicht mehr, was sie mal war! 59 In der Kritik wird darüber hinaus ein problematisches lineares Geschichtsverständnis deutlich, das den historischen Prozess als Fortschrittsprozess ansieht, dessen Katalysator Revolutionen sind.60 Sobald man Revolutions- und Fortschrittsbegriff entkoppelt, lässt sich Innovation auch als „Brechen und Umbrechen der Strukturen zu neuartiger Gestaltung"61 begreifen. Gebrochen wurde die zentralistische Parteidiktatur der SED, die weder Gewaltenteilung, Volkssouveränität, rechtsstaatliche Prinzipien noch Menschen- und Bürgerrechte anerkannte und ein demokratischer Rechtsstaat nach westlichem Vorbild eingeführt, der bei allen Defiziten dennoch eine wesentliche .Innovation' in Ostdeutschland darstellte. Deshalb wird der osteuropäische Umbruch insgesamt auch in den Kontext anderer „demokratischer Revolutionen" in aller Welt gestellt, die einen Systemwandel von diktatorischen oder autoritären Systemen unter Massenbeteiligung zur Demokratie vollzogen haben: „Wenn ein Regimewechsel von einer Diktatur zu einer Demokratie durch einen gewaltlosen Volksaufstand stattfindet, können wir von einer demokratischen Revolution sprechen."62 Demokratische Revolution trifft insofern begrifflich den Kern der Geschehnisse in der DDR am präzisesten. Er zeigt die Forderungen und Motive der Bürgerbewegung und Bürgerproteste auf ««^verweist auf das zentrale Ergebnis des Umbruchs in der DDR und Osteuropa. Demokratische und nationale Selbstbestimmung, Anerkennung der Volkssouveränität, Verwirklichung von politischen Bürgerrechten wie Reise-, Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit wurden von den Bürgern der DDR eingefordert und auch in der Eroberung demokratischer Räume in der DDR durchgesetzt.63 Die Sicherung von politischen Freiheiten, ob nun in einer reformierten DDR oder in der Bundesrepublik, war ein grundlegendes Ziel der Protestbewegung, unabhängig

59 60 61 62

Henri Lefebvre/Catherine Regulier, Die Revolution ist auch nicht mehr, was sie mal war, München, Wien 1978. Vgl. z.B. HORN, Revolution DDR, S. 65, die als Besonderheit der osteuropäischen Revolutionen festhält, dass sie gegen historisch spätere Systeme gerichtet waren. Z W A H R , Revolution, S. 211. T H O M P S O N , Die "Wende" in der DDR als demokratische Revolution, S. 18; vgl. auch Heydemann/ Mai/Müller, Revolution und Transformation, Einleitung, S. 22. Noch mit einem leninistischen Revolutionsmodell verbunden wurde der Begriff „demokratische Revolution" erstmals gebraucht von Karl Wilhelm FRICKE, Die demokratische Revolution der DDR, in: Uwe BACKES (Hg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie, Jg. 2 (1990), S. 7 7 - 9 5 .

63 Vgl. ebd., S. 18f; T H A A , Wiedergeburt des Politischen, S. 19, 142; J A R A U S C H , Implosion oder Selbstbefreiung, S. 557; K Ü H N H A R D T , Umbruch, S. 16; MAIER, Verschwinden der DDR, S. 297f.; KOCKA, Reform und Revolution, S. 164.

„1989" - Systemkrise,

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davon, wie stark es mit ökonomischen und Konsuminteressen verbunden und vermischt war. 64 Als demokratisch kann die Revolution 1989/90 darüber hinaus auch deshalb bezeichnet werden, weil sie über die repräsentative Demokratie hinaus wies. Einige Autoren weisen darauf hin, dass es zumindest einem Teil der Bürgerbewegung um Ansätze einer partizipatorischen Demokratie ging und der Protest eine „kommunitäre Dimension" aufwies. 65 Damit aber wird der Zukunftsaspekt genauso wie die emphatische Idee klassischer Revolutionskonzepte wieder in die Interpretation der Ereignisse zurückgeholt: Auch die Revolution von 1989/90 schlüge dann mit einem „Utopian vision" eine Brücke in die Zukunft: mit der „idea of an autonomous civil society and its ability to work on itself by means of logical reasoning process and the creation of appropriate institutions." 66 Idee des S a m m e l b a n d s u n d B e i t r ä g e

Deutsche und europäische Politikgeschichte, Kommunismus- sowie Demokratieforschung haben an den Instituten der Geschichts- und Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg eine lange Tradition und sind in Form von Lehrstühlen institutionalisiert. Nationale und internationale politische Geschichte gehören damit an dieser hessischen Universität zum festen Bestandteil von Forschung und Lehre. Die Marburger Universität hat sich darüber hinaus in den letzten Jahren zu einem ausgewiesenen Standort der Transitional Justice Forschung entwickelt, und zwar als Kooperationsprojekt zwischen dem seit 2001 bestehenden Zentrum für Konfliktforschung und dem seit 2003 existierenden Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse. „Transitional Justice steht für Bemühungen, die Vergangenheit eines gewaltsamen Konflikts oder eines Regimes aufzuarbeiten, um in einer gespaltenen Gesellschaft den Ubergang zu Sicherheit und Frieden zu fördern."67 An diese interdisziplinäre Profilierung haben bei der Konzeption des Sammelbandes das Institut für Politikwissenschaft, das Seminar für Neuere Geschichte sowie das Institut für Kriminalwissenschaft anschließen können, die gemeinsam im Winterse-

64 THOMPSON, Die "Wende" in der DDR als demokratische Revolution, S. 17f.; POLLACK, Mass Pressures, S. 228. 65 MAIER, Verschwinden der DDR, S. 297f.; JARAUSCH, Implosion oder Selbstbefreiung, S. 564f. 66 Christiane OLIVO, Creating a Democratic Civil Society in Eastern Germany. The Case of the Citizen Movements and Alliance 90, New York, 2001, S. 2. 67 Susanne BUCKLEY-ZISTEL: Transitional Justice als Weg zu Frieden und Sicherheit. Möglichkeiten und Grenzen, abrufbar unter: http://www.sfb-governance.de/publikationen/sfbgov_wp/wpl5/SFBGovernance_Working_Paper_Nrl5.pdf.

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mester 2008/2009 an der Marburger Universität die Ringvorlesung „Die demokratische Revolution von 1989 - Politik, Geschichte, Recht" ausgerichtet haben. Mit unserem Sammelband wollen wir den Fokus auf politische und zivilgesellschaftliche Prozesse von Transitional Justice legen, zu denen nach unserem Verständnis auch der Systemzusammenbruch gehört. Wir beschränken uns dabei auf einen Ausschnitt der Revolution von 1989/90 und befassen uns vorrangig mit dem Regimeumbruch in der DDR im Herbst 1989 und seinen Akteuren, ihren Motiven, Forderungen, Handlungen: mit der demokratischen Revolution. Weil Menschenrechtsverletzungen in der DDR und die Ubermacht des SED-Staates eine herausragende Rolle für die Entstehung der Opposition und der Bürgerproteste spielten, beginnen wir damit, die Menschenrechtssituation im Alltag der DDR zu thematisieren. Danach wird der Umbruch selbst in seinen historischen und politischen Prozessen behandelt. Enden wollen wir mit dem geschichtspolitischen Diskurs über die DDR in der Bundesrepublik, der auch den Umgang mit Opfern und Tätern der überwundenen Diktatur umfasst. Die Perspektive auf menschenrechtliche Fragestellungen spiegelt in ihrer historischen und politischen Genese den besonderen politischen Ansatz der demokratischen Befreiungsbewegungen Osteuropas, deren zivilgesellschaftliche Ausrichtung sich gerade aus der Thematisierung Politischer Gewalterfahrung und systemimmanenter Menschenrechtsverletzungen begründete, daher werden die Prozesse der demokratischen Revolution auch in ihrem osteuropäischen Bezug dargestellt.68 Vor den genannten Hintergründen legten die Herausgeber bei der Auswahl der Referenten und Autoren Wert auf die Gleichrangigkeit von Erfahrungs- und politischer Geschichte als ein Grundprinzip politischer Bildung.69 Die Beiträge sollen Perspektiven der Wissenschaft, der Politik und von Zeitzeugen zusammen fügen, ohne dass diese Perspektiven jeweils disparat nebeneinander stehen. Weil die Beiträge sowohl persönliches Engagement als auch distanzierte Reflexionsebenen nachvollziehbar machen können, soll dem lesenden Publikum die Möglichkeit eröffnet werden, eigene Zugänge zum kritischen Verständnis der Materie zu entwickeln. Durch die politikund rechtswissenschaftlichen Ansätze möchten wir den historischen Fragestellungen zusätzlich strukturellen Halt verleihen, so wie umgekehrt die Perspektiven der Geschichtswissenschaft die systematischen Zugänge in ihren gewachsenen Kontext integrieren sollen. 68

Begleitet wurde die Veranstaltungsreihe durch die Ausstellung im Marburger Rathaus im Herbst 2008: „Die Rückkehr der Demokratie. Die demokratischen Revolutionen in Ostmitteleuropa 1989-91" der Weimarer Stiftung Ettersberg zur vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung.

69 vgl. dazu Heidi Behrens/Paul Ciupke/Norbert Reichling, Historisch-politisches Lernen in der außerschulischen Bildung - Voraussetzungen, Praxis, Desiderate, in: Dies., Lernfeld DDR-Geschichte. Ein Handbuch für die politische Jugend- und Erwachsenenbildung, 2009, S. 15-42.

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Die Komplexität und Bedeutung einer politischen Geschichte des Systemzusammenbruchs erschließt sich erst durch eine ausgewogene interdisziplinäre Herangehensweise: vertreten sind in diesem Buch die Fachrichtungen Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaft,

Politikwissenschaft,

Soziologie,

Rechtswissenschaft

und

Theologie. Die im Rahmen der Ringvorlesung gehaltenen Vorträge liegen der Druckfassung des Sammelbandes zugrunde. Sie wurden durch einige zusätzliche Beiträge ergänzt. Z u den Beiträgen dieses Bandes: Konrad H . Jarausch beschreibt in seinem einführenden Artikel wesentliche Ursachen der politischen und gesellschaftlichen Krise der SED-Diktatur, wie dies zu ihrem Zusammenbruch und gleichzeitig zu einem Aufbruch der Zivilgesellschaft führte. Er beantwortet die Frage nach Systemkollaps oder Revolution als konstruktives Zusammenwirken beider Ebenen. Im ersten Kapitel Menschenrechtssituation im Alltag der Diktatur werden folgende Formen der politischen Gewaltausübung thematisiert: Anja Mihr analysiert die grundsätzliche Menschenrechtsproblematik der S E D Diktatur in ihrer Wechselwirkung zwischen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Menschenrechtspolitik am Beispiel von Amnesty International. Dabei gibt sie einen Uberblick zu den Menschenrechtsverletzungen, wie sie in der D D R systematisch begangen wurden und welche politischen Handlungsoptionen des Einsatzes für die Menschenrechte gewählt wurden. Bernd Lippmann untersucht (auch am eigenen Beispiel) den Häftlingsfreikauf durch die Bundesrepublik aus der D D R . Er legt den Fokus einerseits auf die Problematik der Menschenrechtsverletzung der freien Ausreise aus dem eigenen Land und zeigt auf der anderen Seite die Dimension, die diese Form politischer Gewalt angenommen hat, wenn die meisten politischen Häftlinge der D D R im Grunde keine politischen Menschen waren, sondern die SED-Diktatur einfach nicht mehr ertragen konnten oder wollten. Sandra Pingel-Schliemann untersucht die besonders perfide, weil unsichtbare Form politischer Gewalt und psychischer Folter, nämlich die durch das Ministerium für Staatssicherheit weit entwickelten Zersetzungsmaßnahmen - und auch hier wird deutlich, wie leicht unpolitisch eingestellte Menschen in der D D R zum Opfer werden konnten. Sie kritisiert die in der Bundesrepublik bisher nicht erfolgte Anerkennung dieser Opfergruppe. Im zweiten Kapitel wird der historische Verlauf der demokratischen Revolution in der D D R behandelt:

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Wolfgang Templin beschreibt die zentralen historischen Zäsuren der osteuropäischen Widerstandsgeschichte, die zwar geprägt wurde von reformsozialistischen Strömungen aber gleichzeitig immer auch mit Enttäuschung über das Scheitern solcher Ansätze verbunden war. Aus dieser Spannung entwickelte sich das besondere osteuropäische Politikverständnis einer zivilgesellschaftlichen Dissidenz. Werner Schulz zeichnet die Entwicklungslinien der DDR-Opposition nach, wie sie in den kirchlichen Schutzräumen ihre „Schule der Demokratie" durchlief, sich zu einer Bürgerbewegung entwickelte und als Akteure der Runden Tische den Weg zur nationalen Einheit begleitete. Ingrid Miethe diskutiert auf der Basis einer Gruppenfallstudie über die DDR-Initiative „Frauen für den Frieden" die These, warum die 89er als 68er des Ostens angesehen werden können und welche Parallelen und Unterschiede es zu den West-68ern gibt. Andreas H. Apelt diskutiert das Verhältnis der DDR-Opposition zur Wiedervereinigung Deutschlands. Er zeichnet nach, inwiefern die nationale Frage von der DDR-Opposition vor und während der friedlichen Revolution 1989/90 thematisiert wurde. Dabei stellt sich die Frage, ob die DDR-Opposition an der Eigenständigkeit der DDR und damit an einem neuen Sozialismusexperiment festgehalten hat und ab wann durch die politische Dynamik solche Ansätze in den Hintergrund rückten. Eva Sänger untersucht den Zentralen Runden Tisch in seiner ambivalenten Rolle als zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit im historischen Zeitfenster zwischen Ende der DDR und Wiedervereinigung und stellt dar, wie sich die politischen Kräfteverhältnisse dabei entwickelt haben. Joachim Gauck beschreibt die institutionelle Transformation des Staatssicherheitssystems von einem politischen Geheimdienst zu einer rechtsstaatlich begründeten Aktenarchivierung und Aufarbeitung, die der wissenschaftlichen und politischen Historisierung dient, aber auch eine der Grundsäulen für die Opferentschädigung darstellt, da erst durch die Stasi-Akten viele Betroffene das wahre Ausmaß ihrer politischen Verfolgung herausfanden. Dabei macht er deutlich, wie schwierig es war, diese weltweite Neuheit eines Geheimdienst-Archivs zu realisieren. Tine Stein schildert wie und warum es nur zu einer Grundgesetzreform statt zu einer neuen deutschen Verfassung kam. Den Hoffnungen der Befürworter einer Verfassungsdiskussion, die gestützt auf den Schlußartikel 146 des Grundgesetzes eine neue Verfassung forderten, standen die Gegner eines verfassunggebenden Prozesses gegenüber, die eine Änderung oder gar Ersetzung des Grundgesetzes als Verschlechterung ansahen und die für einen Beitritt der DDR über den Weg des Artikel 23 Grundgesetz plädierten. Das dritte Kapitel zur Historisierung der DDR wird eingeleitet von Christoph SafFerling, der am Beispiel der sogenannten Wiedervereinigungsfälle das Verhältnis

„1989" - Systemkrise,

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von Gerechtigkeit und Strafrecht vor dem Hintergrund des menschenrechtlich begründeten Rückwirkungsverbotes diskutiert. Er widmet sich dabei den Mauerschützenprozessen, den Prozessen gegen die Befehlshaber im Politbüro und im Nationalen Sicherheitsrat, den Prozessen wegen Rechtsbeugung gegen DDR-Richter und der strafrechtlichen Verantwortung von Spionen nach dem Mauerfall. Ralf K. Wüstenberg thematisiert den gesellschaftlichen Umgang mit den Opfern der SED-Diktatur und vergleicht die bundesdeutsche Praxis mit den Beobachtungen, die er in Südafrika vor dem Hintergrund der Wahrheits- und Versöhnungskommission gemacht hat. Dabei stellt er fest, dass in Deutschland eine moralische Anerkennung der Würde der Opfer noch aussteht. Martin Sabrow zieht in seinem Beitrag ein Resümee der deutschen Erinnerungsund Gedenkpolitik in Gesellschaft und Wissenschaft. Er definiert die Differenzen im Umgang mit der NS- und der SED-Diktatur und zeigt auf, welche erinnerungskulturellen Konfliktlinien auf Gedächtniskonkurrenzen beruhen. Danksagung: Für die kooperative Zusammenarbeit bedanken wir uns bei Professor Dr. Dieter Rössner vom Institut für Kriminalwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Für praktische Anregungen bedanken wir uns bei Tom Sello von der Robert-HavemannGesellschaft Berlin. W i r sind all unseren Autorinnen und Autoren zu Dank verpflichtet sowie den Moderatorinnen und Moderatoren, die die Ringvorlesung begleitet haben. W i r bedanken uns für die tatkräftige Unterstützung bei der Fertigstellung des Buches bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Lisa Bald, Anna Britschock, Verena Fibich, Jochen Fischer, Sebastian Haus, Daniela Linke und Michael Sprenger. Besonderer Dank gilt der Lektorin des Böhlau-Verlages Frau Dorothee RhekerWunsch. Für das Titelbild haben wir Gerd und Ulrike Poppe zu danken sowie ihrer Tochter Johanna Poppe, die bei der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz damals acht Jahre alt war und am Abend direkt nach der Demonstration das Bild zeichnete, auf der sie ihre Eltern begleitete. Das Bild symbolisiert, wie jung diese Revolution war, dass jedem Neuanfang ein Zauber innewohnt und (mit dem Fragezeichen-Plakat) dass Zweifel zum Prozess dazu gehören.

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S i g r i d K o c h - B a u m g a r t e n , K a t h a r i n a G a j d u k o w a , E c k a r t Conze

Konrad

Η.

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Kollaps des K o m m u n i s m u s oder A u f b r u c h der Z i v i l g e s e l l s c h a f t ?

Zur Einordnung der friedlichen Revolution von 1989 Im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte hat sich der demokratische Aufbruch von 1989 von erlebter Gegenwart zur vergangenen Geschichte verwandelt. Eine ganze Generation wurde nach dem Ende des Kommunismus geboren und kennt die dramatischen Ereignisse der Vereinigung nur aus Erzählungen, Romanen und Schulbüchern. Auch wenn 2009 zahlreiche Fernsehfilme, öffentliche Gedenkveranstaltungen und wissenschaftliche Kolloquien versucht haben, die Emotionen der Maueröffnung zu vergegenwärtigen, unterstreichen sie nur die Distanz zu den damaligen Veränderungen. 1 Je nach den Folgen des Umbruchs für sich selbst reagieren Betroffene mit Freude über die Selbstbefreiung oder mit Nostalgie wegen verlorener Sicherheit. Mit dem Sturz der kommunistischen Diktatur und der Uberwindung der Spaltung Europas ist das ganze Koordinatensystem des Kalten Krieges zusammengebrochen. Dadurch entstand im politischen Denken wie privaten Leben ein tiefer Bruch, der nach einer schlüssigen Erklärung verlangt. 2 Die Unsicherheit in der Benennung der Ereignisse vom Herbst 1989 verrät die Verwirrung der Öffentlichkeit wie die Meinungsunterschiede der Wissenschaft über die Einordnung dieser dramatischen Veränderungen. Der von Egon Krenz gebrauchte Begriff der „Wende" hat sich in der Umgangssprache weitgehend durchgesetzt, weil er die Beurteilung im Ungewissen lässt. Dagegen ziehen manche Bürgerrechtler den Terminus „friedliche Revolution" vor, da er einen gewaltlosen demokratischen Aufbruch signalisiert. 3 Während Staatsrechtler und Politologen vor allem den technischen Ausdruck „Beitritt" zur Beschreibung der Vereinigung verwenden, ziehen Kritiker den emotional aufgeladenen Begriff „Anschluss" vor, weil er Überwältigung von Außen suggeriert. 4 Historiker wie Manfred Görtemaker, die vor allem aus der 1 2 3 4

Diskussion im Tagesspiegel im Oktober 2008 über „Wir sind das Volk" und Planungen der Jubiläumsveranstaltungen des Berliner Senats. Tony JUDT, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005. Martin Sabrow greift in diesem Band die Diskussion in Bezug auf die Historisierung der DDR ebenfalls auf. Dieter Herberg/Doris Steffens/Elke Teilenbach, Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90, Berlin 1997, S. 23ff. und Frank Tomas GRUB, Wende und Einheit im Spiegel deutschsprachiger Literatur, Berlin 2006, S. 116ff. Kollaps des K o m m u n i s m u s o d e r A u f b r u c h d e r Z i v i l g e s e l l s c h a f t ?

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Perspektive der Herrschaft argumentieren, sprechen vom „Zusammenbruch des SEDRegimes", während Sozialhistoriker wie Hartmut Zwahr, die das Aufbegehren von unten betonen, daran festhalten, „es war eine Revolution". 5 Ein wichtiges Zeitdokument, das als Einstieg zur Reflexion dienen kann, ist die brillante Reportage des englischen Historikers Timothy Garton Ash von 1990. Der plötzliche Aufbruch aus repressiver Stabilität, die Wirkung wirtschaftlicher Unzufriedenheit, die zentrale Rolle der Intellektuellen und die bürgerrechtliche Ideologie der Akteure erinnerten ihn an den Völkerfrühling von 1848. Gleichzeitig betont er auch das europäische Ausmaß des Aufbruchs, das den gesamten Ostblock und die Sowjetunion selbst umfasste. Im Herbst 1989 sprang der Funke von Polen nach Ungarn, von dort in die D D R , danach in die Tschechoslowakei über, bis die Flamme des Aufbegehrens schließlich auch noch Bulgarien und Rumänien erreichte. Entwicklungen, die in Warschau Jahrzehnte brauchten, verliefen in Budapest in Jahren, in Ostberlin in Monaten und in Prag in Tagen. 6 Gegenüber der Fixierung auf Deutschland ruft diese dia- wie synchrone Blickrichtung ins Gedächtnis zurück, dass die deutsche Entwicklung Teil eines breiteren Umbruchs ist. Mittlerweile bemüht sich eine ganze Bibliothek von Schriften darum, die Dialektik des kommunistischen Systemkollapses und des demokratischen Aufbruchs zu erklären. Einige Forscher konzentrieren sich vor allem auf die kurzfristige Verkettung unvorhergesehener Umstände im Herbst 1989, die durch Ausreisewelle, Protestbewegung und Selbstzweifel die SED-Herrschaft plötzlich ins Wanken brachte. 7 Andere Wissenschaftler betonen langfristige strukturelle Ursachen wie den Ubergang zur Entspannungspolitik, die Kosten des Wettrüstens, die wirtschaftliche Stagnation und den Verlust ideologischer Glaubwürdigkeit. 8 Dabei konkurrieren außenpolitische Erklärungsmuster, die den Kollaps des Sowjetreichs als Niederlage in einem globalen Machtspiel sehen, mit innenpolitischen Interpretationen, die den Zerfall kommunistischer Herrschaft betonen. 9 Ohne die Wichtigkeit internationaler 5

Manfred G Ö R T E M A K E R , Zusammenbruch des SED-Regimes, in: ders., Der Weg zur Einheit. Deutschland seit den achtziger Jahren, in: Informationen zur politischen Bildung 250(2004), Bonn 2004 (abrufbar unter:

http://www.bpb.de/themen/B203BZ,4,0,Beginn_der_deutschen_Einigung.

html#art4) versus Hartmut ZWAHR, Das Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der D D R , Göttingen 1993. 6

Timothy G A R T O N ASH, The Magic Lantern. The Revolution o f ' 8 9 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, New York 1990, S. 18ff. und 134ff.; vgl. Gale S T O K E S , The Walls Came Tumbling Down. The Collapse of Communism in Eastern Europe, New York 1993.

7

Hans-Hermann H E R T L E , Der Fall der Mauer. Die unabsichtliche Auflösung des SED-Staates, Opladen

8

Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der D D R ,

1996 und ders., Mein 9. November. Der Tag an dem die Mauer fiel, Berlin 1999. Göttingen 1999. Vgl. jetzt auch Ilko-Sascha K O W A L C Z U K , Endspiel. Die Revolution von 1989 in der D D R , München 2009. 9

Alexander V O N PLATO, Die Vereinigung Deutschlands - ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2002; vgl. Philipp Zelikow/Condoleezza

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Rahmenbedingungen schmälern zu wollen, werden sich folgende Überlegungen auf innere Auswirkungen transnationaler gesellschaftlicher Veränderungen konzentrieren. D a das Oppositionsdenken der 1980er Jahre um die Idee einer .Zivilgesellschaft' kreiste, sollte ein Versuch der historischen Einordnung an diesem Schlüsselbegriff ansetzen. 10 In der Forschungsliteratur dominiert eine Widerstandsperspektive, 11 die dem NS-Vergleich entlehnt ist, denn der Terminus der Zivilgesellschaft ging erst relativ spät von den ostmitteleuropäischen Dissidenten auf die D D R - O p p o s i t i o n über. 12 Dennoch hat Karsten Timmer den Begriff bereits zur Erklärung des demokratischen Aufbruchs benutzt, und der Soziologe Detlef Pollack mit seiner These einer Entdifferenzierung der ostdeutschen Gesellschaft indirekt auf die Notwendigkeit einer Untersuchung ihrer Redifferenzierunghingewiesen. 1 3 D a sozialwissenschaftliche Mobilisierungsanalysen auf dieser Voraussetzung aufbauen, könnte der Schlüsselbegriff der Zivilgesellschaft dabei helfen, die Dynamik der anfänglichen Unterdrückung, der schrittweisen Oppositionsbildung, des explosionsartigen Aufbegehrens und der schwierigen Vereinigung zu skizzieren. 14 E r z w u n g e n e Entbürgerlichung Im Gegensatz zum westlichen Individualismus ließ der Kollektivismus der marxistischleninistischen Gesellschaftsutopie keinen Raum für zivile Selbsttätigkeit. Das polarisierte Klassenkampfdenken sah in den bourgeoisen „Monopolherren" und adeligen „Junkern" den Hauptfeind, dessen Macht es zu brechen galt, um eine „antifaschistischdemokratische" Erneuerung zu wagen: „Ihr Ziel ist die sozialistische Gesellschaft, die

Rice, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge 1995. 10

G A R T O N ASH, Magic Lantern, S. 147ff.; vgl. auch Helmut FEHR, Eliten und Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa. Polen und die Tschechische Republik ( 1 9 6 8 - 2 0 0 3 ) , in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 5 - 6 (2004), S. 4 8 - 5 4 .

11

Ulrike

Poppe/Rainer

Eckert/Ilko-Sascha

Kowalczuk

(Hg.),

Zwischen

Selbstbehauptung

und

Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der D D R , Berlin 1995, sowie Ehrhart NEUBERT, Geschichte der Opposition in der D D R 1 9 4 9 - 1 9 8 9 , Berlin 1997. 12

Eberhart Kuhrt/Hannsjörg F. Buck/Gunter Holzweißig (Hg.), Opposition in der D D R von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999, S. Xllff.

13

Karsten T I M M E R , Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der D D R 1989, Göttingen 1999, S. 16f„ 63ff. und 389ff.; Detlef P O L L A C K , Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der D D R , Opladen 2000, S. 253ff.

14

Steven PFAFF, Exit-Voice Dynamics and the Collapse of East Germany. The Crisis of Leninism and the Revolution of 1989, Durham 2006; Winfried T H A A , Die Wiedergeburt des Politischen. Zivilgesellschaft und Legitimitätskonflikt in den Revolutionen von 1989, Opladen 1996, S. 158ff.; Arnd B A U E R K A M P E R (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt 2003, S. 7 - 3 0 .

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2 7

alle Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufhebt, den Klassengegensatz zwischen Armut und Reichtum beseitigt, den Frieden endgültig sichert und eine voll entfaltete Demokratie herbeiführt". Politische Voraussetzung dafür war die durch die S E D erreichte „Einheit der Arbeiterklasse" sowie die durch die Einheitsfront der anderen Parteien und Organisationen ermöglichte „Zusammenarbeit aller aufbauwilligen demokratischen Volkskräfte". 15 Wie überall in den Volksdemokratien zielten diese Vorstellungen auf Uber Windung des Klassenkampfs sowie auf Kooperation fortschrittlicher Elemente mit der führenden Partei - also ein nivellierendes Gegenmodell zur bürgerlichen Gesellschaft. 16 Der erste Schritt zur Entdifferenzierung war die Sicherung der kommunistischen Vorherrschaft zunächst durch informelle Vorteile, dann aber auch durch formelle Privilegierung. Die Eroberung Berlins durch die Rote Armee machte die Durchsetzung der Verwaltung mit der K P D zugetanen Elementen möglich und sicherte ihr einen Organisationsvorsprung vor den bürgerlichen Parteien. Daher wurde die Entnazifizierung nicht nur gegen frühere NSDAP-Mitglieder, sondern auch gegen unliebsame Konkurrenten eingesetzt. Gleichzeitig brachte die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei einen erheblichen Zuwachs an Einfluss, der an verbreiteten Sozialisierungshoffnungen anknüpfte. Bei den Landtagswahlen im Herbst 1946 konnte die S E D durch systematische Bevorzugung der eigenen Kandidaten rund die Hälfte der Stimmen gewinnen und sich so plebiszitär etwas legitimieren. Allerdings höhlte sie nach ihrer Niederlage in der freien Wahl in Berlin die demokratischen Formen aus, legte die Verteilung der Sitze schon vorher fest und griff auf den Ausbau der Polizei sowie anderer Sicherheitskräfte zurück. 17 Die nächste Stufe war die in der Logik des Marxismus angelegte Umwälzung der wirtschaftlichen Grundlagen durch eine Reihe von Notmaßnahmen, die auf eine permanente Veränderung der Besitzverhältnisse hinzielten. Den Anfang machte die Verstaatlichung von Banken und Finanzen, die für die sowjetische Kontrolle der Währung notwendig war. Dazu kam die „Durchführung der Bodenreform (...) damit nicht nur vielen Landarbeitern, Umsiedlern und landarmen Bauern Boden gegeben, sondern auch die Großgrundbesitzer", als Hort der Reaktion, „ihrer ökonomischen und damit auch ihrer politischen Macht entkleidet" wurden. Dann wurden durch 15 „Aufruf der KPD", Tägliche Rundschau, 14.6.1945; „Das Wollen der antifaschistischen Einheitsfront", ebd, 14. 8. 1945; Gründungsaufruf der SED, „Manifest an das deutsche Volk", Neues Deutschland, 23. 4. 1946; vgl. Sigrid MEUSCHEL, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR, 1945-1989, Frankfurt 1992. 16 „Gibt es in der SBZ Klassenkampf?", Neues Deutschland, 7. 10. 1948; vgl. Konrad H. JARAUSCH, Die gescheiterte Gegengesellschaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 1-17. 17 „Am Beginn des demokratischen Aufbaus", Neues Deutschland, 12. 6. 1946; „Großer Wahlsieg der SED in der Zone", ebd., 22. 10. 1946; „Blockpolitik erneut bestätigt", ebd., 6. 8. 1948; vgl. Hermann WEBER, Die DDR 1945-1990,3., Überarb. u. erw. Aufl., München 2000.

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Bestrafung von „Kriegsverbrechern" die größeren Industriebetriebe enteignet und in den folgenden Jahren weitere Bergbau-, Stahl- und Energiekonzerne „zum Wohle der Allgemeinheit" verstaatlicht. Die so entstandenen „Volkseigenen Betriebe" ( V E B ) wurden durch die Einführung der Planwirtschaft koordiniert, die durch eine deutliche Verbesserung der Versorgung die Überlegenheit des Sozialismus demonstrieren sollte. 1 8 Ein weiteres Element war die der NS-Gleichschaltung ähnelnde Überführung der verschiedenen Vereine in kommunistisch dominierte Massenorganisationen. Am wichtigsten war die Gründung einer „Einheitsgewerkschaft" im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund ( F D G B ) , die an der „Verbesserung der wirtschaftlichen Grundlage" mitarbeiten sollte - und aktiv wurde nach dem Trauma des 17. Juni in neuer Rolle der Unterstützung volkseigener Betriebe. 1 9 Die Schaffung einer „selbstständigen Jugendorganisation", der Freien Deutschen Jugend ( F D J ) , ging in eine ähnliche Richtung, war sie doch dazu bestimmt, die unterschiedlichen Jugendgruppen zum „demokratischen

Neuaufbau" zusammenzufassen. 20 Auch die

Einrichtung

eines „Kulturbundes" sollte „die unteilbare Einheit deutschen Geisteslebens" durch Bildung einer fortschrittlichen Großorganisation demonstrieren. 21 Anfangs gerierten sich Neugründungen wie der Demokratische Frauenbund ( D F B ) noch als „überparteilich", aber mit der Zeit wurde ihre kommunistische Kontrolle deutlicher, so dass die Gesellschaft ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation verlor. 22 Die einzige gesellschaftliche Kraft, die sich dem Machtanspruch der S E D teilweise entziehen konnte, war die Kirche. Anfangs schien die verbreitete Strömung des „christlichen Sozialismus" eine gewisse Brücke zu bilden. Aber der weltanschauliche Gegensatz, der Machtkampf zwischen der S E D und der C D U und die Auseinandersetzung zwischen F D J und Junger Gemeinde schufen starke Spannungen. Auch wenn führende SED-Politiker wie Wilhelm Pieck und O t t o Grotewohl die Chancen der Kooperation 18

„Sieben Monate Wirtschaftsaufbau", Tägliche

Rundschau,

4. 1. 1946; „Ergebnisse der Bodenreform in

der SBZ", ebd., 14.4. 1946; „Eine demokratische Wirtschaft entsteht", Neues Deutschland,

18. 3. 1948;

„Ein deutscher Zweijahresplan", ebd., 30. 6. 1948; „Volksbetriebe als Rückrat der Friedenswirtschaft", ebd., 7. 7 . 1 9 4 8 . 19

„Erste Gewerkschaftskonferenz für die gesamte SBZ", Tägliche Gewerkschaften", Neues

Deutschland,

Rundschau,

1 2 . 2 . 1 9 4 6 ; „Sozialisten und

19. 11. 1948; vgl. Sebastian S I M S C H , Blinde Ohnmacht. Der

Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zwischen Diktatur und Gesellschaft in der D D R 1945 bis 1963, Aachen 2002. 20

„Die Freie Deutsche Jugend Sachsens", Tägliche

Rundschau,

11. 4. 1946; „Deutsche Jugend für

Fortschritt", ebd, 15. 8. 1948; vgl. Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan, Blaue Hemden - Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996. 21

„Das hohe Ziel des Kulturbundes", Tägliche

Neues Deutschland, 22

Rundschau,

19. 2. 1946; „Kulturbund im Kontrollrat",

3. 2.1948.

„Demokratischer Frauenbund gegründet", Neues

Deutschland,

7. 3. 1948; vgl. Donna H A R S C H ,

Approach/Avoidance. Communists and Women in East Germany 1 9 4 5 - 4 9 , in: Social History 25 (2000), S. 156-182.

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zwischen „Christentum und Marxismus" betonten, kritisierte der konservative protestantische Bischof Otto Dibelius die Veränderungen in der Ostzone als auf „Gewalt und UnWahrhaftigkeit" gegründet und beklagte die Behinderung des Gottesdienstes. Dagegen verteidigte ein regimetreuer Landespastor die „Friedenspolitik" der SBZ und SED-Intellektuelle wiesen die christliche Pflicht der öffentlichen Stellungnahme als politische Einmischung zurück. 23 Der Konflikt zwischen Kirche und Staat ließ sich daher zwar zeitweise mildern, aber nie ganz aufheben. Aufgrund solcher Maßnahmen war Ende der fünfziger Jahre der Prozess der erzwungenen Entbürgerlichung weitgehend abgeschlossen. In politischer Hinsicht war die DDR ein von der SED „durchherrschter" Staat geworden, in dem demokratische Bürgerrechte ausgehöhlt und die Blockparteien keine echte Alternative mehr darstellten. 24 In sozialer Perspektive war die ostdeutsche Gesellschaft gleichsam „stillgelegt" worden, indem ihre Klassenunterschiede durch Enteignungen und Austreibungen in den Westen nivelliert worden waren, so dass nur in evangelischen Pfarrhäusern, bei einigen Akademikern und Handwerkern noch bürgerliche Reste zu finden waren. 25 Im organisatorischen Bereich hatten die kommunistisch geführten Massenorganisationen ein Monopol errichtet, so dass außer in den bedrängten Kirchen kein Raum mehr für eine selbstständige Zusammenarbeit bestand. Da die Presse als „kollektiver Organisator der sozialistischen Umgestaltung" verstanden wurde, gab es keine freie Öffentlichkeit mehr, die den Verlust zivilgesellschaftlicher Werte hätte kritisieren können. 26 Reaktivierung der Gesellschaft

Die eigentliche Überraschung war daher die dennoch stattfindende, schrittweise Entwicklung von kritischen Minderheiten in der DDR. Aus der Herrschaftsperspektive wird dieses Phänomen als Übergang zum Poststalinismus oder Spättotalitarismus diskutiert, in dem die Repressionsformen sich von direkter Gewalt zu indirekten

23

„SED und Christentum", Neues Deutschland, 30. 8. 1946; „Landespastor Schwartze an Dr. Dibelius", ebd., 23. 6. 1949; „Es bleibt dabei: Eure Rede aber sei ja, ja, nein, nein", ebd., 17. 6. 1949; vgl. Horst DAHN (Hg.), Die Rolle der Kirchen in der DDR. Eine erste Bilanz, München 1993. 24 Begriff von Jürgen KOCKA, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble/Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553. 25 Christoph KLESSMANN, Relikte des Bürgertums in der DDR, in: Kaelble/Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, S. 254-270; vgl. auch Hannes SIEGRIST, Wie bürgerlich war die Bundesrepublik, wie entbürgerlicht die DDR? Verbürgerlichung und Antibürgerlichkeit in historischer Perspektive, in: HansGünther HOCKERTS (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West Konflikts, München 2003, S. 207-244. 26 Albert NORDEN, Unsere Presse - kollektiver Organisator der sozialistischen Umgestaltung, Neues Deutschland, 21.4. 1959; „Der Sowjetstaat nach zehn Jahren", Neue Züricher Zeitung, 25. 9.1959; vgl. Simone Barck et al. (Hg.), Zwischen „Mosaik" und „Einheit". Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999.

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Sanktionen wandelten. 27 Auch die Oppositionsliteratur konstatiert ein Ansteigen von passiver Resistenz zu offenem Widerstand, ohne aber die Ursachen dieser Veränderung erklären zu können. 28 Dagegen bietet die Analyse von Grenzen der Diktatur einige Hinweise auf nicht intendierte Folgen der Unterdrückung, während der Begriff des Eigen-Sinns der Bevölkerung deren eigenen, nicht völlig zu brechenden Willen betont. 29 Wie auch in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn war eine entscheidende Vorbedingung für die Artikulation von abweichender Meinung die als Redifferenzierung bezeichnete Wiederherstellung gesellschaftlicher Räume, in denen sich Gruppen bilden konnten, um in Teilöffentlichkeiten eigenständige Politikalternativen zu entwickeln. 30 Soziale Versuche, sich durch Erweiterung der Grenzen des Geschmacks und der Kritik eigene Freiräume zu erkämpfen, begannen an ganz unerwarteten Stellen. W i e im NS-Regime bot die Tanzmusik einen ersten Konfliktstoff, da die puristische SED „gegen die dekadente Amüsierkunst" als den „kulturellen Schutt einer verfaulenden Gesellschaftsordnung" polemisierte. Der auch im Westen zunächst kritisch aufgenommene Rock n' Roll war daher im Osten so lange wegen „der Flachheit von Text oder Musik" verpönt bis die Partei mit der Einrichtung des Jugendradios D T - 6 4 der Beatle-Manie etwas nachgab, solange sechzig Prozent der Musik aus eigener Amiga-Produktion stammte. 31 Neben heißen Rhythmen waren es vor allem Texte über Wehrdienstverweigerung und Republikflucht, die die SED-Tugendwächter so provozierten, dass die „Renft"-Combo immer wieder verboten wurde, während die apolitischen „Puhdys" von Erfolg zu Erfolg eilten. 32 Einige der wenigen öffentlichen 27 Klaus von BEYME, Stalinismus und Poststalinismus im osteuropäischen Vergleich, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 13 (1998), S. 8-23; Juan Jose LINZ, Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000. 28 NEUBERT, Geschichte der Opposition; Dedef Pollack/Dieter Rink (Hg.), Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970-1989, Frankfurt 1997; Christoph KLESSMANN, Opposition und Resistenz in zwei Diktaturen in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, 262 (1996), S. 453-479. 29 Richard Bessel/Ralph Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996; Thomas LINDENBERGER (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999. 30 Dedef POLLACK, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 110-131, sowie ders., Die offene Gesellschaft und ihre Freunde, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 184-196. 31 „Gegen die dekadente Amüsierkunst", Neues Deutschland, 23. 6. 1949; „Musikkunst", ebd., 6. 6. 1963; „Schlagerparade im neuen SED-Rhythmus", Süddeutsche Zeitung, 10. 8. 1965; „Probleme der Beatmusik", Neues Deutschland, 23. 6. 1966; vgl. Dorothee WIERLING, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR und seine historischen Erfahrungen. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002, S.215ff. 32 „Musikopas in der DDR", Berliner Stimme, 27. 5. 1972; „Kraftvoll erklang das Lied des antiimperialistischen Kampfes", Neues Deutschland, 9. 2. 1987; „Der King vom Prenzlauer Berg kriegt die ideologische Kurve", Die Welt, 20. 1. 1979; Uta POIGER, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and

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3 1

Konflikte, die in der D D R überhaupt möglich waren, entstanden deswegen auch als Krawalle bei Rockkonzerten. Eine vergleichbare Rolle für Intellektuelle spielte die sich zwischen Lockerung und Reglementierung entwickelnde belletristische Literatur. Streitpunkte des „sozialistischen Realismus" waren vor allem Fragen der modernistischen Formensprache, die als „Rudimente spätbürgerlichen Denkens" abgelehnt wurden, sowie die Linientreue von Kritik an „Widersprüchen unserer sozialistischen Entwicklung". 33 Als Künstler zu offen die Unvollkommenheiten des realen Sozialismus benannten, bezichtigte das 11. Plenum der S E D die Schriftsteller der „antisozialistischen Haltung". Das Resultat solcher Zensur waren Auftrittsverbote, Publikationssperren und Entlassungen der Autoren, denen die „höhere Qualität des marxistischen Verstehens" fehlte. 34 Auch Erich Honeckers persönlicher Präferenz für „saubere Kunst im sauberen Staat" gelang es nicht, die im künstlerischen Schaffen inhärente Experimentierfreudigkeit zu kanalisieren. Konflikte wie die Ausbürgerung von Wolf Biermann hatten ein „besonderes Gewicht", da Romane, Theaterstücke und Filme eine Ersatzfunktion für die fehlende Öffentlichkeit ausübten. Wegen der Unterdrückung jeder antikommunistischen Regung konnten sich kritische Stimmen, die auf die Diskrepanz zwischen der Utopie und der Realität der D D R hinwiesen, nur auf dem Boden des Sozialismus entwickeln. Als erster übte der desillusionierte Naturwissenschaftler Robert Havemann, der als Kommunist von den Nazis inhaftiert worden war, trotz seiner privilegierten Stellung in der Vorlesungsreihe „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" öffentlich Kritik an ihrem Dogmatismus. 35 Die Brutalität der folgenden Amtsenthebung, Entfernung aus der Akademie und Parteiausschluss schärfte in ihm das Bewusstsein für Menschenrechte, das er in den Westmedien artikulierte, weil er im eigenen Land mundtot gemacht worden war. Seine Forderung nach „Opposition und kritischer Presse" in der American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000 und Heiner STAHL, Jugendhörfunk im kalten Ätherkrieg, Dissertation Universität Potsdam, Potsdam 2007. 33 Alfred KURELLA, „Wir schaffen die sozialistische Kultur für die ganze Nation", Neues

Deutschland,

18. 10. 1982; „Lockerung der Kulturpolitik in der DDR", Neue Züricher Zeitung, 5. 3. 1964; „Die

SED hält am .sozialistischen Realismus' fest", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 4. 1964; vgl. Angela BORGWARDT, Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären politischen System, Wiesbaden 2002. 34

„Das große Reim-und-ich-freß-dich", Frankfurter

Neues Deutschland,

Allgemeine

Zeitung,

22. 12. 1965; „Unbeirrbar",

13. 1. 1966; „Fruchtlose Kulturpolitik Pankows", Neue Zürcher Zeitung, 17. 8.

1966; Walter ULBRICHT, „Die sozialistische Nationalkultur ist unser gemeinsames Werk", Neues Deutschland, 9.10.1968; vgl. GünterAGDE (Hg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991. 35

Robert HAVEMANN, Zehn Thesen zum 30. Jahrestag der DDR, in: Europäische Ideen 48 (1980), S. 33-36; vgl. Katja Havemann/Joachim Widmann, Robert Havemann oder wie die DDR sich erledigte, München 2003, S. 35ff. und Clemens VOLLNH ALS, Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998.

32

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DDR führte zu einem langjährigen „Psychoterror" durch Hausarrest. Aber gerade solche Repressionen machten Havemann zum Symbol eines demokratischen Sozialismus, das die Möglichkeit eines systemimmanenten Widerstands zeigte und dadurch andere Intellektuelle, die sich am System rieben, anzog. 36 Gegen Ende der 1970er Jahre tauchte aufgrund sich mehrender Fälle von Dissidenz (Wolf Biermann, Rudolf Bahro) der Begriff einer „Bürgerrechtsbewegung in der DDR" auf. Er spielte auf Honeckers Unterschrift der Helsinki-Erklärung an, die die SED zur Stabilisierung der Grenzen, einzelne Bürger aber zur Einhaltung von Menschenrechten benutzen wollten. 37 Im Schatten der evangelischen Kirche bildeten sich aus Wehrdienstverweigerern, Gegnern des Wettrüstens und kritischen Theologen Anfang der 1980er Jahre Friedensgruppen, die die offiziellen Beteuerungen des Staates und der Amtskirche beim Wort nahmen. Unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen" kritisierten sie zum Beispiel die Militarisierung der ostdeutschen Erziehung und plädierten für die Zulassung eines Wehrersatzdienstes. Als die SED Gefängnisstrafen verhängte und Rädelsführer mit Gewalt in den Westen abschob, 38 schlossen sich die Pazifisten enger zusammen und organisierten Friedenswerkstätten und Mahnwachen. Obwohl die Amtskirche versuchte mit der Regierung weiter zusammenzuarbeiten, wurden die Friedenskreise, die weitere Themen wie die Umweltverseuchung aufnahmen, zum Kern einer aktiven Opposition. Die staatlichen Repressalien gegen die Friedensbewegung machten es notwendig, „den engen Zusammenhang von Frieden und Menschenrechten" zu thematisieren. Im Januar 1986 gründeten Berliner Bürgerrechtler eine „Initiative für Frieden und Menschenrechte" (IFM), da sie merkten, „dass die Ziele der Friedensarbeit von der Durchsetzung demokratischer Grundrechte und -freiheiten abhängig sind". Dies war ein entscheidender Schritt zur Entstehung einer Opposition außerhalb der evangelischen Kirche, denn ihre Forderungen verbanden einzelne Problemkreise zu einer globalen Kritik der DDR. Der Ruf nach einer ,,uneingeschränkte[n] Reisefreiheit aller Bürger" kam der Uberwindung der Mauer gleich; das Bestehen auf Beendung der Einschränkung „elementarer Menschenrechte" implizierte die Herstellung eines Rechtsstaates; das Verlangen nach „Aufstellung unabhängiger Kandidaten zu 36 „Havemann wünscht in der DDR Opposition und kritische Presse", Süddeutsche Zeitung, 9. 8. 1976; „Weil viele noch hoffen, harrt Robert Havemann aus", Die Welt, 2. 6. 1978; „Das ist die Tragödie der DDR", Der Spiegel AO (1978), S. 68ff.; „500 Personen nahmen an der Beisetzung Havemanns teil", Tagesspiegel, 18.4.1982. 37 „Als ihre Kritik zu laut wurde, mussten die Dissidenten in Haft", Die Welt, 29. 8. 1977; Angela NACKEN, „Immer mehr wagen den Kampf mit den DDR- Behörden", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 8. 1976; Rainer HILDEBRANDT, „Menschenrechtserklärung wörtlich genommen", in: Tagesspiegel, 7 . 1 1 . 1 9 7 6 ; „DDR: Die Bürger werden aufsässig", Der Spiegel Al (1977), S. 46ff. 38 Klaus WOLSCHNER, „Jena - Vorbote eines Neuen Deutschland?", in: Die Zeit, 17. 6. 1983; Marlies MENGE, „Eine Art Mahnwache", in: ebd., 9.9.1983; vgl. Johann GILDEMEISTER, Friedenspolitische Konzepte und Praxis der Kirchen, in: DAHN (Hg.), Rolle der Kirchen, S. 159-173. K o l l a p s d e s K o m m u n i s m u s o d e r A u f b r u c h der Z i v i l g e s e l l s c h a f t ?

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Kommunal- und Volkskammerwahlen" sowie Aufhebung aller Restriktionen der „Versammlungs-, Kundgebungs- und Vereinigungsfreiheit" meinte eine wirkliche Demokratisierung. Im Effekt lief dieses Programm auf die Wiederherstellung einer funktionsfähigen Zivilgesellschaft hinaus. 39 Statt auf das Ende der Repression zu warten, bemühten sich die oppositionellen Gruppen um die sofortige Herstellung einer Gegenöffentlichkeit. Dabei halfen auch westliche Journalisten, denn ihre Berichterstattung dokumentierte staatliche Menschenrechtsverletzungen und informierte nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR. 4 0 Begrenzt auf die Innenwirkung war aber die Entwicklung eines ostdeutschen Samisdats aus den hektographierten Veröffentlichungen, die „für den innerkirchlichen Gebrauch" keiner offiziellen Genehmigungspflicht unterlagen. Aus Gemeindemitteilungen entstanden anspruchsvolle Zeitschriften wie „Grenzfall" der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) oder „Umweltblätter" der Umweltbibliothek, die, mit satirischen Zeichnungen versehen, Informationen aus der Außenwelt wiedergaben, aber auch organisatorische Nachrichten verbreiteten und eine immer schärfere DDR-Kritik artikulierten. 41 Trotz unablässiger Repression versuchten Protestgruppen mit gewaltfreien Methoden wie Spruchbändern, Schweigemärschen und Sitzstreiks, die Aufmerksamkeit der breiteren Öffentlichkeit zu erregen. 42 Der Mehrheit der Ostdeutschen, die sich nicht an oppositionellen Akten beteiligen wollte, blieb nur die Wahl zwischen erzwungener Anpassung oder riskanter Ausreise. Eine verbreitete Haltung war die „Flucht ins Private", denn im engsten Kreise konnte man sich unabhängig fühlen, solange kein Inoffizieller Mitarbeiter die Kritik an die Stasi meldete. Weitere Taktiken waren die Aneignung von sozialistischen Institutionen zu eigenen Zwecken oder die Verschickung von Eingaben, die konkrete Missstände anprangerten. 43 Wenn diese Resistenzformen den Druck nicht mehr auf39 GriindungspapierderlFM,Januar 1986, in: WolfgangRÜDDENKLAU, Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989. Mit Texten aus den „Umweltblättern" Berlin 1992, S. 56ff.; „Die Reisefreiheit aller Bürger ist nötig", Der Spiegel 10 (1986), S. 78ff.; „Demokratie und Sozialismus", Frankfurter Rundschau, 21.5. 1986; „Damit Vertrauen wächst", ebd, 11. 8.1986. 40 Als Beispiele siehe Albrecht HINZE, „Hart zugreifen, schnell loslassen", in: Süddeutsche Zeitung, 12. 10. 1988 und „Die SED muß ihre Politik jetzt ändern", Die Welt, 30. 7. 1988; vgl. auch Havemann/ Widmann, Robert Havemann, S. 71ff. 41 Ulrich SCHACHT, „Bückware des Geistes aus dunklen Hinterzimmern", in: Die Welt, 17. 9. 1986; vgl. RÜDDENKLAU, Störenfried, S. 8 1 - 3 5 9 und Ilko-Sascha KOWALCZUK (Hg.), Freiheit und Öffendichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989. Eine Dokumentation, Berlin 2002. 42 Helmut LOHLHÖFFEL, „Der Stumme Kreis von Jena", in: Süddeutsche Zeitung, 19. 7. 1983; Peter BOLM, „SED unter Druck", in: Die Welt, 22.12. 1983; Sabine KATZKE, „Die Haft kam prompt, als sie im Betrieb die Arbeit verweigerten", in: Frankfurter Rundschau, 3.3.1984; Peter Jochen WINTERS, „Jegliche .Zusammenrottung' wird von der Polizei observiert", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 10. 1986. 43

Hendrik BUSSIEK, „Die Flucht ins Private hält an", in: Vorwärts, 7. 7. 1977; Günter GAUS, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983 und Alf Lüdtke/Peter Becker (Hg.), Akten, Eingaben, und Schaufenster. Die DDR und ihre Texte, Berlin 1997.

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fangen konnten, war die einzige Option eine Ausreise in den Westen, die von der S E D als „Republikflucht" denunziert und mit Repressalien verfolgt wurde. Auch dieser Wunsch nach „Reisefreiheit" in der eingemauerten D D R betraf ein Menschenrecht - allerdings schwächte jeder Erfolg die innere Opposition. 4 4 Die Dissidentengruppen hatten daher ein ambivalentes Verhältnis zu den Ausreisenden, denn einerseits unterstützten sie deren Verlangen als manifeste Systemkritik, andererseits bedauerten sie aber die Aussiedlung als Schwächung des kritischen Potenzials. Obwohl diese Entwicklung derjenigen in Polen hinterher hinkte, wuchs auch in der D D R langsam eine Opposition zur SED-Diktatur heran, die sich selbstbewusst zur „Gegnerschaft zur praktizierten Politik" bekannte. Sie rekrutierte sich teilweise aus antiautoritären Jugendlichen, teils aus einer literarisch-künstlerischen „Gegenkultur", teils aus sozialistischen Dissidenten, teils aus protestantischen Friedensfreunden. Diese Szene mit einigen Tausend Mitgliedern war im Gegensatz zur Stasi-Vorstellung von einer „Diversion" des äußeren Klassenfeindes ein eigenständiges Gewächs, das zwar von den Neuen Sozialen Bewegungen im Westen, den Dissidenten in den sozialistischen Nachbarländern und Gorbatschows Perestroika beeinflusst, aber ideologisch durchaus selbstständig war. Gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Gruppen waren zivilgesellschaftliche Kategorien und Handlungsmuster wie die Betonung von Frieden, das Bestehen auf Menschenrechten, der Wille zur mündigen Einmischung, der Versuch der Bildung von Öffentlichkeit, kurzum die Forderung „zur Machtübergabe an die aufgeklärte, zivile Gesellschaft". 45

Zivilgesellschaftlicher Aufbruch Nach vier Jahrzehnten weitgehender Sprachlosigkeit meldeten sich im Herbst 1989 die ostdeutschen Bürger plötzlich wieder zu Wort. Angeregt durch die Ausreisewelle entluden sich Frustrationen über die Schäbigkeit der D D R , verlor sich die Angst vor der allgegenwärtigen Stasi und äußerte sich die Enttäuschung über den realen Sozialismus. 46 In Versammlungen, bei Demonstrationen, mit Plakaten übten sogar SED-Mitglieder Kritik an ihrer eigenen Führung, und wagte es die „schweigende Mehrheit", ihren Frust offen auszudrücken. Unerwartet fanden führende 44

Bernd E I S E N F E L D , Flucht und Ausreise. Macht und Ohnmacht, in: Kuhrt et al. (Hg.), Opposition in der D D R , S. 3 8 1 - 4 2 4 .

45

Günter Z E H M , „Das große Zittern", in: Die Welt, 1 6 . 2 . 1 9 8 8 ; „Kritiker der DDR-Verhaltnisse berufen sich auf Gorbatschow", Tagesspiegel, 3. 9. 1988 und „Opposition in Ost-Berlin fordert von Honecker Verzicht auf Mauer", Tagesspiegel, 2 8 . 1 . 1 9 8 9 ; vgl. Ulrike Poppe et al. (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der D D R , Berlin 1995, S. 2 4 4 - 2 7 2 ; T I M M E R , Bürgerbewegung, S. 69ff. und Walter SÜSS, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999.

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Steven PFAFF, Fight or Flight? Exit-Voice Dynamics and the Collapse of East Germany, Durham 2 0 0 5 betont die Wirkung der Ausreisewelle.

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Dissidenten wie Bärbel Bohley Resonanz für Forderungen nach einem „legalen Raum des Widerstands und der Auseinandersetzung", kurzum nach „Anerkennung als Staatsbürger dieses Landes" durch Einhaltung der Verfassungsrechte. Möglich machte diesen von der Bewegungsforschung untersuchten Prozess der „Selbstbefreiung" eine Wiederherstellung der Zivilgesellschaft, die teils ältere Institutionen reaktivierte, teils neue Formen kollektiver Aktion stiftete. 47 Der erste Akt sozialer Selbstbestimmung war die Durchsetzung des Rechts auf öffentliche Demonstrationen. Immer wieder versuchten Ausreisewillige durch gemeinsames Auftreten ihrer Forderung „Wir wollen raus" Nachdruck zu verleihen, wofür sie regelmäßig bestraft wurden. Gefährlicher für die SED waren dagegen die Kritik von Demonstranten am „Wahlbetrug" sowie das Insistieren auf „Versammlungsfreiheit" und Bürgerrechten innerhalb der DDR. Wegen der gewaltlosen Protestmethoden wie „stummer Mahnwachen", Transparente wie „Für ein offenes Land mit freien Menschen" und Sprechchören wie „Wir bleiben hier" hatte das brutale Einschreiten der Sicherheitskräfte den entgegengesetzten Effekt einer Solidarisierung mit den Verhafteten, so dass die Teilnehmerzahlen von Hunderten im August zu Hunderttausenden im November anschwollen. 48 Mittelpunkt der Demonstrationen war zwar die Nikolaikirche in Leipzig, aber die Proteste strahlten bald in die gesamte Republik aus. Der entscheidende Durchbruch erfolgte am 9. Oktober, als sich die Bezirksleitung aufgrund fehlender Anweisungen zum Gewaltverzicht durchrang und dadurch den Weg für einen Dialog freimachte. 49 Der nächste Schritt war die Uberführung der informellen Gruppen in feste, öffentlich agierende Organisationen. Am erfolgreichsten war das „Neue Forum" mit einem zivilgesellschaftlichen Aufruf, der die „gestörte gesellschaftliche Kommunikation" beklagte und sich als „politische Plattform für die ganze DDR" anbot, um einen „demokratischen Dialog" über die notwendigen Reformen zu initiieren. Die Gründer waren etwa dreißig Intellektuelle aus Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen, darunter Bärbel Bohley, Katia Havemann, Rolf Henrich, Jens Reich und Reinhard Schult. Den Versuch einer Registrierung nach Artikel 29 der DDR-Verfassung lehnte 47 Bärbel BOHLEY, „Vierzigjahre warten", in: dies, et al., 40 Jahre DDR ...und die Bürger melden sich zu Wort, Frankfurt 1989, S. 5 - 1 1 ; vgl. Helmut Dubiel/Günter Frankenberg/Ulrich Rödel, „,Wir sind das Volk'. Die Geburt der Zivilgesellschaft in der demokratischen Revolution", in: Frankfurter Rundschau, 2. 1.1990 und Hartmut ZWAHR, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993. 48

„Hunderte demonstrierten in Leipzig für Ausreise aus der DDR", Tagesspiegel, 14. 3. 1989; „Heute in China - morgen in der DDR?", ebd., 5. 8. 1989; „Ausreiser und Bleiber marschieren getrennt", Die Tageszeitung, 9. 9. 1989; „Sicherheitskräfte hielten sich bei Demonstrationen in Leipzig zurück", Tagesspiegel, 27.9. 1989.

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„Festnahmen und Verletzte bei Massendemonstration in Leipzig", Tagesspiegel, 4. 10.1989; Karl-Heinz BAUM, „SED wechselt die Signale auf Dialog", in: Frankfurter Rundschau, 11. 10. 1989; Karl-Dieter Opp/Peter Voß, Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993.

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das Innenministerium mit dem Vorwurf einer „staatsfeindlichen Plattform" ab. Da aber auf Demonstrationen der Ruf „Neues Forum zulassen" erschallte und in kürzester Zeit Tausende von Unterschriften gesammelt wurden, war die diffuse oppositionelle Sammlungsbewegung nicht mehr zu stoppen. 50 Konzeptionell profilierter war die wenig später gegründete Gruppierung „Demokratie Jetzt", die eine „demokratische Umgestaltung in der DDR" durch Bürgerrechte, Wirtschaftsreform und Umweltbewusstsein propagierte. 51 Gleichzeitig fand eine erstaunliche Liberalisierung der Medien statt, die eine eigenständige DDR-Öffentlichkeit konstituierte. Da von der „ideologischen Waffe der Partei" gelangweilte Bürger eher das Westfernsehen einschalteten, forderten Künstler eine „neue Medienpolitik", um „ein umfassendes öffentliches Gespräch" in Gang zu setzen. Durch das Angebot eines „Dialogs zwischen Volk und Regierung" versuchte die SED zwar eine indirekte Lenkung aufrechtzuerhalten, konnte den Dammbruch aber nicht mehr verhindern. 52 Journalisten, die ihre Gängelung satt hatten, fingen an, ausführlich über Tabuthemen wie Staatskorruption zu berichten, unterschiedliche Meinungen wiederzugeben und kritische Kommentare zu senden. Eine Flut von Leserbriefen ergoss sich über die Zeitungen, um zurückgehaltene Beschwerden zu ventilieren. Bei der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera" schnellten die Einschaltquoten in die Höhe und der antiwestliche „Schwarze Kanal" wurde abgeschaltet. Ein Flüchtling kommentierte sarkastisch: „Echt, was die zur Zeit bringen grenzt fast an Pressefreiheit."53 Ein weiterer Schritt zur Wiedergewinnung zivilgesellschaftlicher Handlungsfähigkeit war die Gründung von politischen Parteien, da sie deutlich über einen unverbindlichen Dialog hinausgingen. Den längsten Vorlauf hatte die Sozialdemokratische Partei, die als sozialethische Demokratiebewegung aus Friedensund Menschenrechtsgruppen der protestantischen Kirche entstand, wie ihre Gründung 50 „Oppositionsgruppe in der DDR gegründet", Tagesspiegel, 12. 9. 1989; „Neues Forum ist staatsfeindlich", Kieler Nachrichten, 22. 9. 1989; „Wir werden immer mehr", Der Spiegel 40 (1989), S. 25f.; vgl. „Das Neue Forum. Selbstportrait einer Bürgerbewegung", in: Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, Bonn 1990, S. 4ff. 51 Hans-Jürgen Fischbeck/Ludwig Mehlhorn/Wolfgang Ullmann/Konrad Weiss, „Aufruf zur Einmischung", in: Die Tageszeitung, 12. 9. 1989; vgl. Ulrike POPPE, Bürgerbewegung .Demokratie Jetzt', in: Hubertus KNABE (Hg.), Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes, Reinbek 1989, S. 160-162. 52 „Künsder der DDR rufen nach einer neuen Medienpolitik", Süddeutsche Zeitung, 13.10. 1989; Peter J. WINTERS, „Angelika Unterlauf darf unerhörte Dinge sagen", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 10. 1989; Günter SCHABOWSKI, „Mündige Bürger und mündige Journalisten brauchen einander", in: Neues Deutschland, 11.11.1989. 53 Hans B. KARUTZ, „Nachdenkliche Stimmen in den Medien der DDR", in: Die Welt, 12. 10. 1989; Walter HÖMBERT, „Klassenfeind mitten im Wohnzimmer", in: Rheinische Merkur, 20.10.1989; „Seit Montag guckt Schnitzler in die Röhre", Frankfurter Rundschau, 1.11. 1989; „Immer mehr Zuschauer sehen Aktuelle Kamera", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 11. 1989.

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durch Pfarrer wie Markus Meckel, Steffen Reiche und Martin Gutzeit andeutet. In scharfem Kontrast zum bürokratischen Sozialismus sah sich die SDP als Partei der „ökologisch orientierten sozialen Demokratie", die bewusst an die Traditionen der SPD anknüpfen wollte. 54 Etwas konservativer, obwohl auch aus dem evangelischen Milieu stammend, war der „Demokratische Aufbruch" (DA), der sich ebenso als bürgerrechtliche Sammlungsbewegung verstand, durch seine Kontakte mit der westdeutschen C D U und Aufnahme von Vereinigungswünschen aber in ein bürgerliches Fahrwasser geriet. 55 Eine weitere Folge war auch die Wiederbelebung des ostdeutschen Parlamentarismus, die in einer kritischeren C D U zur Forderung von Rechten wie Reisefreiheit, Meinungsvielfalt und Demokratisierung führte. 56 Im Wettlauf mit diesen basisdemokratischen Aufbruchprozessen sah sich selbst die SED dazu gezwungen, sich innerparteilich zu erneuern, um bei ihren Mitgliedern und in der Öffentlichkeit ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Vorbedingung dazu war der Sturz des überalterten und starrsinnigen Diktators Erich Honecker, dessen Wirkung aber durch Egon Krenz' unbeholfene Wenderede verpuffte. Zur Festigung der zerrinnenden Macht musste daher der als Reformer geltende Dresdener Bezirksvorsitzende Hans Modrow an die Spitze der Partei und einer Koalitionsregierung berufen werden. Die Diskreditierung des Namens SED erzwang sodann eine Umbenennung in die Partei des Demokratischen Sozialismus, um dem Wunsch der Parteibasis nach Distanzierung vom „realen Sozialismus" nachzukommen. Diese Indizien weisen daraufhin, dass zivilgesellschaftliche Prozesse des Drucks in Richtung interner Demokratisierung auch in der Regierungspartei abliefen, dadurch aber gleichzeitig ihr Machtmonopol untergruben und sie zu einer Partei unter anderen politischen Gruppierungen machten. 57 Der demokratische Aufbruch kulminierte in der Einrichtung des Runden Tisches, 58 der die Reformdiskussion zwischen den diskreditierten Machthabern und der Bürgerbewegung moderieren sollte. Diese nach der Maueröffnung etablier54 „Parteigründung in der D D R F r a n k f u r t e r Rundschau, 9.10.1989; „Trügerische Hoffnungen", Vorwärts, 1.11.1989; „Wir werden nachdem 6. Mai mit am Regierungstisch sitzen", Augsburger Allgemeine,!!. 12. 1989; vgl. Konrad H. JARAUSCH, ,Die notwendige Demokratisierung unseres Landes'. Zur Rolle der SDP im Herbst 1989, in: Bernd Faulenbach/Heinrich Potthoff (Hg.), Die deutsche Sozialdemokratie und die Umwälzung 1989/90, Essen 2001, S. 52-68. 55 „In dieser Lage wird's ungeheuer spannend", Die Welt, 16. 9. 1989; „Das wird sehr bunt sein müssen", Die Tageszeitung, 3. 10. 1989; Christian WERNICKE, „Eine neue Partei mit Bonner Bügelfalten", in: Die Zeit,!!. 12.1989. 56 „Manfred Gerlach", Stuttgarter Zeitung, 7. 10. 1989; „CDU-Mitglieder in der DDR fordern zu Reformvorschlägen auf", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 9. 1989; Heinrich JÄMECKE, „Preusse, Christ und Demokrat", in: Der Stern, 7.12.1989 und „Der Block ist zerbrochen", Neues Deutschland, 7. 12.1989. 57 Heinrich BORTFELD, Von der SED zur PDS. Wandlungzur Demokratie? Bonn 1992. Dieser interne Wandlungsprozess in der SED/PDS ist noch zu wenig untersucht. 58 Siehe Beitrag von Eva Sänger zum Zentralen Runden Tisch in diesem Band.

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te Einrichtung war ein Ausdruck des gesellschaftlichen Patts, in dem die SED und ihre Massenorganisationen zwar noch alle Machtmittel kontrollierten, die zersplitterten Oppositionsgruppen und Parteien aber die Glaubwürdigkeit und dadurch die Unterstützung der Bevölkerung besaßen. Unter der Vermittlung der Kirchen bot der zentrale Runde Tisch einen neutralen Ort, an dem sich Initiativen wie Neues Forum und SDP mit der Regierung, den Massenorganisationen und den Blockparteien treffen konnten, um die Zukunft des Landes zu diskutieren. Dahinter stand ein Grundkonsens, der beide Seiten zu Kompromissen beflügelte: „Es ist die demokratischsozialistische Idee einer reformierbaren DDR". 59 Die auf allen Ebenen eingerichteten Runden Tische waren ein Versuch der Institutionalisierung der Zivilgesellschaft, weil ihre Vertreter dadurch den sozialen Reformprozess mitbestimmen konnten. Das zivilgesellschaftliche Vermächtnis dieser Reformdiskussionen zwischen Opposition und PDS schlug sich im Verfassungsentwurf des Runden Tisches nieder, der eine „gesamtdeutsche Verfassungsdebatte" anstoßen wollte. 60 Der Entwurf war darin innovativ, dass er die Verfassung nicht als „autoritative Satzung des Souveräns, sondern als ein wechselseitiges Versprechen von Bürgern" konzipierte, „die sich dadurch zur .Zivilgesellschaft' konstituieren". Inhaltlich neu waren die Berücksichtigung von Bürgerbewegungen, die Parteifinanzierung über den Bürgerbonus, Elemente direkter Bürgerbeteiligung und soziale Grundrechte auf Arbeit, Umweltschutz und Abtreibung. Kein Wunder, dass konservative Juristen ein so linksliberales Dokument als „Dritten Weg zum zweiten Fall" kritisierten und behaupteten, das Grundgesetz „enthält in seinen Prinzipien diejenigen Ideale, für die die Revolution der DDR gestritten hat".61 Da dieser Verfassungsentwurf die Protestkultur der Bürgerbewegung dauerhaft institutionalisieren wollte, traf er bei den etablierten politischen Instanzen auf wenig Gegenliebe. Beim Sturz der DDR-Diktatur spielte die Zivilgesellschaft jedoch eine zentrale Rolle, da sie die Macht der SED quasi von innen und von unten auflöste. Die Ausreisewelle diente als Auslöser von Protesten innerhalb der Regierungspartei und stärkte die Bürgerbewegung, die die Politik der Gerontokratie kritisierte und nicht nur die Ablösung Honeckers, sondern darüber hinaus auch eine Demokratisierung des Sozialismus forderte. Die Wiederherstellung einer Öffentlichkeit, die Wiedergewinnung von Menschenrechten und die Wiederbelebung des Parlaments 59 „Oppositionsgruppen fordern Gespräche am Runden Tisch", Tagesspiegel, 15.11.1989; „Alte Hasen aus dem Untergrund", Süddeutsche Zeitung, 2. 12. 1989 und „Raue Zeiten", Der Spiegel 52 (1989), S. 23f.; vgl. Uwe THAYSEN, Der Runde Tisch oder Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990. 60 Siehe Beitrag von Tine Stein zur Verfassungsdiskussion in diesem Band. 61 „Gesamtdeutsche Verfassungsdebatte statt Wählkampf", Die Tageszeitung, 3. 3. 1990; Ulrich K. PREUSS, „Auf der Suche nach der Zivilgesellschaft", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 4. 1990; Gerd ROELLECKE, „Dritter Wegzum zweiten Fall", in: ebd., 12.6.1990; „DeutscherEinigungsprozess: Nicht die Zeit für Verfassungsexperimente", CDU-Pressedienst, 28. 6. 1990.

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weiteten die Sphäre politischer Diskussion und Entscheidungen über die Partei hinaus aus und brachen dadurch mit dem in der Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED. Diese Pluralisierung schuf Raum für die Gründung von Oppositionsgruppen und neuen politischen Parteien, die alternative Visionen mit größerer Glaubwürdigkeit propagierten. Gegen diese Wortmeldung der Zivilgesellschaft waren die Funktionäre der S E D / P D S letztlich machtlos, da sie dem Willen des Volkes aufgrund ihrer sozialistischen Ideologie kaum widerstehen konnten.

Zivilgesellschaft im Vereinigungsprozess In der Gestaltung einer erneuerten D D R war allerdings die wiederentstandene ostdeutsche Zivilgesellschaft weit weniger erfolgreich, da ihr basisdemokratisches Politikverständnis die Ausübung von Macht verhinderte. Die Zersplitterung der Oppositionsgruppen, die gegenüber der Stasi-Repression von Vorteil war, erwies sich nun als Hindernis für eine zielgerichtete Zusammenarbeit, denn es existierten zwar imponierende Persönlichkeiten, aber es war keine eindeutige Führungsfigur vorhanden, der sich die anderen untergeordnet hätten. Auch hingen viele Bürgerrechtler einem moralischen Begriff von Diskussion und Konsensfindung an, suchten also nach neuen Formen harmonischer Gemeinsamkeit, statt auf Austragung von Konflikten zu setzen. Letztlich hofften nicht wenige Reformkräfte auf eine Erneuerung des Demokratischen Sozialismus, also die Fortsetzung einer erneuerten D D R , was sich aufgrund des drohenden Staatsbankrotts als unrealistisch erwies. 62 Das Projekt der Selbstreform scheiterte deswegen auch an der Schwäche einer noch in Entstehung begriffenen Zivilgesellschaft. Im Vergleich zu den Nachbarn war die Existenz der Bundesrepublik, die einen schnelleren Weg zu Teilhabe an Wohlstand und Freiheit zu bieten schien, das größte Hindernis einer eigenständigen Erneuerung. Die grenzübergreifende Rezeption des Radios und Fernsehens, sowie die Rentnerbesuche und Weihnachtspakete schufen ein idealisiertes Bild des Westens, das eine Magnetwirkung ausübte. Auch das durch den Kontrast von V W Golf zu Trabant manifeste Wohlstandsgefälle zwischen der von Engpässen geplagten Planwirtschaft und der Uberfluss anbietenden Marktwirtschaft zog ostdeutsche Konsumenten unwiderstehlich an. Schließlich war das Hilfsangebot von Bundeskanzler Helmut Kohl im 10-Punkte-Plan 63 verlockend, da es wirtschaftliche Unterstützung für den Weg von einer Konföderation zu einem Bundesstaat versprach. Die eher apolitische Mehrheit der Ostdeutschen, die schon in den Leipziger Demonstrationen „Wir sind ein Volk" skandiert hatte, empfing daher den Kanzler in 62

Oppositionsanalyse in Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe Euch doch alle! Analysen und

63

http://www.chronikderwende.de/_/lexikon/glossar/glossar_jsp/key= 10-punkte-plan.html.

Lageberichte des M f S Januar bis November 1989, Berlin 1990.

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Dresden mit ekstatischen „Helmut, Helmut" Rufen, die den Wunsch nach baldiger Vereinigung ausdrückten. 64 Im Ringen um die Zukunft der D D R befanden sich die oppositionellen Gruppen daher bald im Nachteil, da ihnen die westlichen Organisationen strukturell überlegen waren. Zwar konnten Bürgerrechtler die Rekonsolidierung der S E D / P D S durch den Sturm auf die Stasi-Zentrale an der Normannenstrasse verhindern, aber im Wahlkampf gingen die Westparteien systematischer vor, druckten massenhaft Plakate und Broschüren und stellten geübte Redner zur Verfügung. Die östliche Opposition kämpfte dagegen mit witzigen, aber nur hektographierten Handzetteln und medienscheuen Kandidaten, die „einen Selbstfindungsprozess" verfolgten. Daher war eine Fusion der Ostparteien mit ihren westlichen „Schwestern" unausweichlich. Anfangs genossen die Sozialdemokraten einen Vorsprung, dann aber holten die aus der CDU-Blockpartei und dem Demokratischen Aufbruch geschmiedete „Allianz für Deutschland" sowie die Liberalen auf. 65 Wegen ihres zivilgesellschaftlichen Habitus gelang es den Oppositionsgruppen wie dem Bündnis 90 nicht, ohne weitere Professionalisierung Parteipolitik zu machen. Der überraschende Wahlsieg der „Allianz für Deutschland" mit 48 Prozent im März 1990 beschleunigte die Uberführung des zivilgesellschaftlichen Aufbruchs in traditionelle parlamentarische Formen. Entscheidend dafür war die Weigerung der Mehrheit der Bürger, die den Protesten die Massenbasis gegeben hatte, das Projekt eines „Dritten Wegs" weiter zu verfolgen. Inhaltlich war das Resultat vor allem „ein Votum für die Einheit" und zwar für den von der C D U versprochenen „schnellen Weg" des Beitritts, statt die langsamere und sozial besser abgefederte Gangart der SPD. Gleichzeitig war es gewissermaßen „eine Gegenentscheidung" gegen den realen Sozialismus, auch wenn einige seiner Wertvorstellungen wie das Recht auf Arbeit in der Bevölkerung weiterwirkten. Schließlich ging es auch um die Verbesserung der materiellen Lebenschancen durch eine baldige Wirtschafts- und Währungsunion, die von Westintellektuellen als Bananenreflex verspottet wurde. Ironischer Weise fanden sich die überraschend überlebende PDS und die geschrumpften Bürgerbewegten auf derselben Seite der Befürworter eines reformierten Sozialismus in einer eigenständigen D D R . 6 6 64 Stefan WOLLE, Die Keile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der D D R 1971-1989, Berlin 1998 und Helmut KOHL, Erinnerungen, München 2004. 65 Pressemitteilung der Grünen vom 9. 1. 1990; Interview mit Bärbel Bohley, Schweizer Tageszeitung, 10. 2. 1990; Joachim NAWROCKI, „Betäubt vom Tempo der Profis", in: Die Zeit, 9. 2. 1990; KlausDieter FRANKENBERGER, „Beim Stichwort Canvassing sind einige Leute ratlos", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 2. 1990; „Kinder der Demokratie", Der Spiegel 7 (1990). 66 Wahlkommentare der Politiker vom 18. 3. 1990 im ARD; Infas, „.Revolutionäre' rücken in den Hintergrund", Süddeutsche Zeitung, 21. 3. 1990; Elisabeth N Ö L L E - N E U M A N N , „Ein demokratischer Wahlkampf gab den Ausschlag", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.3.1990 und Manfred Berger/ Wolfgang Gibowski/Diether Roth, „Ein Votum für die Einheit", in: Die Zeit, 23. 3. 1990.

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In der Gestaltung des inneren Vereinigungsprozesses konnten Vertreter der ostdeutschen Zivilgesellschaft daher nur eine korrigierende Rolle als Kritiker spielen. Trotz des Entwurfs des Runden Tischs, der nach Paragraph 146 des Grundgesetzes einen gemeinsamen verfassungsgebenden Konvent vorgesehen hatte, insistierte die Volkskammermehrheit auf einem schnellen Beitritt nach Paragraph 23, der nur die Aushandlung von einigen Ubergangslösungen erlaubte. Die Verhandlungen zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion wurden von der Lothar de MaiziereRegierung mit Bonner Ministern und Beamten geführt, so dass die ausgeschlossene Bürgerbewegung nur in den Medien auf angemessene Berücksichtigung der sozialen Belange hinweisen konnte. Auch an den komplizierten Auseinandersetzungen um den Einigungsvertrag nahmen keine Vertreter der Zivilgesellschaft teil, obwohl es durch Demonstrationen gelang, einige Konzessionen wie die befristete Aufrechterhaltung der Fristenlösung bei Abtreibungen und die Schaffung einer Bundesbehörde für die Aufbewahrung von Stasi-Akten zu erreichen.67 Durch den Beitritt wurden die noch in Entwicklung begriffenen Elemente ostdeutscher Zivilgesellschaft: in die bereits bestehende, westliche civil society überführt. Die Vorteile einer Aufnahme in die Bundesrepublik waren einleuchtend: Das bewährte Grundgesetz garantierte bürgerliche Grundrechte; die parlamentarischen Institutionen boten Instrumente politischer Beteiligung; die Aufnahme in die sozialen Sicherungssysteme verhinderte den Absturz in die Armut; der Eintritt in bestehende Organisationen erleichterte die Durchsetzung von Interessen. Aber Kritiker konnten nicht zu Unrecht auch auf eine Reihe von gravierenden Nachteilen hinweisen: Die Übernahme bestehender Einrichtungen lähmte die Eigeninitiative; die ungleichen Mehrheitsverhältnisse erschwerten die Durchsetzung östlicher Anliegen wie die Aufrech terhaltung von Kinderkrippen oder Polikliniken; und der abrupte Ubergang in die Marktwirtschaft verlangte große Anstrengungen der Anpassung.68 Die Integration neuer ostdeutscher Basisinitiativen in etablierte westdeutsche Großorganisation war daher ein schwieriger Prozess. Obwohl die DDR-Bürger allen Grund hatten, „erhobenen Hauptes selbstbewusst in die Einheit zu gehen", wurden ihre Erwartungen nur zum Teil erfüllt. 69 Im Verlauf der Vereinigung hatte sich die Bürgerbewegung so stark programmatisch ausdifferenziert und organisatorisch zersplittert, dass sie durch Zusammenarbeit mit westdeut67

Gerhard A. RITTER, Der Preis der Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006; siehe den Beitrag von Joachim Gauck in diesem Band. 68 Interview mit Günther Krause, Deutscher Fernsehfunk, 25. 8. 1990; Lothar de MAIZIERE, „Dieser Vertrag regelt den Beitritt in ausgewogener Balance", in: Hamburger Allgemeine Zeitung, 1. 9. 1990; „Hans-Jochen Vogels politischer Bericht vor der Fraktion", SPD-Pressedienst, 4. 9. 1990; Ulrich K. PREUSS, „Der Liquidationsvertrag", in: Die Tageszeitung, 14. 9.1990. 69 „Erhobenen Hauptes in die Einheit gehen", Kölner Stadt-Anzeiger, 18. 8. 1990; „DDR-Identität?", Neues Deutschland, 29. 9. 1990; Thomas BULMAHN, Zur Entwicklung der Lebensqualität im vereinigten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (2000), S. 30-38.

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Konrad J a r a u s c h

sehen Partnern ihre Eigenständigkeit verlor. Bei ihren Akteuren konnte sich einerseits eine in den Parteien engagierte oder berufliche Chancen nutzende Mehrheit durchsetzen, andererseits zog sich eine über das Ende „der schönen Revolution" enttäuschte Minderheit wieder zurück, in Bärbel Bohleys Worten: „Wir haben für Gerechtigkeit gekämpft, doch was wir erhalten haben war der Rechtsstaat?70 Stattdessen wurde die Transformation der neuen Bundesländer ein Tummelplatz der Mitglieder von Blockparteien und gewendeten Postkommunisten sowie westlichen „Entwicklungshelfern". Kein Wunder, dass die politische Hochstimmung der mit den schwierigen Umbruchsfolgen kämpfenden Bevölkerung bald zurückging und neuen Zukunftssorgen Platz machte.71 Systemkollaps oder friedliche Revolution?

Wie sind mit Abstand von zwei Jahrzehnten die verwirrenden Ereignisse des annus mirabilis 1989/1990 historisch einzuordnen? Aus der Perspektive der Herrschaft weisen in der Tat zahlreiche Indikatoren auf einen Zusammenbruch des SEDSystems hin, da der Machtverlust das Resultat einer Reihe von langfristig ungelösten Problemen war. Vielleicht am wichtigsten war Michael Gorbatschows Aufkündigung der sowjetischen Sicherheitsgarantie durch die Rücknahme der Breschnjew-Doktrin, da er die Reform der Sowjetunion nicht durch die Verteidigung ihrer Kontrolle über Osteuropa belasten wollte. Ebenso entscheidend war der Staatsbankrott der DDR durch die Stagnation der Planwirtschaft und die Massenflucht nach Westen, der einer Erneuerung des Sozialismus den Boden entzog. Gleichzeitig machte die Auflösung der Parteidisziplin die SED handlungsunfähig, denn der Modrow-Regierung gelang es nicht durch Reformbemühungen die Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Schließlich war es auch der Verlust des Glaubens an die sozialistische Sendung, der den Einsatz von Machtmitteln lähmte.72 Dennoch spielte die Zivilgesellschaft eine Schlüsselrolle in der ostdeutschen Selbstbefreiung, denn ihre Unterdrückung, partielle Wiederentstehung und dramatische Rückmeldung setzten die Erosion in Gang und brachen die Macht der SED. Erstens bereitete die Entstehung von Dissidentengruppen durch Einklagung von 70 Bohley zielte mit dieser Aussage auf die durch den Einigungsvertrag nur eingeschränkt möglich gewordene strafrechtliche Aufarbeitung der SED-Diktatur. Siehe auch den Beitrag von Christoph SafFerling in diesem Band. 71 Rainer SCHEDLINSKI, Die Phase der schönen Revolution ist vorbei, in: Stefan Heym/Werner Heiduczek (Hg.), Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden, Leipzig 1990, S. 339-345; vgl. Jan WIELGOHS, Auflösung und Transformation der ostdeutschen Bürgerbewegung, Deutschland Archiv 26 (1993), S. 426-434; Detlef POLLACK, Was ist aus den Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR geworden?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4 0 - 4 1 (1995), S. 34-45. 72 Klaus SCHROEDER, Der SED-Staat. Partei. Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998.

Kollaps des K o m m u n i s m u s

oder A u f b r u c h der Zivilgesellschaft?

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Bürgerrechten, Formulierung von öffentlicher Kritik und Vernetzung in gemeinsamen Aktionen, sowie die „Erfahrung von Zivilcourage und Widerstand" die Unterminierung der Fürsorgediktatur von innen vor. Zweitens

beschleunigte die

Kristallisierung einer Opposition die Wiedergewinnung des Demonstrationsrechts, die Wiederherstellung einer pluralen Öffentlichkeit und die Artikulation von alternativen Konzepten, die das Politikmonopol der SED durch eine Machtteilung am Runden Tisch aufbrachen und mit freien Wahlen das Aufbegehren in parlamentarische Bahnen kanalisierte.73 Drittens

bewirkte zivilgesellschaftliche Kritik einige

Modifikationen im Vereinigungsprozess, die ihn sozialer und offener gestalteten.74 Die zivilgesellschaftliche Dimension ist aus der Bürgerbewegung und dem demokratischen Aufbruch nicht wegzudenken, da sie gleichzeitig normative Ziele vorgab und Wege zur Veränderung bereitstellte.75 In gewisser Weise war die Organisation von Dissidentengruppen und ihre wachsende Vernetzung schon eine Vorwegnahme der Selbstorganisation freier Bürger. Ebenso drückten die Kritik der sozialen Militarisierung und die Strategie des gewaltfreien Protests den Willen nach zivilem Umgang aus. Auch der Aufruf zur Einmischung in eigener Sache appellierte an die individuelle Zivilcourage und das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Schließlich versuchten die Abkehr von der maroden Planwirtschaft und der Ruf nach einer „öko-sozialen Marktwirtschaft" ökonomische Grundlagen von Bürgerlichkeit wieder zu gewinnen. Da diese Programme und Aktionen alle Kriterien von Zivilgesellschaft erfüllen, kann ein erheblicher Teil des demokratischen Aufbruchs aus dieser Perspektive erklärt werden.76 Allerdings müsste sie durch Anregungen aus der Protestforschung erweitert und zu einem Prozessansatz ausgebaut werden.77 Auch in einer diachronen Perspektive erscheint der Sturz des Kommunismus als einer der wenigen Erfolge des demokratischen Aufbegehrens in Deutschland. Der erste Versuch in der Revolution von 1848 war an der Uberkreuzung der Probleme 73

Wolfgang Merkel/Hans-Joachim Lauth, Systemwechsel und Zivilgesellschaft. Welche Zivilgesellschaft braucht die Demokratie?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 6 - 7 (1998), S. 3 - 1 2 ; T H A A , Die Wiedergeburt des Politischen, S. 357ff. spart den ostdeutschen Fall aus.

74

Dietrich M Ü H L B E R G , Schwierigkeiten kultureller Assimilation. Freuden und Mühen der Ostdeutschen beim Eingewöhnen in neue Standards des Alltagslebens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 17 (2002), S. 3 - 1 1 ; Joyce M. M U S H A B E N , Democratization as a Political-Cultural Process. Social Capital and Citizen Competence in the East German Länder, St. Louis 1998.

75

Der lobenswerte Versuch von Karsten Timmer beschränkt sich weitgehend darauf, Analogien der Zielvorstellungen zwischen den ostmitteleuropäischen

Dissidenten und den ostdeutschen

Bürgerrechtlern hervorzuheben, verfolgt diese Einsicht aber dann in der Analyse des demokratischen Aufbruchs nur sporadisch und bricht die Untersuchung mit dem Runden Tisch ab. T I M M E R , Bürgerbewegung, S. 7 9 - 3 8 6 . 76 Jürgen K O C K A , Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier et al. (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt 2000, S. 1 3 - 3 9 . 77

P O L L A C K , Politischer Protest; PFAFF, Fight or Flight; vgl. auch Opp/Voß, Volkseigene Revolution.

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Jarausch

einer freiheitlichen Verfassungsgebung, nationalen Einigung und sozialen Befriedung kläglich gescheitert. Der zweite Anlauf inmitten der Niederlage von 1918 versank im Chaos der Weimarer Republik, im Ressentiment gegen den Frieden von Versailles und in der Arbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise. Der dritte Ansatz nach der zweiten, vernichtenden Niederlage von 1945 kam weitgehend von außen, führte zur Teilung des Landes, und brachte eine zweite, vermeintlich egalitäre Diktatur im Osten, aber eine freie Zivilgesellschaft im Westen. Erst die vierte Anstrengung im demokratischen Aufbruch von 1989/90 trug den Rechtsstaat in den Osten, stellte einen verkleinerten Nationalstaat wieder her und führte die soziale Marktwirtschaft im ganzen Lande ein. 78 Nur im letzten Umbruch konnte die im Vormärz gestellte „deutsche Frage" durch ihre europäische Einbettung schließlich gelöst werden. Die Alternative von Systemkollaps oder zivilgesellschaftlichem Aufbruch ist deswegen irreführend, weil in einer friedlichen Revolution beide Aspekte miteinender vereint sind. Wenn ein Regime wie in China nicht bereit ist, den Wünschen von gewaltlos demonstrierenden Bürgern zu folgen, kann es die Proteste in Blut ersticken. Also ist eine Aufweichung des Herrschaftswillens notwendig, damit die militärischen Machtmittel nicht eingesetzt werden. Gleichzeitig ist aber auch eine breite Bürgerbewegung unabdinglich, um die Herrschenden zu Konzessionen zu zwingen. Erst der Eindruck eines unwiderstehlichen Volkswillens kann machtverwöhnte Funktionäre dazu bewegen, zur Rettung eines Teils ihrer Privilegien ihr Heil in Verhandlungen zu suchen. Die beiden Symboldaten des 9. Oktobers und des 9. Novembers weisen auf diesen Doppelcharakter eines geordneten Rückzugs unter Druck von unten hin. Der Vergleich mit weiteren Volksbewegungen, die zu gewaltlosen Regimewechseln geführt haben, zeigt deshalb, dass der demokratische Aufbruch ein neuer Typus von Bürgerrevolution war, in dem Systemkollaps und zivilgesellschaftlicher Aufbruch konstruktiv zusammengewirkt haben. 79

78

Gerhard A. RITTER, Der Umbruch von 1989/90 und die Geschichtswissenschaft, München 1995; Konrad H. J A R A U S C H , Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004. 79 Charles S. MAIER, Der Umbruch der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt 1999 benutzt den Zusammenbruch im Titel, spricht aber von einer „deutschen Revolution" im Text. vgl. auch Adam Roberts/Timothy Garton Ash/Thomas Richard Davis, Civil Resistance in the Batde of Ideas. A Technique of Struggle and its Place in Political Thought, Oxford (im Erscheinen).

Kollaps des K o m m u n i s m u s oder A u f b r u c h der Zivilgesellschaft?

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1. M e n s c h e n r e c h t s s i t u a t i o n i m A l l t a g d e r D i k t a t u r

Anja

Mihr

W a s t u n g e g e n M e n s c h e n r e c h t s v e r l e t z u n g e n in der D D R ? A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l u n d die S E D - S t a a t s m a c h t Menschenrechtsverletzungen in der D D R reichten von der Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit, dem Verbot sein Land jederzeit zu verlassen bis hin zu Zwangsadoptionen, Verletzung der Religionsfreiheit, schweren Misshandlungen in der Haft, der Überwachung der Privatsphäre, Berufsverbot, dem Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze oder der Todesstrafe. Uber all den Einschränkungen schwebte stets das „Schild und Schwert" des SED-Regimes, die Staatssicherheit. Sie übte eine totale Kontrolle über das Land und ihre Menschen aus. Einschüchterung und das Gefühl der Unmündigkeit und Enge waren die Folge für viele Millionen Menschen in der D D R . 1 Wer den Wunsch hegte, sich aus dieser Enge zu befreien, wie zum Beispiel durch nicht parteikonforme Kunst oder Publikationen, Kritik am System übte oder den Wunsch hegte, das Land in den Westen zu verlassen, machte sich strafbar. Strafrechtliche politische Prozesse, allesamt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, endeten in der Regel mit mehrjährigen Haftstrafen. „Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen" nannte die weltweit agierende

Menschenrechtsorganisation

Amnesty International diese Rechtspraxis in den 1980er Jahren. 2 Eine unabhängige Gerichtsbarkeit oder gar Verfassungsgerichtsbarkeit existierte nicht in der D D R . 3 Die Menschenrechte standen, wenn überhaupt, nur auf dem Papier und auch dieses wurde vorsorglich von den DDR-Bürgern ferngehalten. Eine breite Verbreitung von Publikationen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der Menschenrechtspakte von 1966 (welche die SED-Führung offiziell anerkannte) oder die Veröffentlichung der KSZE-Schlussakte von 1975 mit dem Kapitel zu humanitären Dimension und Menschenrechte wurden untersagt oder ihre Verbreitung akribisch verhindert. 1

Siehe Beitrag von Joachim G A U C K in diesem Band.

2

A M N E S T Y I N T E R N A T I O N A L , Deutsche Demokratische Republik. Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen, Bonn 1989.

3

Ulrich D R O B I N G (Hg.), Die Strafrechtsjustiz der D D R im Systemwechsel. Partei und Justiz, Mauerschützen und Rechtsbeugung (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Bd. 64), Berlin 1998.

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Anja M i h r

Darüber hinaus waren willkürliche Inhaftierungen, die Verweigerung von grundlegender medizinischer Versorgung in Haft oder der Menschenhandel von weit über tausend Personen jährlich, die in die Bundesrepublik Deutschland „freigekauft" wurden, Punkte des Anstoßes von UN-Ausschüssen und Menschenrechtsorganisationen im Westen. Wirtschaftliche und soziale Menschenrechte wie etwa seinen Beruf oder Studienplatz frei zu wählen, wurden durch den parteikonformen Selektionsprozess und eine frühe Auslese von Schülern erschwert oder gar verhindert. Nicht nur aus heutiger Sicht sind dies grundlegende oder gar schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Bis 1989 hingegen kritisierte der Westen vor allem die Verletzung der politischen und individuellen Freiheitsrechte in der D D R und forderte deren Einhaltung. Wäre es nach dem Willen der SED-Führung gegangen, sollten die Menschen in der D D R nichts von und über ihre international verankerten Menschenrechte erfahren. Die Regierung befürchtete zu Recht durch die Verbreitung der Menschenrechte Widerstand in der Bevölkerung zu provozieren, der die diktatorische Praxis der SED-Führung in Frage stellen würde und die Regierung schließlich zum Fall bringen könnte. Nicht unerheblich waren in den 1980er Jahren die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung und der Teilnehmer bei den Montagsdemonstrationen 1989 die Forderungen nach Freiheit und Menschenrechten, sie trugen schließlich zum Sturz des SED-Regimes bei. Das Fehlen von Partizipationsmöglichkeiten der DDR-Bürger sowie freier Wahlen führten dazu, dass die politische Elite sehr früh unter einem Legitimationsdefizit litt. Bereits bei der Gründung der SED tauchte das Problem der Legitimation auf. Die von der K P D und der sowjetischen Besatzungsmacht forcierte Zwangsvereinigung hatte zum Ziel gehabt, die Konkurrenz der Sozialdemokraten auszuschalten. Die S E D befand sich deshalb nach 1946 nicht im demokratischen Wettstreit mit anderen Parteien und konnte dementsprechend gar nicht berechtigt den Titel einer demokratisch gewählten Partei tragen. Einige Autoren betrachteten daher die D D R und ihre Führung als „illegitimen Staat". 4 Die Parteiführung hatte sich zudem nie praktisch von Moskau und dem sowjetischen Diktatur-Modell losgesagt.5 Die so entstandene Abstinenz der Legitimation zwang die Parteiführung dazu, immer umfassendere sowie auf Gewalt und Unterdrückung aufbauende Herrschaftsmittel zum Machterhalt einzusetzen. 6 4

Mary F U L L B R O O K , Anatomy o f a Dictatorship. Inside the G D R 1 9 4 9 - 1 9 8 9 , New York 1995, S. 4ff.

5

Die Verbundenheit der D D R gegenüber dem Hegemon U d S S R verankerte die SED-Führung sogar 1 9 7 4 erneut in ihrer Verfassung: Art. 6, Absatz 6 der Verfassung der D D R von 1968, worin die „allseitige Zusammenarbeit und Freundschaft mit der Sowjetunion" bekräftigt wird, sowie Art. 6, Absatz 2 der DDR-Verfassung von 1974, worin sich die D D R selbst „für immer und unwiderruflich mit der Sowjetunion verbündet".

6

Ehrhart N E U B E R T , Politische Verbrechen in der D D R , in: Courtois, Stephane u. a. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München u. a. 1998, S. 834f.

A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l und die S E D - S t a a t s m a c h t

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Wegen der fehlenden Legitimation war die Parteiführung darauf angewiesen, gezielt Feindbilder zu schaffen. Die Feindbilder sollten den Zusammenhalt der DDRGesellschaft fördern und die Macht der SED sichern.7 Dieser „Feind" entstand aus Sicht des SED-Regimes vorwiegend aus dem „Chaos der westlichen Zivilisation".8 Zu den Feindbildern gehörten politische und „bürgerliche" Einrichtungen im Westen, denen die SED-Führung Imperialismus und Antikommunismus vorwarf und damit eine „subversive Unterwanderung" der DDR unterstellte. Am Ende betraf dieser Vorwurf all diejenigen Organisationen und Einrichtungen im Westen, die die DDR in irgendeiner Form kritisierten. Dazu gehörten auch Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten, wie die von Amnesty International. Gleichzeitig musste die SED ihre eigenen „Feinde produzieren", um die „Revolution in Schwung" zu halten und um die Bevölkerung hinter sich zu vereinen.9 Amnesty International wurde als heterogen und chaotisch wahrgenommen, letztlich aber verstand der SED-Apparat die demokratische und ehrenamtliche Führungs- und Entscheidungsstruktur der Organisation nicht und stufte sie daher als „chaotisch" ein. Denn diese basisorientierte Organisationsstruktur entsprach nicht dem politischen Handlungsverständnis einer diktatorisch agierenden Einheitspartei. Die A r b e i t v o n A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l z u r D D R

Der Einsatz von Amnesty International in der DDR war seit der Gründung der Organisation 1961 bis zum Ende der DDR 1990 stets vom Ost-West-Konflikt der beiden Supermächte Sowjetunion und USA überschattet. Im Osten gab es zudem kaum Handlungsfreiheiten für Menschenrechtsorganisationen. Die meisten operierten illegal und im Untergrund. Im politischen Schlagabtausch staatlicher Vertreter beider Seiten spielte die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte jedoch stets eine wichtige Rolle. Ost und West warfen sich gegenseitig vor, die Menschenrechte nicht hinreichend zu achten. Am 28. Mai 1961 erschien in der britischen Zeitung The Observer ein Artikel unter der Uberschrift Theforgotten prisoners.10 Der britische Anwalt Peter Benenson hatte den Artikel geschrieben. Er reagierte damit auf die Verhaftung zweier portugiesischer Studenten. Die beiden jungen Männer hatten im damals diktatorisch regierten 7 8 9

DEUTSCHER BUNDESTAG (Hg.), Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Band VII, 1, Baden-Baden 1995, S. 238. Sigrid MEUSCHEL, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 19. Ilko-Sascha KOWALCZUK, Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, in: DEUTSCHER BUNDESTAG (Hg.), Materialien der Enquete Kommission, Band VII, 2, S. 1207-1208.

10 The Observer, 28. Mai 1961, S. 21. 48

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Portugal einen Toast auf die Freiheit gesprochen und waren dafür zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Benenson rief die Leser des Observers dazu auf, Briefe für die Freilassung der beiden Studenten und zahlreicher anderer politischer Gefangener in der Welt zu schreiben. Dabei unterstrich der Anwalt, dass es in allen Regimen, ob Ost oder West, Gefangene gebe, die aufgrund ihrer politischen oder religiösen Ansichten inhaftiert seien. Für seine Idee, mit Hilfe von Briefen an die betreffenden Regierungen auf das jeweilige Schicksal der Inhaftierten aufmerksam zu machen, suchte er Mitstreiter. Mit dieser Aktion gelang es ihm, Gleichgesinnte zu finden. Die Initiatoren der Kampagne achteten darauf, die Freilassung von politischen Gefangenen in allen politischen Blöcken zu fordern. In Zeiten des Ost-West-Konflikts hieß das, dass sich die Amnesty-Aktivisten überparteilich sowohl für politische Gefangene aus einem kommunistischen, aus einem kapitalistischen als auch aus einem so genannten Entwicklungsland einzusetzen hatten.11 Dieses Mandat änderte sich ab den 1990er Jahren grundlegend und wurde später von der Organisation ganz aufgehoben. Heute setzt sich Amnesty im Rahmen ihrer Vision und Mission für ein breites Spektrum von sozialen, kulturellen, religiösen, politischen, zivilen und anderen Menschenrechten weltweit ein.12 Zunächst aber bemühte sich Amnesty International in den 1960er Jahren qua Gründungsaufruf unparteiisch sowohl in Ost als auch in West Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Die Organisation musste jedoch schnell feststellen, dass sie im Osten nicht geduldet war und im Westen nur so lange, wie sie genügend Beweise für Menschenrechtsverletzungen im Ostblock erbringen konnte. Die SEDFührung vertrat konsequent die Haltung, dass Amnesty International die DDR nur verleumden wolle und ein Handlanger des Westens sei. Deshalb verweigerten offizielle Stellen die Gründung von Amnesty International in der DDR sowie die Einreise ihrer Vertreter. Zehntausende von Amnesty-Briefen und Appellen aus über 30 Ländern trafen in der DDR in den folgenden Jahren ein. Sie wurden in dem gesamten Zeitraum von 1961 — 1989 von der Staatssicherheit abgefangen, registriert, ausgewertet und archiviert, aber nicht beantwortet. Amnesty-Gruppen aus der Bundesrepublik Deutschland sollten auf Wunsch des Internationalen Sekretariats in London nicht an den Aktionen zur DDR teilnehmen. Dort ging man zur Zeit des Kalten Krieges davon aus, dass die Appelle und Schreiben nur als „feindliche Aktionen der Bonner Republik" von der Staatssicherheit eingestuft werden würden - nicht aber als genuine Menschenrechtsanliegen einer internationalen Organisation. Daher galt hier die Amnesty-Anordnung „keine Arbeit zum eigenen Land oder einem Land, das histo11 Marsha BRONSON, Organizations that help the world. Amnesty International, Herbst 1992, S. 37; Johnathan POWER, Amnesty International - The human rights story, Oxford 1981. 12 Sie hierzu die aktuellen Amnesty International Berichte und Aktionen unter www.amnesty.de (Stand: 2009).

A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l u n d die S E D - S t a a t s m a c h t

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risch dem eigenen nahe steht". Dies galt beispielsweise auch für Amnesty-Gruppen in Südkorea, die deshalb nicht zu Nordkorea arbeiteten. Nach außen versuchten DDR-Vertreter und Repräsentanten Amnesty zu ignorieren. Doch der permanente Druck der Organisation auf das SED-Regime in Ostberlin zeigte mit den Jahren Wirkung. In den 28 Jahren, in denen Amnesty International in der D D R tätig war, stellte die Organisation fest, dass sich die Haftbedingungen der von ihnen Betreuten in den Gefängnissen verbesserten, die überwiegende Mehrzahl der Amnesty bekannten politischen Gefangenen kamen vorzeitig frei. Innerhalb des Staatsapparates fanden lebhafte Diskussionen darüber statt, inwiefern sich die D D R internationalen Menschenrechtsstandards anpassen solle und gleichzeitig ihr Gesicht wahren konnte, ohne dabei die eigene Macht aufs Spiel zu setzen. Obgleich Amnesty nie beweisen konnte, dass aufgrund ihres Engagements sich die Menschenrechtslage in der D D R verbessert hatte, so ist aufgrund der heutigen Recherchen in den Archiven nicht mehr zu leugnen, dass den SED-Machthabern die Aktivitäten von Amnesty International nicht gleichgültig bleiben konnten und ihre Aktionen direkte und positive Konsequenzen für Inhaftierte und Angeklagte hatten.13 Das Internationale Sekretariat von Amnesty International in London registrierte nach dem Ende der SED-Diktatur insgesamt 2.107 Adoptionsfälle. Ein Adoptionsfall bedeutete, dass eine Amnesty-Gruppe beispielsweise den Fall eines politischen Gefangenen betreute bzw. ihn „adoptierte" und sich daraufhin für ein faires Gerichtsverfahren, bessere Haftbedingungen oder seine Freilassung bei den staatlichen Stellen und Haftanstalten in der D D R einsetzte. Dabei muss jedoch hinzugefügt werden, dass in den ersten Jahren nur unregelmäßig Statistik geführt wurde. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen. Ermittlungsfälle, bei denen nicht sicher war, ob es sich tatsächlich um gewaltlose politische Gefangene handele, registrierte die Londoner Zentrale gar nicht. Ihre Anzahl muss auf2.000 bis 3.000 geschätzt werden.14 Insgesamt dürfte die Anzahl aller DDR-Fälle, um die sich die Organisation bis 1989 insgesamt gekümmert und nachrecherchiert hat, bei über 5.000 Gefangenen liegen. Bedenkt man außerdem, dass sich die Gesamtzahl der politischen Gefangenen nach internationalen Schätzungen zwischen 175.000 bis 231.000 beläuft, so konnte Amnesty International nur einen Bruchteil und deshalb auch nur exemplarisch Gefangene in der D D R betreuen. Anfang der 1960er Jahre, zu Beginn ihrer DDR-Arbeit, schätzte Amnesty International die Anzahl der politischen Gefangenen „nur" auf mehrere Tausend. In der Ausgabe Amnesty vom Februar 1962 gibt Amnesty International die Schätzung

13

D e t a i l i e r t e A n g a b e n , F u n d o r t e und D o k u m e n t e hierzu

finden

sich in: A n j a M I H R ,

Amnesty

International in der D D R - M e n s c h e n r e c h t e im Visier der Stasi, Berlin 2 0 0 2 . 14

A m n e s t y International, International Secretariat L o n d o n , S u m m a r y o f numbers o f G D R cases ( S t a n d : 1.6. 1 9 9 8 ) .

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I Anja Uihr

anderer Organisationen mit 9.000 bis 14.000 Gewissensgefangenen wieder. In späteren Studien von 1966 sind es ca. 6.000 und in Publikationen aus den 1970er Jahren schätzte die Organisation deren Anzahl auf3.000 bis 4.000 jährlich. Durchschnittlich 2.000 politische Gefangene jährlich vermutete Amnesty International in den späten 1980er Jahren. 15 Bei Gefangenen, die nicht unter das Mandat von Amnesty International fielen, aber dennoch gesundheitlich schwer unter der Haft litten, appellierte die Organisation aus rein humanitären Gründen für die Freilassung. Die Amnesty International-Medizinergruppe in Dänemark stellte dann eigens Recherchen an, um eine vorzeitige Haftentlassung aus Gesundheitsgründen begründen zu können. 16 Bei der sogenannten Adoption oder Ermittlung über politische Gefangene gab es keinerlei Einschränkung betreffend der Nationalität eines Gefangenen. Beispielhaft dafür steht Hussein Yasdi, ein Iraner, der nach dem Mauerbau 1961 DDR-Bürgern bei der Flucht nach Westberlin geholfen hatte und dafür 1962 zu lebenslänglicher Haft in der DDR verurteilt wurde, die er im Gefängnis der Staatsicherheit Bautzen II verbringen sollte. Seine Familie lebte in Westberlin. Eine Amnesty-Gruppe aus Schweden setzte sich seinerzeit für ihn ein und forderte seine Amnestierung. Was aus ihm geworden ist, ist leider nicht bekannt. Amnesty konnte aufgrund knapper Ressourcen und dem zeitlich begrenzten ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder in den ersten Jahren ihres Bestehens nur ein gutes Dutzend politische Gefangene in der DDR jährlich adoptieren. Es handelte sich dabei in der Regel um prominente Fälle, wie den Philosophen Wolfgang Harich, den Schriftsteller Erich Loest oder den von West- nach Ostberlin verschleppten und inhaftierten Gewerkschafter Heinz Brandt. Deren Schicksale waren durch die internationale Berichterstattung so gut bekannt, dass es einer näheren Recherche nicht bedurfte. Mitte der 1970er Jahre pendelte sich die Anzahl der Adoptionsfälle auf durchschnittlich hundert Gefangene pro Jahr ein. 17 Das lag zum einem an den effektiveren Methoden der Informationsbeschaffung von Amnesty und dem größeren Gruppenaufgebot ehrenamtlicher Aktivisten in immer mehr Staaten. Dies lag aber auch an der veränderten politischen Strafgesetzgebung der DDR nach 1968 und 1979. Einige Artikel standen seit 1968 eindeutig im Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und 15 Johannes RASCHKA, Justizpolicik im SED-Staat. Anpassung des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Bd. 13), Köln u. a. 2000, S. 324-325 und: MRC-MSS SAIAIMANU: Amnesty News, Februar 1962. 16 Amnesty International-Index EUR 22/03/77, EUR 22/17/85, EUR 22/04/87, sowie BArch-Berlin, SAPMO D 0 1 - 3 2 . 0 - 4 9 0 1 9 und D01-32.0-48488: Schreiben von Amnesty International-Gruppe aus Southampton, Großbritannien an Friedrich Dickel vom 10.4.1984; vgl. hierzu auch: AMNESTY INTERNATIONAL, Jahresbericht 1987-1988, Frankfurt a. M. 1988, S. 395. 17 AMNESTY INTERNATIONAL, Jahresbericht 1985, Frankfurt a. M. 1985, S. 355. A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l u n d die S E D - S t a a t s m a c h t

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Politische Rechte und den KSZE-Vereinbarungen, die allesamt von der SED-Führung anerkannt oder ratifiziert worden waren. Die klare Verletzung der darin verankerten Menschenrechte versetzte Amnesty International nun auch vom Ausland aus deutlicher in die Lage zu unterscheiden, welche Verurteilungen von Personen den internationalen Menschenrechtsstandards widersprachen. Dennoch musste sich Amnesty International immer wieder den politischen Umständen in der DDR anpassen. Nach einer Phase der „Toleranz" gegenüber Andersdenkenden reagierte das SED-Regime regelmäßig mit einer Phase verstärkter Repressionen. Inhaftierungswellen von unterschiedlichen Ausmaßen waren die Folge. Für Amnesty International hatte dies eine Erhöhung der Adoptionsfälle zur Folge, in der Regel aufgrund der Repressionen gegen die steigende Anzahl der Ausreiseantragsteller. 1984 adoptierten beispielsweise die vier Ländersektionen Skandinaviens, Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden zusammen 30 neue Amnesty International-Fälle in der DDR, zu den bereits bestehenden 46 Fällen. Eine Steigerung von fast 70% die von ehrenamtlichen Gruppenmitgliedern zusätzlich zu den Gefangenen in anderen Ländern der Welt betreut werden mussten. 18 Allerdings hatte die Mehrzahl der von Amnesty International betreuten Inhaftierten ab 1979 Haftstrafen von weniger als zwei Jahren zu verbüßen. Das lag einerseits an den Strafrechtsreformen von 1977 und 1979, andererseits auch an den inzwischen mehrmals jährlich stattfindenden „Freikäufen".19 Es wurden pro Jahr durchschnittlich 1.300 politische Gefangene aus der DDR „freigekauft" und in der Regel verbrachten die Häftlinge nur die Hälfte der Haftzeit hinter Gittern. Von Bedeutung war dies für Amnesty International insofern, weil ihre Gruppen sich nicht lange mit einem Fall beschäftigen konnten. Viele politische Gefangene waren frei, bevor Aktionen und Kampagnen gestartet werden konnten. Deshalb entschied die Zentrale in London, Fälle in der DDR nur bestimmten und erfahrenen Gruppen zuzuteilen, die aus Erfahrung schneller handeln konnten. 20 Aktivisten aus den oppositionellen Bewegungen in den sozialistischen Staaten waren in besonderem Maße von mehrmaligen Verhaftungen betroffen. Aber anders als in anderen osteuropäischen Ländern, gelang es Amnesty International erst ab den 1980er Jahren engeren Kontakt zu den oppositionellen Gruppen in der DDR herzustellen. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits festere Gruppenstrukturen und ständige Ansprechpartner, die es vorher nicht gegeben hatte. 21 Als es am 17. Januar 18 AMNESTY INTERNATIONAL-Sektionsbüro, Stockholm: Coordination Group Report, 2' half 1984, ca. Januar 1985. 19 Siehe auch den Beitrag von Bernd LIPPMANN in diesem Band. 20 IISH-Bestand Amnesty International Mikrofilm 260: Amnesty International-Index: EUR 02/01/83: AMNESTY INTERNATIONAL: International Meeting on Eastern Europe 3.-4.12.1983. 21 Detlef Pollack/Dieter Rink (Hg.), Zwischen Verweigerung und Opposition, Politischer Protest in der DDR 1970-1989, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 54-77.

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1988 im Rahmen der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Ostberlin zu Massenverhaftungen von rund 160 Demonstranten und Mitgliedern der Friedens- und Menschenrechtsbewegung kam, konnte Amnesty International dank guter Kontakte nach Ostberlin innerhalb weniger Stunden darauf reagieren.22 Amnesty International adoptierte damals zwölf Personen und sorgte für weltweite Proteste durch so genannte „Eilaktionen" ( u r g e n t actions) in Form von Faxen oder Eilbriefen mit der Forderung nach sofortiger Freilassung. Das Thema der Glaubens- und Religionsfreiheit in der DDR war für Amnesty International vor allem in den 1960er Jahren relevant. Betroffen davon waren überwiegend die Zeugen Jehovas. Die SED-Führung betrachtete die Zeugen Jehovas als „staatsfeindliche Sekte" und verbot ihre Glaubensausübung. Viele Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, so merkte Amnesty International an, saßen seit 1939 fast kontinuierlich im Gefängnis. Zuerst unter dem Hitler-Regime und später in der Ära Ulbricht und Honecker. Die Glaubensfreiheit war auch bei evangelischen und katholischen Christen eingeschränkt, sofern sie sich der seit 1962 geltenden allgemeinen Wehrpflicht in der DDR aus religiösen Gründen entziehen wollten.23 Jährlich konnte das bis zu einem Dutzend vor allem protestantische Gläubige betreffen. Eine systematische Verfolgung von Christen konnte Amnesty International aber seit den 1970er Jahren nicht mehr feststellen.24 In einem umfangreichen Bericht der Organisation über „Intoleranz und Diskriminierung gegen Gläubige" von 1984 wird die DDR nicht als Land genannt, in dem systematische religiöse Verfolgung stattfindet.25 Durch die Politik der Öffnung des sowjetischen Regierungschefs Michail Gorbatschow Mitte der 80er Jahre wurden auch die einstmals closed societies des Ostblocks zunehmend transparenter. Das hatte zur Folge, dass Informationen aus diesen Ländern stärker nach außen flössen und Amnesty International gleichzeitig mehr Informationen über ihre Arbeit in diese Länder verteilen konnte. Ende 1988 und Anfang 1989 registrierte Amnesty International in den Staaten des Ostblocks erste Gründungen von Amnesty-Gruppen, die aber aufgrund ihrer illegalen Tätigkeiten im Untergrund agieren mussten und daher von Internationalen Sekretariat in London offiziell nicht anerkannt wurden.

22 Vgl. Ehrhart NEUBERT, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, S. 696699. 23 AMNESTY INTERNATIONAL, Politische Gefangene in der DDR, London/Köln 1967, S. 18. 24 Karl-Wilhelm FRICKE, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984, S.144. 25 Amnesty International-Index POL 03/05/84: External, Intolerance and Discrimination on Ground of Religious or Belief, November 1984. A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l und die S E D - S t a a t s m a c h t

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DDR Menschenrechtspolitik und Reaktionen auf Amnesty International In den 1960er Jahren bemühte sich die DDR-Regierung ebenso wie auch die Regierung der Bundesrepublik intensiv um die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Um ihren Bemühungen Nachdruck zu verleihen, ließ sie keine Gelegenheit aus zu betonen, dass die DDR die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO sowie die 1966 ausgearbeiteten Menschenrechtspakte über die sozialen (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, IPWSKR) und die politischen Menschenrechte (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, IPBPR) anerkenne. Obgleich die darin zum Ausdruck kommenden Rechte in vielerlei Hinsicht dem Menschenrechtsverständnis der SED widersprachen, erkannte die Staatsführung die internationalen Vereinbarungen offiziell an. Nach dem Beitritt zur UNO hieß die langfristige Devise der Parteiführung sogar, „permanent und kontinuierlich" allen Konventionen beizutreten, gegebenenfalls mit Vorbehalten und Einschränkungserklärungen. Unter Einschränkung verstand die SED-Führung, dass bei der Diskussion um die Menschenrechte jede Form der „Einmischung in die inneren Angelegenheiten" abzuwehren sei. 26 Ihrem sozialistischen Menschenrechtsverständnis entsprechend, bezeichnete die DDR-Führung die sozialen Menschenrechte als die „obersten Menschenrechte". Darunter verstand die SED etwa das Recht auf Ernährung und Frieden. Nach Auffassung der SED-Führung, die allerdings der Wirklichkeit und dem Alltagsleben in der DDR widersprachen, waren demnach die sozialen Rechte in der DDR im vollen Umfang verwirklicht. Die internationalen Menschenrechts-Erklärungen, Pakte und Verträge, welche die SED-Führungunterzeichnet hatte, führten schließlich dazu, dass sich die Interpretation des Begriffs „Menschenrecht" langsam wandelte. Waren Menschenrechte laut offizieller DDR-Ideologie in den 1950er Jahren noch Rechte, die allein dem „Schutz der herrschenden Klasse im Westen" dienten, so waren sie in den 1970er Jahren bereits Teil der „allseitigen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft" und dazu gehörte auch die sozialistische Gesellschaft in der DDR. 2 7 Die offiziell lautende Definition von Menschenrechten passte sich damit aber nur geringfügig dem internationalen Menschenrechtsverständnis an. Vielmehr vertraten die Ideologen des SED-Staats konsequent die Auffassung, es gebe keine unveräußerlichen, angeborenen und von einer Gesellschaftsform unabhängigen Menschenrechte. Diese 26

27

BArch-Bcrlin, S A P M O : DY-30-J IV-1515: Protokoll des Politbüros: Konzeption zur Wahrnehmung der Mitgliedschaft der DDR im E C O S O C vom 28.6.1974. Zur Position der DDR bei der U N O und der Konfrontation mit westlichen NGO siehe: Wolfgang Spröte/Harry Wunsche, Die U N O und ihre Spezialorganisationen, Berlin 1983 und Georg Brunner/Eckart Klein, Internationale Menschenrechtsverpflichtungen der DDR, in: GeorgBRUNNER (Hg.), Menschenrechte in der DDR, Baden-Baden 1989, S. 15-48, hier S.18. Lexikon A-Z, Leipzig 1962; Meyers Neues Lexikon, Bd. 9, Leipzig 1974.

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waren aus offizieller Sicht ausschließlich eine rein westliche Idee. Vielmehr müssten die Menschenrechte sich den „objektiven Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft", das heißt in ihrem Verhältnis zum Staat und damit der offiziellen Politik der SEDFührung, anpassen. Damit unterstrichen die Ideologen, dass es allein der politischen Elite in der DDR oblag festzulegen, welche Rechte dem einzelnen DDR-Bürger zustanden und wie flexibel sie je nach politischer Stimmung zu handhaben waren. Als mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki im August 1975 ein Menschenrechtskatalog vereinbart wurde, der alle wesentlichen politischen Menschenrechte beinhaltete, musste sich die DDR auch demgegenüber mit den Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte auseinandersetzen. Die in der Schlussakte in Korb III vereinbarte „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen" hatte vor allem zur Folge, dass die Bürger der DDR gegenüber ihrer Regierung auf mehr Reisefreiheit, Familienzusammenführung und Informationsfreiheit pochten. In den Folgekonferenzen der KSZE der 1970er und 1980er Jahre wurden diese Menschenrechtsprinzipien stärker konkretisiert, worauf das SED-Regime mit Strafrechtsreformen reagierte - was nicht automatisch eine Liberalisierung des Strafrechts bedeutete. Parallel zu den Konferenzen forderten vor allem Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International eine Implementierung in die staatliche Gesetzgebung. In Zuge der internationalen Annährung und auf die Gefahr hin, damit die Menschenrechte in der DDR einhalten „zu müssen", wurde das Strafgesetzbuch der DDR von 1957 bereits 1968 durch ein „sozialistisches Strafgesetzbuch" ersetzt. Weitere Strafrechtsänderungsgesetze von 1974, 1977, 1979 und 1987 folgten. 28 Insbesondere die Änderung von 1979 bewirkte, dass politische Freiheits- und Menschenrechte stark beschnitten werden konnten. Indirekt gestand die SEDFührung dadurch auch ihre zunehmende Schwäche und ihren Verlust an Macht ein. Die DDR-Bevölkerung sollte nunmehr stärker durch Gesetze diszipliniert werden. Die Zugeständnisse, welche die Staatsführung auf internationaler Ebene durch den Beitritt zur UNO und die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte gemacht hatte, kompensierte sie auf nationaler Ebene durch eine schärfere politische Gesetzgebung. Für geringste Zuwiderhandlungen, zum Beispiel dem Austausch von Informationen über die KSZE-Schlussakte oder Kritik an der SED-Regierung und dem sozialistischen Status Quo, konnten Menschen ins Visier der Staatssicherheit gelangen. 29

28 29

RASCHKA,Justizpolitik. Die häufigsten Anklagepunkte beriefen sich laut Strafgesetzbuch der DDR auf „Landesverräterische Nachrichtenübermittlung" (§99), „Landesverräterische Agententätigkeit" (§100), „Staatsfeindliche Hetze" (§106), „Verfassungsfeindlicher Zusammenschluss" (§107), „Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele" (§218), „ungesetzliche Verbindungsaufnahme" (§219) und „Öffendiche Herabwürdigung" (§220).

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Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die SED-Führung keineswegs die Absicht hatte, internationale Menschenrechtsstandards einzuhalten. Die Ratifizierung von internationalen Verträgen diente allein dazu, internationales Prestige zu gewinnen. In der Praxis verletzte das Regime täglich Menschenrechte. 30 Die Einhaltung grundlegender Freiheitsrechte in der D D R indes hätte Zugeständnisse der Parteiführung erfordert, die ihre Macht eingeschränkt hätte. Politische Partizipation, freie Wahlen, die Zulassung von unabhängigen Parteien und Bürgerrechtsgruppen hätten die Konsequenzen sein müssen. Im Falle von Freizügigkeit im Reiseverkehr wäre die Regierung das Risiko eingegangen, dass noch mehr Menschen aus Unzufriedenheit mit dem Regime das Land verlassen hätten. Bei strikter Einhaltung dieser Menschenrechte wäre das SED-Regime sogar Gefahr gelaufen, sich selbst aufzulösen. Das aber versuchte die politische Elite und die Staatssicherheit mit allen Mitteln zu verhindern. Aufgrund dieses Selbstverständnisses der Parteiführung wurde der Begriff des „politischen Gefangenen" in der D D R offiziell vermieden, denn diesen hatten Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International seit den 1960er Jahren international bekannt gemacht. 1977 versuchte die D D R sogar bei der U N O den Vorschlag durchzubringen, den Begriff des politischen Gefangenen durch den Begriff „Kämpfer gegen Kolonialismus und Rassismus" zu ersetzen. 31 Aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen war es jedoch völlig gleichgültig, ob die D D R offiziell von politischen Gefangenen sprach oder es unterließ, denn sie verletzte regelmäßig international anerkanntes Menschenrecht, wenn sie aus politischen Gründen Menschen inhaftierte. Das SED-Regime verfolgte während des vierzigjährigen Bestehens der D D R Hunderttausende Personen wegen ihrer politischen Ansichten oder ihrer Haltung zur politischen Führung. 32 Die meisten politischen Gefangenen wurden in den 1950er Jahren - noch vor dem Mauerbau - verurteilt. 33 Hierzu gehörten vor allem die Opfer der „Säuberungsaktionen" innerhalb der Partei und der Waldheim-Prozesse bis Anfang der 1950er Jahre. Nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht niedergeschlagen wurde, inhaftierte das SED-Regime allein über 8.000 Personen wegen angeblich „faschistischen Putsches" gegen die Parteiführung. 34 Tatsächlich aber waren die Demonstranten 30

Eckart KLEIN, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, Baden-Baden 1997, S. 12.

31

BArch-Berlin, SAPMO D P - l - S E - 1 4 3 9 : MdJ, Abteilung Rechts- und Vertragswesen: Argumentation zur Auseinandersetzung mit der Verleumdungskampagne imperialistischer Staaten wegen angeblicher Verfolgung und Inhaftierung von Personen in der D D R wegen ihres politischen Denkens, 13.7.1977.

32

Vgl. Karl-Wilhelm F R I C K E , Weder Konzentrationslager noch politische Gefangene in der D D R , in: Deutschland Archiv 2 (1987), S. 160; und: Stefan Pribe/Doris Denis, Gesundheitliche und psychische Folgeschäden politischer Verfolgung im Hinblick auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung, in: D E U T S C H E R B U N D E S T A G (Hg.), Materialien der Enquete Kommission, Bd. II, 1, S. 296.

33

Falco W E R K E N T I N , Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 405ff.

34

Hermann W E B E R , Die D D R 1 9 4 5 - 1 9 9 0 , München 2000, S. 42f.

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für Preissenkungen und eine Herabsetzung der hohen Arbeitsnormen auf die Straße gegangen. Uber 33.000 politische Gefangene „verkaufte" das Regime von 1963 bis 1989 im Rahmen der „besonderen humanitären Bemühungen" an die Bundesrepublik Deutschland. Die politischen Gefangenen brachten der DDR fast 3,5 Mrd. DM (ca. 1,75 Mrd. Euro) an Devisen bzw. Rohstoffen und Lebensmitteln ein. Rechnet man dies auf die heutigen Verhältnisse um und bedenkt man, dass in der DDR ca. 18 Millionen Menschen lebten, so ist dies ein nicht unerheblicher Bestandteil des Staatshaushaltes. Hinzu kam, dass mit dem „Verkauf" ihrer Häftlinge die SED-Führung letztlich zugab, dass Menschen aus politischen Gründen in der DDR inhaftiert waren, denn die Bundesregierung in Bonn „kaufte" in der Regel nur solche DDR-Häftlinge frei, die aus politischen Gründen inhaftiert worden waren. 35 I n t e r n a t i o n a l e B e m ü h u n g e n , die U N O u n d d e r D r u c k v o n „ a u ß e n "

In den ersten Jahren der Aktivitäten von Amnesty International zur DDR wussten weder die staatlichen Stellen der DDR, wie sie mit der Organisation umzugehen hatten, noch war sich Amnesty International über die effektivsten Strategieformen bei ihrer Arbeit gegenüber der DDR im Klaren. In den „geschlossenen" Diktaturen des Ostblocks, wie sie genannte wurden, war es stets ausgeschlossen, offizielle Reaktionen zu erhalten oder gar Gefangenenbesuche und Kontakt zu den Angehörigen von Verurteilten aufzunehmen. Deshalb taktierte die Organisation anfangs noch mit unterschiedlichen Formen von Aktivitäten und Engagement. Als eine der ersten weltweit operierenden Menschenrechtsorganisationen mit ehrenamtlichen Mitgliedern konnte Amnesty International schließlich nicht auf Erfahrungen anderer Organisationen beim Umgang mit dem Thema Menschenrechte zurückgreifen. Ebenso wenig war in den ersten Jahren einzuschätzen, welches Durchhaltevermögen Amnesty InternationalMitglieder an den Tag legen würden. Daher war auch die Wirkung der durchgeführten Aktivitäten und angewandten Methoden weder für Amnesty International selbst, noch für den SED-Machtapparat in den 1960er Jahren fest kalkulierbar. Das änderte sich erst in den 1970er Jahren, nachdem Amnesty International auf ein festgeschriebenes Mandat zurückgreifen konnte, sowie konkrete Strategiepläne aufgestellt hatte. Demgegenüber konnte auch die Staatssicherheit inzwischen auf Erfahrungen mit Amnesty International zurückgreifen. Die seit Ende der 1970er Jahre regelmäßig durchgeführten größeren AmnestyAktionen wie weltweite öffentlichkeitswirksame Kampagnen erfüllten den Zweck, dass die Menschenrechtsverletzungen des SED-Regimes regelmäßig in der interna35 Vgl. Ludwig REHLINGER, Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten, Frankfurt a. M., Berlin 1991.

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tionalen Öffentlichkeit angeprangert wurden. Die Organisation war auf mehrere Tausend Mitglieder weltweit gewachsen. Appelle und Anfragen erreichten das SEDRegime aus über 30 Ländern. Von Kanada, den Färöer-Inseln, über Venezuela, Sierra Leone bis Indien, Südkorea und auch aus Japan trafen Briefe, Unterschriftenlisten und Flugblätter in der DDR ein. 36 Da Amnesty bis 1989 insgesamt 62 Ländersektionen sowie Mitglieder und Förderer in mehr als 150 Staaten zählte, kann somit festgestellt werden, dass knapp die Hälfte aller Ländersektionen bis 1990 Gewissensgefangene in der DDR betreute, das entsprach ungefähr 30 Ländern. 37 Hinzu kam die erfolgreiche Einbeziehungen von politischen Eliten im Ausland und anderer gesellschaftspolitisch relevanten Akteure in den 1980er Jahren. Dadurch bewirkte Amnesty, dass sich die SED-Führung stärker öffentlich den Fragen zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR stellen musste. Es kam sogar dazu, dass die DDR Konzessionen gegenüber den „Staatsfeinden" im eigenen Land machte. Obwohl das DDR-Strafrecht in den 1970er Jahren insgesamt verschärft wurde, um auch kleinere „politische Vergehen" zu kriminalisieren und strafbar zu machen, konnte Amnesty International in der Folge des UN-Beitritts 1973 und der KSZEVerhandlungen bis 1975 beobachten, dass geringere Haftstrafen verhängt wurden. Hinzu kam, dass mehr Ausreisewillige ausreisen durften. Von den Bemühungen der SED-Führung, die DDR als internationalen „Friedensstaat" darzustellen, profitierte auch Amnesty International. Denn so konnte die Nichtregierungsorganisation den „Friedensstaat" immer wieder an seine Verpflichtungen erinnern und es gelang ihr sogar, an internationalen Konferenzen in der DDR teilzunehmen, so etwa 1986 bei dem Treffen des Weltverbandes aller U N Fördervereine (World Federation of United Nations Associations, WTUNA) in Ostberlin. 38 Ebenso führten die Bemühungen Amnestys, einen Kontakt zu politischen Meinungsträgern in der DDR herzustellen und sachliche Berichte bei der U N O und KSZE vorzulegen, schließlich auf Seiten der Staatssicherheit 1989, also kurz vor dem Zusammenbruch des SED-Regimes, zu der Erkenntnis, dass die Organisation zu ernsthaften Gesprächen bereit sei. Dazu kam es dann aber aufgrund des Mauerfalls nicht mehr. Die Abkommen über Menschenrechtsstandards der Vereinten Nationen und die internationalen Vereinbarungen der KSZE boten Amnesty International eine gute 36

Nachweislich sind Amnesty-Schreiben aus folgenden Ländern bei der Staatssicherheit und dem Ministerium des Inneren archiviert: Australien, Belgien, Bermudainseln (Großbritannien), Costa Rica, Dänemark, Finnland, Frankreich, Färöer-Inseln (Dänemark), Großbritannien, Griechenland, Hongkong (bis 1997 Großbritannien), Indien, Irland, Island, Israel, Japan, Kanada, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Papua-Neuguinea, Portugal, Schweden, Schweiz, Sierra Leone, Spanien, Süd-Korea, Uruguay, USA, Venezuela.

37 Vgl. hierzu: A M N E S T Y INTERNATIONAL, Jahresbericht 1989, Frankfurt a. M. 1989, S. 594. 38 Amnesty International, Legal Office, International Secretariat: Internal Paper: „Trip to Berlin and attendance at W F U N A Europe Regional Conference in Berlin (GDR) 7-10.9-1986", unveröffentlichtes Protokoll vom 13.9.1986.

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Möglichkeit, die DDR auf internationalem Parkett mit ihren Forderungen zu konfrontieren. Seit 1973 war die DDR Mitglied der Vereinten Nationen, wo Amnesty schon seit 1964 Beraterstatuts hatte. Im März 1976 trat der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Menschenrechte (IPBPR) in Kraft, den die DDR mit ihrer Mitgliedschaft in der U N O unterzeichnete und ratifizierte. 39 Bis 1989 legte die DDR Dutzende von Berichten und Antworten zu unterschiedlichen Menschenrechtsthemen und Anfragen bei der U N O vor. Sie war Vertragspartner von weltweit 24 multilateralen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, von denen aber kaum einer den DDR-Bürgern bekannt war. 40 Nur zweimal musste sich eine DDR-Delegation vor dem eigens zur Überprüfung des Menschenrechtspakts eingerichteten UN-Menschenrechtskomitee in Genf zu den Vorwürfen der Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen. Die Berichterstattung vor dem Menschenrechtskomitee diente der Kontrolle und Überprüfung, inwiefern die Mitgliedsländer die Forderungen des Paktes erfüllten. Das Komitee war bis zum Ende des Ost-West-Konflikts neben der Menschenrechtskommission eines der wenigen Kontrollsysteme für die Einhaltung der Menschenrechte der UNO. Die DDR hat sich allerdings nicht allen Kontroll- und Einflussmöglichkeiten, die der Pakt vorsieht, unterworfen. Die SED-Führung hatte weder das Fakultativprotokoll zur Staatenbeschwerde noch der Individualbeschwerde unterzeichnet. Konkret hieß das: Weder ein anderer Mitgliedstaat noch eine einzelne Person konnte die DDR wegen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des IPBPR anklagen. Das Regime in Ostberlin verpflichtete sich lediglich, in Abständen Länderberichte über die Erfüllung des Paktes einzureichen und sich gleichzeitig der mündlichen Befragung zu stellen. Insgesamt reichte die DDR dem Ausschuss bis 1989 vier Berichte ein: im November 1973 (vor der Gründung des Menschenrechtskomitees), am 28. Juni 1977, am 3. November 1983 und am 18. November 1988. 41 Bei der UNO wurden die DDR-Diplomaten unter anderem mit den Themen zu politischen Gefangenen, dem Hausarrest prominenter Regimekritiker wie Robert Havemann, zum Thema Ausreiseantragsteller, Todesstrafe und Zwangsadoptionen konfrontiert. Der UN-Generalsekretär hatte bereits 1975 der DDR einen Fragebogen zur Todesstrafe zukommen lassen. Während die Vorbereitungen in Ostberlin für die erste Berichterstattung der DDR in Genf liefen, hatte Amnesty im Oktober 1977 den Friedensnobelpreis erhalten und gleichzeitig eine DDR-Kampagne gestartet. Im Rahmen der Kampagne hatte die Organisation bereits Publikationen über Menschenrechtsverletzungen an Ministerien und andere staatliche Einrichtungen 39 40 41

DDR-KOMITEE F Ü R M E N S C H E N R E C H T E (Hg.), Schriften und Informationen, Nr. 2, Berlin 1986, S. 164f. Knut IPSEN, Die Selbstdarstellung der DDR vor internationalen Menschenrechtsorganisationen, in: D E U T S C H E R BUNDESTAG (Hg.), Materialien der Enquete Kommission, Band IV, S. 547ff. Brunner/Klein, Internationale Menschenrechtsverpflichtungen der DDR.

A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l und die S E D - S t a a t s m a c h t

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sowie Massenorganisationen der D D R geschickt. Das Amnesty-Material zur D D R lag auch auf Deutsch vor und wurde von der S E D Staatsführung und der Staatssicherheit sorgfältig geprüft. 42 Amnesty

ging

taktisch vor

und

veröffentlichte zwei Wochen

vor

der

Berichterstattung in Genf eine Pressemitteilung anlässlich der Feierlichkeiten zum dreißigjährigen Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Darin wurde der Fall eines politischen Häftlings in der D D R vorgestellt. Es handelte sich um den von Amnesty vielfach erwähnten Fall des inhaftierten Chirurgen Werner Schälicke. Dieser war ein ehemaliges SED-Mitglied und aktiver Menschenrechtsaktivist, der viele Monate in Isolationshaft verbringen musste. Schälicke war 1974 zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er unter anderem den damaligen Generalsekretär der U N O in einem Brief dazu aufgefordert hatte, die D D R zur Einhaltung der Menschenrechte zu zwingen. Zudem war er schwer krank. Der Zeitpunkt und der Fall dieses Gefangenen waren günstig gewählt. Kurz darauf folgten Protestbriefe von Amnesty aus aller Welt, vor allem aus den USA. Doch so kurzfristig ließ sich die DDR-Führung von den Aktionen und Protestbriefen nicht beeinflussen, auch wenn sie die bevorstehende Berichterstattung beeinträchtigt gehabt haben könnte. Bereits auf frühere Amnesty-Protestschreiben zugunsten von Schälicke wurde eine medizinische Untersuchung angeordnet. Die Vorwürfe von Amnesty hatten sich bestätigt. Nach der Untersuchung befreite der Leiter des Strafvollzugs in Brandenburg Schälicke von seinem Arbeitseinsatz und er wurde medizinisch behandelt. Nach den erneuten Protesten wegen Schälickes Isolationshaft 1978 wurde er während der Dauer der siebenmonatigen AmnestyProtestaktion in die normale Haft verlegt. Es dauerte allerdings noch bis November 1979, ehe die Staatssicherheit ihn im Rahmen der „Freikäufe" in die Bundesrepublik Deutschland entließ. Die DDR-Vertreter wurden bei der mündlichen Berichterstattung zum Pakt über politische Rechte, dann auch mit den Themen Ausreiseantragsteller, Republikflucht, Haftbedingungen in der D D R und Todesstrafe konfrontiert. Die Diplomaten nahmen die Kritik der U N O mit zurück nach Ostberlin. Dort wurde die Berichterstattung ernst genommen. Denn im Falle der D D R mussten sich die Mitglieder des UN-Menschenrechtskomitees keine Sorgen machen, dass die Kritik von außen nicht ernst genommen werden würde. Das Bestreben der S E D nach internationaler Anerkennung war so stark, dass ihre Vertreter sorgfältig darauf zu achten hatten, die D D R nach außen hin positiv darzustellen. So fand denn auch zur Nachbereitung der Berichterstattung seitens des DDR-Außenministeriums und der Delegation zur U N O eigens eine Tagung in Ostberlin statt. In dem abschließenden

42 A M N E S T Y I N T E R N A T I O N A L , Länderreihe DDR, London/Bonn 1977.

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Protokoll wurde handschriftlich vermerkt: „Gegnerlage der UNO falsch eingeschätzt; Versuche fortsetzen".43 Bei der Vorbereitung zur zweiten mündlichen Berichterstattung hatte die DDR ihre Hausaufgaben besser gemacht, wenn auch mit einigen Einschränkungen. Der Bitte des Komitees von 1978, den IPBPR der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, kam die DDR nach. In der vierteljährlich erscheinenden Publikation des staatlichen DDR-Komitees für Menschenrechte veröffentlichte das Komitee Ausschnitte des Menschenrechtspakts. Allerdings fand zuvor eine Zäsur statt, denn es fehlten in der Veröffentlichung die wesentlichen Artikel über die politischen Rechte. Es waren genau die Artikel, mit denen Amnesty die DDR in Tausenden von Briefen konfrontiert hatte: Art. 12 Ausreisefreiheit, Art. 14 öffentliche Prozesse, Art. 18 und Art. 19 Meinungsfreiheit, sowie Art. 21 und 22 Versammlungsfreiheit. 44 Die Veröffentlichung des „lückenhaften" Pakts war ein geradezu peinlicher Kompromiss gegenüber der UN-Forderung. So war die Erfüllung der „Bitte" des Menschenrechtskomitees in dieser Form unterlaufen worden. Kurz vor dem Mauerfall mischte sich Amnesty erneut ein, um mit internationalem Druck eine Reaktion in Ostberlin zu erzeugen. Diesmal wandte sie sich direkt an die UNO. Die Organisation machte im April und im Juni 1989 Eingaben an die UN-Menschenrechtskommission wegen der steigenden Zahl der Kurzzeitinhaftierungen aufgrund anhaltender Demonstrationen und Aktionen gegen den Wahlbetrug vom Mai 1989. Die Eingabe, die die UN-Kennziffer UN/188/89 erhielt, schickte Amnesty ebenfalls an die relevanten Stellen in der DDR. Sowohl der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker wie auch der Außenminister, die Botschafter bei der UNO in New York, Genf und London erhielten von Amnesty je eine Kopie. Ein paar Monate zuvor hatte Amnesty das Buch zur DDR mit dem Titel „Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen" mit einer hohen Auflage in zahlreichen Ländern herausgegeben, auf das ebenfalls hingewiesen wurde. Die insgesamt fünf Fälle von gewaltlosen politischen Häftlingen, die in dem sechsseitigen Schreiben an den Generalsekretär der UNO, Perez de Cuellar, erwähnt wurden, nahm die Staatssicherheit zur Kenntnis. Diese überprüfte wie immer die dort aufgeführten Schicksale und notierte für den Fall einer Rechtfertigung gegenüber der UNO Angaben über Inhaftierung, Verurteilung und Ort des Strafvollzugs der betreffenden Personen. 45 43 44 45

BArch-Berlin, SAPMO, DP1-SE-1410, Hier sind auch Stellungnahmen zu einzelnen Problemen aus der Konvention über zivile und politische Rechte aufgeführt. DDR-KOMITEE FÜR M E N S C H E N R E C H T E (Hg.), Schriften und Informationen, 1 (1980), S. 2 5 - 2 9 . BStU-MfS H A I X - 1 0 0 0 7 : In einem Schreiben vom stellvertretenden Generalsekretär Amnestys, Larry Cox, an Erich Honecker und Javier Perez de Cuellar, Generalsekretär der UNO, mit sechsseitigem Anhang vom 23.6.1989. Darin heißt es u. a.: „Die Menschenrechtsverletzungen in der Deutschen

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Der internationale Druck von „außen" zeigte durchaus Wirkung und führte in vielen Fällen zu Haftverbesserung oder vorzeitigen Entlassungen, in der Regel im Rahmen der „Freikäufe" in die Bundesrepublik. Die Namen von Häftlingen und Angeklagten in den Appellschreiben und Briefen von Amnesty International wurden registriert, überprüft und häufig erhielten die betreffenden Personen dadurch Hafterleichterungen. Die Kooperation zwischen Amnesty International mit der UNO seit den 1970er Jahren bestärkte zudem diese Aktionen und sie wurden dann auch an höchster Stelle in der SED-Führung ernst genommen.

Zusammenfassung Das Ziel von Amnesty International, Gefangene moralisch zu unterstützen, mit Verteidigern, Staatsanwälten und Funktionären ins Gespräch zu kommen, Prozesse zu beobachten oder gar mit Gefangenen direkt zu sprechen, misslang aufgrund der Abwehrpolitik der Staatssicherheit. Die wenigen Ausnahmen, bei denen es Amnesty International-Vertretern dennoch gelang, mit offiziellen Stellen und Funktionären in Kontakt zu treten, waren von der politischen Großwetterlage, zum Beispiel vom verstärkten Wunsch nach internationaler Anerkennung und der Entwicklung im KSZE-Prozess, abhängig. Dennoch hatte Amnesty International durch ihre konstanten Bemühungen, mit offiziellen DDR-Vertretern Kontakt aufzunehmen, der SEDFührung gezeigt, wie ernst die Menschenrechtsorganisation ihre Ziele vertrat und konnte so dem Vorwurf entgegentreten, dass sie die Menschenrechtspraxis der DDR kritisieren, aber nicht mit den Verantwortlichen darüber Gespräche führen wollte. Mit ihrer konsequenten und einheitlichen Arbeitsweise gegenüber der DDR zeigte Amnesty schließlich, dass es ihr nicht um die politische Doktrin des SED-Regimes ging, sondern um die Achtung der Menschenrechte. Nicht in Vergessenheit darf geraten, dass die Möglichkeiten, auf die SED-Diktatur einzuwirken, sich auch dadurch erweiterten, je mehr der Entspannungsprozess zwischen Ost und West voranschritt. Der Beitrag, den Amnesty für die Menschenrechte in der DDR leisten konnte, darf deshalb keineswegs losgelöst von diesem Entwicklungsprozess betrachtet werden, und hierbei insbesondere von den politischen Veränderungen in der Sowjetunion seit 1985. Denn zwar bemühte sich die DDR in den 1980er Jahren nach wie vor, Menschenrechtsverletzungen nicht nach außen dringen zu lassen. Doch die verstärkte Präsenz westlicher Medienvertreter in der DDR und die steigende Zahl der Ausreisenden aus dem Land förderten immer mehr Informationen über die Praktiken des SED-Regimes an die westliche Öffentlichkeit. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International profitierten davon. Demokratischen Republik setzen sich in der Art und Weise fort, wie sie in der Mitteilung von Amnesty International vom 17. April 1989 beschrieben wurden."

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Durch die verbesserte Informationslage war die Organisation in der Lage, in immer kürzeren Abständen Aktionen zur DDR zu starten. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass in dem Zeitraum 1961 bis 1989, in dem Amnesty International sich für die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR engagierte, die Verletzungen internationaler Menschenrechtsstandards in der DDR nicht gänzlich verhindert werden konnten, sich jedoch auch nicht wesentlich verschlimmerten. Amnesty International hat deshalb ihre Ziele zum Teil erreichen können: •

Innerhalb der DDR hat Amnesty ihre Ziele insofern erreicht, dass für einzelne Häftlinge verbesserte Haftbedingungen erreicht werden konnten. Die politischen Gefangenen in den Haftanstalten hat Amnesty jedoch in der Regel nicht direkt mit ihren Schreiben erreichen können. Ebenso scheiterten Versuche, Gerichtsprozesse zu beobachten und zu begleiten. Auch war es unmöglich, mit staatlichen Vertretern in Ostberlin regelmäßig in direkten Kontakt zu treten, um einen Dialog über Menschenrechte zu führen.



Außerhalb der DDR hat Amnesty International durch die Mobilisierung Tausender ehrenamtlicher Aktivisten und Unterstützer weltweit ihre Ziele erreichen können. Da die SED-Führung außerdem daran interessiert war, international an Prestige zu gewinnen, konnten die Forderungen und Proteste von Amnesty insbesondere gegenüber der UNO und seit der KSZESchlussakte nicht mehr ignoriert werden.

A m n e s t y I n t e r n a t i o n a l u n d die S E D - S t a a t s m a c h t

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Moderner Menschenhandel - Freikauf p o l i t i s c h e r H ä f t l i n g e aus der DDR Das Stasi-Museum in Berlin-Lichtenberg Die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße, auch bekannt als Stasi-Museum Berlin-Lichtenberg, hat sich zum Ziel gesetzt, über die DDR aufzuklären, insbesondere über den Staatssicherheitsdienst. Neben „Laufkundschaft" besuchen Schulklassen und Gruppen von Bundeswehrsoldaten und -Offizieren das Museum. Für ausländische Besucher werden Führungen in Fremdsprachen, vor allem Englisch und Französisch angeboten. Die Besucher besichtigen die Arbeitsräume des damaligen Stasiministers Erich Mielke. Unsere Mitarbeiter setzen sich aus ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern, aus ehemaligen politischen Häftlingen und aus Wissenschaftlern, die keinen direkten persönlichen Bezug zur DDR haben, zusammen. Ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) oder andere Funktionäre der SED gehören nicht dazu, weder zur Mitarbeiterschaft noch zum Trägerverein des Museums. Ich bin der Vorsitzende des Trägervereins. Zum Thema „Freikauf" habe ich eine persönliche Beziehung, ich bin einer der im Jahr 1975 Freigekauften. Seit einiger Zeit arbeite ich im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes zu diesem Thema. Der Schwerpunkt meiner Recherchen ist die geheimdienstliche Dimension des Freikaufs in Bezug auf das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Zunächst soll der Freikaufals Phänomen innerhalb der deutschenTeilungsgeschichte dargestellt, sodann zur konkreten Illustration mein persönliches Beispiel angeführt werden.

Zum Begriff des Freikaufs Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR bedeutete, dass die DDR in ausgewählten Haftfällen auf einen Teil ihres Strafanspruchs verzichtete und dafür von der Bundesrepublik Deutschland entlohnt wurde. Diese Entlohnung geschah in Form von geldwerten Leistungen, vornehmlich von Warenlieferungen. Geld wechselte nur am Anfang und später in Ausnahmefällen den (staatlichen) Besitzer.

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Der Freikauf war sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR nicht unumstritten. Im Westen wurde sowohl intern unter den Akteuren als auch in der Öffentlichkeit von Menschenhandel gesprochen, an dem man sich beteilige. 1 Das übergeordnete Ziel, menschliches Leid von Deutschen, die unverschuldet in Not geraten sind, zu lindern, ließ diese Bedenken zurücktreten. Deutsche in der DDR wurden als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes angesehen. Dieses Gesetz wiederum basierte auf dem immer noch geltenden Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahre 1913. Das Festhalten an dem Grundsatz der Verpflichtung gegenüber solchen Staatsbürgern war für die Bundesrepublik Deutschland politisches Axiom, nicht etwa nur ein humanitäres Erfordernis. Im Übrigen folgte daraus auch, dass die DDR nicht als solche anerkannt wurde. Die Existenz eines Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (BMB) oder der Ständigen Vertretungen in Bonn und Ostberlin waren dafür offen sichtbare Zeichen. Mit der KSZE-Schlussakte von 1975, vor allem im Hinblick auf den „Korb III", erhielten die Diskussionen in der Bundesrepublik Deutschland neuen Auftrieb. Insbesondere Menschenrechtsorganisationen, z.B. Amnesty International und die Gesellschaft für Menschenrechte (GfM), klagten von der DDR die Gewährleistung von Ausreisemöglichkeiten ein, wozu sich das Regime eigentlich verpflichtet hatte - so jedenfalls die Interpretation im Westen und in großen Teilen der DDR-Bevölkerung. Obwohl der Freikauf in der DDR nicht öffentlich diskutiert werden durfte, war er natürlich als solcher bekannt. Viele der Ausreiseantragsteller und Flüchtlinge der 1980er Jahre rechneten im Falle des Falles mit dem „Rettungsseil" Freikauf. Wenn alles schief ging, konnte man immer noch auf den Freikauf hoffen. Es gab in den späteren Jahren der DDR sogar Fälle, bei denen ein Scheitern der Flucht geradezu planmäßig in den Freikauf münden sollte. Es liegt nahe und ist empirisch bestätigt, dass der Freikauf auch unter den Gegnern des SED-Regimes in der DDR als eine zweischneidige Sache angesehen wurde. 2 Aber die Hoffnung, die Haftanstalt vorzeitig und dann auch noch in Richtung Westen verlassen zu können, überwog die eher theoretischen Bedenken. Ein wesentliches Argument war dabei, vom Westen aus das SED-Regime viel besser bekämpfen zu können als im Zuchthaus oder nach der Entlassung in der DDR. Allerdings haben sich nur wenige der ehemaligen politischen Häftlinge nach ihrer Entlassung in den Westen aktiv an den Auseinandersetzungen mit der DDR beteiligt. In vielen Fällen wurde das berufliche und private Vorankommen im Westen als wichtiger empfunden als das Einhalten der Verpflichtungen, die man sich während der Haft auferlegt hatte. Zudem mangelte es im Westen an Interesse gegenüber Menschenrechtsverletzungen in 1 2

Dazu bemerkenswert Helmut ROEWER, Im Visier der Geheimdienste, Bergisch-Gladbach 2008, S. 398. ZDF-Sendung mit Jörg DRIESELMANN, „Häftling der Stasi", 1.3.2009.

Freikauf politischer Häftlinge aus der DOR

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der D D R . Wer dennoch politisch aktiv wurde, ist als Kalter Krieger stigmatisiert worden, wie z.B. Karl Wilhelm Fricke. 3 Andere bezahlten für ihre Haltung einen hohen Preis: Die dauerhafte Einreise Verweigerung und, in besonderen Fällen, die Gefahr der Entführung oder des Mordes. 4 Im Wesentlichen verband die SED mit der Freilassung von Häftlingen in den Westen zwei Ziele: Die Erwirtschaftung von Devisen und die Reduzierung oppositionellen und widerständigen Potentials. Beide Komponenten machten der SEDFührung ideologische Bauchschmerzen. Folgerichtig forderte die SED den Ausschluss der Öffentlichkeit, sie forderte von der Bundesrepublik, dass die demokratische Presse „an die Leine" gelegt werden sollte. Die Printmedien, Radio und Fernsehen hielten sich nur zum Teil an dieses Erfordernis. Interessant ist, was Axel Springer, einer der Initiatoren des Freikaufs auf westlicher Seite, dazu sagte. Er meinte, bestimmte Nachrichten, und dabei meinte er Nachrichten, die sich auf den Freikauf beziehen, töteten, anstatt zu informieren. Springer unterstützte den Freikauf von Anfang an. Er befürchtete, dass die SED bei öffentlicher Darstellung dieser Vorgänge den Freikauf zum Erliegen bringt. In der SED-Führung wusste man natürlich durch die Berichte des Staatssicherheitsdienstes, dass große Teile der Bevölkerung alles andere als begeisterte Anhänger der SED-Diktatur waren. Dennoch riskierte man die Freilassung der Häftlinge gegen Geld aus dem Westen. Heute ist empirisch belegbar, dass mit dem Freikauf das oppositionelle Potential keinesfalls abgebaut wurde. Die Anzahl der aus politischen Gründen Inhaftierten 5 schwankte zwar, ging aber im Schnitt nicht zurück, denn die Sogwirkung des Freikaufs war enorm. Schließlich änderte sich die menschenrechtsverletzende Situation in der D D R in keiner Weise. Unter den Freigekauften befanden sich viele Akademiker und Facharbeiter. Der Witzspruch, „Erich macht als Letzter das Licht aus", bekam durchaus eine reale materielle Bedeutung. Irgendwann hätten, satirisch projiziert, die SED-Funktionäre die Arbeit im Staate machen müssen. Aber dazu kam es bekanntlich nicht. 1989 kapitulierten sie, waffenstarrend, vor Kerzenträgern. Systematisch begann der Freikauf am 14. August 1964, als zwei Busse die Haftanstalt des MfS Karl-Marx-Stadt, 6 dem heutigen Chemnitz, in Richtung Westen 3

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Fricke legte eine Vielzahl von journalistischen und von wissenschaftlichen Analysen vor, die Menschenrechtsverletzungen in der D D R dokumentierten, z.B. Karl Wilhelm FRICKE, Politik und Justiz in der DDR, Köln 1979. Der Menschenrechtler Bernd Moldenhauer wurde Anfang der 1980er Jahre von einem MfS-Mitarbeiter getötet. Vgl. Der Spiegel 37 (1981), S.61. Der Verfasser dieses Beitrags sollte in die CSSR gelockt und dann in die D D R entführt werden, vgl. Ausstellung „Bürger im Visier" der BStU, Tafel zu Bernd Lippmann „Eine Entführung war geplant". Je nach Definition betrug die jährliche Anzahl der politisch Inhaftierten zwischen 3000 und 5000 Personen (von etwa 35.000 Gefangenen insgesamt). Siehe unten Anhang 1.

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verließen. Die Busse mit freigekauften Häftlingen fuhren zunächst bis ins Grenzgebiet bei Eisenach. Dort wechselten die Häftlinge im „Wäldchen der Freiheit" den Bus. Busse der Firma Reichert aus Hanau übernahmen die Frauen und Männer, um sie dann in das Notaufnahmelager in Gießen zu fahren. Später fuhren Busse aus dem Westen mit Wechsel-Kennzeichen direkt über die Grenze nach Gießen. Ende der 1980er Jahre wurden die Gefangenen in kleinen Gruppen in normale Interzonenzüge gesetzt. Schon vor 1964 wurden einzelne Aktionen abgewickelt. 7 Die Kirchen einerseits und der Berliner Senat andererseits zeichneten anfangs der 1960er Jahre auf westlicher Seite für Freikauf- und Austauschaktionen verantwortlich. Als die finanziellen Größenordnungen die Möglichkeit der Kirchen überstiegen, trat nunmehr der Staat auf den Plan. Die Freikäufe des Jahres 1964 und später basierten demgemäß auf staatlichen Verhandlungen. Genau genommen gingen solche Aktionen bis in die späten 1940er Jahre zurück. Immer wieder gab es auch vor 1964 einzelne Freikauf- und Austauschaktionen, teils staatlich, teils kirchlich, teils privat finanziert. Eine der bekanntesten Freitauschaktionen wurde am 10. Februar 1962 durchgeführt. Der über der Sowjetunion abgeschossene U2-Pilot Gary Powers wurde gegen den sowjetischen Spion Rudolf Abel ausgetauscht. Auf östlicher Seite spielte dabei ein Rechtsanwalt eine tragende Rolle, der später bei weiteren Austausch- und vor allem bei den Freikaufgeschäften als Vermittler im Auftrag des jeweiligen SED-Vorsitzenden wirkte: Wolfgang Vogel. Vogel wurde 1925 in Schlesien geboren, studierte Jura in Jena und wurde Anwalt in Ostberlin. Im Zusammenhang mit der Flucht seines damaligen Chefs im Ministerium der Justiz, Dr. Rudolf Reinartz, in den Westen am 24. Oktober 1953 geriet er in den Dunstkreis des Staatssicherheitsdienstes. Einige Jahre fungierte er als Geheimer Informator (Gl), 8 später arbeitete er als Beauftragter des SEDGeneralsekretärs gewissermaßen oberhalb der Ebene des Geheimdienstes. Die Grundlage für den Freikauf war ein gemeinsames Interesse der beiden deutschen Regierungen, das jedoch, wie oben dargestellt, höchst unterschiedlich begründet war. Die Differenzen in der Interessenlage traten jedoch hinter pragmatischen Überlegungen zurück. Allerdings gab es ein grundsätzliches Problem, und zwar bis zum Ende des Freikauf im Jahre 1989: Verhandlungen auf Regierungsebene konnte es nicht geben. Der Ausweg bestand darin, die Verhandlungen auf die Ebene von beauftragten Anwälten zu legen. Auf östlicher Seite war von Anfang bis Ende Wolfgang Vogel der beauftragte anwaltliche Mittelsmann. Auf westlicher Seite war es auch von Anfang an und lange Zeit Jürgen Stange, ein Anwalt aus Berlin-Wilmersdorf. Vogel 7

Zum Beginn des Freikaufs siehe Jan Philipp WÖLBERN, Die Entstehung des „Häftlingsfreikaufs" aus der DDR, in: Deutschlandarchiv 5 (2008), S. 8 5 6 - 8 6 7 ; Norbert PÖTZL, Basar der Spione. Die geheimen Missionen des DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel, Hamburg 1997; Maximilian HORSTER, The Trade in Political Prisoners between the Two German States 1962-1989, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 4 0 3 - 4 2 4 .

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Spätere Bezeichnung: IMS (Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit).

F r e i k a u f politischer H ä f t l i n g e aus der D D R

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arbeitete mit mehreren Unteranwälten in den Bezirken der D D R zusammen, Stange mit dem von der evangelischen Kirche beauftragten Rechtsanwalt Reymar von Wedel und vor allem mit den Anwälten Wolf-Egbert Näumann und ÜIo Salm. Hinter den Anwälten standen die jeweiligen Institutionen beider Staaten. Auf östlicher Seite war für die Freikäufe das M f S zuständig, auf westlicher Seite das BMB, das diesbezüglich wiederum mit dem ihm angeschlossenen Gesamtdeutschen Institut zusammenarbeitete. Institutionen aus Ost und West also, die sich als politische Widerparts verstanden, bedienten sich der Anwälte, die zwischen den unterschiedlichen Interesselagen vermitteln sollten. Das Ministerium für Staatssicherheit und der Freikauf Da der Staatssicherheitsdienst ein Instrument der SED zur Machtsicherung war, wurde die Praxis der Freilassung von Strafgefangenen gegen geldwerte Leistungen in die Bundesrepublik Deutschland folgerichtig von der SED-Führung an das M f S delegiert. Innerhalb des Führungs- und Entscheidungsgremiums der SED, dem Politbüro, war der Freikauf vermutlich nie ein Diskussionsthema. Solche Dinge „ließ man Mielke machen". 9 Das Ministerium des Innern und das Ministerium der Justiz, insbesondere die Staatsanwaltschaft, waren selbstverständlich peripher beteiligt. Schließlich verstanden sich die Institutionen der SED als Einheit im System des zentralistisch verfassten Staates. Eine wesentliche Rolle spielte Generalstaatsanwalt Dr. Josef Streit, 10 ein Vertrauter des Anwalts Vogel. Aber die entscheidende Funktion übte in jeder Beziehung das M f S aus. Innerhalb des M f S sind in erster Linie zwei Arbeitsgruppen zu nennen, deren Auftrag die Abwicklung der Entlassungsaktionen war. Die Arbeitsgruppe Flader, zur Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) gehörig, prüfte das personelle Umfeld der Personen, die auf die Freikauflisten kommen sollten. Oberst Manfred Flader war direkt dem letzten Vogel-Kontaktmann Gerhard Niebling unterstellt. Die ZKG wurde eigens wegen der gestiegenen Anzahl von Ausreiseantragstellern nach der KSZESchlussakte von 1975 gegründet. Die Haftsachen selbst prüfte ein Sonderreferat der Untersuchungsabteilung IX unter der Leitung des Oberst Heinz Enke. Die letztendliche Entscheidung für die Freilassung in den Westen wurde in diesem Sonderreferat getroffen, und erst dann von Minister Mielke abgezeichnet. Vermutlich drückte Mielke jeder einzelnen Freilassung seinen Stempel auf. In Einzelfällen behielt sich Mielke, in Abstimmung mit Honecker, selbst die Entscheidung vor. Die beiden Erichs

9 10

Interview des Verfassers mit Günter Schabowski, ehemals Ostberliner SED-Chef und M i t g l i e d des Politbüros der SED, Berlin 1. September 2006. Streit war Sektorenleiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen, 1962 bis 1986 war er Generalstaatsanwalt der D D R . Sein Nachfolger war Günter Wendland.

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trafen dazu regelmäßig dienstags nach der Sitzung des Politbüros unter vier Augen zusammen. Der Anwalt W o l f g a n g Vogel

Der Anwalt Vogel befand sich in einer Rolle, die zwei Seiten des Freikaufvorganges in sich vereinigte. Er war einerseits der Sonderbevollmächtigte des SED-Chefs Honecker und er gehörte damit zu den wichtigsten Funktionären des SED-Staates, andererseits verstand er sich als der Beauftragte der unschuldig Eingekerkerten. Hier ist anzumerken, dass Vogel nachweisbar unter persönlicher Gefahr gegen die Interessen der Stasi hantierte, indem er etwa Unterlagen von Gefangenen, nach denen die Stasi suchte, über seinen anwaltlichen Kanal in den Westen brachte. Weiter ist anzumerken, dass in keinem Fall ein Freigekaufter behauptet hat, dass Vogel wissentlich falsche Aussagen machte, oder dass er jemanden „über den Tisch zog". Die in den neunziger Jahren in den Medien vorgebrachten strafrechtlichen Vorwürfe gegen Vogel wegen unberechtigter Aneignung von Grundstücken zerplatzten wie eine Seifenblase. Vogel war der von Honecker offiziell Beauftragte in Fragen, die mit dem Freikauf in Beziehung standen, und es spricht vieles dafür, dass er sozusagen innerlich in manchen Fällen auf der Seite der Gefangenen stand. Im Übrigen mutmaßte dies sogar die Staatssicherheit. Sie betrachteten den ehemaligen Gl seit den 1960er bis weit in die 1980er Jahre nicht als den Ihren. Private Unterstützungsleistungen

Sowohl im Westen als auch im Osten sind private Unterstützungsleistungen für den Freikauf zu konstatieren. Frau Brigitte Klump, ehemals Bewohnerin der DDR, nunmehr in der Bundesrepublik Deutschland lebend, operierte mit der UNO-Resolution 1503, deren Anwendung die DDR in vielen Fällen zur Freilassung von Gefangenen bewegte. Die Zahlung dafür nahm freilich auch hier die Bundesrepublik vor. Klump agierte ebenso als Einzelperson wie Melanie Weber. In der DDR versuchte Weber, Daten über Häftlinge in Bautzen zum Innerdeutschen Ministerium zu bringen. Sie reiste als Invalidenrentnerin in den Westen und versteckte am Körper Listen mit Angaben über die Gefangenen. Beide Frauen wurden für ihren Einsatz mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, Brigitte Klump 1984 und Melanie Weber zehn Jahre später."

11 Vgl. die MDR-Sendung „Handelsreisende in Sachen Menschenrechte", 4.11.2003, sowie die ARDSendung „Fakt", 27.1.2004.

Freikaut politischer Häftlinge aus der D O R

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Die Stationen der Freikaufentscheidung und des Freikaufs

Alles in allem bietet sich grob folgendes Bild für die einzelnen organisatorischen Etappen des Prozesses, der zum Freikauf einer Person führte. 1.

Wenn die Behörden der DDR von sich aus ein Interesse an der Freilassung in den Westen hatten, wurde die Person auf die Freikaufliste gesetzt. Im Allgemeinen geschah dies in Ubereinstimmung mit der Willensbekundung des Gefangenen. Es sind nur wenige Fälle bekannt, in denen die Freilassung gegen den erklärten Willen des Gefangenen geschah.

2.

Freikauf hieß nicht Freilassung in den Westen, sondern Freilassung aus der Haft. Wenn ein Gefangener darauf beharrte, in der DDR bleiben zu wollen, konnte er dies erreichen. Es war vereinbart, dass die Person auch später noch in den Westen ausreisen konnte. Vogel oder seine Unteranwälte fragten in solchen Fällen die Gefangenen kurz vor einer möglichen Abschiebung in der Stasi-Haftanstalt Karl-Marx-Stadt.

3.

Gefangene stellten in allen Fällen einen Antrag auf „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR". Das Formschreiben des Ministeriums des Innern enthielt dementsprechend auch diesen Terminus. In vielen Fällen hatten Gefangene schon vor ihrer Haft informelle Beziehungen zu westlichen Behörden oder privaten Organisationen, die sich mit der Menschenrechtssituation im geteilten Deutschland beschäftigten. In manchen Fällen wurden die Personen auch in diesem Zusammenhang, wegen „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme", verurteilt. Damit befanden sich ihre Namen auf den entsprechenden Listen, die im BMB in Bonn und in Berlin (West) erstellt worden waren.

4.

5. 6.

7.

Haftentlassene teilten im Notaufnahmelager den bundesdeutschen Behörden mit, welche Haftkameraden sie zurücklassen mussten. Etwa zwei Drittel der Freizukaufenden standen auf der westlichen Liste, ein Drittel auf der durch das MfS erstellten. Im Falle von personellen Ubereinstimmungen dürfte die Entscheidung einfach gewesen sein. In Einzelfällen dauerte es auch mehrere Jahre, bis ein auf der westlichen Liste Stehender in den Freikauf einbezogen wurde. Ein Beispiel ist etwa der 1961 festgenommene und erst 1971 entlassene Michael Gartenschläger, der 1976 von einem MfS-Kommando getötet wurde, als er versuchte, an der Grenze Todesautomaten vom Typ SM70 abzumontieren. 12 Die Liste des BMB wurde über Rechtsanwalt Stange an Rechtsanwalt Vogel übergeben. Vogel übergab die Liste an das MfS, und zwar über seinen

12 Vgl. Berliner Morgenpost,

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22.8.1990.

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Verbindungsmann Heinz Volpert, der direkt Minister Mielke untergeben war. Nach Mielkes Tod 1986 reichte Volpert die Listen an Heinz Niebling weiter. 8.

Im Sonderreferat des Oberst Heinz Enke innerhalb der Hauptabteilung IX (Untersuchungsabteilung) wurde die Liste des BMB mit der vom MfS erstellten Liste verglichen, Ausschließungsfälle wurden gestrichen, die meisten Fälle jedoch bestätigt. Voraussetzung war in der Regel, dass mindestens die Hälfte der Haftzeit verbüßt worden war. Der Freilassungstermin in Relation zur Gesamthaftzeit war nicht normiert. Manchmal allerdings wurde die Freilassung schon nach kurzer Zeit, etwa einem Jahr, mitunter aber auch erst nach voller Haftzeit verfügt. An der Prüfung möglicher Ausschließungsgründe war das Referat des Oberst Manfred Flader innerhalb der ZKG beteiligt, der die Uberprüfung des familiären Umfeldes oblag. Letztendlich bestimmte ausschließlich die DDR-Seite den Ausgang der Entscheidung über die Freilassung. Ausschließungsgründe hießen „Staatsgründe", die vorlagen, wenn zum Beispiel Verwandte des Häftlings Mitarbeiter des MfS waren. Manchmal kam es vor, dass Gefangene schon in das Abschiebegefängnis nach Karl-Marx-Stadt gebracht worden waren, dort jedoch erfahren mussten, dass sie nicht in den Westen durften. In einigen Fällen erfuhren sie dort sogar, dass sie zurück in die „alte Haftanstalt" gebracht werden. Die Gefangenen wurden über die Gründe für die Zurückweisung zumeist im Unklaren gelassen. Ein Beispiel dafür ist der Fall Bernd Eisenfeld, der im Zusammenhang mit Protesthandlungen gegen den Einmarsch von Warschauer Truppen in die CSSR verurteilt wurde. 13

9.

Die bestätigte Liste wurde auf dem gleichen Wege (MfS-Vogel-Stange-BMB) in den Westen gebracht. 10. Die ausgewählten Gefangenen stammten bei fast allen Transporten aus verschiedenen Haftanstalten. Innerhalb einer Haftanstalt wurden die Gefangenen aus den verschiedenen so genannten „Erziehungsbereichen" zusammengefasst und im Sammeltransport nach Karl-Marx-Stadt gebracht. 11. Die zu Entlassenden wurden in das Gefängnis des MfS auf den Kaßberg im Zentrum von Karl-Marx-Stadt verbracht. Dort wurden letzte Formalitäten geklärt, es wurde eine Gesundheitsuntersuchung für die Transportfähigkeit durchgeführt und es wurde die Aktualität des Ausreiseantrags, dass heißt des Ausreisebegehrens, bestätigt. Die Bestätigung geschah durch die Aushändigung der Urkunde auf „Entlassung", allerdings nicht „aus der DDR", sondern „aus der Staatsbürgerschaft" (der DDR). 12. Der Aufenthalt in der Abschiebehaft dauerte zwischen zwei und vier Wochen. Die Busse, welche wie oben erwähnt die Gefangenen in den Westen brachten,

13

Ilko-Sascha Kowalczuk/Bernd Eisenfeld, in: Hans-Joachim VEEN (Hg.), Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Berlin 2000, S. 113.

Freikauf politischer Häftlinge aus der D D R

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warteten im Hof des Gefängnisses. In den Jahren 1964 bis 1987 sind Änderungen nur in Detailabläufen nachweisbar, etwa die Wechselkennzeichen der Busse, was einen Zwischenaufenthalt im „Wäldchen der Freiheit" überflüssig machte. Ab 1987 erfolgte die Ausreise in kleinen Gruppen mit dem Interzonenzug. 13. Es bleibt anzumerken, dass in Gießen, untergemischt unter die freigekauften Häftlinge, auch kriminell gewordene ehemalige DDR-Bewohner ins Aufnahmelager kamen. In mehreren Fällen begingen diese Menschen sofort wieder Straftaten, was in der Gießener Öffentlichkeit zum Misstrauen gegen die Bewohner des Aufnahmelagers am Bahnhof führte. Was nicht bekannt war: Diese Gefangenen waren zumeist gar nicht freigekauft, sondern einfach den Transporten „untergeschoben". Da auch diese Personen Deutsche waren, mussten sie in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden wie jeder andere, der aus dem östlichen Teil des Landes übersiedelte. Eine Intervention von bundesdeutscher Seite brachte nach 1982 eine Verbesserung der Situation: „Kriminelle" wurden fortan in wesentlich geringerem Ausmaß auf der Freikaufstrecke in den Westen abgeschoben. W e l c h e Personen waren unter politischen Häftlingen zu v e r s t e h e n ? Unter den vielen Menschen, die als politische Häftlinge freigekauft wurden, befanden sich erstaunlich wenige politisch aktive Menschen. Außerhalb ihres Ausreisebegehrens waren viele kaum bereit, im politischen Sinne Risiken auf sich zu nehmen. Der Widerstand gegen die SED aus politisch-moralischen Gründen und eine daraus resultierende politische Haft waren nicht die Regel. Als Regelfall für Inhaftierung und Freikauf muss das Ausreisebegehren angesehen werden, das aus einer Vielzahl von Gründen gestellt wurde. Die Bandbreite der Gründe reichte von der Verantwortung für die Kinder, die man nicht der kommunistischen Hass- und Militärpropaganda aussetzen wollte, bis hin zu demjenigen, der im Westen „längere Würste" wähnte. Allerdings verbesserte sich nicht in allen Fällen auch die materielle Lage der Freigekauften. In vielen Fällen wurde, metaphorisch gesprochen, ein „Schlafen unter den Rheinbrücken" dem Leben in der DDR vorgezogen. Somit bleibt die Definition des politischen Häftlings durch die Strafrechtsparagraphen, welche die SED anwendete. „Staatsfeindliche Hetze", „staatsfeindliche Verbindungsaufnahme", „staatsfeindliche Gruppenbildung" und vor allem ungesetzlicher Grenzübertritt waren die wesentlichen Vorwürfe, die aus einem politischen oder unpolitischen Menschen einen politischen Gefangenen machten. Es gehörte zum Wesen der SED-Diktatur, dass jede Form der Gruppenbildung außerhalb der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen sofort unter dem Verdacht der

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Staatsfeindlichkeit stand, was sowohl die Kontakte zwischen den Gruppen als auch Kontakte ins (nicht nur westliche) Ausland betraf. Unter den Menschen, die im Zuge des Gefangenenfreikaufes aus der DDR in den Westen kamen, befanden sich auch eingeschleuste inoffizielle Mitarbeiter des DDRStaatssicherheitsdienstes. Sie wurden während ihrer Haft zur Geheimdiensttätigkeit verpflichtet. Das Ziel war vorrangig Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland durch Bespitzelung von anderen Freigekauften, von Organisationen ehemaliger DDRHäftlinge sowie von Menschenrechtsorganisationen, die sich mit den Ostblock-Staaten beschäftigten. Solche Organisationen wurden geradezu systematisch von derart beauftragten Personen durchsetzt und zersetzt. Die Operativen Vorgänge (OV), die dazu angelegt wurden (z.B. die OV „Pest" und „Reservoir" gegen die Häftlingsvereinigung Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), die Zentralen Operativen Vorgänge (ZOV) 1 4 „Kontra" gegen den Verein Hilferufe von drüben, der ZOV „Zentrale" gegen die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, oder der ZOV „Extremist" gegen das Mauermuseum am Checkpoint Charlie), umfassen jeweils viele Bände, heute verwaltet von der Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen (BStU). Zeitzeugenbeispiel Lippmann Als ich selbst Mitte August 1974 am Ende meines Studiums vom M f S festgenommen wurde, glaubte ich, dass eine geplante Flugblattaktion aufgeflogen war. Ich hatte eine Flugblattaktion geplant, die für den Jahrestag des Mauerbaus in Leipzig angesetzt war. Flugblätter sollten vom Uni-Hochhaus segeln, so ähnlich, wie es die Geschwister Scholl getan hatten. Die Aktion konnte jedoch nicht wie geplant stattfinden. Ein technisches Problem am Motorrad hatte den fristgerechten Transport der Flugblätter nach Leipzig verhindert. Die Verhaftung durch die Stasi erfolgte allerdings entgegen meiner Annahme nicht auf Grund der Flugblattaktion. Die Vernehmungen nahmen keinen Bezug auf dieses Vorhaben. Die Stasi-Leute wussten davon nichts. Jedoch hatten sie verblüffend gute Kenntnis von Büchern, die ich verliehen hatte. Ein Spitzel in meinem engsten Umfeld hatte jedes Buch, das er von mir bekommen hatte, der Stasi abgeliefert. Man verurteilte mich deshalb zu drei Jahren, weil ich andere Menschen gegen die D D R aufgewiegelt haben soll. Dies hätte ich durch die Weitergabe von Literatur versucht. Aus Sicht des M f S kam erschwerend hinzu, dass ich mir Personen ausgesucht hätte, die einen besonders hohen Intelligenzgrad gehabt hätten, um die staatsfeindlichen Inhalte der Literatur zu verstehen. In der Anklageschrift wurde mir die Weitergabe z.B. der Schriften des Engländers George Orwell, des Russen Andrej Amalrik und des Deutschen Ralph Giordano vorgeworfen. Nach der Verurteilung 14 Ein ZOV umfasste mehrere Teilvorgänge.

F r e i k a u f p o l i t i s c h e r H ä f t l i n g e aus der DDR

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durch das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt im Juni 1975 wurde ich in die Strafanstalt Cottbus gebracht, wo viele männliche politische Gefangene konzentriert wurden. Im Gefängnis-Arbeitseinsatz befand ich mich im so genannten Konstruktionsbüro. Wir projektierten Häuser für die SED-Funktionäre des Bezirkes. Eines Tages wurde ich ohne erkennbaren Grund in einen anderen Arbeitsbereich verlegt. Von den anderen politischen Gefangenen des Konstruktionsbüros wurde verlangt, Projektierungsarbeiten für ein Gebäude im Sicherheitsbereich durchzuführen. Selbstverständlich weigerten sich alle, wollten sie doch in den Westen entlassen werden, statt die eigenen Haftumstände sicherheitstechnisch zu verschärfen. Und genauso selbstverständlich landeten sie alle in der „Absonderung", einer Strafzelle in der Strafanstalt, erlitten damit eine potenzierte Strafe. Es blieb mir bis zu meiner Akteneinsicht im Jahre 1992 unklar, warum gerade ich davon verschont geblieben war. Die Erklärung fand sich darin, dass ich einer der „gravierenden Fälle" 15 war. Vielleicht hing dies auch damit zusammen, dass es erheblichen Druck aus dem Westen für meine Freilassung gab, was ich ebenfalls erst bei der persönlichen Akteneinsicht 1992 erfahren habe. Im Oktober 1975 wurden einige Häftlinge aus ganz verschiedenen Arbeitsbereichen in Cottbus in einer Zelle zusammengefasst, einer davon war ich. Es hieß, und wir hofften dies, wir würden nach Karl-Marx-Stadt gebracht. Mit LKW wurden wir wie erhofft auf den Kaßberg, die Sammelstelle in Karl-MarxStadt gebracht. Nunmehr befand ich mich wieder in der Haftanstalt, in der ich schon in Untersuchungshaft bei der Stasi war. Jedoch befand ich mich in einem anderen Flügel des Kreuzbaues, im so genannten Vogel-Haus (benannt nach dem Anwalt). Die Bezeichnung im Gefangenenjargon deutet es an: Hier befanden sich die Gefangenen, die begründet hofften, in wenigen Tagen in den Westen entlassen zu werden. Das Essen war besser als in der Untersuchungshaft, die Schließer schnauzten weniger herum, die Stimmung war dem Anlass angemessen. Am 5. November 1975 fuhren die Busse aus dem Gefängnishof bis ins „Wäldchen der Freiheit". Anwalt Vogel hielt eine kurze Ansprache und forderte uns auf, an die zurückgebliebenen Kameraden zu denken, insbesondere bei Interviews. Die Diskretion schien ein hohes Gut zu sein. Er deutete an, dass Presseveröffentlichungen den Zurückgebliebenen schaden könnten. Noch auf dem Gefängnisgelände hatte der Fahrer Musik von Harry Belafonte eingelegt. Für uns begann eine neue Zeit. In der Nähe von Jena wurde ein Zwischenstopp eingelegt, und viele Frauen und Männer konnten sich nach langer Zeit wieder in die Arme schließen. Die Ehepartner durften während der Haft nur im Ausnahmefall kommunizieren, so dass sie erst hier erfuhren, dass der jeweils andere auch in den Westen entlassen werden konnte. Im schon erwähnten „Wäldchen der Freiheit" verließen wir den Stasi-Bus, und wir mussten etwa 15 Minuten warten. Zwei gleich aussehende 15 Zu „gravierenden Fällen" siehe das Dokument im Anhang.

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Busse aus Hessen kamen in den Wald gefahren und nahmen uns auf. Als wir an der Grenze Posten sahen, die Bärte trugen, da wussten wir, dass wir endlich frei waren. Nachbemerkung Gelegentlich frage ich ehemalige Häftlinge, die von ihrem Freikauf berichten, woher sie denn wüssten, dass sie freigekauft wurden. Meist konnte der Freikauf letztlich nur vermutet werden. Es gibt nur wenige Fälle, bei denen die personenbezogenen StasiAkten wirklich den Freikauf dokumentieren. Die Stasi selbst hat diesen Vorgang intern konspiriert, ähnlich wie die Spionageaktivitäten oder die Mordplanungen im In- und Ausland. Hinzu kommt, dass auch heute noch durch die Bundesregierung mit dem Thema Freikauf Geheimniskrämerei betrieben wird, wie ich es in meiner Tätigkeit als Geheimdienstforscher erlebe, wenn ich die damaligen Akteure befrage. Welche Gründe es dafür gibt, ist mir bisher allerdings nicht bekannt. Für die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas, insbesondere der geheimdienstlichen Dimension, muss die bestehende Situation jedenfalls als unbefriedigend angesehen werden. Zum Thema Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR gibt es bislang nur wenige größere Veröffentlichungen. 16 Als grundlegendes Werk ist die Darstellung von Ludwig Rehlinger 17 anzusehen. Rehlinger war in mehreren großen Zeitabschnitten als Staatssekretär damit befasst. Gegenwärtig laufen drei Promotionsprojekte, die spezielle Aspekte des Freikaufs behandeln. 18 Die Vereine ehemaliger Mitarbeiter des MfS, die ansonsten viele Publikationen über ihre damalige Arbeit auf den Markt gebracht haben, 19 schweigen sich zum Thema Freikauf bisher aus.

16

Wolfgang Brinkschulte/Hans Jörgen Gerlach/Thomas Heise, Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen, Berlin 1993; Michel MEYER, Freikauf. Menschenhandel in Deutschland, W i e n 1978; P Ö T Z L , Basar der Spione; Craig R. W H I T N E Y , Advocatus Diaboli. Wolfgang Vogel, Anwalt zwischen Ost und West, Berlin 1993; Jens S C H M I D T H A M M E R , Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West, Hamburg 1987; Reymar V O N WEDEL, Als Anwalt zwischen Ost und West, Berlin 2005.

17

Ludwig R E H L I N G E R , Freikauf. Die Geschäfte der D D R mit politisch Verfolgten 1 9 6 3 - 1 9 8 9 , Frankfurt/Main 1991.

18

Alexander Koch (Universität Heidelberg), Bernd Lippmann (Universität Chemnitz), Jan Philipp Wölbern (Universität Potsdam).

19

Zum Beispiel: Reinhard Grimmer/Werner Irmler/Willi Opitz/Wolfgang Schwanitz (Hg.), Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des M f S , Berlin 2 0 0 2 ; siehe dazu auch www.mfs-insider.de.

Freikauf p o l i t i s c h e r Häftlinge aus der DDR

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Anhang: 1. Im Bild : Aufnahme der Haftanstalt Kaßberg, MfS 1978

Bild 5: Einfahrt zur UHA KaBbargatraß« 12 '-M3 Rlchtun; Wlelandatraße ;asehen.

Die Entstehungsgeschichte dieses Fotos20 ist äußerst bemerkenswert. Einer meiner Freunde, übrigens derjenige, der die oben erwähnten Flugblätter für Leipzig auf einem Ormig-Gerät vervielfältigt hatte, fotografierte nach meiner Verhaftung mehrere Haftanstalten, in denen er politische Gefangene wähnte. Ziel war eine Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Die Stasi fertigte Vergleichsfotos an, aufgenommen vom gleichen Standort aus.

20 BStU, Ast-C, AU 9272/78 GA.

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Bernd Lippmann

2. Eines der seltenen Dokumente, 2 1 in denen von „gravierenden Fällen" die Rede ist. β«#β»« i r ^ f e r l ^ 5 . 1974 1 9 7 4 d u r c h CS : O t u d a a - S t a d t

. a u 1944· i n P r a u s t a ä t β . - /^JLf e e t g e n . am 1 1 . 1 2 . 1 9 7 3 " ^ . . L i . v e r u r t . am 2 1 . 5 . 1 9 7 4 d u r c h MOG N e u b r a n d e n b u r g Γ 1 ' zu 5 J a h r e n 6 M o n a t e D e l i k t : Landeaverräteriecher Treuebruch

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v i r a r t . a i 29. 7 . 1974 durch » 0 « r i u r t l U v t t - L e l ' SU 3 J a h r e n 6 M o n a t e I ι Γ I Delurtj Terror

1955 I n H i b b e n ™— 1 VL-V. Ι Α ^ f e s t i r S T T s a 14. 1 1 . 1973 v e r u r t . am 1 8 . 3 . 1 9 7 4 d o r e h B 3 C o t t b u s BU 3 f a h r e n t, . 1 f. Delict! Grenzterror

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