Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung: Eine verfassungsrechtliche Studie anhand der Kammern, der Sozialversicherungsträger und der Bundesanstalt für Arbeit [1 ed.] 9783428466153, 9783428066155

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Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung: Eine verfassungsrechtliche Studie anhand der Kammern, der Sozialversicherungsträger und der Bundesanstalt für Arbeit [1 ed.]
 9783428466153, 9783428066155

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ERNST THOMAS EMDE

Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 590

Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung Eine verfassungsrechtliche Studie anhand der Kammern, der Sozialversicherungsträger und der Bundesanstalt für Arbeit

Von Ernst Thomas Emde

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Emde, Ernst Thomas: Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung: eine verfassungsrechtliche Studie anhand der Kammern, der Sozialversicherungsträger und der Bundesanstalt für Arbeit / von Ernst Thomas Emde. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 590) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1986 ISBN 3-428r06615-4 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06615-4

Helga Dagmar Emde 8. November 1922 - 27. Februar 1978 in dankbarer Erinnerung

Vorwort Mein Entschluß, über die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung zu promovieren, liegt viele Jahre zurück. Er wurde 1979 in der Erkenntnis gefaßt, mit diesem Thema genau jene Beute im Visier zu haben, von der jeder Doktorand träumt: ein Thema von praktischer und theoretischer Bedeutung zugleich, dessen wissenschaftliche Durchdringung der Flut juristischer Veröffentlichungen entgangen war. Was ich allerdings nicht vorhergesehen hatte, waren die Zeit und die Mühen, die mich die Arbeit kosten sollte. Hätte ich auch nur erahnt, wieviele Jahre meines Lebens sie mich „treu" begleiten würde - anfangs als Herausforderung, dann als drohender, später nach der Fertigstellung des Manuskripts, als lästiger Schatten - und wieviele Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen sie mir bescheren sollte, so wäre sie nicht geschrieben worden. Ihre Entstehung ist mithin fehlendem Einblick des Autors in die Weite und die Komplexität des von ihm gewählten Themas sowie, infolgedessen, seiner Unterschätzung der erforderlichen Arbeitszeit zu verdanken. Ob immerhin das Ergebnis seiner Mühen wissenschaftlich zu überzeugen vermag, müssen andere entscheiden; doch selbst wenn, wird die Frage nach der Angemessenheit des Aufwands bleiben. Aufgrund dieser Erfahrungen sowohl der eigenen Person als auch nicht weniger Weggefährten, die sich in die große, traurige Strecke der ewigen Doktoranden eingereiht haben, möchte ich die Gelegenheit dieses Vorworts dazu nutzen, den Heerscharen zukünftiger Doktoranden den unerbetenen Rat zu erteilen, sich genau Rechenschaft darüber abzulegen, zu welchem Zwecke sie promovieren wollen, welcher Aufwand hierfür vertretbar ist und ob das ins Auge gefaßte Thema mit diesen Vorgaben in Einklang zu bringen ist. Nach diesen unüblichen Warnungen nun zu den üblichen, aber dennoch von Herzen kommenden Danksagungen. Sie gelten zu allererst meinem verehrten Doktorvater, Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Dr. E.-W. Böckenförde. Er hat dieser Arbeit seine Anerkennung nicht versagt, obwohl ihre zentrale verfassungsrechtliche These zur Gestaltung der funktionalen Selbstverwaltung durch das demokratische Prinzip (vgl. S. 386 ff.) seiner eigenen wissenschaftlichen Auffassung diametral entgegensteht1, und ihm verdanke ich es, einige Jahre lang, zuerst als wissen1 Siehe hierzu Böckenfördes Abhandlung „Demokratie" im Handbuch des Deutschen Staatsrechts (B 1, S. 887 ff.), in der er sich mit meinem Standpunkt kritisch auseinandersetzt (daselbst S. 909).

Vili

Vorwort

schaftliche Hilfskraft und später als sein Assistent, in einem Umfeld wissenschaftlicher Freiheit und Fruchtbarkeit habe arbeiten zu dürfen, wie es nach meiner Einschätzung nicht eben viele juristische Lehrstühle bieten. Es ist nicht zuletzt dieses, auch von den Herren Professoren K. Hesse, A. Hollerbach und R. Wahl geschaffene und bereits in verschiedenen Vorworten beschriebene geistige Klima gewesen, welches in jenen Jahren in Freiburg eine Reihe jüngerer Wissenschaftler zusammengeführt und in ihnen Voraussetzungen für kreatives wissenschaftliches Arbeiten geformt hat, von denen auch ich profitiert habe: vor allem die Verbindung individuellen Erkenntnisstrebens und persönlichen Ehrgeizes mit der Bereitschaft zum konstruktiven und offenen Dialog. Mein Dank gilt weiterhin und in doppelter Hinsicht Herrn Professor Dr. A. Hollerbach; zum einen für die Mühen, die er als Zweitgutachter meiner Dissertation auf sich genommen hat und zum anderen für die großzügige Förderung, mit der er es mir ermöglicht hat, die Arbeit während meiner Tätigkeit als Assistent an seinem Lehrstuhl abzuschließen. Sodann möchte ich den Freunden und Kollegen danken, die, sei es in kritischer Auseinandersetzung mit meinen Überlegungen, sei es mittels überzeugender Durchhalteparolen dazu beigetragen haben, daß aus einer Idee und tausend disparaten Manuskriptseiten schlußendlich doch noch die nun vorliegende Arbeit geworden ist. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich Johannes Hellermann, Michael Kleine-Cosack, Frank Rottmann, Bernhard Schlink, Reinhard Schmalz und Jochen Wieland. Schließlich gebührt auch dem Verlag Duncker & Humblot - namentlich Herrn Rechtsanwalt N. Simon, Frau G. Michitsch und Frau I. Bührig - Dank für die Geduld und die Gewissenhaftigkeit, mit der diese Arbeit betreut wurde. Zum Abschluß noch einen Hinweis sowie eine Lesehilfe für Sie, verehrte Leser: Die Arbeit, deren Manuskript im Jahre 1984 abgeschlossen wurde, ist durch nachträgliche Aktualisierungen weithin auf den Stand des Sommers 1988 gebracht worden; spätere Veröffentlichungen konnten nicht nachgetragen werden. Einen Problemaufriß gibt das erste Kapitel, ein knapper Inhaltsüberblick findet sich auf S. 18 f. Bretton Woods, im September 1990 Thomas Emde

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einführung und Grundlegung

1

1. Kapitel Einführung in Gegenstand und Fragestellung

1

I. Das Thema und sein wissenschaftliches Umfeld

1

II. Die funktionale Selbstverwaltung als Gegenstand der Untersuchung

5

1. Der Begriff der funktionalen Selbstverwaltung

5

a) Der dogmatische Gehalt

6

b) Die funktionale Selbstverwaltung und die traditionellen Begriffe der Dogmatik

10

2. Die Begrenzung des Untersuchungsgegenstands auf die funktionale Selbstverwaltung

11

a) Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Begrenzung des Untersuchungsgegenstands

12

b) Funktionelle Einwände

12

III. Entfaltung der Fragestellung und Darlegung des Untersuchungsplans

....

13

1. Fragestellung und Problemaufriß

13

2. Zur Auswahl der untersuchten Einrichtungen

19

2. Kapitel Demokratische Legitimation und funktionale Selbstverwaltung - Bestandsaufnahme I. Der Begriff der demokratischen Legitimation

26 26

1. Legitimität und Legitimation in den Sozial Wissenschaften

26

2. Legitimität und Legitimation als Rechtsbegriffe

29

a) Begriffsgeschichte

29

b) Der Begriff der Legitimität

30

c) Der Begriff der Legitimation

32

3. Demokratische Legitimation als verfassungsrechtlicher Begriff a) Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes

34 34

aa) Zum Geltungsbereich des demokratischen Prinzips

35

bb) Zum Gehalt des demokratischen Prinzips

39

b) Der grundgesetzliche Begriff der demokratischen Legitimation

41

X

Inhaltsverzeichnis

II. Demokratische Legitimation und funktionale Selbstverwaltung 1. Verkürzungen der staatsvermittelten personellen Legitimation und korrespondierende autonome Legitimationselemente 2. Verkürzungen der staatsvermittelten materiellen Legitimation und korrespondierende autonome Legitimationselemente

49 49 51

a) Verwaltungsvorschriften und Selbstverwaltungsrecht

52

b) Genehmigungsvorbehalte und Selbstverwaltungsrecht

55

aa) Positionen und Probleme

55

bb) Die Satzungsautonomie - ein Wesensmerkmal der Selbstverwaltung?

59

cc) Genehmigungsvorbehalt und Rechtsauf sieht

61

dd) Ergebnis

64

3. Die Elemente staatsvermittelter Legitimation; ihre Reichweite und ihre Grenzen a) Steuerungsinstrumente des Parlaments aa) Lenkungsinstrumente

66 67 67

(1) Das Gesetz

67

(2) Das Budgetrecht

76

bb) Kontrollinstrumente

78

b) Steuerungsinstrumente der unmittelbaren Staatsverwaltung aa) Lenkungsinstrumente

79 79

(1) Abstrakte Lenkungsinstrumente (2) Konkrete Lenkungsinstrumente bb) Kontrollinstrumente

79 81 82

(1) Rechtsaufsicht

82

(2) Fachaufsicht

84

c) Schlußbemerkung

86

Zweiter Teil Die Kammern, die Sozialversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit

87

3. Kapitel Die Kammern I. Grundzüge der Geschichte des Kammerwesens 1. Zur Geschichte der Handelskammern

89 90 90

a) Historische Wurzeln

90

b) Das preußische Handelskammergesetz von 1870 und seine Novellierung von 1897

92

Inhaltsverzeichnis aa) Die Aufgaben der Handelskammern bb) Die Rechtsstellung der Handelskammern

(1) Die Binnenorganisation der Handelskammern (2) Die Stellung der Handelskammern im Staatsaufbau c) Die Handelskammern in der Zeit der Weimarer Republik 2. Zur Geschichte der Handwerkskammern a) Zu den Aufgaben der Handwerkskammern

92 96

96 97 101 102 102

b) Die Rechtsstellung der Selbstverwaltungsorganisationen des Handwerks 105 c) Die Binnenverfassung der Innungen und Kammern 3. Zur Geschichte der Kammern der freien Berufe II. Die Tätigkeit der Kammern

106 107 110

1. Berufliche Bildung

111

2. Die Standesaufsicht

112

3. Pflichtaufgaben der Wirtschaftsverwaltung i. e. S

114

4. Interessenvertretung gegenüber Staat und Öffentlichkeit

115

5. Erbringung von Dienstleistungen für die Mitglieder

117

III. Die Rechtsstellung der Kammern

118

1. Statusbestimmung

118

2. Die Mitgliedschaftsregelungen

119

3. Organisation und Befugnisse

120

IV. Die demokratische Legitimation der Kammern 1. Die personelle Legitimationskomponente

121 122

a) Die staatsvermittelte Legitimation

122

b) Die autonomen Legitimationsstrukturen der Kammern

122

aa) Die berufsständischen Kammern

122

bb) Die wirtschaftlichen Kammern

123

cc) Die Organe der beruflichen Bildung

125

dd) Die Wahl der Kammerversammlung (1) Friedenswahlen

127 127

(2) Aufspaltung der Wahlen zur Kammerversammlung in gruppenspezifische Teilwahlen 128 (3) Die Befugnis der Vollversammlung zur Selbstergänzimg 2. Die demokratische Legitimation der Kammern in materieller Hinsicht a) Die staatsvermittelte Legitimation

. . . 129 . 130 130

aa) Organisationsstruktur und Finanz Verfassung

132

bb) Die berufliche Bildung

133

cc) Die Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung

134

dd) Die Standesaufsicht

135

Inhaltsverzeichnis

XII

ee) Die Dienstleistungsfunktion

136

ff) Die Interessen Vertretungsfunktion

138

b) Die autonome Legitimation der Kammern in materieller Hinsicht 3. Schlußbemerkung

. . 139 140

4. Kapitel Die Sozialversicherungsträger I. Funktion, Status und Bestand II. Zur Geschichte der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung

142 142 144

1. Die Rentenversicherungsanstalten

145

2. Die Träger der Krankenversicherung

148

a) Die Orts- und Landkrankenkassen

148

b) Die Ersatzkassen

153

3. Die Träger der Unfallversicherung

153

4. Das Gesetz über die Selbstverwaltung vom 22. Februar 1951

156

III. Organisation und Befugnisse

158

IV. Die demokratische Legitimation der Sozialversicherungsträger

161

1. Die personelle Legitimationskomponente

161

a) Die staatsvermittelte Legitimation

161

b) Die autonomen Legitimationsstrukturen der Sozialversicherungsträger 162 aa) Die Legitimationsstrukturen der paritätisch aufgebauten Sozialversicherungsträger 163 bb) Die Ersatzkassen 2. Die materielle Legitimationskomponente a) Die staatsvermittelte Legitimation aa) Rechtsnormen als Lenkungsinstrumente

166 166 166 169

bb) Mitwirkungsvorbehalte

169

cc) Die Rechtsauf sieht

174

dd) Resumée

175

b) Die autonome Legitimationskomponente 3. Schlußbemerkung

176 177

a) Die Sozialversicherungsträger und der Begriff der öffentlichen Körperschaft 177 b) Die Sozialversicherungsträger und der Begriff der öffentlichen Anstalt 183 c) Die Sozialversicherungsträger - ein Selbstverwaltungstypus eigener Art? 185

Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) I. Aufgaben und Befugnisse

187 187

II. Die Organisationsstruktur der BA

188

III. Die demokratische Legitimation der BA

190

1. Die personelle Legitimationskomponente

190

a) Die staatsvermittelte Legitimation

190

b) Die autonomen Legitimationsstrukturen 2. Die materielle Legitimationskomponente

191 193

a) Die staatsvermittelte Legitimation

193

b) Die autonomen Legitimationsstrukturen

197

3. Schlußbemerkung

198

Dritter Teil Der Bereich der Staatsgewalt und die Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip

202

6. Kapitel Der Begriff

der Staatsgewalt

I. Der Staatsbegriff

208 208

II. Das Moment der Gewalt im Begriff der Staatsgewalt 1. Der Eingriff als Signum der Staatsgewalt

211 211

2. Die Entscheidung als Charakteristikum der Ausübung von Staatsgewalt 214 7. Kapitel Rückblick auf die geschichtlichen Grundlagen der Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip I. Vom Kaiserreich zum Dritten Reich

216 216

1. Der Status der funktionalen Selbstverwaltung i m staatsrechtlichen Positivismus 216 2. Funktionale Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip der Weimarer Republik 217 a) Das demokratische Prinzip der Reichsverfassung und seine Bedeutung für die funktionale Selbstverwaltung 217

Inhaltsverzeichnis

XI

b) Die Beratungen der Nationalversammlung zu Art. 17 Abs. 2 Satz 1 RV 219 c) Die Bedeutung des demokratischen Prinzips für die funktionale Selbstverwaltung in der Weimarer Staatspraxis 221 d) Funktionale Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip in der Weimarer Staats-und Verwaltungslehre 221 e) Ergebnis

224

II. Das Verhältnis von Staatsgewalt und Selbstverwaltung i n den Beratungen des Parlamentarischen Rats 224 8. Kapitel Selbstverwaltung und Staatsgewalt in Wissenschaft und Rechtsprechung

229

I. Stellungnahmen zur Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip 229 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

229

2. Herzog

233

3. Herbert Krüger

234

4. Hans Hugo Klein

236

5. Brohm

238

6. Salzwedel

241

II. Die Dogmatik der mittelbaren Staatsverwaltung und ihre Bedeutung für den Bereich der Staatsgewalt 244 1. Die älteren Protagonisten der Lehre von der mittelbaren Staatsverwaltung - Ernst Forsthoff und Hans J. Wolff 244 2. Die mittelbare Staatsverwaltung in der neueren verwaltungsrechtlichen Dogmatik 247 III. Die Dogmatik der staatlichen Aufgaben

249

1. Der Begriff der staatlichen Aufgaben im Spiegel der Dogmatik

249

2. Die Bedeutung der Dogmatik der Staatsaufgaben für die Bestimmung des Bereichs der Staatsgewalt

252

a) Zurückweisung der extensiven Bestimmung der Staatsauf gaben . . . . 252 b) Defizite der jüngeren, restriktiven Dogmatik der Staatsaufgaben c) Schlußfolgerungen

. . . 254 256

9. Kapitel Staatsgewalt und Selbstverwaltung auf dem Boden einer funktionalen Staatsauffassung I. Staat und Selbstverwaltung nach dem Grundgesetz 1. Grundlegung

258 259 259

Inhaltsverzeichnis 2. Die Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers über die Selbstverwaltung . . . 260 3. Die funktionell staatlichen Selbstverwaltungen als Träger von Staatsgewalt 263 II. Kriterien der Zuordnung der funktionalen Selbstverwaltung 1. Die Unzulänglichkeit einseitig formaler Zuordnungskriterien

264 265

2. Die Entscheidung über die Zuordnung der funktionalen Selbstverwaltungsträger als Akt wertender Gesamtanalyse 267 10. Kapitel Die Bundesanstalt für Arbeit, die Sozialversicherungseinrichtungen und die Kammern als Träger von Staatsgewalt I. Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) 1. Einführung

271 271 271

2. Der Einfluß des Staates auf die BA im Verhältnis zu dem der Arbeitnehmer- und der Arbeitgebervereinigungen 272 II. Die Sozialversicherungsträger 1. Die Reichweite der staatlichen Lenkungs-und Kontrollbefugnisse

275 275

a) Prävention und Rehabilitation

277

b) Die Finanzverfassung

278

c) Das Organisationsrecht

279

2. Der Einfluß gesellschaftlicher Kräfte auf die Sozialversicherungsträger 280 3. Ergebnis III. Die Kammern

281 282

1. Die wirtschaftsverwaltenden Pflichtaufgaben

283

2. Die Standesaufsicht

283

3. Die berufliche Bildung

284

4. Die Interessenvertretungs- und Dienstleistungsfunktion der Kammern .. 286 a) Zur Praxis der Interessenvertretungs- und Dienstleistungstätigkeit. . 288 b) Der Wortlaut der Aufgabenzuweisungen aa) Die bundesgesetzlich geregelten Kammern der freien Berufe

289 . . . 290

bb) Die wirtschaftlichen Kammern sowie die Kammern der Heilberufe 292 c) Der Gesichtspunkt der Einheit des Kammerwesens

295

d) Historischer Rückblick

296

e) Die Bedeutung der Grundrechte für das Verständnis der Interessenvertretungs- und Dienstleistungsfunktion 297 f) Ergebnis

301

Inhaltsverzeichnis

XVI

Vierter

Teil

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Legitimationsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung

302

11. Kapitel Die Legitimationsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung im Spiegel der verfassungsrechtlichen Dogmatik

303

I. Die funktionale Selbstverwaltung als außerstaatlicher Verwaltungstypus . . 304 II. Die restriktive Definition des Begriffs der Staatsgewalt III. Das restriktive Legitimationskonzept

305 306

1. Der reduzierte Legitimationsbegriff

306

2. Die Verzichtstheorie

307

a) Darstellung

308

b) K r i t i k

309

IV. Die Exemtion der funktionalen Selbstverwaltung aus dem Geltungsbereich des Art. 20 Abs. 2 GG 313 V. Die These vom verfassungsrechtlichen Sonderstatus der funktionalen Selbstverwaltung 314 VI. Die autonome Legitimation als Kompensation der Verkürzungen der staatsvermittelten Legitimation 315 1. Brohm und Herzog

316

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Selbstverwaltung als Quelle autonomer Legitimation 319 12. Kapitel Art. 20 Abs. 2 GG und die demokratische Legitimation der staatlichen Verwaltung I. Der Begriff des Volkes in Art. 20 Abs. 2 GG

322 322

1. Text und Kontext des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG

323

2. Zur Entstehungs-und Vorgeschichte

324

3. Der Begriff des Volkes in der Systematik des Grundgesetzes

325

II. Die Legitimationsanforderungen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG 1. Text und Funktion der Norm

327 327

a) Einschränkungen der materiellen Legitimation

329

b) Einschränkungen der personellen Legitimation

331

2. Systematische Überlegungen

332

Inhaltsverzeichnis 3. Historischer Rückblick und rechtsvergleichender Seitenblick

333

4. Ergebnis

335 13. Kapitel Die Ministerialverwaltung als grundgesetzliche Verwirklichung des Konzepts der personellen und materiellen Legitimation

I. Die Ministerialverwaltung als Regeltypus der staatlichen Verwaltung 1. Der Begriff der Ministerialverwaltung

337 337 337

2. Die Ministerialverwaltung als strukturadäquater Verwaltungstypus der parlamentarischen Demokratie 338 II. Die Ministerialverwaltung als personell und materiell umfassend legitimierte Erscheinungsform der Staatsgewalt 339 1. Das Parlamentsgesetz als Legitimationsinstrument

340

2. Die demokratische Legitimation des Ministers

340

a) Die legitimationsstiftende Wirkung der Ernennung zum Minister . . . 340 b) Die legitimationsstiftende Wirkung der Ministerverantwortlichkeit. . 341 c) Das materielle Element der ministeriellen Legitimation

342

3. Der Minister als Legitimationstransformator zwischen Parlament und Verwaltung 343 a) Der Inhalt der ministeriellen Leitungsbefugnis

343

b) Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der ministeriellen Leitungsbefugnisse 344 aa) Die umfassende Sachentscheidungskompetenz

344

bb) Die Personalhoheit

347

cc) Bundesregierung und Bundesminister als Träger der Organisationsgewalt 350 4. Ergebnis III. Modifikationen und Durchbrechungen des Ministerialsystems

351 352

1. Die Auflockerung der hierarchischen Verwaltungsordnung durch „Partizipation" 352 a) Der Begriff der Partizipation

353

b) Partizipation als demokratiegerechte Auflockerung der hierarchischen Verwaltungsordnung 354 2. Der ministerialfreie Raum als Durchbrechung der grundgesetzlichen Verwaltungsordnung 357 a) Beschränkungen der demokratischen Legitimation i m ministerialfreien Raum 357 b) Die Vereinbarkeit des ministerialfreien Raums mit dem Gebot der demokratischen Legitimation der staatlichen Verwaltung 358 c) Ergebnis

360

XVIII

Inhaltsverzeichnis

3. Die Wahrnehmung staatlicher Verwaltungsaufgaben durch Private IV. Zusammenfassung

...

361 362

14. Kapitel Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung - Grundlegung

363

I. Die funktionale Selbstverwaltung als verfassungsgemäßer Verwaltungstyp 363 1. Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3, Art. 28 und Art. 140 GG i. V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV als singuläre Sondernormen 363 2. Die grundgesetzliche Anerkennung der funktionalen Selbstverwaltung durch Art. 86, 87 Abs. 2 und Abs. 3 sowie Art. 130 Abs. 3 GG 364 a) Die Bedeutung des Normtexts

364

b) Die Entstehungsgeschichte

366

aa) Art. 86, 87 Abs. 3 und 130 Abs. 3 GG

366

bb) Art. 87 Abs. 2 GG

368

cc) Das Bild des Parlamentarischen Rats von den Legitimationsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung 369 dd) Ergebnis 3. Gegenstände und Grenzen der funktionalen Selbstverwaltung a) Der Normtext der Art. 86f. und 130 Abs. 3 GG

372 373 374

b) Die Tradition der funktionalen Selbstverwaltung als grenzsetzende Leitlinie für ihre Fortentwicklung 375 c) Systematische und funktionellrechtliche Grenzen der funktionalen Selbstverwaltung 376 aa) Ministerialverwaltung und Selbstverwaltung als Regel-Ausnahme-Beziehung 376 bb) Funktionellrechtliche Grenzen der funktionalen Selbstverwaltung 377 II. Das Gebot der Legitimationskompensation

382

1. Der verfassungsrechtliche Rahmen: die Selbstverwaltungsbestimmungen des Grundgesetzes sowie das demokratische Prinzip 382 2. Die verfassungsrechtliche Bedeutung der autonomen Legitimation

. . . . 383

a) Die Legitimationsstrukturen der Staatsorganisation als Werkzeuge des Prinzips der Selbstbestimmung 383 aa) Die Verwirklichung der Selbstbestimmung als Sinn des demokratischen Prinzips 384 bb) Die instrumentelle Funktion der Legitimationsstrukturen der Staatsorganisation 385 b) Die autonome Legitimation als besonderer Realisationsmodus des demokratischen Prinzips 386 c) Das Prinzip der Legitimationskompensation auf dem Prüfstand der Kritik 389

Inhaltsverzeichnis aa) Staats-und verfassungstheoretische Einwände

391

bb) Historische Einwände

398

cc) Staats- und verfassungsrechtliche Einwände

401

d) Schlußbemerkung

404

3. Die staatsbürgerliche Gleichheit als Grundstein der autonomen Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung 405 a) Die Gleichheit der Legitimationsteilhabe als Voraussetzung autonomer Legitimation 405 aa) Entfaltung der These

405

bb) Sonderkonstellationen

408

b) Die Tradition gleichheitswidriger Binnenstrukturen und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Rechtslage 410 aa) Zum institutionellen Aspekt der Legitimationsdifferenzierungen

411

bb) Legitimationsdifferenzierungen im Spiegel der Dogmatik

415

cc) Schlußfolgerungen

420

4. Organisationsrechtliche Konsequenzen des egalitären Konzepts der Legitimationskompensation 421 a) Die Bedeutung der demokratischen Gleichheit

421

b) Auswirkungen des Gebots der gleichwertigen Legitimationskompensation 421 15. Kapitel Die Bedeutung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips für die Legitimationsstrukturen der Kammern, der Sozialversicherungsträger sowie der BA I. Die Kammern 1. Die parlamentsvermittelte Legitimation der Kammern

426 426 426

a) Die Organisations- und Finanzverfassung der Kammern

427

b) Die wirtschafte verwaltende Tätigkeit der Kammern

427

c) Die Standesaufsicht

428

d) Die berufliche Bildung

430

e) Interessenvertretung und Dienstleistungsbereich 2. Die autonome Legitimation der Kammern

431 432

a) Mitgliedschafts- bzw. Mitwirkungsausschluß Betroffener

432

b) Abstufungen der Mitwirkungsbefugnis

435

aa) Abstufungen der Legitimationsteilhabe in den Industrie- und Handelskammern 435 bb) Abstufungen der Legitimationsteilhabe i n den Handwerkskammern 437 c) „Friedenswählen"

439

d) Zuwahl

441

e) Die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Kammerorganen

443

Inhaltsverzeichnis

X 3. Schlußbemerkung

446

a) Die Strukturprobleme der Kammern als Nährboden ihrer Legitimationsprobleme 446 aa) Die Übergangsstellung der Kammern als Wurzel der Konflikte um ihren Status und die Reichweite ihrer Aufgaben 446 bb) Die internen Legitimationsdefizite und das Problem der sozialen Homogenität 447 cc) Die Dominanz der „Exekutivorgane" und ihre sachlichen Ursachen 448 b) Zur Bedeutung der Grundrechte für die Binnenverfassung der Kammern 449 II. Die Sozialversicherungsträger und die BA

452

1. Noch einmal: Art. 87 Abs. 2 GG als Ausnahme vom grundgesetzlichen Demokratieprinzip? 453 2. Die Folgen: Verfassungsmäßigkeit der Organisationsstruktur der Sozialversicherungsträger sowie der BA 456 a) Vorbemerkung: Zur Legitimation durch das Staatsvolk

456

b) Die Abkehr vom Modell der genossenschaftlichen Legitimationskompensation 457 aa) Differenzierungen der Legitimationsteilhabe

457

bb) Die Mediatisierung der Mitglieder durch die Tarifparteien

458

c) Die BA - der letzte Schritt auf dem Weg zur Etablierung der Tarifparteien als alleiniger Quelle autonomer Legitimation 460 d) Zum Beziehungsgefüge Versammlung - Vorstand - Geschäftsführung 461 3. Rechtspolitische und dogmatische Konsequenzen

462

a) Die BA - eine demokratisch legitimierte „Körperschaft mit Selbstverwaltung"? 463 aa) Die BA als öffentliche Körperschaft?

463

bb) Die BA und der Begriff der demokratischen Legitimation

464

cc) Die BA als Selbstverwaltungseinrichtung

465

dd) Ergebnis

467

b) Zu den Sozialversicherungsträgern i. e. S

467

aa) Zu den rechtspolitischen Perspektiven

467

bb) Zu den dogmatischen Perspektiven

468

Literaturverzeichnis

470

Anhang

490

Stichwortverzeichnis

496

Erster

Teil

Einführung und Grundlegung 1. Kapitel

Einführung in Gegenstand und Fragestellung I. Das Thema und sein wissenschaftliches Umfeld Die nicht in die hierarchische Ordnung der unmittelbaren Bundes- bzw. Landesverwaltung einbezogenen Träger öffentlicher Verwaltung bilden traditionell und verstärkt wieder in jüngster Zeit ein Objekt des wissenschaftlichen Interesses 1. Nimmt man sich ihrer erneut an, so bedarf das mithin einer besonderen Rechtfertigung. Ich sehe sie bereits darin, daß eine Vielzahl der bislang zu diesem Themenkreis erschienenen Veröffentlichungen ihren Schwerpunkt nicht im Verfassungsrecht haben. Vor allem aber wendet sich die hier vorgelegte Arbeit einem Gegenstand zu, der ungeachtet seiner in der wissenschaftlichen Diskussion seit jeher stiefmütterlichen Behandlung von zentraler Bedeutung für das Beziehungsgefüge von Staat und Selbstverwaltung ist: dem Verhältnis von verfassungsrechtlichem Demokratieprinzip und funktionaler Selbstverwaltung. Es geht mithin um eine - exemplarische - Bestandsaufnahme der Legitimationsstrukturen der nichtkommunalen Selbstverwaltungsträger sowie um deren Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip. Auch wenn die soeben erfolgte erste, grobe Skizzierung der Themenstellung deren Eigenständigkeit betont hat, so soll damit dennoch keinem verengten Dogmatismus das Wort geredet werden. Sicher, die Thematik bedingt eine Betrachtungsweise, die zwischen dem geltenden einfachen und dem Verfassungsrecht hin- und herpendelt, auch diese aber bedarf einer breit angelegten Fundierung, da anderenfalls jedes Urteil über die Verfas1 Vgl. etwa Bieback, Die öffentliche Körperschaft [dazu F. Müller, AöR 102 (1977), S. 622 ff.]; Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung [dazu Kübler, Verbandsprobleme zwischen Sozial- und Rechtswissenschaft, JZ 1978, S. 773 ff. und Goerlich, Rechtstheorie 10 (1979), S. 103 ff.]; Scheuing, Autonome Rechtsetzung; Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten (dazu Laux, Die „verselbständigten Verwaltungsträger" in der wissenschaftlichen Diskussion, DÖV 1981, S. 961 ff. und U. Steiner in AöR 1985, S. 293 ff.) sowie neuestens Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, und die i n Anm. 2 und 3 genannten Autoren.

1 Emde

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

sungsmäßigkeit der hier zur Diskussion stehenden Organisationsstrukturen perspektivisch verkürzt wäre. Die Untersuchung nimmt aus diesem Grunde Biebacks verfassungs- und institutionsgeschichtliche Erkenntnisse ebenso auf wie Teubners systemtheoretische Analysen über Verbandswirken und autonome Rechtssetzung; auch Schupperts verwaltungswissenschaftliche Durchdringung des gleichermaßen weiten wie diffusen Feldes zwischen privater und im engeren Sinne staatlicher Sphäre hat sie für sich fruchtbar gemacht. Vielfältige Anregungen verdankt die Arbeit einer Reihe neuerer Spezialuntersuchungen zu Rechtsproblemen der verselbständigten Verwaltungseinheiten 2 sowie den überblickhaften Dissertationen von Vorbrugg, Füßlein und E. Klein 3 . Im Vergleich zu letzteren zieht sie sowohl den Kreis der von ihr erfaßten Institutionen als auch den der sie interessierenden Sachfragen enger: nicht das ganze Spektrum der verselbständigten Verwaltungseinheiten, sondern nur die funktionale Selbstverwaltung, nicht deren gesamter verfassungsrechtlicher Status, sondern lediglich ihre Legitimationsstrukturen und ihr Legitimationsbedarf werden untersucht. Diese Beschränkung bietet zugleich die Chance einer vertieften Auseinandersetzung mit der sowohl durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzesvorbehalt 4 sowie zum Verhältnis von Autonomie und Demokratie 5 als auch durch die neueren Erkenntnisse der Wissenschaft veränderten Ausgangslage. Ziel der Untersuchung ist es, eine Konzeption der funktionalen Selbstverwaltung zu entwickeln, die nicht einfach die tradierten - durch die Rechtsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte fragwürdig gewordenen - Kategorien der älteren Dogmatik fortschreibt. Sie w i l l vielmehr zum einen die 2 Hingewiesen sei vor allem auf Lohr, Satzungsgewalt und Staatsaufsicht; Fichtmüller, Zulässigkeit ministerialfreien Raums in der Bundesverwaltung: AöR 91 (1966), S. 297 ff.; Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung; Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart; Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft; Bernhardt, Sinn und Grenzen des Rechts zur Bildung öffentlich-rechtlicher Körperschaften bei Gewerbetreibenden; Fröhler/Oberndorfer, Körperschaften des öffentlichen Rechts und Interessenvertretung; Gallas, die Staatsaufsicht über die wissenschaftlichen Hochschulen; Keller, Die staatliche Genehmigung von Rechtsakten der Selbstverwaltungsträger; Stößner, Die Staatsaufsicht i n der Sozialversicherung; Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz. 3 Vorbrugg, Unabhängige Organe der Bundesverwaltung; Füßlein, Ministerialfreie Verwaltung; E. Klein, Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raums. 4 Siehe hierzu insb.: BVerfGE 33, 125, 157 ff.; 40, 237, 248 ff.; 45, 400, 417 ff.; 47, 46, 78 ff.; 49, 89, 125 ff. Der verfassungsrechtliche Kern dieser Rechtsprechung wird mit dem Stichwort des Wesentlichkeitsvorbehalts gekennzeichnet. Zum Gehalt dieser Doktrin im einzelnen: E.-W. Böckenförde, Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt, S. 375 ff.; Krebs, Jura 1979, S. 304 ff.; Schlink, die Amtshilfe, S. 118 ff. - alle mit weiteren Nachweisen. 5 Vgl. etwa BVerfGE 33,125,158 ff. (Facharztbeschluß); 47,253, 271 ff. (nordrheinwestfälische Bezirksvertretungen); 71, 81, 94 ff. (Anwaltliches Standesrecht).

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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Erkenntnis fruchtbar machen, daß die Gestalt der Selbstverwaltung unter der Herrschaft des Grundgesetzes verfassungsrechtlich präformiert ist, und zum anderen den vielfältigen - die Prämissen der überkommenen Dogmatik aushöhlenden - Wandlungen der gesetzlichen Grundlagen der Selbstverwaltungseinrichtungen Rechnung tragen. Es gilt daher, den Blick zwischen drei Ebenen hin- und herwandern zu lassen: der der überlieferten Dogmatik, der des einfachen und der des Verfassungsrechts. Nur so kann es gelingen, die beiden Defizite der bisherigen, seit ihrer konstitutionellen Prägephase kaum revidierten, Dogmatik abzubauen: die Ignorierung mit ihr unvereinbarer Rechtsentwicklungen sowie die trotz des viel zitierten Satzes vom Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht nach wie vor mangelnde Synchronisation mit den Vorgaben der Verfassung. Und eben darin besteht das Anliegen dieser Arbeit: Sie w i l l ein Legitimationsmodell entwerfen, welches sowohl die Gebote des grundgesetzlichen Demokratieprinzips beachtet als auch die Gegebenheiten der derzeitigen Verwaltungsgesetze aufnimmt, ohne hierüber in den Fehler zu verfallen, die für eine organische Fortentwicklung der Dogmatik unverzichtbare Auseinandersetzung mit ihren gegenwärtigen und ihren einstigen Repräsentanten zu vernachlässigen. Es liegt auf der Hand, daß dieses Programm nicht in Form eines unvermittelten Neuanfangs verwirklicht werden kann, sondern eine vorherige Aufarbeitung des verwaltungs- und verfassungsrechtlichen Status quo voraussetzt. Bestandsaufnahme der Rechtslage sowie ihrer dogmatischen Umsetzung lautet mithin die Devise vor allem der ersten beiden Teile der Untersuchung, ehe im dritten und insbesondere im vierten Teil der Schritt zur Entfaltung der eigenen Konzeption getan werden kann. Die verfassungsrechtliche Fragestellung bildet folglich zwar den Ausgangs- und den Endpunkt der Arbeit, die dazwischen liegende Wegstrecke durch die Landschaften des einfachen Rechts sowie seiner Dogmatik hat jedoch ihr eigenes Gewicht und setzt neben den verfassungsrechtlichen einen zweiten Schwerpunkt. Die Untersuchung verfolgt mithin einen doppelten Anspruch: Sie w i l l einen Beitrag leisten sowohl für die Dogmatik der funktionalen Selbstverwaltung insbesondere für deren Binnenstruktur sowie deren Verhältnis zum Staat als auch für die Entfaltung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips. Diese Verschränkung von verwaltungsrechtlichem und verfassungsrechtlichem Erkenntnisinteresse erscheint mir um so unverzichtbarer, als bislang alle verfassungsrechtlichen Aussagen zum Verhältnis von Demokratie und Selbstverwaltung an mangelnder Kenntnis der rechtlichen Gegebenheiten im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung kranken. Gewiß verständlich aufgrund der Kompliziertheit und der - aus der Sicht des Verfassungsrechts - Entlegenheit der Materie hat diese Unwissenheit jedoch auch und gerade auf verfassungsrechtlicher Ebene gravierende Folgen. Wer nicht weiß, in welchem Umfang die funktionale Selbstverwaltung der ministeriellen Lei1*

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

tungsgewalt entzogen ist und welche Vielfalt eigenwilliger Formen der Willensbildung sowie der Herrschaftsrechtfertigung sie im Zuge ihrer ständig komplexer gewordenen Aufgaben hervorgebracht hat, ist schlicht nicht imstande, gesicherte Aussagen über die Ausgestaltung des demokratischen Prinzips in der funktionalen Selbstverwaltung zu machen. Genau dies aber geschieht: In unverdrossenem Vertrauen auf die oft erprobte Fertigkeit, auch entlegene Bereiche der Rechtsordnung mit dem methodischen Handwerkszeug des Rechtswissenschaftlers durchschauen und strukturieren zu können, wird den Einrichtungen der funktionalen Selbstverwaltung unter Vernachlässigung ihrer organisationsrechtlichen Besonderheiten kurzerhand der traditionelle Begriffsapparat der überkommenen Dogmatik übergestülpt. Ihre rechtliche Eigenart aber wird mit dieser Doktor EisenbartTherapie nur scheinbar bewältigt. Vermutlich sind gerade diese von keinerlei kritischer Selbstvergewisserung in Frage gestellten Kompetenzbekundungen der Literatur ursächlich für die dogmatische Vernachlässigung des Verhältnisses von Demokratie und funktionaler Selbstverwaltung - ein weiteres Lehrbeispiel für die Zählebigkeit der ewigen Illusion, mit der begrifflichen Vereinnahmung bereits die sachlichen Probleme gelöst zu haben. Es versteht sich, daß in einer derart von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausgesparten Schutzzone die Einrichtungen der funktionalen Selbstverwaltung weithin unbehelligt von den lästigen Fesseln des Verfassungsrechts eine Vielzahl eigenständiger Organisationsformen aus sich heraustreiben konnten. Diese darzustellen und den Umfang ihrer Entfernung von dem mit dem Begriff der Selbstverwaltung gemeinhin assoziierten genossenschaftlichen Willensbildungsmodell auszumessen, erscheint mir ein derart bedeutsames Desiderat, daß ich - ungeachtet des dadurch bedingten Umfangs der Untersuchung - von der Erwägung Abstand genommen habe, ihren zweiten die derzeitige Rechtslage referierenden Teil unveröffentlicht zu lassen. Ohne ihn ebenso wie ohne den dritten Teil, in dem der staatliche Charakter der in dieser Arbeit untersuchten Selbstverwaltungseinrichtungen herausgearbeitet wird, wären auch ihre verfassungsrechtlichen Aussagen nichts anderes als ein weiteres theoretisches Konstrukt, dessen Fundierung in den Gegebenheiten des geltenden Rechts nicht nachvollziehbar wäre. Überdies hieße das, nicht nur auf die systematische Erfassung der Willensbildungsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung zu verzichten, sondern auch den von dieser Studie zugleich angestrebten praktischen Nutzen preiszugeben: die Bezeichnung konkreter Legitimationsdefizite und die Präsentation legitimationsbeschaffender Abhilfen.

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1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung I I . D i e funktionale Selbstverwaltung als Gegenstand der Untersuchung 1. Der Begriff der funktionalen Selbstverwaltung

D i e juristische D o g m a t i k h a t z u r Systematisierung der n i c h t i n die h i e r a r chische M i n i s t e r i a l v e r w a l t u n g eingefügten V e r w a l t u n g s e i n r i c h t u n g e n einen ganzen Strauß v o n Bezeichnungen e n t w i c k e l t : rechtsfähige V e r w a l t u n g e n 6 , rechtsfähige V e r w a l t u n g s e i n h e i t 7 , m i t t e l b a r e S t a a t s v e r w a l t u n g 8 , m i n i s t e rialfreier R a u m 9 b z w . m i n i s t e r i a l f r e i e V e r w a l t u n g 1 0 , weisungsfreie

bzw.

unabhängige Organe b z w . B e h ö r d e n 1 1 , verselbständigte V e r w a l t u n g s e i n h e i ten b z w . - t r ä g e r u. a. m . 1 2 . W e n n i h m i n dieser A r b e i t der dogmatisch n o c h nicht

besetzte B e g r i f f

der f u n k t i o n a l e n

Selbstverwaltung

hinzugefügt

w i r d 1 3 , so soll h i e r m i t z w a r k e i n d u r c h w e g einheitlicher Rechtsstatus f ü r die v o n i h m erfaßten E i n r i c h t u n g e n r e k l a m i e r t werden; i m m e r h i n aber n i m m t 6 Der Begriff, eine Schöpfung von Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Band, S. 322 ff., ist jedoch nie recht populär geworden. 7 Der Begriff wurde von Arnold Röttgen, Die rechtsfähige Verwaltungseinheit, Verw.Arch. 44 (1939) S. 1 ff., geprägt; er erfaßt den gleichen Gegenstandsbereich wie der der rechtsfähigen Verwaltung, gehört im Gegensatz zu diesem aber immer noch zum gängigen Sprachgebrauch. 8 Von Grotefend, Die Organisation der mittelbaren und der unmittelbaren Staatsverwaltung in Preußen 1890, „erfunden", in der Folge jedoch in Vergessenheit geraten, ist der Begriff im Dritten Reich zur dogmatischen Standardvokabel geworden (vgl. etwa Röttgen, Deutsches Universitätsrecht, S. 57; W. Weber, Die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, S. 10 ff., 20 ff.) und dies bis heute geblieben (vgl. etwa Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 470 ff; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 4 Ib 2; Verwaltungsrecht II, 4. Aufl., § 74 Ile). Sein Gegenstandsbereich indessen ist umstritten. Während Forsthoff ihn synonym mit dem Terminus der rechtsfähigen Verwaltungseinheit verwendet, faßt Wolff ihn wesentlich enger. 9 Die Bezeichnung geht zurück auf die Abhandlung von Hellmuth Loening, Der ministerialfreie Raum in der Staatsverwaltung, DVB1 1954, S. 137 ff., der mit ihr als erster die nicht rechtsfähigen, gleichwohl aber weisungsfreien Verwaltungsstellen „auf den Begriff" bringt. Extensiver bestimmt E. Klein (Anm. 3), S. 58 u. 66 den ministerialfreien Raum; er erstreckt ihn auch auf die - rechtsfähigen - Träger mittelbarer Staatsverwaltung und wertet ihn damit zum gemeinsamen Oberbegriff aller nicht in die hierarchische Ministerialverwaltung eingefügten Verwaltungsstellen auf. 10 Füßlein (Anm. 3). 11 Werner, Weisungsfreie Verwaltungsbehörden, Juristische Blätter 1957, S. 229 ff.; Haas, Ausschüsse in der Verwaltung, Verw.Arch. Bd. 49 (1958), S. 14 ff.; Vorbrugg (Anm. 3); der Gehalt der Begriffe entspricht dem des ministerialfreien Raums; die Probleme der Bereichsbestimmung sind die gleichen wie dort. 12 Schuppert (Anm. 1); Laux (Anm. 1). Der Begriff umfaßt den des ministerialfreien Raums i. S. E. Kleins und die Verwaltung in privatrechtlichen Formen. 13 Er wird zwar gelegentlich verwendet (vgl. Schuppert, Anm. 1, S. 65 ff.; Obermayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und Verwaltungsprozeßrechts, S. 15; Hendler, Anm. 1, S. 43), entbehrt jedoch bislang einer klaren Konturierung und fristet nur ein dogmatisches Schattendasein. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, W D S t R L 29, S. 75 f., spricht von „funktionalen Organisationen" und bezeichnet damit Einrichtungen, deren Zwecke im Gegensatz zu denen der „politischen Organisationen" im wesentlichen vorgegeben sind.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

die Begriffsbildung für sich in Anspruch, ein bei näherer Betrachtung allerdings sehr heterogenes Bündel von Verwaltungsorganisationen im Hinblick auf ihre typusprägenden Übereinstimmungen unter eine gemeinsame Flagge zu stellen und dabei sowohl ihre Parallelität zu als auch ihre Unterschiedenheit von der kommunalen Selbstverwaltung sprachlich anklingen zu lassen. Diese Zielsetzung enthält ein Stück Inhaltsankündigung und enthüllt zugleich ein Stück dogmatischer Programmatik: ersteres durch die dem Terminus der funktionalen Selbstverwaltung immanente Begrenzung des Untersuchungsfelds auf einen bestimmten Typus von rechtsfähigen Verwaltungseinheiten, letzteres durch die mit seiner Etablierung implizierte These, er erfülle jene Forderung, der jede dogmatische Kategorie genügen muß: in der Masse des Rechtsstoffs Elemente der Ordnung aufzuzeigen. Das indessen nehmen auch die oben zusammengestellten traditionellen Formeln der Dogmatik für sich in Anspruch. Es bleibt mithin die Frage, warum diese große und ohnehin in sich zerfallene Versammlung mit einem weiteren Teilnehmer beschicken? Die Antwort und damit gleichermaßen der Begriff der funktionalen Selbstverwaltung sowie der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit folgen aus der spezifischen Perspektive der Begriffsbildung. a) Der dogmatische Gehalt Alle gängigen Bezeichnungen der nicht in die hierarchische Ministerialverwaltung eingefügten Verwaltungsstellen erheben Aspekte der Distanzierung vom Staat - sei es die Rechtsfähigkeit, sei es die Befugnis, Entscheidungen zu treffen, die nicht voll zur Disposition der ministeriellen Leitungsgewalt stehen 14 - zum begriffsbestimmenden Gesichtspunkt. Der Terminus der funktionalen Selbstverwaltung ist demgegenüber enger und anspruchsvoller. Auch er nimmt zwar sowohl das Element der Rechtsfähigkeit 15 als auch das der unabhängigen - genauer: fachweisungsfreien - Entscheidungsbefugnis auf, daneben aber ist ihm nicht anders als der kommunalen Selbstverwaltung und ganz im Sinne der traditionellen Selbstverwaltungskonzeption zusätzlich die Formierung der Betroffenen bzw. - in der Sprache der Körperschaftsdogmatik - der Mitglieder als Entscheidungsträger inhärent 1 6 . 14

Dieser Tatbestand wird im folgenden mit dem Begriff der unabhängigen Entscheidungsbefugnis gekennzeichnet. 15 A.A. die von Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg, S. 90 ff., 415 ff.; ders., Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, S. 65 ff., 99 f. entwickelte Konzeption der „politischen Selbstverwaltung". Trotz gelegentlicher Wiederbelebungsversuche (Fichtmüller, Anm. 2, S. 334 ff.) ist sie jedoch seit langem obsolet; ebenso schon Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, S. 19 und die heute nahezu unangefochtene h. M. (vgl. etwa Forsthoff, Anm. 8, S. 472 - 474). 16 Vgl. etwa L. v. Stein, Verwaltungslehre I 2, S. 17 ff., insb. S. 20; O. v. Gierke, Art.: Korporation, S. 562 f.; ders., Genossenschaftstheorie, S. 163 f., 688; Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, S. 42, 49; Preuß, Städtisches Amtsrecht, S. 123 ff.; ders., Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland,

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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Letzteres w a r der Staats- u n d V e r w a l t u n g s l e h r e der W e i m a r e r R e p u b l i k , f ü r die als Träger der S e l b s t v e r w a l t u n g n u r die - m i t g l i e d s c h a f t l i c h b z w . genossenschaftlich f u n d i e r t e - öffentliche Körperschaft i n B e t r a c h t k a m , n o c h eine schiere S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t 1 7 ; f ü r die d u r c h die M a n g e l des t o t a l e n Staates gedrehte jüngere D o g m a t i k ist sie es durchaus n i c h t mehr. Sie ist v i e l m e h r m i t der Tatsache k o n f r o n t i e r t , daß dieser z u m einen die Unterschiede zwischen öffentlicher Körperschaft u n d A n s t a l t eingeebnet h a t 1 8 u n d - d a m i t i n Z u s a m m e n h a n g stehend - z u m anderen den genossenschaftlichen Gehalt des Begriffs der S e l b s t v e r w a l t u n g preisgegeben h a t 1 9 . V o r dem H i n t e r g r u n d dieser Ausgangslage überrascht es k a u m , daß auch der Gesetzgeber 2 0 u n d die Staats- u n d V e r w a l t u n g s l e h r e der Nachkriegszeit m i t dazu beigetragen haben, die ehedem kategoriale Scheidung v o n k ö r p e r schaftlicher S e l b s t v e r w a l t u n g u n d anstaltlicher S t a a t s v e r w a l t u n g w e i t e r aufzuweichen; dies v o r a l l e m d u r c h die Schaffung v o n Selbstverwaltungsa n s t a l t e n 2 1 . G l e i c h w o h l h a t dieser Prozeß wechselseitiger A n n ä h e r u n g e n t gegen der Auffassung der insbesondere v o n F o r s t h o f f 2 2 repräsentierten etatistisch-technokratischen L i n i e der Staats- u n d V e r w a l t u n g s l e h r e n i c h t zur E l i m i n i e r u n g des M o m e n t s der Betroffenen-Beteiligung aus d e m Begriff der S e l b s t v e r w a l t u n g g e f ü h r t 2 3 . S. 266 ff.; ders., Selbstverwaltung, S. 768 ff.; Herrntritt, Grundlehren des Verwaltungsrechts, S. 187; O. Mayer (Anm. 6), S. 342 ff., 352 ff., insb. S. 357; Peters (Anm. 15), S. 5 ff. (mit umfassenden Nachw.) sowie eingehend Bieback (Anm. 1), insb. S. 452 - 454 und Hendler (Anm. 1), S. 50 - 69, 271 - 279. Es sei besonders hervorgehoben, daß jedenfalls in der Dogmatik des Konstitutionalismus die mitgliedschaftliche Binnenstruktur nicht notwendig egalitär-demokratisch war. 17 Dies betont, neben Preuß, Herrntritt, O. Mayer und Peters (Anm. 16) auch Forsthoff (Anm. 8), S. 473 f. 18 Paradigmatisch Maunz, Verwaltung, S. 54 ff.; zurückhaltender demgegenüber W. Weber (Anm. 8), S. 15 ff., 86 ff. 19 Vgl. hierzu Maunz (Anm. 18), S. 130 - 133; Köttgen (Anm. 7), S. 43 ff; W. Weber (Anm. 8), S. 87 und Forsthoff (Anm. 8), S. 477 f., 487 f. Forsthoff betont zwar den mitgliedschaftlichen Charakter der öffentlichen Körperschaft, bringt ihn aber um seinen Sinn, indem er - ganz in den Bahnen des totalen Staats - die Mitwirkungsberechtigimg von der Mitgliedschaft abspaltet und damit die Reduzierung der Mitgliedschaft auf eine reine Pflichtstellung ermöglicht. 20 Dies gilt auch und gerade für den Verfassungsgeber, der gelegentlich - etwa in Art. 87 Abs. 2 GG - i n Fortführung der NS-Dogmatik den Begriff der Körperschaft als Oberbegriff für alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts verwendet und seinen Gehalt damit auf die Rechtsfähigkeit reduziert hat (näher dazu v. Mangoldt/ Klein, Das Bonner Grundgesetz, Anm. V 5a zu Art. 87 sowie unten Teil 4. Ähnlich § 133 BRRG, nach dem alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit Dienstherrenfähigkeit als Körperschaften des öffentlichen Rechts gelten. Anders hingegen § 37 Abs. 2 schl.-holst. LandesverwG, der die öffentlichen Körperschaften ohne Gebietshoheit als „rechtsfähige mitgliedschaftliche organisierte Verwaltungseinheiten, die Aufgaben öffentlicher Verwaltung erfüllen", definiert und damit die traditionelle Dogmatik fortführt). 21 Hingewiesen sei vor allem auf die Rundfunkanstalten (näher hierzu Wufka, Die verfassungsrechtlich-dogmatischen Grundlagen der Rundfunkfreiheit, und Ossenbühl, Rundfunk zwischen Staat und Gesellschaft); weitere Beispiele geben Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl., § 84 IV 63 (S. 183). 22 (Anm. 8), S. 477 f.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Sicherlich, die Neigung des Gesetzgebers, den alten Graben zwischen Körperschaft und Anstalt durch die Schaffung von Übergangsformen zuzuschütten - es sei hier nur auf die Sozialversicherungsträger und insbesondere die Bundesanstalt für Arbeit (BA) hingewiesen - , hat nicht nur häufig eine Verringerung der Distanz zwischen Selbstverwaltungskörperschaft und Staat, sondern auch die Schwächung des Prinzips der genossenschaftlichen Willensbildung gefördert. Dessen ungeachtet aber gewähren alle körperschaftlichen Selbstverwaltungsträger ihren Mitgliedern Mitwirkungsrechte, und auch die BA sowie die anstaltlichen Selbstverwaltungseinrichtungen, denen die Kategorie der Mitgliedschaft fremd ist, sind nicht schlicht Gehäuse für die Selbstentfaltung staatlicher Funktionäre, sondern beteiligen die betroffenen gesellschaftlichen Kreise und Kräfte ebenfalls an ihrem Wirken. Die sich hierin manifestierende Angleichung der Binnenstruktur der Selbstverwaltungsanstalten an die der Körperschaften erweist die Annahme, die Annäherung von Anstalt und Körperschaft sowie insbesondere die Schaffung von Selbstverwaltungsanstalten sei gleichzusetzen mit einem Zusammenbruch des mitgliedschaftlichen Selbstverwaltungsbegriffs, als Kurzschluß. Viel zutreffender erscheint es, die Entwicklung als eine Ausdehnung des Prinzips der Selbstverwaltung - der Formierung der Betroffenen als Entscheidungsträger - um den Preis der Abschwächung seines herkömmlichen Realisationsmodus - der mitgliedschaftlichen Binnenstruktur - zu deuten. Es ist daher trotz der Erosion des Selbstverwaltungsbegriffs in der Randzone der anstaltlichen Selbstverwaltung und den Abweichungen vom egalitär-genossenschaftlichen Willensbildungsideal festzuhalten an der den ohnehin und zumal in dieser Arbeit vorherrschenden körperschaftlichen Selbstverwaltungsträgern eigenen mitgliedschaftlichen Binnenstruktur als typusprägendem Merkmal der Selbstverwaltung 24 . Aber nicht nur der tatsächliche Verlauf der Entwicklung, sondern auch die Gebote der Dogmatik erweisen Forsthoffs auf die Rechtsfähigkeit und die Dimension des Verhältnisses zum Staat verkürzten Selbstverwaltungsbegriff als Irrläufer der juristischen Entwicklungsgeschichte. Die Staatsund Verwaltungslehre hat im Verlauf der letzten hundert Jahre in einem langandauernden Systembildungsprozeß 25 je eigene typologische Merkmale 23 Dennoch ist Forsthoffs reduktionistischer Selbstverwaltungsbegriff von einer Reihe maßgeblicher Autoren übernommen worden, vgl. etwa Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 302; Wolff/Bachof (Anm. 21), § 84 IVb (S. 180). Bei letzteren allerdings scheint die mitgliedschaftliche Prägung der Selbstverwaltung in der Tatsache auf, daß sie - zu Recht - die körperschaftliche Variante als das Paradigma der Selbstverwaltung überhaupt betrachten (§ 84 IVb 3). Ebenso Schuppert, Öffentlich-rechtliche Körperschaften, S. 400 ff. 24 Ebenso Röttgen, Selbstverwaltung, S. 221 und 224. 25 Er ist dargestellt worden von Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, und Bieback (Anm. 1) sowie in geraffter und einseitiger Form von Forsthoff (Anm. 8), S. 471 - 478.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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für die Kategorien „Körperschaft" und „Anstalt" sowie innerhalb dieser für sich selbst verwaltende und staatlich verwaltete Einrichtungen entwikkelt 2 6 . Dieses feingliedrige Begriffsgebäude bringt Forsthoff durch die Nivellierung des Unterschieds zwischen Körperschaft und Anstalt 2 7 sowie durch die Ineinssetzung von rechtsfähiger Verwaltungseinheit und Selbstverwaltungseinrichtung 28 kurzerhand zum Einsturz. Seine Dogmatik der Planierraupe mag zwar die angemessene verwaltungsjuristische Umsetzung des dem totalen Staat eigenen Gleichschaltungsgedankens gewesen sein 29 , die Funktionsvielfalt des modernen demokratischen Verwaltungsstaats ebenso wie die mit ihr einhergehende Vielfalt seiner Organisationsformen indessen verschüttet sie, statt sie zur Erscheinung zu bringen: Zur dogmatischen Strukturierung des gesamten Bereichs der rechtsfähigen Verwaltungseinheiten hat Forsthoff nur noch die damit austauschbaren Begriffe der mittelbaren Staatsverwaltung und der Selbstverwaltung sowie die der - voneinander ebenfalls nicht mehr unterscheidbaren - Körperschaft und Anstalt zur Verfügung 30 . Da der Staat der Gegenwart aber trotz aller Tendenzen zur Schaffung fließender Übergänge zwischen den Kategorien der Dogmatik ein reicheres und feiner geknüpftes System gleichwohl voneinander unterscheidbarer Verwaltungstypen geschaffen hat 3 1 , fehlt Forsthoff das begriffliche Instrumentarium zu seiner Erfassung. Dies gilt insbesondere für die hier wesentliche Unterscheidung zwischen unabhängigen und weisungsgebundenen Verwaltungsträgern sowie die zwischen mitgliedschaftlich organisierten und von staatlichen Funktionären beherrschten. Genau dieses durch eine nur am Verhältnis Staat - Verwaltungsträger ausgerichtetes und deren unterschiedliche Binnenstruktur ignorierende Dogmatik geschaffene Vakuum soll der Innen- und Außenperspektive in sich vereinigende Begriff der funktionalen Selbstverwaltung füllen. Definiert als Verwaltung durch nicht an fachliche Weisungen gebundene juristische Person des öffentlichen Rechts, deren Entscheidungsorgane aus den Betroffenen, typischerweise den Mitgliedern, rekrutiert werden, ist sie die dogmatische Kategorie, die jene Sonderform öffentlicher Verwaltung auf den Begriff bringt, welche weder im oben zusammengestellten terminologi26 Die Unterscheidung zwischen sich selbst verwaltenden und staatlich verwalteten Körperschaften ist allerdings derzeit nurmehr theoretischer Natur, da seit dem Ende des 3. Reichs alle Körperschaften zumindest gewisse Selbstverwaltungsbefugnisse besitzen. 27 Sie wird zwar verbal beibehalten (Forsthoff, Anm. 8, S. 487 f., 493 ff.), in der Sache jedoch ebnet Forsthoff das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal - die Fundierung der Entscheidungen der Körperschaft in Willensakten der Mitglieder - wie dargelegt (Anm. 19) ein. 28 Anm. 8, S. 478. 29 Zu den Prinzipien der Verwaltungsorganisation im Führerstaat, Maunz, Verwaltung, S. 41 ff. 30 Anm. 8, S. 478. 31 Vgl. hierzu die Überblicke von Wolff/Bachof (Anm. 21) §§ 84 und 98.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

sehen Arsenal einen eigenen, ihre spezifische Binnenstruktur widerspiegelnden Ausdruck gefunden hat, noch - da primär aufgaben- und nicht gebietsbezogen - unter das Dach der kommunalen Selbstverwaltung paßt. Letzteres wird durch das Attribut „funktional" hervorgehoben. b) Die funktionale Selbstverwaltung und die traditionellen Begriffe der Dogmatik Die alte Wahrheit, daß alle juristischen Begriffe polemische Begriffe sind 3 2 , gilt auch für den der funktionalen Selbstverwaltung. Nicht nur die Methode seiner Entfaltung - sie bestand in einer dauernden Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von den etablierten Begriffen der Dogmatik - , sondern auch das Ergebnis dieses Prozesses bestätigen jene Erkenntnis: die Daseinsberechtigung der neuen Kategorie liegt allein in ihrem Eigenwert gegenüber den bereits vorgefundenen. Führt man sich diesen Zusammenhang vor Augen, so bereitet die Standortbestimmung der funktionalen Selbstverwaltung im System der traditionellen Dogmatik nunmehr keine besonderen Schwierigkeiten; sie muß vielmehr lediglich aus den bereits getroffenen Grundentscheidungen Schlußfolgerungen ableiten: - Rechtsfähige Verwaltungseinheit und funktionale Selbstverwaltung: Da die Rechtsfähigkeit, wie bereits angeklungen, seit jeher eines der Definitionsmerkmale der Selbstverwaltung darstellt, bilden deren Träger mithin eine besonders strukturierte Teilmenge der rechtsfähigen Verwaltungseinheiten. - Mittelbare Staatsverwaltung und funktionale Selbstverwaltung: Der Begriff der mittelbaren Staatsverwaltung bezieht sich auf all jene Institutionen, die Verwaltungsaufgaben des Staates wahrnehmen. Dem der Selbstverwaltung hingegen eignet diese Implikation nicht. Er ist - entgegen der oben angedeuteten Auffassung der etatistischen Doktrin 3 3 weder aufgrund seiner historischen Tradition noch seiner verfassungsrechtlichen Prägung auf Träger staatlicher Verwaltungsaufgaben festgelegt 34 . Wie das Beispiel des Rundfunks, nach verbreiteter Ansicht auch das der Universitäten, sowie die Formulierung des Art. 137 Abs. 3 WRV zeigen und wie schon die freiheitlich-liberale Linie der konstitutionellen Staatsrechtslehre - insbesondere im Hinblick auf die vor- und außerstaatliche Fundierung der kommunalen Selbstverwaltung - dargelegt hat, 32

Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 13. Repräsentiert wiederum von Forsthoff (Anm. 8), S. 477 f.; i n gleicher Richtung Stern (Anm. 23), S. 298; schwankend Wolff/Bachof (Anm. 21), §§ 74 I I b 2 (S. 55) und 84 IV b 5 (S. 183) einerseits, andererseits §§ 74 I I c (S. 56) und 84 I f (S. 170). Die Gegenposition wird u. a. von Salzwedel, Staatsaufsicht in Wirtschaft und Verwaltung, vertreten. 34 Dies wird in Teil 3 eingehend dargelegt werden. 33

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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ist er vielmehr offen auch für außerstaatliche Institutionen. Funktionale

Selbstverwaltung und mittelbare Staatsverwaltung sind mithin sich überschneidende Begriffe; ob ein Selbstverwaltungsträger der mittelbaren Staatsverwaltung zuzurechnen ist, bedarf daher in jedem Einzelfall einer gesonderten Prüfung. - Ministerialfreier Raum und funktionale Selbstverwaltung: Versteht man den ministerialfreien Raum im Loeningschen Sinn 3 5 als Inbegriff aller nicht rechtsfähigen, aber weisungsfreien Verwaltungsstellen, so ist er ein aliud gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung. Versteht man ihn im umfassenden, von E. Klein 3 6 propagierten Sinn, ist die funktionale Selbstverwaltung hingegen ein Unterfall des ministerialfreien Raums. Im folgenden wird der Begriff des ministerialfreien Raums im Dienste der Vereinfachung der Verständigung nicht auf die Träger der funktionalen Selbstverwaltung erstreckt. - Verselbständigte Verwaltungseinheiten und funktionale Selbstverwaltung: Orientiert man sich an dem von Schuppert vorgeschlagenen Sprachgebrauch 37 , so ist der Begriff der verselbständigten Verwaltungseinheit die umfassendste, hier aufgenommene Kategorie: er erstreckt sich sowohl auf den ministerialfreien Raum im weiten Sinne E. Kleins 3 8 als auch auf die Verwaltung in privatrechlichen Formen. Auch in bezug auf ihn bildet die funktionale Selbstverwaltung mithin eine besonders strukturierte Teilgruppe. 2. Die Begrenzung des Untersuchungsgegenstands auf die funktionale Selbstverwaltung

Schon die bisherigen Ausführungen haben deutlich werden lassen, daß die funktionale Selbstverwaltung kein einsam im Raum der öffentlichen Verwaltung dastehender Block von Institutionen völlig singulärer Prägung ist, sondern vielfältige Berührungspunkte mit einer Reihe anderer Verwaltungstypen aufweist. Diese Verwobenheit gibt Anlaß zu der Frage, ob die ins Auge gefaßte Begrenzung des Untersuchungsgegenstands sinnvoll und praktikabel ist. Bedenken hieran können sowohl aus der Perspektive des Verfassungsrechts als auch aus der der Verwaltungswissenschaft geäußert werden.

35 36 37 38

Anm. 9, S. 173 ff. Anm. 3, S. 58 und 66. Anm. 1, S. 5 ff. Siehe Anm. 36.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

a) Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Begrenzung des Untersuchungsgegenstands E. Klein 3 9 hat dargelegt, daß das Spezifikum des ministerialfreien Raums seine Unabhängigkeit von ministeriellen Einzelweisungen ist. Da dies in gleicher Weise auch für die Selbstverwaltung gilt, erhebt sich die - von E. Klein inzident bejahte 40 - Frage, ob die Vereinbarkeit des ministerialfreien Raums mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip nicht die gleichen Probleme aufwirft wie die der funktionalen Selbstverwaltung. Träfe dies zu, so wäre es in der Tat verfehlt, diesen verfassungsrechtlichen Zusammenhang zu ignorieren und die Untersuchung auf die Legitimationsstrukturen und -probleme der funktionalen Selbstverwaltung zu beschränken. Indessen liegen die Dinge doch anders. Im ministerialfreien Raum impliziert Weisungsfreiheit schlicht eine Verdünnung der staatsvermittelten Legitimation, seine verfassungsrechtliche Zulässigkeit steht und fällt daher - soweit nicht grundgesetzliche Sonderbestimmungen eingreifen - wie E. Klein 4 1 zutreffend dargestellt hat, mit der Möglichkeit, einen Lenkungs- und Kontrollverzicht von Regierung und Parlament auf ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen zu begründen. Anders hingegen ist die Situation im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung. Ihr Charakteristikum ist nicht die Reduktion der ministeriellen Leitungsgewalt, sondern deren Substitution durch die Selbstbestimmung der Körperschaftsmitglieder; die Verkürzung der staatsvermittelten Legitimation geht mithin einher mit einem Zuwachs an autonomer Legitimation. Der gegenüber dem ministerialfreien Raum veränderte verfassungsrechtliche Ausgangspunkt kann daher mit der Formel: Legitimationsverschiebung statt Legitimationsverdünnung gekennzeichnet werden. b) Funktionelle Einwände In seiner breit angelegten Habilitationsschrift präsentiert Schuppert die ganze Vielfalt der Typen öffentlicher Verwaltung und bestätigt die bereits häufig geäußerte Annahme, daß unterschiedliche Organisationsformen nicht unbedingt mit unterschiedlichen Funktionen einhergehen müssen 42 . Mit anderen Worten: Verwaltungseinrichtungen können trotz verschiedenartiger Rechtsgestalt gleichartige Funktionen wahrnehmen. Auf dem Boden dieser verwaltungswissenschaftlichen Erkenntnis wäre es daher nur folgerichtig, nicht nur den gesamten ministerialfreien Raum, sondern auch die staatliche Nutzung der Verwaltungskraft privatrechtlicher Organisationen 39 40 41 42

Siehe Anm. 36. Anm. 3, S. 180 ff., 190 ff. Anm. 3, S. 190 ff. Anm. 1, insb. Teil 2.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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in die Betrachtung einzubeziehen 43 . Wenn dies hier nicht geschieht, so liegt der Einwand nahe, damit werde ein einheitlicher Funktionsbereich zerspalten. So zutreffend dies sein mag, ändert es doch nichts an der Tatsache, daß - wie dargelegt - die Legitimationsproblematik bei mitgliedschaftlich organisierten Selbstverwaltungsträgern auf der einen Seite eine durchaus andere Gestalt annimmt als bei sonstigen verselbständigten Verwaltungseinheiten, seien sie nun öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich organisiert, auf der anderen Seite. Dies mag für eine an Funktionen ausgerichtete verwaltungswissenschaftliche Analyse unwesentlich sein, nicht aber für eine verfassungsrechtliche. Ihr steht es frei, ihren Gegenstand unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten festzulegen, selbst wenn damit verwaltungswissenschaftlich Zusammengehöriges auseinandergerissen wird.

III. Entfaltung der Fragestellung und Darlegung des Untersuchungsplans 1. Fragestellung und Problemaufriß

Alle das etablierte System der hierarchischen Ministerialverwaltung sprengenden Verwaltungstypen werfen vielfältige und komplizierte Sachund Rechtsprobleme auf. Überraschen kann dies kaum, sind sie doch die Ausnahme vom die Gestalt der öffentlichen Verwaltung prägenden und auch verfassungsrechtlich gesicherten Normalfall und insofern stets einer besonderen Rechtfertigung sowohl in sachlich-politischer als auch in juristischer Hinsicht bedürftig. Hierum haben sich denn auch die Rechtswissenschaft ebenso wie die Sozialwissenschaften von jeher bemüht 44 . Im Zentrum des verfassungsrechtlichen Interesses stehen dabei insbesondere folgende Fragen: - Dürfen staatliche Verwaltungsaufgaben überhaupt der Leitungsgewalt des Ministers und damit zugleich dessen parlamentarischer Verantwortlichkeit entzogen werden? - Welche Sachaufgaben müssen von der Ministerialverwaltung selbst wahrgenommen werden? - In welchem Maße darf die ministerielle Leitungsgewalt eingeschränkt werden? - Welche Beschaffenheit muß der unabhängige Entscheidungsträger haben? Insbesondere: Wer besetzt seine Organe, und wem sind diese verantwortlich? 43 44

So in der Tat Schuppert (Anm. 1), insb. S. 1 f., 5 ff. Vgl. Anm. 1 - 3 .

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

- Dürfen verselbständigte Verwaltungseinheiten außerstaatliche Aufgaben wahrnehmen? Wenn ja: unter welchen Voraussetzungen? - Wer ist zuständig für diese Organisationsentscheidungen? Das Parlament, die Regierung oder auch die unabhängige Verwaltungseinheit selbst? - Setzen die gewachsenen Strukturen der öffentlichen Verwaltung der Entscheidungsfreiheit der zuständigen Stellen Grenzen? Stichwort: Systemgerechtigkeit. Es versteht sich, daß jeder Versuch einer auf die derzeitige Verwaltungsorganisation bezogenen Antwort deren vorherige Analyse voraussetzt. Auch diese Abhandlung muß daher die von ihr ins Visier genommenen Selbstverwaltungseinrichtungen einer Bestandsaufnahme unterziehen, ehe sie sich anschicken kann, zu deren Verfassungsmäßigkeit Stellung zu nehmen. Der Umfang, den allein die Darstellung des Status quo einnimmt, hat einen doppelten Grund. Zum einen schließen die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit der Selbstverwaltungseinrichtungen eine exemplarische Betrachtung weitgehend aus, zum anderen fordern die Verwerfungen der Dogmatik ihren Tribut: Bereits die Heterogenität der Ansätze sowie der unterschiedliche Sprachgebrauch wirken seitenverschleißend, vor allem aber macht die Weigerung der überkommenen Dogmatik, zur Kenntnis zu nehmen, daß die heutige Rechtsgestalt der funktionalen Selbstverwaltung mit ihren Vorstellungen von „Körperschaft", „Selbstverwaltung" und „demokratischer Legitimation" in vielem unvereinbar ist, ein ausführliches Eingehen sowohl auf die Rechtslage als auch auf deren dogmatische Verarbeitung unumgänglich. Die - vornehmlich dem dritten sowie insbesondere dem vierten Teil vorbehaltenen - verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte, die der Fragenkatalog ins Spiel bringt, sind weit gestreut: Sowohl die Grundrechte als auch das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip sowie bundesstaatliche Aspekte begrenzen die Gestaltungsfreiheit der zuständigen Stellen, d. h. in erster Linie des Gesetzgebers. Doch so weit soll der Untersuchungsgegenstand hier nicht gezogen werden; nicht die Verfassungsmäßigkeit der funktionalen Selbstverwaltung ist das Thema, sondern „lediglich" deren demokratische Legitimation. M. a. W.: Es geht um die Darstellung der Legitimationsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung und um deren Übereinstimmung mit dem demokratischen Prinzip. Nur soweit es hierfür von Belang ist, werden denn auch Antworten auf die oben zusammengestellten Fragen gesucht. Diese Selbstbeschränkung hat zur Folge, daß beliebte „Dauerbrenner" der juristischen Dogmatik, wie etwa die Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, die Grenzen der Satzungsautonomie öffentlicher Körperschaften, deren Betätigung als Instrument privater Mitgliederinteressen sowie das Problem des allgemein-politischen Mandats nicht in ihrer vollen Tragweite, sondern nur unter dem Aspekt der demokratischen Legitimation angeschnitten werden.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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Das verbleibende Programm mag sich auf den ersten Blick bescheiden ausnehmen, bei näherer Betrachtung indessen erweist es sich als durchaus anspruchsvoll. Im demokratischen Staat ist auch die Verwaltung „verfaßt". Er akzeptiert keinen verfassungsrechtlichen Arkanbereich staatlichen Wirkens und unterwirft daher nicht nur das Handeln der Verwaltung, sondern auch ihre Organisation der Verfassung, insonderheit dem demokratischen Prinzip. Das gilt ungeachtet dessen, ob Parlament, Regierung oder die Verwaltung selbst die Organisationsentscheidungen treffen - jede Ausübung von Organisationsgewalt über die Verwaltung ist verfassungsgebunden. Dies alles ist unbestritten. Aber was folgt daraus? Die populäre Redeweise von der durch das Grundgesetz vermittelten demokratischen Legitimation der Verwaltung 4 5 ist zwar staatsfördernd, aber wenig erhellend. W i l l sie nur sagen, daß öffentliche Verwaltung, da vom Grundgesetz als staatliche Funktion vorgesehen, grundsätzlich mit dem demokratischen Prinzip in Einklang stehe, so erschöpft sie sich in einer blanken Banalität, behauptet oder insinuiert sie aber, mit der grundgesetzlichen Verankerung der vollziehenden Gewalt als Staatsfunktion sei die Verfassungsmäßigkeit der konkreten Gestalt der öffentlichen Verwaltung gewährleistet, so begeht bzw. fördert sie einen Trugschluß: das demokratische Prinzip hat ebensowenig wie die sonstigen Verfassungsgrundsätze die öffentliche Verwaltung per se und als solche in seinen Willen aufgenommen, jede einzelne ihrer Organisationsnormen und jede einzelne ihrer Entscheidungen kann vielmehr mit ihm kollidieren und muß sich daher an ihm messen lassen. An diesem Punkt beginnen sich die Probleme herauszukristallisieren. Ist es schon nicht immer einfach zu ermitteln, unter welchen Voraussetzungen die unmittelbare Staatsverwaltung demokratisch legitimiert ist 4 6 , so wachsen diese Schwierigkeiten bereits bei den rechtsfähigen Verwaltungseinheiten im allgemeinen, erst recht aber stellen sie sich im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung ein. Dies zum einen, weil eine dem Art. 28 GG entsprechende grundgesetzliche Spezialvorschrift weder für die Kammern noch für die Sozialversicherungsträger und die BA - nach meiner Auffassung auch nicht für die Universitäten - vorhanden ist, ihre Existenz als solche aber gleichwohl verfassungsgemäß ist. Die Frage, welches Maß an Handlungsspielraum bei ihrer Ausgestaltung besteht oder - anders gewendet - welche Direktiven das demokratische Prinzip erteilt, wird damit zum verfassungsrechtlichen Interpretationsproblem. Seine Lösung ist um so schwieriger, als Rechtsprechung und Wissenschaft die Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an die staatliche Sonderrechtsordnung und vor allem an die Verfas45

BVerfGE 49, 89, 125 f. Man denke an die vielfältigen Formen der Partizipation an Verwaltungsentscheidungen sowie an den ministerialfreien Raum; eingehend dazu unten 13, Kap. III. 46

I. Teil: Einführung und Grundlegung

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sung, soweit sie sie ü b e r h a u p t thematisieren, i n der Regel u n t e r g r u n d r e c h t l i c h e n u n d rechtsstaatlichen Aspekten, n u r selten aber i m H i n b l i c k auf das demokratische P r i n z i p diskutieren. Z u m anderen k o m m t h i n z u , daß einige alte Gleichungen: - öffentliches Recht = Sonderrecht des Staates (und seiner G l i e d e r ) 4 7 , - öffentliche V e r w a l t u n g = W a h r n e h m u n g v o n Verwaltungsaufgaben des Staates (und seiner Glieder), - juristische Personen des öffentlichen Rechts = Träger m i t t e l b a r e r Staatsverwaltung n i c h t m e h r aufgehen. N i c h t daß die i h n e n zugrundeliegenden E i n s i c h t e n i n S t r u k t u r - u n d Funktionszusammenhänge obsolet geworden w ä r e n - davon k a n n keine Rede sein - , n u r die griffigen Formeln, z u denen diese u n t e r der Schirmherrschaft eines d u r c h starke u n d v i e l f ä l t i g e historische W u r z e l n gespeisten etatistischen E i n h e i t s d e n k e n s 4 8 geronnen sind, erweisen sich gelegentlich als u n z u l ä n g l i c h . Das ist n i c h t neu u n d bereits verschiedentlich eingehend dargelegt w o r d e n 4 9 ; hier k a n n es daher sein Bewenden haben m i t einem beispielhaften H i n w e i s auf die n i c h t der m i t t e l b a r e n Staatsverwalt u n g angehörenden Jagd-, Fischerei- u n d Waldgenossenschaften 5 0 , auf das außerstaatliche W i r k e n der als öffentliche Körperschaft errichteten D e u t schen Genossenschaftsbank 5 1 sowie einiger bayerischer K ö r p e r s c h a f t e n 5 2 47 D. h. derjenigen Institutionen, die Kompetenzen des Staates wahrnehmen: Wolff/Bachof (Anm. 8), § 4 I b (S. 26) und § 74 I I (S. 53 ff.) 48 Es reicht zurück bis auf die absolutistische Staatstheorie, wurde neu befestigt durch den in der Vorstellung einer rigiden Dichotomie von Staat und Gesellschaft verhafteten staatsrechtlichen Positivismus und erlebte eine späte Blüte in der Dogmatik des totalen Staats. Zum Topos der Einheit der Staatsgewalt und zu seiner geringen Aussagekraft für konkrete Probleme der Organisation des Staats sowie der Bestimmung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich: Schlink (Anm. 4), S. 62 ff. 49 Hingewiesen sei auf BVerfGE 31, 314, 337 ff. (Minderheitsvotum); H. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 877 ff.; Salzwedel (Anm. 33), S. 222 - 236; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 85 f., 112 - 123; Mronz (Anm. 2), S. 143 ff.; Ossenbühl, Rundfunk zwischen Staat und Gesellschaft, S. 28 ff.; ders., Grundfragen zum Rechtsstatus der öffentlichen Sparkassen, S. 47; Bethge, Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen, AöR 104 (1979), S. 284, sowie eingehend unten 9. und 10. Kapitel. 50 Ihr Zweck ist es, die Sozialbindung des Eigentums durch kollektive Nutzung zu realisieren. Sie gewährleisten damit, daß die Wahrnehmung der privaten Eigentümerinteressen zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dient. Näher hierzu: F. Klein, Die Genossenschaften des öffentlichen Rechts, ZgGenW, Band 7 (1957), S. 145 ff.; ders./ H. Leidel, Die Jagdgenossenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, ZgGenW, Band 12 (1962), S. 1 ff.; ders./H. Berlin, Die Fischereigenossenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, ZgGenW, Band 13 (1963), S. 197ff.; Wolff/Bachof (Anm. 21), § 97 (S. 353 ff.). 51 Vgl. § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Deutsche Genossenschaftsbank (BGBl. I, 1975, S. 3171 ff.). Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes ist die Bank befugt, Bankgeschäfte jeder Art auszüben. Während ihre Geschäftstätigkeit mithin der der privatrechtlichen Kreditinstitute entspricht, unterscheidet sie sich insofern von letzteren, als der Gesetzgeber ihr einen speziellen Geschäftszweck zugewiesen hat; gem. § 1 Abs. 1 des Gesetzes hat die DG Bank die Aufgabe, das Genossenschaftswesen zu fördern.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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und auf die Staatsfreiheit des Rundfunks 53 ; in gewisser Weise bestätigt auch die Körperschaftsqualität der Kirchen diese Feststellung. Man mag diese Verunreinigung dogmatischer Prinzipien und die damit einhergehende Infragestellung bequemer Glaubenssätze beklagen - von Verfassungs wegen läßt sich ihr nichts entgegenstellen. Solange die Begriffe öffentliches Recht, öffentliche Verwaltung und öffentliche Körperschaft nicht verfassungsrechtlich fixiert sind 54 , kann der einfache Gesetzgeber über sie verfügen. Daß man in der Nachkriegszeit verstärkt dazu übergegangen ist, die - außer in den Köpfen der positivistischen Dogmatik - nie ganz eindeutige Reservierung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts für staatliche Verwaltungsaufgaben aufzugeben 55 und die Kategorie der öffentlichen Körperschaft sowie die der Anstalt nunmehr auch als organisatorisches Gehäuse für außerstaatliche Zwecke zur Verfügung zu stellen, kann noch nicht einmal überraschen. Vergegenwärtigt man sich die heute zur staatsrechtlichen Grundausstattung gehörende Erkenntnis, daß die Vorstellung einer starren Trennung von Staat und Gesellschaft im demokratischen und sozialen Staat der Gegenwart ein Anachronismus ist 5 6 , so erscheint es vielmehr als durchaus systemgerecht, daß die beiden Antipoden nicht nur durch die Fundierung des Staatswillens im Volkswillen, sondern daneben durch eine Vielzahl von Einrichtungen ineinander verzahnt sind, auf die sie beide Einfluß nehmen. Es überrascht nicht, daß dieser Prozeß der Penetration eines Staates - dessen Aufgaben ständig wachsen und ständig differenzierter werden - in die Gesellschaft auf der einen Seite ebenso wie die stetig voranschreitende Infiltration der Gesellschaft in die staatliche Ver52

Eingehend dazu Mronz (Anm. 2), S. 165 ff. Dazu BVerfGE 31, 314, 337 ff. (Minderheitsvotum) und Ossenbühl, Rundfunk (Anm. 49). 54 Die Begriffe öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung tauchen im Grundgesetz gar nicht auf, der der öffentlichen Körperschaft wird zwar gelegentlich verwendet, dies aber in so verschiedenen Zusammenhängen, daß der Verfassung eine eindeutig staatliche Prägung des Begriffs nicht entnommen werden kann; dies gilt im Ergebnis auch für den vom Grundgesetz nur im Zusammenhang mit den Kommunen verwendeten Begriff der Selbstverwaltung. Eingehend hierzu unten 9. Kap. 55 Schon die liberale Staatstheorie des Vormärz hatte die Gemeinden als Einrichtungen betrachtet, deren eigene Angelegenheiten außerhalb des Bereichs der staatlichen Verwaltungsaufgaben lagen (Rotteck, Art. „Gemeinde", in: Staatslexikon, 2. Aufl., Band 5, S. 477 ff.); auch die Genossenschaftstheorie (Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1. Band, S. 644 f., 759 - 763; Preuß, Anm. 15, S. 123 ff.; ders., Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, S. 222 f. und sogar noch Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 25) haben die Existenz von öffentlichen Körperschaften hervorgehoben, deren Zweck nicht darin besteht, „eigentlich" dem Staat obliegende Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen (weitere Nachweise für diese Auffassung finden sich bei Peters, Anm. 15, S. 12 - 15). Auch auf L. v. Stein, in dessen Staatstheorie (Die Verwaltungslehre I 1, S. 123 f., I 2, S. 5 ff., I 3, S. 3 ff.) die „freie Verwaltung" als Verbindungsglied zwischen Staat und Gesellschaft fungiert, ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen. 56 Ebenso Böckenförde, Einleitung S. XIV f., in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, sowie Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, ebd., S. 488 ff. 53

2 Emde

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

waltung auf der anderen Seite nicht zuletzt in den Einrichtungen der funktionalen Selbstverwaltung stattfindet - als Nahtstelle der beiden Blöcke bilden sie gewissermaßen einen „natürlichen" Schauplatz der Verschränkung von Staat und Gesellschaft, so daß die Öffnung des Körperschafts- sowie des Anstaltsbegriffs auch für Bestrebungen, die nicht den staatlichen Verwaltungsaufgaben zugerechnet werden, jedenfalls naheliegend, wenn nicht gar zwangsläufig ist 5 7 . Das Doppelgesicht der juristischen Personen des öffentlichen Rechts hat zur Folge, daß der schlichte Schluß von der öffentlich-rechtlichen Rechtsform einer Einrichtung auf ihren Status als Träger mittelbarer Staatsverwaltung seine logische Zwangsläufigkeit einbüßt und auf die zentrale Frage der verfassungsrechtlichen Zuordnung der funktionalen Selbstverwaltung sei es zum Staat, sei es zum außerstaatlichen Bereich - eine einheitliche, a priorische Antwort nicht mehr gegeben werden kann. Das bis heute übliche Verfahren einer pauschalen Zuordnung anhand formaler Kriterien ist daher nicht mehr gangbar; an seine Stelle muß - trotz des damit verbundenen Aufwands - eine Einzelanalyse der jeweils ins Visier genommenen Einrichtung treten. Erst wenn sich hieraus deren staatlicher Charakter ergibt, steht fest, daß die an den Staat gerichteten Grundsätze des demokratischen Prinzips ins Spiel kommen 58 . Der weitere Gang der Untersuchung ist durch den Problemaufriß vorgezeichnet. Im folgenden gilt es, den Begriff der demokratischen Legitimation, vor allem im Hinblick auf seine Bedeutung für die funktionale Selbstverwaltung, zu konturieren (2. Kapitel). Sodann werden deren Aufgaben, Rechtsstellung und insbesondere Legitimationsstrukturen entfaltet (2. Teil). Diese Bestandsaufnahme bildet das Material, anhand dessen der 3. Teil die verfassungsrechtliche Zuordnung der Selbstverwaltungsträger, sei es zum Staat, sei es zum außerstaatlichen Bereich, vornimmt. I m 4. Teil schließlich wird der Gehalt des demokratischen Prinzips im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung herausgearbeitet (12. und 13. Kapitel) und dadurch das Fundament bereitet für das eigentliche Anliegen der Untersuchung: die 57 Siehe hierzu auch Schuppert, Selbstverwaltung als Beteiligung Privater an der Staatsverwaltung? in: Festgabe v. Unruh, insb. S. 189 f. 58 Der Umfang der Untersuchung gebietet es, dem Leser den langen Weg von der Entfaltung der Fragestellung bis hin zur Formulierung der Ergebnisse durch einige Orientierungshilfen zu erleichtern, je nach Erkenntnisinteresse vielleicht auch zu verkürzen. Die verfassungsrechtlichen Facetten des Verhältnisses von Demokratie und Selbstverwaltung werden in Teil 1 entfaltet und in Teil 4 ausgelotet. Der primär verfassungsrechtlich orientierte Leser hat daher die Möglichkeit, sich anhand dieser Passagen Thema und Thesenführung der Arbeit zu erschließen, ohne sich in die Bestandsaufnahme der Einrichtungen der funktionalen Selbstverwaltung in Teil 2 sowie in ihr in Teil 3 aufbereitetes Verhältnis zum Staat einarbeiten zu müssen. Was einer derart abgekürzten Lektüre freilich entgeht, ist die erst in der Zusammenschau von Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht wahrnehmbare Gestaltung der funktionalen Selbstverwaltung durch das demokratische Prinzip einerseits sowie andererseits die Gestalt des demokratischen Prinzips in der funktionalen Selbstverwaltung.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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Entfaltung der Gestalt des demokratischen Prinzips im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung (14. Kapitel); den Schlußpunkt setzt das 15. Kapitel mit einer Gegenüberstellung von Anspruch und Wirklichkeit sowie der Präsentation der daraus resultierenden verfassungsrechtlichen Konsequenzen und rechtspolitischen Forderungen. 2. Zur Auswahl der untersuchten Einrichtungen

Bevor der Arbeitsplan in die Tat umgesetzt werden kann, noch einige Bemerkungen zur Auswahl der hier untersuchten Einrichtungen. Es versteht sich, daß es im Rahmen dieser Abhandlung ausgeschlossen ist, die ganze Phalanx der Selbstverwaltungsträger zu analysieren 59 . Ihre Zahl und ihre Artenvielfalt ist so groß, daß ein derartiges Unterfangen von vornherein dazu verurteilt wäre, in oberflächlichen Allgemeinplätzen zu zerrinnen. Ist eine Selektion mithin unumgänglich, so stellt sich die Frage nach ihren K r i terien, insbesondere im Hinblick auf die Ausscheidung der Kommunen, der Kirchen, der Rundfunkanstalten, der Bundesbank und der Universitäten. Die Gemeinden und - mit Einschränkungen - auch die Kirchen sind die historischen sowie systematischen Leitbilder der körperschaftlichen Selbstverwaltung 60 . Wenn sie trotzdem nicht in die Betrachtung einbezogen werden, so hat das seinen Grund in ihrem je eigenen, auch für ihre Binnenorganisation bedeutsamen verfassungsrechtlichen Sonderstatus. Die Gemeindeorgane bedürfen von Verfassungs wegen einer dem Muster der für Regierung und Parlament geltenden Legitimationsverfahren nachgebildeten gebietsbezogenen Legitimation. Insofern Abbild des Staates im Kleinen 6 1 , wirft die kommunale Selbstverwaltung all jene Legitimationsprobleme nicht auf, die der funktionalen Selbstverwaltung sowohl aus ihrer Mitgliedschaftsstruktur wie aus ihrer fehlenden verfassungsrechtlichen Verankerung erwachsen: - Installierung der Betroffenen statt der unbestimmten Allgemeinheit als Legitimationsquelle - Unsicherheit über die Geltung des Gebots der egalitär-genossenschaftlichen Willensbildung 59 Eine Aufstellung sämtlicher bundesunmittelbaren Anstalten und Körperschaften findet sich bei Dittmann, Die Bundesverwaltung, S. 259 - 263; auch W. Weber, Die bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts, FS für Rudolf Reinhardt, S. 499 ff., bietet einen guten bundesrechtlichen Überblick. Nützliche Übersichten erstellen auch Maunz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Rdnr. 89 zu Art. 87, sowie Wagener, Typen der verselbständigten Erfüllung öffentlicher Aufgaben, in: Wagener (Hrsg.), Verselbständigung von Verwaltungsträgern, S. 41 ff. und Laux, Katalog von Rechtsformen verselbständigter Verwaltungsträger, ebd., S. 119 ff. 60 Darauf hat schon Forsthoff (Anm. 55), S. 7 f., 22 hingewiesen; eingehend dargelegt wird es von Bieback (Anm. 1), S. 83 ff., 161 ff., 177 ff., 214 ff., 329 ff. 61 Eine Parallele, die die gesamte Literatur des Konstitutionalismus von Rotteck bis Preuß beschäftigt hat.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

- Unsicherheit über Umfang und Grenzen der staatlichen Steuerungsbefugnisse. Der Körperschaftsstatus der Kirchen wird vom Grundgesetz ausdrücklich anerkannt (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV). Überdies gewährleistet es den Kirchen das Recht, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbständig zu ordnen und zu verwalten, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Dieser autonome Status wird noch zusätzlich durch die Ausstrahlung des in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Grundrechts der Religionsfreiheit auf die Interpretation von Kirchenfreiheit und Schrankenklausel aufgewertet. Man ist versucht, diese Rechtslage als geradezu klassischen Fall einer verfassungsrechtlichen Garantie körperschaftlicher Selbstverwaltung zu betrachten. Der singulären Sonderstellung der Kirchen würde das allerdings nicht gerecht. Selbst wenn man sich mit einer bedeutsamen Richtung der neueren Dogmatik 6 2 auf den Standpunkt stellt, die Körperschaftsqualität der Kirchen sei kein formales Relikt vergangener Zeiten, sondern spiegele die staats- und verfassungsrechtliche Anerkennung ihres besonderen öffentlichen Status wider 6 3 , so unterscheidet doch gerade dieser sie grundlegend von den „weltlichen" Selbstverwaltungsträgern. Während letztere, sei es aufgrund besonderer verfassungsrechtlicher Anordnung (Art. 28 GG), sei es aufgrund der genossenschaftlichen Struktur des Körperschaftsbegriffs, sei es wegen ihrer Zugehörigkeit zur mittelbaren Staatsverwaltung sowohl einer autonomen als auch einer vom Staat vermittelten Legitimation bedürfen, stellen Art. 4 und 140 GG die Kirchen von diesem Erfordernis frei. Weder die Formel von der selbständigen Verwaltung der eigenen Angelegenheiten (Art. 137 Abs. 3 WRV) noch der Körperschaftsstatus bindet die Kirchen an das demokratische Prinzip; im Hinblick auf den Gegenstand dieser Arbeit bestehen mithin keine Bezüge, geschweige denn Parallelen zwischen Kirchen und weltlichen Körperschaften.

62 In eindringlicher Weise entfaltet von Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, S. 128 ff., der auch die Entwicklung der Diskussion um den Gehalt des Art. 137 Abs. 5 WRV nachzeichnet (S. 119 ff.); ebenso bereits Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDstRL 26 (1968), S. 85 f.; die Gegenposition ist in jüngster Zeit dargelegt worden von Schmidt-Eichstaedt, Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts? sowie ders., Die Körperschaftsqualität der Kirchen - Wegbereiter für ein neues öffentliches Verbandsrecht? Der Staat 21 (1982), S. 428 ff.; allgemein zum staatsrechtlichen Status der Kirchen E. Friesenhahn, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Handbuch des Staatskirchenrechts I, S. 545 ff. 63 Den Gehalt dieser Verfassungsentscheidung bestimmt Meyer-Teschendorf (Anm. 62), S. 134 wie folgt: - Anerkennung der öffentlichen Wichtigkeit der Kirchen, - Institutionalisierung der öffentlichen Erwartung an eine gesellschaftliche Aufgabenstellung und -durchführung seitens der Kirchen, - Privilegierung des öffentlichen Wirkens der Kirchen durch verwaltungstechnische und finanzielle Hilfestellung des Staates.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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Ein weiterer, im folgenden nicht eigens thematisierter Selbstverwaltungstyp sind die Rundfunkanstalten 64 . Diese Lücke ist insofern schmerzlich, als sie das prominenteste Beispiel der Erscheinungsform der anstaltlichen Selbstverwaltung bilden. Es wäre zweifelsohne reizvoll gewesen, der Frage nachzugehen, ob die in den Rundfunkanstalten verwirklichte Selbstverwaltung durch Repräsentanten organisierter gesellschaftlicher Gruppen ein zukunftsweisendes Modell für die Ersetzung der mitgliedschaftlichen Organisation der Selbstverwaltung durch andere personale Träger darstellt. Wenn dies hier nicht geschieht, so deshalb, weil die Organisation des Rundfunks so sehr in eine Phase des Umbruchs geraten ist, daß das Anknüpfen an den Status quo voraussichtlich eine flüchtige Übergangserscheinung zur Grundlage nehmen würde. Hinzu kommt, daß das Konstitutionsprinzip der Rundfunkselbstverwaltung - die Repräsentation Betroffener durch Parteien und Verbände - sich, allerdings unter dem Deckmantel der öffentlichen Körperschaft, auch bei den Sozialversicherungsträgern und der BA wiederfindet. Ganz anders geartet sind die Gründe, die dafür maßgeblich waren, die Bundesbank nicht in die Betrachtung einzubeziehen. In Anbetracht der herausragenden Bedeutung, die sie im Kreise der verselbständigten Verwaltungsträger einnimmt, mag dies zunächst überraschen. Eine nähere Betrachtung offenbart indessen, daß sie schlicht keine Selbstverwaltungseinrichtung ist. Der Gesetzgeber hat die Bundesbank in § 12 Abs. 1 Satz 2 BBankG von Weisungen der Bundesregierung freigestellt 65 . Das Recht der Selbstverwaltung hingegen hat er ihr, anders als den Kommunen, Kirchen und den Trägern der funktionalen Selbstverwaltung, nicht verliehen. Aus dem Blickwinkel der Forsthoffschen Gleichsetzung von Rechtsfähigkeit und Selbstverwaltung 66 mag diese Unterscheidung bedeutungslos sein, auf dem Boden des Selbstverwaltungsbegriffs der Staatspraxis und der herrschenden Dogmatik jedoch ist sie nicht bloß eine semantische Kapriole, sondern Ausdruck unterschiedlicher rechtlicher Gegebenheiten. Zwar macht es aus der Perspektive der ministeriellen Leitungsbefugnis keinen Unterschied, ob ein Verwaltungsträger weisungsfrei gestellt wird oder ob ihm das Recht der Selbstverwaltung verliehen wird - in beiden Fällen ist die Fach64

Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Rundfunkorganisation siehe BVerfGE 57, 295; 73, 118; 74, 297 sowie aus der Wissenschaft einerseits Wieland, Die Freiheit des Rundfunks; ders., Staat oder Markt als Garanten der Rundfunkfreiheit, Der Staat 23 (1984), S. 245 ff.; andererseits Bullinger, Kommunikationsfreiheit im Strukturwandel der Telekommunikation. 65 Aus der unübersehbaren Literatur zur Unabhängigkeit der Bundesbank seien hier als Exponenten der die verfassungsrechtliche Garantie der Unabhängigkeit verneinenden h. M. lediglich Stern, Staatsrecht II, S. 491 ff. und Maunz, Rdnr. 16 ff. zu Art. 88, in: Maunz/Dürig (Anm. 59) erwähnt; die Gegenauffassung wird - u. a. - vertreten von Samm, Die Stellung der Deutschen Bundesbank im Verfassungsgefüge, S. 177 ff., und von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S. 356 ff. 66 Anm. 8, S. 477 f.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

aufsieht beseitigt - , aus der Sicht der Gesellschaft sowie aus binnenorganisatorischer Perspektive hingegen ist der Gehalt der Hegelungsalternativen völlig verschieden. Während der Begriff der Selbstverwaltung stets die Steuerung eines öffentlich-rechtlichen Zusammenschlusses durch seine Mitglieder (Körperschaft) bzw. Benutzer oder Betroffenen (Anstalt) bezeichnet, also ein Element staatsbürgerlicher Selbstbestimmung im Bereich der Exekutive ist, fehlt diese gesellschaftliche Radizierung dem Begriff der Weisungsunabhängigkeit. Er steht lediglich für Auslagerung aus dem Prozeß der Willensbildung von Parlament und - vor allem - Regierung, mithin für den Versuch einer politischen Neutralisierung von Verwaltungsentscheidungen, nicht aber für eine Öffnung zur Gesellschaft. Dieses Verständnis von Unabhängigkeit liegt denn auch in der Tat dem Bundesbankgesetz zugrunde. „Nutznießer" der Weisungsfreiheit des § 12 Abs. 1 Satz 2 BBankG sind das Direktorium und der Zentralbankrat; beide bestehen aus hauptamtlich tätigen, vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung bzw. des Bundesrats ernannten Staatsbediensteten. Anders als bei den Selbstverwaltungsträgern fällt daher bei der Bundesbank die Möglichkeit einer Kompensation der Verdünnung der staatsvermittelten Legitimation durch autonome Legitimationsstrukturen aus. Diese scharfe Absetzung der Organisationsstruktur der Bundesbank von der der Selbstverwaltung ist keine konstruktive Zufallsentscheidung des Gesetzgebers, sondern Ausdruck sachlicher Notwendigkeiten. Selbstverwaltung impliziert stets die Möglichkeit, im Hinblick auf bestimmte Sachfragen in der Gesamtheit der Staatsbürger einen Kreis besonders Betroffener und Interessierter auszumachen und sie zum Träger der erforderlichen Verwaltungsentscheidungen zu formieren. Genau dies aber ist hinsichtlich der Zuständigkeiten der Bundesbank ausgeschlossen. Mit der Währungs- und Kreditpolitik sowie der Steuerung des Geldvolumens nimmt die Bundesbank zentrale politische Funktionen des modernen Staates wahr, die auf die Lebensbedingungen jedes einzelnen Wirtschaftssubjekts - und das ist im Leistungs- und Sozialstaat der Gegenwart jeder, sei es als Schuldner, sei es als Gläubiger, sei es als Steuerzahler, als Leistungsempfänger, als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer usw. - durchschlagen. Sind alle Bürger und alle gesellschaftlichen Gruppen vom Wirken der Bundesbank betroffen, so ist niemand in verstärktem Maße aufgerufen oder legitimiert, ihre Entscheidungen zu gestalten. Aufs Ganze gesehen unterscheidet sich die Bundesbank damit sowohl hinsichtlich ihrer Aufgabenstellung als auch ihrer Binnenstruktur kategorial vom Typus der Selbstverwaltungseinrichtung 67 : Während für ihn spezialisierte Zwecke, die nur eine begrenzte Anzahl von Bürgern betreffen, charakteristisch sind, nimmt sie eine Grundfunktion des 67

Unzutreffend daher Salzwedel (Anm. 33), S. 212, der die Bundesbank als Selbstverwaltungseinrichtung betrachtet.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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modernen Staates wahr und gestaltet das Leben jedes einzelnen; während ihm eine Binnenorganisation eignet, in der jene Bürger als sich selbst verwaltende Einheit zusammengefaßt werden, die in einer besonderen Nähe und Betroffenheit zur Verwaltungsaufgabe stehen, wird die Bundesbank von Staatsbediensteten geleitet, die nur dem Staatsvolk, nicht auch einem besonderen Teilverband verpflichtet und verantwortlich sind und dementsprechend von Bundesregierung und Bundesrat ausgewählt werden. Nachdem einige bedeutsame Selbstverwaltungstypen sowie die Bundesbank nunmehr aus der Betrachtung ausgeschieden worden sind, bleibt darzulegen, welche Überlegungen für die positive Bestimmung des Untersuchungsgegenstands maßgeblich waren. Ihn in enzyklopädischer Vollständigkeit abzuhandeln, erschien weder möglich noch erforderlich. Letzteres vor allem deshalb, weil dogmatisch gesehen mehr exotische Einrichtungen wie etwa der „Rationalisierungsverband des Steinkohlenbergbaus" 68 , der „Bundesverband für den Selbstschutz" 69 oder die Schifferbetriebsverbände 70 für die hier interessierende Fragestellung kaum einen verallgemeinerbaren Erkenntniswert abwerfen dürften 71 . Auf der anderen Seite sollten die Untersuchungsobjekte doch so breit gestreut sein, daß vom weiten Feld der funktionalen Selbstverwaltung zumindest die bedeutsamen Sektoren ausgemessen werden können. Bundesstaatliche Aspekte sollten hierbei keine Rolle spielen, auch Einrichtungen auf Landesebene, gleich ob vom Bundesgesetzgeber oder vom Landesgesetzgeber geschaffen, sind daher einbezogen worden. Als Ausgangspunkt der Betrachtung boten sich die Kammern als der klassische Prototyp der funktionsbezogenen körperschaftlichen Selbstverwaltung an. Sie hierauf zu beschränken, kam indessen nicht in Betracht, da dann der seit dem Beginn des zweiten Drittels dieses Jahrhunderts wichtige Trend zur Schaffung von Übergangsformen zwischen der klassischen Selbstverwaltungskörperschaft und der staatsverwalteten Anstalt außerhalb des Blickfelds geblieben wäre. Ihn und das mit ihm einhergehende Abdriften der internen Legitimationsstrukturen von egalitär-genossenschaftlichen Organisationsmodellen hin zu verbandspluralistischen zur Erscheinung zu bringen, bezweckte die Einbeziehung der seit jeher zwischen öffentlicher Körperschaft und Anstalt changierenden Sozialversicherungsträger und der BA.

es BGBl 1963, Teil I, S. 550 ff. 69 BGBl 1968, Teil I, S. 777 ff. 70 BGBl 1969, Teil I, S. 67 f. 71 Dies gilt zumal dann, wenn - wie insb. im Fall des Selbstschutzverbandes - zweifelhaft ist, ob sie überhaupt das Recht der Selbstverwaltung besitzen.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Auch die Universitäten gehören in diesen Zusammenhang; sowohl ihre weitreichende Unabhängigkeit vom Staat als auch ihre zwar alles andere als egalitäre, aber doch immerhin mitgliedschaftliche Binnenverfassung weisen sie als Träger funktionaler Selbstverwaltung aus. Wenn sie hier dennoch keine Berücksichtigung finden, so vor allem deshalb, weil die von der gängigen juristischen Dogmatik propagierte Fundierung der universitären Selbstverwaltung in der Freiheit von Forschung und Lehre Sonderprobleme schafft, deren Umfang den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden; trifft die Auffassung der herrschenden Meinung zu, so dirigiert letztlich nicht das demokratische Prinzip, sondern dessen Modifikation durch Art. 5 Abs. 3 GG das Verhältnis von Staat und Universität sowie deren Binnenstruktur - eine Besonderheit, die die Universität als eigene Spielart des Selbstverwaltungsbegriffs ausweisen würde; trifft sie nicht zu, so würde allein ihre Widerlegung monographische Dimensionen annehmen. In der Gesamtschau ergeben die Kammern, die Sozialversicherungsträger und die BA einen recht repräsentativen Überblick über die wichtigsten Formen der funktionalen Selbstverwaltung. Eine Einschränkung ist allerdings zu machen. Der weite Bereich der Wasser- und Bodenverbände 72 , der Fischerei-, Jagd- und Waldgenossenschaften 73 sowie der Flurbereinigungskörperschaften 74 ist ausgespart. Das ist schon im Hinblick auf die allein zahlenmäßige Bedeutung dieser Selbstverwaltungseinrichtungen zu bedauern 75 , mehr aber noch wegen ihrer teilweise bemerkenswerten Auswege aus dem Dilemma, dem unterschiedlichen ökonomischen Gewicht der Mitglieder Rechnung zu tragen, ohne das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit zu verletzen 76 . Die Ausgrenzung der ländlichen Selbstverwaltungseinrichtungen läßt sich auch nicht mit dem Verweis auf den Gebietsbezug ihrer Mitgliedschaftsregelungen und auf die lokale Begrenzung ihres Wirkungskreises begründen. Sie bleiben dessen ungeachtet außerhalb der kommunalen Selbstverwaltung angesiedelte, spezialisierte Zweckverbände, und auch in bezug auf sie stellt sich die Frage nach Bedarf und Bestand an demokrati72 Hierzu F. Klein/H. Leidel, Wassergenossenschaften und Wasserverbandsrecht, ZgGenW Band 10 (1960), S. 1 ff.; Bochalli/von Arenstorff, Das Wasser- und Bodenverbandsrecht; Wolff/Bachof (Anm. 21), § 97 I I a (S. 356 f.) sowie R. Breuer, Die Selbstverwaltung der Wasser- und Bodenverbände, in: Festgabe v. Unruh, S. 855 ff. 73 Hierzu F. Klein/H. Leidel (Anm. 50); F. Klein/H. Berlin (Anm. 50); Wolff/Bachof (Anm. 21), § 97 I I b - f (S. 357 f.). 74 Hierzu Wolff/Bachof (Anm. 21), § 97 I I g (S. 359). 75 Nach F. Klein/H. Leidel (Anm. 72) u. F. Klein/H. Leidel (Anm. 50) gibt es in der Bundesrepublik ca. 10.000 Wasser- und Bodenverbände sowie ca. 25.000 - 30.000 Jagdgenossenschaften. 76 Die Lösung besteht in der Statuierung eines zweifachen Mehrheitserfordernisses, sowohl die Mehrheit der Mitglieder als auch die Mehrheit der Genossenschaftsflächen müssen zustimmen, vgl. bspw. § 9 Abs. 3 BJagdG.

1. Kap.: Einführung in Gegenstand und Fragestellung

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scher Legitimation. Die Antwort fällt indessen hinsichtlich jener Genossenschaften, die keine staatlichen Aufgaben wahrnehmen, anders aus als bei den im folgenden untersuchten Einrichtungen. Dies sowie der begrenzte Vorrat an Zeit und Raum waren maßgeblich für die Entscheidung, die ländlichen Genossenschaften außer Betracht zu lassen.

2. Kapitel

Demokratische Legitimation und funktionale Selbstverwaltung - Bestandsaufnahme I. Der Begriff der demokratischen Legitimation Demokratische Legitimation ist eine juristische und auch eine sozialwissenschaftliche Standardformel. Um so bemerkenswerter, daß der Gebrauch des Begriffs keineswegs standardisiert ist. Sowohl das Epitethon „demokratisch" als auch das Substantiv „Legitimation" werden auf die unterschiedlichste Weise verwendet; nichts anderes gilt denn auch für ihre begriffliche Zusammenfügung. Erstaunen weckt dies nur auf den ersten Blick: näherer Betrachtung enthüllt sich die Rechtfertigung von Herrschaft - und darum geht es stets, wenn von demokratischer Legitimation die Rede ist - schnell als ein so vielschichtiges Geschäft, daß weder unterschiedliche Sach- noch Sprachauffassungen Überraschung auslösen. Überdies hat die Tatsache, daß der Staat als der prominenteste Herrschaftsträger von jeher und verstärkt seit der Aufspaltung der Staatswissenschaft in juristische und sozialwissenschaftliche Disziplinen Objekt verschiedener Wissenschaftszweige ist, der Zersplitterung der Problemstellungen und -lösungen sowie der Auffächerung des Sprachgebrauchs Vorschub geleistet. Rechtswissenschaften und Sozialwissenschaften betrachten, soweit sie sich mit dem Staat beschäftigen, zwar den gleichen Gegenstand, allein die Verschiedenartigkeit ihrer Erkenntnisinteressen hat jedoch zur fast unvermeidlichen Folge, daß selbst einem übereinstimmenden Begriffsinstrumentarium unterschiedliche semantische Gehalte zugeordnet werden. Genau dies trifft für die Begriffe Demokratie und Legitimation zu. Beide werden sowohl als sozialwissenschaftliche wie als staatswissenschaftliche Termini gebraucht, ohne daß die damit verbundene unterschiedliche Akzentsetzung definitorisch hinreichend deutlich wird. Die Mehrdeutigkeit der Begriffe wird naturgemäß zusätzlich dadurch verstärkt, daß auch innerhalb der beiden Wissenschaftsbereiche weder hinsichtlich der Sachfragen noch hinsichtlich des Sprachgebrauchs Einigkeit besteht. 1. Legitimität und Legitimation in den Sozialwissenschaften

Sowohl der Begriff der Legitimität als auch der der Legitimation sind gängige Vokabeln der Sozialwissenschaften. Die dortige Diskussion um

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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ihren Gehalt kann hier nicht im Detail nachgezeichnet und noch weniger fortgeführt werden 1 ; einige informatorische Hinweise erscheinen jedoch vonnöten. Beide Begriffe, Legitimität und Legitimation, sind innerhalb der Sozialwissenschaften umstritten; für ihr Verhältnis zueinander gilt nichts anderes. Seit C. Schmitt 2 und bis zum Ende der 60er Jahre war Legitimität „kaum mehr als eine von Max Weber-Forschern hin- und hergewendete Vokabel" 3 . Da die politische Wissenschaft bis dahin damit beschäftigt war, den normativen Gehalt des in seinem Geltungsanspruch unbestrittenen politischen Systems der westlichen Demokratievorstellung zu entfalten und die Verfahren und Techniken seiner Willensbildung - und damit seiner Selbstrechtfertigung - empirisch zu untersuchen, wußte sie mit dem in viel grundsätzlicherer Weise auf die Rechtfertigung von Herrschaft bezogenen Weberschen Legitimitätsbegriff nicht viel anzufangen: er fand seinen Platz in der Abstellkammer für historische Erinnerungsstücke. Das Feld wurde beherrscht vom verfahrensbezogenen Begriff der Legitimation. Diese Situation hat sich im vergangenen Jahrzehnt grundlegend gewandelt. Seitdem werden nicht mehr nur die Legitimationsprozesse staatlicher Herrschaft, sondern die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Rechtfertigung überhaupt erforscht. Diese Verschiebung des Erkenntnisinteresses hat auch zu Veränderungen im sozialwissenschaftlichen Begriffsapparat geführt: Der Terminus der Legitimität erlebt eine Renaissance und schickt sich an, im Verhältnis zu dem der Legitimation die Stellung der fundamentaleren Kategorie zurückzugewinnen 4 . Exemplarisch für diese Entwicklung ist die Begriffsbestimmung von Hennis 5 , derzufolge Legitimität eine Eigenschaft politischer Herrschaft - ihre Anerkennung und ihre Anerkennungswürdigkeit bezeichnet, während Legitimation für den Prozeß des Zustandekommens 1 Grundlegend M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft I, S. 122 ff.; aus neuerer Zeit sind insb. zu erwähnen Luhmann, Legitimation des modernen Staates, ARSP Beiheft Nr. 15, S. 65 ff.; Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus; ders., Legitimationsprobleme im modernen Staat, PVS Sonderheft 7/1976, S. 39 ff.; R. Münch, Legitimität und politische Macht; die sonstigen Beiträge in: Kielmansegg (Hrsg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, PVS Sonderheft 7/1976; die Sammelbände von Ebinghausen (Hrsg.), Bürgerlicher Staat und politische Legitimation, und Kielmansegg/Matz (Hrsg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft, sowie die Dokumentation von Achterberg/Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates. 2 Legalität und Legitimität, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 264 ff. 3 Kielmansegg, in: ders./Matz (Anm. 1), S. 9. 4 Diese Aussage gilt nicht für Luhmann. Da er die klassische Frage nach der Rechtfertigung des Staatshandelns am Maßstab vorausgesetzter Prinzipien für obsolet hält (Anm. 1, Selbstlegitimation, S. 79), ist er eigene Wege gegangen (vgl. Nachw. Anm. 1). Der Begriff der Legitimität spielt in diesen Überlegungen keine Rolle, und auch der der Legitimation ist normativer Konnotationen entkleidet (Anm. 1, ARSP Beiheft Nr. 15, S. 108) und ins Arsenal der Systemtheorie übergegangen (Anm. 1, Selbstlegitimation, insb. S. 79 ff.). s Anm. 1, S. 12.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

von Legitimität steht 6 . Legitimität ist mithin ein zustandsbezogener, Legitimation ein verfahrensbezogener Begriff. Ersterer geht es um die Übereinstimmung politischer Systeme mit ihren - rechtfertigungsbedürftigen - normativen Standards, etwa dem Prinzip der Demokratie, und um den Grad ihrer tatsächlichen Anerkennung; letzterer hingegen um die Analyse der sowohl rechtlich geordneten als auch politisch frei gestalteten - einzelnen Verfahren zur Selbststabilisierung von als vorgegebene Daten vorausgesetzten Herrschaftssystemen, ebenfalls allerdings um die faktische Anerkennung dieser Legitimationsstrukturen. Die Divergenz von Legitimität und Legitimation liegt somit nicht auf der Ebene der Unterscheidung empirischer von normativen Kategorien, beide Dimensionen sind vielmehr beiden Begriffen immanent, sondern in der Tatsache, daß Legitimität im Gegensatz zu Legitimation auch eine wertende Komponente aufweist. Allerdings ist dieser Sprachgebrauch wenn auch vorherrschend, so doch keinesfalls einhellig. Aber auch jene Autoren, die keine Unterscheidung zwischen Legitimität und Legitimation treffen 7 , haben die Verengung des Forschungsinteresses auf Techniken der Herstellung und der Messung von Gehorsamsbereitschaft hinter sich gelassen und wenden sich - daneben - wieder dem Grundproblem nach den Bedingungen der Anerkennungswürdigkeit von Herrschaft zu. So gestellt, kann auch die Legitimationsfrage nicht allein empirisch und/oder analytisch beantwortet werden, sondern enthält ebenfalls eine wertende Komponente. Welche Bewertungsmaßstäbe in den Begriff der Legitimität bzw. den weiten Legitimationsbegriff eingestellt werden, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht dargestellt werden - das Spektrum reicht von rousseauistischen 8 über elitenbezogene9 und pluralistische 10 sowie partizipationsorientierte 11 Demokratiemodelle bis hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorie 12 . 6 Ähnlich Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat (Anm. 1), S. 39 und 42; Kevenhörster, Legitimationsdoktrinen und Legitimierungsverfahren in westlichen Demokratien, in: Kielmansegg/Matz (Anm. 1), S. 61. 7 So etwa Matz, Zur Legitimität der westlichen Demokratien, in: Kielmansegg/ Matz (Anm. 1), S. 27 ff.; Grimmer, Zur formalen und materialen Legitimationsbedürftigkeit des bürgerlich-kapitalistischen Staates, in: Ebbighausen (Anm. 1), S. 43 ff., der statt dessen zwischen formaler und materialer Legitimation differenziert. 8 Rousseau, Du Contrat Social; deutlich von Rousseau inspiriert ist C. Schmitts Demokratiebegriff, vgl. ders., Verfassungslehre, S. 234 ff. 9 Schumpeter, Eine andere Theorie der Demokratie, in: ders., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, insb. S. 383 ff., 427 ff.; Sartori, Demokratie als Elitenherrschaft, in: Grube/Richter (Hrsg.), Demokratietheorien, S. 67 ff. 10 Dazu Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, insb. S. 29 ff. 11 Scharpf (Anm. 10); Narr/Naschold, Theorie der Demokratie; Naschold, Organisation und Demokratie. 12 Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates; ders., Überlegungen und Hypothesen zum Problem politischer Legitimation, in: Ebbighausen (Anm. 1), S. 80 ff.; Habermas (Anm. 1).

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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Schon die Tatsache, daß Legitimität und Legitimation für die Sozialwissenschaften keine rein empirischen Kategorien sind, vielmehr auch die Analyse rechtlich gestalteter Verhältnisse zum Gegenstand haben, erzeugt Abgrenzungsprobleme zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften. Verschärft werden diese dadurch, daß auch die Rechtswissenschaft nicht stets bei ihren Leisten bleibt, sondern zum einen nicht selten in die empirische Analyse der Wirkungsweise von Rechtssätzen eintritt und zum anderen, etwa im Bereich der Staatstheorie, ebenfalls mit der Bewertung von Normen befaßt ist. Da mithin die Rechts- ebenso wie die Sozialwissenschaften mit empirischen und mit normativen Legitimitäts-/Legitimationsvorstellungen operieren, ist es gleichermaßen schwierig wie wichtig, im Auge zu behalten, ob von der faktischen Anerkennung eines politischen Systems, ob von seiner Übereinstimmung mit einem staats- oder demokratietheoretischen Entwurf oder mit einer bestimmten Anthropologie die Rede ist oder ob es um die Verfassungsmäßigkeit von Herrschaft geht. Hierauf wird im Rahmen der Darstellung der rechtswissenschaftlichen Diskussion zurückzukommen sein. 2. Legitimität und Legitimation als Rechtsbegriffe

a) Begriffsgeschichte So wie die Rechtfertigung von Herrschaft seit den Anfängen der Disziplin zu den klassischen Themen der Staats(Rechts)wissenschaft gehört 13 , so zählen Legitimität und - mittlerweile - auch Legitimation zu ihren klassischen Begriffen. Ihr juristischer Gehalt kann nicht ohne Rückblick auf ihre Entstehungsgeschichte14 ermittelt werden. Gemeinsamer etymologischer Ursprung ist das lateinische Adjektiv „legitimus" 1 5 . Bereits sein Gebrauch ist vielfältig und schillernd; wesentlich ist hier, daß er meist einen Einklang mit dem Volksgesetz, gelegentlich auch das Rechtmäßige schlechthin bezeichnete und daß seine attributivische Wendung als „heres legitimus", als „potestas legitimus" sowie als „legitimum imperium" seine spätere Entwicklung präjudizierte 16 . Für sie wurde entscheidend, daß das französische Adjektiv „legitime" im Laufe des 16. Jahrhunderts zu dem Substantiv „légitimité" 1 7 13 Näher zur Problemgeschichte: Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft; ders., Art. Legitimität, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, S. 677 ff.; Matz, Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaats und der Revolution; Habermas (Anm. 6). 14 Hierzu sowie zum folgenden Würtenberger (Anm. 13), S. 24, 32 - 36, 73, 92 ff., 111 ff., auf dessen Ausführungen der historische Exkurs basiert; zur Problemgeschichte siehe auch - jedoch zu verkürzt und vereinfacht - Rammstedt, Zum Legitimationsverlust von Legitimität, PVS Sonderheft 7/1976, S. 109 ff. 15 Würtenberger, S. 32. ι 6 Ebd., S. 32 - 36. 17 Ebd., S. 24, 73.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

umgeformt wurde und seitdem die Rechtfertigung politischer, konkreter: staatlicher Herrschaft meinte 18 . Ihre Maßstäbe waren weithin umstritten. Sowohl die absolutistische Staatstheorie und ihre späteren Nachfahren, die Vertreter des monarchischen Prinzips 19 , als auch alle demokratischen Staatstheorien 20 bemühten den Begriff der Legitimität für das von ihnen jeweils propagierte Herrschaftsmodell; einig war man sich nur darin, daß „legitime, légitimité" stets eine Bindung an das bonum commune bedeutete21. In die deutsche Staatswissenschaft fand der Begriff der Legitimität erst mit der Restauration Eingang 22 , er stand infolgedessen über lange Zeit hinweg in einer gemeinsamen Allianz mit dem monarchischen Prinzip 2 3 . Frei von dieser historischen Verengung ist der noch jüngere, vornehmlich in der Nachkriegszeit in Gebrauch gekommene Begriff der Legitimation; er ist statt dessen von Anbeginn an eine schier unauflösliche Symbiose mit dem Attribut „demokratisch" eingegangen24. b) Der Begriff

der Legitimität

Ebenso wie der sozialwissenschaftliche hat der Rechtsbegriff der Legitimität keinen allgemein konsentierten dogmatischen Gehalt. Auch dies ist nur teilweise eine Folge sachlicher Meinungsverschiedenheit und zumindest ebensosehr Resultat der Vielfalt seiner Verwendungsformen. Legitimität fungiert als: - empirische Kategorie, die die faktische Anerkennung eines Herrschaftssystems bezeichnet; obschon diese Definition eher im Bereich der Sozialwissenschaften zu ressortieren scheint, ist sie vielleicht die in der staatsrechtlichen Literatur gängigste 25 . - normative Kategorie, die auf theoretischer Ebene Maßstäbe der Herrschaf tsausübung entwickelt und sie an Verfassung und Staat anlegt 26 ; sie ist Gegenstand der Staatstheorie und somit sowohl der Rechts- als auch der Sozialwissenschaften. 18

Ebd., S. 79 ff., 88 f f , 94. Ebd., S. 111 ff. 20 Ebd., S. 94, 106 ff. 21 Ebd., S. 94; Rammstedt (Anm. 14), S. 110. 22 Würtenberger (Anm. 13), S. 24, 162. 23 Hirt, Art. „Legitimität", in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 5. Aufl. 1929, Sp. 878 f f , Luhmann (Anm. 1, Legitimation), S. 27; Rammstedt (Anm. 14), S. 109 ff. 24 Nicht so allerdings Luhmann (Anm. 1, Legitimation), S. 27. 25 Sie wurde bereits vertreten von G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 285, 341 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 87; ders, Legalität und Legitimität (Anm. 2); aus neuerer Zeit sei genannt: Menzel, Legitimation staatlicher Herrschaft durch Partizipation Privater? S. 18. 26 In diesem Sinne von Simson, zur Theorie der Legitimität, Festschrift Löwenstein, S. 465, sowie H. Hof mann, Legitimität und Rechtsgeltung. 19

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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- ebenfalls normative, staatsrechtliche Kategorie, die die Übereinstimmung eines politischen Systems und/oder eines untergeordneten Rechtssatzes27 mit der geltenden Herrschaftsorganisation (Verfassung) bezeichnet. Das Verwendungsspektrum erhellt, daß Gegenstand der Legitimität sowohl Rechtssätze als auch tatsächliche Verhältnisse (politische Systeme als solche ebenso wie ihre einzelnen Herrschaftsakte) sein können, daß ihr Maßstab sowohl empirische (faktische Anerkennung) als auch normativer Natur (Rechtssätze, insbesondere Verfassungen ebenso wie ethisch-religiöse Wertvorstellungen) sein kann. Diese Mehrdeutigkeit, die noch dadurch gesteigert wird, daß die skizzierten Verwendungsweisen einander nicht ausschließen, sondern kumuliert werden können 28 , macht den Begriff der Legitimität nicht nur politisch brisant, sondern erschwert auch seine Operationalisierbarkeit, insbesondere die Abgrenzung des sozialwissenschaftlichen Gebrauchs vom juristischen. Das letztgenannte Problem ist allerdings Ausdruck eines Dilemmas der Staatstheorie insgesamt. Als Grenzgänger zwischen Rechts- und Sozialwissenschaft hat sie keine eindeutig lokalisierbare wissenschaftliche Heimat, sie steht mit einem Bein in jedem Lager. Über die bereits angedeuteten Ursachen dieser Situation ist hier nicht weiter zu handeln, wesentlich hingegen ist ihre Folge: die Notwendigkeit einer scharfen Unterscheidung zwischen staatsrechtlicher und staatstheoretischer Verwendung des Begriffs der Legitimität. Wird gegen dieses Gebot verstoßen, verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen rechts- und sozialwissenschaftlicher Betrachtung völlig, sondern büßt der Terminus seine begrifflichen Konturen überhaupt ein. Ob er die Übereinstimmung eines politischen Systems mit der geltenden Herrschaftsordnung (Verfassung), ob die mit einem theoretischen Herrschaftsmodell oder die faktische Anerkennung eines politischen Systems durch die ihm Unterworfenen bezeichnet, ist dann nicht mehr erkennbar. Zwischen den genannten Aspekten kann nach Belieben hin- und hergependelt werden; unter Berufung auf staatstheoretische Legitimitätsvorstellungen sowie auf den Entzug faktischer Anerkennung kann eine staatsrechtlich unbestreitbare Legitimität unterminiert werden, ebenso wie deren Hypostasierung staatstheoretische Fragestellungen abzuwürgen und die Bedeutung des Entzugs realer Anerkennung zu kaschieren vermag. Die Sprengkraft eines solchermaßen irrlichternden Legitimitätsbegriffs hat C. Schmitt überzeugend demonstriert 29 . Da die Herstellung semantischer Eindeutigkeit 27 In diesem Sinne Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 213 ff. sowie die von ihm repräsentierte positivistische Staatsauffassung, siehe dazu Würtenberger (Anm. 13), S. 252, sowie C. Schmitt, Legalität und Legitimität (Anm. 2), S. 263 ff., insb. S. 269. 28 So etwa Scheuner, Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, in: Achterberg/Krawietz (Anm. 1), S. 1 ff. und Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 19-38. 29 Legalität und Legitimität (Anm. 2), S. 269 - 273; siehe dazu auch Würtenberger (Anm. 13), S. 269 f f , sowie H. Hofmann (Anm. 26). Im Ergebnis läuft Schmitts Gedan-

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

beim Gebrauch des Terminus „Legitimität" angesichts der Vielfalt seiner Verwendungsformen nicht möglich ist, kann es hier nur darum gehen, für diese Arbeit eine bestimmte Verwendungsweise festzulegen. Ungeachtet der Tatsache, daß auch die juristische Literatur den Begriff häufig staatstheoretisch oder empirisch besetzt, wird er im folgenden, der Fragestellung der Arbeit gemäß, als staatsrechtlicher gebraucht. Er bezeichnet die Übereinstimmung unterrangiger mit höherrangigen Rechtssätzen sowie die von Wirklichkeit und Norm, insbesondere die Übereinstimmung der staatlichen Herrschaft mit der Verfassungsordnung, wird also synonym mit dem Begriff der Legalität verwendet 30 . Dieser Sprachgebrauch mag es nahelegen, auf Legitimität als staatsrechtlichen Terminus im Dienste semantischer Klarheit völlig zu verzichten 31 . Auf der anderen Seite ist indessen zu bedenken, daß der Begriff der Legitimität einen viel begrenzteren Bereich abdeckt als der der Legalität: ihm geht es nicht um die Rechtmäßigkeit von rechtlich relevantem Handeln überhaupt, sondern nur um die Rechtmäßigkeit staatlicher Herrschaft; er vermag diesen Aspekt daher auch viel deutlicher herauszustellen als der Begriff der Legalität. Doch das Für und Wider der Verwendung des Terminus „Legitimität" kann hier nicht weiter vertieft werden. c) Der Begriff

der Legitimation

Nicht anders als Legitimität tritt auch Legitimation sowohl in staatstheoretischer als auch in staatsrechtlicher Rolle auf - soweit sie nicht als Synonym für „Legitimität" steht, fast stets in symbiotischer Verknüpfung mit dem Attribut „demokratisch" 32 . Man muß es wohl diesem besonderen Verwendungsmodus gutschreiben, daß sich hinsichtlich des Gehalts des Begriffs der Legitimation eine gemeinsame Linie abgezeichnet hat: typischerweise bezeichnet er das Verfahren der Rechtfertigung (staatlicher) Herrschaft. Dieser prozedurale Schwerpunkt liefert den Schlüssel zur weiteren Entfaltung des Begriffs. Legitimation geht es nicht anders als Legitimität um die Rechtfertigung von Herrschaft. Indessen ist die Akzentuierung der Begriffe doch unterkenführung darauf hinaus, für den Fall des Auseinander klaff ens von (juristischer) Legalität und (faktischer) Legitimität dem Legitimitätsträger das Abweichen von der Legalordnung zu ermöglichen. Eine unverkennbare Distanzierung von diesem Legitimitätsbegriff vollzieht C. Schmitt allerdings in seiner Jahrzehnte später entstandenen Abhandlung „Die Tyrannei der Werte", in: Säkularisation und Utopie, S. 37 ff., 44. 30 So bereits Kelsen (Anm. 27), S. 213 ff.; zur grundgesetzlichen Verankerung des Zusammenfallens von Legitimität und Legalität: Böckenförde, Verhaltensgewähr oder Gesinnungstreue? FAZ vom 8. 12. 1978, S. 9 f. 31 In dieser Richtung v. Simson (Anm. 26), S. 465. 32 Vgl. etwa Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, W D S t R L 29, S. 63; Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 71 ff.; W. Schmidt, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVDStRL 33, S. 211.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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schiedlich. Während letztere die Vereinbarkeit eines Herrschaftsapparats mit der geltenden Herrschaftsordnung zum Gegenstand hat, bezeichnet Legitimation den Vorgang der Herstellung legitimer Herrschaft 33 . Ist diese somit Produkt eines Prozesses, so jene der Prozeß selbst, konkreter: der Tatbestand der Verfassungsmäßigkeit yon Herrschaft wird unter den Begriff der Legitimität subsumiert, während Legitimation das Verfahren der Rechtfertigung von Herrschaft mittels der Bindung des Willensbildungsprozesses der Staatsorgane an die Vorgaben des geltenden Staatsrechts zum Gegenstand hat. Vergegenwärtigt man sich, daß ein verfassungsgemäßes Entscheidungsverfahren noch kein verfassungsgemäßes Ergebnis verbürgt - eine Entscheidung kann gegen Grundrechte verstoßen, obschon sie mit den verfahrensgestaltenden Geboten des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips in Einklang steht 34 - , so w i r d deutlich, daß legitime Herrschaft stets legitimierte Herrschaft ist, während umgekehrt legitimierte Herrschaft nicht notwendig legitim ist. Legitimation bezeichnet somit lediglich einen Ausschnitt des Legitimitätsproblems. Indem der Begriff diesen pointiert, schafft er sich selbst eine dogmatische Lebensberechtigung neben dem der Legitimität. Die inhaltliche Strukur des Legitimationsverfahrens ist stets eine Ableitung aus den Grundprinzipien der jeweils geltenden Herrschaftsordnung. Für den demokratischen Verfassungsstaat, dessen Legitimität nicht mehr durch transzendente oder sonstwie in sich ruhende Autoritäten vermittelt wird, sondern durch die Zustimmung der Unterworfenen hergestellt werden muß 35 (Art. 20 Abs. 1 und insbesondere Abs. 2 Satz 1 GG), hat dies zur Folge, daß Legitimation von Herrschaft nichts anderes bedeutet als ihre Herleitung aus Willensentscheidungen des Volkes 36 . Unverkennbar klingt hier bereits die unauflösliche Verwobenheit von Demokratie und Legitimation an. Sie w i r d im weiteren herausgearbeitet werden.

33 Ebenso W. Schmidt (Anm. 32), S. 211; Menzel (Anm. 25), S. 17 f.; Maihofer, Die Legitimation des Staates aus der Funktion des Rechts, ARSP Beiheft Nr. 15, S. 15 sowie die in Anm. 5 und 6 genannten sozialwissenschaftlichen Autoren. 34 Diese Feststellung wird durch die „Entdeckung" der verfahrensgestaltenden Dimension der Grundrechte nicht erschüttert. Zum einen sind sie nicht der zentrale Bestimmungsfaktor des staatlichen Organisationsrechts, zum anderen erschöpfen sie sich nicht in ihrer Bedeutung als Verfahrensnormen. 35 Allerdings darf nicht verkannt werden, daß auch das Rechtsstaatsprinzip zur Konstituierung verfassungsgemäßer Herrschaft beiträgt und insofern legitimitätsstiftend wirkt. 36 Die Vorstellung einer „institutionellen Legitimation" - der Bundesbank, der Universitäten, der Gerichte, der Rechnungshöfe sowie der Europäischen Gemeinschaften - aufgrund von „Leistungsautorität" (dazu Tomuschat, NJW 1981,S.2623Bericht über das 3. deutsch-italienische Verfassungsrechtskolloquium) ist mit diesem Verfassungssystem unvereinbar und kann lediglich politikwissenschaftliche oder staatstheoretische Relevanz beanspruchen.

3 Emde

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I. Teil: Einführung und Grundlegung 3. Demokratische Legitimation als verfassungsrechtlicher Begriff

Bezeichnet Legitimation den Prozeß der Herrschaftsrechtfertigung, so verengt die Hinzufügung des Attributs „demokratisch" den verfassungsrechtlichen Beurteilungsmaßstab auf das demokratische Prinzip. Demokratisch legitimiert sind demnach Herrschaftsakte, die seinen Anforderungen genügen. Damit rückt eine Kategorie ins Blickfeld, auf die eine gängige Feststellung in Sachen moderner Lyrik zutrifft: Ein Gedicht hat soviele Bedeutungen wie Leser. Einem solchen interpretatorischen Belieben soll hier indessen nicht das Wort geredet werden. Ihm vorzubeugen ist allerdings nur auf der Grundlage gesicherter Orientierungspunkte möglich. Sie aufzufinden, soll nunmehr versucht werden. a) Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes Nicht die Gefechtslage im Kampf der Meinungen um das Wesen der Demokratie entscheidet über den Gehalt des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips, es sind vielmehr die Bestimmungen des Grundgesetzes, die ihn determinieren. Sie und nicht die Entwürfe der Staatstheorie sind mithin Gegenstand der nachfolgenden, den Stand der Dogmatik referierenden Grundlegung - ebenso wie der dem Schlußteil vorbehaltenen Entfaltung des demokratischen Prinzips und seiner Konkretisierung im Hinblick auf die funktionale Selbstverwaltung. Demokratie- und verfassungstheoretische Reflexionen haben dabei nur insoweit Platz, als sie in den von der juristischen Methodik gezogenen Auslegungsrahmen integriert werden können. Zwar umfaßt das demokratische Prinzip nicht - wie von Simson in einem überpointierten Aperçu formuliert hat 3 7 - „so ungefähr den gesamten Bereich des geltenden deutschen Staatsrechts", gleichwohl aber sind seine grundgesetzlichen Sprößlinge zahlreich und kaum überschaubar. Dies um so mehr, als der Gehalt des demokratischen Prinzips auch davon abhängig ist, an wen es sich richtet. Ist es ein ausschließlich staatsbezogener Grundsatz, so wird es lediglich von den staatsgerichteten Verfassungsnormen geprägt, seine Gebote sind in diesem Falle rigider als unter der Voraussetzung, daß es als Konstitutionsprinzip des Gemeinwesens aufgefaßt wird, da dann Zahl und Vielfalt der einschlägigen Verfassungsnormen eine Aufweichung seiner Struktur bewirken. Diese Wechselbeziehung zwischen Geltungsbereich und Geltungsgehalt legt es nahe, den Zugang zu letzterem über die Ermittlung von ersterem zu suchen.

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Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, W D S t R L 29, S. 4.

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aa) Zum Geltungsbereich des demokratischen Prinzips Die Optionen - oben schon angedeutet - sind bekannt: das demokratische Prinzip als bloßes Organisationsstatut des Staates oder als übergreifendes Formprinzip für Staat und Gesellschaft, für das Gemeinwesen im ganzen. Freilich, der reale Gegensatz der Meinungen wird mit dieser zugespitzten Herausstellung eher idealtypischer Alternativen überzeichnet. Es gehört heute wohl doch zum gemeinsamen Grundkonsens, daß auch die Grundrechte, zumal jene, die die freie Mitwirkung der Bürger am politischen Leben garantieren, eine demokratische Dimension haben und insofern einen Baustein des demokratischen Prinzips bilden. Schon hieraus erhellt, daß Demokratie nicht ausschließlich eine staatsinterne Angelegenheit ist, sondern jedenfalls auch das staatsbezogene Handeln der Gesellschaft zum Gegenstand hat - in den Worten Hesses38: „Das demokratische Prinzip ist das Leitprinzip der Ordnung des politischen Prozesses, in dem staatliche Gewalt geschaffen und in dem staatliche Gewalt wirksam wird." Aber auch wenn nicht die Rede davon sein kann, das demokratische Prinzip sei nichts als ein staatsinterner Organisationsgrundsatz, ist doch damit der Konflikt der Konzeptionen nicht beigelegt, sondern nur seine Frontstellung verschoben. Die traditionelle, staatsbezogene Doktrin entwickelt ihre Bestimmimg des Geltungsbereichs des Demokratieprinzips auf dem Boden der - freiheitssichernden - Unterscheidung von Staat und Gesellschaft 39 . Von diesem Basissatz ausgehend, versteht sie die Kennzeichnung der Bundesrepublik in Art. 20 Abs. 1 GG als demokratischer Bundesstaat als Aussage über die Staatsverfassung. Hinsichtlich der Gesellschaftsverfassung mißt sie Art. 20 GG nur insoweit Bedeutung bei, als er die Freiheit der Mitwirkung der Bürger am staatsbezogenen politischen Prozeß garantiert; im übrigen hingegen fordere er keine Demokratisierung der Gesellschaft 40 . Begründet w i r d dieses vor allem mit dem Wortlaut und der systematischen Stellung des Art. 20 GG 4 1 sowie mit der freiheitsbedrohenden Wirkung einer Erstreckimg des Demokratieprinzips auf den Bereich der Gesellschaft 42 . Schon die Rege38 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 5 I (S. 54). 39 Dazu exemplarisch Böckenförde, die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit; Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Böckenförde (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, S. 484 ff. 40 Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders, Anm. 39, S. 411 ff.; Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, in: Greiffenhagen (Hrsg.), Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, S. 47 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 627 ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG I, Rdnr. 52 zu Art. 20, und im Ergebnis auch Kriele (Anm. 32), S. 46 ff. 41 Dazu vor allem Stern und Herzog (Anm. 40). 42 Dazu vor allem Böckenförde und Hennis (Anm. 40).

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lungsgegenstände des Art. 20 GG (Sozial-, Bundes-, Rechtsstaat; Staatswillensbildung; Gesetzgeltung) ließen keinen Zweifel daran, daß er staatsgerichtet sei. Die Erstreckung dieser Garantien auf den Bereich der Gesellschaft ergebe keinen Sinn, innerhalb des Art. 20 Abs. 1 GG werde dies besonders augenfällig an den Begriffen Republik und Bundesstaat - beide seien offensichtlich Festlegungen der Staatsverfassung; für das demokratische Prinzip könne daher nichts anderes gelten. Ein zusätzliches Standbein erwächst dieser Feststellung aus der funktionellrechtlich argumentierenden und ideengeschichtlich fundierten Warnung Böckenfördes und Hennis' vor der tendenziell totalitären, Freiheit und Privatheit aushöhlenden Unterwerfung der Gesellschaft unter das Demokratieprinzip. Die Quintessenz dieses Ansatzes ist wohl die Überzeugung, Gleichheit und Mehrheitsprinzip eigneten sich nur für die Willensbildung im Staat, nur hier könne von einer substantiellen Gleichheit ausgegangen werden, die grundrechtlich geschützten Lebensbereiche Familie, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft hingegen seien durch Ungleichheit gekennzeichnet, hier Gleichheit herzustellen bedeute die Preisgabe der Ratio ihrer Gewährleistung 43 . Dem Strom der herrschenden Meinung haben sich in den letzten Jahren ein beträchtlicher Teil der politischen Theorie 44 sowie einige Staatsrechtler entgegengestellt. Auf erstere ist hier nicht einzugehen, weil ihre den Staat transzendierenden Demokratiepostulate nicht verfassungsrechtlich ausgewiesen sind und damit auf der Ebene politischer Forderungen liegen. Ähnliches gilt für einen Teil der staatsrechtlichen Literatur 4 5 ; auch hier scheint unter einem dünnen Firnis staatsrechtlicher Erwägungen das politische Wunschdenken hervor. Profundere K r i t i k am Dogma der Staatsbezogenheit des demokratischen Prinzips haben vor allem Ridder und Teubner geübt 46 . Während ersterer zu einer grundsätzlich anderen Position tendiert, stellt Teubner das Prinzip nicht in Frage und plädiert „lediglich" für punktuelle Erstreckungen des Demokratiegebots auf bestimmte außerstaatliche Einrichtungen: repräsentative Interessenvertretungen, Verbände, die an staatlichen Entscheidungen beteiligt sind sowie Tarif Organisationen 47 . Zur verfassungsrechtlichen Fundierung seiner Forderungen bemüht Teubner in bewußter Distanzierung « So in der Tat Hennis (Anm. 40), S. 50 f., 55 f., 58 ff., 70; Stern (Anm. 40), S. 475. 44 Nachweise hierzu bei Stern (Anm. 40), S. 629, FN 262 und in der Bibliographie von Antritter, in: Greiffenhagen (Anm. 40), S. 427 ff. 45 Beispielhaft U. K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des Öffentlichen, S. 166 ff. 46 Die soziale Ordnimg des Grundgesetzes, insbes. S. 35 ff., ders., Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften nach dem Grundgesetz, insb. S. 16 ff.; Teubner, Organisationsdemokratie und Verbands Verfassung, S. 178 ff., 225 ff. und 246 ff.; daselbst (S. 187 f.) weitere Hinweise auf Versuche der Literatur, ein verfassungsrechtliches Gebot der Demokratisierung der Verbände zu konstruieren. 47 Anm. 45, S. 178 ff., 225 ff., 246 ff.

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von anderen Protagonisten der Verbandsdemokratie nicht Art. 20 GG, sondern stützt sich auf die grundgesetzlichen Spezialvorschriften des Art. 9 Abs. 3 und des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG 4 8 . Beides, sowohl der punktuelle Charakter der Ausdehnung des demokratischen Prinzips auf außerstaatliche Organisationen als auch die Ableitung verbandsdemokratischer Postulate aus Sondervorschriften des Grundgesetzes, macht deutlich, daß Teubners K r i t i k an der herrschenden Doktrin eher spezifisch als fundamental ist; sie greift die systematische Verklammerung von Staat und Demokratie nicht an und widerstreitet mithin nicht dem methodischen Konzept, mittels der Beschränkung des Geltungsbereichs des demokratischen Prinzips auf Staat und Politik eine Leitlinie für seine inhaltliche Entfaltung zu gewinnen. In ganz andere Dimensionen stößt die K r i t i k von Ridder vor. Während er sich in seinem Gutachten über die verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften noch damit zu begnügen scheint, das demokratische Prinzip auf gesellschaftliche Großorganisationen auszudehnen 49 , setzt er mittlerweile viel prinzipieller an. „Art. 20 Abs. 1 GG proklamiert und postuliert mit dem sowohl demokratischen als auch sozialen Staat die gleichschrittliche Entfaltung von Demokratie in der staatlichen und in der gesellschaftlichen Sphäre", lautet nunmehr die These 50 . Es wäre unangemessen, diesen Standpunkt als Gedankengut eines Außenseiters abzutun und zu ignorieren. Immerhin handelt es sich bei beiden Attributen des Art. 20 Abs. 1 GG um Staatszielbestimmungen, und diese weisen, da der Zweck des Staates nie seine Selbstorganisation, sondern immer und vor allem die rechtliche und politische Ordnung des Gemeinwesens ist, stets über den Staat als Organisationseinheit hinaus: sie sind gesellschaftsgerichtete Gestaltungsaufträge. Für das Sozialstaatsgebot ist dies unbestritten, seine Funktion als Motor der sozialen Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit auch der privaten Rechtsbeziehungen der Bürger (Mietrecht, Arbeitsrecht usw.) ist oft genug dargelegt worden 51 . Da zudem ein wechselseitiges Stützungsverhältnis zwischen Sozialstaat und Demokratie unverkennbar ist, erscheint es um so plausibler, das Attribut „demokratisch" in Art. 20 Abs. 1 GG synchron mit dem Attribut „sozial" zu interpretieren und auch ihm eine den Bereich des staatlichen transzendierende Stoßrichtung beizumessen. Der interpretatorische Ausgangspunkt, die Verknüpfung von Inhalts- und Bereichsbestimmung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips, wird von Erwägungen derart unverbindlicher Abstraktheit indessen nicht in Frage gestellt. Hierzu bedürfte es vielmehr des konkreten Nachweises, daß die Verfassung die Gestaltung von Staat und Gesellschaft tatsächlich in glei48

Ebd., S. 178 ff., 226, 248 f. « Anm. 46, S. 16 ff. 50 Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 48. si Siehe hierzu nur Stern (Anm. 40), S. 877 ff., 713 ff.; Hesse (Anm. 38), § 6 I I b (S. 86 f.).

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eher Weise dem demokratischen Prinzip unterwirft; dies vorausgesetzt wäre es allerdings verkürzt, vor allem aus der grundgesetzlichen Ausgestaltung der staatsinternen Willensbildung Aufschlüsse über die grundgesetzliche Gestalt des demokratischen Prinzips gewinnen zu wollen. Eben diesen Nachweis aber vermag Ridder nicht zu führen. Sein Postulat der synchronen Demokratisierung von Staat und Gesellschaft wird weder vom Text noch vom Telos des Art. 20 Abs. 1 GG gestützt. Dem Text ist bereits dann Genüge getan, wenn die prägende Kraft des demokratischen Prinzips für den Prozeß der politischen Willensbildung ernstgenommen wird; aber auch bezüglich des Telos der Bestimmung ist nicht ersichtlich, daß die verfassungsrechtliche Verankerung des demokratischen Sozialstaats die umfassende Demokratisierung der Gesellschaft als normative Folge notwendig bedingt 5 2 - im Gegenteil, die tendentiell freiheitsgefährdende Dynamik eines „totalen" Demokratiebegriffs ist mittlerweile Gemeingut. Im übrigen vermag auch Ridders historisches Standbein 53 seinen Interpretationsansatz nicht zu tragen. Zwar ist die fehlende Anpassung der „ Gesellschaf tsverfassung" an die „Staatsverfassung" vermutlich in der Tat ein Krebsübel des Weimarer Systems gewesen, gleichwohl erscheint es verstiegen, nach vierzig Jahren Grundgesetz auf dem Schutt von Weimar - und nur durch das kleine Wörtchen „sozial" textlich gedeckt - fundamentale Verfassungsprinzipien aufbauen zu wollen. Die Unternehmung gewinnt auch nicht dadurch an Überzeugungskraft, daß Art. 20 Abs. 1 GG der Zweck unterschoben wird, durch ein pauschales Gebot von Demokratie die organisatorischen und institutionellen Demokratiedefizite des Grundgesetzes zu kompensieren 54 . Entstehungsgeschichtliche Stützen für diese Auffassung sind nicht auszumachen - im Gegenteil, der Parlamentarische Rat hätte den Vorwurf organisatorischer und institutioneller Demokratiedefizite im Grundgesetz wohl erbittert zurückgewiesen. Systematisch ist er - wie insbesondere eine rechtsvergleichende Betrachtung erweist - haltlos: Sowohl die Wahlrechtsvorschriften des Grundgesetzes als auch sein Grundrechtskatalog liegen, trotz des Verzichts auf soziale Grundrechte, durchaus im Spektrum des westlichen Demokratiebegriffs, in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung gehen beide sogar in vielem über das soziale und demokratische Niveau mancher vergleichbarer Verfassungen hinaus. Ein Defizit weisen sie allenfalls gegenüber der Weimarer Verfassungslage auf. Aber ist Weimar wirklich das Maß aller Dinge? Im Ergebnis ist mithin daran festzuhalten, daß die geltende Verfassungsordnung kein Gebot der synchronen Demokratisierung von Staat und Gesellschaft kennt und folglich das demokratische Prinzip ungeachtet 52 Α. A. Ridder (Anm. 50), S. 44 ff., insb. S. 48 f. 5 3 Anm. 50, S. 37 - 40, 44 ff. 54 Ridder (Anm. 50), S. 47 f.

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seiner vielfältigen Ausstrahlungen auf den Bereich der Gesellschaft eine primär staatsbezogene Kategorie darstellt. Sein Gehalt wird aufgrund dessen im folgenden anhand der grundgesetzlichen Ausgestaltung der Mechanismen zur Rechtfertigung staatlicher Herrschaft entfaltet 55 . bb) Zum Gehalt des demokratischen Prinzips Laut Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik ein demokratischer (und sozialer) Bundesstaat. Die Aussage erfährt eine Konkretisierung in Art. 20 Abs. 2 GG 5 6 : „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie w i r d vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Verwaltung ausgeübt." Diese Präzisierung des grundgesetzlichen Bekenntnisses zum Demokratieprinzip verleiht seiner diffusen Unbestimmtheit die Gestalt der auf der Volkssouveränität aufbauenden repräsentativen gewaltengegliederten Demokratie. Art. 20 Abs. 2 GG legt somit nicht nur ein pathetisches Bekenntnis ab, sondern erweist sich daneben und darüber hinaus als Grundnorm der Staatsorganisation. Obschon damit eine erste typologische Festlegung des grundgesetzlichen Demokratiebegriffs erreicht ist, bleibt seiner Interpretation immer noch eine Legion von Alternativen offen. Auch sie allerdings reduziert sich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Gestalt der deutschen Demokratie nicht allein von Art. 20 GG, sondern daneben von einer Vielzahl anderer Verfassungsnormen geprägt wird 5 7 . Von Bedeutung sind vor allem die Bestimmungen, die den „plan of government" enthalten, sowie jene, die die Beteiligung des Bürgers am politischen Leben und die Stellung der Parteien sowie der Verbände betreffen. Aufs Ganze gesehen sind neben den Marksteinen des Art. 20 GG vor allem folgende Verfassungsentscheidungen für den grundgesetzlichen Demokratiebegriff von konstituierender Bedeutung: Freiheit der Mitwirkung aller Bürger am politischen Leben; staatsbürgerliche Gleichheit, insbesondere freies und gleiches Wahlrecht; Minderheitenschutz; freie politische Betätigung für Verbände und Parteien, insbesondere auch für Oppositionelle; funktioneller Vorrang des Parlaments vor den anderen Staatsorganen; parlamentarische Verantwortlichkeit der Exekutive 58 . 55 Im übrigen sei angemerkt, daß dieser Interpretationsweg auch auf dem Boden des Ridderschen Demokratiebegriffs vorgegeben ist, da dessen gesellschaftsbezogene Komponente viel zu konturenlos ist, um ohne den Rückgriff auf das staatsgeprägte, traditionelle Demokratiemodell auszukommen. 56 Das Verhältnis der Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG als Grundnorm und Konkretisierung betonen auch Herzog (Anm. 40), I I Rdnr. 2 f. zu Art. 20 und Stern (Anm. 40), S. 599. 57 Ebenso Stern (Anm. 40), S. 599. 58 Inwieweit dieser unbestrittene Kernbestand an demokratischen Prinzipien noch ergänzungsfähig und -bedürftig ist, mag hier dahinstehen. Näheres und weiteres dazu

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Während einige der soeben skizzierten Aspekte des demokratischen Prinzips im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit vernachlässigt werden können, bedürfen insbesondere die Grundsätze des Art. 20 GG eingehenderer Darstellung. Indem die Bestimmung die Bundesrepublik als Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, kennzeichnet, verankert sie Volkssouveränität 59 und Volksherrschaft. Das grundgesetzliche Konstitutionsprinzip staatlicher Herrschaft ist somit ihre Ausübung durch das Volk selbst oder durch ihm verantwortliche besondere Organe der Staatsgewalt. Der Anteil der unmittelbaren Volksherrschaft beschränkt sich gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG auf Wahlen und Abstimmungen, im übrigen wird die staatliche Gewalt durch „besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" ausgeübt. Die Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Anordnungen für die Staatsordnung der Bundesrepublik ist weitreichend: Sie enthält die Entscheidung für die repräsentative Form der Demokratie und zugleich den Verzicht auf den Anspruch, Herrschaft von Menschen über Menschen aufzuheben 60 . Statt dieser Utopie nachzujagen und ihre NichtVerwirklichung mit der Vorspiegelung einer Identität von Herrschern und Beherrschten zu verschleiern, macht das Grundgesetz durch die Übertragung der Staatsgewalt auf vom Volk auf Zeit eingesetzte besondere Organe Ernst mit dem demokratischen Glaubensbekenntnis, Herrschaft müsse stets vom Volk ausgehen, vor ihm verantwortet werden und dürfe sich nur in den Bahnen des Rechts bewegen. Mit anderen Worten: Das demokratische Prinzip konstituiert eine gebundene Herrschaftsordnung, indem es der Ausübung der Staatsgewalt zeitliche, inhaltliche sowie verfahrensmäßige Grenzen auferlegt und den ihr Unterworfenen das Recht verleiht, sie zu lenken sowie zu kontrollieren. Das Verhältnis der Staatsorgane zum Staatsvolk sowie zueinander und der daraus resultierende Aufbau der Staatsorganisation ist in Art. 20 GG nur in den Grundzügen geregelt, im übrigen wird er in den nachfolgenden organisationsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes näher ausdifferenziert. Von Bedeutung sind hier insbesondere Art. 33, 38, 63 - 68, 76 - 81, 87 und Art. 107 ff. GG. Die Zusammenschau der genannten Vorschriften ergibt im Bereich von Legislative und Exekutive folgendes, von den Landesverfassungen nur leicht variiertes Muster der Ausübung der Staatsgewalt: Stern (Anm. 40), S. 599 ff.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 228 ff.; Hesse (Anm. 38), § 5 (S. 52 ff.). 59 Zum Begriff - er macht das Volk zum Inhaber der verfassunggebenden und zum Träger der Staatsgewalt - Kriele (Anm. 58), S. 226 ff. 60 Dies manifestiert sich in der von Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Unterscheidung zwischen Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt und der Übertragung letzterer auf die „besonderen Organe". Ob im Bereich der „Wahlen und Abstimmungen" etwas anderes gilt, erscheint mir zweifelhaft, auch insoweit fungiert nur das Volk als Herrscher, nicht hingegen der einzelne, der lediglich ein Element des Kollektivs darstellt. Im übrigen sind die dissentierende Minderheit sowie die Nicht-Abstimmenden an die Willensentscheidung der Majorität gebunden, m. a. W., sie werden beherrscht.

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Sie nimmt ihren Ausgang vom einzig unmittelbar demokratisch legitimierten Staatsorgan, dem Parlament; ihm obliegen die wesentlichen politischen Entscheidungen, die Gesetzgebung, die Kontrolle der Exekutive sowie die Wahl und die Abwahl ihres Chefs, des Bundeskanzlers. Dieser seinerseits bestimmt die Richtlinien der Politik der von ihm zusammengestellten Bundesregierung, von deren Mitgliedern die Beamten berufen werden, die sodann weisungsgebunden die Direktiven ihrer Minister auszuführen haben. Die Komplexität dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Entscheidungsfindung von Herrschaftsträgern erzeugt die Notwendigkeit, ihre Organisationsstruktur dem demokratischen Prinzip anzupassen. Seine Bedeutung als Leitlinie der Willensbildung und -bindung schlägt also durch auf die Organisationsebene. Demokratie erweist sich damit als Modus sowohl der Herrschaftsrechtfertigung als auch der Herrschaftsorganisation, sie ist Legitimations- ebenso wie Organisationsprinzip - jede dieser beiden Dimensionen stellt eine Seite der Medaille Demokratie dar. Es sei hinzugefügt, daß das demokratische Prinzip hinsichtlich seiner organisationsrechtlichen Dimension die gleiche Stoßrichtung aufweist wie das Rechtsstaatsgebot: rationale und transparente Organisation des Staates, Bindung und Begrenzung seiner Herrschaft. Auch die inhaltlichen Direktiven beider Prinzipien stimmen häufig überein. b) Der grundgesetzliche Begriff der demokratischen Legitimation Das Verhältis von demokratischer Legitimation und demokratischem Prinzip entspricht dem vom Teil zum Ganzen: Erstere hat keinen Gehalt, der nicht bereits in letzterem enthalten wäre. Die Bedeutung des Legitimationsbegriffs und die Berechtigung seiner Verwendung liegen in der Hervorhebung jener Aspekte der Demokratie, die die Rechtfertigung staatlicher Herrschaft aus der Zustimmung der Unterworfenen betreffen. Während Demokratie als Leitprinzip des politischen Prozesses auch in den Bereich der Gesellschaft ausgreift und insofern politische Freiheitsrechte mitumfaßt, ist die Reichweite des Begriffs der demokratischen Legitimation begrenzter. Er bezieht sich lediglich auf den Teil des demokratischen Prinzips, der die Einrichtung von Verfahren zum Gegenstand hat, die die Bestellung der Herrschenden durch das Volk und die Koppelung der Ausübung ihrer Herrschaftsmacht mit dem Volk garantieren sollen. Die demokratische Legitimation bezeichnet die auf rechtlich geordnete Verfahren der Herrschaftsrechtfertigung bezogene Seite des demokratischen Prinzips. Inhaltlich gewendet bedeutet demokratische Legitimation mithin Herleitung der staatlichen Herrschaft vom Volke. Wie dieser Prozeß im einzelnen

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

vonstatten zu gehen hat, ist in den grundgesetzlichen Ausprägungen des

demokratischen Prinzips geregelt. Hinsichtlich der Frage, welche Grundgesetzbestimmungen insoweit einschlägig sind, ist an die Feststellung zu erinnern, daß in der demokratischen Verfassungsordnung die Organisationsstruktur des Staates mit seiner Legitimationsstruktur zusammenfällt. Das grundgesetzliche Organisationsmodell des Staates ist mithin zugleich der Bauplan seiner Legitimationsstruktur. Hieraus erhellt, daß der Begriff der demokratischen Legitimation keinesfalls pauschal und ausschließlich in Art. 20 GG verortet werden kann, da dieser nicht als Schwamm, der sämtliche demokratierelevanten Normen des Grundgesetzes in sich aufsaugt, fungiert, sondern, wie bereits ein kurzer Blick auf Art. 79 Abs. 3 GG zeigt, nur einen demokratischen Mindeststandard garantiert. Unzweifelhaft aber bildet Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Fundament des grundgesetzlichen Legitimationssystems. Indem die Bestimmung festlegt, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" wird, stellt sie klar, daß sich das Gebot der demokratischen Legitimation, soweit das Volk nicht selbst entscheidet, sowohl auf die Träger staatlicher Herrschaftsbefugnisse als auch auf deren konkrete Entscheidungen bezieht. Demokratische Legitimation hat damit eine personelle wie eine materielle Komponente, beide müssen auf Willensäußerungen des Volkes zurückführbar sein, das heißt: Die Berufung jedes staatlichen Funktionsträgers und jede staatliche Entscheidung müssen durch eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk ableitbar sein. Es geht mithin um die Etablierung eines Herrschaftssystems, dessen Entscheidungen den Adressaten zugerechnet werden können. Da dieser Zurechnungszusammenhang zum einen durch die Ableitung aller Herrschaftsakte aus Entscheidungen des volksgewählten Parlaments und zum anderen durch die - zumal in Wahlen erfolgende - Geltendmachung der Verantwortlichkeit aller Herrschaftsorgane hergestellt wird, zerfällt der Prozeß der Legitimation der Staatsgewalt zeitlich gesehen in zwei Phasen: in einen ihrer Ausübung vorangehenden - generalisierten - Zustimmungsakt der Unterworfenen und in die nachträgliche Einforderung der Verantwortlichkeit der staatlichen Organe. Präziser noch als der Begriff der Legitimationskette veranschaulicht vielleicht der des Legitimationskreislaufs die Etappen des Legitimationsverfahrens: Es beginnt beim Volk als dem Ursprung der staatlichen Herrschaft und führt über die von ihm gewählten Repräsentanten sowie die Organe der vollziehenden Gewalt schließlich wieder zum Volk - diesmal in seiner Eigenschaft als Objekt der staatlichen Herrschaft - zurück. Im demokratischen Staat tritt das Volk also nicht nur als Herrschaftsadressat, sondern auch als Herrschaftsautor in Erscheinung - die staatlichen Entscheidungen können ihm über ein System komplizierter Vermittlungen zugerechnet werden.

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In personeller Hinsicht manifestiert sich dieser Modus der Herrschaftsorganisation in der Forderung, daß eine Kette individueller Berufungsakte vom Parlament als dem einzigen vom Volk unmittelbar demokratisch legitimierten Staatsorgan bis zu jedem Amtswalter führen muß; in materieller bzw. inhaltlicher Hinsicht, daß jede Entscheidung eines Staatsorgans der Lenkimg und Kontrolle des Parlaments oder einer ihm verantwortlichen Instanz unterliegen muß. Dieses anspruchsvolle Legitimationskonzept ist im Begriff, sich in der Dogmatik des Staatsrechts durchzusetzen 61 . Seine Feinstruktur allerdings insbesondere die Unterscheidimg zwischen personellem und materiellem Legitimationsfaktor sowie beider Verhältnis zueinander - und seine exakte verfassungsrechtliche Fundierung haben sich der herrschenden Dogmatik allerdings noch kaum erschlossen; sie müssen daher an späterer Stelle eigens herausgearbeitet werden 62 . Diese Feststellungen gelten in gleicher Weise für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Auch das Gericht unterscheidet nicht explizit zwischen der personellen und der materiellen Legitimationskomponente, fordert aber gleichwohl ebenfalls „eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organwaltern" 63 . Anders indessen sieht das Bild in der Selbstverwaltungsdogmatik aus. Konfrontiert mit der viel begrenzteren staatsvermittelten Legitimation ihrer Untersuchungsobjekte, favorisiert sie häufig ein weniger anspruchsvolles, zumeist auf das Niveau der Wesentlichkeitstheorie zurückgenommenes Legitimationskonzept 64 . 61 Zu seinen Pionieren und Protagonisten gehören insbesondere Böckenförde (Anm. 32, S. 71 ff. sowie neuestens „Demokratie als Verfassungsprinzip", in: Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. I, S. 894 ff.) und Herzog (Anm. 40, I I Rdnr. 46 ff.) sowie im Ansatz bereits Hennis (Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Festgabe für R. Smend, S. 51 ff.). Auch Kriele (Anm. 32, S. 63 f.) sowie Stern (Anm. 40, S. 604, 606 f. und 962), die vorsichtiger formulieren, nehmen in der Sache den gleichen Standpunkt ein. Bei Stern, dessen besonderes Interesse dem Beziehungsgefüge Volk - Parlament Regierung gilt, erhellt dies aus der Tatsache, daß er nicht nur die Bestellung der Herrschenden durch das Volk und die Rückkoppelung der Ausübung ihrer Herrschaftsmacht mit dem Volk fordert, sondern letztere erst durch die parlamentarische Verantwortlichkeit aller Staatsorgane mit politischen Entscheidungsbefugnissen gewährleistet sieht. Die in dieser Argumentation betonte unauflösliche Korrelation von Macht und Verantwortung läuft, ohne den Begriff der Legitimation ins Spiel zu bringen, ebenfalls auf ein sowohl personelles als auch sachliches Bestimmungsrecht von Parlament und Minister über die staatliche Exekutive hinaus. 62 Unten 12. und 13. Kap.; ebenso wie dort nunmehr auch Böckenförde (Anm. 61), S. 894 ff. 63 Bd. 47, 253, 275; 52, 95, 130. Damit sowie mit seiner Wesentlichkeitsrechtsprechung (vgl. dazu oben 1. Kap., Anm. 5 und unten I I 3 a) plädiert das Gericht ebenfalls nicht nur für eine umfassende personelle, sondern auch für eine weitreichende materielle Legitimation der staatlichen Organe durch das volksgewählte Parlament. 64 In diesem Sinne etwa H. H. Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: FS Forsthoff, S. 177,180 ff.; Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, W D S t R L 31, 217 f.; Jäkel, Verfassungsrechtliche Aspekte einer gleichberechtigten Mitsprache der Arbeitnehmer in den deutschen Industrie- und Handelskammern, S. 230. Ähnlich auch Bieback, Die Mitwirkung der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung, S. 43 - 63; eingehend zum Ganzen unten 11. Kap.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Ein Querschnitt durch die staatsorganisatorischen Regelungen des Grundgesetzes und der Landesverfassungen offenbart, daß das Prinzip umfassender personeller und materieller Legitimation der Stellung der Verwaltung im Beziehungsgefüge Volk - Parlament - vollziehende Gewalt nachgebildet ist. Ihr Strukturmodell - die hierarchische Ministerialverwaltung durch staatlich ernannte Lebenszeitbeamte - bedingt, daß die ihm immanente Verdünnung des Volkswillens auf dem Weg über die Vermittlungsinstanzen bis hin zur exekutiven Einzelentscheidung nach dem Muster der kommunizierenden Röhren durch eine Verdichtung der Abhängigkeit von der jeweils vorgeordneten Instanz ausgeglichen wird. Das Gebot umfassender personeller und materieller Legitimation stellt sich somit im Hinblick auf die Ministerialverwaltung als Kompensation ihrer institutionellen Distanz zum Volk als der Quelle aller Legitimation dar 6 5 . Erweist sich der strenge Legitimationsbegriff damit als auf einen bestimmten Sektor staatlichen Wirkens zugeschnittene Struktur, so kann er nicht ohne weiteres von ihr gelöst und als allgemein gültiger Idealtypus präsentiert werden. Seine genetische und systematische Bezogenheit auf die Stellung der Verwaltung zeichnet denn auch die Grenzen seiner Verallgemeinerbarkeit vor. In der Tat paßt die Doktrin der umfassenden personellen und materiellen Legitimation nicht auf die übrigen Funktionen der Staatsgewalt. Diese Abweichungen stellen keine planwidrigen Unvollkommenheiten dar, sondern reflektieren die für jede der drei Staatsgewalten unterschiedliche Ausgestaltung des demokratischen Prinzips. Mit anderen Worten: der Gehalt des Begriffs „demokratische Legitimation" variiert, je nachdem, ob es um die gesetzgebende, die vollziehende oder die rechtsprechende Gewalt geht. Die elementarste Abweichung vom soeben vorgestellten Legitimationsmodell liegt in der durch Art. 20 Abs. 2 und 38 Abs. 1 GG verankerten repräsentativen Stellung des Parlaments als des einzigen unmittelbar demokratisch legitimierten Staatsorgans. Insbesondere Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hält mit unzweideutiger Prägnanz die Autonomie seiner Willensbildung fest. Auch im Parteienstaat, in dem Parteiprogramme einen bestimmenden Einfluß auf Wahlentscheidungen haben, gibt es keine Verbindlichkeit von Wähleraufträgen oder eben Parteiprogrammen - und es kann sie auch nicht geben. Zwar sind Wählererwartungen durch die Periodizität der Wahlen in gewissem Umfang sanktionsbewehrt, dennoch aber stellen sie, diffus und wandelbar wie sie sind, kein Mittel der Willenssteuerung dar, welches die Entscheidung des Parlaments in jener Weise inhaltlich determiniert, wie 65 Dieser Zusammenhang ist rein systematischer Natur. Entwicklungsgeschichtlich sind die Herausbildung der hierarchischen Ministerialverwaltung und der parlamentarischen Demokratie voneinander unabhängige Prozesse gewesen. Dazu G. Jellinek, Die Entwicklung des Ministeriums in der konstitutionellen Monarchie, in: Ausgewählte Schriften und Reden, 2. Band, insb. S. 104 ff.

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dies im Verhältnis Parlament - Regierung und mehr noch in dem von Regierung und Verwaltung der Fall ist. Jedes Mitglied des Parlaments verfügt durch seine Wahl über eine unzweifelhafte personelle Legitimation, weder der einzelne Abgeordnete noch das Parlament sind aber für eine bestimmte Politik rechtlich legitimiert, dem Prinzip der Repräsentation gemäß gilt dies vielmehr für jede vom Parlament eingeschlagene Politik. Die Differenzierung zwischen personeller und materieller Legitimation ist im Hinblick auf das Beziehungsgefüge Volk - Parlament mithin nicht vollziehbar. Auch die Stellung der Richter ist mit dem umfassenden Legitimationsmodell nicht in Einklang zu bringen. Da Art. 97 GG die ihrer Funktion gemäße Unabhängigkeit verfassungsrechtlich verankert, unterliegen sie keinen Weisungen und beziehen ihre materielle Legitimation demzufolge allein aus ihrer Bindung an das Gesetz. Doch diese Modifikationen des Legitimationsbegriffs im Hinblick auf die gesetzgebende und die rechtsprechende Gewalt brauchen hier nicht weiter zu interessieren, da es in dieser Arbeit in der Tat um jene Bereiche geht, auf die seine herkömmliche Fassung zugeschnitten ist: das Verhältnis von Parlament - Regierung - Verwaltung. Die Legitimationsstrukturen dieses Beziehungsgefüges sollen denn auch im folgenden eingehender untersucht werden.

„ I n einem Staatswesen, in dem das Volk die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament ausübt, (ist) vor allem dieses Parlament dazu berufen, im öffentlichen Willensbildungsprozeß ... die von der Verfassung offen gelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden" 6 6 . Von dieser Feststellung des Facharztbeschlusses ist es nur noch ein kurzer Schritt zu der Erkenntnis Böckenfördes, daß es keine Form demokratischer Legitimation - außerhalb der unmittelbaren Volkswahl - gibt, „die am Parlament als Legitimationsmittler vorbei verläuft" 6 7 . Dies gilt für die personelle ebenso wie für die materielle Legitimationskomponente. Erstere nimmt ihren Ausgangspunkt in der Wahl der Regierung durch das Parlament sowie seiner Verantwortlichkeit ihm gegenüber und setzt sich fort mit der Ernennung der nachgeordneten Amtswalter durch die Minister. Dieses gestufte Legitimationsverfahren stellt sicher, daß jeder einzelne Amtswalter von einem seinerseits personell legitimierten Amtswalter individuell in sein Amt berufen wird, es schafft mithin „eine ununterbrochene Kette individueller Berufungsakte", die von jedem einzelnen Träger staatlicher Entscheidungsbefugnisse „bis auf das Volk als den Träger der Staatsgewalt" zurückführt 6 8 . Den materiellen Legitimationsstrang hat Kriele auf folgende Formel 66

BVerfGE 33, 125, 159. Anm. 32, S. 74. 68 Herzog (Anm. 40), I I Rdnr. 53. Das von Herzog hervorgehobene Moment der individuellen Berufung bedarf einer Erläuterung im Hinblick auf die Relation Volk - Par67

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

gebracht 69 : „Der Kern der demokratischen Legitimation ist die regelmäßig wiederkehrende Wahl des Bundestages und der Landtage. Sie vermittelt die demokratische Legitimität der Gesetze. Auch die demokratische Legitimität aller übrigen Staatsorgane ist durch sie vermittelt: einmal durch ihre unmittelbare oder mittelbare Abhängigkeit organisatorischer, ... budgetmäßiger Art und die rechtliche und politische Kontrolle, zum anderen durch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ...". Bereits Krieles knapper Aufriß erhellt, daß die Mechanismen der materiellen Legitimation komplizierter und vielgestaltiger sind als die der personellen. Noch eine andere, später von Böckenförde 70 herausgearbeitete Erkenntnis kündigt sich bereits in ihm an: die zentrale Bedeutung der materiellen Legitimation, der gegenüber die personelle lediglich eine dienende Rolle spielt. Der Vorrang der materiellen Legitimation hat seine Ursache darin, daß Gegenstand der Rechtfertigung von Herrschaft letztlich nicht Personen oder Institutionen, sondern Entscheidungen sind, erstere kommen eben nur so weit ins Spiel, als sie Entscheidungsträger sind. Diese Einsicht wiederum führt zurück zu den Elementen der materiellen Legitimation, indem sie den Zugang zu ihrer Systematik und Struktur erschließt. Da es der demokratischen Legitimation um die Herstellung eines Zurechnungszusammenhangs zwischen Herrschaft und Herrschaftsunterworfenen geht, erfaßt ihr Begriff alle auf das Volk zurückweisenden Bestimmungsfaktoren von (staatlichen) Herrschaftsentscheidungen. Alle Instrumente der Steuerung des Verhaltens nachgeordneter staatlicher Entscheidungsträger stiften mithin demokratische Legitimation. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang: - Parlamentsgesetz - parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung - Haushaltszuweisung - exekutive Normsetzung 71 - exekutiver Einzelakt 7 2

lament und Parlament - Regierung. Es verkennt weder, daß Parlamentswahlen einem Kollegialorgan, einem Kollektiv, gelten, noch, daß nur der Bundeskanzler und nicht die Regierung vom Bundestag gewählt wird - es w i l l insoweit lediglich hervorheben, daß jeder einzelne Abgeordnete als durch das gesamte Volk legitimiert gilt und daß jeder Minister neben seiner indirekten parlamentarischen über eine individuelle Legitimation durch Bundeskanzler und Bundespräsident verfügt. 69 Anm. 32, S. 63, 82. 70 Anm. 32, S. 75. 71 Versteht man den Normbegriff im Sinne der modernen Rechtstheorie, so umfaßt er sowohl die Rechtsverordnung als auch die Verwaltungsvorschrift (ebenso: Böckenförde/Grawert, Sonderverordnungen zur Regelung besonderer Gewaltverhältnisse, AöR 95 (1970), S. 6 - 15; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, insb. S. 135 ff., 153 ff., 502 ff.; Krebs, Zur Rechtsetzung der Exekutive durch Verwaltungsvorschriften, VerwArch 70 (1979), S. 259 ff. Andernfalls stellen die Verwaltungsvorschriften eine eigene Kategorie dar.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

- Gesetzesbindung - Weisungsbindung.

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,

Es versteht sich, daß diese Legitimationskomponenten nicht in einem Alternativitätsverhältnis zueinander stehen, sondern kumuliert werden können. Im Prototyp der öffentlichen Verwaltung, der hierarchischen Ministerialverwaltung, sind sie stets sämtlich vorhanden. Unternimmt man es, die aufgeführten Legitimationselemente zu systematisieren, so fällt die Unterscheidung zwischen abstrakt verhaltensbestimmenden Instrumenten (Gesetzes- und Weisungsbindung) und konkret inhaltsbestimmenden ins Auge. Nicht minder bedeutsam ist eine weitere Ordnungskategorie: die Differenzierung zwischen vorgängiger Lenkung und nachträglicher Kontrolle. Bezieht man sich auf die einzelnen Legitimationsinstrumente, so erweist sie sich allerdings als kaum operationalisierbar. Zwar wird man sagen können, daß Akte der Normsetzung sowie Haushaltszuweisungen schwerpunktmäßig vorgängig lenkender Natur sind, während für die parlamentarische Kontrolle das Gegenteil gilt. Schon im Hinblick auf die exekutiven Einzelmaßnahmen ist diese Einteilung jedoch nicht mehr vollziehbar: Sie können sowohl nachträglich kontrollierender als auch vorgängig lenkender Art sein, und diese Doppelgesichtigkeit verliert sich selbst dann nicht, wenn man feinere Systematisierungsgesichtspunkte ins Spiel bringt. Hinsichtlich der herkömmlichen Weisung der Vorgesetzten an die nachgeordnete Behörde versteht sich das von selbst, aber auch die Fach- und Rechtsaufsicht treten sowohl präventiv als auch repressiv auf 73 . Vor allem aber entpuppt sich die Betonung des vorgängig lenkenden Charakters der Normsetzung bei näherer Betrachtung als arge Vereinfachung. Natürlich ist Rechtsetzung im wirtschafts- und sozialgestaltenden Staat der Gegenwart kaum je nichts als ein zukunftsgerichteter Entwurf, in aller Regel eignet ihr zumindestens ebensosehr der Charakter einer Korrektur der bisherigen staatlichen Politik. Und umgekehrt gilt für die parlamentarische Kontrolle sowie für die Kontrolle durch die staatlichen Aufsichtsbehörden Entsprechendes: Selbst dort, wo sie erst nachträglich eingreift, entfaltet sie doch zugleich auch Lenkungswirkung im Hinblick auf das zukünftige Verhalten des Kontrollierten. Ist die Unterscheidung zwischen vorgängiger Lenkung und nachträglicher Kontrolle nicht imstande, eine an ihr ausgerichtete, eindeutige Zuordnung der verschiedenen Legitimationskomponenten zu leisten, weil jede einzelne von ihnen sowohl Elemente vorgängiger Lenkung als auch nachträglicher 72 Seine Erscheinungsform reicht von der unverbindlichen Empfehlung über die förmliche Weisung bis hin zur Genehmigung bzw. deren Verweigerung. Auch seine Rechtsgrundlagen sind unterschiedlich, sowohl die allgemeine Organaufsicht (dazu Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl., § 77 I I b 4, S. 103 f.) als auch die Fachaufsicht und die Rechtsaufsicht kommen in Betracht. ™ Hierzu Wolff/Bachof (Anm. 72), § 77 II, insb. S. 110 f.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Kontrolle in sich birgt, so deutet dies darauf hin, daß die eine wie andere Art der Verhaltenssteuerung demokratische Legitimation zu stiften vermag. Und in der Tat: Ist eine Entscheidung demokratisch legitimiert, wenn sie ihren Adressaten in deren Eigenschaft als Ausgangspunkt der Legitimationskette zugerechnet werden kann, so kommt es darauf an, ob dieser bzw. seine Repräsentanten die Möglichkeit haben, den Entscheidungsträger zu steuern. Verhaltenssteuerung aber muß nicht ex ante einsetzen; sofern nicht irreversible Tatsachen geschaffen worden sind und die Rechtsordnung eine nachträgliche Korrektur der getroffenen Entscheidung ermöglicht, kann sie auch ex post wirksam werden. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, daß sowohl vorgängig lenkende als auch nachträglich kontrollierende Instrumente der Entscheidungssteuerung demokratische Legitimation stiften 74 . Der Kontrolle kommt diese Wirkung allerdings nur insoweit zu, als die zu kontrollierende Entscheidung zur Disposition des Kontrollierenden steht. Eine umfassende Sachkontrolle vermittelt eine umfassende demokratische Legitimation, eine bloße Rechtskontrolle hingegen vermittelt lediglich eine auf die rechtsanwendenden Elemente der getroffenen Entscheidung begrenzte Legitimation. Soweit diese sich hierin nicht erschöpft, sondern Momente rechtlich nicht determinierter eigenständiger Gestaltung enthält, entzieht sie sich der Rechtskontrolle und empfängt von ihr mithin auch keine Legitimation. Ein Wort zum Sprachgebrauch: Im vorangegangenen sowie im folgenden wird mit den Begriffen Steuerung, Leitung, Lenkung und Kontrolle operiert. Sie sind gängig sowohl in der Verwaltungswissenschaft als auch im Verwaltungsrecht. Da ihr Gehalt gleichwohl nicht eindeutig feststeht 75 , kann nicht darauf verzichtet werden, ihre Verwendungsweise im Rahmen dieser Arbeit darzulegen; ein Werturteil über den Stand der verwaltungswissenschaftlichen Dogmatik ist damit nicht verbunden. Im folgenden bedeuten: - Leitung: umfassende Befehlsgewalt über nachgeordnete Organe bzw. Organisationen, - (vorgängige) Lenkung: eingeschränkte Leitungsbefugnis in bezug auf zukünftige Entscheidungen, - (nachträgliche) Kontrolle: Befugnis zur Beaufsichtigung von Personen und Entscheidungen sowie zur Einforderung von getroffenen Entscheidungen 76 , 74 Zum Begriff der Kontrolle und zur Möglichkeit seiner Erstreckung auf die Mitwirkung am Entscheidungsverfahren siehe auch J. Schwarze, Zum Nutzen einer Systembildung für die Kontrolle der Staatsgewalt, NJW 1974, S. 893 ff.; zur Natur der Kontrolle als Emanation des demokratischen Prinzips siehe neuestens auch Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, insb. S. 104 f., 116 f., 198 - 207. 75 Vgl. dazu Thieme, Verwaltungslehre, S. 207 ff., 407 ff.; Püttner, Verwaltungslehre, S. 337 ff.; Mayntz, Soziologie der öffentlichen Verwaltung, S. 73 ff.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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- Steuerung: umfassender Oberbegriff für Leitung, Lenkung und Kontrolle 7 7 . II. Demokratische Legitimation und funktionale Selbstverwaltung Der im vorangegangenen präsentierte Begriff der demokratischen Legitimation i m Bereich der vollziehenden Gewalt ist anhand des Regeltypus der öffentlichen Verwaltung, der hierarchischen Ministerialverwaltung, entwickelt worden. Auf die funktionale Selbstverwaltung paßt er nicht. Wie dieser Tatbestand sub specie des Verfassungsrechts zu beurteilen ist, ob der staatsbezogene Legitimationsbegriff auf die funktionale Selbstverwaltung überhaupt anwendbar ist, ob er Modifikationen zugänglich ist und ob die Verfassung Sonderregelungen hinsichtlich der Selbstverwaltung trifft - all dies ist erst an späterer Stelle zu untersuchen (Teile 3 und 4). Hier geht es allein darum, zum einen all jene Abweichungen der funktionalen Selbstverwaltung vom Legitimationsmuster der Ministerialverwaltung aufzuführen, die dem Begriff der Selbstverwaltung inhärent sind und daher in allen nachfolgend untersuchten Einrichtungen wiederkehren, sowie zum anderen sowohl das verbleibende Maß an staatsvermittelter Legitimation als auch die selbstverwaltungsspezifischen Elemente autonomer Legitimation herauszuarbeiten. 1. Verkürzungen der staatsvermittelten personellen Legitimation und korrespondierende autonome Legitimationselemente

Konstituierendes Merkmal der Selbstverwaltung ist ihr eigenes personelles Substrat. Sie ist nicht einfach eine besondere Spielart der allgemeinen, ministeriell organisierten Staatsverwaltung, sondern weist eine eigene, grundsätzlich andere Struktur auf. Ausgangs- und Endpunkt der Selbstverwaltung sind die Mitglieder bzw. Betroffenen. Sie sind nicht nur Adressaten ihrer Entscheidungen, sondern auch deren Autoren. Dies zwar nicht in der Form der Identität zwischen Herrschern und Beherrschten 78 , gleichwohl aber doch in einer unmittelbareren und realeren Weise, als dies sonst für den 76 Die hier vor allem interessierende Kontrolle der Verwaltung ist ihrem Schwerpunkt nach Entscheidungskontrolle, die Kontrollmechanismen im Beziehungsgefüge Volk-Parteien-Parlament-Regierung hingegen sind viel stärker personenbezogen. Zur politischen Kontrolle: Loewenstein, Verfassungslehre, S. 125 ff.; Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift G. Müller, S. 379 ff.; ders., Die Kontrolle der Staatsmacht im demokratischen Staat; Meyn (Anm. 74). 77 Anders Mayntz (Anm. 75), S. 74 ff., die den Begriff der Steuerung nicht auf den Gehalt des Kontrollbegriffs erstreckt. 78 Das identitäre Willensbildungsmodell ist nicht einmal in jenen wenigen öffentlichen Körperschaften, in denen die Gesamtheit der Mitglieder das primäre Beschlußorgan bildet, verwirklicht, da auch sie nicht auf die Einschaltung nachgeordneter Organe mit eigenen Entscheidungskompetenzen verzichten können.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Zurechnungszusammenhang zwischen Staatsbürger und Verwaltungsentscheidung gilt. Es sind die Mitglieder, die entweder in ihrer Gesamtheit selbst das primäre Beschlußorgan der Selbstverwaltungseinrichtung bilden oder es jedenfalls wählen, und es sind die Mitglieder, aus denen sich das Personal der Entscheidungsorgane rekrutiert. Ein weiteres kommt hinzu: Die Zahl der Vermittlungsinstanzen zwischen exekutiver Endentscheidung und legitimationsstiftendem Ausgangspunkt ist in der funktionalen Selbstverwaltung naturgemäß ungleich geringer als in der unmittelbaren Staatsverwaltung. Dies gilt auch für all die Selbstverwaltungseinrichtungen, deren Größe es unumgänglich gemacht hat, die gewählten Beschlußorgane von der täglichen Verwaltungsarbeit zu entlasten und diese auf hauptamtlich tätige, weisungsgebundene Verwaltungsbedienstete zu übertragen. Auch wenn Selbstverwaltungsträgern nicht per definitionem die Dienstherrenfähigkeit zukommt, ist doch die Personalhoheit des Staats sowohl gegenüber ihren Organ- als auch gegenüber ihren Amtswaltern in der Hegel weitreichenden Einschränkungen unterworfen 79 . Die staatlichen Behörden sind nicht befugt, Organwalter zu berufen 80 , und üblicherweise steht ihnen noch nicht einmal ein Bestätigungsrecht zu 8 1 . Auch die Abberufung von Organwaltern liegt im Normalfall außerhalb ihrer Entscheidungskompetenz; anders nur in gravierenden Fällen von Amtspflichtverletzung, hier kann die Rechtsaufsichtsbehörde die Amtsenthebung verfügen. Es versteht sich, daß die Aufsichtsbehörden auch dort keine weiterreichenden Kompetenzen besitzen, wo nicht die - zumeist nebenamtlich tätigen - Selbstverwaltungsorgane die eigentliche Verwaltungsarbeit leisten, sondern ihnen nachgeordnete hauptamtliche Verwaltungsbedienstete; auch deren Auswahl obliegt den gewählten Repräsentanten der Mitglieder. Die Staatsverwaltung kann auf die Personalrekrutierung der Selbstverwaltungen nur insoweit einwirken, als sie durch Rechtssatz bestimmte Qualifikationserfordernisse zur Voraussetzung der Ausübung eines Amtes macht; im übrigen sind ihr die konkreten Personalentscheidungen entzogen. Infolge dieser weitgehenden Zurückdrängung der Ministerialverwaltung aus den Personalangelegenheiten der Selbstverwaltungsträger fällt die sonst im Hinblick auf den einzelnen Berufungsakt über Parlament und Regierung vermittelte konkret-individuelle Legitimation durch das Volk weg, an ihre Stelle treten autonome Legitimationsstrukturen: Das Staatsvolk räumt das Feld, und das Verbandsvolk rückt nach. 79 Ebenso und eingehend zum Begriff und zum Gehalt der Personalhoheit im allgemeinen sowie im Bereich der Selbstverwaltung Lecheler, Die Personalgewalt öffentlicher Dienstherren, S. 42 ff., 53 ff. 80 Anders liegen die Dinge in jenen atypischen Selbstverwaltungseinrichtungen jüngeren Datums, deren Organe teilweise mit vom Staat delegierten Vertretern besetzt werden. Genannt sei die BA. 81 Eingehend hierzu D. Keller, Die staatliche Genehmigung von Rechtsakten der Selbstverwaltungsträger, S. 53.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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2. Verkürzungen der staatsvermittelten materiellen Legitimation und korrespondierende autonome Legitimationselemente

Bei allem Streit um das Wesen der Selbstverwaltung besteht doch in einem Punkte Einigkeit: Ihr Begriff impliziert den Ausschluß der staatlichen Fachaufsicht. M. a. W.: Verleiht der Gesetzgeber das Recht der Selbstverwaltung, so büßt das Ministerium die uneingeschränkte Leitungsgewalt ein, die ihm grundsätzlich über die Behörden der öffentlichen Verwaltung zusteht, seine Funktion reduziert sich auf allgemeine Lenkungsmaßnahmen, zumal in wichtigen Angelegenheiten, und auf die Rechtsaufsicht. Die Befugnis, fachliche Weisungen zu erteilen, steht ihm nicht zu. Für die Entscheidungen der Selbstverwaltungsorgane folgt hieraus, daß sie nur in dem Maße, in dem sie inhaltlich durch den Minister determinierbar sind, diesem zugerechnet werden können. Konkret bedeutet dies, daß Selbstverwaltungsentscheidungen nur insoweit staatlich legitimiert sind, als ihr Inhalt durch die staatliche Rechtsordnung programmiert ist. Räumt diese den Selbstverwaltungsorganen autonome Gestaltungsbefugnis - gleich ob durch Rechtsetzungs-, Ermessens- oder Beurteilungsermächtigungen - ein, so sind die entsprechenden Entscheidungen nur noch im Hinblick auf den ihnen vorgegebenen rechtlichen Rahmen staatlich legitimiert. In die durch die Verkürzung der staatlichen Legitimation entstandene Legitimationslücke stößt, analog zum Muster der personellen Komponente, die autonome Legitimation der Selbstverwaltungsentscheidung durch die Selbstverwaltungsmitglieder. Obschon damit die Distanz zwischen Entscheidungsorgan und Entscheidungsadressaten drastisch verringert wird, wäre es doch auch im Hinblick auf den Entscheidungsinhalt verfehlt, von einem identitären Herrschaftskonzept zu sprechen, da dem der repräsentative Charakter des Normaltypus der funktionalen Selbstverwaltung, der herkömmlichen Körperschaft, entgegensteht. Ihre Beschlußorgane sind nicht durch ein imperatives Mandat an den Willen der Mitglieder zurückgebunden, sondern fällen - einmal gewählt - ihre Entscheidungen aus eigener Verantwortung. Wie weit die Einschränkung der ministeriellen Weisungsbefugnis gegenüber den Selbstverwaltungsträgern im einzelnen reicht und welche Bedeutung ihr aufs Ganze gesehen zukommt, muß ebenso wie die Organisation der autonomen Legitimationsströme für jeden Selbstverwaltungsträger gesondert untersucht werden. Bereits an dieser Stelle aber können zwei Grundsatzfragen geklärt und damit „vor die Klammer" der Einzelanalysen gezogen werden: die Bindung der Selbstverwaltungsträger an staatliche Verwaltungsvorschriften und die Bedeutung des staatlichen Genehmigungsvorbehalts.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

a) Verwaltungsvorschriften

und Selbstverwaltungsrecht

Nähme man die Auffassung der überkommenen Dogmatik, Verwaltungsvorschriften seien keine Rechtsnormen und entfalteten nur behördeninterne BindungsWirkungen 82 , wirklich ernst, so wäre damit bereits das Verdikt über Verwaltungsvorschriften, die sich an Selbstverwaltungsträger richten, gesprochen: Sie hätten für diese infolge ihrer Qualität als juristische Personen von vornherein keine Bindungswirkung. Bis zu dieser Konsequenz hat sich indessen niemand verstiegen; zu offensichtlich wäre sonst auch der Widerspruch der ohnehin auf einem rechtstheoretisch verfehlten Normbegriff basierenden „Innenrechtsdoktrin" zum geltenden Recht, insbesondere zum Wortlaut des Art. 86 GG. Es herrscht denn auch allgemeine Einigkeit darüber, daß Verwaltungsvorschriften auch gegenüber Selbstverwaltungsträgern Bindungswirkung entfalten können 83 . Umstritten sind nur die Voraussetzungen und Grenzen für den Erlaß bindender Verwaltungsvorschriften. Die Auseinandersetzung ist vor allem im Bereich der Sozialversicherungsträger geführt worden 8 4 ; gleichwohl ist sie prinzipieller Natur und hat folglich auch allgemeine Bedeutung. Eine Teilmenge der an Selbstverwaltungsträger adressierten Verwaltungsvorschriften kann vorab als unproblematisch abgeschichtet werden, und zwar jene Vorschriften, die ausschließlich den übertragenen Wirkungskreis betreffen. Da staatliche Verwaltungsvorschriften Emanationen der ministeriellen Leitungsgewalt sind, besteht an ihrer Zulässigkeit sowie an ihrer Bindungswirkung dort kein Zweifel, wo die Selbstverwaltungen nicht eigene (Selbstverwaltungs)Angelegenheiten wahrnehmen, sondern als Vollzugsorgane des Staats fungieren - eben im übertragenen Wirkungskreis, der die mit dem Recht der Selbstverwaltung einhergehenden Beschränkungen der ministeriellen Leitungsgewalt nicht kennt. Auch dort, wo Gesetz und Verfassung die Befugnis zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften ausdrücklich erteilen, unterliegt ihre Zulässigkeit keinen Bedenken. Prominentestes Beispiel einer derartigen Regelung ist Art. 86 GG 8 5 . Man mag einwenden, die Garantie der Selbstverwaltung und die Unterwerfung ihrer Träger unter ministerielle Verwaltungsvorschriften schlössen sich aus, das Recht der Selbstverwaltung enthalte per definitionem die Freistellung von Anordnungen der staatlichen Exekutive. Seine Verleihung wäre dann eine „besondere Vorschrift" i. S. d. Art. 86 Satz 1 GG, die dem Erlaß von an die Selbstverwaltungsträger gerichteten Verwaltungs82

So noch Maunz, in: Maunz/Dürig, Rdnr. 16 zu Art. 80. Eingehend hierzu Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 362 -431, 502 - 514. 84 Dazu eingehend Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 219 ff.; Stößner, Die Staatsaufsicht in der Sozialversicherung, S. 57 - 60. 85 Dazu eingehend Bogs (Anm. 84), S. 219 ff., und Ossenbühl (Anm. 83), S. 414 ff. 83

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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Vorschriften entgegenstünde. Ein solches Verständnis des Rechts auf Selbstverwaltung wäre indessen verfehlt. Zwar wird man seine oben skizzierten Essentialia als notwendige Begriffsmerkmale ansehen können, jenseits dieses Minimalstandards aber liegt sein Gehalt dem positiven Recht nicht voraus, sondern wird von diesem gestaltet. Der Ausschluß von staatlichen Verwaltungsvorschriften nun gehört nicht zu jenem apriorischen Wesenskern, der mit der Verleihung des Selbstverwaltungsrechts stets garantiert wird. Es obliegt mithin dem Gesetz-+und Verfassungsgeber, darüber zu entscheiden, ob er den Selbstverwaltungsstatus hierauf erstrecken oder der staatlichen Exekutive das Steuerungsmittel der Verwaltungsvorschrift belassen will. Für die funktionale Selbstverwaltung hat das, da die Verfassungen insoweit selbst keine Regelungen getroffen haben, zur Folge, daß einfachgesetzliche Ermächtigungen an die Staatsverwaltung zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften durchaus verfassungsgemäße Konkretisierungen des Rechts auf Selbstverwaltung darstellen 86 . Damit schält sich der eigentliche Problemkern heraus: Es geht darum, ob eine nicht näher spezifizierte Gewährleistung des Rechts auf Selbstverwaltung staatliche Verwaltungsvorschriften, oder noch genauer: ihre Bindungswirkung ausschließt. Vergegenwärtigt man sich, daß Verwaltungsvorschriften im Gefüge der Staatsordnung als generalisierte (Einzel)Weisungen fungieren 87 , so ist der Zugang zur Lösung gewonnen: Er besteht darin, zwischen Einzelweisungen und Verwaltungsvorschriften Parallelen zu ziehen. Fachliche Einzelweisungen sind Emanationen der ministeriellen Geschäftsleitungsgewalt 88 und als solche im Selbstverwaltungsbereich grundsätzlich unzulässig. Hieraus folgt, daß jedenfalls alle nicht norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften 89 den Selbstverwaltungsträgern gegenüber keine Bindungswirkung entfalten. Dies gilt für organisatorische und verhaltenslenkende Verwaltungsvorschriften gleichermaßen. Sie alle usurpieren, soweit sie nicht lediglich das geltende Recht auslegen, jenen eigenständigen Funktionsraum der Exekutive, in dem diese nicht gesetzesvollziehend, sondern gestaltend tätig wird - er aber ist vom Gesetzgeber im Bereich der Selbstverwaltung deren Trägern und nicht der Ministerialverwaltung zugewiesen worden 90 . Ob diese versucht, per Einzelweisung oder per allgemeiner Anordnung in ihn einzudringen, kann keinen Unterschied machen, da die Form des Akts für die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Staats- und 86 Ebenso Stern, in: Bonner Kommentar, Rdnr. 114 f. zu Art. 28 GG; Bogs (Anm. 84), S. 219 ff.; Stößner (Anm. 84), S. 59 f. und letztlich auch Ossenbühl (Anm. 83), S. 386, 413, 414 ff. 87 Eingehend hierzu Ossenbühl (Anm. 83), S. 181, 469 ff. 88 Ebenso und eingehend hierzu Ossenbühl (Anm. 83), S. 368 f., 411 ff., 455 f. 89 Zur Typologie der Verwaltungsvorschriften: Ossenbühl (Anm. 83), S. 250 ff. 90 Ebenso Ossenbühl (Anm. 83), S. 386 ff., 411 ff., 455 ff., Bogs (Anm. 84), S. 219 ff.; Stößner (Anm. 84), S. 59 f.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Selbstverwaltung belanglos ist und ein Wechsel von konkret-individuellen zu abstrakt-generellen Maßnahmen ersterer keinen Titel für fachliche Gestaltungsakte verschafft. Es wäre daher ein begriff s juristischer Kurzschluß, wollte man ganz schlicht aus der Erkenntnis der modernen Rechtstheorie, daß auch Verwaltungsvorschriften Normen im rechtstheoretischen Sinne sind 91 , folgern, daß dann die Bindung der Selbstverwaltungsträger an das staatliche Recht sich auch auf die Verwaltungsvorschriften erstrecken müsse. Kompetenzgrenzen können eben nicht einfach mittels vom Kompetenzverteiler - hier dem Gesetzgeber - nicht vorgesehener Begriffsumprägungen verschoben werden. Komplizierter liegen die Dinge bei den norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften. Hier stößt die Parallele zu den Einzelweisungen auf die Erkenntnis, daß diese grundsätzlich zulässig sind. Das Recht der Selbstverwaltung garantiert zwar die Befugnis zur autonomen Gestaltung, es dispensiert aber nicht von der Beachtung der staatlichen Rechtsordnung, und eben die Erfüllung dieser Pflicht w i r d von den Behörden der staatlichen Rechtsaufsicht - u. a. - durch norminterpretierende Einzelweisungen, seien es Beanstandungen, seien es Anordnungen, durchgesetzt. Von daher läßt sich für die Zulässigkeit norminterpretierender Verwaltungsvorschriften das Argument ins Feld führen, der Sache nach handle es sich um Maßnahmen der Rechtsaufsicht, deren Zulässigkeit aber könne nicht davon abhängen, ob eine abstrakt-generelle oder eine konkret-individuelle Anordnungsform gewählt worden sei. So plausibel diese Gedankenführung auch im Ansatz erscheint, so sehr verkennt sie doch die Bedeutung des Zeitfaktors. Nimmt man nämlich die Parallele zur Einzelweisung wirklich ernst, so lautet die Frage nicht: sind norminterpretierende Einzelweisungen zulässig, sondern: sind norminterpretierende Einzelweisungen vor einer förmlichen Entscheidung der Selbstverwaltungsbehörde zulässig? Genau das aber ist nicht der Fall. Bindende Anordnungen der Rechtsaufsichtsbehörden setzen stets ein konkretes Fehlverhalten eines Selbstverwaltungsträgers voraus 92 ; als allgemeine Vorfeldmaßnahmen sind sie unzulässig. Den Grund für diese Beschränkung der Weisungsbefugnis auf nachträgliche Korrekturen wird man in dem Bestreben suchen müssen, die Verantwortungs- und Entscheidungsfreude der Verwaltungsträger zu stärken. So gesehen muß die Unzulässigkeit vorgängiger Einzelweisungen zu dem Schluß führen, daß auch norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften, soweit sie sich an Selbstverwaltungsträger richten, keine Bindungswirkung zukommt 9 3 . Verwaltungsvorschriften gegenüber Selbstverwaltungsträgern sind mithin nur zulässig, sofern Gesetz oder Verfassung sie vorsehen. Dieses mittels 91

Siehe dazu Nachw. Anm. 71. Vgl. etwa die Anordnungs- und Beanstandungsregelungen der Gemeindeordnungen, exemplarisch §§ 121 f. BaWüGemO. 93 Im Ergebnis ebenso Ossenbühl (Anm. 83), S. 387 f., 455 f. 92

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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des Charakters der Verwaltungsvorschrift als generalisierter Weisung begründete Ergebnis wird bestätigt durch einen kompetentiellen Gesichtspunkt: bedürften Verwaltungsvorschriften keiner Ermächtigung durch höherrangiges Recht, so gingen die rechtsstaatlichen Errungenschaften des Art. 80 GG verloren, da sich dann die Exekutive der wohlerwogenen Bindung dieser Normsetzungsermächtigung kurzerhand entledigen könnte, indem sie Verwaltungsvorschriften statt Rechtsverordnungen erließe. Daß dies das von der Verfassung vorgesehene Kräfteverhältnis von Legislative und Exekutive planwidrig verändern würde, liegt auf der Hand 9 4 . b) Genehmigungsvorbehalte und Selbstverwaltungsrecht aa) Positionen und Probleme Ein mittlerweile schon notorischer Konfliktpunkt im Recht der Selbstverwaltung sind die staatlichen Genehmigungs- bzw. Zustimmungsvorbehalte 95 . Ermächtigung der Genehmigungsbehörde zu einer eigenen Ermessensentscheidung oder lediglich zeitlich vorverlagertes Instrument der Rechtsaufsicht, lautet die Streitfrage. Daß zwischen diese beiden Optionen vermittelnde Kompromißlösungen geschoben werden können 96 , versteht sich. Doch das muß im Rahmen dieser allgemeinen Grundlegung nicht interessieren, da es für sie lediglich auf die prinzipielle Frage ankommt, welcher Gehalt dem Begriff der Genehmigung als solchem, losgelöst von allen besonderen Konnotationen, eignet. In dieser begrenzenden Zuspitzung der Fragestellung liegt auch der Grund dafür, daß alle auf den Regelungsgehalt eines einzelnen Selbstverwaltungsgesetzes und eines spezifischen Genehmigungsvorbehalts zugeschnittenen Argumentationen außer Betracht gelassen werden - ihnen fehlt es an der auf dieser prinzipiellen Ebene erforderlichen Verallgemeinerbarkeit. 94 Es sei angemerkt, daß diese Funktionsanalyse den wahren - kompetentiellen Kern des von der Dogmatik des Konstitutionalismus entwickelten rechts theoretischen Trugschlusses von der fehlenden Außenwirkung einer Regelung auf ihren fehlenden Normcharakter zutage fördert: die kompetentiell motivierte und lediglich rechtslogisch drappierte Abwehr von exekutiven Rechtssetzungsakten, denen es an einer Ermächtigung durch höherrangiges Recht mangelt - die selbstverständliche Befugnis der Exekutivorgane, Verwaltungsvorschriften zu erlassen, bezieht sich per se eben nur auf interne Regelungen; soll der Bürger gebunden werden, bedarf es hingegen einer besonderen Ermächtigung. 95 Der Gesetzgeber hat keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen getroffen und greift - ohne daß damit eine sachliche Differenzierung verbunden wäre - mal auf diesen, mal auf jenen zurück; ebenso Lohr, Satzungsgewalt und Staatsaufsicht, S. 106 f. 96 Hingewiesen sei auf die Arbeiten von Salzwedel, Staatliche Genehmigungsvorbehalte gegenüber der Selbstverwaltung, AfK 1 (1962), S. 203 ff.; ders., Staatsaufsicht in der Verwaltung, VVDStRL 22 (1965), S. 243 ff. und W. Weber, Kommunalaufsicht als Verfassungsproblem, in: Aktuelle Probleme der Kommunalaufsicht, S. 17 ff.; Körte, Die Aufgabenverteilung zwischen Gemeinde und Staat unter besonderer Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips. VerwArch 61 (1970), S. 153 - 165.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Die Bedeutung der Frage ist praktisch wie dogmatisch gleichermaßen weitreichend. Ersteres aufgrund der Tatsache, daß eine Vielzahl autonomer Rechtsetzungsakte 97 sowie eine Reihe besonders wichtiger Einzelmaßnahmen 98 der Selbstverwaltungsträger genehmigungspflichtig sind. Letzteres, weil der Maßstab der Genehmigung über den Umfang der staatsvermittelten Legitimation entscheidet: Prüfen die Staatsbehörden lediglich die Übereinstimmung der Satzung mit höherrangigem Recht, bedarf deren Inhalt aber im übrigen keines staatliches Plazets, so ist er auch nur in diesem begrenzten Maße staatlich legitimiert; ist die Genehmigung eine nur durch die Grenzen des § 40 VwVfG gebundene Ermessensentscheidung, so liegt in ihrer Erteilung die Zustimmung der Staatsbehörden zum sachlichpolitischen Inhalt des genehmigungsbedürftigen Akts, er ist damit staatlich legitimiert. Ehe in die Kontroverse eingetreten wird, können auch hier allerdings eine Reihe von Normen als inhaltlich unstreitig abgeschichtet werden; all jene nämlich, die eine eindeutige Regelung hinsichtlich des Genehmigungsmaßstabs treffen. Dies ist insbesondere im Bereich der hochschulrechtlichen Genehmigungsvorbehalte der Fall; sie beschränken die Prüfung der Genehmigungsbehörde regelmäßig auf bestimmte, gesetzlich spezifizierte Gesichtspunkte 99 . Den eigentlichen Gegenstand der Auseinandersetzung bilden mithin jene Genehmigungsvorbehalte, die keinen bzw. keinen eindeutigen Genehmigungsmaßstab enthalten. Die Rechtsordnung kennt Genehmigungsvorbehalte, seitdem ihr das Phänomen der Selbstverwaltung geläufig ist. Über ihre Bedeutung bestanden bis zum Ende des Dritten Reichs kaum Meinungsverschiedenheiten: In Fortführung der alten, etatistischen, unter der Flagge der Einheit der Staatsgewalt segelnden Staatsauffassung wurden sie sowohl von der behördlichen Praxis als auch von Rechtsprechung und Wissenschaft verstanden als Ermächtigungen der Genehmigungsbehörden zu einer umfassenden, auch auf Zweckmäßigkeitsfragen bezogenen Prüfung der genehmigungsbedürftigen Maßnahmen 100 . Genehmigungen waren keine Akte der Rechtsaufsicht, sondern der Sache nach staatliche Mitwirkungsbefugnisse an der Tätigkeit 97

Im folgenden kurz Satzungen genannt. Vor allem Vermögenstransaktionen; eingehend zu den Gegenständen von Genehmigungen: D. Keller (Anm. 81), S. 53 ff. 99 Ausgeklammert sei hier der doch recht erstaunliche Einwand, die hochschulrechtlichen Aufzählungen der Gründe für Genehmigungsverweigerungen seien zu weitreichend, um vor Art. 5 Abs. 3 GG Bestand zu haben. So aber in der Tat, Oppermann, Die Staatliche Hochschulaufsicht, Hdbd Wiss R, Band 1, S. 393 f.; Salzwedel, Studien- und Prüfungsordnungen ebd., S. 798 f. 100 Dies wird eingehend dargelegt von Lohr (Anm. 95), S. 85 - 94 und D. Keller (Anm. 81), S. 16 ff.; aus der älteren Literatur seien genannt H. Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, S. 115 und Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, S. 116 f. 98

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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der Selbstverwaltungsorgane, mit einem Wort: gesetzliche Begrenzungen des Selbstverwaltungsrechts. Die bald nach Kriegsende erlassenen Gemeindeordnungen setzten durch den Abbau der Zahl der Genehmigungsvorbehalte 101 zwar neue Akzente, dort aber, wo sie die Vorbehalte beibehielten, bewegten sie sich in den bewährten Bahnen weiter: Von einer Umformung in Akte der präventiven Rechtsaufsicht war im Kommunalrecht ebenso wie in den gesetzlichen Regelungen der funktionalen Selbstverwaltung nirgends die Rede, weder in den Motiven der Gesetze noch in ihrer Systematik und schon gar nicht in ihrem Text 1 0 2 . Ganz folgerichtig haben denn auch die staatliche Genehmigungspraxis und der überwiegende Teil der Rechtsprechung sowie der Wissenschaft die traditionelle Genehmigungsdogmatik fortgeführt 103 . Einzelne, im Lauf der Zeit zahlreicher gewordene Stimmen allerdings sind laut geworden, die die Genehmigungsvorbehalte in ihrer überkommenen, auch die Zweckmäßigkeitskontrolle umfassenden Gestalt nicht mehr akzeptieren 1 0 4 . Getragen von dem vor allem in der frühen Nachkriegszeit wirkungsmächtigen Sentiment gegen die alte etatistische Staatsauffassung, suchen sie das Heil im Subsidiaritätsgrundsatz und in der Ausweitung des Selbstverwaltungsprinzips. Dessen Schranken können von daher nur als obsolete Relikte überwundener Verirrungen erscheinen. Soweit diese nicht durch einen Wandel des Normbestands, sondern durch einen Wandel des Vorverständnisses inspirierte Richtung den Versuch unternimmt, ihr der Sache 101 Hierzu Gönnenwein, Die Kommunalaufsicht als Rechtsaufsicht, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 517 f. 102 Dies wird dargelegt von Lohr (Anm. 95), S. 97 und Duppré, Eröffnungsansprache, in: Aktuelle Probleme der Kommunalaufsicht, S. 11 f.; ebenso VerfGH RhlPf, Verw.Rspr. Band 3, 529. Selbst Gönnenwein konzediert diesen Tatbestand (Anm. 101, S. 519 f.), er greift das Genehmigungsermessen daher von der verfassungsrechtlichen Flanke an. 103 Aus der Rechsprechung seien genannt: VerfGH RhlPf, Verw.Rspr. Band 3, S. 529; VerfGH NW, Verw.Rspr. Band 7, S. 584; BVerwGE 6, S. 19, 25; 31, S. 359, 366; BVerwG DVB11971, S. 213. Aus der Literatur: E. Becker, Allgemeine Kommunalaufsicht und Sonderaufsicht, in: H. Peters (Hrsg.), HdbKomm. Wiss P, 1. Band 1956, S. 172; Lohr (Anm. 95), S. 90 ff.; Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 571; W. Hofmann, Genehmigungsvorbehält und Kommunalaufsicht, in: Aktuelle Probleme der Kommunalaufsicht, S. 84ff., 89ff.; G. Küchenhoff, Die Rechtsnatur der staatlichen Genehmigung zu Rechtsetzungsakten öffentlicher Körperschaften - BVerwGE 16,83, Jus 1965, S. 54 f.; D. Keller (Anm. 81), S. 66 ff. (mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur, vgl. insb. F N 48 und 53); Borchert, Kommunalaufsicht und kommunaler Haushalt, S. 27 - 29, ebenfalls m. w. Nachw.; ebenso die große Mehrheit der Kommentatoren der Landesverfassungen und zahlreiche Gemeindekommentare (neuestens: Widtmann, Bayerische Gemeindeordnung, Anm. 3 zu Art. 25). 104 Gönnenwein (Anm. 101), S. 520, 524 ff.; Köttgen, Grenzen der Kommunalaufsicht, in: H. Peters (Anm. 103), S. 220 f.; Salzwedel (Anm. 96), S. 206, 215 ff.; W. Weber (Anm. 96), S. 21 - 31; Wolff/Bachof (Anm. 72), § 77 I I c 4 (S. 106); Rauball, Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen, Anm. 7 zu § 4; Körte (Anm. 96), S. 153 165. Weitere Nachweise bei D. Keller (Anm. 81), S. 66 ff. In der Rechtsprechung wird diese Richtung vertreten von OVG Münster, OVGE 19, S. 192 und OVG Lüneburg, OVGE 26, S. 350; auch BVerwGE 16, 312 f. neigt ihr zu.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

nach rechtspolitisches Programm als geltendes Recht zu präsentieren, geschieht dies im Wege der Auswechslung der traditionellen Selbstverwaltungsdoktrin durch eine neue, extensive Konzeption. Die hierfür angebotenen Begründungen operieren stets mit einem, den konkreten gesetzlichen Regelungen vorausliegenden, dogmatisch aufgeladenen Selbstverwaltungsbegriff, der teilweise auch ins Verfassungsrecht hineingelesen wird. Ehe in die Detaildarstellung sowie in die Auseinandersetzung mit dieser Argumentation eingetreten wird, noch ein kritisches Wort zu ihrer Methode. Die Schubkraft der „fortschrittlichen" Dogmatik basiert wesentlich auf der ihr eigenen, bereits erwähnten, extensiven Neudeutung des Begriffs der Selbstverwaltung. Gewiß kann dieser Ansatz sich auf die Erkenntnis berufen, daß Begriffe keinen ihnen a priori innewohnenden Gehalt besitzen, ihre Bedeutung vielmehr vom Sprachgebrauch derer, die sie verwenden, festgelegt wird und daher auch nicht zeitlos und unabänderlich, sondern durch jeden Wechsel der Verwendungspraxis wandelbar ist. Doch der in dieser Erkenntnis begründete Freibrief der Dogmatik zur Deutung und zur Umdeutung ihrer Begriffe gibt ihr keinen Titel, Entscheidungen des Gesetzgebers zu korrigieren. Hat dieser beispielsweise vom Recht der Selbstverwaltung eine bestimmte Vorstellung gehabt, so vermag keine Änderung des dogmatischen Sprachgebrauchs die damit getroffene Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Selbstverwaltung zu korrigieren. Indem die selbstverwaltungsfreundliche Dogmatik diesen Versuch unternimmt, betreibt sie das Geschäft der Kompetenzverschiebung qua Begriffsumprägung und usurpiert damit die Rolle des Gesetzgebers. Wendet man den Blick der Ausarbeitung ihres Selbstverwaltungskonzepts zu, so fällt auf, daß alle Versuche, das Moment der eigenen Sachentscheidung aus dem Begriff der Genehmigung zu tilgen, letztlich mit denselben argumentativen Versatzstücken hantieren - gleich ob sie vornehmlich verfassungsrechtlich oder verwaltungsdogmatisch angelegt sind. Sie stehen mithin eher in einem wechselseitigen Verstärkungs- als in einem Konkurrenzverhältnis. Ihr gedanklicher Aufbau orientiert sich, soweit er überhaupt expliziert w i r d - auch das geschieht häufig nur fragmentarisch - , zumeist an folgendem, schon den Darstellungen Gönnenweins und Werner Webers 105 zugrundeliegendem Muster: 1. Die Satzungsautonomie ist ein Wesensmerkmal der Selbstverwaltung. 2. Das Recht der Selbstverwaltung w i r d beschränkt durch die Staatsaufsicht. 3. Der Genehmigungsvorbehalt ist ein Mittel der Staatsaufsicht 106 . Gönnenwein (Anm. 101), S. 117, 121 - 127; W. Weber (Anm. 96), S. 21 - 31. Es sei betont, daß insb. W. Weber, Salzwedel und Körte (alle Anm. 96) die Genehmigungsvorbehalte in staatsaufsichtliche und mitwirkende unterteilen. Für letztere erkennen sie das staatliche Genehmigungsermessen zwar an, für erstere aber 106

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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4. Staatsaufsicht ist Rechtsauf sieht. 5. Schluß: Der Genehmigungsvorbehalt ist ein - präventiv wirkendes Instrument der Rechtsaufsicht. Stoßrichtung und Ertrag dieser Argumentationskette liegen auf der Hand: Sie löst das Element der eigenen Sachprüfung aus der staatlichen Genehmigungsentscheidung heraus und reduziert diese auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle. Sind die Begründungen eher verfassungsrechtlich angelegt so bei Gönnenwein und Körte 1 0 7 - , läßt sich das tradierte Genehmigungsermessen als mittlerweile verfassungswidrig brandmarken; beziehen sie sich hingegen zumindestens auch auf das Wesen der Selbstverwaltung, so ist damit der Weg zur Umdeutung der Genehmigungsvorbehalte geebnet. Sie werden nunmehr, im Stil der neuen Zeit, als Erscheinungsform der Rechtsaufsicht aufgefaßt 108 . bb) Die Satzungsautonomie ein Wesensmerkmal der Selbstverwaltung? Schon die bezeichnenderweise zumeist eher hingeworfene als entfaltete Ausgangsvoraussetzung der oben aufgereihten Argumentationskette 109 vermag indessen nicht zu überzeugen. Entschärft man sie zu der etwa vom Bundesverfassungsgericht gewählten Formulierung, Satzungsautonomie sei „ein wesentliches Element der Selbstverwaltung" 110 , so ist sie nicht imstande, die auf sie aufbauenden Argumentationsschritte zu tragen, da sie dann nicht mehr als eine bloße Affinität von Selbstverwaltung und Satzungsautonomie ausdrückt. Nimmt man sie hingegen ernst, so hypostasiert sie die Rechtsetzungsbefugnis zum Definitionsmerkmal der Selbstverwaltung. Dem aber stehen, jedenfalls sobald der Boden des Kommunalrechts verlassen wird, durchschlagende Bedenken entgegen. Hinsichtlich der gemeindlichen Selbstverwaltung allerdings untermauern sowohl die geschichtliche Tradition als auch das Verb „regeln" in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 G G 1 1 1 die These von der Satzungsautonomie als Bestandteil der Selbstverwaltung 112 . Gerade solche Anhaltspunkte aber sind im Hinblick auf die funktionale Selbstverwaltung nicht vorhanden. Vor allem verneinen sie es strikt. Der hier dargestellte Ableitungszusammenhang und die an ihm geübte K r i t i k bezieht sich im Hinblick auf die genannten Autoren mithin lediglich auf die von ihnen als auf sichtlich qualifizierten Genehmigungs vorbehalte. 107 (Anm. 101), S. 524 ff.; (Anm. 96), S. 157 ff. 108 Paradigmatisch: BVerwGE 16, 312, 313 - 315. 109 Gönnenwein (Anm. 101), S. 117; W. Weber (Anm. 96), S. 28, Anm. 15. BVerfGE 12, 319, 325. 111 Ähnlich Art. 11 Abs. 2 Bay Verf., der vom „Ordnen" der eigenen Angelegenheiten spricht. 112 Ebenso Lohr (Anm. 95), S. 152 ff.; Stern, in: Bonner Kommentar, Rdnr. 105 ff. zu Art. 28 GG.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

genießt sie auf der Ebene des Bundesrechts keinen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz 113 . Alle bundesgesetzlich errichteten Selbstverwaltungsträger - sie in erster Linie bilden den Gegenstand dieser Arbeit - unterliegen der Dispositionsbefugnis des einfachen Gsetzgebers. Sowohl ihre Existenz als auch ihre Gestalt sind damit weithin in seine Hand gegeben. Die Bedeutung der fehlenden verfassungsrechtlichen Sicherung der funktionalen Selbstverwaltung ist indessen nicht allzu hoch zu veranschlagen, soweit ihre Strukturmerkmale Emanationen eines, dem positiven Recht vorausliegenden, durch geschichtliche Tradition und/oder funktionale Zwangsläufigkeiten gehärteten Wesenskerns darstellen. Dies gilt sicherlich für den grundsätzlichen Ausschluß der Fachaufsicht, wohl auch für die mitgliedschaftliche Binnenstruktur, für die Satzungsautonomie aber eben nicht. Schon ein kurzer Blick auf die lange Tradition des staatlichen Satzungsoktrois im Hochschulbereich und auf die kärglichen Rechtsetzungsbefugnisse der Handwerkskammern sowie der BA macht deutlich, daß weder historisch noch funktionell eine notwendige Verknüpfung zwischen Selbstverwaltung und Autonomie besteht. Zwar wird es der Lebenskraft der Selbstverwaltung stets förderlich sein, wenn sie sich auf dem sicheren Fundament der Satzungsautonomie entfalten kann, dessen Fehlen aber verurteilt sie noch nicht dazu, ein letztlich funktionsloses Schattendasein zu fristen. Ist ihr im Bereich ihrer Verwaltungszuständigkeiten die Chance zu eigener Initiative und zu eigener Gestaltung gegeben, etwa durch Ermessens· und Beurteilungsermächtigungen, so ist ein Anreiz für mitgliedschaftliches Engagement vorhanden und besteht ein sachgerechter Grund dafür, nicht die Staatsverwaltung mit der betreffenden Verwaltungsaufgabe zu betrauen, sondern zu ihrer Wahrnehmung eine eigene Organisation zu schaffen. Gewichtige Stimmen betonen denn auch, daß die Satzungsautonomie dem Recht auf Selbstverwaltung nicht inhärent ist, sondern eigens verliehen werden muß 1 1 4 . Bestätigt und bestärkt wird diese Auffassung durch die Tatsache, daß auch die vereinzelten (landes)verfassungsrechtlichen Garantien der funktionalen Selbstverwaltung den Schutz der Satzungsautonomie nicht umfassen. Keine von ihnen enthält Anhaltspunkte dafür, daß der jeweilige Verfassungsgeber die Satzungsautonomie zu den unverzichtbaren Essentialia des Selbstverwaltungsrechts gezählt hat. Im Gegenteil, schon die fehlenden textlichen Anhaltspunkte für seine Gewährleistung 115 , mehr aber noch der 113 Ob diese Feststellung auch für die akademische Selbstverwaltung gilt, muß hier dahingestellt bleiben. 114 Badura, Rechtsetzung durch Gemeinden, DÖV 1963, S. 562 f.; Forsthoff (Anm. 103), S. 480. 115 Vgl. etwa Art. 71 Abs. 1 Satz 3 ba-wü.Verf.; Art. 57 brem.Verf.; Art. 35 hess. Verf.; Art. 59 saarl.Verf., die sämtlich die Satzungsautonomie weder erwähnen noch vom „Regeln" bzw. „Ordnen" der eigenen Angelegenheiten sprechen und dadurch ein Indiz für ihre verfassungsrechtliche Verankerung liefern.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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allgemeine Gesetzesvorbehalt, unter den etwa Art. 71 Abs. 1 Satz 3 der baden-württembergischen Verfassung die Garantie der funktionalen Selbstverwaltung stellt 1 1 6 , deuten darauf hin, daß es dem Gesetzgeber überlassen bleiben soll, ob er den Selbstverwaltungsträgern Satzungsautonomie verleiht oder nicht. Hat sich die im vorangegangenen vorgetragene Argumentation auch lediglich auf den Aspekt der Satzungsautonomie bezogen, so mündet sie doch gleichwohl in eine grundsätzliche Erkenntnis, der in verschiedener Hinsicht zentrale Bedeutimg für diese Arbeit zukommt: der weitgehenden Offenheit des Begriffs der Selbstverwaltung. Von jeher und zumal seit der Zersetzung ehedem gesicherter dogmatischer Tradition in der Zwischenund Nachkriegszeit ist es der Gesetzgeber, der über Existenz, Gestalt und Gehalt der Selbstverwaltung verfügt 1 1 7 . Wie sehr die in der Dogmatik nicht selten zu beobachtende Tendenz, aus einer am Bild der Kommunalverwaltung orientierten Selbstverwaltungskonzeption allgemeine Ableitungen vorzunehmen, die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers über die funktionale Selbstverwaltung verfehlt, erhellt insbesondere aus jenen Gesetzen, die den Begriff der Selbstverwaltung gar nicht verwenden und die mit ihm verbundenen Befugnisse nur dadurch implizit verleihen, daß sie die staatliche Aufsicht „soweit nichts anderes bestimmt ist" auf die Rechtsauf sieht beschränken 118 . Sehr augenscheinlich führen diese Regelungen nicht nur die These von der Satzungsautonomie als Wesensmerkmal der Selbstverwaltung ad absurdum, sondern demonstrieren ganz grundsätzlich, daß es der Gesetzgeber ist, der über die Struktur jener Einrichtungen entscheidet, an die die Dogmatik den Begriff der Selbstverwaltung geheftet hat - ihre Vorgaben hingegen sind keine verbindlichen Daten für seine Entscheidungen. cc) Genehmigungsvorbehalt und Rechtsaufsicht Hinsichtlich der Widerlegung der Argumentationsschritte zwei bis fünf mag an dieser Stette dahinstehen, ob die Qualifizierung der Genehmigungsvorbehalte als Instrument der staatlichen Aufsicht dogmatisch überzeugend 116 Zum Verhältnis von verfassungsrechtlicher Gewährleistung und gesetzlicher Dispositionsbefugnis siehe Klaus Braun, Komm, zur Verfassung des Landes Ba-Wü, Rdnr. 74 ff. zu Art. 71. 117 Ebenso VerfGH NW VerwRspr 7, S. 584, 590: „Die Selbstverwaltung ist ihrer Natur nach dem Staate untergeordnet und der staatlichen Gesetzgebung unterworfen, die durch die verfassungsrechtliche Garantie der Institution beschränkt ist. Der Umfang der hierdurch garantierten Wesensbestandteile läßt sich begrifflich nicht definieren, da Selbstverwaltung kein Begriff a priori ist, sondern einen Inbegriff historisch entwickelter Beziehungen darstellt, die nach Ort und Zeit wechseln können. Die verfassungsrechtliche Garantie schließt also keine gesetzlichen Einschränkungen aus, die bei Erlaß der Verfassung allgemeinhin als „verständig" und mit dem Sinn der deutschen Selbstverwaltung vereinbar angesehen wurden." 118 So etwa eine Vielzahl von Kammergesetzen, vgl. §§ 90 Abs. 1, 115 Abs. 1 HO und §§ 6 f. Bad.-Württ. KG.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

ist 1 1 9 , hier kommt es nur darauf an, daß sie jedenfalls dann unzutreffend ist, wenn diese Extension des Begriffs der Staatsaufsicht mit einer Reduzierung seiner Intension auf die Rechtsaufsicht gekoppelt ist 1 2 0 . Dazu im folgenden. Da sich das restriktive Genehmigungsverständnis weder auf textliche noch auf historische Anhaltspunkte stützen kann, beruht es allein auf der ihm zugrundeliegenden Vorstellung eines expansiven Selbstverwaltungsbegriffs. Seine Quintessenz ist die Vorstellung, die (verfassungs)gesetzliche Garantie des Selbstverwaltungsrechts und der Satzungsautonomie bedinge eine einschränkende Interpretation der Genehmigungsvorbehalte, im Zweifel seien sie als Ermächtigungen lediglich zur Rechtskontrolle aufzufassen. Auch diese These ist indessen jedenfalls im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung das Produkt einer freischwebenden, vom positiven Recht nicht rezipierten Dogmatik. Im Kommunalrecht hingegen bietet die Gewährleistung des Rechts der Gemeinden, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln", durchaus Anknüpfungspunkte für ein restriktives Genehmigungsverständnis. Immerhin bezeichnet die Garantie des Art. 28 Abs. 2 GG einen gegenständlich umrissenen Kanon von Aufgaben, welche die Gemeinden „ohne Weisung und Vormundschaft des Staates so zu erfüllen" befugt sind, wie ihnen „dies nach Maßgabe der Rechtsordnung zweckmäßig erscheint" 121 . Diese im Vergleich zu den Vorgängerbestimmungen sowie zu den Rechtsgrundlagen der funktionalen Selbstverwaltung augenfällige Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch Art. 28 Abs. 2 GG legt in der Tat die Frage nahe, ob es mit ihr vereinbar ist, den staatlichen Behörden ein sachliches Mitwirkungsrecht an den Entscheidungen der örtlichen Gemeinschaft einzuräumen. Doch wie auch immer man diesbezüglich das Kräfteverhältnis von Selbstverwaltungsgarantie und Gesetzesvorbehalt einschätzen mag entscheidend ist hier, daß weder die bundesgesetzlichen noch die landes(verfassungs)gesetzlichen Rechtsgrundlagen der funktionalen Selbstverwaltung eine dem Art. 28 Abs. 2 GG analoge Struktur aufweisen. Keine der einschlägigen Regelungen erhebt die Satzungsautonomie zum notwendigen Bestandteil des Selbstverwaltungsrechts, und keine bietet Anhaltspunkte für eine etwaige Unvereinbarkeit des traditionellen staatlichen Genehmigungsermessens mit seiner Gewährleistung. Im Gegenteil, 119 Gegenteiliger Ansicht bereits Rosin, S. 116; O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 2, 2. Aufl., S. 720; VerfGH RhlPf, Verw.Rspr. Band 3, S. 529; in jüngster Zeit u. a. Forsthoff (Anm. 103), S. 571; D. Keller (Anm. 81), S. 78 ff.; ebenso unten 3 b aa (2). 120 Ebenso die in Anm. 103 und 119 genannten Stimmen aus Rechtsprechung und Literatur. 121 E. Becker, Kommunale Selbstverwaltung, in: Bettermann/Nipperdey, Die Grundrechte IV 2, S. 718 f.; Stern, in: Bonner Kommentar, Rdnr. 94 zu Art 98; Roters, in: v. Münch, Grundgesetzkommentar, Rdnr. 47 zu Art. 28.

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eine Reihe von Selbstverwaltungsgarantien explizieren ihren Selbstverwaltungsbegriff nicht und machen damit auf besonders drastische Weise deutlich, daß Selbstverwaltung jenseits des typusbestimmenden Minimalgehalts das ist, was der Gesetzgeber dazu erklärt. Der Inhalt des Begriffs ist mithin identisch mit der Gesamtheit der für seine jeweiligen Träger geltenden Organisationsregelungen. Da nun der völlige Ausschluß der staatlichen Behörden von der sachlichen Mitwirkung an den Selbstverwaltungsangelegenheiten nicht zu jenem institutionellen Kern gehört, der mit der Garantie des Selbstverwaltungsrechts eo ipso gewährleistet ist, kann nicht die Rede davon sein, die Genehmigungsvorbehalte müßten sub specie der Garantien der funktionalen Selbstverwaltung restriktiv interpretiert werden. Selbstverwaltungsgarantien implizieren mithin lediglich insoweit ein Verbot fachaufsichtlicher Entscheidungen der unmittelbaren Staatsverwaltung, als der Gesetzgeber nichts anderes anordnet. Hinsichtlich der Frage aber, ob die gesetzlichen Konkretisierungen des Selbstverwaltungsrechts als derartige anderweitige Anordnungen zu verstehen sind, geben sie keine Auslegungshilfen. Die Genehmigungsvorbehalte sind daher aus sich heraus zu interpretieren und nicht anhand einer Vermutungsregel mit dem Inhalt, Einschränkungen der Selbstverwaltung seien im Zweifel restriktiv auszulegen bzw. konkreter, Genehmigungsvorbehalte ermächtigten im Zweifel lediglich zu einer Rechtskontrolle 122 . Für eine derartige Vermutung gibt es keinen Regeltatbestand, aus dem sie abgeleitet werden könnte. Vergegenwärtigt man sich, daß der Regeltypus der öffentlichen Verwaltung sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene von Verfassungs wegen hierarchische Ministerialverwaltung ist, so drängt es sich vielmehr auf, die Vermutung genau entgegengesetzt zu formulieren, ist doch die ministerielle Leitungsbefugnis der Normalfall und stellen Selbstverwaltungsbefugnisse begründungsbedürftige - Ausnahmen dar. Bestätigt wird diese Interpretationsmaxime durch die Tradition des Genehmigungsermessens, das vom Zivilrecht geprägte unbefangene Sprachverständnis sowie die Tatsache, daß der Gesetzgeber Restriktionen des Genehmigungsspielraums stets ausdrücklich gekennzeichnet hat 1 2 3 . Unternimmt man es, den hier eingenommenen Standpunkt in eine dogmatische Aussage umzumünzen, so legt sich eine Parallele zu Art. 14 GG nahe: der Genehmigungsvorbehalt ist jedenfalls im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung keine nachträgliche Beschränkung einer ihm systematisch vorausliegenden Selbstverwaltungsgarantie, sondern gestaltet diese aus - Inhaltsbestimmung und nicht Schrankenbeziehung signalisiert die dogmatische Fahne, unter der er segelt.

122 123

So aber BVerwGE 16, 312, 315. Ebenso D. Keller (Anm. 81), S. 87.

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Die im vorangegangenen, am restriktiven Genehmigungsverständnis geübte K r i t i k richtet sich auch gegen die weniger forsche und differenziertere Argumentation von Salzwedel und Werner Weber 124 . Beide Autoren hüten sich allerdings vor dem Kurzschluß, Genehmigungen von Maßnahmen im Bereich der Selbstverwaltungsangelegenheiten grundsätzlich für Akte der Rechtsaufsicht zu halten, und verkennen weder die Offenheit der herkömmlichen Genehmigungsvorbehalte für Ermessenserwägungen noch das legitime Interesse des Staates daran, an den ihm besonders gebührenden Entscheidungen auch im Bereich der eigenen Angelegenheiten sachlich beteiligt zu werden 125 . Gleichwohl gelangen sie zu der These, unter der Voraussetzung, daß der Gesetzgeber die genehmigungsbedürftige Maßnahme als echte Selbstverwaltungsaufgabe betrachte, nämlich im Bereich der „rein kommunalen Akte, bei denen der staatliche Mitwirkungsvorbehalt sich in dem Auf sichtszwecke" erschöpfe, ermächtige der Genehmigungsvorbehalt nur zu einer Rechtskontrolle 126 . Da beide Autoren aber im Hinblick auf die Frage, wann diese Bedingungen erfüllt sind und welchem Genehmigungstypus mithin der einzelne Vorbehalt zuzuordnen ist, keinen Maßstab aus der Genehmigungsnorm selbst zu gewinnen vermögen, wird auch bei ihnen deren Inhaltsbestimmung durch eine nicht aus dem geltenden Recht abgeleitete, freischwebende Selbstverwaltungstheorie dirigiert und eröffnet damit dem Belieben des Interpreten Tür und Tor. Besonders deutlich wird dies bei Salzwedel, der sich zu der Behauptung versteigt, die Genehmigungsbehörde dürfe „bei der aufsichtlichen Wahrung der Eigeninteressen des Selbstverwaltungsträgers niemals ihr Ermessen an die Stelle dessen der Selbstverwaltungsorgane setzen" 127 . Das eben ist die Frage, und der Maßstab der Antwort findet sich nicht in einem axiomatischen Selbstverwaltungsverständnis, sondern in Text und Tradition des Genehmigungsvorbehalts sowie, flankierend, in der Vermutung für die Beibehaltung der üblichen ministeriellen Leitungsbefugnisse. dd) Ergebnis Die Auseinandersetzung mit der rechtsaufsichtlichen Richtung der Genehmigungsinterpreten in Rechtsprechung und Literatur ist an ihrem Endpunkt angelangt. Sowohl auf Grund der Tatsache, daß sie den Status quo der Genehmigungsdogmatik revidieren will, als auch wegen der Vermutung für die ministerielle Leitungsgewalt obliegt es ihr, den Beweis dafür 124 Siehe dazu bereits oben Anm. 106. Eine eingehende K r i t i k der Auffassung W. Webers und Salzwedels, die auch die mangelnde Konsistenz der Ausführungen Salzwedels herausarbeitet, findet sich bei D. Keller (Anm. 81), S. 71 ff.; 82 ff. 125 Salzwedel (Anm. 96), S. 215 ff.; W. Weber (Anm. 96), S. 21 ff. 1 26 Salzwedel (Anm. 96), S. 206, 217 f.; W. Weber (Anm. 96), S. 25 ff. * 2 7 Salzwedel (Anm. 96), S. 218.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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anzutreten, daß der Begriff der Genehmigung nur zu einer Rechtskontrolle ermächtigt. Das aber ist ihr nicht gelungen. Im Gegenteil, es haben sich eine Reihe von Gesichtspunkten herauskristallisiert, die das herkömmliche GenehmigungsVerständnis untermauern. Könnte es mit dieser Zurückweisung des neuen Interpretationsansatzes auch sein Bewenden haben, so sollen doch gleichwohl die - zumeist bereits angeklungenen - Argumente, die in der Sache für die Deutung der Genehmigung als rechtlicher und sachlicher Kontrollentscheidung sprechen, in einem kurzen Überblick zusammengestellt werden: 1. Der schiere Begriff der Genehmigung läßt keine überzeugenden Ableitungen zu 1 2 8 . Immerhin bietet seine zivilrechtliche Verwendungsweise ein Indiz dafür, daß der Genehmigungsbefugte nicht auf bestimmte Prüfungsaspekte beschränkt ist, sondern eine umfassende Sachprüfung vornehmen darf. 2. Die Geschichte der Genehmigungs- und Zustimmungsvorbehalte bis zum Beginn der Nachkriegsära spricht eindeutig für ein staatliches Genehmigungsermessen. 3. Die Selbstverwaltungsgesetze der frühen Nachkriegszeit wiederholen häufig ihre älteren Vorgänger wörtlich und knüpfen bewußt an das diesen zugrundeliegende Genehmigungsverständnis an. 4. Die Stärkung des Prinzips der Selbstverwaltung durch die Gesetze und Verfassungen der Nachkriegszeit ist jedenfalls im Bereich der funktionalen Verwaltungseinheiten weniger markant als angenommen. Auch sie explizieren ihren Begriff von Selbstverwaltung zumeist nicht und stellen deren inhaltliche Ausformung dadurch sowie durch unbegrenzte Gesetzesvorbehalte bis auf den institutionellen Kern zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Die Institutionsgarantie aber wird durch ein staatliches Genehmigungsermessen unstreitig nicht tangiert. 5. Eine Vielzahl von Genehmigungsvorbehalten verliert ihren Sinn, wenn diese nicht als Ermächtigung zur Sachkontrolle verstanden werden. Dies gilt insbesondere für Finanzmaßnahmen und Vermögenstransaktionen 1 2 9 , aber auch für Satzungen, zumal dann, wenn sie Organisationsund Personalfragen betreffen 130 . Das im Interesse einer handhabbaren Dogmatik anzustrebende Ziel eines einheitlichen Genehmigungsverständnisses kann mithin nur erreicht werden, wenn der Begriff der Genehmigung grundsätzlich als Ermächtigung zur Rechts- und Sachkontrolle aufgefaßt wird.

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Eingehend hierzu D. Keller (Anm. 81), S. 43 ff. 1 29 Eingehend hierzu W. Hofmann (Anm. 103), S. 8 ff.; D. Keller (Anm. 81), S. 82 ff. 130 Ebenso D. Keller (Anm. 81), S. 84 f.; teilweise ebenso W. Weber (Anm. 96), S. 26.

5 Emde

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

6. Der Gesetzgeber hat in der Regel jene Fälle, in denen er das herkömmliche Genehmigungsermessen beseitigen wollte, durch Installierung besonderer Kontrollmaßstäbe deutlich gemacht 131 . Es spricht daher eine Vermutung dafür, daß es im übrigen beim Genehmigungsermessen bleiben sollte. Die Tendenz zur Verrechtlichung der Genehmigungsentscheidungen - vor allem im Hochschulbereich - ist mithin gerade kein Argument für die Umdeutung des Genehmigungsbegriffs, sondern im Gegenteil, für die Fortgeltung seiner traditionellen Definition. 7. Die Entscheidungen vieler Gemeindeordnungen, Satzungen nicht mehr dem Genehmigungsvorbehalt, sondern lediglich einer Anzeigepflicht zu unterwerfen 132 , machen deutlich, daß der Gesetzgeber dem Genehmigungsvorbehalt einen weiterreichenden Gehalt beimißt als die bereits durch die Anzeigepflicht gewährleistete vorgängige Rechtskontrolle. 8. Als bloßes Instrument der Rechtsauf sieht wäre der Genehmigungsvorbehalt weitgehend funktionslos. Seine einzige Bedeutung bestünde darin, im Gegensatz zur lediglich ex post eingreifenden allgemeinen Rechtsaufsicht bereits das Inkrafttreten genehmigungsbedürftiger Maßnahmen zu verhindern. Der damit für die staatlichen Aufsichtsbehörden verbundene Positionsgewinn wäre indessen zu bescheiden, um die Etablierung eines eigenen Rechtsinstituts zu rechtfertigen, ist es ihnen doch bereits mittels ihrer Informations- und Beratungsrechte in aller Regel möglich, die Inkraftsetzung rechtswidriger Beschlüsse zu verhindern. 9. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen hierarchischer Ministerialverwaltung und Selbstverwaltung begründet eine Vermutung für den Fortbestand der ministeriellen Leitungsbefugnis; sie w i r d nur durch ausdrückliche anderweitige Anordnungen des Gesetzgebers entkräftet. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß der Genehmigungsvorbehalt, sofern der Gesetzgeber den Maßstab der Genehmigungsentscheidungen nicht spezifiziert, ein Instrument der sachlich-politischen Kontrolle bzw. Lenkung der Selbstverwaltung durch die staatlichen Aufsichtsbehörden ist. Der genehmigungsbedürftigen Maßnahme wächst infolgedessen durch den Genehmigungsakt, sofern die staatliche Behörde sich ihres Ermessens bewußt ist, eine neben die autonome Legitimation tretende staatsvermittelte Legitimation zu. 3. Die Elemente staatsvermittelter Legitimation; ihre Reichweite und ihre Grenzen

Waren bislang die in der Tradition der Selbstverwaltung liegenden Beschränkungen der Einwirkungsrechte der unmittelbaren Staatsverwal131

Näher hierzu D. Keller (Anm. 81), S. 85 ff. Näher dazu Gönnenwein (Anm. 101), S. 517 und W. Hofmann (Anm. 103), S. 87 f., 94 f. 132

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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tung auf ihre Träger Gegenstand der Darstellung, so wird sie im folgenden einen Überblick über die Lenkungs- sowie Kontrollbefugnisse bieten, die Parlament und Regierung verbleiben müssen, sowie über jene, die ihnen verbleiben können. Sie w i r d dadurch zugleich das nötige sowie das mögliche Maß an staatsvermittelter Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung ausloten. Auch dabei wird lediglich vom eigenen Wirkungskreis der Selbstverwaltungsträger die Rede sein. Ausführungen zum übertragenen Wirkungskreis erscheinen entbehrlich, da in ihm die Selbstverwaltungsorgane als lediglich organisationsrechtlich verselbständigte Instanzen der Ministerialverwaltung fungieren, die materiellen Legitimationsstrukturen mithin im Kern denen der unmittelbaren Staatsverwaltung entsprechen. Dies trifft zwar für die personelle Legitimationskomponente nicht zu, aber insoweit kann auf die Ausführungen zum eigenen Wirkungskreis verwiesen werden, da die funktionelle Differenzierung kein Pendant auf der Ebene der Organzuständigkeiten hat: Ein und dasselbe Organ nimmt sowohl die Zuständigkeiten des eigenen als auch die des übertragenen Wirkungskreises wahr. a) Steuerungsinstrumente

des Parlaments

Die typusprägenden Merkmale der Selbstverwaltung - mitgliedschaftliche Fundierung, grundsätzlicher Ausschluß der Fachaufsicht - haben Struktureigenschaften zum Gegenstand, die sie von der herkömmlichen Ministerialverwaltung abheben; ihr Verhältnis zum Parlament hingegen ist nicht Bestandteil der Definition. Deutet das darauf hin, daß der Selbstverwaltung in dieser Hinsicht keine Besonderheiten eignen, so erweist sich diese Annahme bei näherem Hinsehen nur teilweise als begründet, in manchem bedarf sie der Korrektur. Dies insbesondere, soweit die Verfassung Selbstverwaltungsgarantien enthält und dadurch die gesetzgeberische Dispositionsbefugnis über die Organisation der öffentlichen Verwaltung einschränkt. Doch auch außerhalb dieser Sonderkonstellation, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll, bringt das Recht auf Selbstverwaltung Modifikationen des üblichen Beziehungsgefüges von Parlament und öffentlicher Verwaltung mit sich. Dies gilt vor allem für die Kontrollfunktion des Parlaments, aber auch für seine Lenkungsfunktion.

aa) Lenkungsinstrumente (1) Das Gesetz Während die Pflicht des Parlaments, Organisation, Verfahren und Zuständigkeiten der öffentlichen Verwaltung jedenfalls in den Grundzügen festzulegen, erst seit kurzem zum gesicherten Bestand der staatsrechtlichen 5'

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

D o g m a t i k gerechnet w e r d e n k a n n , stand es v o n jeher außer Frage, daß die Schaffung v o n S e l b s t v e r w a l t u n g s e i n r i c h t u n g e n einer gesetzlichen G r u n d lage b e d a r f 1 3 3 . Ob m i t dieser Tendenz z u r A n g l e i c h u n g e i n ü b e r e i n s t i m m e n des N i v e a u gesetzlicher Regelungspflichten erreicht w o r d e n ist, muß n i c h t g e k l ä r t werden, hier k o m m t es n u r auf eine K o n k r e t i s i e r u n g der K o m p e t e n zen des Gesetzgebers i n bezug auf die Rechtsstellung der f u n k t i o n a l e n S e l b s t v e r w a l t u n g an. Das Bundesverfassungsgericht h a t z u dieser Frage i m F a c h a r z t b e s c h l u ß 1 3 4 i n grundlegender Weise Position bezogen: „Trotzdem bleibt auch im Rahmen einer an sich zulässigen Autonomiegewährung der Grundsatz bestehen, daß der Gesetzgeber sich seiner Rechtsetzungsbefugnis nicht völlig entäußern und seinen Einfluß auf den Inhalt der von den körperschaftlichen Organen zu erlassenden Normen nicht gänzlich preisgeben darf. Das folgt sowohl aus dem Prinzip des Rechtsstaats wie aus dem der Demokratie. Fordert das eine, die öffentliche Gewalt in allen ihren Äußerungen auch durch klare Kompetenzordnung und Funktionentrennung rechtlich zu binden, so daß Machtmißbrauch verhütet und die Freiheit des Einzelnen gewahrt wird, so gebietet das andere, daß jede Ordnung eines Lebensbereichs durch Sätze objektiven Rechts auf eine Willensentschließung der vom Volke bestellten Gesetzgebungsorgane muß zurückgeführt werden können. Der Gesetzgeber darf seine vornehmste Aufgabe nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen. Das gilt besonders, wenn der Akt der Autonomieverleihung dem autonomen Verband nicht nur allgemein das Recht zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und zum Erlaß der erforderlichen Organisationsnormen einräumt, sondern ihn zugleich zu Eingriffen in den Grundrechtsbereich ermächtigt. Dem staatlichen Gesetzgeber erwächst hier eine gesteigerte Verantwortung: Der verstärkten Geltungskraft der Grundrechte entspricht die besondere Bedeutung aller Akte staatlicher Gewaltausübung, welche die Verwirklichung und Begrenzung von Grundrechten zum Gegenstand haben. Indem aber das Grundgesetz diese Regelungsbefugnis (die des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG - d. Verf.) in die Form des Gesetzesvorbehalts kleidet, überträgt es in erster Linie dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber, welche Gemeinschaftsinteressen so gewichtig sind, daß das Freiheitsrecht des Einzelnen zurücktreten muß. Dieser Entscheidungspflicht kann sich der demokratische Gesetzgeber nicht beliebig entziehen. Vielmehr ist in einem Staatswesen, in dem das Volk die Staatsgewalt am unmittelbarsten durch das von ihm gewählte Parlament ausübt, vor allem dieses Parlament dazu berufen, im öffentlichen Willensbildungsprozeß unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offengelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden. Der Staat erfüllt hier durch seine gesetzgebende Gewalt die Aufgabe, Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen zu sein." I m R ü c k b l i c k betrachtet, erweist sich der Facharztbeschluß als Ausgangsp u n k t einer neuen J u d i k a t u r - der sog. W e s e n t l i c h k e i t s t h e o r i e 1 3 5 . Weder er

133 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 95 ff.; Forsthoff (Anm. 103), S. 492 f.; Köttgen, Die Organisationsgewalt, W D S t R L 16 (1958), S. 172. 134 BVerfGE 33, 125, 158 f. Dazu neuestens eingehend Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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noch die an ihn anschließenden und auf ihn aufbauenden späteren Entscheidungen des Gerichts 136 haben indessen Klarheit darüber verschafft, in welchem Umfang der Gesetzgeber die Rechtsstellung der funktionalen Selbstverwaltung regeln muß. Zwei Gründe sind hierfür ursächlich. Zum einen schwankt das Gericht in der entscheidenden Frage, welche Kriterien dafür maßgeblich sind, was wesentlich ist: Einmal stellt es das demokratische Prinzip in den Vordergrund, dann wieder hebt es die Grundrechtsrelevanz hervor, und häufig kumuliert es beide Gesichtspunkte 137 . Zum anderen bewegen sich seine auf Verallgemeinerbarkeit angelegten dogmatischen Überlegungen auf einem derart hohen Abstraktionsniveau, daß ihre Konkretisierung notwendig zum Problem für sich wird. Die Grundsatzfrage nach der dogmatischen Fundierung des vielfältigen Ausdeutungen zugänglichen Wesentlichkeitstheorems soll nicht aufgerollt werden, hier sind die Unterschiede der Begründungsansätze lediglich insoweit von Bedeutung, als sie zu divergenten Ergebnissen hinsichtlich der Reichweite des Gesetzesvorbehalts gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung führen. Das allerdings ist der Fall. Verortet man die Wesentlichkeitstheorie allein in den Grundrechten 138 , so wird das eine sehr großzügige Bemessung der exekutiven Organisationsgewalt zur Folge haben. Auch die Verwaltung ist dann befugt, Selbstverwaltungseinrichtungen zu schaffen und auszugestalten, der Gesetzgeber muß lediglich etwaige Freiheitsbeschränkungen (Mitgliedschaftszwang, Zahlungs- und insbesondere Beitragspflichten sowie Verhaltenspflichten) selbst regeln 139 . Nur eine die Leistungs- und Verfahrensdimension der Grundrechte hoffnungslos überanstrengende Dogmatik wird sich imstande fühlen, den Parlamentsvorbehalt gleichwohl auf die gesamten rechtlichen Grundlagen der Selbstverwaltung auszudehnen. Ein ganz anderes Bild der Pflichten des Gesetzgebers zeichnet die - auch rechtsstaatlich-demokratische Fundierung der Wesentlichkeitstheorie 140 . Auf ihrem Boden kann er es nicht damit bewenden lassen, die in einem prägnanten Sinne grundrechtsbezogenen Zuständigkeiten der Selbstverwaltung zu regeln, er muß vielmehr eine umfassende Statusbestimmung vornehmen. 135 Hierzu eingehend E.-W. Böckenförde, Gesetzesbegriff und Gesetzes vorbehält, S. 375 ff.; Krebs, Jura 1979, S. 304 ff.; Schlink, Die Amtshilfe, S. 118 ff. - alle mit weiteren Nachweisen. 136 Hingewiesen sei auf E 40, 237, 248 ff.; 45, 400, 417 ff.; 47, 46, 78 ff.; 49, 89, 125 ff.; 57, 295, 319 ff. 137 Eine eingehende Darstellung und K r i t i k der Rechtsprechung findet sich bei Schlink (Anm. 135), S. 125 ff. 138 So Schlink (Anm. 135), S. 130 ff.; in dieser Richtung neuerdings auch Bethge, Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt für die Kommunalverwaltung, NVwZ 1983, S. 577 ff. 139 In diesem Sinne in der Tat Schlink (Anm. 135), S. 123. 140 Paradigmatisch BVerfGE 33, 125, 158 f.; 49, 89, 126 f.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

Vergegenwärtigt man sich, daß jede Bestimmung des Vorbehaltsbereichs des Gesetzgebers dirigiert sein muß durch die Einzelvorbehalte der Verfassimg und imstande sein muß, sich vor ihnen auszuweisen, und legt man diesen Prüfstein an die beiden Wesentlichkeitskonzeptionen an, so wird alsbald deutlich, daß eine ausschließlich grundrechtliche Fundierung des Gesetzesvorbehalts hinter ein Niveau zurückfällt, das schon vor „Erfindung" des Wesentlichkeitstheorems durch die traditionelle Dogmatik erreicht worden war. Während es für letztere selbstverständlich war, daß „jede Art der Ausgliederung von Selbstverwaltungs- oder Autonomiebereichen aus der Verwaltungshierarchie" dem Gesetzesvorbehalt unterfällt 1 4 1 , kulminiert der rigide grundrechtliche Ansatz in der These, die Verwaltung könne Organisationsakte, soweit sie nicht konkret und spezifisch als grundrechtsrelevant aufzeigbar seien, „kraft ihrer Organisationsgewalt auch dann regeln und vornehmen, wenn sie verdienen, wesentlich genannt zu werden" 1 4 2 . Die Bresche, die er damit für die Organisationsgewalt der Exekutive schlägt, gerät jedoch so breit, daß sie verfassungsförmig gesicherte Organisationsbefugnisse der Legislative mit umreißt. Nahezu sämtliche Landesverfassungen statuieren ausdrücklich, daß die Organisation der Staatsverwaltung „durch Gesetz" zu erfolgen habe 1 4 3 . Das Erfordernis der Gesetzesform bezieht sich dabei nach übereinstimmender Auffassung nicht lediglich auf die unmittelbare Staatsverwaltung, sondern auch und gerade auf die Schaffung verselbständigter Verwaltungseinheiten 1 4 4 . Auf der Ebene des Bundesrechts hält Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG eine entsprechende Regelung bereit. Auch hier wieder ist es der Gesetzgeber, dem die Organisationsgewalt hinsichtlich der Schaffung von Selbstverwaltungsträgern zusteht. Den gemeinsamen dogmatischen Nenner ebenso wie die verfassungstheoretische Ratio dieser verfassungsrechtlich garantierten legislativen Organisationsgewalt hat Böckenförde 145 bereits lange vor der Kreierung der Wesentlichkeitslehre unter dem Begriff des institutionellen Gesetzesvorbehalts 1 4 6 entwickelt. Danach sind „bestimmte organisatorische Einrichtungen als solche, aus politischen oder verfassungsstrukturellen Gründen, in ihrer Bildung und Errichtung dem Gesetzgeber vorbehalten". Die Gründe 141 E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 96 und passim sowie die anderen, i n Anm. 133 genannten Autoren. 142 Schlink (Anm. 135), S. 123. i « Art. 70 Abs. 1 Bad.-Württ. Verf.; Art. 77 Abs. 1 Bay. Verf.; Art. 50 ff. Verf. von Berlin, Art. 57 Hamb. Verf.; Art. 69 Rheinl.-Pf. Verf.; Art. 112 Saarl. Verf.; Art. 38 LS für Schl.-Holst. 144 Fleck, in: Geller-Kleinrahm, Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Anm. 10 zu Art. 77; Schweiger, in: Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, Anm. 4 zu Art. 77.

1 45 (Anm. 133), S. 89 ff., insb. 95 ff. Er stammt von Köttgen (Anm. 133), S. 181 ff.

146

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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für die Zuweisung der Organisationsgewalt über die Selbstverwaltung an die Legislative wird man mit Böckenförde auf zwei Prinzipien zurückführen können: 1. Die vollziehende Gewalt soll von sich aus keine Veränderung in der Substanz der staatlichen Hoheitsrechte und ihrem eigenen verfassungsrechtlichen Status vornehmen können 1 4 7 , 2. die vollziehende Gewalt soll von sich aus nicht befugt sein, Organisationsregelungen zu treffen, die die politisch-soziale Grundordnung des Gemeinwesens tangieren bzw. verändern. Und in der Tat müssen diese Gesichtspunkte als das regulative Prinzip der verfassungsrechtlichen Verteilung der Organisationsgewalt zwischen Legislative und Exekutive angesehen werden. Den Verfassungen liegt eben nicht das staatstheoretische Axiom einer grundsätzlich exekutivischen und nur nach Maßgabe der Grundrechte auf die Legislative übergehenden Organisationsgewalt zugrunde, sie sind vielmehr bestrebt, das von ihnen selbst formulierte Organisationsmodell der öffentlichen Verwaltung sowie - damit in Zusammenhang stehend - das ebenfalls von ihnen austarierte Beziehungsgefüge zwischen Parlament - Verwaltung - Volk wenn überhaupt, dann nur durch das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament, nicht aber durch die Verwaltung modifizieren zu lassen. Genau dieser Effekt aber träte ein, wenn jenseits der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte die Organisationsgewalt über die Selbstverwaltung grundsätzlich der Exekutivspitze zustünde. Die Regierung selbst könnte dann Abweichungen vom verfassungsgesetzlich verankerten Normaltypus der öffentlichen Verwaltung, der Ministerialverwaltung, vorsehen; sie könnte damit zugleich ihre verfassungsrechtliche Stellung als Befehlsspitze der Exekutive modifizieren und dadurch wiederum ihre parlamentarische Verantwortlichkeit sowie die korrespondierenden Kontrollrechte des Parlaments verkürzen. Schlußendlich wäre sie es, die darüber befindet, ob der Bürger an der Verwaltung tätig teilnimmt oder lediglich als Adressat der Verwaltungsentscheidungen in Erscheinung tritt. Der staatstheoretische Hintergrund der verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalte im Bereich der Verwaltungsorganisation hat deutlich werden lassen, daß nicht die Grundrechte es sind, um deren Schutz es hier geht, sondern um die Monopolisierung der Zuständigkeit für Modifikationen des ver147

In diesem Gedanken klingt an, daß die rechtsstaatlich-demokratische Fundierung des auf die Errichtung von Selbstverwaltungsträgern bezogenen Gesetzesvorbehalts auf der Prämisse basiert, daß diese staatlichen Charakter haben. Ist dies - wie etwa bei den Rundfunkanstalten - nicht der Fall, so wird man die Regelungspflichten des Gesetzgebers zumindestens zurückschrauben müssen. Auf einem anderen Blatt steht, ob dann die grundrechtliche Wurzel des Wesentlichkeitsvorbehalts ins Spiel kommt und möglicherweise zu den gleichen Ergebnissen führt. Vgl. hierzu BVerfGE 57, 295, 324 ff.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

fassungsrechtlichen Funktionsgefüges beim Parlament als dem volks- und verfassungsunmittelbarsten 148 Staatsorgan. Der demokratische Gehalt dieses Anliegens ist augenfällig. Indem die ausschließlich grundrechtliche Fundierung der Wesentlichkeitstheorie ihn verspielt, offenbart sie zugleich die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit: Sie vermag es eben nicht, den gesamten Bereich der Gesetzesvorbehalte dogmatisch zu unterfangen, sondern bedarf jedenfalls bezüglich der verwaltungsorganisatorischen Gesetzesvorbehalte der Ergänzung durch jene Prinzipien, auf denen diese gründen. Mit der Zurückweisung der ausschließlich grundrechtsbezogenen Wesentlichkeitskonzeption ist der Kurs für die Bestimmung dessen, was im Hinblick auf die Rechtsstellung der Selbstverwaltung wesentlich ist und mithin gesetzlicher Regelung bedarf, festgelegt. Es sind zum einen die grundrechtsrelevanten Maßnahmen der Selbstverwaltungsträger und zum anderen die ihren Status prägenden Regelungen. Zur Konkretisierung des Kriteriums der Grundrechtsrelevanz hat das Verfassungsgericht vor allem in seiner Rechtsprechung zu Art. 12 GG beigetragen 149 . Die Literatur hat diese Anstöße aufgenommen und weiter vertieft 1 5 0 , so daß inzwischen von einer recht geschlossenen Wesentlichkeitsdoktrin gesprochen werden kann. Ihr hervorstechendstes Merkmal ist die Abkehr vom reinen Eingriffsdenken; grundrechtsrelevant ist vielmehr jegliches staatliche Handeln, welches die Bedingungen der Grundrechtsverwirklichung gestaltet. Dies gilt stets für Abgrenzungen des Mitgliederkreises von Selbstverwaltungseinrichtungen zumal dann, wenn es sich, wie üblich, um Zwangskörperschaften handelt - , weiterhin sind hier ebenso Regelungen des Ausbildungs- und Berufszugangs wie die sog. statusbildenden Normen zu nennen 151 ; aber auch bloße Berufsausübungsregelungen können „wesentlich" sein 152 . Die andere Komponente des Wesentlichkeitskriteriums, die den Status der Selbstverwaltung prägenden Regelungen, hat in Rechtsprechung und Literatur weniger Beachtung gefunden. Indessen weisen hier die Ausführungen zur Ratio der einschlägigen Gesetzesvorbehalte den Weg zur weiteren Konkretisierung. Dem Gesetzgeber obliegt es mithin vor allem, Maß und Form der Beteiligung der Bürger am Wirken des Verwaltungskörpers sowie dessen Rechtsstellung gegenüber der unmittelbaren Staatsverwaltung festzulegen. Wie detailliert die gesetzlichen Regelungen sein müssen, kann nicht vorab und generalisierend gesagt werden, dies bedarf vielmehr einer geson148 N U r das Parlament ist befugt, die Verfassung zu ändern, und mehr als jedes andere Staatsorgan ist es im demokratischen Staat legitimiert, die Fortentwicklung der Verfassung voranzutreiben. 149 E 33, 125, 157 ff. (Facharzt); 33, 303, 345 f. (numerus clausus); 41, 251, 261 ff. (Schulausschluß). 150 Neuestens Kleine-Cosack (Anm. 134), S. 235 ff., 254 ff. (mit weiteren Nachw.) sowie Bethge (Anm. 138), S. 580. 151 Dazu BVerfGE 33, 125, 163 sowie Kleine-Cosack (Anm. 134), S. 255, 285 f. 152 Siehe Nachw. Anm. 151.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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derten Untersuchung für jeden einzelnen Selbstverwaltungsträger, da das Maß der gesetzlichen Regelungspflicht auch von der Aufgaben- und Befugnisstruktur der Selbstverwaltungseinrichtungen, ihrer Binnenorganisation und ihrem Verhältnis zu den staatlichen Behörden abhängig ist. A l l diese Determinanten aber haben bei den einzelnen Selbstverwaltungseinrichtungen eine durchaus unterschiedliche Ausgestaltung erfahren. Einige allgemeingültige Feststellungen sind gleichwohl bereits hier möglich. Indem die Landesverfassungen die Organisation der Verwaltung dem Gesetzgeber auferlegen, hindern sie diesen daran, die in bezug auf die unmittelbare Staatsverwaltung von Verfassungs wegen verwirklichte Regelungsdichte gegenüber der Selbstverwaltung ohne triftigen Grund zu unterschreiten 153 . Ebenso wie dort muß er mithin auch hier „alle typenbestimmenden Elemente, also vor allem die Aufgaben und Befugnisse festlegen, die innere Verfassung ... regeln, den Selbstverwaltungsbereich, insbesondere auch den Umfang der Satzungsautonomie von den staatlichen Bestimmungs- und Aufsichtsrechten abgrenzen" 154 , in einem Wort: die Bildung und Errichtung von Selbstverwaltungsträgern ist eine Angelegenheit des Gesetzgebers 155. Mit Böckenförde 156 wird man hierzu folgende Organisationsakte rechnen können: 1. Die Anordnung, daß ein Funktionsträger bestehen soll; 2. die Bestimmung des sachlichen Aufgabenkreises und des örtlichen Wirkungskreises; 3. die Befugniszuweisungen; 4. die Festlegung der Grundsätze der Binnen Verfassung 157 ; 5. die Bestimmung der Rechtsstellung innerhalb der Gesamtorganisation der öffentlichen Verwaltung (staatliche Lenkungs- und Kontrollbefugnisse; Rechtsfähigkeit). Darüber hinaus erscheint es angebracht, die Bestimmung der Mitgliedschaftsberechtigten bzw. -verpflichteten ebenfalls dem organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt zu unterstellen. Der verfassungsrechtliche Grund der skizzierten Gesetzgebungspflichten ist vereinzelt auch in Art. 80 Abs. 1 GG und den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Regelungen gesucht worden 1 5 8 . Über die Plausibilität 153

Ebenso Fleck (Anm. 144), Anm. 6b, 10a, 10e zu Art. 77. Fleck (Anm. 144), Anm. 10e zu Art. 77. 155 Ebenso E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 95 ff. 156 Ebd. S. 47 - 4 9 ; in die gleiche Richtung geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. insb. E 33 125 ff. (Facharztbeschluß). 157 Insbesondere dieses Gebot ist bislang sowohl in der Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis als auch in Rechtsprechung und Literatur vernachlässigt worden. Nicht zuletzt deshalb steht es im Mittelpunkt dieser Arbeit. 158 So etwa Wilke, in: von Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Anm. X I I I 2 zu Art. 80 (mit umfassenden Nachweisen hinsichtlich des Streitstands); dagegen die 154

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

solcher Analogien muß hier nicht weiter raisonniert werden, die Zeit ist ohnehin über diesen Ansatz hinweggegangen. Spätestens seit dem Ausbau der einzelnen Gesetzesvorbehalte zur sie alle überwölbenden Wesentlichkeitstheorie besteht keine Notwendigkeit mehr zur analogen Anwendung des Art. 80 GG, dies zumal seine restriktive Interpretation durch das Verfassungsgericht 159 die Bestimmtheitsanforderungen des Wesentlichkeitstheorems eher höher erscheinen läßt 1 6 0 . Überdies spricht manches dafür, daß es Art. 80 GG angesichts seiner beschränkten Funktion und seiner begrenzten verfassungssystematischen Bedeutung überfordert hätte, den Maßstab für den Umfang der parlamentarischen Regelungspflichten gegenüber der Selbstverwaltung bereitzuhalten 161 . Das Skelett der Gesetzgebungspflichten des Parlaments gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung ist freigelegt; sie haben sich als zumindestens ebenso zahlreich und dicht geknüpft erwiesen wie die gegenüber der unmittelbaren Staatsverwaltung. Bezogen auf die Legitimationsfrage lautet der Befund mithin: Die Lenkungsbefugnisse des Parlaments gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung haben, soweit ihr Instrument das Gesetz ist, zumindestens die gleiche Intensität wie die gegenüber der Ministerialverwaltung. Die parlamentsvermittelte Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung bleibt folglich im Hinblick auf das Gesetz als Legitimationsmittler nicht hinter der der Staatsverwaltung zurück. Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber der funktionalen Selbstverwaltung die Personalhoheit sowie die Satzungsautonomie verleiht. Auch ihr antipodischer Bezugspunkt ist eine Fremdbestimmung durch die Regierung, nicht durch das Parlament. Letzteres ist vielmehr, da die Satzungsautonomie und die Personalhoheit der funktionalen Selbstverwaltung nicht verfassungsrechtlich garantiert sind, gehalten, Inhalt und Reichweite ihrer Verleihung selbst festzulegen; die Grundsätze der Wesentlichkeitstheorie gelten hier nicht anders als sonst. Wechselt man die Perspektive und geht von der Betrachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Minimalstandards zu der des verfassungsrechtlich zulässigen Maximalstandards über, so gewinnt das Legitimationspotential des Gesetzes noch zusätzlich an Schubkraft. Die Ursache hierfür liegt im Mangel an verfassungsrechtlichen Widerlagern, die dem Zugriff des GesetzIi. M., repräsentativ: BVerfGE 33, 125, 157 f.; neuestens ebenso Kleine-Cosack (Anm. 134), S. 194 ff. 159 Zuletzt E 53, 1,16; 54,143 ff. Eingehend zur Rechtsprechung Wilke, Bundesverfassungsgericht und Rechtsverordnungen, AöR 98 (1973), S. 196 ff.; Lepa, Verfassungsrechtliche Probleme der Rechtsetzung durch Rechts Verordnung, AöR 105 (1980), S. 337 ff. 160 Ebenso Kleine-Cosack (Anm. 134), S. 200 f. sowie Kisker, Neue Aspekte im Streit um den Vorbehalt des Gesetzes, NJW 1977, S. 1314. 161 In dieser Richtung auch E.-W. Böckenförde (Anm. 135), S. 395 ff.

2. Kap.: Demokratische Legitimation und Selbstverwaltung

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gebers Einhalt gebieten. Im Gegensatz zur hierarchischen Ministerialverwaltung, die als Typus sowie hinsichtlich der Grundzüge ihrer Ausgestaltung verfassungsrechtlich garantiert ist, steht die funktionale Selbstverwaltung weithin zur Disposition des Gesetzgebers 162; dies gilt für die wahrgenommenen Funktionen nicht weniger als für die sie wahrnehmenden Institutionen und damit auch für den Typus als solchen. Es wäre verfehlt, dem entgegenhalten zu wollen, die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts auf die hierarchische Ministerialverwaltung müßten auch für die funktionale Selbstverwaltung Geltung beanspruchen. Erstere ist in ihrem Bestand und ihren notwendigen Funktionsvoraussetzungen verfassungsrechtlich geschützt, letztere ist es nicht. Das Parlament kann die funktionale Selbstverwaltung nicht nur ebenso wie die Ministerialverwaltung hinsichtlich ihrer Funktionen einer so präzisen gesetzlichen Programmierung unterwerfen, daß sie jeglichen eigenständigen Gestaltungsspielraum einbüßt, es kann darüber hinaus auch alle sie betreffenden organisatorischen Regelungen selbst vornehmen. Anders als im Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung, in der der Regierung eine originäre, in ihrem Kern dem legislativen Zugriff entzogene Organisationsgewalt zusteht 163 , ist in der funktionalen Selbstverwaltung eine entsprechende Position nicht vorhanden - wie im folgenden darzulegen sein wird. Der verfassungsrechtliche Schutz der Organisationsgewalt der Regierung basiert letztlich auf dem Bestreben, die von der Verfassung selbst vorgenommene Funktionsverteilung zwischen Parlament und Regierung, die letzterer die Rolle der verantwortlichen Befehlsspitze der Exekutive zuweist, welche ihrerseits als „implied power" die Organisationsgewalt umschließt, nicht zur Disposition der Staatsorgane, w i l l sagen: des Parlaments zu stellen 164 . Sie sollen in den von der Verfassung vorgezeichneten Bahnen ihren Aufgaben nachgehen, nicht aber diese Bahnen ändern. Ein derartiger Schutzgrund für exekutive Organisationskompetenzen aber besteht im Hinblick auf die funktionale Selbstverwaltung nicht. Zumal die Regierung kann sich hier nicht auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung ihrer Funktion berufen. Da Selbstverwaltung per definitionem die Leitungsgewalt der Regierung über die Exekutive einschränkt und insoweit außerhalb des verfassungsrechtlichen Verwaltungsmodells, der Ministerialverwaltung, siedelt, steht das Argument des Funktionsschutzes der Regie162 D i e i n dieser Aussage enthaltene Einschränkung trägt den vereinzelten verfassungsrechtlichen Enklaven der funktionalen Selbstverwaltung Rechnung. Zu nennen sind insofern vor allem die - allerdings zumeist sehr rudimentären - Garantien einiger Landesverfassungen; dazu siehe oben 2 b bb. Auf der Ebene der Bundesverfassung kommen allenfalls die Gewährleistungen der Rundfunk- sowie der Wissenschaftsfreiheit in Betracht, auch dies allerdings nur, sofern man sich der Auffassung anschließt, ihre gegenwärtige Organisationsstruktur sei verfassungsrechtlich geboten. 163 Eingehend hierzu E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 106 f., 286 ff. 164 Näher dazu E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 278 ff., 106 f.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

rung hier noch weniger zu Dienste als in bezug auf die unmittelbare Staatsverwaltung 1 6 5 . Dies insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß Gegenstand der Selbstverwaltung nach allgemeiner Auffassimg ohnehin keine politisch bedeutsamen Angelegenheiten sein dürfen 1 6 6 . Aber auch die Selbstverwaltungsträger können von Verfassungs wegen keine autonome Organisationsgewalt für sich reklamieren. Der Grund liegt auf der Hand: Da ihr Bestand und ihre Funktion nicht verfassungsrechtlich geschützt sind, besitzen sie auch gegenüber parlamentarischen Organisationsakten keinen Verteidigungsschild. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß das nur von der Verfassung beschränkte Zugriffsrecht des Parlaments auf Funktionen und Institutionen des Staats sowie des Gemeinwesens überhaupt im Hinblick auf die funktionale Selbstverwaltung weithin unbegrenzt ist. Insbesondere legislative Organisationsakte sind in weitem Umfange zulässig. Eine äußerste Grenze mag überschritten werden, wenn das Parlament die Regierung auch aus ihrer Rolle als Kontrollorgan der Selbstverwaltung völlig herausdrängt. Im übrigen aber werden dem Legitimationspotential des Gesetzes als Lenkungsinstrument nur durch den in Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG niedergelegten immanenten Schranken des Gesetzesbegriffs Grenzen gesetzt. Abschließend sei angemerkt, daß die Bereitschaft des Parlaments, der funktionalen Selbstverwaltung gesetzliche Direktiven zu erteilen, erfahrungsgemäß groß ist. Die Entwicklung des Sozialversicherungs- und des Hochschulrechts legen insoweit ein beredtes Zeugnis ab. Man wird die Gründe hierfür nicht zuletzt in der Tatsache suchen müssen, daß das Gesetz, wenn nicht das einzige, so doch das bei weitem effektivste Steuerungsmittel des Parlaments gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung ist; vor allem seine Kontrollbefugnisse laufen demgegenüber doch weitgehend leer. Im Lichte dieser Zusammenhänge erscheint es denn auch durchaus plausibel, wenn H. Bogs in bezug auf das Sozialversicherungsrecht die Annahme hegt, die Neigung des Parlaments, die Selbstverwaltung gesetzlich zu überformen, sei um so größer, je stärker diese sich dem Zugriff der staatlichen Exekutive zu entziehen suche 167 . (2) Das Budgetrecht Nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG obliegt es dem Parlament, den Haushaltsplan „durch das Haushaltsgesetz" festzustellen. Da gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG alle Ausgaben des Bundes in den Haushaltsplan einzustellen 165 Bereits an der verfassungsrechtlichen Gebotenheit der Organisationsgewalt über die nachgeordneten Verwaltungsbehörden äußert E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 290 f., Zweifel. 166 Repräsentativ: BVerfGE 9, 268 (Brem. Personalvertretungsgesetz); zur Begründung siehe unten 14. Kap. I 3 c bb. 167 Bogs (Anm. 84), S. 209.

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sind, steht dem Parlament ein allgemeines Bewilligungsrecht hinsichtlich der Staatsausgaben zu 1 6 8 . Das Haushaltsgesetz bezieht sich stets auf das kommende Haushaltsjahr; für dieses ist es der numerische Ausdruck des politischen Gestaltungsprogramms von Regierung und Parlamentsmehrheit 1 6 9 . So zutreffend insofern seine Kennzeichnung als Legitimationsinstrument auch ist, so wenig darf sie doch darüber hinwegtäuschen, daß die Vorbereitung und die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes in gleicher Weise Akte der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive darstellen 170 . Sowohl die Lenkungsdichte als auch die Kontrolldichte des Haushaltsgesetzes sind infolge des beträchtlichen Grades an Spezialisierung der einzelnen Haushaltstitel 171 sehr hoch zu veranschlagen. Gleichwohl ist die legitimationsstiftende Wirkung des parlamentarischen Budgetrechts im Hinblick auf die funktionale Selbstverwaltung recht gering. Dies aus folgenden Gründen: Nach §§ 105 ff. BHO sowie den einschlägigen Selbstverwaltungsgesetzen führt die Errichtung eines Selbstverwaltungsträgers in der Regel zur Ausgliederung seines Haushalts aus dem staatlichen Haushaltsplan 172 . Das Budgetrecht stellt somit nach der derzeitigen Gesetzeslage im allgemeinen weder ein Lenkungs- noch ein Kontrollinstrument des Parlaments gegenüber der Selbstverwaltung dar. Anders allerdings verhält es sich, soweit die Selbstverwaltungsträger sich nicht aus eigenen Einnahmen finanzieren und zur Durchführung ihrer Aufgaben Mittel des Bundes in Anspruch nehmen 1 7 3 . Deren Bewilligung unterliegt in gleicher Weise wie alle seine Ausgaben dem parlamentarischen Budgetrecht. Auch im Hinblick auf die Bundeszuschüsse aber sind der legitimierenden Wirkung des Bewilligungsakts Grenzen gesetzt. Hier kommt zum Tragen, daß der Grundsatz der Bewilligungsfreiheit 174 in doppelter Weise eingeschränkt ist: Das Parlament ist verpflichtet, sowohl die rechtlich notwendigen als auch alle Ausgaben, die zur Wahrnehmung verfassungs- oder gesetzmäßig begründeter Staatsaufgaben unumgänglich sind, zu bewilligen 1 7 5 . Im Bereich der Sozialversicherungs168 Dies gilt, ebenso wie die folgenden Ausführungen, auch für die Ebene des Landesrechts. Die sachliche Übereinstimmung der Budgetvorschriften der Länder mit denen des Bundes wird durch das Haushaltsgrundsätzegesetz sichergestellt; insb. verschafft § 48 HGrG den Prinzipien der auf juristische Personen bezogenen §§ 105 ff. BHO auch landesrechtlich Anerkennung. Ebenso Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Anhang zu § 105 BHO. 169 Stern, Staatsrecht II, S. 1198. i™ Ebenso Stern (Anm. 169), S. 1197. 171 Vgl. §§ 16 f., 45 BHO. 1 72 Näher dazu Piduch (Anm. 168), Anm. 3 zu § 105 BHO. 173 Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht, NVwZ 1983, 513, spricht insoweit von einer faktischen Verschiebung der Entscheidungskompetenz auf den Bund. 1™ Hierzu E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 108 ff. i 7 5 Eingehend hierzu E.-W. Böckenförde (Anm. 133), S. 107 ff.; 305 ff.

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träger und der BA, aber auch im Hochschulwesen verengt diese traditionelle Beschränkung der parlamentarischen Haushaltshoheit den Dispositionsspielraum des Parlaments so sehr, daß das Haushaltsgesetz sowohl als Lenkungs- wie auch als Kontrollinstrument weitgehend ausscheidet. Dies zumal in einer Zeit, in der die sich verknappenden finanziellen Ressourcen selbst die Erfüllung der gesetzlich begründeten Leistungsverpflichtungen in Frage stellen. Infolgedessen geht die legitimationstiftende Wirkung der Mittelbewilligung des Parlaments, soweit dieses zu ihr verpflichtet ist, nicht über den Legitimationseffekt des Verpflichtungsgesetzes selbst hinaus. bb) Kontrollinstrumente 176 Parlamentarische Kontrolle äußert sich - unter anderem - „ i n spezifischen Befugnissen der Mißtrauenskundgabe, des Rechts auf politische und finanzielle Rechnungslegung, des Zitier- und Interpellationsrechts, des Rechts zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, der parlamentarischen Verantwortlichkeit und schließlich der Steuerung in Form präventiver Kontrolle, zum Beispiel durch Budgetfeststellung und schlichten Parlamentsbeschluß" 177 . Auch die Befugnis zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts sowie die erweiterten Rechte des Petitionsausschusses gegenüber der Exekutive - Anspruch auf Aktenvorlage, Akteneinsicht, Aktenauskunftsrechte - enthalten Momente der Kontrolle 1 7 8 . Dieses imposante Arsenal parlamentarischer Kontrollbefugnisse bezieht sich grundsätzlich auch auf die Tätigkeit der funktionalen Selbstverwaltung, gleichwohl ist in diesem Bereich die Bedeutung der parlamentarischen Kontrolle und mithin auch ihre legitimationsstiftende Wirkung gering. Die Ursache hierfür liegt in der Tatsache, daß, getreu der deutschen Verfassungstradition, das Grundgesetz nicht die Exekutive als solche und insbesondere nicht die nachgeordneten Exekutivorgane, sondern die Bundesregierung zum Adressaten der Parlamentskontrolle bestimmt. Dies hat angesichts der der Kontrolle inhärenten Beschränkung auf den Verantwortungsbereich des Kontrollierten 1 7 9 zur Folge, daß die Selbstverwaltung nur insoweit der Parlamentskontrolle unterliegt, als sie der Leitung und der Aufsicht der Regierung unterworfen ist 1 8 0 . Dieser Bereich ist im gegenwärtigen 176 Eingehend zur parlamentarischen Kontrolle: Stern, Staatsrecht I, S. 988 ff.; Staatsrecht II, S. 51 ff.; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip. 177 Stern, Staatsrecht I, S. 988. 178 Ebenso Stern, Staatsrecht I, S. 989, 1001. 179 Zur wechselseitigen Bezogenheit von Kontrolle und Verantwortung eingehend Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, Festschrift G. Müller, S. 379 ff. 180 s e h r d e r Gesetzgeber diesen Zusammenhang internalisiert hat, zeigt die Tatsache, daß § 2 PetitionsausschußG dem Petitionsausschuß gegenüber juristischen Personen die üblichen Befugnisse nur insoweit einräumt, als sie der Aufsicht der Bundesregierung unterliegen.

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Selbstverwaltungsrecht nirgends schmal bemessen; zumal dann, wenn Gegenstand der Rechtsaufsicht ein dicht geknüpftes staatliches Normprogramm ist und wenn die Ministerialverwaltung selbst über Normsetzungsund Mitwirkungsbefugnisse verfügt, ist er sogar sehr weit gezogen. Dessen ungeachtet wird man annehmen dürfen, daß die Aura der Autonomie nicht selten einen Schleier über die rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten der Regierung auf die Selbstverwaltung wirft und jener es dadurch ermöglicht, ihre rechtliche Verantwortlichkeit für diese dem Parlament gegenüber herunterzuspielen und dadurch wiederum dessen Kontrollengagement zu dämpfen. Eine Intensivierung der parlamentarischen Kontrolle über die Selbstverwaltung stünde wohl nur dann zu erwarten, wenn sie auf letztere selbst Zugriff nehmen könnte und nicht auf die Kommunikation mit der die Selbstverwaltung dem Parlament gegenüber abschirmenden und ihrerseits nur beschränkt verantwortlichen Regierung angewiesen wäre 1 8 1 . b) Steuerungsinstrumente

der unmittelbaren Staatsverwaltung

Unterliegt die Selbstverwaltung auch nicht der Leitung der staatlichen Exekutivspitze, so doch in vielfältiger Hinsicht ihrer Lenkung und Kontrolle. Ersteres in der Form der Normsetzungsbefugnisse des Ministers und seiner punktuellen Einwirkungsbefugnisse auf Entscheidungen des Selbstverwaltungsträgers, letzteres vor allem in Form der Staatsaufsicht. aa) Lenkungsinstrumente (1) Abstrakte Lenkungsinstrumente Das fundamentalste Lenkungsinstrument der ministeriellen Exekutivspitze gegenüber der Selbstverwaltung ist die Rechtsverordnung. Ihre Einsatzbedingungen sind hier keine anderen als sonst. Rechtsverordnungen bedürfen, da das selbständige Verordnungsrecht der Exekutive beseitigt ist, nach gemeindeutschem Verfassungsrecht stets einer gesetzlichen Ermächtigung. Ist diese vorhanden, so können sie sich auch an Selbstverwaltungsträger richten. Die Verleihung des Verordnungsrechts gibt der Regierung mithin die Befugnis, das gesetzlich garantierte Selbstverwaltungsrecht einzuschränken. Die Steuerungswirkung von Rechtsverordnungen ist um so größer, je dichter das von ihnen geknüpfte Regelungsnetz ausfällt. Im Extremfall mag dies so weit gehen, daß die autonomen Gestaltungsbefugnisse der Selbstverwaltung, seien es Rechtsetzungs-, Ermessens- oder Beurteilungs181 Entsprechende Vorschläge macht Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, S. 378 ff. (Berichtpflichten; begleitende Ausschußkontrolle).

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ermächtigungen, gleichwohl keine eigenständige Gestaltung mehr ermöglichen und ihr Träger letztlich zu einem Exekutor staatlicher Willensentscheidungen herabsinkt. Man wird diese vor allem im Bereich der Sozialversicherungsträger und der BA verwirklichte Gestaltungsoption in weitem Umfange für verfassungsgemäß halten müssen, die Grenzen der Verfassungswidrigkeit dürften erst dann erreicht sein, wenn die Rechtsetzungsermächtigungen des Gesetzgebers so exzessiv in Anspruch genommen werden, daß dessen Grundentscheidung - für die Selbstverwaltung - praktisch außer Kraft gesetzt wird. Das zweite abstrakte Lenkungsinstrument der unmittelbaren Staatsverwaltung gegenüber der Selbstverwaltung sind die Verwaltungsvorschriften. Auch sie bedürfen, soweit sie an Selbstverwaltungsträger gerichtet sind, wie dargelegt 182 , einer Ermächtigung durch höherrangiges Recht. Mit dieser Maßgabe können Verwaltungsvorschriften nicht anders als Rechtsverordnungen sowohl Organisations- und Verfahrensfragen als auch Sachentscheidungen zum Inhalt haben. Infolge dieser Übereinstimmung der möglichen Regelungsgegenstände sind die Verwaltungsvorschriften den Rechtsverordnungen im Hinblick auf ihre Lenkungswirkung und damit auch auf ihr Vermögen, staatliche Legitimation zu stiften, funktionell gleichwertig 183 . Diese Feststellung mag befremdlich klingen in den Ohren der traditionellen Dogmatik, die es gewohnt war, Rahmen und Bedeutung der Verwaltungsvorschriften durch ihre Disqualifizierung als bloßer „innerbehördlicher Anweisungen" herunterzuspielen, sie entspricht indessen dem geltenden Verfassungs- und Gesetzesrecht 184. Im Hinblick auf die organisatorischen Verwaltungsvorschriften läßt Art. 86 GG keinerlei Zweifel daran, daß sie dort, wo der Gesetzgeber nicht selbst die Organisationsgewalt ausübt, in Konkurrenz zu den Rechtsverordnungen bzw. an deren Stelle treten können 1 8 5 . Aber auch im Hinblick auf das Verwaltungsverfahren und die Sachentscheidungen der Verwaltung gibt es keinen Bereich, der exklusiv der Rechtsverordnung reserviert und der Regelung durch Verwaltungsvorschriften entzogen wäre, das Recht der Selbstverwaltungen dokumentiert vielmehr, daß auch insoweit Verwaltungsvorschriften die gleichen Funktionen wahrnehmen können wie Rechtsverordnungen. Es macht mithin keinen prinzipiellen Unterschied, ob der Gesetzgeber der staatlichen Exekutiv182

Siehe oben I I 2 a. Ein Unterschied besteht allerdings insoweit, als nach herkömmlicher Rechtsauffassung nur Rechtsverordnungen eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe darstellen. Eine gewisse Aufweichung dieses Dogmas stellt BVerfGE 40, 237, 249 ff. dar. Sollte dieser Ansatz fortentwickelt werden, so wird er der ohnehin unverkennbaren Tendenz zur Verdrängung des aus rechtsstaatlicher Sicht höherentwickelten Instruments der Rechtsverordnung durch das aus der Sicht der Praxis bequemere Instrument der Verwaltungsvorschrift noch zusätzlichen Auftrieb verleihen. 184 Eingehender hierzu oben I I 2 a. 185 Ebenso von Mangoldt/Klein (Anm. 158), Anm. V 2 b cc zu Art. 86. 183

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spitze die Ermächtigungen erteilt, Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften an Selbstverwaltungsträger zu richten; in beiden Fällen eröffnet er die Befugnis, das Selbstverwaltungsrecht durch allgemeine Direktiven zu beschränken. Das rechtlich zulässige Maß an Lenkung und damit auch das mögliche Maß an staatsvermittelter Legitimation ist bei den Verwaltungsvorschriften nicht anders als bei den Rechtsverordnungen abhängig von der einzelnen gesetzlichen Rechtsetzungsermächtigung. (2) Konkrete Lenkungsinstrumente Der Gliederungspunkt soll jene Befugnisse der staatlichen Behörden umgreifen, die diesen ein sachliches Mitwirkungsrecht an den Entscheidungen der Selbstverwaltungsträger einräumen: die Genehmigungsvorbehalte 1 8 6 . Wie dargelegt, ist ihre Natur als echte Mitwirkungsrechte und folglich auch ihre Qualifizierung als staatliche Lenkungsinstrumente durchaus strittig. Wenn die Genehmigungsvorbehalte hier nicht als Emanationen der staatlichen Fachaufsicht und das heißt als bloße Kontrollkompetenzen angesehen werden, so hat dies vor allem folgende Gründe: Bereits konstruktiv gesehen unterscheidet sich die Genehmigung von Maßnahmen der Staatsaufsicht: Letztere werden nicht notwendig, sondern aus gegebenem Anlaß ergriffen und beseitigen sodann ex post die Wirksamkeit des beanstandeten Akts; die Genehmigungsentscheidung hingegen ist Wirksamkeitsvoraussetzung und muß folglich getroffen werden. Wichtiger aber noch erscheinen die hinter diesen rechtstechnischen Unterschieden liegenden und sich in ihnen manifestierenden sachlichen Verschiedenheiten. Die Befugnisse der Staatsaufsicht ermächtigen nicht zu einer echten Entscheidungsteilhabe; im Gegenteil, sie belassen dem Beaufsichtigten die alleinige Entscheidungsbefugnis und geben dem Aufsichtsorgan lediglich das Recht, die bereits vollzogene Maßnahme nachträglich zu korrigieren - sie haben Kontrollcharakter. Der Genehmigungsakt demgegenüber stellt sowohl konstruktiv als auch auf Grund des Fehlens spezifizierter Genehmigungsmaßstäbe einen integralen Bestandteil eines zweistufigen Entscheidungsverfahrens dar, indem erst das Einvernehmen beider Parteien die Entscheidung überhaupt hervorbringt. Doch die Bedeutung des Zuordnungsproblems sollte nicht überschätzt werden. Im Hinblick auf die Legitimationsfrage ist lediglich die Zurückweisung des rechtsaufsichtlichen Genehmigungsverständnisses folgenreich, ob hingegen die fachaufsichtliche oder die kondominiale Deutung zutreffender ist, macht insoweit keinen Unterschied. Beide führen zu einem nur durch 186 Die nachfolgenden Ausführungen gelten auch für die mit dem Begriff der Genehmigung sachlich übereinstimmenden und nicht selten statt seiner vom Gesetzgeber verwendeten Termini Zustimmung, Anerkennung und Bestätigung (zur Terminologie: D. Keller, Anm. 81, S. 43 ff.).

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den Gesetzeszweck begrenzten staatlichen Zugriffsrecht auf den Inhalt der genehmigungsbedürftigen Maßnahmen und vermitteln dieser in sachlichinhaltlicher Hinsicht eine vollwertige staatliche Legitimation. Ein bezüglich der Legitimationsfrage nicht zu vernachlässigender Unterschied zum üblichen Verfahren der staatlichen Entscheidungsfindimg besteht allerdings insoweit, als die Genehmigungsvorbehalte der zuständigen Behörde kein Initiativrecht einräumen. Sie hat mithin nicht die Möglichkeit, selbst Entscheidungsprozesse in Gang zu bringen, sondern ist stets auf Anstöße aus der Selbstverwaltung angewiesen. Hinsichtlich der Bedeutung der Genehmigungsvorbehalte als Legitimationsfaktoren sind allgemein gültige Aussagen kaum möglich; hier kommt alles auf ihre Zahl und ihre Reichweite an. Immerhin läßt sich doch sagen, daß ihnen im Bereich der hier untersuchten Einrichtungen ein sehr viel größeres Gewicht zukommt, als beispielsweise in der Kommunal- und Rundfunkverwaltung. Während etwa im Kommunalrecht Satzungen in der Regel nur noch anzeige- und nicht mehr genehmigungspflichtig sind, halten die gesetzlichen Regelungen der funktionalen Selbstverwaltung an der traditionellen Dogmatik fest und unterwerfen die autonomen Rechtsetzungsbefugnisse dem staatlichen Genehmigungsvorbehalt. Dies gilt auch und gerade für das Organisationsstatut und die Haushaltssatzung sowie für nicht ausdrücklich als Satzungen bezeichnete Rechtsetzungsakte. bb) Kontrollinstrumente (1) Rechtsaufsicht Fällt das Stichwort Selbstverwaltung, so stellt sich fast schon reflexartig die Assoziation „Rechtsaufsieht" ein. Das Bewußtsein der Verknüpfung der beiden Kategorien ist denn auch so fest verwurzelt, daß die Rechtsaufsicht nicht selten als Wesensmerkmal der Selbstverwaltung apostrophiert wird. Das mag dahinstehen. Hier ist von Bedeutung, daß in der Tat nahezu sämtliche verselbständigte Verwaltungseinheiten, so auch die in dieser Arbeit untersuchten, der staatlichen Rechtsauf sieht unterworfen sind 1 8 7 . Der Zweck allerdings, der der Rechtsauf sieht üblicherweise unterlegt wird, scheint mit den Legitimationsstrukturen der Selbstverwaltung nichts zu tun zu haben. Nach herkömmlicher Auffassung geht es der Rechtsaufsicht, nachdem sie durch die Einführung des verwaltungsgerichtlichen Individualrechtsschutzes von dieser Funktion entlastet ist, nurmehr darum, im Interesse der Allgemeinheit auf die gesetzmäßige Erfüllung der Selbstver187 Eine Ausnahme stellen die Rundfunkanstalten dar, sie unterliegen nur einer eingeschränkten Rechtsaufsicht. Im Falle der Bundesbank hat der Gesetzgeber sogar völlig auf die Einrichtung einer staatlichen Aufsicht verzichtet.

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waltungsaufgaben hinzuwirken 1 8 8 . Das deutet auf eine rechtsstaatliche und nicht auf eine demokratische Funktion hin. Der objektiv legitimationsstiftende Effekt, der dem Akzeptieren von Selbstverwaltungsmaßnahmen durch die Aufsichtsbehörden eignet, erscheint als nicht intendiertes Nebenprodukt der eigentlichen, der rechtsstaatlichen Aufsichtsfunktion. Das Bild ändert sich indessen, sobald - wie im folgenden - der staatstheoretische Hintergrund der Rechtsauf sieht ausgeleuchtet wird; dann gewinnt ihre demokratische Komponente die Statur eines integralen Bestandteils. Würde die Rechtsaufsicht lediglich rechtsstaatliche Anliegen verfolgen, so könnte dem bereits durch die Installierung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens Rechnimg getragen werden; die behördlichen Eingriffsbefugnisse wären entbehrlich. Deren Existenz als konstruktive Zufälligkeit abzutun, würde zu kurz greifen, in Wirklichkeit sind sie Manifestationen des eigentlichen Zwecks der Rechts- sowie der Staatsaufsicht überhaupt: der Wahrung der Einheit der vollziehenden Gewalt 1 8 9 . Selbstverwaltung ist eben kein Synonym für ungebremste Polykratie, sondern bedeutet in der Regel Wahrnehmung staatlicher Aufgaben durch staatlich organisierte Bürger nach Maßgabe staatlicher Rahmenbedingungen. Ihr Zweck ist es mithin nicht, den Staat als Wirkungseinheit aufzulösen, sie soll vielmehr lediglich zu einer sachgerechten Differenzierung seiner Struktur beitragen. Der Staatsaufsicht obliegt es demnach, für die Erfüllung dieses Auftrags und insbesondere für die Respektierung seiner Grenzen durch die Selbstverwaltung Sorge zu tragen - sie ist der Hirtenhund, der die Herde der staatlichen Verwaltungsträger zusammenhält. Daß die Integration dieser Vielheit zur Einheit der staatlichen Verwaltung der letzte Grund der Staatsaufsicht ist, hat bereits Lorenz von Stein in aller Deutlichkeit erkannt 1 9 0 , und auch bei H. J. Wolff 1 9 1 ist dieses Bewußtsein noch lebendig; inzwischen allerdings scheint es häufig unter einer vordergründigen Funktionsanalyse verschüttet worden zu sein. Geht es der Staatsaufsicht um Einheitsstiftung, genauer: Um die Befugnis der verantwortlichen Regierung, die verselbständigten Glieder der staatlichen Verwaltung an den staatlichen Rahmenplan zu binden, so ist die Funktion der Staatsaufsicht auch eine politische. Für die legitimierende Wirkung des staatlichen Plazets zu Selbstverwaltungsentscheidungen folgt hieraus, daß sie in der Tat kein bloßes Zufallsprodukt der rechtsstaatlichen Aufsichtskomponente ist, sondern systematisch betrachtet dieser gegenüber eigenständigen Charakter hat. Die Betonung der genuin demokratischen 188 O. Mayer, Deutsches Verfassungsrecht, 3. Aufl., S. 392 ff.; Forsthoff (Anm. 103), S. 571; Schnapp, Zum Funktionswandel der Staatsaufsicht, DBV11981, S. 480 ff. 189 Dies sowie die nachfolgenden Ausführungen treffen lediglich auf Selbstverwaltungseinrichtungen staatlichen Charakters zu. ι»® L. v. Stein, Verwaltungslehre I I , S. 125 f.; 12, S. 73, 79 - 81. « i Wolff/Bachof (Anm. 72), § 77 IIa (S. 101).

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Komponente der Staatsaufsicht darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß dort, wo sie im Gewände der Rechtsaufsicht in Erscheinung tritt, ihr demokratischer Gehalt nicht über ihren rechtsstaatlichen hinausreicht. Die tatsächliche Bedeutung der Rechtsaufsicht als Faktor staatlicher Legitimation variiert von Selbstverwaltungsträger zu Selbstverwaltungsträger. Ihre normative Determinante ist die Dichte der Programmierung der Selbstverwaltung durch staatliche Rechtsvorschriften. Stecken diese lediglich einen lockeren Rahmen für Organisation und Funktion eines Selbstverwaltungsträgers ab, so fehlt es den staatlichen Aufsichtsbehörden an Maßstabsnormen zur Effektuierung der Rechtskontrolle. Ist hingegen die Organisation der Selbstverwaltung sei es durch Gesetz, Rechtsverordnung oder Verwaltungsvorschriften detailliert geregelt und sind ihre Aufgaben und Befugnisse konditional programmiert, so ist ihr - der staatlichen Kontrolle entzogener - eigenständiger Gestaltungsspielraum so gering, daß die Rechtsaufsicht instand gesetzt wird, die inhaltliche Übereinstimmung der Entscheidungen der Selbstverwaltungsträger mit den Vorstellungen der staatlichen Aufsichtsbehörden zu gewährleisten. Dies gilt um so mehr, sofern den Selbstverwaltungsorganen kein Ermessen eingeräumt ist und sofern daran festgehalten wird, daß etwaige Beurteilungsermächtigungen lediglich die gerichtliche Kontrolldichte reduzieren, nicht aber der Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörden entzogen sind. Wo die hier untersuchten Selbstverwaltungsträger auf der Meßlatte mit den beiden Endpunkten „völlige Indienstnahme zu staatlich gesetzten Zwecken" und „eigenständige Gestaltung ohne staatliche Ingerenzen" zu verorten sind, kann erst im Rahmen der Einzelanalyse festgestellt werden; zu vielfältig sind hier die Gestaltungsmöglichkeiten und zu komplex ist das Zusammenspiel der verschiedenen Legitimationsfaktoren. Eine Trendaussage immerhin kann gewagt werden: Während Zahl und Gewicht der staatlichen Mitwirkungsrechte an der Selbstverwaltung abgenommen haben, ist die Effektivität der Rechtsaufsicht infolge des kontinuierlich wachsenden staatlichen Normenbestands angestiegen; dies gilt mithin auch für ihre Bedeutung als Steuerungs- und Legitimationsfaktor. (2) Fachaufsicht Der Reigen der staatlichen Steuerungsinstrumente wird beschlossen durch die Fachaufsicht. Auch sie ist eine Kontrollkompetenz und gibt dem Aufsichtsträger keinen Titel zur Teilhabe an den Entscheidungen des Beaufsichtigten, sie berechtigt vielmehr lediglich dazu, aus konkretem Anlaß bereits getroffene Entscheidungen zu korrigieren 192 . Wie beim Stichwort 192 Es sei konzediert, daß die Pointierung des bloßen Kontrollcharakters der Fachaufsicht einen idealtypischen Anstrich hat. In der Realität verwischt sich der Gegensatz zur Verwaltungsleitung durch die vorgesetzte Behörde nicht nur auf Grund der

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Selbstverwaltung die Assoziation Rechtsaufsicht, so stellt sich beim Stichwort Fachaufsicht die des übertragenen Wirkungskreises ein. Und in der Tat ist er die eigentliche Domäne der Fachaufsicht. Doch das soll wegen der weitgehenden Übereinstimmung der materiellen Legitimationsstrukturen im Bereich des übertragenen Wirkungskreises mit denen der herkömmlichen Ministerialverwaltung hier einmal mehr nicht weiter interessieren. Aufmerksamkeit dagegen verdient die Tatsache, daß die Fachaufsicht auch eine Steuerungs- und damit Legitimationskategorie des eigenen Wirkungskreises ist. Die Feststellung mag überraschen, doch dieser Eindruck verliert sich, sobald man sich vergegenwärtigt, daß Selbstverwaltung eben eine gesetzlicher Ausformung bedürftige und nur nach deren Maßgabe geschützte Institution ist. Dies vorausgesetzt, verstößt der Gesetzgeber weder - im Falle einer verfassungsrechtlichen Garantie der Selbstverwaltung - gegen höherrangiges Recht noch gegen die Logik seiner eigenen Grundentscheidung, wenn er auch im Bereich der eigenen Angelegenheiten vereinzelt und punktuell fachliche Weisungen der Aufsichtsbehörden zuläßt. Und in der Tat ist dies gelegentlich geschehen; es sei hier nur an die Pflichtaufgaben nach Weisung in den dem Weinheimer Entwurf folgenden Kommunalgesetzen sowie an die Fachaufsicht gegenüber den Sozialversicherungsträgern auf dem Gebiet der Unfallverhütung und der Ersten Hilfe bei Arbeitsunfällen erinnert, § 87 Abs. 2 S GB I V 1 9 3 . Dennoch: Fachaufsicht im Bereich der Selbstverwaltungsangelegenheiten ist eine ungewöhnliche und seltene Durchbrechung der dogmatischen Selbstverwaltungskonzeption; sie kann nur durch besondere gesetzliche Anordnung ins Werk gesetzt werden. Hinsichtlich der Reichweite und der Bedeutung der Fachaufsicht als Legitimationsfaktor kann auf die Ausführungen zu den staatlichen Mitwirkungsvorbehalten verwiesen werden. Ebenso wie den staatlich^genehmigten Selbstverwaltungsentscheidungen eignet auch den der Fachaufsicht unterlegenen eine rechtliche sowie sachlich-inhaltliche staatliche Legitimation. Wird sie jenen durch den Genehmigungsakt vermittelt, so diesen durch die fachliche Weisung bzw. durch die im Verzicht auf Weisungserteilung liegende konkludente inhaltliche Billigung. Ein Unterschied zu den Legitimationsstrukturen der unmittelbaren Staatsverwaltung besteht auch hier nur insoweit, als der Aufsichtsbehörde kein Initiativrecht zusteht und sie daher auch kaum zu einer kontinuierlichen Verwaltungsplanung imstande ist. dieser eigenen unbegrenzten fachlichen Weisungsbefugnis, sondern auch infolge der begleitenden Berichtspflichten auf Seiten des Selbstverwaltungsträgers und der korrespondierenden begleitenden Beratungskompetenz auf Seiten der Aufsichtsbehörde. 193 Ebenso Knemeyer, Die Staatsaufsicht über die Gemeinden und die Kreise, Hdbd komm WiSSP, Band 1, 2. Aufl., S. 277 ff.; Stößner (Anm. 84), S. 107 ff. Die ältere, etwa von E. Becker (Anm. 103), S. 174 ff. und auch noch von Forsthoff (Anm. 103), S. 571 f. vertretene Auffassimg der gegenständlichen Identität von Fachaufsicht und übertragenem Wirkungskreis verkennt die Gesetzeslage und trägt wohl überdies der strukturellen Verschiedenheit von Aufsicht und Leitung nicht hinreichend Rechnung.

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I. Teil: Einführung und Grundlegung

c) Schlußbemerkung Die Zahl der staatlichen Bestimmungsfaktoren über die funktionale Selbstverwaltung ist beträchtlich; ihre Intensität, ihre Wirkungsweise und ihre Struktur ist unterschiedlich. Daß vor dem Hintergrund dieses Befunds keine allgemeingültigen Aussagen über das konkrete Maß an staatsvermittelter Legitimation der einzelnen Selbstverwaltungsträger getroffen werden können, versteht sich. Zu vielfältig sind die möglichen Kombinationen der verschiedenen Legitimationsfaktoren, und zu unterschiedlich kann demzufolge das legitimatorische Gesamtergebnis ausfallen. Das Spektrum reicht von einer nahezu vollständigen Indienstnahme der Selbstverwaltung zu heteronom gesetzten staatlichen Zwecken bis hin zu einer staatlichem Zugriff weitgehend verschlossenen eigenständigen Gestaltungsfunktion. Erstere - verwirklicht im Falle der BA - wird bewerkstelligt durch eine Kumulierung der einzelnen Lenkungs- und Kontrollinstrumente: Das Parlament knüpft ein dichtes gesetzliches Regelungsnetz und erteilt der Ministerialverwaltung die Ermächtigung, die noch verbliebenen Lücken durch Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften sowie durch die Ausübung von Mitwirkungsbefugnissen zu schließen; der Staatsaufsicht sind damit alle Instrumente in die Hand gegeben, deren sie bedarf, um eine nur dem Gewände nach lediglich rechtliche, in der Sache hingegen auch inhaltlichpolitische Übereinstimmung zwischen Selbstverwaltungshandeln und staatlicher Politik zu gewährleisten. Letztere - verwirklicht in den Rundfunkanstalten - hat demgegenüber einen weitgehenden Verzicht des Staates auf den Einsatz seiner Lenkungsinstrumente zur Voraussetzung; der Abbau der Kontrollintensität bis auf ein Maß, welches kaum über das in Form der Staatsaufsicht über die Wirtschaft realisierte hinausgeht, vollzieht sich dann von selbst. Die beiden hier angedeuteten Extreme markieren zugleich jene Punkte, an denen die dogmatisch denkbaren Formen der Ausgestaltung der Selbstverwaltung die Schwelle der Verfassungswidrigkeit erreichen. Die etatistische Variante insofern, als die Staatsverwaltung die Garantie des Selbstverwaltungsrechts nicht durch eine exzessive Inanspruchnahme ihrer Rechtsetzungs- und Mitwirkungsermächtigungen außer Kraft setzen darf, die autonomistische Variante sub specie des Wesentlichkeitsvorbehalts.

Zweiter Teil

Die Kammern, die Sozialversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit

Die Frage nach der demokratischen Legitimation der öffentlichen Körperschaften und Anstalten zerfällt in zwei Teile: die nach ihrem Legitimationsbestand und die nach ihrem Legitimationsbedarf. Ersterer soll im folgenden ermittelt werden. Dazu ist es, da die Legitimationsfrage nicht auf eine Institution als solche, sondern auf deren konkrete Entscheidungen zu beziehen ist, erforderlich, sich über die Aufgaben und Befugnisse der Selbstverwaltungsträger Klarheit zu verschaffen. Dieses Erkenntnisinteresse bestimmt Umfang und Gegenstand des nachfolgenden Überblicks über die Kompetenzen und die Organisation der funktionalen Selbstverwaltung. Er erstellt keine umfassende Bestandsaufnahme, sondern legt sein Schwergewicht zum einen auf die Darstellung ihres Verhältnisses zum Staat, zum anderen auf ihre internen Legitimationsstrukturen. Ersteres ist maßgeblich für die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Legitimationsanforderungen sie genügen muß, letztere bilden in der Zusammenschau mit den staatlichen Steuerungsbefugnissen den Tatbestand, auf Grund dessen das Urteil über die Vereinbarkeit der funktionalen Selbstverwaltungen mit dem demokratischen Prinzip zu fällen ist. Bezüglich ihres Verhältnisses zum Staat interessiert vor allem, inwieweit ihre Aufgaben vom Staat festgelegt sind und in welchem Umfang deren Erfüllung seiner Lenkung und Kontrolle unterliegt. Erweist sich der Selbstverwaltungsträger dabei im Hinblick auf die Substanz seiner Entscheidungen als staatlich programmiert, so gelten für ihn - wie im dritten Teil zu zeigen sein wird - dieselben Legitimationsanforderungen, denen auch das Handeln der unmittelbaren Staatsverwaltung unterliegt. Ist hingegen die Bindung an den Staat eher locker und erschöpft sich in Rahmengesetz sowie Rechtsaufsicht, so stellt das - ebenso wie das Fehlen von Eingriffsbefugnissen und wie die Vertretung partikularer gesellschaftlicher Interessen auch gegenüber dem Staat - ein Indiz für den staatsfreien Charakter der Selbstverwaltungseinrichtung und infolgedessen auch für deren Freistellung von den für staatliches Handeln geltenden Legitimationsanforderungen der Verfassung dar. Doch hierauf wird in Teil drei und vier zurückzukommen sein.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Im Hinblick auf die Legitimationsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung ist es das Ziel der folgenden Ausführungen, den Bestand der staatsvermittelten sowie den der autonomen Legitimation so weit aufzuarbeiten, daß nach der - im Schlußteil erfolgenden - Klärung des Legitimationsbedarfs Bestand und Bedarf einander gegenübergestellt werden können. In der Formulierung dieses Arbeitsprogramms klingt bereits eine These an, deren Stichhaltigkeit ebenfalls erst im 4. Teil dargelegt werden kann: der Charakter der autonomen Willensbildung als Form demokratischer Legitimation und ihre damit einhergehende Ausgleichsfunktion für Verkürzungen der staatsvermittelten Legitimation. Anzumerken bleibt, daß angesichts des Verbots der Verfassung, politisch bedeutsame Angelegenheiten auf autonome Instanzen zu übertragen 1 , auch auf die Gegenstände und die Reichweite der Verwaltungszuständigkeiten ein Augenmerk zu richten ist.

1

Eingehend dazu unten 14. Kap. I 3 c bb.

3. K a p i t e l

Die Kammern Kein anderer Typus der Selbstverwaltung hat im Laufe seiner Geschichte eine solche Vielfalt an Arten hervorgebracht wie die Kammerverwaltung. Da hier im einzelnen von ihr die Rede sein wird, erscheint eine kurze Bestandsaufnahme vonnöten 172 . Getreu der gängigen Dogmatik 3 soll dabei zwischen „berufsständischen Kammern" und Kammern der „wirtschaftlichen Selbstverwaltung" unterschieden werden 4 . Zur erstgenannten Gruppe gehören die Kammern der sog. „freien" Berufe: -

die die die die die die die die

Apothekerkammern Architektenkammern Ärzte-, Tierärzte- und Zahnärztekammern Lotsenkammern Notar-, Rechtsanwalts- und Patentanwaltskammern Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtenkammern Wirtschaftsprüferkammern Kursmaklerkammern.

Die zweite Gruppe ist eine recht heterogene Ansammlung von Selbstverwaltungskörperschaften der gewerblichen Wirtschaft, der Landwirtschaft und des Handwerks 5 . Sie besteht aus: - den Industrie- und Handelskammern - den Selbstverwaltungsorganisationen des Handwerks: Innungen, Kreishandwerkerschaften und Handwerkskammern 1/2 Siehe hierzu auch Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, S. 66 - 69 (mit Nachw. auf die gesetzlichen Grundlagen). 3 Vgl. Schuppert, ebd.; ders., Art.: Öffentlich-rechtliche Körperschaften, in: HdWW, S. 401. Anders Thieme, Verwaltungslehre, S. 200 f., der von einem umfassenden Begriff der berufsständischen Selbstverwaltung ausgeht. 4 Die Begriffe dienen lediglich der Systematisierung und der Vereinfachung der Verständigung; einen eigenen normativen Gehalt beanspruchen sie nicht. 5 Wenn hier die Selbstverwaltungsorganisationen des Handwerks entgegen einem verbreiteten Sprachgebrauch nicht der berufsständischen, sondern der wirtschaftlichen Selbstverwaltung zugeschlagen werden, so werden damit weder die bedeutsamen Unterschiede zwischen ihnen und den Handelskammern geleugnet, noch w i r d verkannt, daß sie rein begrifflich der berufsständischen Selbstverwaltung angehören. Die Zuordnung hat ihren Grund in den weitreichenden funktionellen Ubereinstimmungen zwischen Handwerks- und Handelskammern.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

- den Landwirtschaftskammern 6 - den Arbeitnehmerkammern 7 . I. Grundzüge der Geschichte des Kammerwesens Die Geschichte der Kammern kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden 8 ; die folgenden Ausführungen wollen lediglich in groben Linien die historische Entwicklung umreißen. Ihr Augenmerk gilt vornehmlich den internen Legitimationsstrukturen und hier insbesondere dem Wechselspiel von ständischen und egalitär-genossenschaftlichen Organisationsformen sowie dem Verhältnis der Kammern zum Staat. Diesbezüglich findet die Entwicklungsgeschichte der Interessenvertretungsfunktion der Kammern breite Beachtung; ihre Darstellung soll den Nachweis erbringen, daß die in der Literatur vorherrschende und sich häufig als bare Selbstverständlichkeit präsentierende These unzutreffend ist, die Kammern seien von jeher befugt gewesen, in gleicher Weise wie ein privatrechtlicher Verband private Interessen zu vertreten. 1. Zur Geschichte der Handelskammern

a) Historische Wurzeln Ausgangspunkt des gesamten modernen Kammerwesens 9 sind die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Handelskammern 10 . Ihre Wurzeln wiederum liegen teils in den unter Napoleon im Rheinland eingeführten französischen chambres de commerce, teils reichen sie auf die mit-

6 Sie bilden einen Sondertypus (agrarische Förderungsverwaltung auf ständischkörperschaftlicher Basis), der im folgenden außer Betracht bleiben muß. Näher hierzu Schuppert (Anm. 1/2), S. 38 ff., 60 f. m. w. Nachw. 7 Auch die nur in Bremen und dem Saarland bestehenden Arbeitnehmerkammern werden im folgenden wegen ihrer geringen Bedeutung und ihres atypischen Charakters nicht berücksichtigt. Eingehend zu den Arbeitnehmerkammern BVerfGE 38, 281; Zacher, Arbeitskammern im demokratischen und sozialen Rechtsstaat; Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft, S. 23 - 56. 8 Allgemein dazu O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band I, S. 944 964; Bieback, Die öffentliche Körperschaft; Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, S. 58 - 64; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 4, S. 995 ff.; Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, S. 23 ff., 98 ff., 103 ff., 149 ff. Bezüglich der Industrie- und Handelskammern insb. W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat; Bremer, Kammerrecht der Wirtschaft, S. 1 - 35; Wülker, Der Wandel der Aufgaben der Industrie- und Handelskammern in der Bundesrepublik Deutschland. 9 Die Vorbildfunktion der Handelskammern für die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gebildeten berufsständischen Kammern betont Brohm (Anm. 8), S. 61 f. 10 Die Bezeichnung Industrie- und Handelskammern ist jüngeren Datums und setzte sich erst in diesem Jahrhundert durch.

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telalterlich-ständischen 11 , teils auf die im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen entstandenen preußischen Kaufmannskorporationen zurück 12 . Obschon sich die Kammern anfangs sowohl hinsichtlich ihrer Aufgaben als auch hinsichtlich ihrer Organisationsstruktur stark unterschieden, bildeten sich doch bereits in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zumal im preußischen Rechtskreis einige bedeutsame, zukunftsbestimmende Gemeinsamkeiten heraus 13 . In den Aufgaben der Kammern - Beratung von Staat und Gewerbetreibenden (vor allem durch Gutachten und Vorschläge in allen Fragen von wirtschaftlicher Bedeutung; insbesondere zur Herstellung der Einheit des Rechts und eines modernen Verkehrswesens) - Börsen- und Gewerbeaufsicht - Ausbau des kaufmännischen und gewerblichen Bildungswesens zeigte sich bereits damals ihr janusköpfiges Gesicht: einerseits Instrument der Staatsverwaltung, andererseits - wenn auch in den Staat eingebundene - Interessenvertretung von Handel und Gewerbe. Bindende Entscheidungsbefugnisse besaßen die frühen Kammern kaum, der Schwerpunkt ihres Wirkens war beratender Natur. Die Rechtsstellung der damaligen Kammern entsprach noch keineswegs unserem heutigen Vorstellungsbild. Sie waren keine juristischen Personen, und auch das Recht der Selbstverwaltung stand ihnen nicht zu. Getreu sowohl der absolutistischen Tradition als auch der des französischen Kammerwesens unterlagen sie vielmehr der unbeschränkten Aufsicht des Staates. Wendet man sich der Binnenstruktur der Kammern zu, so fällt ungeachtet vielfältiger Varianten im Detail eine grundlegende Übereinstimmung ins Auge. Die Kammern hatten sämtlich - gleich ob sie einen öffentlichrechtlichen oder einen privatrechtlichen Status besaßen, gleich ob die Mitgliedschaft freiwillig war oder auf Zwang beruhte - aristokratisch-ständischen Charakter. Keine Kammer kannte eine am Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit ausgerichtete Beteiligung sämtlicher Entscheidungsadressaten an der Willensbildung der Organe. Stets waren sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht an finanzielle, standesmäßige oder politisch-religiöse 11 Besonders in den Hansestädten führt eine ununterbrochene Entwicklungslinie von den überkommenen ständischen Einrichtungen zum modernen Kammerwesen; näher dazu W. Fischer (Anm. 8), S. 43 - 52. 12 Eingehend dazu W. Fischer (Anm. 8), S. 11 - 26; Brohm (Anm. 8), S. 61 f.; Bremer (Anm. 8), S. 1 - 5; Hendler (Anm. 8), S. 23 ff. 13 Die Darstellung orientiert sich im folgenden an der preußischen Rechtsentwicklung, die weithin paradigmatisch für die übrigen deutschen Gliedstaaten ist (ebenso W. Fischer, Anm. 8, S. 43, 84 f.; Bremer, Anm. 8, S. 11 f.) und wohl am stärksten auf die Gegenwart ausgestrahlt hat.

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Qualifikationen gebunden 14 , die die Einflußmöglichkeiten der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden stark eindämmten 15 . Selbst die Begriffsbildung der Gesetze war von diesem aristokratischen Grundzug geprägt. So bezeichnete keines der Kammergesetze des 19. Jahrhunderts die Angehörigen des verkammerten Berufsstandes als (Kammer)Mitglieder 16 . Als solche wurden vielmehr stets die von den wahlberechtigten Gewerbetreibenden gewählten Vertreter apostrophiert; erstere selbst figurierten lediglich als „Wahlberechtigte und Beitragspflichtige" 17 . Vom genossenschaftlichen Wesen des modernen Körperschaftsbegriffs 18 waren die Kammern der damaligen Zeit mithin in der Sache ebenso wie in der Form noch weit entfernt 19 . b) Das preußische Handelskammergesetz von 1870 20 und seine Novellierung von 1897 21 Das preußische Handelskammergesetz von 1870 und seine Novellierung von 1897 waren maßstabsetzend für die Entwicklung des Kammerwesens in Richtung auf seine heutige Gestalt. Sie sollen daher im folgenden eingehender untersucht werden. aa) Die Aufgaben der Handelskammern Im Hinblick auf die Aufgaben der Kammern hat der preußische Gesetzgeber daran festgehalten, daß der „Schwerpunkt ihrer Wirksamkeit ... die Vermittlung der Beziehungen zwischen dem Handelsstande und der Staats14 Die Mitgliedschaft in der hamburgischen Kommerzdeputation etwa setzte die Teilnahme am Seehandel sowie die christliche Konfession voraus; hierzu W. Fischer (Anm. 8), S. 47. 15 Näher dazu W. Fischer (Anm. 8), S. 14 - 21, 27 - 29, der die Etappen der schrittweisen Demokratisierung der Kammern im einzelnen nachzeichnet. 16 Vgl. bspw. §§ 3, 7 preuß. H K G v. 1870 bzw. 1897. 17 Selbst das geltende I H K G von 1956 verweigert ihnen - begrifflich betrachtet die Anerkennung als Mitglieder und bezeichnet sie als „Kammerzugehörige" (vgl. §§ 2 Abs. 1, 5 Abs. 1); den Begriff des „Mitglieds" verwendet es lediglich im Hinblick auf die - gewählten - Mitglieder der Vollversammlung § 5 Abs. 1). Da das kompetentielle Fundament dieser eigenwilligen Terminologie indessen längst zerfallen ist, werden die Kammerzugehörigen im folgenden im Sinne einer einheitlichen Körperschaftsdogmatik als Mitglieder bezeichnet. 18 Siehe dazu eingehend unten 14. Kap. I I 3. 19 Es ist daher durchaus kein semantischer Zufall, daß der Begriff der (Selbstverwaltungs)Körperschaft den Corporationsbegriff des ALR erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als dogmatische Kennzeichnung der Kammern ablöst (ebenso Bieback, Anm. 8, S. 332). Noch Rosin beispielsweise führt sie in seiner 1886 veröffentlichten Monographie über „Das Recht der öffentlichen Genossenschaften" nicht auf. 20 GS, S. 134 ff. 21 GS, S. 343 ff.

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regierung ist" 2 2 . § 1 faßte diese Zweckbestimmung in einer klassisch gewordenen und von nahezu allen späteren Handelskammergesetzen übernommenen Weise zusammen: „Die Handelskammern haben die Bestimmung, die Gesammtinteressen der Handel- und Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen, insbesondere die Behörden in der Förderung des Handels und der Gewerbe durch thatsächliche Mittheilungen, Anträge und Erstellung von Gutachten zu unterstützen". Die Kammern haben von jeher dazu geneigt, aus dieser Aufgabenzuweisung die Ermächtigung herauszulesen, nach Art eines privaten Verbandes als eigenständige, nur ihren Mitgliedern verpflichtete Lobby zu agieren und gegebenenfalls auch die Regierungspolitik zu bekämpfen 23 . Dieses Selbstverständnis kann sich indessen nicht auf das preußische Kammergesetz berufen 24 . § 1 konzipiert die Interessenvertretung der Kammern nicht als eine gegenüber ihren sonstigen Aufgaben unabhängige Funktion, sondern versteht sie als begriffliche Zusammenfassung der beiden den Kammern vom Gesetzgeber auferlegten Aufgaben: ihrer Beratungsfunktion (gegenüber den staatlichen Behörden) und ihrer Verwaltungsfunktion. Einen eigenen, über diese beiden Aufgaben hinausgehenden normativen Gehalt besitzt „die Bestimmung, die Gesammtinteressen der Handel- und Gewerbetreibenden ... wahrzunehmen" nicht. Dies erhellt bereits aus der Konkretisierung des Begriffs „Gesammtinteresse" durch die detaillierte Aufzählung der Kammeraufgaben in § 1, die keinerlei Anhaltspunkt für eine Kompetenz der Kammern bietet, losgelöst von der Bindung an das von der Staatsregierung konkretisierte Gemeinwohl, gesellschaftliche Interessen zu vertreten 25 . Auch die Urheber des Kammergesetzes haben ihn in der oben skizzierten Weise verstanden. So hat der Kommissionsbericht zum Kammergesetz von 1870 die Schilderung der vorhandenen Zustände und die Erstattung von

22 Das Zitat ist einer bei Fischer (Anm. 8), S. 72 f., wiedergegebenen Zusammenfassung der Ausschußberatungen zum Gesetz von 1870 durch den Berichterstatter Jakobi entnommen. 23 Zur faktischen Handhabung der Interessenvertretungsaufgabe W. Fischer (Anm. 8), S. 69 - 84 und Wülker (Anm. 8), S. 56 - 65 sowie unten I I 4 c. 24 Naturgemäß hat es sich dessen ungeachtet auch in der Verwaltungsrechtslehre Ausdruck verliehen. Seine derzeit rührigsten Sprachrohre sind Ludwig Fröhler und Peter Oberndorfer, die es in einer Vielzahl von Veröffentlichungen publik gemacht haben. Beispielhaft seien hier genannt: Fröhler/Oberndorfer, Körperschaften des öffentlichen Rechts und Interessenvertretung, S. 38 f. und Oberndorfer, Interessenvertretung durch Körperschaften des öffentlichen Rechts als gesellschaftliche Selbstverwaltung, in: Wirtschaft und Verwaltung, 1979, S. 129 - 144, hier: S. 133. 25 Ebenso schon Pr OVG 19, S. 62, 67 f. Das Gericht betont, die Schaffung der Handelskammern habe es „keineswegs nur auf die Organisation einer bloßen Interessenvertretung, sondern wesentlich auch gerade auf die Berufung der Handelskammern zu Hilfsorganen der Staatsregierung abgesehen". Es betrachtet als Aufgabe der Kammern ebenfalls die Wahrnehmung von Verwaltungsfunktionen sowie die beratende Behördenunterstützung, wobei es letztere - unter Verweis auf das Wortlautargument - als „den Schwerpunkt der Bestimmung der Handelskammer" herausstellt.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Gutachten als die beiden Aufgaben der Handelskammern bezeichnet 26 , und auch die Entstehungsgeschichte der Novelle von 1897 dokumentiert, daß die Interessenvertretung keine den anderen Kammeraufgaben gegenüber eigenständige Funktion darstellte. Besonders deutlich wird dies in § 2 des Berleppschen Entwurfs von 18 9 6 2 7 : „Die Handelskammern haben zur Erfüllung ihrer Aufgaben die Behörden in der Förderung des Handels und der Gewerbe durch thatsächliche Mittheilungen, Anträge und Erstattung von Gutachten zu unterstützen. Sie haben sich über solche Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung zu äußern, die die allgemeinen Interessen von Handel und Gewerbe oder die besonderen Interessen der Handel- und Gewerbetreibenden der betheiligten Bezirke berühren. Sie sind verpflichtet, die Verwaltungsaufgaben zu erfüllen, die ihnen durch Gesetz übertragen sind, und befugt, Anstalten, Anlagen und Einrichtungen, welche die Förderung von Handel und Gewerbe sowie die technische, geschäftlich und sittliche Ausbildung der darin beschäftigten Gehülfen und Lehrlinge bezwecken, zu begründen, zu unterhalten und zu unterstützen" 28 . Im Lichte dieser Aufgabenzuweisung erscheint es durchaus zutreffend, von einer Doppelstellung oder doppelten Aufgabe bzw. Funktion der Handelskammern - und auch der Handwerkskammern - zu sprechen 29 . Nur bestand sie eben nicht darin, einerseits Aufgaben mittelbarer Staatsverwaltung und andererseits außerhalb des Staatlichen liegende Interessenvertretungsaufgaben wahrzunehmen 30 , sondern darin, sowohl als konsultatives Hilfsorgan der Behörden wie auch als entscheidungsbefugtes Verwaltungsorgan zu fungieren 31 . Daß die Interessenvertretung lediglich die begriffliche Zusammenfassung dieser Aufgaben und keine ihnen gegenüber eigenständige „dritte Kraft" war, betonte Lusensky ausdrücklich 32 . Da demzufolge ihre sämtlichen Aufgaben - sowohl die beratenden als auch die vollziehenden - den Kammern einen Platz innerhalb der staatlichen Funktionssphäre zuwiesen, waren sie, funktionell betrachtet, in der Terminologie der heutigen Dogmatik zur Gänze Träger mittelbarer Staatsverwaltung 33 . 26

Lusensky, Gesetz über die Handelskammern, S. 50. Der Entwurf wurde zwar vom preußischen Abgeordnetenhaus abgelehnt, die Gründe hierfür lagen jedoch in anderen Bestimmungen als dem hier zitierten § 2, der lediglich § 1 des H K G v. 1870 konkretisieren und verdeutlichen sollte und - da dieser von der Novelle von 1897 unverändert übernommen wurde - insoweit auch zur Interpretation herangezogen werden kann. 28 Zitiert nach Lusensky (Anm. 26), S. 51. 29 So bereits Lusensky (Anm. 26), S. 34, 51 und nach ihm viele andere; neuestens Oberndorfer (Anm. 24), S. 133. 30 So aber Oberndorfer (Anm. 24), S. 133. 31 So ausdrücklich Lusensky (Anm. 26), S. 34, 51 sowie der Regierungsentwurf (Anm. 27) und die Rechtsprechung (Anm. 25). 32 Seinen Ausführungen kommt besondere Bedeutung zu, da er nicht nur Kommentator, sondern auch - als Referent - Autor der Kammernovelle von 1897 war. 33 So bereits der Sache nach PrOVG 19, S. 62, 67 und Lusensky (Anm. 26), S. 34, 51. 27

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Die Einbettung der Interessenvertretung der Kammern in die staatlichen Funktionen hat ihre Bindung an deren Inhalt und Grenzen zur Folge. Ebensowenig wie den anderen „Hilfsorganen der Regierung" 34 stand den Kammern mithin ein eigenständiger, politischer Gestaltungsauftrag zu. Das von der Regierung definierte Gemeinwohl band auch sie, ihre Interessenvertretungsfunktion stellte dem privaten Lobbyismus keinen Freifahrschein aus, sondern berechtigte lediglich dazu, die Auffassungen und Wünsche der Mitglieder den staatlichen Behörden in den vom Gesetz vorgesehenen Formen zu unterbreiten. Deren Entscheidungen indessen, sowie die handels- und wirtschaftspolitische Orientierung der Regierung überhaupt, hatten die Kammern zu akzeptieren und auch intern zu vertreten; sie zu bekämpfen wäre eine - rechtswidrige - Überschreitung der ihnen durch das Kammergesetz zugewiesenen Kompetenzen gewesen35. Hat bislang die Tätigkeit der Kammern als Anreger, Berater und Gutachter der Behörden im Mittelpunkt gestanden, so soll im folgenden ihr zweites Standbein, die Verwaltungsfunktion im engeren Sinne, kurz skizziert werden. Entgegen dem ersten Anschein umfaßte sie im zeitgenössischen Verständnis nicht nur auf die Kammern delegierte, dem modernen Wirtschaftsstaat notwendig zukommende Organisations- und Überwachungsfunktionen - genannt seien die Börsenaufsicht, die Ausstellung von Bescheinigungen, die Erteilung von Berufsgenehmigungen in staatlich reglementierten Berufen, die Bestellung von Revisoren und die Nominierung von Handelsrichtern 3 6 - , sondern auch die Aufgabe, Handel und Gewerbe nach eigenem Ermessen durch Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur zu fördern. Eine gesetzliche Grundlage fand dieser von den Kammern ganz im Sinne moderner staatlicher Wirtschaftsförderung vorangetriebene Aufbau und Betrieb von Bildungsstätten sowie von Börsen, Lagerhäusern, Verkehrsanlagen u. a. 37 allerdings erst durch § 38 Abs. 2 der Novelle von 1897. Naturgemäß war der Gestaltungsspielraum der Kammern hier sehr viel größer als im Bereich ihrer gesetzlich präzise durchnormierten Ordnungs- und Überwachungsfunktionen.

34 p r 0 V G 19, S. 62, 67; zustimmend Lusensky (Anm. 26), S. 60. 35 Die organisationsrechtliche Stellung der Kammern (dazu unten bb) als abhängige Glieder der Staatsverwaltung wird diese funktionell-rechtlich abgeleitete Interpretation der Interessenvertretungsaufgabe bestätigen. 36 Eingehend hierzu Lusensky (Anm. 26), S. 50 f. sowie dessen Kommentierung von §§ 38 - 4 2 HKG. Im Bereich dieser Aufgaben besaßen die Kammern auch Eingriffsbefugnisse, während dies im übrigen nicht der Fall war. 37 Eingehend dazu Lusensky (Anm. 26), S. 177 ff.; Frentzel/Jäkel, Die deutschen Industrie- und Handelskammern und der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 28 f., 47 f.

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bb) Die Rechtsstellung der Handelskammern Hinsichtlich der Statusbestimmung der Kammern zeigte der preußische Gesetzgeber, den Übergangscharakter der Situation erahnend, eine Scheu vor klaren Entscheidungen. Während das Kammergesetz von 1870 in dieser Frage völliges Schweigen bewahrte, erklärte § 35 Abs. 1 der Novelle von 1897 die Kammern immerhin zu juristischen Personen. Ob sie damit Körperschaften im modernen genossenschaftlichen Sinne waren oder ob es dem Kammergesetz allein um die Gewährleistung der Rechtsfähigkeit ging, läßt sich im Rahmen einer isolierten Analyse des § 35 Abs. 1 nicht feststellen. Hierzu ist es erforderlich, die übrigen Bestimmungen des Gesetzes zu Rate zu ziehen. (1) Die Binnenorganisation

der Handelskammern

Das Handelskammergesetz von 1870 hat den aristokratisch-ständischen Charakter der älteren Kammergesetze sowie -statute ein gutes Stück weit abgebaut und sich der Sache nach stark an die gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschend gewordene moderne mitgliedschaftliche Körperschaftskonzeption angenähert: Anders als dem älteren Kammerrecht lag seinem Regelungsmodell das Prinzip der Kongruenz von Betroffenheit, Beitragspflicht und Mitwirkungsberechtigung zugrunde 38 , letztere stand sogar allen Kammerangehörigen in gleicher Weise zu. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als das Gesetz ebenso wie die alten Kammerstatuten die Beiträge der Kammerangehörigen nach ihrem Steueraufkommen bemessen hat. Der Gesetzgeber optierte mithin gegen eine Abstufung der Mitgliedschaftsrechte nach Maßgabe der Mitgliedschaftslasten. Sein Organisationsmodell ist somit das des demokratischen Staates: Verteilung der finanziellen Lasten nach dem Maßstab des finanziellen Vermögens, Verteilung der staatsbürgerlichen Rechte nach dem Prinzip der Gleichheit. Anders die Novelle von 1897. Ganz auf der Linie des konservativen Zeitgeists, war sie in den Kategorien eines ökonomischen Klassendenkens befangen und nahm die egalitär-demokratische Konzeption des Kammergesetzes von 1870 wieder ein gehöriges Stück weit zurück, indem sie das Dreiklassenwahlrecht zum gesetzlichen Regelwahlmodell erhob. Das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen gleichem und Klassenwahlrecht i m 38 Allerdings ermöglichte § 3 Abs. 2 es, für einzelne Kammern die Wahlberechtigung von einem bestimmten Steueraufkommen abhängig zu machen und so die kleinen Gewerbetreibenden den Kammern gegenüber in eine bloße Pflichtstellung ohne jegliche Mitwirkungsrechte zu zwingen. Häufig in Anspruch genommen, hat diese Ermächtigung das gesetzliche Regelungsmodell in nicht geringem Umfange unterminiert und so den Boden bereitet für die 1897 erfolgte Änderung der gesetzlichen Wahlvorschriften. Eingehend hierzu Lusensky (Anm. 26), S. 115 f.

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Gesetz von 1970 wurde somit umgekehrt 39 . Im Ergebnis setzte sich das allgemeine und gleiche Wahlrecht während des Kaiserreichs in 46 von 90 preußischen Handelskammern durch 40 . Immerhin hielt auch die Novelle am Dreiklang Betroffenheit-Beitragsverpflichtung-Wahlberechtigung und damit am Grundprinzip des mitgliedschaftlichen Körperschaftsmodells fest. (2) Die Stellung der Handelskammern im Staatsaufbau Für den Status der preußischen Handelskammern ebenso prägend wie ihre Binnenorganisation war ihr Verhältnis zum Staat. Auch insoweit muß die Untersuchung allerdings mit der Feststellung einsetzen, daß das Kammergesetz sich eindeutiger Aussagen enthält. Aus der Perspektive des geltenden Rechts liegt es, zumal in Anbetracht der mitgliedschaftlichen Binnenorganisation der damaligen Kammern, nahe, sie mit den Augen der heutigen Dogmatik zu betrachten. Bieback 41 vertritt denn auch die Auffassung, die preußischen Handelskammern hätten spätestens mit der Novelle von 1897 die volle Selbstverwaltung erlangt. Nimmt man diese These beim Wort, so sagt sie, daß die Handelskammern im Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten lediglich der staatlichen Rechtsaufsicht unterlagen. Ob dies zutrifft, soll im folgenden eingehender untersucht werden. Dies zum einen im Hinblick auf die exemplarische Bedeutung der Aufsichtsregelungen des Handelskammergesetzes für die Gestalt der Staatsaufsicht im Konstitutionalismus überhaupt, zum anderen deshalb, weil gerade die dogmatische Geschichte des Begriffs der Aufsicht enthüllt, wie ungesichert die verbreitete Annahme ist, Kontinuität der Gesetzessprache 42 impliziere Kontinuität des Normgehalts. Dem Begriffe nach war die Selbstverwaltung den Kammergesetzen des 19. Jahrhunderts unbekannt; es bleibt mithin die Frage, ob sie der Sache nach gewährleistet war. Die Handelskammergesetze von 1848 und 1870 enthielten weder Bestimmungen über die Rechtsnatur der Kammern noch über Inhalt und Grenzen der staatlichen Aufsichtsbefugnisse. Maßgeblich blieben insofern die Bestimmungen des preußischen ALR. Danach waren die Kammern dem Staat untergeordnete Corporationen, die seiner ungeschränkten Aufsicht unterlagen 43 . 39 Dies war auch die Absicht des Gesetzgebers: im einzelnen dazu Lusensky (Anm. 26), S. 28, 36 f., 91 ff. Allerdings war die Änderung gegenüber dem vorherigen Rechtszustand de facto weniger gravierend als de iure, weil in einer Reihe von Kammern, wie dargelegt (Anm. 38), ohnehin ein Zensus galt. Erhebt man diese Sachlage zum Maßstab, so brachte die Novelle sogar einen gewissen Fortschritt, da sie - wenn auch auf Kosten der Gleichheit - doch immerhin die Allgemeinheit der Wahl gewährleistete. 40 W. Fischer (Anm. 8), S. 75. (Anm. 8), S. 232. 42 Der Begriff der „Aufsicht" findet sich in allen Kammergesetzen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

7 Emde

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Die Novelle von 1897 brachte gegenüber dieser Rechtslage zwei wesentliche Neuerungen. Zum einen ernannte sie die Kammern ausdrücklich zu juristischen Personen, zum anderen enthielt sie detaillierte Regelungen über die jeweiligen Befugnisse von Staat und Kammern. So unterwarf sie diese ausdrücklich der staatlichen Aufsicht (§43) und band ihre ohnehin spärlichen Rechtsetzungsbefugnisse - die Satzungen, Statute genannt, der Kammern waren staatlich oktroyiert - stets an das Erfordernis einer ministeriellen Genehmigung. Den Kontrollmaßstab der Genehmigungsentscheidung sowie der allgemeinen Staatsaufsicht spezifizierte indessen auch die Gesetzesnovelle nicht. Allerdings bereitete die Frage Staatspraxis und Wissenschaft keinerlei Kopfzerbrechen. Übereinstimmend sah man in der Novelle keinen Bruch mit der bisherigen Tradition und ging ganz unbefangen davon aus, daß auch sie den Handelsminister dazu ermächtige, eine umfassende, nicht auf die Rechtskontrolle beschränkte Aufsicht über die Handelskammern auszuüben 44 . Die preußische Staatsführung hielt denn auch das Recht des Handelsministers, den Kammern Anordnungen in bezug auf ihre Verwaltungsaufgaben und ihre Geschäftsführung zu erteilen, „für einen selbstverständlichen Ausfluß des staatlichen Aufsichtsrechts", der keiner ausdrücklichen Festsetzung bedürfe 45 . In Anbetracht dessen erstaunt es nicht, daß Lusensky die den Kammern vom Regierungsentwurf eingeräumte Freiheit der Meinungsäußerung bei ihrer gutachtlichen Tätigkeit als besonderes „Zugeständnis des Staates" empfand 46 . Aus heutiger Sicht weckt diese Umkehr der dogmatischen Prinzipien - umfassende Weisungsbefugnisse als Regelfall der Staatsaufsicht, Rechtsaufsicht als normierungsbedürftige Ausnahme - auf den ersten Blick Skepsis und Befremden; im Kontext des damaligen sich nur mühsam des spätabsolutistischen Erbguts entledigenden Verhältnisses von Staat und verselbständigten Verwaltungseinheiten ändert sich dieser Eindruck jedoch alsbald. Wie bereits angedeutet, beruhte der absolutistische Staat auf dem Dogma, er allein sei dazu berufen, „durch eine einheitliche und alles beherrschende Staatsgewalt, den Staatszweck, das allgemeine Wohl, zu verwirklichen" 4 7 . Für die Verbände und Gesellschaften hatte das ihre ausnahmslose und vollständige Unterwerfung unter die Lenkung und Kontrolle des Staates zur Folge. Ausdruck dieser Staats- und Rechtsauffassung ist auch das preußi43 Vgl. §§ 2, 4, 25 ff. I I 6; § 69 I I 10; §§ 3 und 13 I I 13 ALR; ebenso PrOVG, Bd. 19, S. 62, 67 f.; Bieback (Anm. 8), S. 52 - 55, der zu Recht darauf hinweist, daß die Corporationen des ALR auf Grund der umfassenden staatlichen Aufsichtsbefugnisse anstaltliche Züge trugen und daher den modernen (Selbstverwaltungs)Körperschaften nicht gleichgestellt werden können. 44 So ausdrücklich Lusensky (Anm. 26), S. 200 - 202. 45 So die Begründung des der Novelle von 1897 zugrundeliegenden Regierungsentwurfs eines neuen Handelskammergesetzes im Jahre 1896, zitiert nach Lusensky (Anm. 26), S. 200. 46 Ebd. 47 Bieback (Anm. 8), S. 47.

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sehe ALR, welches sämtliche Personenvereinigungen einer umfassenden staatlichen „Oberaufsicht" unterstellte 48 und insbesondere die Corporationen darüber hinaus in die Staatsverwaltung überführte und so „eine entscheidende Mitwirkung der Corporationsmitglieder an der Verwaltung der Corporation sowie eine eigenständige Willensbildung und Willensrealisierung der Corporationsorgane" unmöglich machte 49 . Aus dieser völligen Überformung der Corporationen durch den absolutistischen Staat wird deutlich, daß sie staatliche Aufgaben erfüllten, und dies nicht in der Form der Selbstverwaltung, sondern als ministeriell gelenkte und lediglich organisationsrechtlich verselbständigte Instrumente des Staates. Der umfassende Herrschaftsanspruch des Staates über die Corporationen wurde schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die auf der Steinschen Städteordnung 50 gründende Idee der Selbstverwaltung 51 - verstanden als nur der staatlichen Rechtsaufsicht unterworfene Verwaltung durch Gemeinden und (andere) Genossenschaften - der Kampf angesagt52. Der mit der Städteordnung eingeleitete Prozeß der allmählichen Zurückdrängung des absolutistischen Herrschaftsanspruchs darf indessen über zweierlei nicht hinwegtäuschen. Zum einen darüber, daß der moderne Begriff der Selbstverwaltungskörperschaft sich selbst in der Wissenschaft erst kurz vor der Jahrhundertwende endgültig durchsetzte 53 , und zum anderen über die Tatsache, daß der spätkonstitutionelle Gesetzgeber nicht geneigt war, sich stets und grundsätzlich dieser dogmatischen Konzeption zu unterwerfen. Die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und juristischen Personen des öffentlichen Rechts war für ihn naturgemäß keine Frage des dogmatischen 48

Ebenso und eingehend hierzu Bieback (Anm. 8), S. 52 - 55. Ebenso und eingehend hierzu Bieback (Anm. 8), S. 52 - 55. so GS von 1808, S. 324 ff. 51 Dazu Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, insb. S. 29 ff., 117 ff., 310 f.; v. Gierke, Die Stein'sche Städteordnung; Heffter, die deutsche Staatsverwaltung im 19. Jahrhundert, insb. S. 84 ff. 52 Bemerkenswerterweise hat auch die während des kurzen Frühlings der Reformgesetzgebung zustandegekommene Städteordnung den Staat nicht zur Gänze auf die Rechtsauf sieht zurückgedrängt. § 1 behielt ihm vielmehr das „oberste Aufsichtsrecht" über die Städte vor, soweit nicht in der Städteordnung auf eine Teilnahme des Staats an der Kommunalverwaltung ausdrücklich Verzicht geleistet wird. Da dies i n wichtigen Bereichen nicht geschah (Beschwerden von Bürgern, Statutengenehmigung, Magistratswahlen, Polizeigewalt - vgl. § 2 StO und Heffter, Anm. 51, S. 96) blieb der Staat insoweit an der Kommunalverwaltung beteiligt. Wie groß der Schatten war, den das alte, absolutistische Staatsverständnis über das neue liberale Gewand zu werfen vermochte, zeigte bereits die Interpretation des Gesetzentwurfs durch den zuständigen Minister. Er (Altenstein) erklärte, die Einwirkung des Staats beschränke sich in Zukunft auf „die bloße Aufsicht, daß nichts gegen die Zwecke des Staates vorgenommen und die bestehenden Gesetze befolgt werden" (Zitat nach Ernst v. Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg, S. 316). 53 Seine allmähliche Überwindung sowohl des absolutistischen Corporationsbegriffs des ALR als auch des Gneistschen Modells der „politischen Selbstverwaltung" ist aufgezeichnet worden von Heffter (Anm. 51), S. 731 ff., insb. S. 742 f. und Bieback (Anm. 8), insb. S. 329 - 357. 49

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Bekenntnisses, sondern eine politische Sachentscheidung - sie mußte nicht unbedingt stets und sie mußte nicht für alle juristischen Personen den gleichen Inhalt haben. Zumal bei der Interpretation des Kammergesetzes von 1897 ist daher zu bedenken, daß es nicht das Ziel verfolgte, das Verhältnis von Staat und Kammern auf ein grundsätzlich neues, staatsferneres Fundament zu stellen. Hierzu bestand auch kein Anlaß, war doch der staatliche Charakter der Tätigkeit der Kammern unbestritten. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als doppelter perspektivischer Fehler, wenn man - wie Bieback 54 - den heutigen Körperschaftsbegriff an die damaligen Handelskammern heranträgt und zudem noch das Recht auf Selbstverwaltung zum Wesenselement der Körperschaft hypostasiert. Schon dem von Bieback vertretenen demokratischen Körperschaftsbegriff entsprachen die damaligen Handelskammern wie dargelegt nur sehr bedingt, vor allem aber bietet die Novelle von 1897 keine Anhaltspunkte für eine Zurückdrängung des Staates auf die Rechtsauf sieht 55 . Es ist denn auch in der Rechtsprechung und der Verwaltungsrechtswissenschaft der Jahrhundertwende - soweit ersichtlich - unbestritten gewesen, daß die Kammern weiterhin der staatlichen Fachaufsicht unterlagen. Alle maßgeblichen Autoren der damaligen Zeit haben die Kammern als Glieder des staatlichen Verwaltungsorganismus angesehen, und niemand hat sie als Selbstverwaltungskörperschaften im heutigen Sinne betrachtet 56 . Zieht man aus diesen Überlegungen sowie aus der staatlichen Funktion der Handelskammern die Summe, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß sie während der gesamten Dauer des kaiserlichen Deutschland der staatlichen Fachaufsicht unterliegende, abhängige Glieder des staatlichen Verwaltungsorganismus ohne eigenständige Gestaltungsbefugnisse waren 5 7 ; von Selbstverwaltung im heutigen Sinne konnte mithin nur bei ihrer beratend-begutachtenden Tätigkeit die Rede sein 58 . Das preußische Oberverwal54 (Anm. 8), S. 332. 55 Wenn Bieback seine Auffassung auf die Entscheidung des PrOVG im 19. Bd. (S. 62, 67 f.) stützt, so übersieht er, daß gerade sie den Begriff der Körperschaft im alten landrechtlichen Sinne gebraucht und die Kammern ausdrücklich als untergeordnete Hilfsorgane der Regierung einstuft. 56 Vgl. etwa Loening, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts (1884), S. 525; G. Meyer/F. Dochow, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 3. Aufl. 1910, S. 236; auch Rosin (Anm. 19) erwähnt in seiner 1886 in Freiburg erschienenen Abhandlung über die Selbstverwaltungseinrichtungen des kaiserlichen Deutschland die Handelskammern nicht, obschon Baden doch bereits seit 1878 ein Kammersystem besaß, welches das preußische Kammergesetz von 1897 vorwegnahm (so Bieback, Anm. 8, S. 323). Lusensky (Anm. 26) schließlich bezeichnet die Kammern zwar gelegentlich als „Selbstverwaltungsorgane" (S. 40), er verwendet den Begriff jedoch - aus heutiger Sicht - in einem untechnischen Sinne, betont doch gerade er stets das umfassende Aufsichtsrecht des Staates (S. 200 f.). 57 Ebenso Loening (Anm. 56), S. 525; Meyer/Dochow (Anm. 56), S. 236; Lusensky (Anm. 26), S. 34, 43, 50 f., 55 - 62, 145 f.

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tungsgericht hat diese Rechtslage in seiner bereits mehrfach erwähnten Entscheidung aus dem 19. Band in einer auch heute noch beeindruckenden Klarheit herausgearbeitet 59 : Die Interessenvertretungsfunktion der Kammern schließe es nicht aus, diese „zugleich als vom Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben berufene - theils konsultative, theils sonst mitwirkende - Hülfsorgane zu qualifizieren, als Organe, welche - in dieser Eigenschaft eingegliedert in die Staatsverfassung - in der That, zu dem ihm untergeordneten Körperschaften im Sinne des mehrerwähnten § 69 (II 10 ALR) gehören. Bedeutsam ist an sich schon, daß der Staat überhaupt den Weg der Gesetzgebung dazu betreten hat, den Boden für den Aufbau und eine gedeihliche Wirksamkeit der Handelskammern zu schaffen oder dort zu ebnen, während er die Vertretung anderer Interessen, beispielsweise auf dem Gebiete der Landwirtschafth, lediglich dem freien Vereinigungsrechte überläßt, bedeutsamer noch die Art und Weise dieser gesetzlichen Regelung, welche unschwer erkennen läßt, daß es dabei keineswegs nur auf die Organisation einer bloßen Interessenvertretung, sondern wesentlich auch und gerade auf die Berufung der Handelskammern zu Hülfsorganen der Staatsregierung abgesehen war". Und weiter: „So verlegt auch das Gesetz vom 24. Februar 1870 ... schon im § 1 den Schwerpunkt der Bestimmung der Handelskammer („insbesondere") gerade in die Unterstützung, welche sie der Staatsregierung in der Förderung von Handel und Gewerbe durch thatsächliche Mittheilungen, Anträge und Gutachten gewähren soll... Damit hat sich der Staat nicht nur ein Organ geschaffen, welches ihn in der Fürsorge um Handel und Verkehr mit seinen Erfahrungen berufsmäßig unterstützen soll, sondern auf dasselbe auch Befugnisse und Pflichten, welche sonst und an sich nur durch eigentliche Staatsbehörden auszuüben sein würden, übertragen ...".

c) Die Handelskammern in der Zeit der Weimarer Republik Die Verwirklichung des Selbstverwaltungsprinzips brachte erst der demokratische Staat des 20. Jahrhunderts. Wenn auch die Gesetzeslage hinsichtlich der staatlichen Aufsichtsbefugnisse nach dem Ersten Weltkrieg keine grundlegende Änderung hervorbrachte, so muß doch ihre Interpretation die veränderten rechtsdogmatischen Rahmenbedingungen in Rechnung stellen. Nicht mehr die landrechtlich geprägte Konzeption des Verhältnisses von Staat und juristischer Person bildete das Interpretationsfundament der unverändert in Kraft befindlichen Aufsichtsregelungen des § 43 preuß. HKG, sondern die mittlerweile in der Wissenschaft fest etablierte und im Bereich der Kammern auch durch die Praxis der staatlichen Aufsichtsbehörden ins Werk gesetzte Auffassimg, öffentliche Körperschaften allgemein und speziell die Industrie- und Handelskammern unterlägen, sofern der Gesetzgeber nicht ausdrücklich etwas anderes anordne, lediglich der Rechtsaufsicht 60 . Im Lichte dieser Umkehrung der dogmatischen Vorzei58 Noch zugespitzter Bremer (Anm. 8), S. 142: „... von einer Selbstverwaltung im heutigen Sinne (kann) bei den damaligen Handelskammern nicht gesprochen werden", ss S. 62, 67 f.

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chen ist wohl davon auszugehen, daß die Handelskammern auch ohne eine ausdrückliche gesetzliche Verbürgung des Selbstverwaltungsrechts bereits in der Weimarer Republik jedenfalls praktisch lediglich der staatlichen Rechtsaufsicht unterworfen waren. Ähnlich folgenreich wie der allmähliche Wandel des Verhältnisses von Staat und Handelskammern war die Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers 61, das Dreiklassenwahlrecht als Regeltypus des Wahlverfahrens durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht - allerdings weiterhin segmentiert nach fachlichen Wahlgruppen 62 - zu ersetzen 63 . Die Bedeutung der Gesetzesänderung von 1921 liegt darin, daß ihr Grundprinzip - Aufspaltung der Wahl in Fachgruppen; innerhalb dieser allgemeines und gleiches Wahlrecht - bis auf den heutigen Tag für das Wahlverfahren der Industrieund Handelskammern und damit für ihre autonomen Legitimationsstrukturen prägend geblieben ist, vgl. § 5 Abs. 3 I H K G von 1956. 2. Zur Geschichte der Handwerkskammern 64

Auch im Bereich des Handwerks bildeten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts öffentlich-rechtliche Einrichtungen, die Innungen und die ihnen übergeordneten Handwerkskammern. Erstere knüpften in gewisser Weise wieder an die während der Ära des Wirtschaftsliberalismus abgeschafften Zünfte an, letztere orientierten sich am Vorbild der Handelskammern, die bis zum Jahre 1897 die Interessenvertretung der Handwerker wahrgenommen hatten 65 . a) Zu den Aufgaben der Handwerkskammern Die Aufgaben, die der damalige Gesetzgeber den Innungen und Kammern erteilt hat, obliegen ihnen - vielfältig modifiziert, insbesondere erweitert auch heute noch; es ist daher nicht erforderlich, sie an dieser Stelle im einzelnen aufzuzählen 66 . Lediglich die historischen Wurzeln der sog. Inter60 So Köster, Die Staatsaufsicht über die preußischen Industrie- und Handelskammern, S. 81. 61 GS 1921, S. 223. 62 Wegbereiter dieses Wahlverfahrens war § 10 Abs. 1 H K G v. 1897, der den Kammern das Recht gab, per Statut die Wahl nach - sei es finanziell, sei es branchenmäßig definierten - Abteilungen einzuführen; eingehend dazu Lusensky (Anm. 26), Bern. 2 zu § 10. 63 Die Befugnis der Kammern, durch autonome Satzung abweichende Wahlverfahren einzuführen, blieb von der Gesetzesänderung unberührt. 64 Siehe hierzu auch E. R. Huber (Anm. 8), S. 1010 ff.; Bieback (Anm. 8), S. 104 f., 224 f., 332; Hendler (Anm. 8), S. 98 ff. 65 Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 39. 66 Dazu unten I I I sowie Bieback (Anm. 8), S. 333.

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essenvertretungsfunktion der Kammern verdienen hier besondere Hervorhebung. Nach § 103 Abs. 1 GewO von 1897 67 , dem nunmehrigen § 90 Abs. 1 HO, wurden die Handwerkskammern „zur Vertretung der Interessen des Handwerks" errichtet. Die Begründung des Gesetzentwurfs verstand diese Aufgabenstellung in folgender Weise: „Die Handwerkskammer wird naturgemäß eine doppelte Aufgabe haben. Sie w i r d einmal die Gesamtinteressen des Handwerks und die Interessen der in ihrem Bezirk vorhandenen Handwerke gegenüber der Gesetzgebung und der Verwaltung des Staates zu vertreten haben ... Daneben wird sie als Selbstverwaltungsorgan die Aufgabe haben, diejenigen zur Regelung der Verhältnisse des Handwerks erlassenen gesetzlichen Bestimmungen, welche noch einer Ergänzung durch Einzelvorschriften bedürftig und fähig sind, für ihren Bezirk auszubauen, die Durchführung der gesetzlichen und von ihr selbst erlassenen Vorschriften in ihrem Bezirk zu regeln und, soweit erforderlich, durch besondere Beauftragte zu überwachen, und endlich solche auf die Förderung des Handwerks zielende Veranstaltungen zu treffen, zu deren Begründung und Unterhaltung die Kräfte der lokalen Organisation nicht ausreichen" 68 .

Gesetz und Gesetzesbegründung werden in der Literatur gelegentlich als Beleg dafür angeführt, daß die Handwerkskammern seit ihrer Entstehung befugt seien, die Interessen ihrer Mitglieder in gleicher Weise wie ein privater Verband zu vertreten, d. h. auch gegen eine dezidierte Regierungspolitik zu opponieren 69 . Diese Auffassung verkennt indessen die historische Rechtslage. Leitbild der gesetzlichen Statusbestimmungen der Handwerkskammern sind die Handelskammern gewesen. Dies lag in Anbetracht ihrer historischen Wegbereiterfunktion für das Kammerwesen überhaupt und insbesondere infolge der Abspaltung der Handwerkskammern aus den Handelskammern nahe. Wie eng die Koordination der Bestimmungen der GewO über die Handwerkskammern mit dem preußischen Handelskammergesetz war, zeigt schon rein äußerlich die Tatsache, daß die Handwerksnovelle zur GewO im gleichen Jahr verkündet wurde wie die Novelle des preußischen Handelskammergesetzes . Aber auch der Gehalt der gesetzlichen Regelungen stimmt in wesentlichen Punkten überein. Insbesondere weist die Aufgabenbestimmung des § 103 e GewO, die die Generalklausel des oben zitierten § 103 konkretisiert, den Handwerkskammern eben jene Doppelfunktion zu, die auch den Handelskammern eignet: Zum einen obliegen ihnen Vollzugszuständigkeiten im 67 RGBl 1897, S. 663 ff. Auch die nachfolgenden Ausführungen zur GewO beziehen sich auf ihre Fassung von 1897. 68 Zitiert nach Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 39. 69 So etwa Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 39, und Oberndorfer (Anm. 24), S. 131 - 137.

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Bereich der Wirtschaftsüberwachung sowie der Wirtschaftsförderung, zum anderen sind sie Konsultativorgane der Staatsregierung. Im Rahmen dieser Aufgabe sollen sie die Interessen der verkammerten Gewerbetreibenden zu Gehör bringen 70 . Die sehr detaillierte Aufzählung des § 103 GewO bietet keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die Vertretung der Interessen des Handwerks eine gegenüber der Konsultativ- und der Vollzugsfunktion des § 103 e eigenständige dritte Funktion der Handwerkskammern darstellen sollte. Projiziert man Begründung und Text der Generalklausel des § 103 GewO vor das Aufgabenmuster des § 103 e, so w i r d deutlich, daß die Apostrophierung der Interessenvertretung als Kammeraufgabe nicht die Ambition hat, den Kammern eine über die Aufgabennorm des § 103 hinausgehende weitere Aufgabe zuzuweisen, sondern keinen anderen Zweck verfolgt als den, ihre Konsultativfunktion in einer Weise zu nuancieren, die deren Prägung durch die Interessen des personellen Substrats der Kammern, der Handwerkerschaft, Ausdruck verkleiht. § 103 GewO ist eben nichts anderes als die programmatische Grundnorm der Handwerkskammern, enthält aber selbst keine eigenständigen Aufgabenzuweisungen. Auch in seinem Lichte erweist sich damit die Aufgabenstellung von Handels- und Handwerkskammern als parallel: Ebenso wie dort soll auch hier die Interessenvertretung durch die Wahrnehmung der - in § 103e - gesetzlich spezifizierten Kammeraufgaben vonstatten gehen. Eine Ausgliederung der Interessenvertretung aus dem staatlichen Funktionskreis und damit ihre Freistellung von der Bindung an das von Parlament und Regierung konkretisierte Gemeinwohl sowie ihre Freisetzung zu einem auch gegen den Staat gerichteten privaten Lobbyismus kann mithin aus den Regelungen der GewO nicht hergeleitet werden. Auch die Präposition „gegenüber" in der Gesetzesbegründung zu § 103 vermag diese Interpretation nicht zu erschüttern. Isoliert man sie nicht vom Gesamtkontext der Aufgabennormen, sondern integriert sie in diesen, so bezeichnet sie lediglich den Adressaten der Interessenvertretung der Kammern und drückt keinen Antagonismus zwischen Staat und Kammern aus. Im übrigen w i r d dieser funktionellrechtliche Befund ebenso wie im Falle der Handelskammern durch den - im folgenden aufbereiteten - organisationsrechtlichen gestützt und bestätigt: Auch die Handwerkskammern waren im Sinne der heutigen Dogmatik Träger mittelbarer Staatsverwaltung und mithin nicht außerstaatliche Interessenvertretungseinrichtungen.

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§ 103 e Abs. 1 Nr. 3, 4 Abs. 2.

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b) Die Rechtsstellung der Selbstverwaltungsorganisationen des Handwerks Ebenso wie das preußische Handelskammergesetz vermeidet es auch die GewO, die Rechtsstellung der Innungen und Handwerkskammern auf die Begriffe der verwaltungsrechtlichen Dogmatik zu bringen. Der Gesetzgeber konnte sich noch nicht einmal dazu durchringen, sie ausdrücklich als juristische Personen zu qualifizieren, selbst insofern wählte er den Weg der Umschreibung 71 . Einmal mehr dokumentiert diese Scheu vor begrifflichen Festlegungen den Umbruchcharakter der spätkonstitutionellen Ära: Auf der einen Seite hatte sich das Staatsverständnis des ALR und damit auch dessen dogmatisches System überlebt, auf der anderen Seite war die im Werden begriffene neue Dogmatik der rechtsfähigen Verwaltungseinheiten noch nicht so etabliert und so ausdifferenziert, daß ihre Begriffe bereits zum selbstverständlichen Handwerkszeug des Gesetzgebers gehörten. Es überrascht daher nicht, daß dieser sich gerade im Hinblick auf die Übergangsphänomene zwischen Staat und Gesellschaft wie insbesondere die vormals privatrechtlichen Innungen damit begnügte, Kompetenzzuweisungen vorzunehmen, und die Klassifikationsprobleme der Dogmatik überließ. Um so mehr aber ist diese aufgefordert, voreilige Deduktionen aus Allgemeinbegriffen zu unterlassen und sich an den konkreten gesetzlichen Regelungen in ihrem zeitgenössischen Verständnis zu orientieren. Beherzigt man diese Devise, so ist der Status der Innungen und Kammern anhand ihrer Stellung in der Gesamtrechtsordnung, ihres Verhältnisses zu Staat und Mitgliedern sowie ihre Binnenorganisation zu bestimmen. Befähigt, am Rechtsverkehr teilzunehmen, verfaßt durch ein vom Staat erlassenes Statut und ausgestattet mit einer Vielzahl öffentlich-rechtlicher, teilweise hoheitlicher Zuständigkeiten, waren die Innungen und Handwerkskammern nicht anders als die Handelskammern in den staatlichen Verwaltungsorganismus eingebettete juristische Personen des öffentlichen Rechts. Da der Staat sich ihnen gegenüber - anders als in bezug auf die noch stärker traditionell geprägten Handelskammern - im Prinzip auf die Rechtsauf sieht zurückgezogen hatte 7 2 , wird man sie darüber hinaus als 71

§ 86 GewO: „die Innungen können unter ihrem Namen Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, vor Gericht klagen und verklagt werden. Für ihre Verbindlichkeiten haftet den Gläubigern nur ihr Vermögen." 72 Vgl. §§ 96 sowie 103 h, ο GewO. Der Wortlaut des § 96 Abs. 2 ist allerdings nicht ganz eindeutig: „Die Aufsichtsbehörde überwacht insbesondere die Befolgung der gesetzlichen und statuarischen Vorschriften..." Man w i r d diese etwas irrlichternde Formulierung so verstehen müssen, daß dem Staat nur in besonderen Fällen die Befugnis zu fachaufsichtlichen Maßnahmen zustand. Die Steuerungsmöglichkeiten des Staates werden - abgesehen von den zahlreichen Genehmigungsvorbehalten noch dadurch erweitert, daß der nach § 103 h zu bestellende Staatskommissar voll in die Verwaltungstätigkeit der Kammern eingeschaltet war und über unbegrenzte Initiativrechte verfügte.

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Selbstverwaltungsträger betrachten können. Bereits deshalb erscheint es folgerichtig, die öffentlich-rechtlichen Handwerksorganisationen im Lichte der damaligen, noch nicht mit dem Phänomen der Selbstverwaltungsanstalt konfrontierten Dogmatik als Selbstverwaltungskörperschaften zu bezeichnen 73 . Flankierend kann diese Feststellung auf § 103 q GewO gestützt werden, aus dem erhellt, daß der Reichsgesetzgeber Handels- und Handwerkskammern als Körperschaften betrachtet 74 . Gleichwohl ist im Umgang mit der Qualifizierung der Handwerksorganisationen als Selbstverwaltungskörperschaften Vorsicht geboten. Nicht nur darf sie nicht dazu dienen, die doch noch beträchtlichen staatlichen Aufsichtsbefugnisse hinwegzueskamotieren, vor allem darf sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß Innungen und Kammern - wiewohl mitgliedschaftlich verfaßt - in manchem vom egalitär-demokratischen Körperschaftsmodell der verwaltungsrechtlichen Dogmatik abwichen 75 . Dazu im folgenden. c) Die Binnenverfassung

der Innungen und Kammern

Die Binnenorganisation und damit auch die autonomen Legitimationsstrukturen waren bei Innungen und Kammern durchaus unterschiedlich ausgestaltet. Erstere bestanden aus den Handwerkern eines Bezirks 76 ; Lehrlinge und Gesellen waren nicht Innungsmitglieder, §§ 81, 87 und 95 GewO. Die Gesellen allerdings besaßen ein Vertretungsorgan, den in allgemeiner und gleicher Wahl gewählten Gesellenausschuß, welcher an allen sie sowie die Lehrlinge betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden mußte, § 95 Abs. 2 und 3 GewO. Sie verfügten insoweit über eine Vetoposition, § 95 Abs. 4 Satz 1 GewO. Den Lehrlingen demgegenüber standen keinerlei Mitwirkungsrechte zu 7 7 . Die Wahl der Beschlußorgane und die Abstimmungsverfahren hat die GewO nicht selbst geregelt, sie verpflichtete vielmehr die Innungen, diese Frage durch autonome Satzung zu entscheiden. Sowohl die Einführung eines Klassenwahlrechts oder eines sonstwie nach Steueraufkommen oder 73

Ebenso E. R. Huber (Anm. 8), S. 1012, F N 91; Bieback (Anm. 8), S. 332 f. Die Tragweite dieser Erwägung ist allerdings ungewiß, da es zweifelhaft erscheint, ob der Gesetzgeber der GewO mit dieser versteckten Wendung den modernen Körperschaftsbegriff institutionalisieren wollte. 75 Dies entgeht Bieback (Anm. 8), S. 347 - 352. 76 Bei Zwangsinnungen waren sämtliche Handwerksmeister Innungsmitglieder, § 100 Abs. 1 GewO. 77 Die verfassungsrechtliche Problematik dieses Mitwirkungsausschlusses war allerdings auch abgesehen davon, daß staatliche Verwaltung im monarchischen Staat keiner demokratischen Legitimation bedurfte, damals ungleich geringer, als sie es heute ist: die Lehrlinge waren fast stets minderjährig und verfügten somit noch nicht über die politischen Rechte des Staatsbürgers; zudem stand das Verhältnis LehrherrLehrling noch viel stärker im Banne der überkommenen Tradition einer Schutz- und Fürsorgebeziehung. 74

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Beitragshöhe gewichteten Stimmrechts als auch die des gleichen Wahlrechts aller Innungsmitglieder war demnach zulässig. Von einer demokratischen Binnenstruktur der Innungen konnte somit nur unter zwei Einschränkungen gesprochen werden: zum einen der Ausschluß der Lehrlinge von der Willensbildung der Innungsorgane und zum anderen die Befugnis der Innungsversammlung, Stimmgewichtungen nach dem Maßstab der w i r t schaftlichen Bedeutung der Mitglieder einzuführen. Eine gänzlich andere Organisationsstruktur als die Innungen wiesen die Handwerkskammern auf. Anders als heute bestand ihre Mitgliedschaft nicht aus den einzelnen Handwerkern sowie deren Gesellen und Lehrlingen. Auch die Mitgliedschaftsregelungen waren vielmehr repräsentativ ausgestaltet: Mitglieder waren lediglich die von den Innungen und Gewerbevereinen gewählten Vertreter, § 103 a GewO. Die Zahl der Mitglieder wurde durch das von der Landes-Zentralbehörde erlassene Statut bestimmt, §§ 103 a Abs. 1, 103 m Abs. 1; diese legte ebenfalls die Verteilung der zu wählenden Mitglieder auf die einzelnen Wahlkörper sowie das Wahlverfahren fest, § 103 a Abs. 3 GewO 78 . Die Kammerwahlen waren mithin kein einheitlicher und gemeinsamer Akt aller Wahlberechtigten, sondern zerfielen in eine Reihe voneinander unabhängiger Teilwahlen der im Kammergebiet ansässigen Innungen und Gewerbevereine. Demokratische und berufsständische Gestaltungsgedanken sind in der Organisationsverfassung der Handwerkskammern eine eigenwillige Symbiose eingegangen. Eines ihrer prägenden Strukturmerkmale, die Aufspaltung der Wahl der Mitglieder der Kammerversammlung in voneinander unabhängige, nach Fachgruppen geordnete Teilwahlen, ist bis heute erhalten geblieben. 3. Zur Geschichte der Kammern der freien Berufe 79

Die Geschichte der Ärzte-, Tierärzte-, Apotheker- und Rechtsanwaltskammern reicht in die gleiche Epoche zurück wie die der Handwerkskammern: Sie sind Gründungen des wilhelminischen Deutschland. Für ihre Genese, aber wohl auch für die Einschätzimg ihres späteren Werdegangs, ist die Tatsache von Bedeutung, daß die Verkammerung der akademischen Berufe kein Prozeß der Etatisierung, sondern im Gegenteil einer der 78 Ähnlich wie bei den Handelskammern war somit auch hier die Wahlrechtsgleichheit nicht gewährleistet. Die Einführung des Dreiklassenwahlrechts oder anderer, an der Finanzkraft der verkammerten Handwerker orientierten Wahlverfahren waren zulässig. Allerdings entschied hierüber - anders als im Bereich der Handelskammern - nicht die Kammer selbst. Insoweit war mithin die Reichweite der Satzungsautonomie der Handwerkskammern geringer. 79 Dazu eingehend Bieback (Anm. 8), S. 335 ff.; Brohm (Anm. 8), S. 61 ff.; Hendler (Anm. 8), S. 103 ff.

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zumindestens organisatorischen - Verselbständigung vom Staat war 8 0 . Wie H. Triepel 81 und in neuerer Zeit H. Hermann 82 eindrücklich dargelegt haben, waren die sogenannten „freien" Berufe bis zu ihrer Verkammerung nichts weniger als frei; es handelte sich, wenn nicht um Staatsbeamte im engeren Sinne 83 , so doch um staatlich stark gebundene Berufe; die Tradition des Absolutismus war hier noch lebendig. Bieback spricht zutreffend von einer „beamtenähnlichen Abhängigkeit vom Staate" 84 . Vor dem Hintergrund dieser Rechtstradition stellt sich die zumeist auf Betreiben der Betroffenen erfolgte Errichtung der „berufsständischen" Kammern als ein Moment der Emanzipation des selbständig gewordenen Bürgertums von überholten staatlichen Bindungen dar. Die Aufgabenstellung der damaligen Kammern enthält bereits den Kern der der heutigen. Die Kammern waren, wiewohl vom Vorbild der Handelskammern beeinflußt 85 , in viel geringerem Maße als diese mit Aufgaben der Leistungsverwaltung betraut. Ihr Schwergewicht lag auf der Standesaufsicht sowie auf der Beratung der staatlichen Behörden 86 ; häufig verdichtete sich letzteres zu einer regelrechten Initiativfunktion 8 7 . Daß Konsultation und Kooperation mit den staatlichen Behörden stets auch Momente der Interessenvertretung in sich bergen, versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst. Eigene Eingriffsbefugnisse standen den Kammern - mit Ausnahme der Beitragshoheit - in der Regel nicht zu 8 8 . Entscheidungsrechte gegenüber Nichtmitgliedern (Lehrlinge, Klienten) besaßen die Kammern ebenfalls grundsätzlich nicht. Das Maß an Verselbständigung gegenüber dem Staat war in vielen Kammergesetzen nicht eindeutig geregelt; teilweise wird keinerlei Bestimmung über die staatliche Aufsicht getroffen 89 , teilweise verankern die Gesetze zwar 80

Ebenso Bieback (Anm. 8), S. 335 ff. und Brohm (Anm. 8), S. 61 ff. Staatsdienst und staatlich gebundener Beruf. 82 Die „freien" Berufe - Herkunft, Wandlung und heutiger Inhalt des Begriffs, insb. S. 43 f. 83 Dies galt weithin für die Anwälte, teilweise auch für die Ärzte; näher dazu Triepel (Anm. 81), S. 21 ff., 49 ff.; Brohm (Anm. 8), S. 62. 84 (Anm. 8), S. 336. 85 Bieback (Anm. 8), S. 336. 86 Näher dazu Bieback, ebd. 87 Beispielhaft § 2 Bad. SanitätspersonalG v. 10. 10. 1906 (Gesetz- und Verordnungsblatt 1906, S. 491 f.) 88 Dies gilt nicht für die Rechtsanwaltskammern, sie waren nach § 49 RAO (RGBl 1878, S. 177 ff., 186) für die Standesaufsicht und für die Schlichtung von Streitigkeiten zuständig und besaßen gem. § 58 insoweit auch Eingriffsbefugnisse. Hinsichtlich der übrigen verkammerten Berufe lag die Standesaufsicht in den Händen der Ehrengerichte. Diese aber waren - wie bereits die Gesetzessystematik zeigt (deutlich: Bad Sanitätspers.G; versteckter: RAO) - keine Kammerorgane, sondern von den Kammern organisatorisch geschiedene, staatliche Einrichtungen; ebenso Triepel (Anm. 81), S. 29 f., 54 f.; a. A. Bieback (Anm. 8), S. 336. 89 Bay. Verordnung über die Ärztekammern v. 15. 7. 1895; württemb. Verfügung betreffend die ärztlichen, tierärztlichen und pharmaceutischen Vereine v. 30. 12. 1875. 81

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die Staatsaufsicht, enthalten aber keine klare Regelung des Aufsichtsmaßstabs und der Aufsichtsbefugnisse 90 . Die Rechtsanwaltsordnung allerdings stellte klar, daß dem Staat nur die Rechtsaufsicht über die Anwaltskammern zustand, § 59 RAO. Man wird hieraus - durchaus in Einklang mit der seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts sich auf dem Boden des modernen Selbstverwaltungsbegriffs zusammenfindenden Wissenschaft 91 schließen dürfen, daß, obschon die RAO den Begriff ebensowenig verwendet wie die übrigen Kammergesetze, bereits die Rechtsanwaltskammern des Kaiserreichs Selbstverwaltungskörper im modernen Sinne waren. In Anbetracht der nicht durch absolutistisch-landrechtliche Traditionen beeinträchtigten Vorreiterfunktion der Rechtsanwaltsordnung spricht manches dafür, diese dogmatische Qualifizierung trotz der dürren gesetzlichen Regelungen auch auf die übrigen Kammern der akademischen Berufe zu erstrekken 92 . Dies zumal deren geringes Maß an Herrschaftsbefugnissen eine intensivere staatliche Kontrolle entbehrlich machte und diese - wie aus dem historischen Lehrbeispiel der Handelskammern ersichtlich 93 - zu Friktionen mit der Interessenvertretungs- und Beratungstätigkeit geführt hätte. Aber nicht nur die Begrenzung der staatlichen Aufsichtsbefugnisse gibt dazu Anlaß, die Kammern der freien Berufe als Selbstverwaltungskörperschaften einzustufen, auch ihre Binnenorganisation bestätigt diese Qualifizierung. Als erste der in dieser Arbeit untersuchten Verwaltungseinrichtungen haben sie das vom Begriff der Selbstverwaltung gegebene Versprechen einer demokratischen Binnenorganisation wirklich eingelöst. Denn schon die Rechtsanwaltsordnung von 1878 hat - ebenso wie alle nachfolgenden Kammergesetze der freien Berufe - sämtliche Angehörigen des verkammerten Berufsstands zu gleichberechtigen Kammermitgliedern gemacht und insbesondere das allgemeine und gleiche Wahlrecht eingeführt. Auch enthalten die Kammergesetze der akademischen Berufe keine Regelungen, die Bindungswirkungen für Nichtmitglieder auslösen. Die Betonung des Selbstverwaltungsstatus der „akademischen Kammern" bedeutet indessen keine funktionelle Distanzierung vom Staat. Auch dort, wo sie nicht Aufgaben der Standesaufsicht wahrnehmen, sondern beratend, begutachtend und interessenvertretend tätig waren, sprengten sie doch nicht die Körperschaftskonzeption des spätkonstitutionellen Staates und blieben, ihren staatlichen Ursprüngen treu, Glieder des staatlichen Verwaltungsorganismus 94 . 90

§ 16 Bad Sanitätspers.G. Siehe dazu die Ausführungen zu den Handels- und Handwerkskammern sowie Triepel (Anm. 81), S. 30, 82 ff. 92 Ebenso Triepel (Anm. 81), S. 57 f., 82 ff. 93 Die aus den weitreichenden staatlichen Aufsichtsbefugnissen resultierenden Konflikte zwischen der Regierung und den Handelskammern sind dargestellt bei W. Fischer (Anm. 8), S. 77 - 80. 91

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II. Die Tätigkeit der Kammern Vielfältig wie die Erscheinungsformen der Kammern sind auch ihre Betätigungen 95 . Bereits deren gesetzliche Grundlagen schaffen recht verschiedenartige Aufgabentypen 96 , noch erweitert aber wird die Bandbreite durch die unterschiedliche Verwaltungspraxis der einzelnen Kammern 97 . Die wei- . teren Ausführungen orientieren sich deshalb, ihrem Charakter als Bestandsaufnahme entsprechend, auch am tatsächlichen Wirken der Kammern und nicht allein an den gesetzlichen Aufgabenzuweisungen. Unternimmt man es, die breite Palette der Aufgabenzuweisungen der Kammergesetze zu strukturieren, so fallen einige Funktionen ins Auge, die in sämtlichen Vorschriften gleichermaßen auftauchen. Sie stellen gewissermaßen den gemeinsamen Nenner der Kammerarbeit dar: -

Standesaufsicht 98 berufliche Aus- und Fortbildung 9 9 Sozial- und Altersfürsorge 100 Mitgliederberatung 101 Erbringung sonstiger Dienstleistungen für die Mitglieder 1 0 2 Streitschlichtung 103 (vor allem zwischen Mitgliedern und Auftraggebern, aber auch zwischen den Mitgliedern allein)

94 Ebenso Triepel (Anm. 81), S. 21 - 32, 55 - 58, 82 ff., der die beamtenähnliche Stellung der Anwälte und der Ärzte stark hervorhebt, ihre Tätigkeit als Erfüllung staatlicher Zwecke betrachtet und ihre besondere Verantwortung für ihre Berufsausübung dem Staate gegenüber betont. 95 Siehe hierzu auch Schick, Art.: Selbstverwaltung in Ev. Staatslex., Sp. 3115 ff.; Brohm (Anm. 8), S. 69 - 80; Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24); Fröhler, Interessenvertretung durch Körperschaften des öffentlichen Rechts? GewA 1972, S. 33. Zu den Industrie- und Handelskammern: Basedow, Die Industrie- und Handelskammern Selbstverwaltung zwischen Staat und Verbandswesen, in: BB 1976, S. 366 ff., insb. S. 371 ff.: Wülker (Anm. 8); Frentzel/Jäkel/Junge, Kommentar zum IHKG, Kommentierung zu § 1. Zu den Rechtsanwaltskammern: Tettinger, Zum Tätigkeitsfeld der Bundesrechtsanwaltskammer. 96 Die wichtigsten der im folgenden analysierten Zuweisungsnormen sind im Anhang abgedruckt. 97 Siehe hierzu insb. Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24) sowie Tettinger (Anm. 95), S. 33 ff., 163 ff. 98 Vgl. beispielsweise §§ 111 HO, 73 Abs. 1 Nr. 1 und 4 und 74 BRAO; § 1 Abs. 1 IHKG; § 4 Abs. 1 bwKammerG. 99 Vgl. §§ 54 Abs. 1 Nr. 3 bis 6, 91 Abs. 1 Nr. 4, 4a) und 7 HO, 73 Abs. 2 Nr. 9 und 10, 177 Abs. 2 Nr. 7 BRAO, § 1 Abs. 2 IHKG, § 4 Abs. 1 bwKammerG. 100 vgl. §§ 54 Abs. 3 Nr. 2, 91 Abs. 1 Nr. 12 HO; 89 Abs. 2 Nr. 3 BRAO; § 4 Abs. 4 und 5 bwKammerG. 101 Vgl. § 73 Abs. 2 Nr. 1 BRAO; 54 Abs. 1, 90 Abs. 1 und 91 Abs. 1 Nr. 1 HO; 1 Abs. 1 IHKG; 4 Abs. 1 bwKammerG. 102 Gemeint sind hiermit Serviceleistungen, die die beruflichen und wirtschaftlichen Belange der Mitglieder fördern sollen, vgl. etwa §§54 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2 Nr. 1, 87 Nr. 3 und 91 Abs. 1 Nr. 9 HO; § 1 Abs. 1 und 2 IHKG. Bei den berufsständischen Kammern werden die diesbezüglichen Aktivitäten auf die jeweilige Generalklausel gestützt.

3. Kap.: Die Kammern

111

- Beratung und Unterstützung der staatlichen Behörden; Gutachtenerstattung; Benennung von Kandidaten für die Handels- und Berufsgerichte; Wahrnehmung von Aufgaben der staatlichen Wirtschaftsverwaltung 104 - Interessenvertretung gegenüber Staat und Öffentlichkeit 105 . Systematisiert man die Aufgaben, so schälen sich folgende Grundfunktionen heraus: 1. 2. 3. 4. 5.

Berufliche Bildung Standesaufsicht Pflichtaufgaben der Wirtschaftsverwaltung i. e. S. Interessenvertretung nach außen Erbringung von Dienstleistungen für die Mitglieder 1 0 6 .

Werden sie auch von allen hier untersuchten Kammern wahrgenommen, so kristallisieren sich hinsichtlich ihrer jeweiligen Bedeutung doch gravierende Unterschiede heraus. Beides, Gemeinsamkeiten und Besonderheiten, sollen im folgenden näher ausgearbeitet werden. 1. Berufliche Bildung

Der Begriff der beruflichen Bildung umfaßt sowohl die Berufsausbildung als auch die Berufsfortbildung und die berufliche Umschulung 107 . Hinsichtlich der Zuständigkeiten, die den Kammern in diesem Bereich zukommen, besteht ein höheres Maß an Einheitlichkeit, als es bei ihren übrigen Aufgaben der Fall ist. Dies gilt vor allem seit Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes, in dem die Grundzüge der beruflichen Bildung zusammengestellt sind 1 0 8 . Allerdings hat auch hier die Einheitlichkeit den Preis der Freiheit gekostet: die ehedem umfangreichen eigenständigen Gestaltungsbefugnisse 103 Vgl. §§ 54 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 3 und 91 Abs. 1 Nr. 10 HO; 73 Abs. 2 Nr. 2 und 3 BRAO. 104 Vgl. §§ 54 Abs. 1 Nr. 8, Abs. 2 Nr. 2, 87 Nr. 4 und 91 Abs. 1 Nr. 2, 8 und 11, 73 Abs. 2 Nr. 5, 6, 8, 177 Abs. 2 Nr. 6 BRAO, § 4 Abs. 2 und § 21 bwKammerG; § 1 Abs. 1 und 3 IHKG; § 108 GVG; § 14 VergleichsO und § 126 FGG. 105 §§ 54 Abs. 2 Nr. 3, 87 Nr. 1 und 91 Abs. 1 Nr. 1 HO; 73 Abs. 1 und 2 und 177 Abs. 2 Nr. 4 und 5 BRAO; 4 Abs. 1 und Abs. 2 bwKammerG und 1 Abs. 1 IHKG. 106 Dies w i r d häufig als Bestandteil der Interessenvertretungsfunktion rubrifiziert [so beispielsweise Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24)]. Kann diese Terminologie sich auch auf die Formulierung der §§90 Abs. 1 HO und 1 Abs. 1 I H K G berufen, so erscheint mir doch ein aus derart heterogenen Elementen zusammengesetzter Begriff der Interessenvertretung wenig glücklich. In der Tat ist es unverkennbar, daß das undifferenzierte Verständnis von „Interessenvertretung" unzutreffenden Pauschalisierungen Vorschub leistet. Im folgenden soll daher im Dienste einer präziseren Aufgabentypologie der Begriff der Interessenvertretung schärfer gefaßt und die Dienstleistungsfunktion der Kammern aus ihm ausgegrenzt werden. 107 Ebenso Wentzel, Autonomes Berufsbildungsrecht und Grundgesetz, S. 218 f. 108 Die sonstigen gesetzlichen Grundlagen der Berufsbildungsaufgabe der Kammern finden sich in §§ 21 ff. HO; §§ 73 Abs. 2 Nr. 9 und 10 sowie 177 Abs. 3 Nr. 7 und 8 BRAO; § 1 I H K G sowie den Kammergesetzen der Länder, vgl. bspw. §§4 Abs. 1 und 32 ff. bwKammerG.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

der Kammern sind weitgehend dahingeschmolzen. Geblieben sind ihnen begrenzte Rechtsetzungskompetenzen 109 - ihre Wahrnehmung obliegt allerdings hierzu eigens installierten besonderen Organen 110 - sowie zahlreiche Vollzugszuständigkeiten 111 . Während der Staat die Ausbildung der Auszubildenden - im folgenden kurz Lehrlingsausbildung genannt - besonders intensiv unter seine Fittiche genommen hat, ist das Maß an staatlicher Steuerung im Bereich der beruflichen Fortbildung deutlich geringer 112 . Der Gesetzgeber hat Inhalt und Form der beruflichen Fortbildung - sieht man von der Gesellenausbildung, einem Spezifikum der Handwerkskammern, einmal ab - nur rudimentär geregelt; hier verbleibt ein beachtlicher Raum an Gestaltungsfreiheit, den die Kammern denn auch in vielfältiger Weise genutzt haben. Sie unterhalten eigene Schulen und Büchereien, bieten Fortbildungskurse an und führen Prüfungen durch 1 1 3 . Anders als bei der Wahrnehmung ihrer Ausbildungsaufgaben handeln die Kammern im Bereich der beruflichen Fortbildung teilweise auch privatrechtlich. Abschließend sei bemerkt, daß die Berufsbildungsfunktion der Kammern - ebenso wie ihre sonstigen Aufgaben - sich nicht im Vollzug und in der Konkretisierung geltenden Rechts erschöpft, sondern auch ein Moment rechtspolitischer Gestaltung in sich birgt 1 1 4 : Die Kammern wirken beratend an der Fortentwicklung des staatlichen Rechts m i t 1 1 5 . 2. Die Standesaufsicht

Den Schwerpunkt der berufsständischen Kammern bildet die Standesaufsicht, d. h. die berufliche Disziplinierung der Mitglieder sowie die Reglementierung und Limitierung des Wettbewerbs. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe steht den Kammern die Kompetenz zu, Berufspflichten zu normieren, ihre Einhaltung zu überwachen und ihre Verletzung zu ahnden 116 . Im einzelnen kontrollieren die Kammern den Zugang zum Beruf 1 1 7 , stellen 109

§§ 38, 41 f. und 50 HO; §§ 51, 44 und 58 BBiG sowie bspw. § 39 bwKammerG. Vgl. § 1 Abs. 1 BBiG (Berufsbildungsgesetz). 111 Durchführung von Prüfungen, vgl. §§31 ff. und 42 HO; §§ 34 i. V. m. 74 f. BBiG; § 36 bwKammerG. Überwachung der Ausbildung und Fortbildung, vgl. §§41 a) HO und 45 BBiG. 112 Ebenso Wentzel (Anm. 107), S. 226 f. 113 Näher hierzu Wülker (Anm. 8), S. 102 f. sowie Basedow (Anm. 95), S. 171 f. 114 Daß die Satzungsgebung sowie die Ermessens- und Beurteilungsentscheidungen der Kammern rechtsgestaltend wirken, soll damit nicht negiert werden. 115 Näher hierzu Wülker (Anm. 8), S. 103. 116 Im folgenden werden lediglich die entsprechenden Vorschriften der BRAO zitiert, da die Regelung der sonstigen berufsständischen Kammergesetze dieser im Prinzip entsprechen. 117 Vgl. beispielsweise § 9 ff., 37 ff. BRAO. 110

3. Kap.: Die Kammern

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zumeist als Berufsordnungen bezeichnete - bindende Verhaltensstandards auf 1 1 8 , überwachen deren Beachtung 119 , erteilen Rügen bei Verstößen gegen die Standespflichten 120 und initiieren standesgerichtliche Disziplinierungsverfahren 121 . Es versteht sich, daß all diese Maßnahmen in den Formen des öffentlichen Rechts getroffen werden. Während die Standesaufsicht bei den Kammern der akademischen Berufe im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten steht, spielt sie bei den Handwerks- und Handelskammern nur eine untergeordnete Rolle. Dies zum einen, weil der Umfang der Berufspflichten der Handwerker und Gewerbetreibenden geringer ist 1 2 2 , und zum anderen, weil zur Ahndung von Verstößen nicht das scharfe Schwert der Standesgerichtsbarkeit zur Verfügung steht. Immerhin können auch die Selbstverwaltungseinrichtungen des Handwerks Berufspflichten normieren, ihre Erfüllung überwachen und Verletzungen mit Geldbußen oder Kammerausschluß ahnden 123 . Selbst diese Sanktionsbefugnisse stehen den Handelskammern nicht zu, ihre Kompetenzen beschränken sich darauf, die Börsenaufsicht wahrzunehmen 124 , Handelsbräuche festzustellen und das Ethos des ehrbaren Kaufmanns zu wahren - dies vor allem durch Appelle, Gutachten, Einigungsstellen und Schiedsgerichte 125 . Es ist bereits angeklungen, daß Bedeutung und Effektivität der Standesaufsicht maßgeblich von der Existenz einer eigenen Standesgerichtsbark e i t 1 2 6 abhängen. Im folgenden soll untersucht werden, ob diese - wie häufig angenommen - Bestandteil der Kammerverwaltung ist. Aus der Systematik der Kammergesetze erhellt, daß die Standesgerichte organisationsrechtlich den jeweiligen Kammern angegliedert sind; wie diese nehmen sie die Aufgabe der Standesaufsicht wahr, sie wenden dabei auch dieselben Normen wie die Kammern an und setzen sich zudem aus von den Kammern nominierten Kammerangehörigen zusammen. Angesichts dieser Vielfalt und Dichte von Verbindungen und Verflechtungen erscheint es durchaus zutreffend, von einer komplementären Funktionsgemeinschaft zwischen Kammern und Kammergerichten zu sprechen: Auf der einen Seite machen erst "« § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO, § 31 bwKammerG. Sie sind insoweit berechtigt, Auskünfte einzuholen, Untersuchungen durchzuführen (§73 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 BRAO) und, falls erforderlich, Zwangsgelder zu verhängen (§ 57 BRAO). 120 § 74 BRAO. 121 §§ 120 ff. BRAO. ι 2 2 Beispielsweise unterliegen sie nicht den vielfältigen, für die „freien" Berufe geltenden Werbe- und Wettbewerbsbeschränkungen. 123 vgl. §§111 ff. HO. Näher dazu Eyermann/Fröhler/Honig, Kommentar zur Handwerksordnung, Rdnr. 2 zu § 54; Rdnr. 10 und 27 zu § 55. ι 2 4 Näher dazu Frentzel/Jäkel/Junge (Anm. 95), Bern. 12 f. zu § 1 IHKG. 125 Näher dazu Frentzel/Jäkel/Junge (Anm. 95), Bern. 6 f. zu § 1 IHKG; Bremer (Anm. 8), S. 52 f. 126 In neueren Gesetzen teilweise - ohne daß damit inhaltliche Änderungen verbunden wären - als Berufsgerichtsbarkeit bezeichnet. 119

8 Emde

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

die Kammergerichte die Aufsichtstätigkeit der Kammern wirklich effektiv, auf der anderen hingen sie ohne Normsetzungs- und Normüberwachungsarbeit der Kammern in der Luft. Trotz alledem sind die Kammergerichte jedoch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 127 Teil der staatlichen Gerichtsbarkeit. Die hierzu erforderliche Bindung der Standesgerichte an den Staat sei sowohl in personeller als auch in materieller Hinsicht gewährleistet; personell durch das Recht des Staates, unter den Vorgeschlagenen auszuwählen, materiell durch die Bindung der ehrenamtlichen Richter an das deutsche Richtergesetz sowie bei den anwaltlichen Ehrengerichten durch die Qualifikationsanforderungen an den Anwaltsberuf 128 . Obschon die Rechtsprechung die sehr enge funktionelle, organisatorische und personelle Verflechtung der Standesgerichte der Anwalts- und der Heilberufe sowie der Architekten 1 2 9 mit den Kammern so augenscheinlich absichtsvoll herunterspielt, daß der Vorwurf der Apologetik kaum von der Hand zu weisen ist, mag das doch hier auf sich beruhen. Selbst wenn die Standesgerichte nicht als staatliche Gerichte im Sinne des Art. 92 GG qualifiziert werden könnten, hätte das nicht ihre Einfügung in die Kammerverwaltung, sondern ihre Verfassungswidrigkeit zur Folge, denn ihre materielle Qualiät als Organe der Rechtsprechung steht außer Frage. Die Standesgerichte sind somit, gleich wie man ihren Status und die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit beurteilt, in keinem Fall Bestandteil der Kammerverwaltung 130 und liegen folglich außerhalb des Gegenstands dieser Arbeit. 3. Pflichtaufgaben der Wirtschaftsverwaltung i. e. S.

Der Begriff fungiert als Sammelbecken für all jene der Entlastung und Unterstützung der umittelbaren Staatsverwaltung dienenden Aktivitäten der Kammern, die nicht unter eine der speziellen Aufgabenkategorien fal127 Bd. 18, S. 241 ff. (mit ausführlicher Besprechung von Häberle, in: DÖV 1965, S. 369 - 374); Bd. 26, S. 181, 195 und insbesondere Bd. 48, S. 300, 320; eingehend zur Rechtsprechung des BVerfG: Kleine-Cosack, Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, S. 301 ff. 128 Bei den übrigen Standesgerichten fällt dieses Argument zwar weg, indessen werden sie - anders als die Anwaltsgerichte - von einem Berufsrichter geleitet. 129 Anders liegen die Dinge im Hinblick auf die Berufsgerichte der steuerberatenden Berufe sowie der Wirtschaftsprüfer. Nach §§ 95 ff. SteuerberatG und §§ 72 ff. WiPrüO fungieren insoweit Kammern und Senate der ordentlichen Gerichte als Berufsgerichte. Diese organisatorische Einbindung der Steuerberater- und Wirtschaftsprüfergerichte in die herkömmliche staatliche Gerichtsbarkeit ist wohl die augenfälligste Bestätigung der These, die Berufsgerichtsbarkeit sei ein Bestandteil der staatlichen Gerichtsbarkeit i. S. d. Art. 92 GG. 130 § 17 Abs. 1 bwKammerG, der die Berufsgerichte als Kammerorgane bezeichnet, verkennt daher die Rechtslage; korrekt demgegenüber die Terminologie der BRAO und des bwArchitG, die die Berufsgerichte bei der Aufzählung der Kammerorgane nicht erwähnen.

3. Kap.: Die Kammern

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len. Es handelt sich hierbei ausnahmslos um Aufgaben, deren Erfüllung für den modernen Wirtschaftsstaat unabdingbar ist; in bezug auf ihre Wahrnehmung werden die Kammern denn auch von allen Autoren, auch von denen, die den Schwerpunkt ihres Wirkens außerhalb des Bereichs des Staatlichen sehen, als Träger mittelbarer Staatsverwaltung eingestuft 131 . Abgrenzungsprobleme dieser Wirtschaftsverwaltungsaufgaben i. e. S. mit der Berufsbildung- und der Interessenvertretungsfunktion sind unvermeidlich. Die Funktion der Kammern als Träger staatlicher Wirtschaftsverwaltung tritt naturgemäß besonders deutlich bei den Handels- und Handwerkskammern zutage. Drei Typen von Kammeraufgaben sind insoweit zu unterscheiden: zum ersten die auf eine Anfrage der staatlichen Behörden und der Gerichte erfolgende Erstellung von Vorschlägen, Gutachten und Berichten 1 3 2 , zum zweiten ihre Befugnis, Kandidaten für die Handels- und die Kammergerichte zu benennen, und zum dritten ihre Zuständigkeiten als Entscheidungsorgane der Wirtschaftsverwaltung i. e. S. Während letztere bei den Kammern der akademischen Berufe keine bedeutende Rolle spielen, nehmen sie bei den Handelskammern seit jeher großen Raum ein 1 3 3 - 1 3 4 . Die Handelskammern stellen Beglaubigungen, Ursprungszeugnisse sowie andere dem Wirtschaftsverkehr dienende Bescheinigungen aus, sie fungieren als Einigungsstellen für Wettbewerbsstreitigkeiten, als Anmeldestelle für beabsichtigte Ausverkäufe, sie richten Prüfungsausschüsse für den Güterkraftverkehr ein, bestellen Versteigerer sowie Sachverständige u. a. m. 1 3 5 . 4. Interessenvertretung gegenüber Staat und Öffentlichkeit

Nahezu jede beratende sowie gutachtende Tätigkeit der Kammern enthält ein Moment von Interessenvertretung. Eine trennscharfe Unterscheidung der unter 3. dargestellten Kammeraufgaben von ihrer Interessenvertre131 Oberndorfer (Anm. 24), S. 136; Basedow (Anm. 95), der die Kammern insgesamt als Träger mittelbarer Staatsverwaltung qualifiziert (S. 367 f.), präzisiert diese Aussage, indem er hier von Pflichtigen Selbstverwaltungsauf gaben spricht (S. 371); Bremer (Anm. 8), S. 67 f. verwendet den Terminus der Auftragsangelegenheit. 132 Diese Aufgabe hat bei allen Kammern, auch bei denen der freien Berufe, zentrale Bedeutung; sie weist vielfältige Berührungspunkte mit der Interessenvertretungsfunktion auf. Zur Beratungs- und Gutachtentätigkeit der Handwerkskammer im einzelnen, Ey ermann u. a. (Anm. 123), Kommentierung zu §54, 87, 91; zu der der Handelskammern: Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 4 zu § 1. 133 Das betont schon Lusensky (Anm. 26), S. 34, 50 f. 134 Gesetzliche Grundlage ist § 1 Abs. 4 I H K G i. V. m. dem jeweiligen Spezialgesetz. 135 Hierzu im einzelnen Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 8 - 13 zu § 1; Wülker (Anm. 8), S. 104 - 107; Basedow (Anm. 95), S. 371. Zu den entsprechenden, jedoch weniger bedeutsamen Zuständigkeiten der Handwerkskammern: Eyermann u. a. (Anm. 123), Kommentierung zu § 91. 8!

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

tungsfunktion ist mithin nicht möglich. Gleichwohl erscheint es sinnvoll, zwischen der auf Grund konkreter staatlicher Aufträge wahrgenommenen Beratungs- und Begutachtungstätigkeit der Kammern und ihrer klassischen, vom Staat nicht gesteuerten Interessenpolitik zu differenzieren. Nur um letztere geht es hier. Die Vertretung der Mitgliedschaftsinteressen gegenüber Staat und Öffentlichkeit ist heute - vor allem in den wirtschaftlichen Kammern sowie den Ärztekammern - zu einem Schwerpunkt ihres Wirkens geworden 136 . Dies vermag auch kaum zu überraschen, bietet doch die Interessenvertretung wie wohl keine andere Kammeraufgabe außer der Dienstleistungsfunktion die Chance, sich den Mitgliedern gegenüber als unentbehrlich zu profilieren und damit die durch das Vorhandensein privater Interessenvertretungsverbände stets bedrohte Existenz der Kammer zu legitimieren. Die Aktivitäten, die die Kammern in diesem Bereich entfalten, verraten denn auch Engagement und Einfallsreichtum. Sie leisten eine umfangreiche Public-relations- und Lobbyarbeit, deren wichtigste Artikulationsinstrumente eigene Zeitungen sowie private Dachverbände sind 1 3 7 . Ziel der Kammern ist es dabei stets, Mitgliedern, Öffentlichkeit, Parlamenten und Verwaltung zum einen ihre eigene Nützlichkeit zu beweisen und zum anderen die beruflichen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder zu fördern, sei es dadurch, daß vorteilhafte bestehende Regelungen verteidigt werden, sei es dadurch, daß Verbesserungen des Status quo gefordert werden. Eine Loyalitätspflicht gegenüber den staatlichen Instanzen im Hinblick auf einmal getroffene Entscheidungen sind die Kammern dabei ebensowenig geneigt anzuerkennen, wie sie bereit sind, auf allgemein-politische Stellungnahmen zu verzichten. Sie beanspruchen vielmehr für sich ein allgemein-politisches Mandat sowie die Freiheit, auch gegen eine dezidierte Politik des Parlaments oder der Regierung Front zu machen 138 . Ein signifikanter Unterschied zwischen der Interessenvertretung durch öffentlich-rechtliche Kammern und der durch privatrechtliche Verbände ist bei dieser Sachlage nicht zu erkennen 139 . Als Rechtsgrundlage für die Interessenvertretungstätigkeit der Kammern werden vor allem jene Bestimmungen herangezogen, die den Begriff der Interessenvertretung verwenden 140 . Ob diese tatsächlich dem privaten Lob136 Ebenso und eingehend hierzu Oberndorfer (Anm. 24), Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 4 ff., 8 ff.; Fröhler, Grundrechtsschutz der Wirtschaftskammern, in: Wirtschaft und Verwaltung 1979, S. 145. 137 Eingehend hierzu Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 4 ff., 8 ff.; Oberndorfer (Anm. 24); Brohm (Anm. 8), S. 70 f.; Eyermann u. a. (Anm. 123), Rdnr. 32 zu § 91; Tettinger (Anm. 95), S. 107 ff. sowie - kritisch - BVerwGE 64, 115, 118 ff.; 298, 303 ff.; BVerwG AnwBl 1986, S. 397 f. 138 So ausdrücklich Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 44; Oberndorfer (Anm. 24), S. 135 f. 139 Ebenso Fröhler (Anm. 136), S. 144 f.

3. Kap.: Die Kammern

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byismus im Gewände der öffentlichen Körperschaft Tür und Tor öffnen, wird an späterer Stelle zu untersuchen sein 141 . 5. Erbringung von Dienstleistungen für die Mitglieder

Ebenso wie die Interessenvertretungs- sind auch die Dienstleistungsaufgaben ein von den Kammern willkommenes und von Ihnen gern bestelltes Feld der Selbstrechtfertigung. Auch hier bestehen bemerkenswerte Unterschiede zwischen den Kammern der freien Berufe, insbesondere den bundesgesetzlich organisierten, und den wirtschaftlichen Kammern. Letztere entfalten insoweit, ausgestattet mit recht weitreichenden gesetzlichen Handlungsermächtigungen 142 , derart rege Aktivitäten, daß man den Dienstleistungssektor als einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ansehen muß. Sie unterhalten Forschungsinstitute, Schulen und sonstige Ausbildungsstätten 143 , sie ergreifen Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, sie informieren ihre Mitglieder über Rechtsfragen, erstellen Marktanalysen, installieren EDV-Anlagen, Inkasso-, Rechts-, Steuerberatungsstellen u. ä. m. 1 4 4 . Auch der Dienstleistungssektor zeigt mithin keinen signifikanten Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen Kammern und privatrechtlichen Verbänden. Es paßt in dieses Bild, daß eine Vielzahl der hier aufgezählten Aktivitäten der Kammern durch von diesen eigens gegründete privatrechtliche Vereine und Gesellschaften wahrgenommen werden. Bemerkenswert ist insbesondere, daß viele der Serviceleistungen der Kammern bzw. ihrer Filialen nicht dem Berufsstand als solchem zugute kommen, sondern den wirtschaftlichen Interessen einzelner Berufsangehöriger dienen (EDVAnlagen, Inkasso-, Rechts- und Steuerberatungsgesellschaften) 145. Ein anderes Bild bieten die Kammern der freien Berufe, dies sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht. In ihren gesetzlichen Grundlagen finden sich keine Vorschriften, die sie ausdrücklich dazu ermächtigen, Serviceleistungen für ihre Mitglieder zu erbringen. Können sich entspre"o §§ 54 Abs. 1, 87 Nr. 1, 90 Abs. 1 und 91 Abs. 1 Nr. 1 HO; § 1 Abs. 1 IHKG; § 4 Abs. 1 bwKammerG. Die bundesgesetzlichen Aufgabenzuweisungen an die Kammern der freien Berufe kennen demgegenüber den Begriff der Interessenvertretung nicht; vgl. §§ 177 Abs. 2 Nr. 4, 5 BRAO; § 57 WiPrüO; § 76 SteuerberatG. Ebenso ein Teil der landesrechtlichen Aufgabenzuweisungen an die Kammern der freien Berufe; vgl. etwa § 2 schl.-holst. ÄrztekammerG sowie § 11 bwArchitektenG. 141 Siehe unten 10. Kap. I I I 4. 142 Dazu oben II. 143 Insoweit überschneidet sich ihre Dienstleistungsfunkion mit ihren Aufgaben im Bereich der beruflichen Bildung. 144 Eingehend hierzu Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 7 zu § 1; Frentzel/Jäkel, Die deutschen Handelskammern und der deutsche Industrie- und Handelstag, S. 28 f., 47 f.; Fröhler/Oberndorfer (Anm. 24), S. 4 f.; Basedow (Anm. 95), S. 371; Brohm (Anm. 8), S. 70 f. (kritisch). 145 Zur Frage der Zulässigkeit derartiger Betätigungen siehe unten 10. Kap. I I I 4.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

chende Aktivitäten der auf landesgesetzlichen Grundlagen basierenden Kammern teilweise immerhin noch auf die jeweiligen Generalklauseln (Förderung der Berufsinteressen) stützen, so fehlt bei den bundesgesetzlich geregelten Kammern selbst eine derartige Blankettnorm. Es erscheint daher nur folgerichtig, daß das Dienstleistungsangebot der berufsständischen Kammern sehr viel begrenzter ist als das der wirtschaftlichen Kammern 1 4 6 .

III. Die Rechtsstellung der Kammern 1. Statusbestimmung

Anders als im Konstitutionalismus wächst die Bestimmung des Status der Kammern sich heute nicht mehr zur dogmatischen Detektivarbeit aus, da der Gesetzgeber mittlerweile eindeutige Hegelungen getroffen hat: Die Kammern sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und genießen das Recht der Selbstverwaltung. Letzteres verbriefen die Kammergesetze zwar im Gegensatz zu § 29 SGB IV und § 189 Abs. 1 AFG nicht ausdrücklich sofern man es nicht als im Körperschaftsstatus enthalten ansieht - , es ergibt sich jedoch aus der grundsätzlichen Beschränkung der staatlichen Kontrolle auf die Rechtsauf sieht 1 4 7 . Die von den Auf sichtsnormen regelmäßig vorbehaltene und durch Spezialvorschriften gelegentlich realisierte Möglichkeit der Erweiterung der Aufsichtsbefugnisse hat lediglich punktuelle Einschränkungen des Selbstverwaltungsrechts vor Augen und stellt seine prinzipielle Gewährleistung nicht in Frage. In gegenständlicher Hinsicht umfaßt das Recht der Selbstverwaltung sämtliche, den Kammern in den jeweiligen Errichtungsgesetzen zugewiesenen Aufgaben. Nach Ansicht der Kommentatoren des Industrie- und Handelskammergesetzes 148 erstreckt es sich darüber hinaus auch auf die ihnen durch andere Gesetze übertragenen Aufgaben 149 , sofern der Gesetzgeber nicht ausdrücklich das Gegenteil angeordnet hat. Diese mit der Natur der Kammern als Selbstverwaltungseinrichtungen begründete Auffassung verkennt indessen gleichermaßen die Reichweite des Selbstverwaltungsrechts sowie das Wesen der „übertragenen Aufgaben". Ersteres ist keine institutions-, sondern eine funktionsbezogene Kategorie. Es erstreckt sich nicht a priori auf sämtliche Zuständigkeiten seines Trägers, vielmehr muß es, für 146

Zu den Aktivitäten der Rechtsanwaltskammern in diesem Bereich siehe Tettinger (Anm. 95), S. 74 ff., 107 ff. 1 47 § 115 Abs. 1 HO, § 11 Abs. 1 IHKG; §§ 62 Abs. 2, 176 Abs. 2 BRAO; § 7 Abs. 1 und 3 bwKammerG. 148 Bremer (Anm. 8), S. 67 f.; Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 14 a zu § 1, Bern. 1 zu § 11; a. A. Fröhler, Die Staatsaufsicht über die Handwerkskammern, S. 9. 149 Vgl. § 1 Abs. 4 I H K G i. V. m. den einschlägigen Spezialgesetzen; dazu oben I I 3 und Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 12 zu § 1.

3. Kap.: Die Kammern

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jede einzelne ausdrücklich, verliehen werden. Dieser Verleihungsakt liegt in der im Errichtungsgesetz erfolgenden Ausstattung eines Selbstverwaltungsträgers mit eigenen Aufgaben; soweit hingegen durch sonstige Gesetze Zuständigkeiten auf eine Selbstverwaltungseinrichtung übertragen werden, spricht das Regel-Ausnahmeverhältnis von ministerieller Leitungsbefugnis und Selbstverwaltungsrecht dafür, daß erstere hierdurch nicht eingeschränkt werden soll - sofern der Gesetzgeber nicht ausdrücklich eine anderweitige Anordnung trifft. Bestätigt wird dies durch die Erwägung, daß die Übertragung staatlicher Angelegenheiten auf Selbstverwaltungsträger keine Abwälzung der politischen Verantwortung von der Regierung bezweckt, sondern lediglich der Erhöhung der Verwaltungseffizienz dient. Sehr deutlich wird das unangetastete ministerielle Leitungsrecht in dem Begriff der Pflichtaufgaben nach Weisung, der in den neueren Kommunalgesetzen an die Stelle des Terminus der übertragenen Aufgaben getreten ist. Infolge dieser rein instrumenteilen und nicht auf eine Ausgliederung aus dem Bereich des Staatlichen abzielenden Funktion der übertragenen Aufgaben muß die Vermutungsregel also - gerade andersherum als von Bremer und Frentzel angenommen - lauten: Angelegenheiten, die der Gesetzgeber nicht in den eigenen Wirkungskreis eines Selbstverwaltungsträgers einbezieht, sind Aufgaben der Staatsverwaltung und unterliegen der Fachaufsicht 150 ; sie werden vom Recht der Selbstverwaltung nicht erfaßt. 2. Die Mitgliedschaftsregelungen

Ihrem körperschaftlichen Status gemäß sind die Kammern mitgliedschaftlich strukturiert. Bis auf die Handwerksinnungen, die gemäß §§ 52 ff. HO auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen, besteht in sämtlichen Kammerberufen für die jeweiligen Berufsangehörigen Mitgliedschaftszwang 151 . Im übrigen sind die Mitgliedschaftsregelungen der Kammern so heterogen wie ihre Erscheinungsformen selbst. Während die berufsständischen Kammern ausschließlich von den Angehörigen des verkammerten Berufs, nicht hingegen von deren Personal gebildet werden 1 5 2 , gehören seit 1965 gemäß § 90 150 So auch die ganz herrschende verwaltungsrechtliche Dogmatik; für die Handwerkskammern ausdrücklich Fröhler (Anm. 148), S. 9. 151 vgl. §§ 90 Abs. 2 HO; § 2 Abs. 1 IHKG; §§ 60 Abs. 1, 175 Abs. 1 BRAO; § 2 bwKammerG. 152 vgl. bspw. § 60 BRAO. Eine Besonderheit gilt für die Bundeskammern der juristischen Berufe sowie für die der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Sie werden von allen örtlichen Kammern des Bundesgebiets gebildet, sind also reine Bundkörperschaften (Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, § 84 I I I d 4, S. 177 f. und § 84 I I I S. 336). Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil ihnen die wohl wichtigsten Aufgaben der Selbstverwaltung zufallen. Der Bundesrechtsanwaltskammer etwa obliegt die Aufstellung der Verhaltensgebote für die Rechtsanwälte und die zentrale Interessenvertretung, § 177 Abs. 2 Nr. 2, 4 und 5 BRAO. Nicht überraschend, daß angesichts dieser Funktionsverteilung die örtlichen Kammern eher ein Schattendasein fristen. Eingehend hierzu Kleine-Cosack (Anm. 127), S. 173 f.

120

II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Abs. 1 HO zu den Handwerkskammern neben den selbständigen Handwerkern auch deren Gesellen und Lehrlinge. Die Handwerksinnungen wiederum werden gemäß § 51 Abs. 1 HO nur von den selbständigen Handwerkern gebildet; allerdings besitzen die Gesellen eine eigene Vertretung, den Gesellenausschuß, § 68 HO. Die Industrie- und Handelskammern schließlich bestehen aus den Gewerbetreibenden bzw. Gewerbebetrieben ihres Bezirks, § 2 I H K G 1 5 3 . 3. Organisation und Befugnisse

Die Organisation der Kammern ist in ihrer Substanz durch die jeweiligen Kammergesetze festgelegt, Detailregelungen erfolgen per Satzung. Bedingt durch die historische Vorbildfunktion der Handelskammern, funktionelle Gemeinsamkeiten und den einheitlichen Körperschaftsbegriff der Dogmatik, stimmt die Organisationsstruktur der verschiedenen Kammertypen in den Grundzügen überein. Organe der Kammern sind die (Voll)Versammlung, der Vorstand und allerdings nur in den wirtschaftlichen Kammern - der Hauptgeschäftsführer 1 5 4 . Die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Organen muß vor dem Hintergrund des traditionellen Ideals der Körperschaftsdogmatik gesehen werden. Danach war die Versammlung als das demokratische Zentralorgan konzipiert; sie traf alle Grundsatzentscheidungen und erließ die autonomen Satzungen. Der Vorstand hingegen fungierte als vom Vertrauen der Versammlung abhängiges bloßes Vollzugsorgan. Die derzeit geltenden Kammergesetze haben dieses Modell im Prinzip beibehalten 155 , allerdings das Gewicht der Vorstände und insbesondere das der hauptamtlichen Geschäftsführer wesentlich verstärkt 1 5 6 . Nicht nur sind sie stets für die Geschäfte der laufenden Verwaltung und die gerichtliche Vertretung der Kammer zuständig 157 ; häufig übertragen ihnen die Gesetze daneben noch weitere, bedeutsame Kompetenzen. Dennoch aber ist - zumindestens auf dem Papier der Gesetzblätter - die Versammlung das zentrale Entscheidungsorgan geblieben 158 . Vor allem folgende Befugnisse stehen ihr - u. a. in allen Kammern zu: 153

1 a.

154

Zum Sprachgebrauch des Gesetzes - Zugehörige statt Mitglieder - siehe oben I

In den Rechtsanwaltskammern kommt das Präsidium hinzu, §§ 78 ff. BRAO. Vgl. etwa § 4 Abs. 1 S. 1 IHKG: „Über die Angelegenheiten der Industrie- und Handelskammer beschließt, soweit nicht die Satzimg etwas anderes bestimmt, die Vollversammlung. " 156 Anders als früher werden letztere von der Kammerversammlung gewählt; auch das verdeutlicht ihre gewachsene Bedeutung. 157 Vgl. etwa § 109 HO und § 73 BRAO. In den Rechtsanwaltskammern obliegt ein Teil der laufenden Geschäfte dem vom Vorstand „aus seiner Mitte" gewählten Präsidium, § 78 Abs. 2 BRAO. 155

3. Kap.: Die Kammern

121

- Wahl des Vorstands und etwaiger Ausschüsse, § 106 Abs. 1 Nr. 1 HO; § 89 Abs. 2 Nr. 1 BRAO; - Satzungsgebung 159 , §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Nr. 12 HO; § 89 Abs. 3 BRAO; - Haushaltsbewilligung und Beitragsfestsetzung, § 106 Abs. 1 Nr. 4 HO; § 89 Abs. 2 Nr. 3 und 4 BRAO; - Erlaß von Standes- und Ausbildungsrichtlinien bzw. -Vorschriften, §§89 Abs. 2 Nr. 7 und 177 Abs. 2 Nr. 2, 7, 8 BRAO; § 106 Abs. 1 Nr. 8 HO, sowie von Prüfungsordnungen, § 106 Abs. 1 Nr. 9 HO. Hinsichtlich ihrer Zusammensetzung unterscheiden sich die Versammlungen der Wirtschaftskammern von denen der Innungen 1 6 0 und den Kammern der juristischen Berufe sowie denen der Steuerberater und der Wirtschaftsprüfer. Während in diesen die Gesamtheit der Mitglieder die Versammlung bildet, §§ 60 Abs. 1, 85 ff. BRAO; §§ 61, 63 HO, ist in jenen die Vollversammlung ein Repräsentativorgan, § 93 HO; § 5 Abs. 1 IHKG. Der direktdemokratische Idealtypus der öffentlichen Körperschaft ist also nur in einer Minderzahl der Kammern sowie in den Innungen verwirklicht; zumal in den Handels- und Handwerkskammern hingegen erfordert die große Mitgliederzahl 1 6 1 den Übergang zum Repräsentationsmodell.

IV. Die demokratische Legitimation der Kammern Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist die Frage, in welcher Weise und inwieweit die Entscheidungen sowie die Entscheidungsträger der Kammern sei es durch den Staat, sei es durch die Entscheidungsadressaten - vereinfacht ausgedrückt: die Mitglieder - demokratisch legitimiert sind. Hinsichtlich der autonomen Organisations- und Willensbildungsstrukturen sei bereits an dieser Stelle hervorgehoben, daß sie jedenfalls dann mit dem 158 In der Kammerpraxis geht diese Gewichtsverschiebung noch weiter. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, daß Grundsatzentscheidungen nur selten zu treffen sind und die Tätigkeit der Kammern sich weithin in standardisierten Routinemaßnahmen erschöpft, teilweise auf den Sachverstandsvorsprung der Geschäftsführung; auch die geringe Tagungshäufigkeit der Versammlung, ihre größenbedingte Schwerfälligkeit sowie schlichtes Desinteresse der Mitglieder tragen zu dieser Entwicklung bei. Näher dazu Kleine-Cosack (Anm. 127), S. 172 ff. 159 Die Befugnisse der Industrie- und Handels- sowie der berufsständischen Kammern reichen hier weiter als die der Handwerkskammern: Erstere geben sich selbst eine - Geschäftsordnung genannte - Satzung, § 89 Abs. 3 BRAO, während letztere lediglich berechtigt sind, die von der obersten Landesbehörde erlassene Satzung zu ändern, § 105 Abs. 1 HO. 160 Soweit nicht von der Ermächtigung des § 61 Abs. 3 S. 3 HO, die Innungsversammlung als Repräsentativorgan auszugestalten, Gebrauch gemacht wird. 161 Den Handwerkskammern von München, Düsseldorf, Stuttgart, Passau-Regensburg, Frankfurt und Köln gehören jeweils zwischen 37.500 und 20.000 Mitgliedsbetriebe an, denen von Hamburg und Berlin jeweils gut 10.000 (FAZ vom 7. Juni 1983, S. 11 f.).

122

II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

demokratischen Prinzip in Einklang stehen, wenn - getreu dem genossenschaftlichen Ideal - Mitgliedschaft und Mitwirkungsberechtigung kongruent sind und letztere wiederum am egalitären Gleichheitsprinzip ausgerichtet ist; alle Mitglieder mithin gleichen Anteil an der Bildung und Willensbildung der Kammerorgane haben. Das damit angesprochene Modell eines Legitimationskreislaufs nimmt seinen Ausgang stets von den Mitgliedern als der originären Legitimationsquelle, bewegt sich - sofern die Gesamtheit der Mitglieder nicht selbst als Beschlußorgan fungiert - sodann zur von den Mitgliedern gewählten Versammlung als dem zentralen und obersten Beschlußorgan und von dort weiter zum Vorstand sowie den übrigen nachgeordneten Organen, um schließlich in Form der an die Mitglieder gerichteten Kammerentscheidung an den Ausgangspunkt zurückzugelangen.

1. Die personelle Legitimationskomponente

a) Die staatsvermittelte

Legitimation

Eine staatsvermittelte, personelle Legitimation fließt den Organ- und Amtswaltern der funktionalen Selbstverwaltung nur insoweit zu, als der Staat über die Personalhoheit verfügt. Dies ist indessen im Bereich des Kammerwesens nicht der Fall. Weder die Organwalter noch die nachgeordneten Bediensteten werden durch einen staatlichen Berufungsakt in ihre Ämter eingesetzt; selbst ein Bestätigungsrecht steht den staatlichen Behörden nicht zu. Aber nicht nur auf der Ebene der konkret-individuellen Berufungsentscheidungen ist die staatliche Personalhoheit beseitigt, der Staat hat vielmehr - anders als im Sozialversicherungsrecht - darüber hinaus davon Abstand genommen, abstrakt-generelle Qualifikationsanforderungen, sei es im Hinblick auf die Besetzung der Organe, sei es auf die der Ämter, festzulegen. Auch insoweit liegt mithin die Personalhoheit, lediglich eingeschränkt durch die gesetzliche Begrenzung des Wahlrechts auf Mitglieder der Kammern, bei letzteren selbst. In personeller Hinsicht besteht damit keine Legitimation der Entscheidungsträger der Kammern durch das Staatsvolk 162 . b) Die autonomen Legitimationsstrukturen

der Kammern

aa) Die berufsständischen Kammern In den Kammern der freien Berufe ist der Kreis der Entscheidungsadressaten mit dem der Mitglieder identisch 163 . Darüber hinaus besteht, gemäß 162 Besonderheiten gelten im Hinblick auf die Zuständigkeiten der Kammern im Bereich der beruflichen Bildung. Dazu unten b cc.

3. Kap.: Die Kammern dem genossenschaftlichen W i l l e n s b i l d u n g s m o d e l l , eine K o n g r u e n z

123 zwi-

schen M i t g l i e d s c h a f t u n d M i t w i r k u n g s b e r e c h t i g u n g . Letztere w i e d e r u m ist am egalitären G l e i c h h e i t s p r i n z i p ausgerichtet: A l l e M i t g l i e d e r haben g l e i chen A n t e i l an der B i l d u n g u n d der W i l l e n s b i l d u n g der Kammerorgane. I n den repräsentativ organisierten K a m m e r n der Heilberufe w ä h l e n die K a m m e r m i t g l i e d e r die M i t g l i e d e r der K a m m e r v e r s a m m l u n g , v o n der sich w i e d e r u m - w i e i n allen anderen K a m m e r n - die Befugnisse der ü b r i g e n Organe ableiten. I n den K a m m e r n der j u r i s t i s c h e n Berufe sowie denen der Steuerberater u n d der W i r t s c h a f t s p r ü f e r b i l d e t die Gesamtheit der M i t g l i e d e r die K a m m e r v e r s a m m l u n g . D a beide Varianten, s o w o h l die i d e n t i t ä r e als auch die repräsentative, f ü r sich das A t t r i b u t „ d e m o k r a t i s c h " i n A n s p r u c h nehmen können, u n t e r l i e g t die Binnenverfassung der berufsständischen K a m m e r n i m H i n l i c k auf das demokratische P r i n z i p i n i h r e m K e r n keinen Bedenken164. bb) D i e w i r t s c h a f t l i c h e n K a m m e r n K o m p l i z i e r t e r , reduzierter u n d d a m i t i m Ergebnis problematischer s i n d die L e g i t i m a t i o n s s t r u k t u r e n der w i r t s c h a f t l i c h e n K a m m e r n 1 6 5 . Ebenso w i e 163 Eine Ausnahme ist für die Lehrlingsgehilfen des verkammerten Berufs zu machen. Sie unterliegen der Regelungsgewalt der Kammern, ohne ihnen anzugehören. Dies allerdings nur in sehr bescheidenem Umfange, da das Berufsbildungsgesetz (BBiG), das einstige Kernstück der Ausbildungsaufgaben der Kammern, die Befugnis, Ausbildungsvorschriften zu erlassen und Prüfungen durchzuführen, auf besondere Ausbildungsorgane übertragen und sie damit den Kammern praktisch entzogen hat; vgl. §§ 34 ff., 56 - 58 BBiG (eingehend dazu unten cc). 164 Die Einschränkung bezieht sich auf drei Komplexe: - die Ausbildungsaufgaben der Kammern (dazu unten cc) - die Möglichkeit, in den Kammern der Heilberufe von Wahlen abzusehen (dazu unten dd) - das Verfahren der Wahl zur Bundesrechtsanwaltskammer: Nicht ein Wahlakt der Anwälte entscheidet über die Zusammensetzung der Bundesrechtsanwaltskammer, Mitglieder der Versammlung sind vielmehr - ex officio - die Präsidenten der einzelnen Anwaltskammern, § 198 Abs. 1 BRAO. Auch diese wiederum werden nicht von den Anwälten, sondern von den jeweiligen Kammervorständen gewählt, § 78 BRAO. Diese endlich werden von der Kammerversammlung gewählt, § 64 BRAO. Ob eine derart lange Legitimationskette sowie die Gleichstellung der einzelnen Kammern ungeachtet ihrer völlig unterschiedlichen Größe noch dem demokratischen Prinzip entsprechen, erscheint mehr als fraglich (ebenso Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt, S. 168 f. sowie Papier, Stimmrechtsverteilung in der Bundesrechtsanwaltskammer, NJW 1987, S. 1308 ff.; Kleine-Cosack, Verfassungswidriges Standesrecht, NJW 1988, S. 164 ff.). Es kann offensichtlich keine Rede davon sein, daß die Wahlentscheidung der einzelnen Anwälte die Nominierungsentscheidung noch abdeckt. Verstärkt werden diese Bedenken noch durch die Tatsache, daß weder die Versammlung gegenüber dem Vorstand noch dieser gegenüber dem Präsidenten Weisungs- und Abberufungsrechte besitzen. Diese Legitimationsdefizite sind um so weniger tolerabel, als der Bundesrechtsanwaltskammer durchaus bedeutsame Aufgaben obliegen: die Kommunikation mit Bundestag und Bundesbehörden (§177 Abs. 2 Nr. 4 - 6 BRAO) sowie bislang der Erlaß der Standesrichtlinien (§177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO) und in Zukunft - möglicherweise - der Erlaß einer satzungsförmigen Berufsordnung, BVerfG NJW 1988, 191 ff.; zum anwaltlichen Standesrecht Kleine-Cosack a. a. O. sowie unten 15. Kap., Anm. 69. 165 Eingehend dazu Wentzel (Anm. 107), S. 112 - 116.

124

II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

die Kammern der Heilberufe sind sie repräsentativ aufgebaut. Im Gegensatz zu diesen aber durchbricht ihre Organisationsstruktur in verschiedener Hinsicht das Prinzip der Identität von Entscheidungsadressaten und Kammermitgliedern sowie das der Gleichheit der Mitglieder. Die legitimationsrechtliche Schwachstelle der Industrie- und Handelskammern sowie der Innungen ist der Ausschluß der Lehrlinge und sonstigen Beschäftigten von der Kammermitgliedschaft, § 2 IHKG; §§ 52 Abs. 1 und 58 HO. Ob dieser Rechtszustand mit dem demokratischen Prinzip in Einklang zu bringen ist, wird im Schlußteil zu untersuchen sein 166 . Bereits hier aber ist das Entscheidungsmaterial aufzuarbeiten. Hinsichtlich der Industrie- und Handelskammern ist insoweit wesentlich, daß sie außerhalb des - für alle Kammern gesondert zu untersuchenden Ausbildungsbereichs nicht befugt sind, gegenüber den Kammerexternen bindende Entscheidungen mit unmittelbarer Rechtswirkung zu treffen. Aus der Perspektive der abhängig Beschäftigten ist es daher ohne Bedeutung, ob die Aufgaben der Kammern von öffentlichen Körperschaften oder von privaten Arbeitgebervereinigungen wahrgenommen werden 1 6 7 . Für die Handwerksinnungen gilt weithin nichts anderes, und dort, wo die Gesellen durch Innungsentscheidungen betroffen sind, ist ihre Durchführung nur mit Zustimmung eines besonderen Gesellenausschusses statthaft, § 68 HO. Scheinen somit die Interessen der Kammerexternen gewahrt zu sein, so ist doch auf der anderen Seite nicht zu verkennen, daß die Aktivitäten der Kammern, zumal der Industrie- und Handelskammern im Dienstleistungsund Interessenvertretungssektor, jedenfalls für die Lehrlinge und Gesellen als die zukünftigen Meister bzw. Kaufleute von beträchtlicher Bedeutung sind 1 6 8 . Angepaßter an die gewandelten Verhältnisse präsentieren sich die Handwerkskammern. Da in ihnen nunmehr auch die Gesellen und Lehrlinge Mitgliedsstatus besitzen, erstreckt sich ihre Regelungskompetenz heute, anders als zu ihren konstitutionellen Anfangszeiten, nicht mehr auf Externe. Dem 166 Im Gegensatz zur dogmatischen Tradition entschieden verneinend Wentzel (Anm. 107), S. 124 - 130 sowie Richter, Die Rechtsprechung zur Berufsausbildung, S. 94 - 97. Beide fordern eine effektive Beteiligung der Gesellen, der Lehrlinge sowie auch der sonstigen Arbeitnehmer. Sie weisen darauf hin, daß 1963 lediglich 1/5 der im Handwerk Beschäftigten selbständige Handwerker waren. Der Anteil der Selbständigen ist in der Zwischenzeit weiter geschrumpft und dürfte derzeit kaum mehr als 10 % der Beschäftigten ausmachen. Nähere Angaben bei Roemer, in: Wirtschaft und Statistik, 1978, S. 27 - 30. 167 Dies übersehen Wentzel (Anm. 107), S. 124 - 130 und Richter (Anm. 166), S. 94 97. 168 Insofern hat die Argumentation von Fröhler, Die paritätische Mitbestimmung in den Handwerkskammern als verfassungsrechtliches Problem, Gew.-Arch. 1974, S. 4, der die Privilegien der selbständigen Handwerker mit der Ausrichtung der Kammern auf deren Interessen rechtfertigt, vor allem im Hinblick auf die Verweigerung jeglicher Mitwirkungsrechte für die Lehrlinge, etwas Doppelbödiges.

3. Kap.: Die Kammern

125

genossenschaftlichen Prinzip der Kongruenz von Betroffenheit und Beteiligung ist folglich hinsichtlich der Mitgliedschaftsregelungen Genüge getan. Bei näherer Betrachtung indessen erweist sich die Bedeutung dieses Demokratisierungsfortschritts als gering, da die Handwerksmeister zwei Drittel der Mitglieder der Vollversammlung stellen, während der zahlenmäßig größeren Gruppe der Gesellen lediglich ein Drittel der Sitze zusteht 169 und die Lehrlinge schließlich weder wahlberechtigt noch in der Vollversammlung vertreten sind 1 7 0 . Auch die Organisationsstruktur der Handwerkskammern wirft mithin im Hinblick auf das demokratische Prinzip Fragen auf 1 7 1 . Hinsichtlich der Gesichtspunkte der Entscheidung kann weithin auf die Ausführungen über das Verhältnis der Innungen und der Industrie- und Handelskammern zu den Kammerexternen Bezug genommen werden. Besonderheiten ergeben sich allerdings aus der abweichenden Regelung der Rechtsstellung der Gesellen. Einerseits sind sie an allen Entscheidungen der Kammern beteiligt, andererseits haben sie auch dort, wo sie selbst Adressaten von Kammerentscheidungen sind - beispielsweise bei Unterstützungsmaßnahmen für notleidende Gesellen, § 91 Abs. 1 Nr. 12 HO und bei der Entscheidung über die Eintragung in die Handwerksrolle, §§ 6 ff. HO keine Vetoposition. Die Bedeutung dieser Auslieferung an den Willen einer fremden, nicht staatlich legitimierten Instanz wird allerdings im Falle der Entscheidung nach §§ 6 ff. HO durch die Tatsache gemindert, daß der Gesetzgeber die Eintragungsvoraussetzungen detailliert geregelt und der Kammer somit die Rolle eines bloßen Vollzugsorgans ohne eigenständigen Entscheidungsspielraum zugewiesen hat. cc) Die Organe der beruflichen Bildung Ein besonderes Gepräge zeigt die Legitimationsfrage im Bereich der beruflichen Bildung 1 7 2 . Soweit hier nicht ohnehin staatliche Organe zuständig sind, obliegt sie - mit Ausnahme der diesbezüglichen Überwachungskompetenzen 173 - nicht den herkömmlichen Kammerorganen, sondern speziellen „Bildungsorganen", den Berufsbildungs- sowie den Prüfungsausschüssen 174 . Bei den Kammern der freien Berufe gilt dies allerdings nur für 169 Überdies werden die Vertreter der Gesellen nicht von diesen direkt, sondern durch zwischengeschaltete Wahlmänner gewählt, § 98 HO. 170 § 93 HO i. V. m. der Wahlordnung der jeweiligen Kammer. Für die Verteilung der Vorstandssitze gilt derselbe Quotient, § 108 Abs. 1 HO i. V. m. der Wahlordnung. " i Kritisch Wentzel (Anm. 107), S. 112 - 116, 124 - 130. Zur Problematik auch Scheuing, Autonome Rechtssetzung, S. 10, 256, 259 ff., insb. S. 265. 172 §§ 74 f., 87, 89, 91 BBiG sowie §§ 28 - 44 HO. Eingehend dazu Wentzel (Anm. 107), S. 112 - 116, 124 - 130; Richter (Anm. 166), S. 94 - 97. 173 §§ 91 Abs. 1 Nr. 4, 5; 41 a HO sowie § 45 BBiG. 174 §§ 56 - 59 BBiG und §§ 43 - 44 b HO sowie § 36 BBiG und § 33 HO. Die Ausschüsse bestehen bei den Industrie- und Handels- sowie bei den Handwerkskammern.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

die berufliche Bildung der Gehilfen, nicht hingegen für die der Kammermitglieder 175 . Die Berufsbildungsausschüsse, die für den Erlaß der autonomen Rechtsvorschriften über die berufliche Bildung zuständig sind 1 7 6 , setzen sich zu je einem Drittel aus Beauftragten der Arbeitgeber (im Bereich des Handwerks: der selbständigen Handwerker) 177 , der Arbeitnehmer (im Bereich des Handwerks: der Gesellen) 178 und der Berufsschullehrer 179 zusammen. Die Sitzverteilung in den für die Durchführung von Prüfungen zuständigen Prüfungsausschüssen ist ähnlich 1 8 0 . In dem durch die Beteiligung dreier Kräfte - des Staats, der mitwirkungsberechtigten Kammermitglieder und der Arbeitnehmervertreter - gekennzeichneten Verfahren für die Rekrutierung der Ausschußmitglieder schlägt sich der Charakter der beruflichen Bildung nieder: Sie ist eine „gemeinsame Angelegenheit" von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften, für deren Erfüllung die Kammern lediglich das organisatorische Dach liefern, ohne sie dadurch in den Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten integrieren zu können 1 8 1 . Die Tatsache, daß nur eine Minderheit der Ausschußmitglieder über eine kammereigene Legitimation verfügt, ist daher ebensowenig eine planwidrige Unvollkommenheit wie die, daß dieses Manko nur bei den Berufsschullehrern durch einen staatlichen Legitimationsakt kompensiert w i r d 1 8 2 , beides ist vielmehr adäquater Ausdruck der Stellung der Berufsbildung im Kraftfeld von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Hieraus erhellt, daß die berufliche Bildung sich in das herkömmliche, auf den Prämissen einer homogenen Mitgliedschaft, genossenschaftlicher Willensbildung und körperschaftsspezifischer eigener Aufgaben beruhende Selbstverwaltungskonzept nicht einfügen läßt. Die Situation und auch ihre verfassungsrechtliche Problematik ähneln viel eher der des ministerialfreien Raums. 175

§ § 8 7 - 9 1 BBiG. Im Bereich des Handwerks obliegt allerdings die formelle Beschlußfassung der Kammervollversammlung, §§ 91 Abs. 1 Nr. 4 - 6, 106 Abs. 1 Nr. 8, 9 i. V. m. § 44 HO; eingehend hierzu Wentzel (Anm. 107), S. 216 f. 177 Sie werden von den Industrie- und Handelskammern vorgeschlagen bzw. von den selbständigen Handwerkern gewählt, § 56 Abs. 1 und 2 BBiG bzw. § 43 Abs. 1 und 2 HO. 178 Sie werden von den Gewerkschaften vorgeschlagen bzw. von den Gesellen gewählt, § 56 Abs. 1 und 2 BBiG bzw. § 43 Abs. 1 und 2 HO. 179 § 56 Abs. 1 und 2 BBiG bzw. § 43 Abs. 1 und 2 HO. Die Lehrer haben lediglich beratende Stimme. 180 §§ 37 Abs. 1 und 2 BBiG und § 34 Abs. 1 - 5 HO. 181 Ähnlich schon die Argumentation von Wentzel (Anm. 107), S. 220 ff., der dem Berufsbildungsausschuß sogar die Qualität eines Organs der Industrie- und Handelskammer abspricht. Keine Bedenken an der Zugehörigkeit des Berufsbildungsausschusses zur Kammer haben Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 12 zu § 8. 182 Auch der Berufsbildungsausschuß der Industrie- und Handelskammern verfügt nur über eine sehr eingeschränkte staatliche Legitimation, da zwar seine sämtlichen Mitglieder von der zuständigen Landesbehörde berufen werden, diese sich aber als an die Vorschläge der Kammern und Gewerkschaften gebunden betrachtet. 176

3. Kap.: Die Kammern

127

dd) Die Wahl der Kammerversammlung Neben den bislang dargestellten Problemen werfen auch die Regelungen der HO sowie der Kammergesetze der Länder über die Wahl der (Voll)Versammlung Fragen hinsichtlich der autonomen Legitimation der Kammern auf. (1) Friedenswahlen Während über die Zusammensetzung der Kammerversammlung, soweit sie als Repräsentativorgan konstruiert ist, in den bundesgesetzlich organisierten Kammern der freien Berufe getreu dem genossenschaftlich-demokratischen Körperschaftskonzept durch Wahlen entschieden wird, sehen sowohl die H O 1 8 3 als auch die Kammergesetze der Länder 1 8 4 den Verzicht auf die Durchführung der Wahl vor 1 8 5 , sofern von seiten der Vorschlagsberechtigten lediglich ein Wahlvorschlag eingereicht w i r d 1 8 6 . Da dieses Berufungsverfahren nicht zuletzt aufgrund des häufig relativ hohen Quorums für die Einreichung eines Wahlvorschlags stets dazu tendiert, den interessierten Verbänden sowohl die Entscheidung über die Durchführung der Wahl als auch die über die Zusammensetzung der Versammlung in die Hand zu spielen, eröffnet es die Möglichkeit, das - im Bereich der Staatsorganisation verfassungsrechtlich verbürgte und auch zum traditionellen Bestand des körperschaftlichen Organisationsrechts gehörige - Modell der parlamentarisch-demokratischen Konstituierung des zentralen Willensbildungsorgans durch ein verbandsoligarchisches beiseite zu schieben. Das demokratische Legitimationsprinzip wird damit vom Prinzip der Legitimation durch organisierte Interessen verdrängt. Dies ist um so bedeutsamer, als das einzelne Kammermitglied durch diesen Mechanismus mediatisiert w i r d - es kann häufig nur noch über die Migliedschaft in privaten Verbänden auf die öffentliche Körperschaft, der es zwangsweise angehört, Einfluß nehmen. Eine.Legitimation durch individuellen Zustimmungsakt der Entscheidungsadressaten ist unter diesen Umständen nicht mehr vorhanden.

183 § 95 HO i. V. m. § 20 Anlage C zu HO. 184 Vgl. etwa § 11 Abs. 1 bwKammerG. Auch die Wahlordnungen der meisten Industrie- und Handelskammern enthalten entsprechende Regelungen. Ob diese durch die Ermächtigung des § 5 Abs. 2 I H K G gedeckt sind, ist umstritten. Dafür Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 4 hh zu § 5, dagegen BVerwG GewArch. 1980, S. 296 sowie eingehend unten 15. Kap. I 2 c. 185 Eine analoge Regelung gilt für die Sozialwahlen, vgl. § 46 Abs. 3 SGBIV; dazu 4. Kap. II, IV 1 b aa. 186 Die auf der „Einheitsliste" aufgeführten Kandidaten werden dann automatisch ernannt. Die Dogmatik hat für diesen bemerkenswerten Modus der Rekrutierung der Versammlungsmitglieder den wohlklingenden Terminus „Friedenswählen" kreiert, vgl. etwa Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 4 hh zu § 5.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

(2) Aufspaltung der Wahlen zur Kammerv er Sammlung in gruppenspezifische Teilwahlen Ein weiteres legitimationsrechtliches Bedenken resultiert aus der gesetzlichen Regelung der Zusammensetzung der Handels- und Handwerkskammern. Während in den berufsständischen Kammern sowie grundsätzlich auch in der Kreishandwerkerschaft 187 die Wahlen zur Kammerversammlung auf dem Prinzip der streng formalen Gleichheit beruhen, treffen § 5 Abs. 3 I H K G und § 93 Abs. 2 HO Sonderregelungen. Sie ordnen an, daß die Gesamtzahl der Versammlungsmitglieder nach einem satzungsförmig festzulegenden Schlüssel auf die einzelnen Gewerbegruppen zu verteilen ist; hierbei sind die wirtschaftlichen Besonderheiten des Kammerbezirks und die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Gruppen zu berücksichtigen 1 8 8 . Die Wahlen zur Kammerversammlung erfolgen demnach nicht in einem unter dem Gebot der egalitären Gleichheit aller Mitglieder stehenden einheitlichen Wahlakt, sondern sind gruppenförmig parzelliert. Lediglich innerhalb dieser einzelnen Gruppen gilt die streng formale Wahlrechtgleichheit, während die Verteilung der Sitze auf die Gruppen nach dem Maßstab ihrer ökonomischen Bedeutung erfolgt, der Zählwert der einzelnen Mitgliedsstimme also je nach Gruppenzugehörigkeit variiert. Dieses segmentierte Wahlverfahren wäre wohl unbedenklich, sofern das Entscheidungsverfahren in gleicher Weise vonstatten ginge, wenn also nur die sektoral legitimierten Versammlungsmitglieder über die Angelegenheiten ihres Teilwahlkörpers zu befinden hätten. Das ist indessen nicht der Fall. Anders als das Legitimationsverfahren ist das Entscheidungsverfahren einheitlich und egalitär: Es entscheidet die Mitgliederversammlung. Die Problematik ist Gemeingut aller nicht homogenen Körperschaften und findet sich auch bei den Sozialversicherungsträgern und der BA. Es wird Aufgabe des 4. Teils sein zu klären, ob Stimmrechtsdifferenzierungen sub specie des demokratischen Prinzips eine überzeugende Lösung darstellen 189 .

187 Die Einschränkung bezieht sich auf die in § 88 S. 4 HO vorgesehene Möglichkeit, per Satzung Stimmrechtsdifferenzierungen einzuführen. 188 Die Tradition dieser Regelung reicht zurück bis auf § 10 preuß. H K G von 1897. Ihr Zweck ist es, die organisationsrechtlichen Vorkehrungen für eine angemessene Repräsentation der wirtschaftlichen Kräfte des Kammerbezirks zu treffen. Darum und nicht wie im herkömmlichen Körperschaftsmodell um eine Repräsentation der Mitglieder, ist es dem I H K G zu tun. Das individualistisch-personale Repräsentationskonzept w i r d durch ein ökonomistisches ersetzt. Eingehend zum Ganzen und auch zu den satzungsförmigen Konkretisierungen der Regelung, Bremer (Anm. 8), S. 117 f.; Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 4 kk zu § 5. 189 Die traditionelle Dogmatik hält sie für gänzlich unbedenklich. Ebenso BVerfGE 10, 89, 107 (Erftverband).

3. Kap.: Die Kammern

(3) Die Befugnis der Vollversammlung

129

zur Selbstergänzung

Das letzte Problemfeld im Bereich der personellen Legitimation bildet die Befugnis der Vollversammlungen der Handwerkskammern, sich in Höhe von bis zu einem Fünftel der Mitgliederzahl durch Zuwahl kammerexterner Sachverständiger zu ergänzen, § 93 Abs. 4 HO 1 9 0 . Es versteht sich, daß die Kooptation mit einem Herrschafts- und Legitimationsmodell, in dem die Herrschaftsträger ihre personale Entscheidungsbefugnis aus ihrer Wahl durch die Entscheidungsadressaten herleiten, kaum in Einklang zu bringen ist. Die Sprengkraft dieser Befugnis läßt sich auch nicht mit dem Einwand entschärfen, die Kammerversammlung sei ja schließlich auch befugt, Externe zu hauptamtlichen Geschäftsführern zu wählen, denn problematischer noch als das Absehen vom Mitgliedschaftserfordernis als Wählbarkeitsvoraussetzung ist das Selbstergänzungsrecht als solches. So sehr sachliche Gründe für seine Beibehaltung streiten mögen, so wenig entspricht es dem Prinzip der demokratischen Repräsentation. Die diesem eigene Legitimation aller Repräsentanten durch alle Repräsentierten steht zum Kooptationsgedanken in diametralem Widerspruch. In den Industrie- und Handelskammern ist anders als in der Vergangenheit die Kooptation von Nichtmitgliedern nicht statthaft 1 9 1 . Die Zuwahl von Kammerzugehörigen in die Mitgliederversammlung durch diese selbst wird allerdings für zulässig gehalten 192 . Begründet wird diese Auffassung mit dem Argument, § 5 I H K G garantiere den Kammerzugehörigen lediglich die Teilnahme an der Wahl, verankere aber kein bestimmtes Wahlverfahren, daher seien die Kammern nicht gehindert, der Vollversammlung die Befughis einzuräumen, sich durch Zuwahl selbst zu ergänzen. Es handele sich insoweit um keine selbständige Wahl durch die Vollversammlungsmitglieder, sondern um einen nachgezogenen Teilakt der Wahl zur Kammerversammlung, indem die bereits gewählten Mitglieder als Wahlmänner für die noch zu wählenden fungierten 193 . Die abstruse Künstlichkeit dieser Konstruktion vermag indessen nicht zu verhehlen, daß es um nichts anderes geht als darum, den Zweck des Gesetzes, die Abschaffung der früher und auch heute noch in den Handwerkskammern erlaubten Kooptation, zu unterlau190

Eingehend dazu Eyermann u. a. (Anm. 123), Rdnr. zu § 93. § 5 Abs. 2 IHKG. Ebenso und eingehend dazu Bremer (Anm. 8), S. 9 und 112. 192 BVerwGE 16, 312; Krause, Die Ergänzung der Vollversammlung der Industrieund Handelskammer durch eine spätere Zuwahl, Gew.-Arch. 19 64,S.220-223; Bremer (Anm. 8), S. 112 f.; Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 2 zu § 5. 193 Das Bundesverwaltungsgericht (Anm. 192) hält die Zuwahl für „sachgerecht", da sie die Ergänzung der Vollversammlung „durch Vertreter solcher für das Bild des Kammerbezirks bedeutsamen Wirtschaftszweige (ermöglichte), die über das Wahlgruppenverfahren keinen Sitz in der Vollversammlung erreichen können". Doch das ist ein rechtspolitisches Argument und als solches nicht geeignet, den Gehalt des geltenden Rechts umzubiegen; zudem ließe sich dieses Ziel auch auf anderen Wegen erreichen. 191

9 Emde

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

fen und vom Selbstergänzungsrecht noch zu retten, was zu retten ist. Doch nicht nur das: Die Selbstergänzung der Vollversammlung durch Zuwahl verstößt auch und vor allem gegen den klaren Wortlaut des § 5 Abs. 1 IHKG. Indem er formuliert, daß „die" Kammerzugehörigen gewählt werden, ordnet er an, daß alle Vollversammlungsmitglieder direkt von der Gesamtheit der Zugehörigen gewählt werden. Dadurch, daß § 5 Abs. 1 die Zugehörigen selbst zum Kreationsorgan der Vollversammlung erklärt, schließt die Bestimmung zugleich die Zwischenschaltung eines Wahlmännergremiums aus. 2. Die demokratische Legitimation der Kammern in materieller Hinsicht

a) Die staatsvermittelte

Legitimation

Keine substantiellen Verkürzungen im Vergleich zur hierarchischen Ministerialverwaltung sind im übertragenen Wirkungskreis für die staatsvermittelte Legitimation des Kammerhandelns zu verzeichnen. Allerdings wäre es unzutreffend, die dem Staat hier zustehende Fachaufsicht mit der ministeriellen Leitungsbefugnis über nachgeordnete Behörden gleichzusetzen. Der Fachaufsicht ist zwar die Befugnis, fachliche Weisungen zu erteilen, immanent, sie verleiht ihrem Träger aber kein allgemeines und uneingeschränktes Leitungsrecht. Getreu ihrem Charakter als Aufsichtsbefugnis ebnet sie die dogmatische Unterscheidung zwischen Leitung und Kontrolle nicht ein, sondern beschränkt die staatlichen Aufsichtsbehörden darauf, rechtliche sowie sachliche Fehlentscheidungen des Beaufsichtigten zu korrigieren, respektiert aber dessen Entscheidungsprärogative. Doch die Auswirkung dieser im Hinlick auf die tatsächlichen Machtverhältnisse durchaus gewichtigen Begrenzimg des staatlichen Zugriffsrechts auf das Niveau der staatsvermittelten Legitimation ist unbedeutend. Nicht die Frage, ob der Staat selbst eine Entscheidung getroffen hat, ist maßgeblich für ihre staatliche Legitimation, sondern die, ob sie ihm zugerechnet werden kann. Dies aber ist bereits dann der Fall, wenn die Entscheidung voll zur Disposition der staatlichen Behörden steht. Genau diese Voraussetzung aber ist erfüllt, sofern und soweit dem Staat die Fachaufsicht über die Kompetenzen eines Selbstverwaltungsträgers zusteht. Entscheidungen im übertragenen Wirkungskreis sind mithin staatlich legitimiert. Allerdings spielt der übertragene Wirkungskreis in der Kammerverwaltung nur eine Nebenrolle, das Gros ihrer Zuständigkeiten sind eigene Angelegenheiten. Lediglich den Handelskammern hat der Gesetzgeber in größerem Umfange staatliche Angelegenheiten übertragen 194 . Im Bereich der 194

Dazu oben I I I 1 und II.

3. Kap.: Die Kammern

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Handwerkskammern wird man die Aufsicht über die Innungen und die Kreishandwerkerschaft als übertragene Staatsaufgaben betrachten müssen 195 . Ob bzw. inwieweit die Berufsbildungsfunktion der Kammern auch in diese Kategorie gehört, muß hier dahingestellt bleiben 196 . Anders als im übertragenen Wirkungskreis liegen die Dinge hingegen im eigenen Wirkungskreis der Kammern. Hiervon ist im folgenden zu handeln. Die legitimationsschaffenden Steuerungsmittel des Staates über die Kammern sind sowohl (vorgängig) lenkender als auch (nachträglich) kontrollierender Art. Als Lenkungsinstrument stehen dem Staat Gesetz und Rechtsverordnung sowie die Genehmigungsvorbehalte zur Verfügung 197 , als Kontrollinstrument die Rechtsaufsicht. Die legitimierende Wirkung der Rechtsaufsicht erschöpft sich in der Gewährleistung der Übereinstimmung des Kammerhandelns mit dem staatlichen sowie dem autonomen Recht; ihr demokratischer Gehalt geht mithin nicht über ihren rechtsstaatlichen hinaus 198 . Ob dies auch für die staatlichen Genehmigungsvorbehalte gilt, bedarf besonderer Klärung. Entsprechend der Tradition des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltungseinrichtungen unterliegen auch im Kammerwesen eine Reihe besonderer Zuständigkeiten - Satzungsermächtigungen, Haushaltsbeschlüsse sowie bestimmte Vermögenstransaktionen und Wahlakte - staatlichen Genehmigungsvorbehalten. Da der Maßstab der staatlichen Genehmigungsentscheidung in den Kammergesetzen nicht spezifiziert ist, stellt sich hier die auf der grundsätzlichen Ebene 199 bereits bejahte Frage, ob dem Staat ein Genehmigungsermessen zusteht. Ist das der Fall, so wird der Inhalt der genehmigungsbedürftigen Maßnahme durch den Genehmigungsakt staatlich legitimiert. Die Frage ist, wie nicht anders zu erwarten, umstritten 2 0 0 . Anknüpfend an die diesbezüglichen Darlegungen in Teil 1) bleibt hier lediglich zu untersuchen, ob die Kammergesetze den Charakter des Geneh195

Eingehend dazu Fröhler (Anm. 148), S. 72 ff. 196 Wentzel (Anm. 107), S. 220 ff. äußert hieran mit gutem Grund Zweifel; eingehend zur Verortung der Berufsbildungsfunktion unten 10. Kap. I I I 3. 197 Eine Bindung der Kammern an Verwaltungsvorschriften besteht nicht. Versteht man sie als generalisierte Weisungen, so stellen sie Einschränkungen des Selbstverwaltungsrechts dar, ihr Einsatz bedürfte mithin einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung. Eine solche hat der Gesetzgeber indessen nicht erteilt. 198 Siehe dazu oben 2. Kap. I I 3 b bb. 199 Siehe dazu oben 2. Kap. I I 1 b. 200 Für ein staatliches Genehmigungsermessen in neuerer Zeit Eyermann (Anm. 123), Rdnr. 11 zu § 56, Rdnr. 15 zu § 106; Fröhler (Anm. 148), S. 85 f. sowie die gesamte Vorkriegsdogmatik. Dagegen BVerwG 16, 312 ff.; Bremer (Anm. 8), S. 155; Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 3 zu § 11; Siegert/Musielak, Das Recht des Handwerks, Anm. 13 zu § 106; Menger, Verw.Arch. 52 (1961), S. 419 - 421; G. Küchenhoff, Die Rechtsnatur der staatlichen Genehmigung zu Rechtsetzungsakten öffentlicher Körperschaften - BVerwGE 16, 83, JuS 1963, S. 54 f. 9*

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

migungsakts als Ermessensentscheidung modifizieren. Der Text der Kammergesetze bietet hierfür indessen keine Anhaltspunkte, und dies gilt auch - entgegen der Auffassung des BVerwG 2 0 1 - für § 11 IHKG. Wenn das BVerwG meint, die in § 11 Abs. 2 verankerte Genehmigungsbedürftigkeit bestimmter Beschlüsse der Vollversammlung sei eine Ausprägung der in § 11 Abs. 1 niedergelegten staatlichen Rechtsauf sieht, so ist dies eine durch nichts begründete bloße Behauptung. Ihr entgegen steht die Systematik des Gesetzes, die § 11 Abs. 2 als Lex specialis zu § 11 Abs. 1 ausweist, die Gesetzgebungstradition, nach der die Genehmigung eben nicht als Unterfall der Rechtsauf sieht aufzufassen ist 2 0 2 , sowie die besondere Bedeutung der von § 11 Abs. 2 erfaßten Maßnahmen, die es viel plausibler erscheinen läßt, die Genehmigung nicht als eine bloße Vorverlagerung der staatlichen Rechtsaufsicht zu verstehen, sondern ihr den Charakter einer politischen Gestaltungsentscheidung des Staats beizumessen. Dies zumal rechtliche Maßstäbe für die Kontrolle der § 11 Abs. 2 erfaßten haushaltspolitischen Entscheidungen zur Zeit des Inkrafttretens des I H K G - im Jahre 1956 — nicht vorhanden waren, so daß eine rechtsaufsichtliche Prüfung der Genehmigungsbehörde bis zum Erlaß des Haushaltsgrundsätzegesetzes im Jahre 1969 weitgehend leergelaufen wäre 2 0 3 . Im Ergebnis ist daher daran festzuhalten, daß staatliche Genehmigungen Ermessensakte sind. Unternimmt man es, aus der allgemeinen Grundlegung Folgerungen zu ziehen, so zeigt sich, daß das Maß an staatlicher Legitimation der Kammerentscheidungen schwankend ist - das Bild ändert sich von Aufgabentyp zu Aufgabentyp. Bestimmende Determinanten sind auf der einen Seite die staatlichen Steuerungsinstrumente, auf der anderen Seite Umfang und Reichweite der autonomen Normsetzungsbefugnisse sowie des Entscheidungsspielraums der Kammerorgane bei ihren Einzelmaßnahmen. aa) Organisationsstruktur und Finanzverfassung Die Organisationsstruktur sowie die Finanzverfassung der Kammern sind in ihren Grundzügen staatlich festgelegt, insbesondere Art, Zuständigkeit und Zusammensetzung der Organe hat der Gesetzgeber im wesentlichen selbst geregelt. Soweit seine Vorgaben noch Raum für autonome Organisationsentscheidungen lassen 204 , sind diese ebenso wie die Beitrags- und Ge201 Bd. 16, 312 ff. 202 Vgl. hierzu oben 2. Kap. 1 b. 203 Nach § 48 Abs. 1 i. V. m. § 6 Abs. 1 HGrG sind auch die juristischen Personen des öffentlichen Rechts an die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gebunden. 204 Dies gilt etwa für die Befugnis der Handwerks- und Handelskammern, Ausschüsse einzurichten (§ 110 HO und § 8 IHKG), die Befugnis der Innungen, sich repräsentativ zu organisieren (§61 Abs. 1 S. 3 HO) und die der Kammern der Heilberufe, Untergliederungen einzurichten (§22 bwKammerG).

3. Kap.: Die Kammern

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bührensatzungen und der Haushaltsbeschluß durch die zu ihrem Inkrafttreten erforderliche staatliche Genehmigung inhaltlich legitimiert 2 0 5 . Raum für eigenständige, dem staatlichen Zugriff und damit auch der staatlichen Legitimation entzogene Gestaltungsentscheidungen besteht mithin im Organisations· und Finanzbereich, normativ betrachtet, nicht. Stellt man allerdings in Rechnung, daß die staatlichen Genehmigungsbehörden sich ihres Versagungsermessens infolge des dagegen gerichteten literarischen Sperrfeuers häufig kaum bewußt sein dürften, so deckt die Genehmigungserteilung realiter dann nur die rechtliche und nicht die sachlich-politische Seite der genehmigungspflichtigen Maßnahme ab. bb) Die berufliche Bildung Die größte Intensität erreicht die staatliche Legitimation der Kammern im Bereich der beruflichen Bildung und hierbei insbesondere der Teilbereich der Berufsausbildung. Dort sorgen die gesetzlichen Aufgabenbestimmungen sowie vor allem die große Regelungsdichte der staatlichen Ausbildungsverordnungen 206 für so genaue Handlungsanweisungen, daß den Kammern im wesentlichen nur bei der Berufsfortbildung Raum für eigenständige Gestaltung bleibt 2 0 7 . In der Berufsausbildung hingegen haben sie nur noch marginale Normsetzungsbefugnisse 208 , und auch beim Vollzug des staatlichen Rechts ist ihr Entscheidungsspielraum gering; sie fungieren zumeist als lediglich formalrechtlich verselbständigte Vollzugsorgane staatlicher Willensentscheidungen 209 . Der Beurteilungsspielraum der Prüfungsausschüsse verändert dieses Bild nicht: Er stände ihnen genauso zu, wenn sie - wie die Meisterprüfungsausschüsse nach § 47 HO - staatliche Behörden wären. Im Bereich der Berufsausbildung gewährleistet mithin das Zusammenwirken 205 § 110 HO und § 8 I H K G verlangen nicht ausdrücklich eine staatliche Genehmigung, man wird jedoch davon ausgehen können, daß der Beschluß, einen Ausschuß einzurichten, in Satzungsform zu ergehen hat und von daher dem Erfordernis einer staatlichen Genehmigung unterfällt. 206 § 25 BBiG; §§ 25 und 45 HO. Die Ausbildungsordnungen regeln Inhalt und Ziel der Ausbildung und legen die Prüfungsanforderungen fest. 207 Wege und Ziele der beruflichen Fortbildung werden trotz vorhandener gesetzlicher Ermächtigungen bislang in der Regel nicht durch staatliche Rechtsverordnungen, sondern durch autonome Kammersatzung festgelegt, vgl. bspw. §§42 und 42 a HO. Näher dazu Wentzel (Anm. 107), S. 218 f. 208 §§ 38, 41 f., 50 HO; §§ 41, 44 und 58 BBiG. Die Vorschriften ermächtigen lediglich zum Erlaß von verfahrensausgestaltenden Durchführungsbestimmungen für die staatlichen Ausbildungsordnungen; ebenso Eyermann u. a. (Anm. 123), Rdnr. 8 zu § 25; Rdnr. 1 zu § 38, Kommentierung zu § 50. Wegen ihrer staatlichen Programmierung halten der bayerische VGH (Gew.Arch. 1963, S. 207) und Eyermann u. a. (Rdnr. 1 zu § 38) die Prüfungsordnungen der Kammern für Rechtsverordnungen. Zu Recht wohl a. A. Siegert/Musielak (Anm. 200), Rdnr. 1 zu § 38. 209 Dies gilt nicht weniger für ihre eigene Ausbildungsarbeit als für ihre Überwachungsbefugnisse im Hinblick auf die Ausbildungsarbeit der Kammermitglieder, vgl. § 41 a HO und § 45 BBiG.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

von vorgängiger Lenkung und nachträglicher Kontrolle auch ohne die Instrumente der fachlichen Weisung und der Verwaltungsvorschrift eine präzise staatliche Steuerung und damit eine weitreichende Legitimation der Kammerentscheidungen durch den Staat. Für den Bereich der beruflichen Fortbildung müssen von dieser Aussage zwar gewisse Abstriche gemacht werden, gleichwohl erzeugt auch insoweit das Zusammenspiel von gesetzlichen Vorgaben, Rechtsverordnungsermächtigungen und staatlichen Genehmigungsvorbehalten mit der Rechtsaufsicht eine sehr weitreichende staatsvermittelte Legitimation. Dies gilt insbesondere für die Weiterbildung in den Heilberufen, die seit der Reform der jeweiligen Landesgesetze durch den Gesetzgeber eine detaillierte Regelung erfahren hat 2 1 0 ; zudem bedürfen die autonomen Weiterbildungsordnungen der Kammern staatlicher Genehmigung 211 . Es gilt für die Fortbildungsfunktion der „wirtschaftlichen" Kammern ungeachtet der eher kursorischen gesetzlichen Vorgaben 212 jedenfalls insoweit, als der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft von der ihm erteilten Ermächtigung zum Erlaß von „Fortbildungsrechtsverordnungen" 213 Gebrauch gemacht hat 2 1 4 . Inhalt und Reichweite der Fortbildungsfunktion der Anwalts-, Wirtschaftsberaterund Steuerprüferkammern sind vom Gesetzgeber zwar nicht ausgeformt worden, jedoch wird man auch diese Rechtslage für unbedenklich halten können, solange die Kammern - wie bisher - darauf verzichten, Fortbildungsregelungen mit statusbildendem Charakter 215 zu treffen. cc) Die Aufgaben der Wirtschaftsverwaltung Über eine recht weitreichende staatsvermittelte Legitimation verfügen die Kammern auch im Bereich der wirtschaftsverwaltenden Aufgaben 216 . Zwar unterliegen sie bezüglich ihrer Behördenberatung und -information sowie ihrer Gutachtertätigkeit lediglich der staatlichen Rechtsaufsicht, so daß der Inhalt dieser Aktivitäten dem staatlichen Zugriff völlig entzogen ist, dies erscheint jedoch unbedenklich, da es sich hierbei nicht um Entscheidungszuständigkeiten, sondern um reine Konsultativfunktionen handelt. Die Zuständigkeiten insbesondere der Handelskammern als Entscheidungsorgane der Wirtschaftsverwaltung i. e. S. nach § 1 Abs. 4 I H K G 210

Eingehend hierzu Kleine-Cosack (Anm. 127), S. 297 f. Vgl. §§ 39 i. V. m. 9 Abs. 3 bwKammerG. 212 Bedenken gegenüber der Weite der Autonomieverleihung an die wirtschaftlichen Kammern im Bereich der beruflichen Fortbildung äußert unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots Wentzel (Anm. 107), S. 218 f. sowie S. 226 f. 213 vgl. §§ 4 6 Abs. 2 BBiG; 42 Abs. 2 und 42 a Abs. 2 HO. 214 Nachweise auf bislang ergangene Rechtsverordnungen bieten Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 8 zu § 1. 2 15 Zum Begriff BVerfGE 33, 125, 163; Kleine-Cosack (Anm. 127), S. 285 f. 216 Siehe dazu oben I I 3. 211

3. Kap.: Die Kammern

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i. V. m. den jeweiligen Übertragungsgesetzen sowie die Aufsichtsbefugisse der Handwerkskammern über Innungen und Kreishandwerkerschaften sind - wie dargelegt - übertragene Aufgaben und unterliegen damit der staatlichen Fachaufsicht. Auch in diesem Bereich also ist die staatliche Legitimation der Kammertätigkeit gewährleistet. Anders hingegen verhält es sich mit den Zuständigkeiten der Handelskammern nach § 1 Abs. 3 IHKG; hier beschränkt sich die staatliche Ingerenz auf die Rechtsaufsicht. Schon ihre juristische Form erweist sie daher als Selbstverwaltungsangelegenheiten, darüber hinaus sind sie es auch der Sache nach, da die tatbestandliche Weite und der hohe Abstraktionsgrad der gesetzlichen Aufgabenzuweisung einen eigenständigen Konkretisierungsspielraum der Kammern zur Folge hat. Begrenzt wird er allerdings durch verschiedene EG-Verordnungen sowie durch staatliche Zollvorschriften 217 . Gleichwohl ist die parlamentsvermittelte Legitimation der Kammerentscheidungen in diesem Bereich reduziert. Im Hinblick auf die Frage, inwieweit dies mit der Verfassung in Einklang steht, w i r d zu berücksichtigen sein, daß zum einen die grundrechtliche Relevanz der Ursprungszeugnisse und Bescheinigungen gering ist und zum anderen die betroffenen Individualinteressen wohl durch die Rechtsprechung geschützt werden können, da i. d. R. weder die Frage, ob ein Zeugnis bzw. eine Bescheinigung auszustellen ist, noch die, welchen Inhalt das Dokument haben soll, im Ermessen der Kammern stehen dürfte. Besonderheiten weist die Legitimationsfrage im Hinblick auf die naturgemäß keiner staatlichen Einwirkung unterliegende Zuständigkeit der Handels· sowie der berufsständischen Kammern auf, Vorschläge für die Besetzung der Handels- bzw. der Berufsgerichte zu unterbreiten. Da die Justizbehörden zwar befugt sind, Vorgeschlagene abzulehnen, hingegen kein positives Auswahlermessen besitzen, w i r d den Kammern insoweit ein bedeutsamer Einfluß auf staatliche Personalentscheidungen eingeräumt. dd) Die Standesaufsicht Einen weiten eigenständigen Gestaltungsspielraum besitzen die Kammern im Bereich der Standesaufsicht. Dies gilt sowohl für ihre normsetzenden als auch für ihre normvollziehenden Befugnisse. Zwar sind die autonomen Berufsordnungen der Kammern der Heilberufe vom Gesetzgeber mittlerweile in ihren Grundzügen vorgeprägt 218 , auch hier aber erschien es ihm unerläßlich, den Kammern eine Blankettermächtigung zum Erlaß weiterer Berufspflichten auszustellen. Für die Kammern der sonstigen freien Berufe sowie für die Organisationen des Handwerks gilt dies erst recht, hier hat der Gesetzgeber häufig völlig darauf verzichtet, Gegenstand und Inhalt der 217 218

Näher dazu Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 9 - 11 zu § 1. Vgl. bspw. §§ 29 bis 31 bwKammerG.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Berufspflichten selbst zu konturieren und sich teils auf eine Kombination von Generalklausel mit · Satzungsermächtigung beschränkt, teils sich mit schlichten Generalklauseln begnügt 219 . Eine derart vage, finale Programmierung mindert naturgemäß auch die Effektivität der Rechtsaufsicht über die Normsetzungstätigkeit der Kammern. Der weite Gestaltungsspielraum der Kammern bei der Festlegung von Berufspflichten ist um so bemerkenswerter, als auch deren Überwachung und teilweise sogar deren Ahndung in ihre Hand gegeben ist. Selbst die Entscheidung darüber, in welcher Weise Verstöße gegen die Berufspflichten geahndet werden sollen, hat der Gesetzgeber teilweise den Kammerorganen überlassen 220 . Allerdings handelt es sich hierbei um eine Ausnahme; in der Regel hat der Gesetzgeber den Kammern lediglich die Befugnis erteilt, Rügen auszusprechen sowie Geldbußen zu verhängen, und die schwerwiegenderen Sanktionen in die Hand der Kammergerichte gelegt. Unternimmt man es, das dem Gesetzgeber bei der Zuordnung der Zuständigkeiten im Bereich der Standesaufsicht leitende Verteilungsprinzip herauszuarbeiten, so wird man als tragenden Gesichtspunkt das Bestreben erachten müssen, die Etablierung von Verhaltensstandards den Betroffenen zu überlassen, ohne dadurch das verfassungsrechtliche Gebot zu verletzen, die Voraussetzungen von Grundrechtseingriffen gesetzlich zu fixieren. Im Bereich der Heilberufe erscheint dieses Bemühen trotz des auch hier beträchtlichen autonomen Handlungsspielraums der Kammern erfolgreich 2 2 1 , im Bereich der sonstigen freien Berufe und des Handwerks hingegen ist die Befugnis der Kammern, Berufspflichten zu statuieren, gesetzlich so wenig konturiert, daß hier nicht mehr die Rede davon sein kann, ihre Entscheidungen seien „durch Sätze objektiven Rechts auf eine Willensentschließung der vom Volk bestellten Gesetzgebungsorgane" 222 rückführbar. ee) Die Dienstleistungsfunktion Im Hinblick auf die staatsvermittelte Legitimation der Dienstleistungsaktivitäten der Kammern ist zwischen den Kammern der freien Berufe und den Handels- sowie den Handwerkskammern zu unterscheiden. Erstere erbringen nur in vergleichsweise bescheidenem Umfang Dienstleistungen für ihre Mitglieder, zu nennen sind hier insbesondere die Fürsorge- bzw. Wohlfahrtseinrichtungen sowie die Fortbildungsveranstaltungen der Kam219

Vgl. etwa §§ 55 Abs. 2 Nr. 4 HO bzw. § 43 BRAO. Nach Eyermann u. a. (Anm. 123), Rdnr. 2 zu § 54 sowie Rdnr. 10 und 27 zu § 55 steht den Innungen bei Berufspflichtverletzungen der Mitglieder ein Sanktionsspektrum von der Geldbuße bis zum Mitgliedschaftsausschluß zu. 221 Zu den diesbezüglichen Anforderungen des Facharztbeschlusses und ihrer Erfüllung durch den jeweiligen Landesgesetzgeber eingehend Kleine-Cosack (Anm. 127), S. 289 m. w. N. 222 BVerfGE 33, 125, 158. 220

3. Kap.: Die Kammern

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mern. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben ist vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen 223 , ihre Ausgestaltung im einzelnen obliegt allerdings dem Ermessen der Kammern. Viel weitreichender sind die Dienstleistüngsaktivitäten der Handelssowie der Handwerkskammern. Wenn dies auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht und er in §§ 54 Abs. 1 und 2, 87 Nr. 3 und 91 Abs. 1 Nr. 9 und 12 HO sowie § 1 Abs. 2 I H K G vielfältige Ermächtigungen für den Aufbau seiner mitgliederbezogenen Leistungsverwaltung bereitgestellt hat, so bleibt doch die Frage, ob auch jene Aktivitäten der Kammern, die - wie der Betrieb von Inkasso-, Steuerberatungs- und Hechtsberatungsstellen sowie von EDV-Anlagen - nicht dem Berufsstand als solchem, sondern den wirtschaftlichen Interessen seiner einzelnen Mitglieder zu dienen bestimmt sind, von den gesetzlichen Aufgabenzuweisungen gedeckt sind. Vergegenwärtigt man sich, daß es hier nicht um Verbesserungen der Strukturbedingungen des Kammerberufs, sondern um blanke private Profitinteressen geht 2 2 4 , so drängt sich die Erkenntnis auf, daß die gesetzlichen Kompetenzzuweisungen diese Aktivitäten sicherlich nicht fordern. Ob sie immerhin zulässig sind, bleibt zu prüfen. Die zustimmende Antwort der Kammerlobbyisten wird sich daher nicht nur auf der Ebene des einfachen Rechts ausweisen müssen, sondern auch den Einwand zu entkräften haben, die Wahrnehmung wirtschaftlicher Privatinteressen könne nicht Aufgabe einer öffentlichen Körperschaft sein. Doch abgesehen von diesen kompetentiellen Bedenken ist die Legitimation der Kammern im Bereich der Dienstleistungsfunktion auch insoweit problematisch, als die staatliche Kontrolltätigkeit nur geringe Wirksamkeit erlangt. Die Ursache hierfür ist in der Tatsache zu suchen, daß es nicht nur an einer Steuerung der Dienstleistungsaktivitäten durch staatliche, sondern auch durch autonome Normen fehlt; häufig bilden einfache Beschlüsse die Grundlage des Kammerhandelns. Da diese aber nach derzeit herrschender Auffassung 225 nicht Gegenstand der staatlichen Rechtsaufsicht sind, ist deren Effektivität infolge des Fehlens von rechtlichen Kontrollmaßstäben von vornherein sehr begrenzt. Darüber hinaus zeigen die staatlichen Behörden kaum Neigung, von ihren ohnehin nicht sehr wirksamen Aufsichtsbefugnissen wenigstens Gebrauch zu machen 226 . Die Möglichkeit, qua staat223

Vgl. §§ 89 Abs. 2 Nr. 3 und 177 Abs. 2 Nr. 7 BRAO sowie §§ 4 Abs. 2 und 4 bwKG. 224 Die Leugnung dieses Unterschiedes durch BVerwGE 16, 312, 315 f. ist schlicht apologetisch. 225 Stößner, Die Staatsaufsicht in der Sozialversicherung, S. 63. Allerdings wird dieser Standpunkt der rechtsstaatlichen Funktion der Rechtsauf sieht (s. dazu oben 2. Kapitel I I 3 b bb (1) nicht gerecht. 226 Am ehesten vermag die Rechtsaufsicht bei eklatanter Überschreitung des gesetzlichen Aufgabenkreises wirksam zu werden. Vor allem die Fälle rechtswidriger Wahrnehmung eines allgemein-politischen Mandats durch die Kammern bieten hier

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

licher Kontrolle Legitimationsverdünnung aufgrund fehlender staatlicher Lenkung zu kompensieren, besteht damit im Dienstleistungssektor gegenwärtig kaum. Aufs Ganze gesehen, bleibt die staatsvermittelte Legitimation daher hier äußerst rudimentär. ff) Die Interessenvertretungsfunktion Problematischer noch als die staatliche Legitimation der Dienstleistungsist die der Interessenvertretungsaktivitäten der Kammern. Allerdings ermächtigen alle Kammergesetze die Kammern dazu, die Auffassungen des Berufsstands gegenüber Parlament, Verwaltung, Justiz und Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen 2 2 7 . Die Einrichtungsgesetze der Handwerks- und Handelskammern sowie der Kammern der Heilberufe geben den Kammern sogar ausdrücklich die Vertretung der Interessen des Kammerberufsstandes auf 2 2 8 . Jede Kammer ist mithin unzweifelhaft berechtigt, als Public-relations-Instrument bzw. als Lobbyist ihres Berufsstandes aufzutreten. Fraglich ist indessen hierbei zum einen, ob sie sich auf solche Angelegenheiten beschränken muß, die den Berufsstand als solchen und im besonderen betreffen, oder ob ihr ein allgemeinpolitisches Mandat zusteht, und zum anderen, ob sie der Bindung an das - von Parlament und Regierung konkretisierte - Allgemeinwohl unterliegt oder ob sie die Interessen ihrer Mitglieder absolut setzen darf 2 2 9 . Beide Fragen werden von den Kammern im Sinne der jeweils zweiten Alternative beantwortet 230 . Auch dieses extensive Kompetenzverständnis läßt sich sicherlich nicht als bloße Konkretisierung einer in ihrer sachlichen Substanz bereits vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung darstellen; ob es sich immerhin darauf berufen kann, die Zuweisung der Interessenvertretungsfunktion sei eine Art Blankettermächtigung, deren Ausgestaltung den Kammern in die Hand gegeben sei, ist erst an späterer Stelle zu klären 2 3 1 . Hier kann es mit der Feststellung sein Bewenden haben, daß das, was die Handwerks- und Handelskammern sowie die Kammern der reiches Anschauungsmaterial; vgl. zuletzt BVerwG, NJW 1982,1928 (Abnahmepflicht einer Fachzeitschrift für Steuerberater) - mit Urteilsbesprechung von Redeker, NJW 1982, 1266 ff.; hierzu auch Tettinger (Anm. 95), S. 165 ff. Daß indessen auch hier die Aufsichtsbehörden nur selten von Amts wegen einschreiten und es zumeist die von Betroffenen angerufenen Gerichte sind, die rechtswidrige Praktiken unterbinden, stellt den Aufsichtsbehörden ein denkbar schlechtes Zeugnis aus und erhellt, wie ungern sie sich auf Konflikte mit den Kammern einlassen und wie gering daher in der Praxis die legitimationsschaffende Bedeutung der Rechtsaufsicht ist. 227 Vgl. § 177 Abs. 2 Nr. 4 und 5 BRAO sowie die entsprechenden Vorschriften der Wirtschaftsprüferordnung und des Steuerberatungsgesetzes. 228 Vgl. § 90 Abs. 1 und § 91 Abs. 1 Nr. 1 HO; § 1 Abs. 1 I H K G und § 4 Abs. 1 bwKammerG. 229 Zu den im Hinblick auf diese Probleme entwickelten Argumenten und Positionen unten 10. Kap. III. 230 Siehe oben I I 4. 231 Siehe hierzu 10. Kap. III.

3. Kap.: Die Kammern

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Heilberufe unter der Flagge der Interessenvertretung unternehmen, kaum durch staatliche Normen programmiert ist. Wie bereits bei der Dienstleistungsfunktion der Kammern zieht auch im Bereich ihrer Interessenvertretungsfunktion die Kargheit der gesetzlichen und autonomen Regelungen der Möglichkeit der Rechtsauf sieht, legitimationsverschaffend zu wirken, enge Grenzen. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, daß ein zentrales Aktionsfeld der Kammern staatlicher Steuerung weitgehend entzogen ist und mithin allenfalls rudimentär staatlich legitimiert ist. b) Die autonome Legitimation der Kammern in materieller Hinsicht Hinsichtlich der Legitimation der Entscheidungen der Kammern verdient die Anlehnung ihrer Binnenstruktur an das parlamentarische Regierungssystem besondere Hervorhebung. Augenfällig ist dessen Vorbildfunktion naturgemäß bei den repräsentativ aufgebauten Kammern; an ihnen orientieren sich die folgenden Ausführungen. Das Rechtsverhältnis Kammerangehöriger - Versammlungsmitglied entspricht dem von Staatsbürger und Parlament. Wie die Staatsbürger, so treten auch die Kammerangehörigen im Hinblick auf die Willensbildung der Kammern organisationsrechtlich lediglich als Kreationsorgane des zentralen Beschlußorgans, der Kammerversammlung, in Erscheinung. Eigene Entscheidungen treffen sie ebensowenig, wie sie berechtigt sind, auf die Entscheidungen der Versammlung Zugriff zu nehmen 232 . Deren Mitglieder haben vielmehr, ihrer repräsentativen Funktion gemäß, ein freies, nicht imperativ gebundenes Mandat inne; sie unterliegen keinen Weisungen und können während der Wahlperiode auch nicht abberufen werden 2 3 3 . Das Demokratiekonzept der Kammern weist mithin ebenso wie das des Staates die Vorstellung einer Beteiligung der Herrschaftsunterworfenen an jeder einzelnen Entscheidung zurück und versteht Legitimation als generalisierte und befristete Zustimmung bzw. - aus der Perspektive des Entscheidungsorgans - als Herrschaft aufgrund eines inhaltlich nicht konkretisierten, zeitlich jedoch begrenzten Mandats. Die bedeutsamste Ausprägung dieser Konzeption ist die Befugnis des primären Willensbildungsorgans der Kammern der Versammlung, alle Grundsatzentscheidungen zu treffen, und insbesondere die nachgeordneten Organe - Vorstand und Geschäftsführung - zu wählen 2 3 4 .

232 233 234

Vgl. § 94 HO. Vgl. § 103 HO, § 14 bwKammerG. Siehe dazu oben I I I 3.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Weniger deutlich als im Verhältnis Kammerangehöriger - Versammlungsmitglied spiegeln sich die Anleihen bei dem Vorbild der Staatsorganisation in der Rechtsstellung des Vorstands wider. Zwar stellt er im Beziehungsgefüge der Kammerorgane die oberste Exekutivinstanz dar, die tatsächliche Leitung der Verwaltung und die Ausführung der Beschlüsse der Versammlung ist jedoch vor allem in den wirtschaftlichen Kammern weithin auf die - dem Vorstand allerdings nachgeordnete und weisungsgebundene - hauptamtliche Geschäftsführung übergegangen 235 . Auch das Maß an funktioneller Verselbständigung des Vorstands gegenüber der Versammlung bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe zeigt Unterschiede zum staatlichen Pendant, da der Vorstand im Vergleich zur Regierung eine viel unabhängigere Stellung besitzt - in gewisser Weise kann man ihn als Repräsentanten der Versammlung bezeichnen. Dies kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß er während seiner Amtszeit nicht abgewählt werden kann und im Bereich seiner eigenen Zuständigkeiten keinen Einzelweisungen der Versammlung unterliegt 2 3 6 . Insoweit gilt auch für die Entscheidung des Vorstands, daß nicht ihr konkreter Inhalt, sei es durch die Adressaten, sei es durch die Versammlung als Legitimationsmittler, legitimiert ist, sondern daß lediglich ihr Autor, der Vorstand, über eine befristete, generelle Legitimation verfügt. In den Kategorien des Staatsrechts ist er damit ebenso wie die Versammlung ein politisches Repräsentativorgan, während die ihm nachgeordneten Instanzen reine Administrativorgane sind, deren Entscheidungen stets durch Vorstand und/oder Versammlung legitimiert sein müssen. 3. Schlußbemerkung

Während die staatsvermittelte personelle Legitimation der Kammern aufgrund der Dominanz der Mitglieder in allen Fragen der Personalpolitik nicht mehr als eine Nebenrolle spielt, sieht das Bild im Bereich der materiellen Legitimationskomponente durchaus anders aus. Hier hängt alles davon ab, inwieweit das Steuerungspotential des Staates reduziert ist: Soweit die Kammern lediglich als Exekutor präzise programmierter staatlicher Vorga235

Anders sieht die Situation in den berufsständischen Kammern aus. Hier ist die hauptamtliche Geschäftsführung kein gesetzliches Organ, und in der Tat werden auch in der Praxis die nicht standardisierten Verwaltungsentscheidungen von den Vorständen bzw. Präsidien selbst getroffen. Die Geschäftsführer sind lediglich schlichte^ gehorsamspflichtige Arbeitnehmer. 236 Im übrigen ist der Vorstand in den Wirtschaftskammern und nach Maßgabe der Satzung auch in den Kammern der Heilberufe an Weisungen der Versammlung gebunden. Ebenso Siegert u. a. (Anm. 200), Rdnr. 1 zu § 109; Eyermann u. a. (Anm. 123), Rdnr. 1 zu § 106; Frentzel u. a. (Anm. 95), Bern. 1 zu § 4. Die BRAO hingegen bietet keine Anhaltspunkte für eine über den Wahlakt hinausgehende rechtliche Abhängigkeit des Vorstands von der Versammlung. Es scheint, als solle das identitäre Moment der Rechtsanwaltskammern durch eine weitgehende Abnabelung des Vorstands - und damit des jedenfalls de facto maßgeblichen Organs - von der Versammlung domestiziert werden.

3. Kap.: Die Kammern

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ben fungieren, ist auch die staatsvermittelte materielle Legitimation ihrer Entscheidungen kaum reduziert und kommt der Organisation der internen Willensbildung sub specie des Demokratieprinzips nur beschränkte Bedeutung zu. Grundsätzlich anders liegen die Dinge indessen dort, wo die Entscheidungen der Kammern Ergebnis einer eigenständigen, in ihrer sachlichen Substanz dem staatlichen Zugriff entzogenen Willensbildung sind. Das trifft vor allem auf jene Bereiche zu, in denen die Kammern nicht nur vollziehende Einzelakte erlassen, sondern auch eine planende Gestaltungsfunktion besitzen: auf die Gegenstände der Satzungsautonomie; es gilt aber auch für jene Vollzugskompetenzen, bei deren Wahrnehmung den Kammern ein gewisser Entscheidungsspielraum verbleibt, sei es durch Ausübung von Ermessen, sei es in der Form der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. Diese Zonen eigenständiger Gestaltung stellen aus der Sicht des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips den eigentlichen Prüfstein für die Frage nach der autonomen Legitimation der Kammern dar.

4. K a p i t e l

Die Sozialversicherungsträger I. Funktion, Status und Bestand Eine noch bedeutendere Rolle in der Ordnung des Gemeinwesens als die Kammern nehmen die Selbstverwaltungseinrichtungen des Sozialversicherungsrechts ein. Hierzu gehören nach §§ 1 Abs. 1 und 29 Abs. 1 SGB IV die Träger der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung 1. Im einzelnen handelt es sich um folgende Institutionen 2 : - Träger der Krankenversicherung 1. Krankenkassen (Orts-, landwirtschaftliche, Betriebs- und Innungskrankenkassen) 2. Bundesknappschaft 3. Ersatzkassen 4. Landesversicherungsanstalten 5. Bundesbahnversicherungsanstalt und Seekrankenkasse - Träger der Rentenversicherung 1. 2. 3. 4. 5.

Landesversicherungsanstalten (für Arbeiter und Handwerker) Bundesanstalt für Angestellte (BfA) Alterskasse für Landwirte Bundesknappschaft Bundesbahnversicherungsanstalt und Seekrankenkasse

- Unfallversicherungsträger 3 1. 2. 3. 4. 5.

Berufsgenossenschaften Eigenunfallversicherungen der öffentlichen Hände Gemeindeunfallversicherungsverbände Feuerwehrunfallversicherungskassen Bundesbahnversicherungsanstalt.

1 Ob damit auch eine Pflichtversicherung freier Berufe, die nicht wie die der Handwerker unmittelbar in das geltende Sozialversicherungsystem integriert ist, einen Bestandteil der Sozialversicherung bildet, ist streitig. Zum Meinungsstand: Krause, in: Krause/v. Maydell/Merten/Meydam, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, Rdnr. 5 zu § 1. 2 Eingehend zum gegenwärtigen Bestand Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 96 (S. 272 ff.) sowie Maunz, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Rdnr. 74 zu Art. 87. 3 Zu ihren Typen Wolff/Bachof/Stober (Anm. 2), § 96 I I I a (S. 281 f).); Wertenbruch, Sozialverwaltungsrecht, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 452 f.

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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Aufgabe der Sozialversicherung ist die Fürsorge und die Vorsorge für die Versicherten in bezug auf Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter 4 . Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben hat der Gesetzgeber Versicherungsträger in der Form von Selbstverwaltungskörperschaften errichtet, § 29 Abs. 1 SGB IV. Ihnen obliegt es, die gesetzlich vorgesehenen Sach- und Geldleistungen zu erbringen; sie ergreifen und finanzieren Beratungs-, Vorbeuge- und Rehabilitationsmaßnahmen, sie übernehmen Behandlungskosten, gewähren Kranken- und Sterbegeld, finanzieren Haushaltshilfen, zahlen Renten u. a. m. 5 . Die Finanzierung der Sozialversicherungsträger erfolgt durch Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber; Finanzierungslücken werden durch staatliche Zuschüsse geschlossen, § 20 SGB IV, § 1384 RVO 6 . Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist heute sehr viel weiter gezogen als in den Anfängen der Sozialversicherungsträger. Während damals ihr Charakter als Grundsicherung für bestimmte Arbeitsentgeltausfall-Situationen in der Tat als Mitgliedschaftsregulativ fungierte, hat das Sozialversicherungsrecht im Laufe der Zeit diesen Rahmen in immer stärkerem Maße gesprengt, so daß die in seinem Vollzug gewährten Leistungen nunmehr nahezu der gesamten Bevölkerung zugute kommen. Motor dieser Expansion waren zum einen die Ausdehnung der Versicherungspflicht und zum anderen die Schaffung von Versicherungsberechtigungen 7. Ihr Ergebnis ist die Öffnung der Sozialversicherung insbesondere für Hausfrauen, Auszubildende, Studenten, Landwirte, große Teile der Selbständigen sowie für Behinderte 8 . Neben der Gewährung von Leistungen an die Versicherten nehmen die Sozialversicherungsträger eine weitere, zwar von SGB nicht ausdrücklich hervorgehobene, gleichwohl aber sehr bedeutsame Funktion wahr: sie wirken an der Gestaltung der staatlichen Sozialpolitik mit. Dies gilt nicht so sehr für die einzelnen Sozialversicherungsträger als vielmehr für ihre verbandsförmigen Zusammenschlüsse. Sie sind es, die ganz im Stile klassischer Interessenverbände die Organe der Gesetzgebung, die staatlichen Exekutiv4 Hierzu eingehend Wertenbruch (Anm. 3), S. 416 ff.; Bogs, Strukturprobleme der Selbstverwaltung einer modernen Sozialversicherung, in: Bogs/v. Ferber/infas, Soziale Selbstverwaltung, Bd. 1, S. 20. 5 Näher hierzu Wertenbruch (Anm. 3), S. 436 ff., 446 ff., 456 ff. 6 Staatliche Zuschüsse werden insbesondere für die Knappschaftsversicherung, die Versicherung der Landwirte sowie für die gesetzliche Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten geleistet (näher hierzu v. Maydell, in: Krause u. a., Anm. 1, Rdnr. 1 4 - 1 6 zu §20). Deckungslücken bei den Innungskrankenkassen sind von den Innungen, bei den Betriebskrankenkassen von den Arbeitgebern zu schließen; bei den Ortskrankenkassen und den Ersatzkassen sind die Beiträge zu erhöhen. 7 Die Gleichsetzung von Sozialversicherung und Zwangsversicherung hat damit ihre einstige Gültigkeit verloren, vgl. § 2 Abs. 1 SGB IV. 8 Eingehend dazu Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 314 317; Merten, in: Krause u. a. (Anm. 1), Rdnr. 68 - 112 zu § 2; Wertenbruch (Anm. 3), S. 434 f., 445 f., 455 f.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

spitzen sowie die Öffentlichkeit informieren, beraten und auch mit dem Ziel der Durchsetzung ihrer eigenen politischen Vorstellungen auf sie einwirken 9 . Es hat den Anschein, daß die Bedeutung dieser Interessenvertretungsfunktion im gleichen Maße zugenommen hat, wie der eigenständige Gestaltungsspielraum der Sozialversicherungsträger im Bereich ihrer Leistungsaufgaben infolge des immer dichter werdenden staatlichen Normenrasters geschrumpft ist. Man w i r d sagen können, daß die Mitgestaltung des für sie geltenden Rechts ein Stück weit an die Stelle der Selbstgestaltung ihrer eigenen Aufgaben getreten ist 1 0 . II. Zur Geschichte der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung Die Entwicklungsgeschichte der Sozialversicherungsträger kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden 11 , die Darstellung muß sich vielmehr auf die großen Linien und insbesondere auf die Vorgeschichte der heutigen Legitimationsstrukturen beschränken. Ihr Anliegen ist es, zu dokumentieren, auf welch vielfältige Wurzeln der heutige Begriff der öffentlichen Körperschaft zurückreicht, welch unterschiedliche Gestaltungen aus ihm erwachsen sind und wie sehr der Übergang zwischen den nur in der Dogmatik trennscharf voneinander geschiedenen Kategorien „Körperschaft" und „Anstalt" von jeher fließend gewesen ist; vor allem aber möchte sie die historische Bedingtheit der gegenwärtigen Organisationsstruktur der Sozialversicherungsträger deutlich machen, um damit der apologetischen Tendenz, sie als sachnotwendig a priori gegen K r i t i k zu immunisieren, den Boden zu entziehen. Die heutigen Einrichtungen der Sozialversicherung sind in ihrem Kern Schöpfungen der Bismarckschen Sozialgesetzgebung12. Trotz ihrer gemein9 Näher dazu Bogs (Anm. 8), S. 131 ff.; Brackmann, HdbdSozialversicherung, Bd. I, S.153 n. 10 Ähnlich Schnapp, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, der davor warnt, die Gefahren dieses Prozesses unter dem Mantel eines funktionalen Selbstverwaltungsverständnisses zu verhüllen. 11 Eingehend dazu Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, S. 677 - 697; E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 4, §§ 77 - 79, 81; Bieback, Die öffentliche Körperschaft, S. 337 - 339; Bogs (Anm. 8), S. 82 - 94; Leopold, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, S. 50 - 65; Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, S. 77 ff., 144 ff.; Krause, in: Krause u. a. (Anm. 1) vor § 31; und vor allem Tennstedt, Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung, in: ders., Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2; Stolleis, Die Sozialversicherung Bismarcks, Politisch-institutionelle Bedingungen ihrer Entstehung, in: Zacher (Hrsg.), Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, S. 387 ff. sowie Zöllner, Landesbericht Deutschland, in: Köhler/Zacher (Hrsg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung, S. 57 - 167. 12 Deren historische Vorläufer - zumeist freiwillige private Solidargemeinschaften, teilweise auch genossenschaftlich organisierte Zwangsvereinigungen - müssen hier außer Betracht bleiben; zusammenfassend dazu Leopold (Anm. 11), S. 50 ff.; Stolt/

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger samen p o l i t i s c h e n A b k u n f t unterlagen sie jedoch k e i n e m

145 einheitlichen

Rechtsregime. D i e Divergenzen zwischen dem Status der Krankenkassen, der Berufsgenossenschaften,

der Rentenversicherungsanstalten

u n d der

Knappschaftsvereine 1 3 w a r e n v i e l m e h r beträchtlich.

1. Die Renten Versicherungsanstalten Das Reichsgesetz v o m 22. J u n i 1889 z u r I n v a l i d i t ä t s - u n d Altersversicherung14

hat, v o m Geist des „Staatssozialismus"

anstaltliche Organisationen i n F o r m der

getragen 1 5 ,

etatistisch-

Landesversicherungsanstalten

e r r i c h t e t 1 6 . Deren G r u n d s t r u k t u r h a t auch die das AltersversG ablösende Reichsversicherungsordnung (RVO) v o n 1911 unangetastet gelassen. W i e auch sonst, so l a g hier ihre B e d e u t u n g mehr i n der V e r e i n h e i t l i c h u n g u n d i n der Systematisierung des Bestehenden als i n der Schaffung v o n grundsätzlich Neuem17. D i e Z u s t ä n d i g k e i t e n der Rentenanstalten w u r d e n weitgehend v o n staatl i c h ernannten Berufsbeamten w a h r g e n o m m e n 1 8 . Das Vertretungsorgan der beitragspflichtigen A r b e i t n e h m e r u n d der Arbeitgeber, der Ausschuß, besaß Vesper, Die Ersatzkassen der Krankenversicherung, S. 13 f.; Tennstedt (Anm. 11), S. 13 ff.; Zöllner (Anm. 11), S. 75 ff. 13 Letztere werden im folgenden nicht berücksichtigt. Sie erfuhren erstmals eine einheitliche Regelung durch das preußische Knappschaftsgesetz vom 10. April 1854 (GS, S. 139 ff.), abgelöst durch das „Allgemeine Berggesetz" vom 24. Juni 1865 (GS, S. 705). Das Berggesetz faßte sämtliche Bergarbeiter in Zwangsgenossenschaften zusammen, deren Organe je zur Hälfte von den Werkseigentümern und den Knappschaftsältesten gewählt wurden. Die Beiträge waren zumindestens zur Hälfte von den Werkseigentümern, im übrigen von den Arbeitern zu entrichten. Die Knappschaften unterlagen anfangs einer intensiven staatlichen Lenkung und Kontrolle, durch das Berggesetz wurde ihnen jedoch ein gewisses Maß an Selbstverwaltung eingeräumt. Grundlegende Änderungen brachte das Reichsknappschaftsgesetz vom 23. Juni 1923 (RGBl I, S. 431) sowie seine Novellierung vom 25. Juni 1926 (RGBl I, S. 291). Letztere gab den Vertretern der Versicherten, entsprechend ihrer Beitragslast und der Forderung des Art. 161 WRV, dreifünftel der Sitze der Organe. Zum Ganzen Leopold (Anm. 11), S. 50 f., 57 sowie Strassert, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, S. 25 ff., 54 f., 63 f.; Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, S. 75 - 79. 14 RGBl 1889, S. 97 ff.; im folgenden: Alters Versicherungsgesetz. 15 So die Kritiker Bismarcks, die vor allem den Staatszuschuß gem. § 19 zur Arbeitslosenversicherung ablehnten; näher dazu Heffter (Anm. 11), S. 677 - 692; E. R. Huber (Anm. 11), §§ 77 u. 78. 16 §§ 41 ff. AltersversG. 17 Eine grundlegende Neuerung stellte allerdings die Schaffung der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte dar. In ihr war der staatliche Einfluß, den etatistischen Tendenzen der Zeit entsprechend, noch größer als in den Landesversicherungsanstalten; ebenso Strassert (Anm. 13), S. 61 f., 72. 18 §§ 46 f. Hinsichtlich der Besetzung des Vorstands brachten §§ 1342 ff. RVO insofern eine bedeutsame Änderung, als § 1346 f. den von den Arbeitgebern und den Versicherten - paritätisch - gewählten Vorstandsmitgliedern die Mehrheit gegenüber den staatlich ernannten Vorstandsbeamten sicherte. Die laufenden Geschäfte indessen wurden weiterhin von den beamteten Vorstandsmitgliedern geführt (Strassert, Anm. 13, S. 27 f.). 10 Emde

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

dagegen nur wenige, allerdings grundlegende Befugnisse (Satzungsgebung, Vorstandskontrolle) 19 . Da der Ausschuß jedoch zwischen den kompetentiellen Dominanten des Reichsversicherungsamts auf der einen Seite und des Vorstands auf der anderen eingeklemmt war, verfügte er kaum über autonomen Handlungsspielraum: Die Satzungsgebung unterlag dem Genehmigungsermessen des Amts 2 0 , und dem Vorstand gegenüber gebrach es dem Ausschuß an Sanktionsbefugnissen (Abwahl etc.) 21 ; im übrigen war er - wie auch der Vorstand - der staatlichen Aufsicht unterworfen. Die Staatsaufsicht war grundsätzlich als Rechtsauf sieht ausgestaltet 22 , daneben standen den Aufsichtsbehörden jedoch zahlreiche, zu Zweckmäßigkeitskontrollen berechtigende Genehmigungsvorbehalte (für Satzungen, Haushalt, Vermögensanlagen u. a. m.) sowie die Befugnis, bindende Verwaltungsvorschriften zu erlassen, zu 2 3 . Für den Legitimationsbedarf der Anstalten war von Bedeutung, daß ihre Organe, insbesondere der Anstaltsvorstand, den Arbeitgebern, aber auch den Versicherten gegenüber Eingriffsbefugnisse besaßen. So konnte der Vorstand nach Maßgabe der §§ 1467 und 1487 f. RVO Verwaltungsstrafen gegen Arbeitgeber und Versicherte verhängen; nach § 1466 RVO konnte er ihnen die Erteilung von Auskünften auferlegen. Die Ausschüsse waren nach § 97 AltersversG befugt, die Höhe der Beiträge der Arbeitgeber und der Versicherten festzusetzen. Allerdings „verstaatlichte" die RVO diese Zuständigkeit, indem sie sie gemäß § 1308 dem Bundesrat übertrug. Sie verstärkte damit die Dominanz des Staates über die Versicherungsanstalten und damit auch deren staatsvermittelte Legitimation. Beides manifestiert sich sowohl in den Entscheidungszuständigkeiten der Versicherungsämter (Genehmigung von Vermögensanlagen und von Satzungen) als auch in der dichten gesetzlichen Programmierung des Wirkens der Rentenanstalten. Zumal ab Inkrafttreten der RVO hatte der Gesetzgeber alle wesentlichen Fragen entweder selbst entschieden oder aber jedenfalls in ihren Grundzügen vorgeprägt. 19 §§ 54 f. AltersversG bzw. §§ 1338, 1353 RVO. Der Ausschuß bestand gem. § 48 AltersversG bzw. § 1351 RVO je zur Hälfte aus von den Arbeitgebern und den versicherten Arbeitnehmern gewählten Vertretern. Dieses Paritätsmodell sollte später maßstabsetzend für nahezu alle Sozialversicherungsträger werden. Eine Gewichtung der Stimmberechtigung der Arbeitgeber nach Betriebsgröße sah die RVO für die Versicherungsanstalten im Gegensatz zu den Krankenkassen nicht vor. 20 § 56 AltersversG bzw. § 1339 RVO. 21 § 55 AltersversG. Nach der RVO stand dem Auschuß die Kontrolle des Vorstands ohnehin nicht mehr zu. Allerdings war dieser Kompetenzverlust nicht allzu gravierend, da nunmehr die „Sozialpartner" ja auch im Vorstand über die Mehrheit verfügten und somit nicht mehr im gleichen Maße wie zuvor einem fremden Willen gegenüberstanden. 22 § 131 AltersversG sowie §§ 30 u. 1381 RVO. Zur Staatsaufsicht als Rechtsaufsicht grundsätzlich bereits Rosin (Anm. 13), S. 103 - 108. 23 Näher dazu Rosin (Anm. 13), S. 116 sowie Stößner, Die Staatsaufsicht in der Sozialversicherung, S. 41 f., 57 - 59.

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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Insgesamt stellen sich die Rentenversicherungsträger in der Gestalt, die ihnen das AltersversG sowie die RVO gegeben haben, als Vollzugsinstrument staatlicher Herrschaft dar. Die Beteiligung der Betroffenen an den Anstaltsgeschäften schränkt das staatliche Bestimmungsrecht zwar ein und unterscheidet die Versicherungsanstalten grundsätzlich von staatlichen Behörden, der Einfluß des Staats bleibt indessen so übermächtig, daß von einer echten Selbstverwaltung nicht gesprochen werden kann 2 4 . Die Rentenanstalten sind in der Tat Ausdruck der staatlichen Disziplinierung eines Sozialbereichs 25 . Die Beteiligung der Arbeitgeber und der Versicherten an der Willensbildung der Anstaltsorgane w i l l den Kräften der Gesellschaft kein Forum vom Staat distanzierter, eigenständiger Verwaltungspolitik errichten, sondern dient der Aggregierung von Sachverstand und darüber hinaus der Qualitätsverbesserung der Entscheidungen der Anstalten sowie der Erhöhung ihrer Befriedungswirkung. Der Verzicht des Gesetzgebers auf den Begriff der Selbstverwaltung ist daher kein Versehen, sondern ein angemessener Ausdruck der anstaltstypischen Dominanz des Staates. Die in der Beteiligung der Betroffenen an der Willensbildung der Organe sowie in der grundsätzlichen Beschränkung des Staats auf die Rechtsaufsicht aufkeimende Unabhängigkeit der Anstalten hat sie zwar an die Schwelle zur Selbstverwaltung geführt, aber letztlich nicht genügend Gewicht besessen, um ihren etatistisch-anstaltlichen Charakter entscheidend zu verändern 26 . Gleichwohl ist unverkennbar, daß die Beteiligung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer an den Versicherungsgeschäften das anstaltliche Organisations· und Legitimationsmodell sprengte; soweit ihre Entscheidungen lediglich der staatlichen Rechtsaufsicht unterlagen, konnte mithin von einer Legitimation der Rentenversicherung durch das Staatsvolk nur mit Einschränkungen die Rede sein. Im Hinblick auf ihre autonome Legitimation ist von Bedeutung, daß weder die Vertreter der Versicherten noch die der Arbeitgeber von diesen selbst gewählt wurden. Wahlberechtigt waren vielmehr im ersten Falle die Vertreter der Versicherten in den Ausschüssen der Krankenkassen des Bezirks, im zweiten die Vertreter der Arbeitgeber in den Berufsgenossenschaften 27. Weder erstere noch letztere aber wurden von den „Angehörigen" der Rentenanstalten gewählt. Die Vertreter der Versicherten sowie der Arbeitgeber in den Rentenanstalten verfügten folglich über keine durch die von ihnen Vertretenen vermittelte demokratische Legitimation. Bereits in dieser ersten Phase der Rentenversicherer zeichnete sich mithin ab, daß nicht das individualistisch-genossenschaftliche Legitimationsmo24 Ebenso Bieback (Anm. 11), S. 339, der von einer Mitwirkung der Verwalteten bei der staatlichen Verwaltung spricht. 25 So die berühmte Formulierung Forsthoff s (Verwaltungsrecht, S. 476), die dieser allerdings im Hinblick auf alle rechtsfähigen Verwaltungseinheiten für zutreffend hält. 26 Ebenso bereits Strassert (Anm. 13), S. 47 f. 27 Näher dazu Strassert (Anm. 13), S. 27 f.

10*

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

dell ihre autonomen Legitimationsstrukturen prägen sollte. Von Anbeginn war damit der Boden bereitet für die allmähliche Inthronisation der Koalitionen des Arbeitslebens als Legitimationsquellen. Die Ära der Weimarer Republik hat, solange das parlamentarische System funktionsfähig blieb, keine einschneidenden Änderungen des Status der Rentenanstalten gebracht 28 . Sowohl das staatliche Übergewicht als auch die paritätische Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Anstaltsorganen wurden nicht angetastet. Die Forderung des Art. 161 WRV nach einer maßgeblichen Mitwirkung der Versicherten am Sozialversicherungswesen 29 blieb damit in doppelter Hinsicht unerfüllt: Das Gewicht der Versicherten war nicht stärker als das der Arbeitgeber, und es war im Verhältnis zum Staat nicht stark genug, um maßgeblich genannt zu werden. Auf die Beseitigung der Selbstverwaltung durch die Notverordnungen von 1930 und 1931 sowie durch die Gleichschaltung und die Installierung des Führerprinzips 3 0 soll hier nicht weiter eingegangen werden. 2. Die Träger der Krankenversicherung

a) Die Orts- und Landkrankenkassen Auf eine durchaus andere Geschichte als die Rentenanstalten blicken die Krankenkassen zurück. Hier stand am Anfang nicht der staatliche Kreationsakt, sondern die Selbsthilfe der Betroffenen, vor allem der Arbeiter und der Handwerker. Sie hatten sich in der Ära des liberalen Nachtwächterstaats zu einer Vielzahl von freiwilligen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit zusammengeschlossen31. Schon auf Grund dieser vorgefundenen, gewachsenen genossenschaftlichen Strukturen verbot es sich für den Staat, das Krankenversicherungswesen anstaltlich zu organisieren. Auch das Prinzip der Selbstfinanzierung hätte sich mit einem derartigen, etatistischen Organisationskonzept schwerlich in Einklang bringen lassen. Der Gesetzgeber hat denn auch sowohl im Hilfskassengesetz von 1876 als auch im Krankenversicherungsgesetz von 1883, dem eigentlichen normativen Ursprung der heutigen Krankenkassen, sowie in der RVO den Kassen eine körper28 Allerdings erfuhr die grundsätzliche Beschränkung der Staatsaufsicht auf die Rechtskontrolle durch die Novellen zur RVO von 1923 und 1925 eine gewisse, i n ihrer Tragweite nie ganz geklärte Aufweichung. § 30 Abs. 1 RVO lautete nunmehr: „Das Aufsichtsrecht der Aufsichtsbehörde erstreckt sich darauf, daß Gesetz und Satzung so beachtet werden, wie es der Zweck der Versicherung erfordert. Das gilt nicht, soweit die Versicherungsträger nach ihrem Ermessen zu verfügen berechtigt sind. " Zur Auslegung des § 30 Abs. 1: Strassert (Anm. 13), S. 74 ff. 29 Zur Auslegung des Art. 161 WRV: Strassert (Anm. 13), S. 92 ff. 30 Näher dazu Strassert (Anm. 13), S. 64 f. sowie Tennstedt (Anm. 11), S. 184 ff., 196 ff. 31 Eingehend hierzu Tennstedt (Anm. 11), S. 13 ff.

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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schaftliche Gestalt gegeben32. Deren Struktur soll im folgenden anhand der Regelungen der RVO dargelegt werden 33 . Nach § 4 RVO sind die Träger der Sozialversicherung und somit auch die Krankenkassen rechtsfähig. Einer näheren dogmatischen Qualifizierung enthält sich das Gesetz, insbesondere apostrophiert es die Kassen weder ausdrücklich als Körperschaften, noch verwendet es den Terminus der Selbstverwaltung. Ungeachtet dieser begrifflichen Zurückhaltung weisen sowohl die Binnenorganisation als auch die Beschränkung der ministeriellen Leitungsbefugnisse bereits die Krankenkassen des Krankenversicherungsgesetzes und der RVO als Selbstverwaltungseinrichtungen körperschaftlichen Charakters aus. Gemäß ihrer Natur als Versichertengemeinschaften waren die Krankenkassen mitgliedschaftlich organisierte Zusammenschlüsse der Versicherten, §§ 306 ff. RVO. Insoweit körperschaftlich geprägt, wichen die Kassen doch im Hinblick auf die Organisation der Willensbildung vom egalitär-genossenschaftlichen Modell des modernen Körperschaftsbegriffs 34 dadurch grundlegend ab, daß sie die nicht mitgliedschaftsberechtigten Arbeitgeber maßgeblich an den Kassengeschäften beteiligten. In beiden Kammerorganen, sowohl im Ausschuß - dem parlamentsähnlichen Beschlußorgan 35 - als auch im Vorstand - dem regierungsähnlichen Vollzugsorgan - stand den Arbeitgebern ein Drittel der Sitze zu, §§ 332 Abs. 1 und 335 RVO 36 . Infolge dieses gesetzlich garantierten Sitzanteils kam wegen der geringen Kopfstärke der Arbeitgeber für die Kreation der Kassenorgane das Prinzip der einheitlichen und gleichen Wahl nicht in Betracht. Die RVO sah denn auch die Aufspaltung der Wahl in voneinander unabhängige Teilwahlen vor: Die Versicherten und die Arbeitgeber wählten in getrennten Gruppen jeweils 32

Eingehend zur Gesetzesgeschichte Tennstedt (Anm. 11), S. 13-66; Heffter (Anm. 11), S. 677 ff. Letzterer weist darauf hin (S. 686 f.), daß nicht zuletzt Bismarcks relatives Desinteresse an der Krankenversicherung den fortschrittlicheren Kräften der Gesellschaft die Möglichkeit geboten hat, das Krankenversicherungsgesetz am Prinzip genossenschaftlicher Selbstorganisation und Selbsthilfe auszurichten. 33 Auf die Regelungen des Krankenversicherungsgesetzes soll im folgenden nicht näher eingegangen werden. In der Grundkonzeption stimmten sie mit den entsprechenden Bestimmungen der RVO überein, allerdings verkürzte letztere durch die Vielzahl ihrer Detailregelungen den eigenständigen Gestaltungsspielraum der Kassen und verstärkte sowohl die Stellung der staatlichen Aufsichtsbehörden als auch die der Arbeitgeber; näher hierzu Strassert (Anm. 13), S. 59 f., Tennstedt (Anm. 11), S. 60 f. 34 Seine Herausbildung und seine Durchsetzung werden nachgezeichnet von Bieback (Anm. 11), insb. S. 107 ff., 348 ff. 35 Die noch im KrankenversG enthaltene Möglichkeit, anstelle des Ausschusses die Gesamtheit der Versicherten fungieren zu lassen, wurde von der RVO beseitigt. Ursächlich hierfür waren sowohl sachliche (zu große Zahl der Kassenmitglieder) als auch politische Gründe (Gleichsetzung von direkt-demokratisch und sozialdemokratisch; eingehend dazu Tennstedt (Anm. 11), S. 44 ff., 61. 36 Dies sowie die nachfolgenden Ausführungen gelten in erster Linie für die Ortsund Landkrankenkassen. In den Betriebs- und Innungskassen konnte der Sitzanteil der Arbeitgeber bis auf 50 % steigen, vgl. §§ 341 i. V. m. 381 Abs. 2 RVO.

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ihre Ausschußvertreter, diese wiederum wählten nach demselben Verfahren ihre Vorstandsvertreter, §§ 333 und 335 RVO. Hinsichtlich des Stimmrechts galt innerhalb der Gruppe der Versicherten das Prinzip: one man, one vote; das der Arbeitgeber hingegen wurde - wie auch heute - nach der Zahl ihrer Beschäftigten bemessen, § 333 Abs. 3 RVO 37 . Zur Rechtfertigung der von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten bekämpften Vertretung der Arbeitgeber in den Kassenorganen wurde stets auf die Verpflichtung der Arbeitgeber hingewiesen, zumindestens ein Drittel der Beiträge für die Kassen aufzubringen, §§ 380 f. RVO. Die Beteiligung der Arbeitgeber erschien den herrschenden politischen Kräften von daher als geradezu notwendiges Pendant zu ihrer Finanzierungspflicht. Die Stichhaltigkeit dieser Argumentation soll hier dahinstehen 38 . Hervorgehoben sei indessen, daß die gruppenförmige Parzellierung der Organwahlen so sehr sie der teilweise antagonistischen Interessenlage der Versicherten und der Arbeitgeber Rechnung getragen haben mag - das herkömmliche Organisations- und Legitimationsmuster der durch die Kammern und weithin auch durch die Kommunen geprägten körperschaftlichen Selbstverwaltung: gemeinsame Wahlen aller Mitwirkungsberechtigten, einheitliche Legitimation aller Organwalter, verlassen hat. Im Gegensatz dazu verschafften die Teilwahlen den Kassen lediglich eine gruppenspezifisch beschränkte Legitimation und förderten eine Fraktionierung der Kassenorgane in Teilorgane. Das begünstigte eine Tendenz zur Aufspaltung der Kammer in zwei funktionell autonome Teilkörperschaften, die erst auf dem Verhandlungswege zu gemeinsamen Entscheidungen gelangen konnten - und dies um so mehr* als eine Reihe wichtiger Kassenbeschlüsse die Zustimmung der Mehrheit beider Teilvertretungen voraussetzte 39 . War die Legitimation der Kassenorgane schon insoweit problematisch, so wurde sie vollends fragwürdig durch die von der RVO zwar nicht ausdrücklich vorgesehene, von der staatlichen Verwaltung aber geförderte Praxis, auf die Durchführung von Kassenwahlen zu verzichten, sofern die Zahl der 37 Das auch insofern stärker an einem egalitären Demokratieverständnis als an bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen ausgerichtete Krankenvers.G hingegen kannte keine Stimmrechtsdifferenzierungen. Diese als Benachteiligung der Großindustrie empfundene Situation sollte durch die RVO geändert werden; eingehend dazu die Begründung des Entwurfs zur RVO (BT-Drucks. 340, S. 203). 38 Ihre wirtschaftswissenschaftliche Unhaltbarkeit war bereits damals offenkundig. Schon Lujo Brentano und Adolph Wagner hatten nachgewiesen, daß auch der Arbeitgeberanteil volks- und betriebswirtschaftlich betrachtet einen Bestandteil des Lohnes darstellt und folglich keine Einkommensumverteilung zu Lasten der Arbeitgeber bewirkt; näher dazu Strassert (Anm. 13), S. 91 f.; Tennstedt (Anm. 11), S. 46 f. sowie Bogs (Anm. 8), S. 89. 39 Dies galt etwa bei der Wahl des Vorstandsvorsitzenden, bei einigen Personalentscheidungen und Satzungsänderungen sowie bei der Aufstellung der Dienstordnung; näher dazu Strassert (Anm. 13), S. 60; Tennstedt (Anm. 11), S. 60. Allerdings wurden diese Itio-in-partes-Klauseln 1919 zum größeren Teil wieder aufgehoben (näher dazu Tennstedt, S. 108).

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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Kandidaten die der Sitze nicht überstieg 40 . Die Kandidaten galten dann automatisch als gewählt. Daß die Zulässigkeit des Wahlverzichts dazu tendieren würde, die Kassenmitglieder als Legitimationsquelle zurückzudrängen und an ihre Stelle die interessierten Verbände treten zu lassen, lag auf der Hand und hat sich in den nachfolgenden Jahrzehnten bestätigt. Die wesentlichen Merkmale der Organisationsstruktur der „kaiserlichen" Krankenkassen - mitgliedschaftliche Struktur, Beteiligung der Arbeitgeber an den Kassenorganen nach Maßgabe ihres Finanzierungsbeitrags, Zulässigkeit des Wahlverzichts - haben trotz aller gesetzgeberischen Modifikationen im Detail die Jahrzehnte überdauert und die Gestalt der Krankenkassen bis in die Gegenwart hinein geprägt. Je länger, je mehr hat sich dabei die Vorstellung einer Parität von Versicherten und Arbeitgebern als gleichsam naturgegebenes Konstitutionsprinzip des Sozialversicherungswesens zu etablieren vermocht 41 . Auch die in der Zulässigkeit des Wahl Verzichts kulminierende Tendenz zur Dominierung der Kassen durch die Tarifparteien hat sich stetig verstärkt 42 . Wendet man sich dem zweiten, für die Rechtsstellung der Kassen und auch für die Frage ihrer demokratischen Legitimation wesentlichen Komplex zu, ihrem Verhältnis zum Staate, so fällt ins Auge, daß auch insoweit die liberale Haltung des KrankenversG von 1883 durch die RVO ein Stück weit zurückgenommen wurde. Dies erfolgte zum einen durch eine starke Intensivierung der gesetzlichen Vorgaben - während das KrankenversG 87 Paragraphen enthielt, hatte der ihm entsprechende Teil der RVO 370 Paragraphen - und eine damit einhergehene drastische Zurückschraubung des eigenständigen Gestaltungsspielraums der Kassen, zum anderen durch eine gewisse Verschärfung der staatlichen Aufsicht. Zwar blieb ihre grundsätzliche Beschränkung auf die Rechtskontrolle erhalten 43 , die staatlichen Behörden erhielten aber die Befugnis, einzugreifen und von sich aus zu entscheiden, wenn eine Einigung zwischen Arbeitgebern und Versicherten in den Kassenorganen nicht zustande kam. Infolge der Notwendigkeit der Zustimmung beider Gruppen zu wichtigen Beschlüssen war dies nicht selten der 40 So ausdrücklich § 10 der vom Bundesrat erlassenen Musterwahlordnung für die Ortskrankenkassen (Zentralblatt für das Deutsche Reich 1913, S. 264). 41 Beispielhaft hierfür Bogs (Anm. 3), S. 159 ff. 42 Bezeichnenderweise wurde der in der Praxis eindeutig vorherrschende Verzicht auf Sozialversicherungswahlen von der Wissenschaft häufig gar nicht zur Kenntnis genommen, obschon der Reichsarbeitsminister die sog. „Friedenswählen" auch in die novellierten Musterwahlordnungen von 1927 - jeweils § 10 - übernommen hatte (Reichsarbeitsblatt 1927, Beilage zu Nr. 22). Die Standardwerke von Lutz Richter („Sozialversicherungsrecht") und Stier-Somlo („Reichsversicherungsordnung. Handkommentar") etwa erwähnen dieses Wahlverfahren mit keinem Wort. Den emphatischen Ausführungen zur Sozialversicherungsdemokratie haftet infolgedessen der Geruch des Apologetischen an. Wie auch immer, es bleibt bemerkenswert, daß die Zulässigkeit der Friedenswahlen unumstritten war. 43 Zur Aufweichung dieses Prinzips durch die späteren Änderungen des § 30 RVO siehe oben Anm. 28.

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Fall. Auch die in § 324 Abs. 2 RVO verankerte Beschränkung der staatlichen Satzungskontrolle auf Rechtsfragen erscheint - so bemerkenswert sie zumal in Anbetracht des Fehlens einer durch die Versicherten vermittelten Legitimation der Satzungen w a r 4 4 - in einem etwas anderen Licht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in der Praxis nahezu alle Satzungen den ministeriellen Mustersatzungen folgten. Trotz dieser Erweiterung des Staatseinflusses kann doch auch unter der Geltung der RVO kein Zweifel daran bestehen, daß die Kassen im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Staat den Charakter von Selbstverwaltungseinrichtungen hatten 45 . Man wird sie daher mit der herrschenden Dogmatik als Selbstverwaltungskörperschaften bezeichnen können, wobei diese Etikettierung nicht über die Besonderheiten ihrer internen Willensbildung hinwegtäuschen darf. Die bisherigen Ausführungen haben das Verhältnis der Kassen zum Staat aus der Perspektive der einzelnen Kasse betrachtet. Diesem Blickwinkel entgeht eine bedeutsame Funktion der Krankenversicherungs- sowie überhaupt der Sozialversicherungsträger: die Mitgestaltung des staatlichen Sozialrechts. Da die einzelnen Sozialversicherungsträger in Anbetracht ihrer Vielzahl 46 sowie der Zersplitterung des Sozialversicherungswesens überhaupt hierzu keine geeigneten Partner abgeben, wurde diese Aufgabe schon im Kaiserreich und vor allem in der Zwischenkriegszeit von den - privatrechtlichen - Verbänden der Sozialversicherungsträger wahrgenommen 47 . Auch insoweit hat mithin die Konstruktion der Versicherungsträger eine Teilhabe der Versicherten an der Sozialversicherungspolitik nur in vielfach mediatisierter Form zugelassen. Die kasseninterne sowie kassenverbandliche Mediatisierung der Versicherten hat nicht nur zu deren traditionellem Desinteresse am Wirken „ihrer" Versicherung beigetragen, sondern stets auch die Frage aufgeworfen, ob die Legitimationsbasis der Kassen nicht viel eher eine verbandliche als eine mitgliedschaftliche ist. 44 Der Erlaß der Satzung war ebenso wie die Errichtung einer Kasse eine Angelegenheit derjenigen Organisationseinheit, für die sie errichtet wurde: der Gemeinde, des Betriebs oder der Innung, §§ 231, 245 f., 250, 320 RVO. Lediglich Satzungsänderungen oblagen dem Ausschuß und waren damit an die Zustimmung der Versichertenvertreter gebunden. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung der Satzung verschaffte diese Rechtslage jenen Arbeitgebern, die Betriebs- bzw. Innungskrankenkassen gründeten, einen erstaunlichen Einfluß auf das Kassenwesen. 45 Das Reichsgericht vertrat sogar die These, die Krankenkassen seien „nicht organisch in die Verfassung des Staates eingegliedert und nicht zur Erfüllung staatlicher Aufgaben berufen" (RGSt 62, 24; 70, 234, 236), und hat diesen Standpunkt erst aufgrund der Reorganisationsmaßnahmen des Dritten Reiches revidiert (RGSt 74, 268, 270). 46 Die Dezentralisierung des Sozialversicherungswesens ist von den konservativen Kräften des Kaiserreichs nicht nur aus sachlichen Gründen betrieben worden, sondern auch zur Lokalisierung des Einflusses der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften; näher hierzu Tennstedt (Anm. 11), S. 25, 83 ff. 47 Tennstedt, ebd. Für die Gegenwart Bogs (Anm. 8), S. 52 ff. sowie Schnapp (Anm. 10), S. 893.

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b) Die Ersatzkassen Einen Sonderstatus innerhalb der Krankenkassen nahmen von jeher die Ersatzkassen ein 48 . Entstanden aus freiwilligen, privaten Selbsthilfeorganisationen von Arbeitnehmern, haben sie es vermocht, ihren traditionellen, genossenschaftlich-privatrechtlichen Charakter über viele Jahrzehnte hinweg zu bewahren. Noch die RVO hat ihnen die Rechtsgestalt von privatrechtlichen, freiwilligen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit gegeben 49 . Auf Grund ihres Status als private Vereine war die Willensbildung ihrer Organe ausschließlich eine Angelegenheit der Mitglieder, den Arbeitgebern war - und ist bis heute - keinerlei Einfluß zugestanden. Während dies ursprünglich als folgerichtiger Ausdruck der Rechtsnatur der Ersatzkassen erscheinen mußte, wurde der Ausschluß der Arbeitgeber von der Willensbildung von dem Zeitpunkt an bemerkenswert, als die Ersatzkassen sich zu öffentlichen Körperschaften mit Beitragspflicht für die Arbeitgeber wandelten. Hinsichtlich der Pflicht der Arbeitgeber, ihren Versicherungsanteil für die von ihnen beschäftigten Ersatzkassenmitglieder an die Ersatzkasse selbst zu entrichten, war dieser Prozeß mit der Verordnung vom 27. September 1923 50 abgeschlossen, der Körperschaftsstatus hingegen wurde den Erstzkassen erst durch die fünfzehnte Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 1. April 1934 51 verliehen. Die damit vollzogene Beseitigung der Verknüpfung von Beitragspflicht und Mitwirkungsberechtigung verliert allerdings an Brisanz, wenn man sich vor Augen führt, daß die Ersatzkassen zu keiner Zeit das Recht hatten, Entscheidungen zu treffen, die auch die Arbeitgeber banden. Zwar konnten sie die Beitragshöhe autonom festsetzen, die Zahlungspflicht der Arbeitgeber überstieg jedoch gemäß § 520 RVO nie die Summe, die zu entrichten gewesen wäre, wenn das Mitglied in der für es zuständigen gesetzlichen Krankenkasse versichert gewesen wäre. Die Ersatzkassen waren damit nicht befugt, Herrschaft über Externe auszuüben; auch im Hinblick auf den Arbeitgeberanteil waren sie lediglich Zahlungsempfänger für Leistungen, deren Höhe von den gesetzlichen Kassen festgelegt wurde. 3. Die Träger der Unfallversicherung

Zweck der Unfallversicherung war es, betriebliche Körperschäden finanziell auszugleichen. Sie begünstigte mithin sowohl die leistungsberechtigten Arbeitnehmer als auch die versicherungspflichtigen Arbeitgeber; 48 Zu ihrer Geschichte: Stolt/Vesper, Die Ersatzkassen der Krankenversicherung, S. 13 - 26; Bogs (Anm. 8), S. 83; Tennstedt (Anm. 11), S. 31 ff. 49 §§ 503 - 525 sowie Gesetz, betreffend die Aufhebung des HilfskassenG (RGBl 1911, S. 985 ff.). 50 RGBl 1 1923, S. 908. 51 RGBl 1 1934, S. 439.

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erstere, indem sie ihnen finanzielle Kompensation für erlittene Schäden gewährleistete, letztere, indem sie ihnen das Haftungsrisiko abnahm. Träger der Unfallversicherung waren nach Industriezweigen bzw. Berufsgruppen gegliederte, reichsweit tätige Berufsgenossenschaften. Gebildet von den Unternehmern der versicherten Betriebe, waren die Berufsgenossenschaften im Gegensatz zu den Rentenanstalten und auch zu den Krankenkassen mit ihrer starken Beteiligung Externer rein genossenschaftliche Einrichtungen. Auf sie paßte die Etikettierung der Dogmatik: Zwangskörperschaften des öffentlichen Rechts, ohne modifizierende Erläuterungen. Mitglieder der Berufsgenossenschaften waren gemäß § 623 RVO 52 nur die Unternehmer der versicherten Betriebe. Da auch auf ihnen allein die Finanzierung lastete und somit der Kreis der Mitglieder mit dem der Beitragszahler identisch war 5 3 , trat hier die körperschaftstypische Verknüpfung von Mitgliedschaftsrecht und Beitragspflicht besonders deutlich zutage 54 . Anders als in den Krankenkassen wurde sie auch nicht durch eine Abkoppelung der Mitwirkungsberechtigung von der Mitgliedschaft entwertet, die Entscheidungen der Berufsgenossenschaften wurden vielmehr, wiederum getreu dem klassischen Körperschaftsmodell, allein von ihren Mitgliedern, den Unternehmern, getroffen. Nur ihnen stand das aktive sowie das passive Wahlrecht zu den Genossenschaftsorganen, Versammlungen und Vorstand 55 zu 5 6 . Die versicherten Arbeitnehmer hingegen hatten nur einen sehr marginalen Anteil am Wirken der Berufsgenossenschaften. Sie waren weder Mitglieder noch Beitragszahler und auch in ihren Organen nicht vertreten; lediglich an der Beratung und der Beschlußfassung über die - auch sie bindenden - Unfallverhütungsvorschriften wirkten sie gemäß §§ 848 und 853 RVO paritätisch mit. Im übrigen hatten sie lediglich den passiven Status von Adressaten der Leistungen der Genossenschaften 57758 . 52 Auf die Bestimmungen des Unfall Versicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884, die die Berufsgenossenschaften ins Leben gerufen haben, wird im folgenden nicht eingegangen. Sie wurden durch §§ 1 - 164, 537 - 1225 RVO abgelöst, ohne daß damit eine grundlegende Änderung der Rechtsstellung der Berufsgenossenschaften verbunden gewesen wäre. Zu ihrer Entstehung siehe Heffter (Anm. 11), S. 687 - 692. 53 §§ 623, 649 und 723 RVO. 54 Es wäre unzutreffend, den Umstand, daß die Leistungen der Genossenschaften nicht den Mitgliedern zuflössen, als körperschaftsfremd zu brandmarken, denn wie bereits erwähnt, befreiten die Versicherungsleistungen die Unternehmer vom Haftungsrisiko. Die Problematik der Lastenverbände stellt sich somit hier nicht. 55 Ebenso wie die Krankenkassen hatten die Genossenschaften ursprünglich ein „exekutives" Vollzugsorgan, den Vorstand, und ein parlamentsähnliches Grundsatzorgan, die Versammlung, vgl.§§ 675, 685 ff. RVO. Das Hervortreten der hauptamtlichen Geschäftsführung als eigenständiges Vollzugsorgan setzte erst allmählich ein. 56 Allerdings ermächtigte § 687 Abs. 4 RVO den Satzungsgeber, eine Vertretung der Versicherten im Vorstand einzuführen. Dies ist jedoch kaum geschehen (Strassert, Anm. 13, S. 25). 57 Die Konsequenz, mit der der Gesetzgeber das dogmatische Prinzip, Körperschaftsgewalt dürfe sich nur auf Körperschaftsmitglieder erstrecken, verwirklicht hat, dokumentierte auch die Regelung der Strafgewalt in bezug auf Verstöße gegen

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Bemerkenswert für deren Organisations- und Legitimationsstruktur ist weiterhin, daß die RVO selbst keine Differenzierung der Mitwirkungsrechte der Mitglieder nach Betriebsgröße vornahm 59 , obschon gemäß § 732 RVO die Höhe der Beiträge nach der Größe des Unternehmens gestaffelt war. Ebenso wie die Staatsverfassung folgte auch die gesetzliche Organisation der Berufsgenossenschaften mithin dem Prinzip, den Mitgliedern gleiche Rechte einzuräumen, ihre Zahlungspflichten hingegen nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit abzustufen. Hinsichtlich des Verhältnisses zum Staat sind für die Berufsgenossenschaften keine Besonderheiten zu verzeichnen. Ebenso wie den anderen Trägern der Sozialversicherung hatte die RVO auch ihnen ein dichtes Raster staatlicher Normen vorgegeben und so die Aufsichtsbehörden zu einer effektiven Kontrolltätigkeit instand gesetzt. Gegenstand der Aufsicht war hier wie auch sonst im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich lediglich die Rechtmäßigkeit des Handelns der Versicherungsträger, §§30 und 722 RVO. Wichtige Maßnahmen allerdings, insbesondere Satzungsbeschlüsse sowie die Unfallverhütungsvorschriften, bedurften der staatlichen Genehmigung, §§ 681 und 864 Abs. 1 RVO. Die Genehmigungsentscheidimg war anders als im Bereich der Krankenversicherung nicht auf die Rechtskontrolle beschränkt. Eine wesentliche Erweiterung des Staatseinflusses brachte die 1925 erfolgte Ausdehnung des staatlichen Aufsichtsrechts im Bereich der Unfallverhütung und der Ersten Hilfe auf Zweckmäßigkeitsfragen 60 . Eine besondere Note erhielt das Beziehungsgefüge von Staat und Genossenschaften durch das staatliche Aufsichtsorgan, das Reichsversicherungsamt. Zum einen übte es neben dieser Funktion zugleich die des obersten Verwaltungsgerichts in Unfallversicherungssachen aus, und zum anderen wies seine Besetzung Besonderheiten auf: Zu den vier beamteten traten acht nichtständige Mitglieder hinzu, von denen vier durch den Bundesrat ernannt und je zwei von den Genossenschaften von den Arbeitervertretern der Unfallversicherung gewählt wurden 6 1 . Das Reichsversicherungsamt durchbrach damit nicht nur das Prinzip der Gewaltenteilung, sondern darüber hinaus einige weitere staatsrechtliche Grundsätze: die Trennung von Staat und Gesellschaft, die Scheidung von zentralstaatlicher und föderativer Ebene sowie die von Staats- und Selbstverwaltung. Im Hinlick auf den die Unfallverhütungsvorschriften. Gem. § 870 RVO wurden Strafen gegen die Unternehmer vom Genossenschaftsvorstand, gegen die Arbeitnehmer hingegen vom - staatlichen - Oberversicherungsamt verhängt. 58 Eine gewisse Verstärkung der Beteiligung der Arbeitnehmer brachte der durch die Verordnung vom 30. 10. 1923 (RGBl 1 1923, S. 1057) eingefügte § 1569 b RVO, der die Berufsgenossenschaften verpflichtete, mindestens einen stimmberechtigten Arbeitnehmer bei Rentenfestsetzungen hinzuzuziehen. 59 Allerdings konnte die Satzung Stimmgewichtungen einführen, § 677 Nr. 5 RVO. 60 Näher dazu Strassert (Anm. 13), S. 64. 61 Näher dazu Heffter (Anm. 11), S. 688 f.

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letztgenannten Aspekt erhellt aus dem Modus der Besetzung des Reichsversicherungsamts einmal mehr, daß die Bedeutung der Selbstverwaltung sich nicht nur nach ihren bürgerbezogenen Exekutivkompetenzen, sondern auch nach ihrem Einfluß auf den Staat bemißt. 4. Das Gesetz über die Selbstverwaltung vom 22. Februar 1951 62

Bedeutsame Änderungen im Gefüge der Sozialversicherungsträger brachte das Selbstverwaltungsgesetz; seine Regelungen verdienen um so mehr Beachtung, als das mittlerweile in Kraft befindliche SGB IV sie in der Substanz übernommen hat. Das Selbstverwaltungsgesetz stellte nicht einfach den durch die Etablierung des Führerprinzips in der Sozialversicherung beseitigten Weimarer Rechtszustand wieder her, sondern schuf, insofern dem Vorbild der 30er Jahre folgend, die Grundzüge einer einheitlichen Organisationsverfassung für alle Sozialversicherungsträger. Zwei Leitprinzipien waren es, die das Gesetz dabei verwirklichte: zum einen die schon in dem programmatischen Titel des Gesetzes anklingende Angleichung des anstaltlichen Organisationstypus an den körperschaftlichen und zum anderen die Institutionalisierung der Tarifparteien als gleichberechtigter Träger der Willensbildung der Selbstverwaltungsorgane 63 . Ersteres erfolgte durch eine Anpassung der Entscheidungs- und Willensbildungsstrukturen aller Rentenanstalten an die der körperschaftlichen Sozialversicherungsträger: Auch die Rentenanstalten erhielten das Recht der Selbstverwaltung, und auch in ihnen vollzog sich die Wahl der Selbstverwaltungsorgane nunmehr unmittelbar durch die Versicherten bzw. die Arbeitgeber. Das zweite Reformanliegen schlug sich sowohl in der Regelung des Wahlverfahrens als auch in der Zusammensetzung der Selbstverwaltungsorgane nieder; darüber hinaus führte es getreu dem bis dato nur punktuell verwirklichten Prinzip der Gleichheit von Beitragslast und Mitwirkungsberechtigung zu einer generell paritätischen Beitragspflicht von Arbeitgebern und Versicherten 64 . Hinsichtlich des Wahlverfahrens hat § 7 Abs. 7 des SelbstverwG die Praxis der Wahl ohne Wahlhandlung, der sog. Friedens wähl, zum ersten Mal gesetzlich sanktioniert. Bezüglich der Zusammensetzung der Versicherungsversammlung und des Versicherungsvorstands wurde auf der einen 62 BGBl 1951, S. 124. Zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes: Tennstedt (Anm. 11), S. 243 - 261; Krause, in: Krause u. a.(Anm. 1), Rdnr. 21 ff. zu § 44; Leopold, Die SelbstsVerwaltung in der Sozialversicherung, S. 59 ff. Zum Gesetz selbst: Maunz/ Schraft/Rindt, die Sozialversicherung und ihre Selbstverwaltung, 4. Bd., Teil C 1 a. 63 Eingehend hierzu Bogs (Anm. 8), S. 82 - 94 sowie die Begründung des Regierungsentwurfs zum Selbstverwaltungsgesetz (BT-Drucks. 1/444). 64 Zwei Ausnahmen von diesem Grundsatz waren zu verzeichnen. Die Finanzierung der Unfallversicherung allein durch die Arbeitgeber sowie deren Verpflichtung, Dreiviertel der Rentenversicherung aufzubringen (dazu Bogs, Anm. 8, S. 84).

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Seite die Dominanz der Versicherten in den Krankenkassen, auf der anderen die der Arbeitgeber in den Berufsgenossenschaften beseitigt und damit das Paritätsprinzip auf breiter Front durchgesetzt 65 . Die Rechtsentwicklung der 50er und 60er Jahre stand eher unter dem Stern der Konsolidierung und Verbesserung des Bestehenden als dem grundsätzlicher Neuerungen 66 . Ihr wichtigster Ertrag ist wohl die von Anbeginn an sowohl in der Binnenstruktur der Sozialversicherungsträger als auch in ihrer Stellung im Kräftefeld von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen angelegte und durch das Selbstverwaltungsgesetz massiv begünstigte Etablierung der Tarifparteien als Herren der sozialen Selbstverwaltung. Das Paritätsprinzip, der häufige Verzicht auf Wahlen, die nur marginale Bedeutung freier Wählerlisten und schließlich die Dominanz der Vertreter der Gewerkschaften sowie der Arbeitgebervereinigungen in den Organen der Sozialversicherungsträger - all diese Faktoren sind gleichermaßen Ursache wie Ausdruck des Siegeszugs der Tarifparteien und des Absterbens der genossenschaftlichen Wurzeln der sozialen Selbstverwaltung. Läßt man die Wandlungen der Sozialversicherungsträger in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien - angefangen mit ihren ganz unterschiedlichen Ursprüngen und Formen im kaiserlichen Deutschland über ihre nur behutsam demokratisierende Konsolidierung in der Weimarer Republik, ihre anschließende Einfügung in den totalen Staat und einstweilen endend mit den komplizierten, eklektischen Gebilden der Gegenwart - Revue passieren, so wird deutlich, daß ihre Gestalt nicht zeitlos festgeschrieben ist. Ihre derzeitigen Strukturprinzipien haben keine a priorische Geltung, sind auch nicht begriffslogisch oder verfassungsrechtlich präformiert, sondern nichts anderes als ein zeitbedingtes und zeitgebundenes Amalgam recht heterogener Elemente. Autoritär-etatistische, egalitär-demokratische und verbandsfreundliche Tendenzen sowie insbesondere die zunehmende Anlehnung an die Tarifparteien - sie alle haben die Verfassung der Sozialversicherungsträger mitmodelliert. Ihre im Selbstverwaltungsgesetz fixierte Erscheinung wird man als das Produkt der allmählichen Angleichung körperschaftlicher und anstaltlicher Gestaltungsmodelle, genauer: als eine Legierung aus dem körperschaftstypischen Prinzip autonomer Willensbildung und anstaltlichen Elementen, überformt mit dem im Tarifrecht wurzelnden Prinzip der paritätischen Gruppenrepräsentation kennzeichnen 65 Lediglich die Ersatzkassen haben es vermocht, sich der Paritätswoge erfolgreich entgegenzustemmen, hier ist es beim Ausschluß der Arbeitgeber von der Mitwirkung in den Versicherungsorganen geblieben; näher und kritisch dazu Bogs (Anm. 8), S. 83 und 167 ff. Eine weitere Modifikation des Paritätsprinzips weisen die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften auf; näher dazu Bogs, S. 83 f. 66 Erwähnt sei immerhin die allmähliche Durchsetzung der Gewichtung des Stimmrechts der Arbeitgeber nach der Zahl ihrer Beschäftigten; zu den einzelnen Etappen dieser Entwicklung Krause, in: Krause u. a. (Anm. 1), Rdnr. 4 - 8 zu § 49.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

können. Kompromißnatur oder, schärfer formuliert, tendenzielle Widersprüchlichkeit stehen den hieraus erwachsenen Gebilden notwendig auf der Stirn geschrieben. III. Organisation und Befugnisse Gesetzliche Grundlage der gegenwärtigen Organisation der Sozialversicherungsträger sind die gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV. Im Hinblick auf die hier interessierenden Fragen haben sie, wie erwähnt, keine gravierenden Änderungen gegenüber dem Selbstverwaltungsgesetz gebracht. Das SGB IV behält den Bestand der Sozialversicherungsträger sowie ihre Organisations struktur bei, insbesondere das Paritätsprinzip sowie die Korrelation von Finanzierungslast und Mitwirkungsberechtigung sind geblieben. Krankenkassen und Rentenversicherungsanstalten erscheinen damit als Regeltypus der Sozialversicherungsträger 67 . Da der Sonderstatus der Knappschaften, der Unfallversicherungsträger sowie der Ersatzkassen indessen nicht angetastet wurde, mag man sie aus systematischer Sicht als Ausnahmen einstufen. § 29 Abs. 1 SGB I V 6 8 qualifiziert alle Träger der Sozialversicherung als öffentliche Körperschaften und gibt ihnen das Recht der Selbstverwaltung. Die vom alten Selbstverwaltungsgesetz nicht explizit entschiedene Frage, ob die Rentenversicherungsträger öffentliche Körperschaften oder Anstalten sind, ist damit zugunsten der bereits damals herrschenden Literaturmeinung entschieden 69 . Die tradierte Verwendung des Terminus „Anstalt" in den Denominationen der Rentenversicherungsträger ist mithin normativ folgenlos, sie besagt weder etwas über ihre Binnenstruktur noch über den Umfang der staatlichen Leitungsbefugnisse. Eine gegenständliche Bestimmung der Selbstverwaltungsaufgaben enthält § 29 nicht. Aus der Konzeption des Gesetzes sowie insbesondere aus § 30 erhellt jedoch, daß alle vom SGB IV vorgesehenen Aufgaben Selbstverwaltungsangelegenheiten darstellen. Lediglich die nach § 30 aufgrund anderer Gesetze übertragenen Aufgaben unterfallen daher nicht der Selbstverwaltungsgarantie. Die aus dem Kommunalrecht übernommene Unterscheidung zwischen eigenen (Selbstverwaltungsaufgaben) und übertragenen (staatlichen) Aufgaben ist im Bereich der Sozialversicherungsträger allerdings nur von begrenzter Bedeu67 Bogs (Anm. 8), S. 81 meint sogar, insofern von den „klassischen Sozialversicherungszweigen" sprechen zu können - dies scheint mir eine unangebrachte Überhöhung der gegenwärtigen Typik zu sein; weder für die RVO von 1911 noch für die Weimarer Rechts- und Verfassungslage hatten ihre prägenden Strukturmerkmale Modellcharakter. 68 Gesetzesangaben beziehen sich im folgenden, soweit nichts anderes vermerkt ist, auf das SGB IV. 69 Repräsentativ Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1974, § 96 IV a 2 (S. 351).

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tung, da das Maß an eigenständigem Gestaltungsspielraum der Selbstverwaltungsorgane im Bereich der eigenen Aufgaben nicht wesentlich größer ist als in dem der übertragenen Aufgaben. Organe der Sozialversicherungsträger sind Vertreterversammlung, Vorstand und der hauptamtliche Geschäftsführer, §§31 Abs. 1 u. 2 und 36 Abs. 1. Die Vertreterversammlung wird von den Versicherten und den Arbeitgebern in zwei getrennten Teilwahlen gewählt, § 46 Abs. 1, und setzt sich in der Regel zu gleichen Teilen aus Vertretern beider Gruppen zusammen, § 44 Abs. 1; sie hat gemäß § 43 Abs. 1 je nach Größe des Versicherungsträgers bis zu 60 Mitglieder. Die Organe der Ersatzkassen allerdings bestehen ausschließlich und die der Bundesknappschaft zu zwei Dritteln aus Vertretern der Versicherten, § 44 Abs. 1, 3 u. 4. Die Versammlung wählt ihrerseits nach dem gleichen Schema den ebenfalls paritätisch zusammengesetzten Vorstand, §§ 44 Abs. 1 und 52 Abs. I 7 0 , sowie auf dessen Vorschlag den Geschäftsführer, § 36 Abs. 2. Ebenso wie bei den Handwerks- und Ärztekammern müssen die Wahlen zur Vertreterversammlung jedoch nur durchgeführt werden, wenn mehrere Vorschlagslisten zugelassen sind bzw. mehr Bewerber kandidieren als Sitze vorhanden sind, §§46 Abs. 2 und 52 Abs. 2. Das ist indessen nur selten der Fall, so daß in praxi Wahlen nur noch ausnahmsweise stattfinden. Sofern überhaupt mehrere konkurrierende Wählergemeinschaften - auf Seiten der Versicherten zumeist die Gewerkschaften, gelegentlich sonstige Arbeitnehmervereinigungen sowie, selten in Erscheinung tretend, Versichertengemeinschaften; auf Seiten der Arbeitgeber deren Vereinigungen - vorhanden sind, einigen sie sich üblicherweise intern und präsentieren eine gemeinsame Vorschlagsliste. Die dort Nominierten rücken dann nach § 46 Abs. 3 automatisch in die Selbstverwaltungsorgane ein - der Wahlgang wird durch Entsendung ersetzt 71 . Im Hinblick auf die Ausgestaltung der Wahlberechtigung bestehen gemäß § 49 Abs. 1 bei den Versicherten keine Differenzierungen des Stimmgewichts, auch bei Sozialwahlen gilt insoweit das Prinzip der streng formalen Wahlrechtsgleichheit 72 . Anders bei den Arbeitgebern. Hier ordnet § 49 Abs. 2 für alle Sozialwahlen eine Gewichtung des Stimmrechts nach der

70 Die Festlegung der Zahl der Vorstandsmitglieder stellt das SGB ins Ermessen des Satzungsgebers; in der Regel wird der Vorstand kaum mehr als 10 Mitglieder haben. Näher dazu Leopold (Anm. 11), S. 100 f.; Doubrawa, in: Maunz/Schraft/Rindt (Anm. 62), 1. Band, A l Bl. 16. 71 Zu den „Friedenswahlen" in der Sozialversicherung: Scheuing, Autonome Rechtssetzung, S. 276; Bogs (Anm. 8), S. 105 ff.; Krause, in: Krause u. a. (Anm. 1), Rdnr. 17 f., 25 - 27 zu § 46; Doubrawa, Das Wahlrecht der Sozialversicherung im Lichte des Grundgesetzes. Die Ortskrankenkasse, 1966, S. 345 ff., 386 ff., 438 ff. sowie unten IV 1 b aa und 3 a. 72 Ebenso BVerfGE 30, 227, 246.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Zahl der bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer an 7 3 und führt damit die mit dem Erlaß der RVO einsetzende Tendenz zur Verdrängung des gleichen Wahlrechts zu ihrem vorläufigen Schlußpunkt. Die Befugnisse der Sozialversicherungsträger verteilen sich auf die drei genannten Organe. Der Geschäftsführer erledigt gemäß § 36 die laufenden Verwaltungsgeschäfte; aus der Perspektive der Versicherten ist diese Zuständigkeit von besonderem Interesse, da sie auch die Entscheidung über die Gewährung von Leistungen umfaßt. Im übrigen obliegt die Verwaltung nach § 35 dem Vorstand; er erläßt die Richtlinien für die Führung der laufenden Verwaltungsgeschäfte, stellt die Dienstordnungen für die hauptamtlichen Mitarbeiter sowie den Haushalt auf, führt die Personalpolitik, schlägt den Geschäftsführer vor und vertritt den Versicherungsträger gerichtlich sowie außergerichtlich 74 . Das oberste Beschlußorgan der Versicherungsträger, die Vertreterversammlung, erläßt das Organisationsstatut sowie sonstiges autonomes Recht (Dienstordnung, Krankenordnung der Krankenkassen, Unfallverhütungsvorschriften und Gefahrentarife der Berufsgenossenschaften). Weiterhin obliegt es ihr, die Höhe der Versicherungsbeiträge festzusetzen 75 , den Vorstand und den Geschäftsführer zu wählen, den Haushalt festzustellen 76 und darüber zu entscheiden, ob über die gesetzlichen Leistungspflichten hinausgehende Mehrleistungen gewährt werden sollen 77 . Die Mehrleistungen waren ehedem das Herz der Autonomie der Sozialversicherungsträger und stellten ein wesentliches Element der Rechtfertigung ihres Selbstverwaltungsstatus dar. Doch davon ist nicht mehr viel Übriggeblieben. Im Zuge der zunehmenden Überforderung des Netzes der sozialen Sicherheit fehlt fast sämtlichen Versicherungsträgern schon der finanzielle Spielraum zur Gewährung von Mehrleistungen 78 .

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Ein Arbeitgeber kann im Höchstfall 20 Stimmen haben. Im einzelnen zu den Kompetenzen des Vorstands: Leopold (Anm. 1), S. 142 - 149. 75 Bei den Rentenversicherungen geschieht dies durch Gesetz bzw. Rechtsverordnung. Für die Krankenkassen existieren sehr detaillierte gesetzliche Richtlinien; auch ihr Handlungsspielraum ist infolgedessen äußerst begrenzt. Eingehend zum Ganzen: Leopold (Anm. 11), S. 133 - 137. 76 §§ 52 Abs. 1, 36 Abs. 2, 70 Abs. 1. 77 Auf die weiteren Befugnisse der Versammlung (§§ 41 Abs. 4, 59 Abs. 4, 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 und 66 Abs. 4) sei hier nur hingewiesen; näher dazu Leopold (Anm. 11), S.137 - 142. 78 Zu den Voraussetzungen (Satzungserlaß) und Grenzen (staatliche Genehmigung) der autonomen Mehrleistungsbefugnis: Leopold (Anm. 11), S. 130 - 333; Bogs (Anm. 8), S. 18 f. sowie Stößner (Anm. 23), S. 138. 74

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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IV. Die demokratische Legitimation der Sozialversicherungsträger 1. Die personelle Legitimationskomponente

a) Die staatsvermittelte

Legitimation

Auch für die Organ- und Amtswalter der Sozialversicherungsträger gilt, daß ihnen eine staatsvermittelte Legitimation nur insoweit zufließt, als der Staat über die Personalhoheit verfügt. Dies aber ist nur in einem sehr eingeschränkten Maße der Fall. Weder die Organwalter noch die nachgeordneten Bediensteten der Sozialversicherungsträger werden durch einen staatlichen Berufungsakt in ihre Ämter eingesetzt; auch das Personal der ehedem weitgehend von staatlich ernannten Beamten beherrschten Rentenversicherungsträger wird von deren Selbstverwaltungsorganen ausgewählt. Darüber hinaus sind durch das SGB IV sogar die früher häufigen 79 Bestätigungsvorbehalte des Staates beseitigt worden. Auf der Ebene der konkretindividuellen Berufungsentscheidungen ist die staatliche Personalhoheit mithin beseitigt 80 . Auf der Ebene der generellen Regelungen des Personalwesens hingegen hat sich der Staat gewisse, über seine diesbezüglichen Befugnisse gegenüber den Kammern hinausgehende Einflußmöglichkeiten erhalten. Zwar werden die Rechtsverhältnisse der Beschäftigten der Sozialversicherungsträger durch autonome Dienstordnungen geregelt 81 , diese aber unterliegen in doppelter Hinsicht der staatlichen Ingerenz. Zum einen hat der Gesetzgeber Grundsätze bezüglich des Inhalts der Dienstordnungen aufgestellt 82 , und zum anderen bedürfen sie staatlicher Genehmigung 83 . Im Lichte des Zusammenspiels der verschiedenen staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten wird man sagen können, daß der Stellenplan der Sozialversicherungsträger, ihre Besoldungsregelungen sowie die Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten, staatlich legitimiert sind.

79

Zum Rechtszustand nach dem SelbstverwaltungsG: Bogs (Anm. 8), S. 24 ff. Marginale Reste sind in Form der Genehmigungsvorbehalte der §§ 354 Abs. 6, 696, 712 Abs. 3 S. 2, 801 und 865 RVO erhalten geblieben. 81 Zu den dem staatlichen Beamtenrecht nachempfundenen Dienstordnungen, Bogs (Anm. 8), S. 24 ff.; Stößner (Anm. 23), S. 129 ff. 82 §§ 352 - 354, 692 - 699 RVO sowie die besoldungsrechtlichen Regelungen des Art. V I I I des 2. Gesetzes zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern v. 23. 5. 1975 (BGBl 1975 I S. 1242 ff.). Überdies erzeugt die von den Trägerverbänden, den Sozialpartnern und dem Staat gemeinsam entworfene Musterdienstordnung einen starken Vereinheitlichungszwang; näher dazu Bogs (Anm. 8), S. 26 f.; Stößner (Anm. 23), S. 129. 83 §§ 355, 700 RVO. 80

11 Emde

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

b) Die autonomen Legitimationsstrukturen der Sozialversicherungsträger Die Binnenorganisation der Sozialversicherungsträger und damit auch ihre autonomen Legitimationsstrukturen sind nicht einfach Ableitungen des klassischen Körperschaftsbegriffs und der ihn prägenden dogmatischen Merkmale. Nicht er, sondern die konkreten gesetzlichen Organisationsanweisungen bilden mithin den Maßstab der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Legitimation der Selbstverwaltungsorgane aus Delegationsakten der Entscheidungsadressaten 84. Wie sehr die Binnenorganisation der Sozialversicherungsträger eigene Wege gegangen ist, zeigt schon ein Blick auf die Ausgestaltung der Mitwirkungsbefugnis an den Selbstverwaltungsorganen. War für das herkömmliche Selbstverwaltungsmodell der Dreiklang von Mitgliedschaft - Entscheidungsbetroffenheit - Mitwirkungsbefugnis noch selbstverständlich, so verlassen die Sozialversicherungsträger diese Konzeption in mehrfacher Hinsicht. Mit gutem Grund verwendet das SGB IV bereits den Begriff der Mitgliedschaft nur in der Form der Organmitgliedschaft, nicht hingegen in bezug auf die Versicherten. Während es in der Krankenversicherung immerhin noch möglich erscheint, eine Kongruenz zwischen Beitragspflicht, Anspruchsberechtigung sowie Mitwirkungsbefugnis herzustellen und die Summe dieser Rechte und Pflichten unter dem Begriff der Mitgliedschaft zusammenzufassen, ist dies im Bereich der Renten- und vor allem der Unfallversicherung ausgeschlossen. In der Rentenversicherung aufgrund der Tatsache, daß Leistungs- und Mitwirkungsberechtigung nicht an die aktuelle Beitragszahlung gebunden werden können, in der Unfallversicherung zum einen wegen der alleinigen Beitragspflicht der Arbeitgeber und zum anderen aufgrund des Umstands, daß ein und dieselbe Person je nach Art ihrer Tätigkeit in schneller Folge einer Vielzahl von Versicherungsträgern gegenüber anspruchsberechtigt ist 8 5 . Weiterhin hält das gegenwärtige Sozialversicherungsrecht an dem tradierten Prinzip fest, anspruchsberechtigten Familienangehörigen die Mitwirkungsbefugnis zu versagen 86 . Vor allem aber wird im Regeltypus der Sozialversicherungsträger die Bedeutung der Mitgliedschaft als dirigierender Kategorie für die Mitwirkungsbefugnis vom Paritätsprinzip überlagert: 84 Hier wie sonst wäre es unzulässig, den Körperschaftsbegriff der Dogmatik gegen die geltenden Selbstverwaltungsgesetze auszuspielen. Er hat Bedeutung lediglich als Orientierungshilfe für die Rechtspolitik sowie als Prüfstein für die Plausibilität von dogmatischen Aussagen. 85 Ebenso und näher dazu Krause (Anm. 1), Rdnr. 45 zu § 47. 86 Kritisch dazu v. Ferber, Soziale Selbstverwaltung - Fiktion oder Chance? in: Soziale Selbstverwaltung (Anm. 4), S. 156, 191.

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Die Selbstverwaltungsorgane werden grundsätzlich mit einer gleichen Anzahl von Vertretern der Versicherten sowie der Arbeitgeber beschickt, ungeachtet der Frage, wer nach den Vorschriften der RVO versicherungsberechtigt und -verpflichtet ist 8 7 . aa) Die Legitimationsstrukturen der paritätisch aufgebauten Sozialversicherungsträger Die autonomen Legitimationsstrukturen des Regeltypus der Sozialversicherungsträger, der Krankenkassen, der Renten- und Unfallversicherer, sind gekennzeichnet durch die paritätische Beteiligung der Repräsentanten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an der Bildung der Selbstverwaltungsorgane sowie durch die Friedenswahlen als regelmäßigen Kreationsmodus der Vertreterversammlung. Beide Faktoren sind Ausdruck einer radikalen Abkehr vom herkömmlichen, mitgliedschaftlichen Körperschaftsbegriff und einer ebenso entschiedenen Hinwendung zu einem verbandsparitätischen Modell. Die konsequente Durchführung des Paritätsprinzips bei der Organbildung und die durch sie bedingte Segmentierung der Legitimation der Organwalter legen den Versuch nahe, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretung als zwei voneinander unabhängige Teilkörper zu konstruieren. Indessen erweist er sich als untauglich, sobald man sich vergegenwärtigt, daß die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger in einem einheitlichen Willensbildungsakt von der Versammlung bzw. von dem Vorstand getroffen werden und - abgesehen von der Wahl des Vorstands sowie des Geschäftsführers - nicht die Zustimmung der Mehrheit beider Gruppen voraussetzen. Die Beantwortimg der Legitimationsfrage kann sich also nicht mit der Feststellung begnügen, die Gruppe der Arbeitgeber in den Selbstverwaltungsorganen beziehe ihre Legitimation durch die beitragspflichtigen Arbeitgeber und entsprechend die der Arbeitnehmer durch die Versicherten. Da die Entscheidungen einheitlich ergehen und sämtliche Adressaten, gleich welcher Gruppe sie angehören, binden, bleibt die Zulässigkeit von Teillegitimationen fraglich 88 . Das Modell der gruppenspezifischen Legitimation erfährt nach mittlerweile traditioneller Lehre 89 seine Rechtfertigung sowohl aus der paritäti87 Dies gilt nicht für die gesondert zu untersuchenden Ersatzkassen, in denen sich das Prinzip der Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht durchsetzen konnte. 88 In bezug auf die Gruppe der Arbeitgeber ist hier noch einmal anzumerken, daß die beitragsabhängige Stufung ihrer Mitgliedsrechte ebenfalls eine Abweichung vom herkömmlichen, auf dem Prinzip der demokratischen Wahlrechtsgleichheit basierenden Legitimationsmodell darstellt. 89 Repräsentativ Bogs (Anm. 4), S. 20 ff.; ders. (Anm. 8), S. 81 ff., 159 ff. sowie bereits die Begründung des Regierungsentwurfs zum Gesetz über die Selbstverwaltung (BT-Drucks. I, 444, S. 2).

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sehen Lastenverteilung auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber als auch aus „dem Grundsatz der gleichberechtigten Zusammenarbeit der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber als den Trägern der gesamten Wirtschaft" 9 0 . Der Gesichtspunkt der paritätischen Lastenverteilung indessen vermag nicht zu überzeugen. Dies bereits wegen der ihm zugrundeliegenden Verkennung des Arbeitgeberbeitrags zur Sozialversicherung als Bestandteil des Arbeitnehmereinkommens. Als juristischer Ertrag dieser wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis 91 ist festzuhalten, daß die Zahlungspflicht der Arbeitgeber lediglich ein vereinfachtes Abfühmngsverfahren darstellt, ohne am Charakter der Sozialversicherungsbeiträge als einkommensabhängiger Abgaben etwas zu ändern. Hieraus wiederum erhellt, daß die Heranziehung der Arbeitgeber zwar - formal betrachtet - einen Bruch mit dem körperschaftlichen Prinzip der Finanzierung durch die Mitglieder darstellt, jedoch im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip keine Bedenken aufwirft. Die Abführungspflicht der Arbeitgeber gibt mithin keinen Anlaß, die demokratische Tradition und Substanz des Selbstverwaltungs- sowie des Körperschaftsbegriffs aufzuweichen - ihr aber genügt lediglich eine genossenschaftliche, d. h. am demokratischen Gleichheitsprinzip ausgerichtete Verteilung der Mitwirkungsrechte. Schließlich - und hier kommt das Argument der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft ins Spiel - ist das Paritätsmodell nicht am grundgesetzlichen Schema der Legitimationsbeschaffung, welches auf der gleichberechtigten Teilhabe aller Staatsbürger an der Konstituierung der Staatsgewalt basiert, ausgerichtet. Die Problematik des Paritätsmodells schält sich damit heraus: So unbedenklich es als rechtspolitische Leitlinie des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Privat-Wirtschaftsordnung ist, so sehr fragt sich doch, inwieweit es imstande ist, die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Besetzung öffentlicher Ämter zu überlagern bzw. zu modifizieren. Die in der Orientierung der Binnenverfassung der Sozialversicherungsträger am Gegensatz von Kapital und Arbeit bereits angelegte Tendenz zur Auslieferung der Selbstverwaltungsorgane an deren Exponenten, d. h. an die Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigungen, und damit zur Ersetzung basisdemokratischer Legitimation durch verbandsoligarchische wird entscheidend verstärkt durch das zweite Spezifikum der Sozialversicherungsträger: die „Friedenswähl". Wie bereits dargelegt, bezeichnet der Terminus die Möglichkeit, auf eine Wahlhandlung zu verzichten, wenn nicht mehr Bewerber genannt sind, als Organmitglieder zu wählen sind. Die Bedeutung der Friedenswahlen liegt in der Tatsache, daß sie die Basis der traditionellen Legitimationsverfahren der Selbstverwaltung verlassen. 90 BT-Drucks. ebd. Das Zitat erhellt, wie prägend das Vorbild der Parität von Kapital und Arbeit im Tarifrecht für die Ausgestaltung der sozialen Selbstverwaltung in der Nachkriegszeit geworden ist; ebenso Bogs (Anm. 4), S. 21 f. 91 Siehe Nachw. Anm. 38.

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Während sowohl die autonom-genossenschaftliche als auch die parlamentsvermittelte Legitimation auf einem generalisierten Zustimmungsakt des Kollektivs der potentiellen Entscheidungsadressaten beruhen, an dem jeder einzelne als einzelner teilhat, liegen diese Voraussetzungen bei den Friedenswahlen nicht vor. Der individuelle Entscheidungsadressat ist für dieses „Legitimationsverfahren" irrelevant, als einzelnes Sozialversicherungsmitglied hat er keinerlei Möglichkeiten, am Konstitutionsprozeß der Vertreterversammlung teilzunehmen, er muß entweder in eine bereits bestehende Vereinigung eintreten oder versuchen, andere Mitglieder für die Aufstellung einer eigenen Liste zu gewinnen; bei größeren Sozialversicherungsträgern in Anbetracht des Fehlens persönlicher Beziehung zwischen den Mitgliedern ein hoffnungsloses Unterfangen 92 . Die wohltuende Harmonie, die der Begriff der Friedenswahl ausströmt, erweist sich mithin bei näherer Betrachtung als schlichte Verschleierung der Befugnis der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, die Organe der Sozialversicherer nach eigenem Gusto zu besetzen. Die weitgehende Funktionalisierung der Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungsträger als Foren der „Repräsentation organisierter Interessen" 93 schlägt sich nicht zuletzt auch in der Rechtsstellung der Mitglieder von Versammlung und Vorstand nieder. Im Gegensatz zu manchen Kammergesetzen, die den Versammlungsmitgliedern eine abgeordnetenähnliche Unabhängigkeit gewähren 94 , verzichtet das SGB IV auf derartige Klauseln und begnügt sich mit der bloßen Bestimmung, die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane dürften wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt werden, § 40 Abs. 2. Obschon damit ein echtes imperatives Mandat, d. h. die Befugnis zur Abberufung der Organwalter, wohl ausgeschlossen ist, läßt die Vorschrift der Steuerung der Selbstverwaltungsorgane durch die interessierten Verbände doch viel mehr Raum, als dies die Kammergesetze tun 9 5 . Auch das wieder dokumentiert, daß die Selbstverwaltungsorgane viel weniger die Körperschaftsmitglieder als Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen repräsentieren 96 . Eindrücklich bestätigt wird dies durch die Tatsache, daß nach § 51 Abs. 4 SGB IV die Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigungen befugt sind, ein Drittel der Organsitze mit Beauftragten zu besetzen, die nicht den Sozialversicherungseinrichtungen angehören. 92 Eingehend zu Ausmaß und Gründen der unangefochtenen Dominanz der Tarifparteien und zur Bedeutungslosigkeit der „freien Listen": Bogs (Anm. 4), S. 33 - 53; ders. (Anm. 8), S. 103 ff. 93 So der Titel der Habilitationsschrift J. H. Kaisers aus dem Jahre 1956. 94 § 94 HO: „Die Mitglieder der Vollversammlung sind ... an Aufträge und Weisungen nicht gebunden". 95 Ebenso Bogs (Anm. 8), S. 98. Α. A. Leopold, Bedeutung und Grenzen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, BayVBl 1974, S. 11; zum Stand der Diskussion M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, S. 64. 96 Ebenso Bogs (Anm. 4), S. 50.

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bb) Die Ersatzkassen Wie die anderen Sozialversicherungsträger haben mittlerweile auch die Ersatzkassen den Status öffentlicher Körperschaften, aber im Gegensatz zu jenen eignet ihnen auch eine dementsprechende Binnenstruktur: sie werden von ihren - freiwilligen - Mitgliedern gebildet, die allein dazu berechtigt sind, an den Wahlen zur Vertreterversammlung teilzunehmen; Mitgliedschaft und Mitwirkungsberechtigung decken sich. Die Ersatzkassen bleiben mit dieser egalitär-genossenschaftlichen Binnenstruktur ihren historischen Ursprüngen, den privaten Versicherungsvereinen, treu und entgehen jenen Legitimationsproblemen, die den übrigen Sozialversicherungsträgern aus der Paritätsverfassung erwachsen. Auch die Ersatzkassen allerdings verfehlen im Hinblick auf die bereits notorische Problematik der Friedenswahlen das Idealbild der mitgliedschaftlich organisierten Körperschaft 97 . 2. Die materielle Legitimationskomponente

a) Die staatsvermittelte

Legitimation

Die Tätigkeit der Sozialversicherungsträger ist nicht naturwüchsig und eigenständig, sondern beruht auf staatlichen Zuständigkeitszuweisungen. Soweit diese den Organen der sozialen Selbstverwaltung keinen der immittelbaren Staatsverwaltung entzogenen Handlungsspielraum gewähren, partizipieren deren Entscheidungen uneingeschränkt an der parlamentsvermittelten Legitimation der staatlichen Exekutive. Wann diese Voraussetzungen vorliegen, kann nicht einfach anhand der in §30 getroffenen grobschlächtigen Unterscheidung zwischen eigenen und übertragenen Aufgaben ermittelt werden. Zwar sind die Lenkungs- und Kontrollmittel der Staatsverwaltung (umfassendes Weisungsrecht) im Bereich der Auftragsangelegenheiten im Sinne des § 30 a Abs. 2 9 8 sowie bei der Unfallverhütung und der Ersten Hilfe bei Arbeitsunfällen 99 so stark ausgebaut, daß an einer staatsvermittelten Legitimation hier kein Zweifel bestehen kann. Auf der anderen Seite aber hat die Qualifikation einer Angelegenheit als „eigene" i. S. des § 30 noch nicht zwingend eine Verkürzung ihrer staatsvermittelten Legitimation zur Folge. Sicher, die eigenen Aufga97 Unproblematisch ist demgegenüber die Verpflichtung der Arbeitgeber, Beiträge abzuführen, ohne Mitwirkungsbefugnisse zu besitzen (zur Begründung s. o. aa). Insofern ähnlich ist die Situation in den Knappschaften, deren Finanzierung überwiegend von den Arbeitgebern zu leisten ist, obschon diesen nur ein Drittel der Organsitze zusteht, sowie für die Berufsgenossenschaften, die zwar paritätisch besetzt sind, deren Ausgaben aber allein den Arbeitgebern zur Last fallen. 98 Zu ihrem gegenwärtigen Bestand Krause (Anm. 1), Rdnr. 12 zu § 30. 99 Wie dargelegt, unterstehen sie gem. § 87 Abs. 2 der staatlichen Fachaufsicht.

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ben der Sozialversicherungsträger unterliegen gemäß § 87 Abs. 1 lediglich der Rechtsaufsicht - sie sind Selbstverwaltungsangelegenheiten - , und eine in den traditionellen Bahnen und Schablonen der Dogmatik verhaftete Betrachtung wird daraus ohne selbstquälerisches Zaudern die Schlußfolgerung ziehen, daß hier das staatliche Steuerungspotential substantiell reduziert ist. Eine solche Gedankenführung erliegt indessen der Verwechslung von Ideal und Wirklichkeit. Denn i m Sozialversicherungsrecht ist die Vorstellung der Selbstverwaltung als einer Institution, die nach Maßgabe des vom Parlamentsgesetz vorgegebenen Rahmenplans ihre Binnenorganisation, ihre Aufgaben und die Formen ihrer Wahrnehmung durch autonome Satzung festlegt und diese Aufgaben sodann durch ihre eigenen Organe erfüllt, während die staatlichen Behörden lediglich als Träger der Rechtsaufsicht in Erscheinung treten, schon längst durch den Gang der Gesetzgebung ins Reich der Illusion abgedrängt worden. Entgegen dem ersten, formalen Anschein verfügt der Staat nämlich gegenüber den Sozialversicherungsträgern über derart umfangreiche und vielfältige Lenkungs- und Kontrollinstrumente, daß sich „ i n diesem Bereich ... der Sache nach nur bedingt von Selbstverwaltung sprechen" läßt 1 0 0 und die staatliche Steuerung eine Intensität erreicht, die kaum hinter der durch die allgemeine Fachaufsicht realisierten zurückbleibt. Die Gründe für diese im folgenden näher zu dokumentierende Situation sind teils verfassungsrechtlicher Natur - zum einen schlägt sich hier die Verantwortung des Staats für die soziale Sicherung seiner Bürger nieder, zum anderen macht sich das Fehlen einer Substanzschutzklausel nach Art des Art. 28 Abs. 2 GG bemerkbar - , teils liegen sie in dem das Sozialrecht prägenden Uniformitätsdruck: Der Gewährung von Sozialleistungen wohnt stets eine Tendenz zur Vereinheitlichung inne, Anspruchsdifferenzierungen geraten leicht in die Gefahr, als gleichheitswidrig gebrandmarkt zu werden; von daher erscheint es nur logisch, daß der Staat selbst die Leistungsbedingungen der Sozialversicherungsträger festlegt und dies nicht ihrer autonomen Entscheidung überläßt 101 . Die Mittel, derer sich der Staat zur Beherrschung der Sozialversicherungsträger bedient, lassen sich unterteilen in vorgängig lenkende (Rechtsnormen, Mitwirkungsvorbehalte) und nachträglich kontrollierende (Auf-

100 BVerfGE 39, 302, 313 f. Ebenso Wertenbruch, Gibt es noch Selbstverwaltung im Sozialrecht? in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1975, S. 264 - 266, der von einem werthaften Selbstverwaltungsbegriff ausgehend mittelbare Staatsverwaltung und Selbstverwaltung als einander ausschließende Alternativen ansieht und daher - folgerichtig den Sozialversicherungsträgern die Qualifikation als Selbstverwaltungseinrichtungen abspricht. 101 Ebenso Bogs (Anm. 4), S. 14 f. sowie Lampert, Soziale Selbstverwaltung als ordnungspolitisches Prinzip staatlicher Sozialpolitik, in: Selbstverwaltung als ordnungspolitisches Problem des Sozialstaats II, S. 38 ff., 45 ff.

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sichtsbefugnisse), sie haben teils abstrakten (Rechtsnormen), teils konkreten (Einzelakte) Charakter. Ihr Einsatz vollzieht sich in der Form eines Vielfrontenangriffs auf drei Ebenen: - auf der der abstrakt-generellen Zuständigkeitsbestimmung. Instrumente: Gesetz, Rechtsverordnung, Verwaltimgsvorschrift, - auf der der staatlichen Mitwirkung im Einzelfall, sei es an autonomen Satzungen, sei es an Einzelakten der Selbstverwaltungsorgane. Instrumente: Genehmigungsvorbehalte 102 , - auf der der (nachträglichen) Kontrolle, sei es der Satzungen, sei es der Einzelakte. Instrumente: Rechtsauf sieht unter Einschluß normauslegender Verwaltungsvorschriften 103 . Aus der Perspektive der sozialen Selbstverwaltung stellen sich im Hinblick auf die Reichweite der staatlichen Steuerungsinstrumente zwei Fragen: - Lassen sie noch Raum für eine eigenständige Normsetzungstätigkeit der Selbstverwaltungsorgane? - Lassen sie noch Platz für eigenständige Einzelakte, oder sorgen auch auf dieser Ebene, seien es konditional programmierte Rechtssätze, seien es Mitwirkungsvorbehalte, Ermessens- oder Beurteilungsrichtlinien für eine Beseitigung autonomer Gestaltungsspielräume? Diesen Fragen wird im folgenden in Form einer Untersuchung der Reichweite und der Wirkungsweise der staatlichen Steuerungsinstrumente nachgegangen. Ihre Beantwortung soll die beiden Seiten des Legitimationsproblems offenlegen: Indem das Maß an staatlicher Steuerung der sozialen Selbstverwaltung entfaltet wird, schälen sich nicht nur die staatlich legitimierten, sondern ebenso die autonomer Legitimationsbedürftigen Entscheidungen heraus. aa) Rechtsnormen als Lenkungsinstrumente Prominentestes Mittel der vorgängigen Steuerung sind die staatlichen Rechtsnormen. Die Sozialgesetzgebung sowie auch die Verordnungsgebung haben mittlerweile eine solche Detaillierung angenommen und derart viele, ehedem autonomer Regelung überlassene Gegenstände an sich gezogen, daß

102 £ ) e r Gesetzgeber verwendet, zumal in älteren Gesetzen wie der RVO, statt des Begriffs der Genehmigung gelegentlich den der Zustimmung; ein inhaltlicher Unterschied zwischen den beiden Termini besteht nicht; näher dazu siehe oben 2. Kap. I I 3 b aa. 103 Mit dieser Zuordnung wird die These vom Charakter der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften als vorwirkender Instrumente der Rechtsaufsicht zurückgewiesen; zur Begründung siehe oben 2. Kap. I I 2 a.

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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schon v o n daher b e i allen wesentlichen Z u s t ä n d i g k e i t e n der Sozialversicherungsträger v o n unabhängiger G e s t a l t u n g k a u m n o c h die Rede sein k a n n 1 0 4 . K a u m geringere B e d e u t u n g f ü r die Verhaltenssteuerung der Sozialversicherungsträger h a t ihre B i n d u n g an staatliche V e r w a l t u n g s v o r s c h r i f t e n 1 0 5 . I h r Einsatz setzt die S t a a t s v e r w a l t u n g instand, die L ü c k e n zu schließen, die der Gesetzgeber der sozialen S e l b s t v e r w a l t u n g n o c h gelassen hat. V e r w a l t u n g s v o r s c h r i f t e n s i n d denn auch i n reicher Z a h l erlassen w o r d e n , insbesondere, u m die Organisation der Sozialversicherungseinrichtungen, ihre Satzungsgebung, die A u s ü b u n g v o n Ermessen u n d die I n t e r p r e t a t i o n v o n u n b e s t i m m ten Rechtsbegriffen z u s t e u e r n 1 0 6 .

bb) M i t w i r k u n g s v o r b e h a l t e D i e lenkende H a n d des Staates bedient sich n i c h t n u r der I n s t r u m e n t e der Normsetzung, sondern auch der der M i t w i r k u n g s v o r b e h a l t e . M i t i h r e r H i l f e h a t er auch viele jener Aktionsbereiche der Sozialversicherungsträger u n t e r seine K o n t r o l l e gebracht, i n denen deren F u n k t i o n sich n i c h t i n der E x e k u t i o n staatlicher N o r m e n erschöpft. V o n diesen F e l d e r n n u r n o c h begrenzt autonomer Gestaltung s i n d v o r a l l e m folgende v o n B e d e u t u n g 1 0 7 :

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Ebenso BVerfGE 39, 302, 313 f. Sie ist zwar nicht unumstritten, wird aber zu Recht von der weitaus h. M. bejaht (Bogs, Anm. 8, S. 219 - 224; Stößner, Anm. 23, S. 56 f., 59 f.; Krause, Anm. 1, Rdnr. 46 zu § 46; Bull, Maßstäbe und Verfahrensvorschriften für die Tätigkeit der Aufsichtsbehörden nach dem Sozialgesetzbuch, VSSR 1977, S. 124 ff.); a. A. Salzwedel, Berufsgenossenschaftliche Selbstverwaltung und Staatsaufsicht, in: Die Berufsgenossenschaft, 1959, S. 381 ff. Die Begründung ist allerdings noch schwankend und variiert von Autor zu Autor (zum Meinungsstand Bogs, ebd., der zu Recht die Bedeutung von Art. 86 GG betont). Letztlich ist wohl - und hier liegt der entscheidende Unterschied zu den Kammern - das Argument einer fest etablierten Tradition, für deren Beendigung das SGB IV keine Anhaltspunkte gibt, ausschlaggebend. Zu ihrer gesetzlichen Verankerung bietet es sich entgegen Krause m. E. an, die Verwaltungsvorschriften als „sonstiges Recht" i. S. der §§ 29 Abs. 3, 87 Abs. 1 anzuerkennen (ebenso Begründung des Regierungsentwurfs zu § 89, BT-Drucks. 7/4122 zu § 88 alter Zählung). Damit wird auch dem dogmatischen Grundsatz Genüge getan, das Recht der Selbstverwaltung als Ausschluß der staatlichen Organisations- und Gechäftsleitungsgewalt zu verstehen, soweit nicht der Gesetzgeber etwas anderes angeordnet hat. Zu den Grenzen der Zulässigkeit staatlicher Verwaltungsvorschriften Bogs, S. 217 ff. und Bull, S. 126 f. 106 Daß damit die „eigenen Aufgaben" der Sozialversicherungsträger weitgehend staatlich überformt werden, liegt auf der Hand. Die Literatur ist daher auch seit langem bemüht, restringierende Maßstäbe für die Zulässigkeit von Verwaltungsvorschriften zu entwickeln (dazu Bogs, Anm. 8, S. 219, F N 2). Ihre Überlegungen bezeichnen jedoch keine normativen Grenzen der Befugnisse der Aufsichtsbehörden, sondern tragen rechtspolitischen Appellcharakter. 107 Im einzelnen hierzu Bogs (Anm. 8), S. 226 ff.; Stößner (Anm. 23), S. 125 ff.; Krause (Anm. 1), Rdnr. 4 zu § 45. 105

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(Haupt)Satzung, § 34 Abs. I 1 0 8 Personalgewalt, §§ 351 ff., 690 ff. RVO 1 0 9 Haushaltshoheit, §§ 67 ff. Vermögensverwaltung, § 80 ff. 1 1 0 Vergütung der ehrenamtlich Tätigen, § 41 Beitrags- und Leistungsrecht der Ersatzkassen 111 Mehrleistungsvorschriften der Krankenkassen, §§ 179 Abs. 3, 187, 204, 205 Abs. 3 RVO Gefahrentarif der Berufsgenossenschaften Aufstockung der Höchstgrenzen des Jahresarbeitsverdienstes, § 575 Abs. 3 RVO sowie die Leistungen und Beiträge nach §§5 und 12 Abs. 3 GHL Festsetzung der Durchschnittsentgelte in der landwirtschaftlichen und der Seeunfallversicherung, §§ 781, 842 RVO Festsetzung des Mindesteinheitswertes, § 1 Abs. 4 GHL Unfallverhütungsvorschriften, § 708 RVO 1 1 2 Krankenordnungen, § 374 RVO, 154 Abs. 1 RKG.

Hinsichtlich der schlicht „Satzung" genannten Hauptsatzung folgt das Genehmigungserfordernis aus § 34 Abs. 1. Für die von § 34 Abs. 2 aus „sonstiges autonomes Recht" apostrophierten übrigen Satzungen existiert zwar kein derartiger allgemeiner Genehmigungsvorbehalt, der Anschein der Genehmigungsfreiheit wird jedoch durch eine Vielzahl spezieller Genehmigungsvorbehalte widerlegt 1 1 3 . Sowohl die Krankenordnung 114 als auch die Dienstordnung 115 , die autonomen Versicherungsbedingungen 116 sowie die autonomen Beitragsvorschriften 117 und eine Reihe anderer autonomer

108 Hierzu Stößner (Anm. 23), S. 126 ff. Die sonstigen autonomen Rechtsvorschriften werden vom SGB nicht als Satzungen bezeichnet. 109 Bedeutendstes Gestaltungsmittel sind insoweit die autonomen Dienstordnungen; siehe dazu Stößner (Anm. 23), S. 129 ff.; zu den sonstigen personellen Verwaltungsmaßnahmen: ders., S. 140 ff. 110 Hierzu Stößner (Anm. 23), S. 144 ff. 111 Dazu Bogs (Anm. 8), S. 227. 112 Dazu Bogs (Anm. 8), S. 228. 113 Eine informative Zusammenstellung findet sich bei Stößner (Anm. 23), S. 125 140. 114 § 47 RVO und § 154 Abs. 1 RKG. 115 §§ 331 i. V. m. 355; 690 i. V. m. 700 RVO. 116 In der Regel werden die Versicherungsbedingungen durch Gesetz bzw. Verordnung festgelegt; die Krankenkassen jedoch sind in gewissem Umfange berechtigt, in ihrer Satzung Mehrleistungen vorzusehen (näher dazu oben III). Die Mehrleistungsregelungen bedürfen mit Ausnahme der der Erstzkassen einer besonderen staatlichen Zustimmung. 117 Auch hier trifft der staatliche Normgeber die Grundentscheidungen (Bogs, Anm. 8, S. 11 f.; Stößner, Anm. 23, S. 127; Krause, Anm. 1, Rdnr. 4 f. zu § 21). Soweit er Raum für autonomes Recht läßt (dazu Bogs, S. 227; Stößner, S. 127 ff.), finden sich die entsprechenden Regelungen zumeist in der Hauptsatzung und unterliegen schon

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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Rechtssätze sind genehmigungspflichtig. Auch im Haushaltswesen, in dem zwar kein genereller Genehmigungsvorbehalt besteht, ermöglicht das aufsichtsbehördliche Beanstandungsrecht des § 70 infolge der Bindung der Sozialversicherungsträger an die Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, § 69 Abs. 2, eine intensive staatliche Kontrolle 1 1 8 . Aber nicht nur die Normsetzung, sondern auch einige besonders bedeutsame Exekutivaufgaben der Sozialversicherungsträger - vor allem die Vermögensverwaltung sowie bestimmte Personal- und Besoldungsentscheidungen - unterliegen staatlichen Mitwirkungsvorbehalten 119 . Auch hierin schlägt sich nieder, daß der Staat den Sozialversicherungsträgern nur in Detailfragen Unabhängigkeit gewähren will, sie in allen wichtigen Angelegenheiten - gleich, ob normsetzender oder exekutiver Natur - hingegen seinem Zugriff unterwerfen w i l l 1 2 0 . Hervorgehoben sei, daß auch im Sozialversicherungsrecht die Aufsichtsbehörden befugt sind, die Erteilung von Genehmigungen auch aus Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu versagen 121 und damit auch in diesem Bereich eine über die durch die Rechtsaufsicht gewährleistete staatliche Legitimation vermitteln. Zur Begründung sei auf die allgemeinen Ausführungen zu den Genehmigungsvorbehalten hingewiesen; daneben verdienen einige spezifisch sozialrechtliche Aspekte besondere Hervorhebung 122 . Zum einen wurden die Genehmigungsvorbehalte vom Beginn der sozialen Selbstverwaltung an nicht als Erscheinungsformen der staatlichen Rechtsaufsicht verstanden 123 . Zum anderen deuten die eigens angeordneten Beschränkungen des Genehmigungsmaßstabs in §§ 324 Abs. 2 und 355 RVO darauf hin, daß im übrigen die Aufsichtsbehörde auch Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte

von daher der Genehmigungsbedürftigkeit, aber auch dort, wo das nicht der Fall ist, gilt infolge besonderer gesetzlicher Anordnung der Genehmigungsbedürftigkeit nichts anderes, vgl. §§ 180 Abs. 2, 313 Abs. 2, 384 Abs. 3, 420 Abs. 3, 493 b Abs. 3 und 506 Abs. 1 RVO. 118 Ebenso und eingehend hierzu Bull (Anm. 105), S. 131 - 136. 119 Näher dazu Stößner (Anm. 23), S. 140 ff. 120 Angesichts dieses dichten Netzes von Genehmigungsvorbehalten vermag auch die Befugnis, frei von staatlicher Mitwirkung autonome Verwaltungsvorschriften zu erlassen, den Versicherungsträgern kein substantiell größeres Maß an Eigenständigkeit zu verschaffen. 121 So auch der Selbstverwaltungsbericht der Bundesregierung (BT-Drucks. 7/ 4244, S. 23); BSGE 37, 272, 276; 43, 1; Brackmann (Anm. 10), S. 153 s; Stößner (Anm. 2), S. 118-124, mit zahlreichen Nachw. auch auf die Gegenposition; grunds. auch Bogs (Anm. 9), S. 200 - 212 und Krause, Aufsicht i n der Sozialversicherung, Festschrift Bundessozialgericht, S. 198 ff.; a. A. Schirmer/Kater/Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung, Gliederungspunkt 100, S. 8; teilweise a. A. W. Weber und Salzwedel, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, S. 27 - 49 bzw. 50 - 69. 122 Oben 2. Kap. I I 2 b. Die folgenden Ausführungen orientieren sich vor allem an den eingehenden Darstellungen von Stößner (Anm. 23), S. 118 - 124 und Bogs (Anm. 8), S. 200 - 212. 123 Ebenso Stößner (Anm. 23), S. 119 f. sowie bereits 1886 Rosin (Anm. 13), S. 116.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

heranziehen kann. Hätte der Nachkriegsgesetzgeber diese durch die ständige Rechtsprechung der Sozialgerichte sowie durch die Publikationen der Wissenschaft bestätigte Genehmigungspraxis mißbilligt, so wäre das mit Sicherheit von einer der zahlreichen Reformen des Sozialversicherungsrechts zum Ausdruck gebracht worden. Nichts dergleichen ist jedoch geschehen, die Genehmigungsklauseln lauten heute nicht anders als vor 50 oder 80 Jahren. Kann schon deshalb ihre Interpretation auch heute keine anderen Wege gehen als seit jeher, so w i r d dieses Ergebnis noch zusätzlich gestützt durch eine pragmatische Erwägung, die Bogs in die Diskussion eingebracht hat 1 2 4 . Würde man die Genehmigungsbefugnis auf eine bloße Rechtskontrolle beschränken, so bestünde „die Gefahr, daß staatliche Normgeber wegen provozierender Schwäche der Aufsicht die Angelegenheit autoritativ in dem von ihnen gewünschten Sinne regeln" 1 2 5 . Auch die von Bogs 126 als Kompromißformel angebotene Begrenzung der Zweckmäßigkeitskontrolle durch das Übermaßverbot vermag nicht zu überzeugen. Da die soziale Selbstverwaltung nicht verfassungsrechtlich garantiert ist 1 2 7 , ist der Gesetzgeber nicht daran gehindert, die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger einer unbeschränkten staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Andererseits bedürfte man des Rückgriffs auf das Übermaßverbot nicht, wenn die Interpretation der Sozialgesetze eine begrenztere Reichweite der staatlichen Befugnisse ergäbe. In Anbetracht dessen ist nicht ersichtlich, inwiefern man es für eine restriktive Interpretation der staatlichen Mitwirkungsrechte fruchtbar machen kann. Darf der Gesetzgeber der Staatsverwaltung eine Befugnis von Verfassungs wegen einräumen, so können verfassungsrechtliche Argumente bei der Interpretation der Befugnisnorm nicht zum Zweck ihrer Restriktion eingeführt werden. Im Lichte der Auslegung der Genehmigungsvorbehalte als an die unmittelbare Staatsverwaltung gerichteter Gestaltungsaufträge erhellt, daß die soziale Selbstverwaltung jedenfalls im Bereich ihrer Normsetzungsbefugnisse kaum imstande ist, ein vom Staat unabhängiges Eigenleben zu entfalten. Man kann sich mithin der Erkenntnis nicht verschließen, daß das Gewicht der gemeinhin als paradigmatischen Ausweis eigenständiger Gestaltungsmacht angesehenen Satzungsautonomie durch die staatliche Mitwirkung entscheidend reduziert wird. Soweit Satzungsautonomie nicht

* 2 4 Bogs (Anm. 8), S. 209. Daß diese Befürchtung nicht unbegründet ist, weist Bogs, ebd., anhand eines Beispielfalls nach. Die Wahrscheinlichkeit gesetzgeberischer Eingriffe ist schon aufgrund des enormen Kapitalbedarfs der sozialen Selbstverwaltung stets beträchtlich; hinzu kommt, daß ihr - anders als den Kammern - nicht ein durch lange historische Tradition gegen gesetzliche Beschränkungen immunisierter Kern zugewachsen ist. 126 Ebd., S. 210 f. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nachweisen; näher dazu Krause (Anm. 121), S. 199 f. * 2 7 BVerfGE 39, 302, 313 f. 125

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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zugleich die Zurückdrängung des Staats auf eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle bedeutet, sondern - wie im Sozialversicherungsrecht - unter dem Vorbehalt des staatlichen Genehmigungsermessens steht, entrückt sie ihre Träger nicht der Steuerung des Staats. Aus dessen Perspektive stellt sich somit die Frage, ob er Organisationen und Zuständigkeit in einer Selbstverwaltungseinrichtung durch Gesetz und Verordnung abschließend festlegen soll oder ob er ihr dies - innerhalb eines sehr detaillierten gesetzlichen Rahmens - selbst überlassen und sich mit einem bloßen Veto begnügen soll, nicht als Wahl zwischen Herrschaft und Herrschaftsverzicht dar, sondern als Entscheidung über die sachgerechteste und effektivste Form der Herrschaftsausübung - direkte oder indirekte Herrschaft lautet die Alternative. So gesehen verleiht der Staat den Sozialversicherungsträgern zwar mit der Befugnis, autonomes Recht zu setzen, eine über ihre Vollzugszuständigkeiten hinausgehende Machtposition, nicht aber - unter den Bedingungen präziser staatlicher Vorgaben und umfassender staatlicher Mitwirkung Eigenständigkeit. Im Hinblick auf das Maß an funktioneller Distanz vom Staat macht es mithin keinen substantiellen Unterschied, ob dieser das Sozialversicherungsrecht selbst durchnormiert oder sich auf der Detailebene mit der Rolle des Auftraggebers und Prüfers autonomer Normen begnügt. Man sieht: Satzungsautonomie gewährleistet nicht eo ipso Unabhängigkeit vom Staat. Anders allerdings verhalten sich die Dinge, sofern der Satzungsautonomie nicht durch staatliches Genehmigungsermessen die Zähne gezogen werden. Diese Voraussetzung ist in manchen Bereichen der Krankenversicherung gegeben. Den Satzungen und Dienstordnungen der Krankenkassen sowie den Satzungen der Kassenverbände kann nach dem ausdrücklichen Wortlaut der §§ 324 Abs. 2, 355 Abs. 2 und 408 RVO nur aus Rechtsgründen die Genehmigung versagt werden. Insoweit also eignet zwar nicht „den" Sozialversicherungsträgern, aber doch immerhin den Krankenkassen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bei der Ausübung ihrer Satzungsautonomie 128 . Diese Entscheidungen sind mithin lediglich im Umfange der staatlichen Rahmenvorgaben staatlich legitimiert, die sonstigen autonomen Satzungen hingegen verfügen infolge der ihren gesamten Inhalt akzeptierenden Genehmigung über eine vollständig staatsvermittelte Legitimation.

128 Die Zurückhaltung der Formulierung erklärt sich aus zwei Tatsachen: Zum ersten hat die Genehmigung der Satzung nur in bezug auf manche ihrer Bestimmungen den Charakter einer gebundenen Rechtsentscheidung, andere - insbesondere wichtige Bestimmungen des Leistungs- und Beitragsrechts - hingegen unterliegen dem staatlichen Genehmigungsermessen (ebenso Stößner, Anm. 2, S. 128); zum zweiten sind die Genehmigungsmaßstäbe stets sehr weit gefaßt, häufig enthalten sie unbestimmte Rechtsbegriffe, teilweise sogar Blankettbegriff („wichtiger Grund", § 355 Abs. 2 RVO).

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

cc) Die Rechtsaufsicht Vergegenwärtigt man sich, daß nahezu sämtliche jener Zuständigkeiten der Sozialversicherungsträger, deren Wahrnehmung nicht ohnehin eines staatlichen Mitwirkungsakts bedarf, durch staatliches Recht (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift 129 ) detailliert und präzise geregelt ist, so wird die enorme Bedeutung der Rechtsaufsicht als Legitimationsfaktor augenfällig. Da die staatlichen Normen zudem in der Regel konditional programmiert sind, degradieren sie die Sozialversicherungsorgane, soweit sie ihnen kein Ermessen einräumen, zu reinen Subsumtionsautomaten, deren Erzeugnisse, da alle Kriterien der Entscheidungsbildung rechtlicher Natur sind, uneingeschränkter Nachprüfung durch die staatliche Rechtsaufsicht unterliegen. Dies gilt m. E. auch für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Selbstverwaltungsorgane. Die hiergegen von der im Sozialversicherungsrecht herrschenden Meinung 1 3 0 geltend gemachten Bedenken übertragen zumeist jene Erwägung, die für eine Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte sprechen, unreflektiert und ohne die gravierenden funktionellrechtlichen Unterschiede zwischen beiden Kontrollformen in Rechnung zu stellen, auf die Kontrollkompetenz der Aufsichtsbehörde 131 . Gewichtiger ist allerdings Bogs' Verweis auf die unterschiedliche Funktion von Selbstverwaltungs- und Aufsichtsbehörden 1 3 2 : Erstere nähmen Verwaltungsaufgaben wahr, letztere hingegen seien verwaltungsinterne Kontrollinstanzen. Indessen orientiert sich die Gegenüberstellung m. E. zu stark an der idealtypischen Funktionsverteilung zwischen Selbstverwaltungsträgern und staatlichen Aufsichtsorganen und verfehlt dadurch die Realität des Sozialversicherungsrechts, welches die Behörden der unmittelbaren Staatsverwaltung eben nicht auf reine Kontrollfunktionen beschränkt, sondern sie in großem Zuge an der Gestaltung des Sozialversicherungswesens beteiligt. Vor diesem Hintergrund vermag die von Bogs propagierte Verkürzung der Rechtsauf sieht um die Befugnis, die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zu kontrollieren, nicht zu überzeugen. Aber selbst wenn man dem nicht folgen sollte und den Sozialversicherungsträgern auch gegenüber den Aufsichtsbehörden einen Beurteilungsspielraum zubilligt, sind letztere doch jedenfalls berechtigt, dessen Handhabung - ebenso wie die der Ermessensermächtigungen - durch Verwaltungsvorschriften zu steuern 133 . Die Effektivität der Rechtsauf sieht wird 129

Daß auch Verwaltungsvorschriften Gegenstand der Rechtsaufsicht sind, heben zutreffend Bogs (Anm. 8), S. 222 f. und Stößner (Anm. 23), S. 59 f. hervor. 130 Repräsentativ Bogs (Anm. 8), S. 74 f., 189 ff.; Stößner (Anm. 23), S. 63 sowie Schnapp (Anm. 47), S. 897. 131 So etwa Stößner (Anm. 23), S. 63. 132 (Anm. 8), S. 192. 133 Dazu siehe oben aa.

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schließlich noch dadurch erhöht, daß sie nach § 88 zu einer umfassenden Geschäfts- und Rechnungsprüfung ermächtigt. dd) Resumée In der sozialen Selbstverwaltung kumulieren die Dichte der staatlichen Normsetzung, das infolgedessen scharfe Schwert der Rechtsaufsicht sowie die zahllosen Genehmigungsvorbehalte zu einem staatlichen Steuerungsund damit Legitimationspotential, welches nur wenig hinter dem durch eine uneingeschränkte Fachaufsicht gewährleisteten zurückbleibt 1 3 4 . Zusätzlich gestärkt wird der Staatseinfluß durch den Umstand, daß die Sozialversicherungsträger viel eher geneigt sein dürften, ihre Politik an den Erwartungen des Staats auszurichten als etwa die Kammern. Weniger traditionsreich, weniger eigenständig mangels eines homogenen und stabilen personellen Substrats, dynamischer in ihrer Aufgabenentwicklung und viel unersättlicher in ihrem Kapitalbedarf als jene, müssen sie - ausweislich zahlloser Änderungen ihrer Rechtsstellung - eher gewärtig sein, daß der Staat anderenfalls Konflikte durch eine weitere Intensivierung seiner Zugriffsrechte löst. Soziale Selbstverwaltung bedeutet demzufolge nicht funktionelle Unabhängigkeit vom Staat 1 3 5 . Die wenigen, im Laufe der Zeit schmal gewordenen Aufgaben, deren Wahrnehmung noch nicht bis ins einzelne staatlich vorgeformt und durch die Rechtsaufsicht an die staatlichen Organe zurückgekoppelt ist, vermögen an diesem Befund nichts zu ändern. Das Etikett der Selbstverwaltung verdienen sich die Sozialversicherungsträger mithin nicht so sehr durch ihre eigenständigen Gestaltungsbefugnisse als durch ihre Personalstruktur. Münzt man diese Erkenntnisse in Feststellungen über die Legitimationsbeschaffung um, so liegt auf der Hand, daß die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger überall dort, wo sie staatlich konditioniert sind, auch staatlich legitimiert sind. Insgesamt erscheint daher die Reduktion der staatsvermittelten Legitimation in materieller Hinsicht trotz der grundsätzlichen Zurückdrängung des Staats auf die Rechtsaufsicht eher marginal.

134 Eine gewisse Verkürzung der staatsvermittelten Legitimation bewirkt allerdings die Tatsache, daß der Träger der Rechtsaufsicht über die bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträger, das Bundesversicherungsamt, bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe nach § 94 Abs. 2 nur allgemeinen Weisungen des Bundesministeriums für Arbeit unterliegt. 135 Α. A. wohl Schuppert, Selbstverwaltung als Beteiligung Privater an der Staatsverwaltung?, der das charakteristische der Verwaltung der Sozialversicherung darin sieht, daß sie „den großen Verbänden der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zur eigenständigen Erledigung überlassen wird". Ebenso wie hier demgegenüber BVerfGE 39, 302, 313 f.

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b) Die autonome Legitimationskomponente Die Darstellung der autonomen Legitimationsstrukturen kann sich auf einige wenige grundlegende Informationen beschränken. Dies zum einen, weil gewisse, im Laufe der Jahrzehnte intensiver gewordene Übereinstimmungen mit den Entscheidungsstrukturen der Kammern es ermöglichen, auf die diesbezüglichen Ausführungen zu verweisen 136 , und zum anderen, weil die Dominanz des Staates die Bedeutung des autonomen Legitimationsfaktors ohnehin drastisch beschränkt. Immerhin existieren doch noch vereinzelte Residuen autonomer Gestaltung, deren Ausübung nicht bis ins Detail staatlich präformiert ist. Vor allem handelt es sich dabei um die allerdings von den jeweiligen Zentralverbänden wahrgenommene Vertretung der Interessen der Sozialversicherungsträger im politischen Raum. Aber auch im Haushaltswesen, in den Personalangelegenheiten sowie im Bereich von Rehabilitation und Prävention eignet der sozialen Selbstverwaltung auch ein gewisses Maß an Eigenständigkeit; dies gilt wohl auch für die Organisation der innerbetrieblichen Verwaltungsabläufe und für den Bereich der Finanzwirtschaft 137 . Ebensowenig wie die Kammerangehörigen gegenüber der Kammerversammlung haben die Versicherten und die einzelnen Arbeitgeber gegenüber der Versammlung des jeweiligen Sozialversicherungsträgers Weisungs- oder Abberufungsrechte. Wie dargelegt, wird die repräsentative Stellung der Versammlung jedoch durch die starke Abhängigkeit ihrer Mitglieder gegenüber den sie entsendenden Verbänden abgeschwächt 138 . Wenn es auch im Rahmen einer normativen Betrachtung nicht möglich ist, insoweit von einem imperativen Mandat zu sprechen, so ist doch unverkennbar, daß die Intensität der Kommunikation zwischen Entsendungsverbänden und Versammlungs- sowie Vorstandsmitgliedern praktisch auf eine Legitimation ihrer Entscheidungen durch die beteiligten Verbände hinausläuft. Hinsichtlich des Verhältnisses von Versammlung und Vorstand weicht das SGB IV insoweit vom Kammerrecht ab, als es die Stellung des Vorstands verstärkt: Die Versammlung ist zurückgedrängt auf die Rolle des Satzungsgebers sowie des Wahlkörpers für den Vorstand; selbst bei der Haushaltsfeststellung und der Wahl des Geschäftsführers hat sie lediglich die Befugnis, die Vorschläge des Vorstands zu verwerfen, eigene Gestaltungsmöglichkeiten hingegen stehen ihr nicht zu. Es versteht sich, daß die Versammlung dem Vorstand gegenüber auch keine Weisungsbefugnis besitzt. Letzterer ist 136

3. Kap. IV 2 b. Ebenso Brackmann (Anm. 9), S. 153 n; Bogs (Anm. 4), S. 15; ders. (Anm. 8), S. 9 ff., 13 ff.; sehr viel skeptischer im Hinblick auf das vorhandene Maß an Unabhängigkeit der Sozialversicherungsträger vom Staat demgegenüber Wertenbruch (Anm. 100), S. 264 - 266; ders., Sozialversicherung, in: Festschrift Wannagat, S. 705 ff. 138 Näher dazu Bogs (Anm. 8), S. 98 ff. 137

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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damit das zentrale Organ der sozialen Selbstverwaltung, § 35 Abs. 4 legt dies mit aller wünschenswerten Klarheit dar 1 3 9 . Bemerkenswert ist, daß die hauptamtliche Geschäftsführung auch bei der Erledigung der laufenden Verwaltungsgeschäfte an die Richtlinien des Vorstands gebunden ist, § 35 Abs. 2. Auch wenn dies noch keine Legitimation der einzelnen Verwaltungsentscheidungen der Geschäftsführung durch den Vorstand darstellt, treibt die Richtlinienbindung doch auf ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Geschäftsführung und Vorstand hin. Auf einem anderen Blatt steht, daß die fachliche Überlegenheit der hauptamtlichen Geschäftsführung in den Vorstandsberatungen voll zum Tragen kommt und insoweit die Gewichte in die entgegengesetzte Richtung verschiebt 140 . 3. Schlußbemerkung

Die Rechtsentwicklung der Nachkriegszeit hat von der einstigen Vielfalt der Organisationsformen der Sozialversicherungsträger nicht viel übriggelassen, ihre Spuren jedoch sind auch heute noch sichtbar. Jedes der früheren Strukturmodelle, sowohl das anstaltlich-etatistische der Rentenversicherungsträger als auch das genossenschaftlich-demokratische der Krankenund Unfallversicherer und vor allem die Ansätze zur Installierung der Tarifparteien als gleichberechtigter Legitimationsträger der sozialen Selbstverwaltung sind in das einheitliche Organisationsmodell des SGB IV eingeflossen. Darauf ist im einzelnen nicht mehr zurückzukommen, hier sollen lediglich die prägenden typologischen Besonderheiten der sozialen Selbstverwaltung, insbesondere das Paritätsprinzip, und die aus ihnen resultierenden Spannungen zwischen der Rechtsgestalt der sozialen Selbstverwaltung und den Organisations- sowie Legitimationsstrukturen der herkömmlichen Selbstverwaltungsdogmatik herausgearbeitet werden. a) Die Sozialversicherungsträger und der Begriff der öffentlichen Körperschaft In schöner Eindeutigkeit erklärt § 29 Abs. 1 die Sozialversicherungsträger zu „öffentlichen Körperschaften mit Selbstverwaltung". Die klare Sprache des Gesetzes fordert dazu auf, die in generationenlanger Mühe von der verwaltungsrechtlichen Dogmatik herausgearbeiteten Merkmale der Selbstverwaltungskörperschaft auch auf die Sozialversicherungsträger zu beziehen. Entscheidungsautonomie gegenüber dem Staat, Mitgliedschaft als 139 Ebenso und eingehend zum Verhältnis Versammlung-Vorstand der Selbstverwaltungsbericht der Bundesregierung (BT-Drucks. 7/4244, S. 8 ff.) 140 Eingehend zum Verhältnis von Geschäftsführung und Vorstand der Selbstverwaltungsbericht der Bundesregierung, ebd. S. 8 f., 15 f. sowie Bogs (Anm. 8), S. 36 ff.

12 Emde

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regulatives Prinzip sowohl für Mitwirkungsbefugnis als auch für Entscheidungsbetroffenheit, genossenschaftlich-egalitäre Mitwirkungsrechte sowie soziale Homogenität und Überschaubarkeit des Mitgliederkreises - all diese Assoziationen stellen sich ein 1 4 1 . Indessen, sie verfehlen die Verfassung der Sozialversicherungsträger völlig. Auf den geringen Stellenwert der autonomen Entscheidungsbefugnisse soll hier nicht mehr eingegangen werden. Die Aushöhlung der Bedeutung der Mitgliedschaft hingegen verdient weitere Aufmerksamkeit. Die Abgrenzung des Mitgliederkreises ist seit Inkrafttreten der RVO unverändert geblieben, die Verteilung der Mitwirkungsrechte aber hat seitdem tiefgreifende Wandlungen durchgemacht. Viel stärker als damals fallen heute Mitgliedschaft und Mitwirkungsberechtigung auseinander, und offenkundiger auch ist die Inkongruenz von Mitgliedschaft/Mitwirkungsberechtigung einerseits und Entscheidungsbetroffenheit andererseits geworden. So beschränken sich Mitgliedschaft und Beitragspflicht in den Berufsgenossenschaften ausschließlich auf die Arbeitgeber, mitwirkungsberechtigt und entscheidungsbetroffen hingegen sind auch die versicherten Arbeitnehmer. In den Krankenkassen andererseits sind nur die Versicherten Mitglieder, mitwirkungsberechtigt und beitragspflichtig aber sind auch die Arbeitgeber. Vor allem aber hat die Mitgliedschaft - nichts anderes gilt für die Mitwirkungsberechtigung - deshalb nicht mehr die Bedeutung, die ihr herkömmlicherweise in der Körperschaftsdogmatik zukommt, weil die Willensbildung der Sozialversicherungsorgane nicht mehr vom einzelnen Mitglied/ Mitwirkungsberechtigten ausgeht. Zumal dann, wenn die Besetzung der Organe - wie regelmäßig - durch „Friedenswahlen" erfolgt, hat der einzelne keinerlei Einfluß auf ihre Zusammensetzung sowie auf ihre Entscheidungsbildung. Er wird von der Gruppe, der man ihn zurechnet, völlig mediatisiert. Dies hat zur Folge, daß die Mitglieder/Mitwirkungsberechtigten nicht als Legitimationsstifter der Entscheidung der Sozialversicherungsträger in Betracht kommen. Bedürfen diese neben ihrer staatsvermittelten zusätzlich einer autonomen Legitimation, so müssen sie aus anderen Quellen schöpfen - die mitgliedschaftliche ist für sie weitgehend versiegt. Man mag diesen Feststellungen entgegenhalten, sie träfen nur dann zu, wenn Wahlen durch Friedenswahlen ersetzt werden. Doch dieser Einwand kann nur einen Aspekt des Legitimationsproblems entschärfen, denn auch unter der Bedingung der Durchführung wirklicher Wahlen schaffen die Implikationen des Paritätsmodells eine Situation, die sich nicht in das herkömmliche Körperschaftsverständnis fügt. Der im Paritätsprinzip angeleg141 Zu diesen Konstitutionsmerkmalen des Begriffs der körperschaftlichen Selbstverwaltung siehe oben 1. Kap. I I 1 sowie E. Becker, Die Selbstverwaltung als verfassungsrechtliche Grundlage der kommunalen Ordnung in Bund und Ländern, in: HdbdKommWissP, 1. Bd., S. 113 - 123; Bieback (Anm. 11), insb. S. 107 ff., 348 ff. und weithin auch noch Wolff/Bachof (Anm. 69), § 84 IV.

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ten Anlehnung der sozialen Selbstverwaltung an die Koalitionen des Arbeitslebens wohnt notwendig die Tendenz inne, die Versammlungs- und Vorstandsmitglieder zu Exponenten der sie delegierenden Verbände zu machen und ihre Wahl durch die Versicherten bzw. durch die Arbeitgeber zu einer lästigen Formalie zu degradieren. Die Gründe hierfür liegen letztlich im Eigengewicht der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen als der gesellschaftlichen Basis der sozialen Selbstverwaltung. Sogar unter der Voraussetzung, daß neben den Gewerkschaften und den Arbeitgebervereinigungen sich auch freie Listen an den Sozialversicherungswahlen beteiligen, werden erstere aus ihrer dominanten Position nicht zu verdrängen sein. Dies zum einen wegen des Legitimitätsvorsprungs, den sie als etablierte Interessenvertretungen mit direktem Zugang zu den zentralen politischen Instanzen des Staates gegenüber ad hoc gegründeten Wählerlisten haben 142 , und zum anderen wegen ihrer finanziellen, personellen und organisatorischen Überlegenheit: Keine freie Wählerliste wird imstande sein, in einer großen Versicherung mit Aussicht auf Erfolg einen Wahlkampf gegen die gewerkschaftliche Liste zu führen. Auch echte Wahlen vermögen mithin die Vereinnahmung der sozialen Selbstverwaltung durch die Tarifparteien nicht zu verhindern; ein Faktum, welches vor allem deshalb nachdenklich stimmt, weil die Teilnahme an der sozialen Selbstverwaltung weder für die Gewerkschaften noch für die Arbeitgeberverbände Gegenstand ihres Daseinszwecks sowie ihrer Daseinsberechtigung ist. Beide gesellschaftlichen Gruppen haben sich aus anderen Gründen zusammengeschlossen und sind von anderen Loyalitäten geprägt - die Teilhabe an der sozialen Selbstverwaltung stellt jeweils nur ein akzidentielles Randphänomen dar. Dies wiederum hat zur Folge, daß in den Einrichtungen der sozialen Selbstverwaltung auch echte Wahlen keine greifbare Verbindung zwischen Mitgliederwillen und Organwillen zustandezubringen vermögen. Im Lichte dieser Gegebenheiten überrascht es nicht, daß von den Versicherten gebildete Wählerlisten kaum Zustandekommen und den interessierten Arbeitnehmerverbänden damit freie Bahn zur internen Einigung und folglich auch zur Vermeidung von Sozialwahlen geschaffen ist 1 4 3 . Allerdings 142 Eine Repräsentativerhebung von infas aus dem Jahre 1975 erbrachte das Ergebnis, daß die Versicherten niemandem auch nur annähernd so viel Vertrauen im Hinblick auf die Vertretung ihrer Interessen entgegenbringen wie den Arbeitnehmervereinigungen (infas, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Soziale Selbstverwaltung, Anm. 4, Bd. 1, S. 234 f.). 143 Krause, in: Krause u. a. (Anm. 1), Rdnr. 17 ff., 25 - 27 zu § 46 weist nach, daß in der Nachkriegszeit Sozialwahlen stets allenfalls bei 3 % der Versicherungsträger durchgeführt wurden. Vor dem 1. Weltkrieg hingegen waren Friedenswahlen die Ausnahme, doch schon in der Zwischenkriegszeit konnte ein deutlicher Trend zugunsten der Friedenswahlen verzeichnet werden (dazu G. Klein/E. Forster, Die Organe der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung vor 1933, in: Zeitschrift für Sozialreform, 1980, S. 55 ff.). Bei den Sozialwahlen 1974 kam es in den ca. 1.700 beteiligten Sozialversicherungsträgern zu ganzen 37 Wahlen (Krause, ebd.), bei den Sozialwahlen 1980 zu 49, bei denen des Jahres 1986 zu 35 Wahlen, während in etwa 1.280 Versicherungs12*

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

ist hierfür nicht allein die im Zuge der Öffnung der sozialen Selbstverwaltung für die Koalition des Arbeitslebens entstandene Präponderanz der Gewerkschaften sowie der Arbeitgebervereinigungen maßgeblich; eine weitere wesentliche Ursache für das Desinteresse der Versicherten an der sozialen Selbstverwaltung stellt vielmehr die „weitgehende Monopolisierung des sozialpolitischen Entscheidungsprozesses beim Staat" 1 4 4 dar. Die durch sie bewirkte Beseitigung des autonomen Gestaltungsspielraums der Sozialversicherungsträger läßt ein Engagement der Versicherten ebenfalls als müßig erscheinen. Hinzu kommt, daß, zumal in den großen, bundes- oder zumindestens landesweit tätigen Versicherungseinrichtungen, das Fehlen persönlicher Beziehungen zwischen den Versicherten es jeder Versichertengemeinschaft außerordentlich erschwert, sich selbst und die von ihr vertretenen Anliegen bekannt zu machen. Anders als in den historischen Wegbereitern der körperschaftlichen Selbstverwaltung, den Kommunen und Kammern, besitzen die Mitglieder in den großen Versicherungseinrichtungen eben nicht wirklich eine Chance, selbst in der Mitgliederversammlung aktiv zu werden oder aber die eigenen Vorstellungen über einen persönlich bekannten, von einem überschaubaren Kreis von Mitgliedern gewählten Repräsentanten einzubringen; und das selbst dann nicht, wenn es tatsächlich einmal zu Wahlen kommt. Gilt dies weithin für alle Versicherungsträger, so doch in besonderem Maße für die BfA und die Angestelltenersatzkassen. Ihr über das Bundesgebiet verstreutes Millionen-Mitgliederheer ist eine bemerkenswert plastische Demonstration des Sonderwegs der Sozialversicherungsträger sowie der Kluft, die zwischen ihnen und den traditionellen, regional sowie personell, überschaubaren Körperschaften entstanden ist. Vor dem Hintergrund dieser Umstände kann es daher auch kaum überraschen, daß die Mehrzahl der Versicherten noch nicht einmal von der Institution der sozialen Selbstverwaltung, geschweige von der Existenz von Sozialwahlen und noch weniger von den an ihnen teilnehmenden Organisationen und Personen Kenntnis haben 145 . Als Schlußfolgerung aus den Darlegungen zum Paritätsprinzip und zu den Friedenswahlen ist festzuhalten, daß ihr Zusammenspiel einen nahezu trägem keine Wahlhandlung stattfand (Jegust, Nachlese zu den Sozialwahlen 1986, in: Die Ortskrankenkassen 1986, S. 533). Angemerkt sei, daß es i n der Gruppe der Arbeitgeber nahezu nie zu Sozialwahlen kommt. Die Arbeitgeber scheinen sich durch ihre Tarifvereinigungen angemessen repräsentiert zu fühlen, ebenso Bogs (Anm. 8), S. 109; angesichts ihrer geringen Zahl und ihrer recht homogenen Interessen stellt sich hier das Problem der Mediatisierung des einzelnen wohl in der Tat nicht in gleicher Schärfe wie in der Gruppe der Versicherten. 144 Bogs (Anm. 8), S. 109. 145 Empirische Nachweise für den geringen Bekanntheitsgrad der sozialen Selbstverwaltung und für das Desinteresse der Versicherten an ihr finden sich bei infas (Anm. 141), S.226-255. Zum Fehlen der tatsächlichen Voraussetzungen für eine rationale Wahlentscheidung siehe auch den Selbstverwaltungsbericht der Bundesregierung (Anm. 139), S. 11 ff.

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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unwiderstehlichen Sog zugunsten der Substitution basisdemokratischer Legitimation durch verbandsoligarchische erzeugt. Die weitgehende Zurückdrängung individueller Mitwirkung und autonomer Gruppenbildung kann mithin nicht einem perfiden Komplott machtgieriger Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände angelastet werden, sondern liegt in der Logik der Struktur der Sozialversicherungsträger. Daß dies durchaus im Sinne des Gesetzes ist, erhellt bereits aus der Regierungsbegründung zum Gesetz über die Selbstverwaltung von 1951 146 , die die Parität der Tarif Parteien ausdrücklich zum Ordnungsmodell für die Selbstverwaltungsträger erhebt. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Dominanz der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen als völlig systemgerecht und haftet dem Vordringen von Außenseitergruppen sowie überhaupt der Durchführimg von Wahlen der Geruch des Anormalen, der Störung an. Warum denn auch eine Wahl mit all ihren Kosten und Mühen durchführen, wenn das angestrebte Ziel - die Repräsentation der Tarifparteien in den Selbstverwaltungsorganen - doch ohne diese Anstrengungen im Wege der Absprache erreichbar ist? Es löst daher kein großes Erstaunen aus, daß in den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften das System der „Friedenswahlen" verbindlich vorgeschrieben ist 1 4 7 . Der Gesetzgeber hat mit dieser etwas entlegenen und bislang vereinzelt gebliebenen Regelung nichts anderes getan, als die bisherige Entwicklung konsequent fortzuschreiben. An ihrem Ende würde die Abschaffung von Sozialwahlen und eine Rekrutierung der Organwalter der Sozialversicherungsträger nach dem Vorbild der B A 1 4 8 stehen. Daß Bogs diese Lösung bereits seit langem favorisiert 149 , weist ihn einmal mehr gleichermaßen als profunden Kenner der Materie wie als berufenen Sachwalter des Bestehenden aus. Er scheint es als notwendigen Tribut an die Funktionsfähigkeit des Sozialversicherungssystems zu betrachten, daß diese Art der Pfründenverteilung zur weitgehenden Ausschaltung der Versicherten sowie zur Konservierung der bestehenden Machtverhältnisse tendiert und damit zugunsten der etablierten Tarifparteien ausschlägt. Man wird kaum bestreiten können, daß Bogs' Konzeption im Hinblick auf das Ziel der Funktionsoptimierung unter den gegebenen gesellschaftlichen und 146 BT-Drucks. 1/444. Es sei darauf hingewiesen, daß durch das „Gesetz zur Verbesserung des Wahlrechts für die Sozialversicherungswahlen" (BGBl 1 1984, S. 1029 ff.) die Zugangshürden für autonome Gruppen noch weiter erhöht worden sind; eingehend dazu Rohrlach, Sozialversicherungswahlen 1986, in: Die Angestellten Versicherung 1984, S. 429 ff. sowie Marburger, Die Änderungen im Selbstverwaltungsrecht, in: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch, S. 257 ff. 147 Art. 3 § 1 des 7. ÄnderungsG vom 3. August 1967 (BGBl 1967 I, S. 845); näher dazu Krause (Anm. 1), Rdnr. 25 zu § 46 sowie Bogs (Anm. 4), S. 35. 148 Sie werden aufgrund bindender Vorschläge der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen berufen und fungieren als deren Vertreter. Näher dazu im 5. Kapitel. 149 (Anm. 8), S. 171 f.; ders. (Anm. 4), S. 23 ff., 39 ff. Unverkennbare Sympathien für diese Lösung zeigt auch der Selbstverwaltungsbericht der Bundesregierung (Anm. 139), S. 12 ff.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

kompetentiellen Rahmenbedingungen realistischer erscheint als von Ferbers Postulat der Abschaffung der Friedenswahlen sowie der Demokratisierung der Sozialversicherungsträger durch Ausdehnung des Wahlrechts auf alle Anspruchsberechtigten 150 . Die Verlustliste auf der Suche nach den Merkmalen des dogmatischen Körperschaftsbegriffs bei den Sozialversicherungsträgern ist noch nicht abgeschlossen. Es mag dahinstehen, ob die klassische Körperschaft notwendig eine egalitär-genossenschaftliche Binnenstruktur aufwies 151 , jedenfalls aber erfolgte die Wahl ihrer Organe in einem Gesamtakt aller Mitlieder. Die Legitimation der Organwalter ging mithin auf die Einheit der Mitglieder, das „Verbandsvolk" zurück, während sie heute gruppenspezifisch segmentiert ist 1 5 2 . Wie wenig das eine Marginalie der Organisationstechnik ist, erhellt aus der Tatsache, daß die klassische Körperschaft sich stets durch ein Mindestmaß an sozialer Homogenität der Mitglieder bzw. an Gleichläufigkeit der Mitgliederinteressen auszeichnete. Nach Auffassung von Brohm 1 5 3 handelt es sich hierbei nicht nur um eine empirische Feststellung, sondern vor allem um eine normative Bedingung der Möglichkeit autonomer Legitimation. Auch sie ist bei den Sozialversicherungsträgern - mit Ausnahme der Ersatzkassen - nicht gegeben, kann es bei der gegenwärtigen Abgrenzung des Kreises der Mitwirkungsberechtigten auch nicht sein. Denn die Ziele der Versicherten und der Arbeitgeber sind zumindestens teilweise gegenläufig: Zwar sind beide Gruppen grundsätzlich an einer Kostenminimierung interessiert, die Versicherten im Gegensatz zu den Arbeitgebern daneben jedoch in gleichem Maße an möglichst umfangreichen Versicherungsleistungen. Diese rollenbedingte und daher unaufhebbare partiell antagonistische Interessenstruktur, m. a. W. diese fehlende Homogenität fordert, sofern die Sozialversicherungsträger auch die Interessen der Arbeitgeber wahrnehmen sollen, für letztere einen Sonderstatus, ein „Minderheitenstatut". Aufs Ganze gesehen stellt die Bezeichnung der Sozialversicherungsträger als körperschaftliche Selbstverwaltungseinrichtungen eine mißdeutende Beschreibung ihres Status dar 1 5 4 . Dies nicht nur wegen der weitreichenden materiellen Steuerungsmöglichkeiten des Staates, sondern auch und vor allem wegen der starken Abweichung vom klassischen Körperschaftskonzept der Mitgliederselbstverwaltung 155 . 150

Von Ferber (Anm. 86), S. 156, 187 ff. In dieser Richtung in einer allerdings stark idealisierenden Betrachtung Bieback (Anm. 1), S. 351 f. 152 Dies gilt ebenfalls für die Mitglieder der Organe der Gruppenuniversität; dazu eingehend Grawert, Wahlrechtsgrundsätze für Hochschulwahlen, WissR 14 (1981), insb. S. 202 f., der die Auffassung vertritt, nicht das demokratische Prinzip, sondern das Maß an grundrechtlicher Betroffenheit habe die Binnenorganisation der Hochschulen zu dirigieren (S. 206). 153 Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, S. 253, 262 f. 154 Ebenso Bogs (Anm. 8), S. 179 f. 151

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger Bogs, der wissenschaftliche S c h u t z p a t r o n der Verbändeherrschaft,

183 hat

auch diese Zusammenhänge i n aller wünschenswerten D e u t l i c h k e i t herausgearbeitet: „ V o n einer b r e i t e n u n m i t t e l b a r e n A n b i n d u n g der Selbstverwalt u n g an die Gesamtheit der Versicherten u n d i h r e r Arbeitgeber k a n n daher heute n i c h t m e h r die Rede sein". „ D i e S e l b s t v e r w a l t u n g repräsentiert ... n i c h t m e h r i n d i v i d u e l l e Versicherungsteilnehmer, sondern gesellschaftliche Interessengruppen .. . " 1 5 6 . (Sie) w i l l i m G r u n d e auch n i c h t m e h r den Gedank e n der L e g i t i m a t i o n der O r g a n m i t g l i e d e r v o n den i n d i v i d u e l l e n A n g e h ö r i gen der Versicherungsgemeinschaft her v e r w i r k l i c h e n " 1 5 7 . „ W e n n teilweise i n der klassischen Sozialversicherung - u n d das ist insbesondere d e n k b a r bei Trägern m i t k l e i n e m V e r w a l t u n g s a p p a r a t - n o c h w i r k l i c h körperschaftlicher Geist lebendig ist, so dürfte es sich dabei aufs Ganze gesehen u m Randerscheinungen h a n d e l n " 1 5 8 .

b) Die

Sozialversicherungsträger

und der Begriff

der öffentlichen

Anstalt

Sprengt § 29 Abs. 1 d u r c h die Bezeichnung der Sozialversicherungsträger als öffentliche Körperschaften den h e r k ö m m l i c h e n Körperschaftsbegriff, so liegt es - z u m a l i n A n b e t r a c h t des a n s t a l t l i c h e n Ursprungs der Rentenversi155

Insofern könnte man geneigt sein, die Sozialversicherungsträger - ebenso wie die BA - als Wiederbelebung der Gneistschen Selbstverwaltung im politischen Sinne (vgl. hierzu Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgeschichte in Deutschland, S. 287 - 289; ders., Die preußische Kreisordnung, S. 8 f., 32 ff.), d. h. als staatliche Verwaltung durch ehrenamtlich tätige Bürger, anzusehen; in dieser Richtung in der Tat Wertenbruch (Anm. 100, S. 263) sowie die amtliche Begründung zu § 29 SGB IV (BTDrucks. 7/4122, S. 34 f.) und Hendler (Anm. 11), S. 219 f. Die vermeintliche Rezeption der Gneistschen Dogmatik erweist sich indessen bei näherer Betrachtung als Etikettenschwindel. Zum einen besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Gneists Konzept der Personalrekrutierung und der Wirklichkeit der sozialen Selbstverwaltung - dort werden besonders profilierte Einzelpersonen vom Staat aufgrund eigener Entscheidung ernannt und sind daher nur diesem zur Loyalität verpflichtet; hier delegieren die organisierten gesellschaftlichen Gruppen ihre Repräsentanten in die Gremien der sozialen Selbstverwaltung. Zum anderen bezieht sich Gneists Konzept der politischen Selbstverwaltung gerade nicht auf organisatorisch ausgegliederte Sonderbereiche der öffentlichen Verwaltung. Es stiftet daher nicht als Verwirrung, den Begriff der „politischen Selbstverwaltung", der stets als Gegegensatz zur „Selbstverwaltung im Rechtssinne" verstanden worden ist, für einen Tatbestand zu reaktivieren, der für alle Selbstverwaltungsträger von den Kommunen bis hin zu den ländlichen Genossenschaften gleichermaßen typisch ist: Die Rekrutierung ihrer Organwalter aus den Kreisen der Gesellschaft. 156 (Anm. 8), S. 120. 157 (Anm. 4), S. 50. Auch wenn dieser Befund unzweifelhaft zutreffend ist, steht doch auf einem anderen Blatt, ob dies auch für seine verfassungsrechtliche Absegnung (ebd., S. 49) gilt: „Die Koalitionen des Arbeitslebens, insb. also auch die Gewerkschaften, sind in der freiheitlichen Arbeits- und Verwaltungsordnung des Grundgesetzes aus sich heraus zur Auswahl der eine öffentliche Sozialverwaltung mitbestimmend kontrollierenden Vertreter der Versicherungs-Sozialgruppen befugt." iss (Anm. 8), S. 179.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

cherungsträger - nahe, die Kategorie der Anstalt zur dogmatischen Fixierung des Status der Sozialversicherungsträger ins Spiel zu bringen 1 5 9 . Indessen wirft auch dieser Versuch Bedenken auf. Zum einen erscheint es wenig glücklich, auf der Ebene der Dogmatik die Entscheidungen des Gesetzgebers zu konterkarieren, und -zum anderen paßt auch der Anstaltsbegriff zumindestens in seiner klassischen, von O. Mayer propagierten Prägung nicht auf die Sozialversicherungsträger 160 . Versteht man die Anstalt nicht als bloßes Auffangbecken für alles, was weder öffentliche Körperschaft noch unmittelbare Staatsverwaltung ist - dann wäre ihre Gestalt so wechselhaft und unbestimmbar wie die eines Einzellers und ihr dogmatischer Erklärungswert nahezu unbeachtlich - , sondern hält an ihren herkömmlichen Konturen fest, so ist sie einerseits durch eine organisatorische Verselbständigung gegenüber der unmittelbaren Staatsverwaltung, andererseits dadurch gekennzeichnet, daß sie gleichwohl ein Instrument des Staates ist. Ihre Entscheidungen ergehen durch vom Staat berufene staatliche Funktionsträger und unterliegen der ministeriellen Fachaufsicht 161 . Der Wille des Staates also ist es, der die Politik der Anstalt prägt, lenkt und kontrolliert. Den kompetentiellen Ausdruck dieses Beziehungsgefüges aus eigenen Entscheidungszuständigkeiten einerseits und staatlicher Personalhoheit sowie staatlicher Sachherrschaft andererseits hat Otto Mayer selbst beschrieben: „Das öffentliche Unternehmen (d. h. die Anstalt - d. Verf.)... ist... losgelöst von dem Muttergemeinwesen, dem es seiner allgemeinen Zuständigkeit nach gehörte, und dessen Zwecken und Aufgaben es sachlich nicht aufhören soll, auch in dieser neuen Form zu dienen. Von dort her also, von Staat oder Gemeinde, werden der rechtsfähigen Anstalt die erforderlichen Vertreter bestellt" 1 6 2 . Auf die Sozialversicherungsträger treffen diese Voraussetzungen nur teilweise zu: Ihre Organe werden nicht vom Staat besetzt, und ihre Entscheidungen unterliegen nicht ausnahmslos staatlicher Steuerung. Das wiederum bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Legitimationsfrage. Während die klassische Anstalt ohne Vorbehalt an der demokratischen Legitimation der Staatsverwaltung teilhat, gilt das hinsichtlich des personellen Legitimationsaspekts für die Sozialversicherungsträger grundsätzlich nicht, hinsichtlich des materiellen nur insoweit, als die Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten staatlich gesteuert ist. Vermögen somit die Sozialversicherungsträger den etatistischen Legitimationsmodus des traditionellen Anstalts159

In diesem Sinne etwa Bogs (Anm. 8), S. 179 f. Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 2. Band, S. 331 ff. 161 Anstaltscharakter und Selbstverwaltungsrecht sind demnach für diese dogmatische Konzeption nicht unter einen Hut zu bringen. Die Institution der Selbstverwaltungsanstalt hat sich denn auch erst in der Nachkriegszeit durchgesetzt; weder O. Mayer noch die übrigen Verwaltungsrechtler des Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik haben sie gekannt. 162 (Anm. 160), S. 337. 160

4. Kap.: Die Sozialversicherungsträger

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begriffs nur insoweit für sich zu vereinnahmen, als sie diesem Organisationstypus entsprechen, so bleibt im übrigen die Legitimationsfrage offen. Die Qualifizierung der Sozialversicherungsträger als Anstalten im Sinne der traditionellen Dogmatik würde also im hier interessierenden Punkte nicht weiterhelfen. Den vorangegangenen Ausführungen läßt sich entgegenhalten, ihr Anstaltsbegriff sei nur noch eine historische Reminiszenz, die Entwicklung der Nachkriegszeit habe ihn lange hinter sich gelassen und neue Wege eingeschlagen, insbesondere die kategoriale Entgegensetzung von Anstalt und Körperschaft gehöre zum Gedankengut einer überwundenen Epoche. In der Tat haben die Gesetzgeber der Nachkriegszeit eine schillernde Vielfalt von verselbständigten Verwaltungseinheiten geschaffen und sich dabei allein an politischen sowie an Gesichtspunkten verwaltungstechnischer Zweckmäßigkeit orientiert, ohne den Strukturen der älteren, vom NS-Regime bereits eingeebneten Dogmatik noch große Aufmerksamkeit zu schenken. Neben anderem 163 verdanken w i r dieser Entwicklung den Begriff der anstaltlichen Selbstverwaltung. Doch nicht sein Sinn und Nutzen für die Verwaltungs(rechts)lehre soll Gegenstand dieser Untersuchung sein, hier geht es vielmehr allein darum, ob die Subsumtion der Sozialversicherungsträger unter die neue Kategorie zur Lösung der Legitimationsfrage beiträgt. Das indessen ist nicht der Fall. Eine bloß etikettenmäßige Vereinnahmung des Anstaltsbegriffs bei gleichzeitiger Preisgabe der für ihn typischen Unterwerfung seiner Träger unter die staatliche Leitungsgewalt vermag den Sozialversicherungseinrichtungen das staatsvermittelte Legitimationspotential des herkömmlichen Anstaltsmodells ebensowenig zu erschließen wie eine analoge Vereinnahmung des körperschaftlichen Selbstverwaltungsbegriffs dessen autonom-genossenschaftliches Legitimationspotential. c) Die Sozialversicherungsträger ein Selbstverwaltungstypus eigener Art? Die Diskrepanz zwischen den traditionellen Begriffen der Körperschaft sowie der Anstalt und den Sozialversicherungsträgern werfen diese auf sich selbst zurück und provozieren die Frage, ob vielleicht ein Verzicht auf die überkommenen Kategorien der Dogmatik weiterhilft. Doch die Perspektive, die er eröffnet - die schlichte Apostrophierung der Sozialversicherungsträger als „soziale Selbstverwaltung", mithin als Selbstverwaltungstyp „sui generis" - , ist nichts anderes als eine Kapitulation der Systematik vor der Vielfalt der Realität und gewiß keine dogmatische Heldentat. Der Preis, den sie fordert, besteht im Konturverlust des Selbstverwaltungsbegriffs: die 163

Etwa den ministerialfreien Stellen, die sich ebenfalls dem traditionellen Anstaltsbegriff nicht ohne weiteres fügen.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Distanzierung vom Staat avanciert zum beherrschenden Begriffsmerkmal, da sich bezüglich der Infrastruktur seiner Objekte nur noch aussagen läßt, daß die Betroffenen „irgendwie" an der Willensbildung beteiligt werden müssen. Im Hinblick auf die Legitimationsfrage ist der Begriff der „sozialen Selbstverwaltung" dann nicht mehr als eine bloße Worthülse: gibt man die organisationsrechtliche Substanz der Sozialversicherungsträger in sie hinein, so wächst ihr dadurch kein Mehr an Legitimation zu, als diesen ohnehin eignet. Immerhin legt ein in dieser Weise auf seine konkreten Gegenstände gemünzter - und beschränkter - Begriff der sozialen Selbstverwaltung den Blick auf die Frage frei, ob nicht gerade jene organisatorischen Besonderheiten, die die traditionellen Legitimationsquellen verstopfen - die Eigenart der Besetzung ihrer Organe - , ein eigenes und neues Legitimationsprinzip in sich bergen 164 . Sie zielt allerdings bereits auf die verfassungsrechtliche Problematik der Verdünnung der herkömmlichen Legitimationsströme ab und ist daher ebenso wie diese erst im 4. Teil wieder aufzugreifen.

164 In diese Richtung weisen auch Schupperts „Elemente zu einer Theorie der Selbstverwaltung" (so der Untertitel seiner in Anm. 135 zitierten Skizze, vgl. insb. S. 187,190 ff.), die allerdings den Legitimationsmodus der körperschaftlichen Selbstverwaltung zu Unrecht allein auf die kommunale Selbstverwaltung beziehen (S. 187).

5. K a p i t e l

Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) I. Aufgaben und Befugnisse 1 Aufgabe der BA ist es, im Rahmen der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung die Ziele des AFG - hoher Beschäftigungsstand - Verbesserung der Beschäftigungsstruktur - Förderung des Wirtschaftswachstums zu verwirklichen, §§ 1 und 3 Abs. 1 2 / 3 . Im Rahmen dieser Aufgaben obliegen der BA nach § 3 Abs. 2 1. 2. 3. 4. 5.

die Berufsberatung, die Arbeitsvermittlung, die Förderung der beruflichen Bildung, die Gewährung von berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation, die Gewährung von Leistungen zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, 6. die Gewährung von Arbeitslosengeld, 7. die Gewährung von Konkursausfallgeld, 8. die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Daneben gewährt die BA im Auftrag des Bundes die Arbeitslosenhilfe, § 3 Abs. 4. Weitere Aufgaben können ihr gemäß § 3 Abs. 5 durch Rechtsverordnung übertragen werden. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist die BA befugt, den Arbeitnehmern und Arbeitgebern Pflichten aufzuerlegen. Sie

1 Ausführungen zur Geschichte der autonomen Arbeitsverwaltung erscheinen entbehrlich, da zwischen der Bundesanstalt und ihrem historischen Vorläufer, der Reichsanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung, keine grundlegenden Unterschiede bestehen. Zur Reichsanstalt und ihrer Geschichte siehe Regierungs-Entwurf eines Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung nebst amtlicher Begründung; Stier-Somlo, Handkommentar zum AVAVG, 2. Aufl., S. 1 - 14; Strassert, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, S. 29 f., 48, 64, 76; Schwalenstökker, die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, S. 16 - 35 m. w. N.; Rolf Weber, in: Gemeinschaftskommentar zum AFG, Rdnr. 17 ff. vor § 189. 2 Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des AFG. 3 Eine nähere Konkretisierung dieser Ziele findet sich i n § 191 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 - 5 . Dazu Weber (Anm. 1), Rdnr. 6 zu § 191.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

- kann von Betrieben und Beschäftigten Auskünfte verlangen, §§7 und 144 - ist berechtigt, Betriebsprüfungen vorzunehmen, § 132 a - verfügt im Konkursausfall über vielfältige Eingriffsrechte, §§ 141 g-i - erhebt Beiträge zur Finanzierung ihrer Aufgaben, § 167 - erläßt an die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerichtete Anordnungen, §§ 21, 23, 39, 53 - 55, 58 Abs. 2, 60 Abs. 3, 61 Abs. 2, 72 Abs. 5, 82, 89, 90, 95 Abs. 3, 99, 103 Abs. 2 u. 5, 116 Abs. 3, 130 Abs. 1, 132 Abs. 2, 150, 151 Abs. 1, 152 Abs. 2 4 - verhängt bei Verstößen gegen das AFG Geldbußen, §§ 228 ff.

II. Die Organisationsstruktur der BA „Die Bundesanstalt ist eine rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung" - mit diesen Worten legt § 189 Abs. 1 Satz 1 ihre Rechtsstellung fest. Was sich der Gesetzgeber bei der Schaffung dieses wundersamen Zwitters gedacht hat, ist hier nicht darzustellen 5 , was er hingegen damit bewirkt hat, soll - soweit es im Hinblick auf die Legitimationsstrukturen der BA von Bedeutung ist - im folgenden untersucht werden. Gibt § 189 Abs. 1 der Dogmatik auch manches Rätsel auf, so stellt er doch immerhin klar, daß die Bundesanstalt eine rechtsfähige Selbstverwaltungseinrichtung ist. Die Ausformung dieses Rechtsstatus in den nachfolgenden Bestimmungen erinnert in manchem an die Sozialversicherungsträger, denen die Bundesanstalt teilweise nachempfunden ist 6 , für die sie teilweise aber auch als Vorbild gedient hat 7 . Organe der Bundesanstalt sind nach § 190 Verwaltungsrat und Vorstand 8 sowie die Verwaltungsausschüsse der - dekonzentrierten - Arbeits- und Landesarbeitsämter 9 . Geht man vom verwaltungsdogmatischen Organbe4 Bedeutung haben die Anordnungen vor allem in folgenden Bereichen erlangt: Berufsausbildungsförderung; Förderung der Arbeitsaufnahme, insb. Eingliederung von Behinderten durch Arbeitgeberbeihilfen; Verfahren der Gewährung von Schlechtwettergeld; Bedingungen der Winterbauförderung; Auftragsvermittlungswesen. In diesen Bereichen haben sich nach Bogs, die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, S. 229, umfangreiche Komplexe autonomen Rechts gebildet. 5 Dazu unten I I I 3. 6 Die Parität der Tarifparteien fand sich vor Errichtung der Reichsanstalt durch das AVAVG von 1927 bei den Rentenversicherungsträgem der RVO; auch das Verhältnis der Bundesanstalt zum Staat ist nach dem Muster des Sozialversicherungsrechts geregelt. 7 Die allgemeine Durchsetzung des Paritätsprinzips im Selbstverwaltungsgesetz von 1951 knüpfte an das AVAVG an. 8 Gem. § 192 Abs. 2 besteht der Verwaltungsrat aus 39 und der Vorstand aus 9 Mitgliedern. 9 Die Ausschüsse sind ebenfalls drittelparitätisch besetzte Selbstverwaltungsor-

5. Kap.: Die Bundesanstalt für Arbeit

189

griff aus 10 , so ist auch und gerade der hauptamtliche Präsident Organ der Anstalt, da ihm nach § 209 die Führung der laufenden Verwaltungsgeschäfte einschließlich der Vertretung der Anstalt obliegt und er somit eigene Wahrnehmungszuständigkeiten besitzt 11 . Die Zusammensetzung der Organe der BA wird nicht durch Wahl, sondern durch Entsendung seitens der Gewerkschaften, der Arbeitgeber sowie der öffentlichen Hände festgelegt, §§195 und 197. Anders als bei den Sozialversicherungsträgern ist diese Form der Organbesetzung vom AFG verbindlich vorgeschrieben. Die einzelnen Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben nach dem Gesetz keinerlei Möglichkeit, auf die Zusammensetzung der Körperschaftsorgane sowie auf deren Entscheidungen Einfluß zu nehmen, sie sind laut AFG nicht Mitglieder der Körperschaft, sondern lediglich Adressaten ihrer Entscheidungen, sei es als Leistungsempfänger, sei es als Leistungs- oder Auskunftsverpflichtete. Die BA hat sich damit radikal von der mitgliedschaftlichen Fundierung des traditionellen Körperschaftsbegriffs gelöst. Jeder der drei zur Entsendung von Vertretern in die Organe der Bundesanstalt berechtigten Gruppen steht nach § 192 ein Drittel der Sitze zu. Das Prinzip der Parität der Tarifparteien wird also durch eine gleichfalls paritätische Beteiligung der öffentlichen Hände variiert 1 2 . Entsendungsbefugt sind dabei nach einem gesetzlich genau festgelegten Schlüssel sowohl Bundesregierung und Bundesrat als auch die Spitzenvereinigungen der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, § 195 Abs. 3. Die Zusammensetzung der Organe der Anstalt dokumentiert ihre Funktion als institutionalisierte Plattform des Zusammenwirkens der verschiedenen, für den Arbeitsmarkt maßgeblichen Kräfte: der Gewerkschaften, der Arbeitgebervereinigungen, des Bundes, der Länder und der Kommunen. Die Stichworte Kooperation von Staat und Tarifparteien sowie kooperativer Föderalismus mögen diese Zusammenhänge umreißen. Die gesetzlich nur rudimentär geregelte und durch die Satzung der BA im einzelnen festgelegte Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Verwaltungsrat, Vorstand und Präsident entspricht im Prinzip dem Modell der Sozialversicherungsträger. Der Verwaltungsrat, das Pendant zur Versammlung im Sozialversicherungsrecht, bestimmt die Richtlinien der Politik der

gane der mittleren sowie der unteren Verwaltungsebene der BA. Da sie primär beratende Funktionen ausüben (vgl. Art. 2,3,5 und 10 der Satzung der BA; veröffentlicht in BAnz Nr. 128 vom 16. Juni 1980) und überdies strukturell mit dem Verwaltungsrat und dem Vorstand übereinstimmen, werden sie im folgenden vernachlässigt. Eingehend zu den Ausschüssen der BA: Weber (Anm. 1), Rdnr. 7 ff. zu § 191. 10 Dazu Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1974, § 74 (S. 45 ff.). 11 Für die Präsidenten der nachgeordneten Landesarbeitsämter sowie für die Direktoren der Arbeitsämter gilt nichts anderes. 12 Zur Geschichte der zeitweilig umstrittenen Drittelparität Weber (Anm. 1), Rdnr. 18 f., 22 vor § 189 und Schwalenstöcker (Anm. 1), S. 16 ff.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

Bundesanstalt und überwacht die Erfüllung ihrer Aufgaben; er ist zuständig für alle Grundsatzentscheidungen (autonome Rechtssetzung, Feststellung des Haushalts, wichtige Personalentscheidungen und Organisationsakte 13 ). Einmal mehr bietet sich zur Kennzeichnung seiner Rechtsstellung der Vergleich mit dem Parlament an. Der Vorstand ist das oberste Exekutivorgan der BA, ihm obliegt es, den Präsidenten zu lenken und zu kontrollieren sowie wichtige Verwaltungsentscheidungen selbst zu treffen 14 - er ist das Scharnier zwischen den Repräsentanten der Tarifparteien und der öffentlichen Körperschaften sowie der hauptamtlichen Verwaltung. Deren Chef, der Präsident, führt - wie bereits erwähnt - die laufenden Geschäfte der BA und erläßt die hierzu erforderlichen Weisungen an die nachgeordneten Dienststellen. III. Die demokratische Legitimation der BA 1. Die personelle Legitimationskomponente

a) Die staatsvermittelte

Legitimation

Hinsichtlich der personellen Legitimation der Organe der Bundesanstalt ist zwischen dem Verwaltungsrat und dem Vorstand einerseits sowie dem Präsidenten andererseits zu unterscheiden. Die Mitglieder von Verwaltungsrat und Vorstand werden gem. § 197 Abs. 1 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung berufen. Gleichwohl kann bei Zweidrittel von ihnen der Sache nach nicht von einer staatsvermittelten Legitimation die Rede sein, da der Minister in bezug auf die Ernennung der Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber nach § 195 Abs. 1 und 2 an die Vorschläge der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände gebunden ist. Dies ist, obschon der Text des Gesetzes keine Bindungswirkung statuiert, in Praxis und Wissenschaft unumstritten 15 . Die herrschende Meinung kann sich sowohl auf den Status der Organmitglider als Interessenvertreter stützen als auch auf die Regelung des § 197 Abs. 2, nach der der Berufende an die Reihenfolge des Berufungsvorschlags gebunden ist; überdies steht sie im Einklang mit dem Regierungsentwurf zum AVAVG - auf das die fraglichen Bestimmungen des AFG zurückgehen - , der ausdrücklich eine Wahl der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter durch die jeweiligen Interessenverbände vorsah 16 . Aber auch die staatsvermittelte Legitimation des restlichen Drittels der Mitglieder des Verwaltungsrats und des Vorstands weist 13

Im einzelnen dazu Art. 2 und 6 der Satzung der BA. Eingehend zu den Aufgaben des Vorstands Weber (Anm. 1), Rdnr. 3 zu § 208. 15 Vgl. etwa Schönefelder, in: Schönefelder u. a., Kommentar zum AFG, Erl. 4 zu §197. 16 Vgl. §§6 und 9 des Regierungs-Entwurfs (Anm. 1). 14

5. Kap.: Die Bundesanstalt für Arbeit

191

insoweit eine Besonderheit auf, als der eigentlich für die Bundesanstalt in Betracht kommende Legitimationsstifter - der Bund - wie dargelegt lediglich einen Teil der staatlichen Repräsentanten nominiert. Unzweifelhaft staatlich legitimiert scheint auf den ersten Blick der Präsident der BA zu sein, wird er doch auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten ernannt, § 211. Ein genaueres Studium der gesetzlichen Bestimmungen bringt jedoch auch insofern wesentliche Einschränkungen der staatlichen Personalhoheit an den Tag 17 . Der Verwaltungsrat hat das Recht, den Kandidaten der Bundesregierung nach freiem Ermessen zurückzuweisen, die Bundesregierung kann dieses Votum nur aus „wichtigem Grund" übergehen, § 211 Abs. 2. Praktisch besitzt der Verwaltungsrat also ein Vetorecht. Man wird davon ausgehen können, daß angesichts der Stärke seines Beteiligungsrechts âuch die Kandidatenauswahl de facto im Zusammenwirken von Regierung, Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften vonstatten geht und somit eher kondominialen als staatlich-autoritativen Charakter zeigt 18 . In bezug auf die nachgeordneten Amtswalter der Bundesanstalt liegt die Personalhoheit auf der Ebene der Einzelentscheidungen bei der Bundesanstalt selbst. Der Staat hat lediglich die Möglichkeit, ihrer Personalplanung Rahmenbedingungen vorzugeben. Im Hinblick auf die beamteten Beschäftigten sind hier insbesondere die Beamtengesetze sowie die Laufbahnverordnungen zu nennen; im Hinblick auf die übrigen Beschäftigten ist darauf hinzuweisen, daß die zwischen der Bundesanstalt und den Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge sich stets an die der unmittelbaren Bundesverwaltung anlehnen 19 . Von Bedeutung ist schließlich auch, daß die Bundesregierung im Wege der Aufsicht nach § 224 sowie der Haushaltsgenehmigung nach § 216 Abs. 2 den Stellenplan der BA auf seine Vereinbarkeit mit dem öffentlichen Dienst- und Haushaltsrecht, insbesondere mit den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, überprüfen kann 2 0 . b) Die autonomen Legitimationsstrukturen Da das AFG die BA als Körperschaft bezeichnet und sie befugt, an die Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber gerichtete Entscheidungen zu treffen, müßten diese nach den Prinzipien der herkömmlichen Körperschaftsdogmatik infolge ihres Status als Regelungsadressaten zugleich Legitimationsstifter der Entscheidungen der BA sein. Indessen orientiert sich das AFG nicht 17 Hierzu auch Schönefelder (Anm. 15), Erl. 4 - 8 zu §211 sowie Bogs (Anm. 4), S. 28 f. 18 Bogs (Anm. 4), S. 29. 19 Im einzelnen dazu Schönefelder (Anm. 15), Kommentierung zu §§210,212 f. 20 Ebenso Weber (Anm. 1), Rdnr. 6 f. zu § 216.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

am körperschaftlichen Legitimationsmodell und dem ihm eigenen Zusammenfall von Entscheidungsbetroffenem und Legitimationsquelle. Das Nominierungsverfahren der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter für den Verwaltungsrat nimmt seinen Ausgang nicht mit einem Willensakt der betroffenen Individuen, sondern mit einer Entscheidung der interessierten Großverbände. Der einzelne Arbeitnehmer und der einzelne Arbeitgeber hat als solcher keinen Anteil an der Auswahl „seiner" Vertreter in der BA. Eine Mitwirkungsmöglichkeit eröffnet sich ihm nur unter der Voraussetzung seines Beitritts zu den Gewerkschaften bzw. zu den Arbeitgebervereinigungen. Selbst ein zum Zweck der Nominierung von Kandidaten für die Berufung in die Organe der BA gegründeter Zusammenschluß hätte keinen Anspruch auf Berücksichtigung im Sitzverteilungsschlüssel, da nach § 195 nur die Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbände, „die für die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen (bzw. Arbeitgeberinteressen) wesentliche Bedeutung haben", vorschlagsberechtigt sind. Diese anspruchsvolle, nicht auf die Vertretung von Arbeitnehmer- bzw. Arbeitgeberinteressen im Aufgabenbereich der Anstalt, sondern auf die allgemeine Interessenvertretung abzielende Zugangs Voraussetzung 21 kann praktisch nur von den anerkannten Tarifparteien erfüllt werden. Die im Sozialversicherungsrecht immerhin noch mögliche Bildung freier Listen von Betroffenen ist damit ausgeschlossen. Nicht die betroffenen Individuen sind also Legitimationsstifter der Arbeitnehmer- bzw. der Arbeitgebervertreter in den Organen der BA, sondern die Gewerkschaften und die Arbeitgebervereinigungen. Die vorangegangenen Ausführungen haben sich explizit zwar lediglich auf das Kreationsverfahren des Verwaltungsrats bezogen, sie treffen jedoch ebenso auf das des Vorstands zu. Denn ganz im Gegensatz zum herkömmlichen Körperschaftsmodell wird der Vorstand der BA nicht durch einen Wahlakt des Verwaltungsrats konstituiert, sondern genau wie dieser durch ministerielle Berufung auf Vorschlag der Gewerkschaften, der Arbeitgebervereinigungen sowie der öffentlichen Körperschaften. Auch die Legitimationsquelle des Vorstands ist mithin körperschaftsextern und führt auf die hinter der BA stehenden staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte, nicht aber auf die Entscheidungsadressaten der Anstalt zurück. Fast noch drastischer als das Nominierungsverfahren für Verwaltungsrat und Vorstand dokumentiert § 198 Nr. 3, der die Tätigkeit in den Organen der BA an den Fortbestand der Mitgliedschaft in den Entsendungsorganisationen bindet, den Status der Organmitglieder als Verbandsrepräsentanten 2 2 . Das staatsbezogene Legitimationsmodell des Grundgesetzes, nach 21

Zu ihr eingehend Schönefelder (Anm. 15), Kommentierung zu § 195. Aus diesem Grunde ist es daher ebensowenig wie bei den Sozialversicherungen hilfreich, das Gneistsche Konzept der politischen Selbstverwaltung ins Spiel zu bringen (näher dazu oben 4. Kap., Anm. 155). 22

5. Kap.: Die Bundesanstalt für Arbeit

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dem jeder Träger eines staatlichen Amtes einer vom einzelnen Staatsbürger ausgehenden Legitimation bedarf, ist damit genauso verlassen wie das herkömmlich körperschaftliche, dessen Grundlagen ebenfalls individualistisch-genossenschaftlich sind. Bemerkenswerterweise wird dies von der einschlägigen Literatur kaum zur Kenntnis genommen, um so weniger setzt sie sich mit den hieraus resultierenden Legitimationsproblemen auseinander. Angesichts des durch die verbandspluralistischen Entscheidungsstrukturen der BA konstituierten rein passiven Status der von ihrem Wirken betroffenen Bürger erscheint es durchaus folgerichtig, wenn das AFG nicht nur die Kategorie der Mitgliedschaft fallen läßt, sondern darüber hinaus auch mit dem bereits im Sozialversicherungsrecht häufig zur Fiktion heruntergekommenen Mythos der genossenschaftlichen Organisation und Legitimation bricht. Der mit dem verbandsoligarchischen Berufungsverfahren vollzogene Abschied von den körperschaftlich-mitgliedschaftlichen Legitimationsformen kann nicht durch einen Verweis auf die Repräsentationsfunktion der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen hinwegeskamotiert werden. Zum einen repräsentieren beide lediglich ihre Mitglieder, nicht aber die Gesamtheit der vom Wirken der BA Betroffenen, und zum anderen sind selbst für die Mitglieder die Aktivitäten der Verbände im Verwaltungsrat und im Vorstand weder für Beitritt und Austritt noch für ein etwaiges verbandsinternes Engagement maßgeblich. Ebenso wie die Teilhabe der Tarifparteien an der sozialen Selbstverwaltung ist auch die an der BA aus der Perspektive der Mitglieder in aller Regel eine nicht motivationsbestimmende Randerscheinung und kann schon allein wegen des Arkancharakters der Tätigkeit der Organe der BA auch gar nichts anderes sein. Selbst die Legitimation der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände durch ihre Mitglieder ist mithin zweifelhaft 23 . 2. Die materielle Legitimationskomponente

a) Die staatsvermittelte

Legitimation

Die durch die gesetzliche Qualifizierung der BA als Selbstverwaltungseinrichtung nahegelegte Vorstellung sachlicher Unabhängigkeit vom Staat erweist sich nicht anders als bei den Sozialversicherungsträgern bei näherem Hinsehen als schöner Schein. Ebenso wie dort, so ist auch hier das Prinzip der Selbstverwaltung und die mit ihm gemeinhin verbundene Zurückdrängung des Staates auf die Funktion als Autor des Rahmenprogramms 23 Die Zusammenhänge zwischen Mitgliedschaftsmotivation, Verbandszielen und der Legitimation der Verbandsbeteiligung an staatlichen Entscheidungen werden herausgearbeitet von Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, insb. S. 221 ff., 261 ff.

13 Emde

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

und als Träger der Rechtskontrolle in vielfältiger Weise durchlöchert und letztlich in sein Gegenteil verkehrt worden. Dichter noch als im Bereich der Sozialversicherung ist das Gewebe staatlicher Vorschriften, das die BA umschlingt, und dementspechend bescheidener ist daher auch das Maß ihrer Unabhängigkeit. Bereits das AFG selbst enthält sehr detaillierte Aufgaben- und Befugniszuweisungen für alle bedeutsamen Zuständigkeiten der Anstalt. Darüber hinaus erteilt es dem Bundesarbeitsminister in einem nahezu erdrückenden Umfang die Ermächtigimg, teilweise auch die Verpflichtung, zum Erlaß von Rechtsverordnungen 24 ; in einer Vielzahl von Fällen wurde von der gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch gemacht 25 . Nach § 234 besitzt der Minister neben den Verordnungsermächtigungen auch die Befugnis, an die BA gerichtete allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Selbst wenn die praktische Bedeutung dieser Regelung infolge der zahlreichen Verordnungsermächtigungen nicht allzu hoch zu veranschlagen ist - bislang hat der Minister noch keine Verwaltungsvorschriften erlassen - , verankert sie doch ein weiteres und zudem ohne großen formalen Aufwand jederzeit leicht einsetzbares Lenkungsinstrument der Staatsverwaltung über die BA. Neben der Steuerung der BA durch das Parlamentsgesetz tritt somit die durch Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Das Zusammenspiel dieser Lenkungsinstrumente bewirkt eine weithin konditionale Programmierung der Bundesanstalt, autonomer Entscheidungsspielraum ist ihr insoweit nicht gegeben, sie fungiert als Subsumtionsautomat. Da der Vollzug der staatlichen Vorgaben gemäß § 224 der Kontrolle durch die Rechtsaufsicht unterliegt, eignet den routinemäßigen Verwaltungsentscheidungen der BA ein Maß an staatsvermittelter Legitimation, welches selbst im Bereich der Sozialversicherungsträger nicht erreicht wird. Aber auch in jenen Bereichen, in denen die BA nicht lediglich als Vollstrecker staatlicher Willensakte fungiert, sondern eigene Gestaltungsbefugnisse besitzt, reicht der Arm des Staates und damit die von ihm vermittelte Legitimation weit. Sämtliche an die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerichteten autonomen Rechtssätze der BA (Anordnungen) bedürfen gemäß § 191 Abs. 4 staatlicher Genehmigung 26 , und darüber hinaus unterliegen eine Reihe bedeutsamer Einzelentscheidungen staatlichen Mitwirkungsvorbehalten 27 . 24 §§ 6 Abs. 4, 10 Abs. 2, 18 Abs. 3, 19 Abs. 4, 24 Abs. 3, 73 Abs. 2, 76 Abs. 2, 79 Abs. 2, 80 Abs. 2, 108, 109, 111 Abs. 2, 136 Abs. 3, 137 Abs. 3, 138 Abs. 4, 173, 174 Abs. 2, 175 Abs. 3, 177 Abs. 2, 183, 184, 186 a Abs. 3, 191 Abs. 5. Insb. die letztgenannte Bestimmung ist von Bedeutung, da sie die autonomen Anordnungen nach §§ 39, 58 Abs. 2 und 95 Abs. 3 zur Disposition des Ministers stellt. 25 Vgl. hierzu die entsprechenden Erläuterungen von Leve/Stothfang/Arnold, in: Das deutsche Bundesrecht, VD 21. 26 Anders verhält es sich mit den von der BA erlassenen Verwaltungsvorschriften. Sie unterliegen nicht der ministeriellen Zustimmungsbedürftigkeit.

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Die Maßstäbe der staatlichen Mitwirkungsvorbehalte sind wie auch im Sozialversicherungsrecht nicht explizit festgelegt. Wiederum mag daher zumindestens im Lichte der neueren Tendenzen der Kommunalwissenschaft - der formale Status als Selbstverwaltungsträger für eine restriktive Maßstabsfixierung ins Feld geführt werden 28 . Bei näherer Betrachtung indessen erweist sich auch hier das Gewicht dieser Erwägung als zu gering, um dem Druck der Gegenargumente standzuhalten. Deren offenkundigste ist die Stellung der BA im Staatsgefüge. Indem § 3 Abs. 1 sie dazu verpflichtet, ihre Tätigkeit „ i m Rahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung" zu entfalten, weist er sie ebenso wie die Intensität der staatlichen Lenkung und die zahlreichen Parallelen zu den Sozialversicherungsträgern genau wie diese als Träger mittelbarer Staatsverwaltung aus, d. h. als zwar organisationsrechtlich verselbständigte, dennoch aber von der Staatsverwaltung beherrschte und nur auf der Detailebene autonome staatliche Verwaltungseinrichtung. Dieser Status legt es nahe, den Umfang der staatlichen Mitwirkungsbefugnisse mit der bei den Sozialversicherungsträgern erprobten großzügigen Elle abzumessen und Beschränkungen nur dort vorzunehmen, wo das Gesetz dies eindeutig fordert. Drängt sich die Parallele zu den Sozialversicherungsträgern schon aus allgemein rechtssystematischen Gründen auf, so wird sie vollends unabweisbar, sofern man mit einer verbreiteten Aufassung die Genehmigungsvorbehalte als Sonderform der Staatsaufsicht qualifiziert 2 9 , da diese sich gemäß § 224 Abs. 2 „nach den für die Aufsicht über die Träger der Sozialversicherung geltenden Vorschriften und Rechtsgrundsätzen" richtet und mithin das dort bestehende Versagungsermessen auch im Geltungsbereich des AFG besteht. Bestätigt wird dieses Ergebnis einmal mehr durch den Blick zurück. Bereits das AVAFG, der historische Vorgänger des AFG, hat den staatlichen Behörden ein Versagungsermessen im Hinblick auf die - dort so bezeichneten - Zustimmungsentscheidungen eingeräumt. Es besteht - anders als etwa in den neueren Hochschulgesetzen - kein Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber des AFG die Absicht hatte, diese Rechtslage zu ändern. Den argumentativen Schlußstein für die Bejahung staatlichen Genehmigungsermessens möge ein Hinweis auf die ausgesprochen politische Zielsetzung der Genehmigungsvorbehalte bilden. Wie aus den Materialien ersichtlich 30 , sollen sie sicherstellen, daß die Anordnungen der Bundesanstalt mit Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in Einklang 27 Die Gegenstände der Mitwirkungsvorbehalte entsprechen denen im Sozialversicherungsrecht (autonomes Recht, Haushalt, Vermögensanlagen u. ä. m.). 28 So - allerdings ohne Begründung - Weber (Anm. 1), Rdnr. 9 vor § 189. 29 So Werner Weber, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, S. 35; a. A. oben 2. Kap. I I 2 b aa; Stößner, die Staatsaufsicht in der Sozialversicherung, S. 113 f.; D. Keller, Die staatliche Genehmigung von Rechtsakten der Selbstverwaltungsträger, S. 66 ff. 30 Amtliche Begründung des § 187 des Regierungs-Entwurfs für das AFG (§191 der Gesetzesfassung); ebenso Weber (Anm. 1), Rdnr. 40 zu § 191. 13*

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

stehen - eine Aufgabe, die sie nur erfüllen können, wenn sie den Bundesarbeitsminister zu einer politischen Entscheidung ermächtigen 31 . Als rechtsfolgenorientierte Erwägung sei schließlich noch angemerkt, daß die Interpretation der Genehmigungsvorbehalte als Ermessensentscheidungen auch die von Schönefelder 32 geäußerten Bedenken an der Vereinbarkeit der Anordnungsbefugnisse der BA mit Art. 80 GG entschärft. Im Ergebnis ist somit daran festzuhalten, daß der Begriff der Genehmigung im AFG im Sinne der traditionellen Dogmatik zu verstehen ist und den Bundesminister für Arbeit zur Ausübung von Ermessen berechtigt 33 . Besonders hervorgehoben sei, daß die Deutung der Genehmigungsvorbehalte als Ermessensakte auch für die Haushaltsgenehmigung nach § 216 Abs. 2 gilt 3 4 . Hieran festzuhalten, besteht um so mehr Anlaß, als die zeitweilig hohen Defizite der Anstalt 3 5 anderenfalls infolge der durch Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG i. V. m. § 187 begründeten Zuschußpflicht des Bundes zu einer Einschränkung des parlamentarischen Haushaltsbewilligungsrechts in Höhe von mehreren Milliarden D M führen würden 3 6 . Es wäre verfehlt, dem entgegenzuhalten, der Grundsatz der Bewilligungsfreiheit des Bundestages laufe ohnehin leer, da die BA zur Erbringung ihrer finanziellen Leistungen und der Bund mithin zu ihrer Bezuschussung verpflichtet sei, denn zumindestens für die von ihr gemäß § 215 im Bereich der lediglich gesetzlich zugelassenen Anstaltszwecke verwendeten Mittel trifft dieser Einwand nicht zu. Hier ist somit Raum für die Betätigung ministeriellen Ermessens und parlamentarischer Bewilligungsversagung. Ein wenig verliert die Kontroverse um die Auslegung des Genehmigungsvorbehalts in § 216 Abs. 2 allerdings durch die Tatsache an Bedeutung, daß auch die Gegenauffassung dem Minister die Kompetenz zubilligt, die Einhaltung der im Haushaltsrecht verankerten Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit durch die BA zu prüfen 37 . Angesichts der blankettartigen Weite der Kontrollmaßstäbe ist der Minister auch unter diesen Vorzeichen zu einer recht intensiven Haushaltskontrolle befugt 38 . 31

Dies verkennt Weber (Anm. 1), Rdnr. 9 vor § 189. (Anm. 12), Erl. 19 zu § 191. 33 Für die Genehmigung der Anordnungen ebenso Schönefelder (Anm. 15), Erl. 25 zu § 191; a. A. allerdings Schönefelder, Erl. 5 zu § 214. Schönefelder setzt sich damit ohne plausiblen Grund in Widerspruch zu seinem bezüglich § 191 vertretenen Genehmigungsverständnis . 34 Ebenso Schönefelder (Anm. 15), Erl. 14 zu § 216; a. A. Erl. zu § 216 AFG in: Das deutsche Bundesrecht VD 21; Weber (Anm. 1), Rdnr. 6 f. zu § 216 unter Verweis auf Friauf und Leisner. 35 Nach Angaben der BA schwankten ihre vom Bund zu deckenden Fehlbeträge in den Haushaltsjahren 1981 - 83 zwischen 8,3 und 5,4 Milliarden DM. 36 Zum Verhältnis von funktionaler Selbstverwaltung und parlamentarischem Budgetrecht siehe S. 110 ff. 37 So etwa Friauf und Leisner (Anm. 34). 38 In der Tat ist der Haushalt der BA zumeist nur mit Einschränkungen genehmigt worden; Weber (Anm. 1), Rdnr. 5 zu § 216. 32

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Fügt man die Mosaiksteine der staatlichen Lenkungs- und Kontrollrechte zusammen, so zeigt das Gesamtbild eine erdrückende staatliche Dominanz. Die Entscheidungen der BA stehen in einem Maße unter staatlicher Kuratel, welches nur um ein geringes hinter dem einer durchgängigen Fachaufsicht zurückbleibt; dies zumal dann, wenn der Staat von seinem Genehmigungsermessen Gebrauch macht. Die staatsvermittelte Legitimation der Entscheidungen der BA ist folglich noch intensiver als die der Sozialversicherungsträger. b) Die autonomen Legitimationsstrukturen Mag man auch versucht sein, ihnen angesichts der mehr instrumentellen Funktion der BA wenig Aufmerksamkeit zu schenken, so wäre dies doch allein schon deshalb verfehlt, weil die BA trotz aller ministeriellen Zugriffsrechte in der Praxis ein beträchtliches Eigengewicht entwickelt hat. Dies gilt sowohl für ihre Verwaltungsentscheidungen, insbesondere für jene Förderungsmaßnahmen, hinsichtlich deren ihr Ermessen zusteht, als auch für ihre gleichermaßen bedeutsame Funktion als Teilhaber am Prozeß der staatlichen Willensbildung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Ebenso wie die BA im ganzen, so stellen sich auch ihre autonomen Legitimationsstrukturen als die Dominanz der Verbände fortentwickelnde Modifikationen der entsprechenden Regelungen im Sozialversicherungsrecht dar. Dies gilt für den Vorstand nicht weniger als für den Verwaltungsrat. Beide Organe fungieren in stärkerem Maße noch als die der Sozialversicherungsträger als Instrumente der vorschlagsberechtigten Kräfte: der Gewerkschaften, der Arbeitgebervereinigungen sowie der öffentlichen Körperschaften. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen im völligen Verzicht des AFG auf eine Legitimation der Organmitglieder der BA durch die Entscheidungsadressaten der Anstalt, der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Allerdings scheut sich auch das AFG, den letzten Schritt zu tun und das imperative Mandat einzuführen - formaljuristisch betrachtet sind die Verwaltungsrats- und Vorstandsmitglieder nicht an Weisungen der sie entsendenden Verbände gebunden 39 . Daß die tatsächlichen Verhältnisse anders aussehen, sei hier noch einmal betont. Hinsichtlich der Funktions- und Gewichtsverteilung zwischen Verwaltungsrat und Vorstand erscheint die Stellung des Verwaltungsrats stärker als die der Versammlung bei den Sozialversicherungsträgern. Zwar gilt auch im Bereich der BA der Grundsatz, daß jedes Organ seine durch Gesetz und Satzung begründeten Zuständigkeiten selbständig wahrzunehmen hat und keiner generellen Bindung an die Weisungen eines anderen Organs unterliegt, immerhin aber verankert Art. 2 der Satzimg der BA die Befugnis 39 Vgl. § 204. Ebenso Weber (Anm. 1), Rdnr. 12 vor § 191.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

des Verwaltungsrats, die Grundlinien der Politik der Anstalt zu bestimmen und die Erfüllung ihrer Aufgaben zu überwachen. Die Kontrollkompetenz des Art. 2 wird konkretisiert durch Art. 6, der den Vorstand verpflichtet, den Verwaltungsrat zu unterrichten und ihm auf Verlangen Auskünfte zu geben; zudem sieht die Bestimmung eine Teilnahme der Vorstandsmitglieder an den Sitzungen des Verwaltungsrats vor. Nicht die einzelnen Entscheidungen des Vorstands, wohl aber die Grundlinien seiner Politik bedürfen mithin einer Legitimation durch den Verwaltungsrat. Die Stellung des zweiten Vollzugsorgans der BA, des hauptamtlichen Präsidenten, ist ungeachtet der nur historisch zu erklärenden Tatsache, daß das AFG ihn noch nicht einmal als Organ der Anstalt bezeichnet 40 , keinesfalls schwächer als die der Geschäftsführer in den Sozialversicherungsträgern. Ebenso wie diese hat der Präsident originäre gesetzes- und satzungsmäßige Kompetenzen, bei deren Wahrnehmung er keinen Weisungen der Selbstverwaltungsorgane unterliegt; ebenso wie die Geschäftsführer ist er allerdings an die vom Vorstand erlassenen allgemeinen Richtlinien gebunden; Art. 6 Abs. 2 der Satzung. Die in dieser Regelung anklingende funktionelle Dominanz des Vorstands über den Präsidenten wird jedoch abgeschwächt durch dessen Sonderstatus: Als vom Bundespräsident ernannter und nicht an die Amtszeit der Selbstverwaltungsorgane gebundener Beamter hat er alle Möglichkeiten, sich als selbständige Kraft zwischen dem Arbeitsminister und den Selbstverwaltungsorganen zu etablieren. Es wäre daher eine Verkennung sowohl der rechtlichen als auch der tatsächlichen Verhältnisse, wenn man den Präsidenten der BA sowie die Chefs der Arbeits- und der Landesarbeitsämter als bloße Vollzugsorgane der vom Verwaltungsrat und Vorstand konzipierten Politik der Anstalt ansähe. Auch in bezug auf sie gilt, daß nicht ihre Einzelentscheidungen, sondern die Grundlinien ihrer Verwaltungstätigkeit durch die Kollegialorgane legitimiert sind. 3. Schlußbemerkung

War es das Anliegen der bisherigen Ausführungen, die Legitimationsstrukturen der BA freizulegen, so soll im folgenden untersucht werden, inwieweit sie sich den Kategorien der Dogmatik der verselbständigten Verwaltungseinheiten, dem Körperschafts- bzw. dem Anstaltsbegriff, und damit auch deren organisationsrechtlichen sowie legitimationsrechtlichen Konnotationen fügt. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Bundesanstalt eine rechtsfähige Körperschaft. Wie schon das Sozialversicherungsrecht erschreckt also auch das AFG den Dogmatiker mit einem jener Monstren, die zugleich vorwärts 40

Näher dazu Schönefelder (Anm. 15), Erl. zu § 209.

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und rückwärts laufen können, eben mit der Körperschaft, die zugleich Anstalt ist und vice versa 41 . Die körperschaftliche Bundesanstalt ist keine Erfindung des AFG, sie ist vielmehr vom Errichtungsgesetz über die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, dem AVAVG, übernommen worden 42 . Wenn auch nicht mehr rekonstruierbar ist, was den damaligen Gesetzgeber zu dieser Qualifizierung bewogen hat - im Regierungsentwurf, der sich in weiser Zurückhaltung darauf beschränkte, den Träger der Arbeitslosenversicherung für rechtsfähig zu erklären und seinen dogmatischen Status offen ließ 43 , war sie noch nicht enthalten - , so steht doch zu vermuten, daß er die Funktion der Anstalt als Einrichtung der wirtschaftlichen Selbstverwaltung weder im Körperschafts- noch im Anstaltsbegriff allein angemessen ausgedrückt sah 44 . Wie auch immer, man wird § 1 Abs. 3 AVAVG als einen frühen Meilenstein in dem damals einsetzenden und schließlich in der im Dritten Reich gängigen Gleichsetzung von Körperschaft und Rechtsfähigkeit mündenden - Verfallsprozeß des genossenschaftlichen Körperschaftsbegriffs erkennen müssen. Beim Versuch, das Mysterium der Rechtsnatur der BA aufzuklären, darf zweierlei nicht aus den Augen verloren werden. Zum einen die Tatsache, daß nicht die Bezeichnung eines Verwaltungsträgers, sondern die gesetzlichen Organisations- und Zuständigkeitsnormen über sein Verhältnis zum Staat und damit über die Anforderungen der Verfassung an seine Rechtsstellung entscheiden - insofern ist die Bedeutung der Namensgebung bei zutreffender Rechtsanwendung gering 45 - , und zum anderen die Erkenntnis, daß nicht die gesetzliche Bezeichnung, sondern wiederum die gesetzlichen Organisations- und Zuständigkeitsnormen für die dogmatische Qualifizierung eines Verwaltungsträgers entscheidend sind. Eingedenk dieser Vorgaben scheint es sich anzubieten, den nicht in der Statusbeschreibung, sondern nur in der Denomination der Einrichtung verwendeten Begriff der Anstalt als normativ unverbindlichen Etikettierungslapsus abzutun und die gesetzliche Statusbeschreibung als öffentliche Körperschaft für allein maßgeblich zu erklären. So recht zu überzeugen vermag dieses Manöver indessen nicht - zu unmißverständlich dokumentiert die 41

Es überrascht kaum, daß die Doppelqualifizierung der BA die Kommentatoren des AFG zu dogmatischen Höhenflügen anspornt, deren Ziel kaum weniger anspruchsvoll ist als die Quadratur des Kreises; vgl. etwa Schönefelder (Anm. 15), Erl. 4 ff. zu § 189, der sie je nachdem, wer Adressat ihrer Maßnahmen ist, mal als Körperschaft, mal als Anstalt tätig werden läßt. 42 § 1 Abs. 3 AVAVG (RBG11 1927, S. 187 ff.). 43 §§ 1 und 2 des Entwurfs (Anm. 16). 44 Der Regierungs-Entwurf betonte verschiedentlich, die Träger der Arbeitslosenversicherung seien rechtsfähige Selbstverwaltungskörper bzw. Einrichtungen „ w i r t schaftlicher Selbstverwaltung"; vgl. S. 72. 45 Die Gefahr verfehlter begriffsjuristischer Deduktionen ist allerdings beträchtlich.

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II. Teil: Kammern, Sozialversicherungen und Bundesanstalt für Arbeit

verbandsparitätische Besetzung der Organe die Abkehr der BA vom genossenschaftlichen Verwaltungsmodell der traditionellen Körperschaft. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß es angesichts der gewaltigen Zahl der von ihrem Wirken aktuell und potentiell Betroffenen auch kaum möglich wäre, der BA ein individualistisch-genossenschaftliches Fundament zu geben, ohne gleich nahezu die gesamte Bevölkerung in ihr zusammenzuschließen und sie damit zu einen Nebenparlament für die Belange von Arbeit und Wirtschaft aufzuwerten. Zudem wäre eine demokratische Willensbildung nach dem Prinzip one man, one vote mit dem Ziel des Gesetzgebers, die Arbeitgeber und die öffentlichen Hände an den Entscheidungen der Anstalt zu beteiligen, unvereinbar und bräche in einem sensiblen Schnittfeld von Staat und Tarifparteien mit dem häufig bereits als Verfassungsgrundsatz ausgegebenen politischen Dogma der Parität von Kapital und Arbeit. Vor derart grundstürzenden Veränderungen zurückzuschrecken besteht um so mehr Anlaß, als vielleicht gerade die paritätische Einbindung der Tarifparteien in den Entscheidungsprozeß einer staatlichen Einrichtung einen Weg zur Lösung eines Grundproblems der heutigen politischen Ordnung weist: der Herstellung einer Kongruenz von Macht und Verantwortung der auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung einwirkenden Kräfte der Gesellschaft. Im Lichte dieser Erwägungen erscheint es durchaus folgerichtig, daß der Gesetzgeber seine Absicht, die sozial inhomogenen Kräfte des Arbeitslebens in der BA zu gemeinsamer Willensbildung zusammenzubinden, nicht im Prokrustesbett der traditionellen Körperschaftskonstruktion verwirklicht, sondern hierzu eine Einrichtung eigener Art geschaffen hat. Die Unverträglichkeit der BA mit dem dogmatischen Körperschaftsbegriff erkennend, hat Wolff sich kurzerhand für den entgegengesetzten Weg entschieden und sie, namensgerecht, zur Anstalt erklärt 4 6 . Das aber ist wohl auch nicht der Weisheit letzter Schluß. Zwar hat die Kategorie der Anstalt einen großen Magen, doch selbst der verdaut die BA nicht ohne Krämpfe und Beschwerden. Träger und Struktur der Willensbildung der BA machen deutlich, daß der klassische, von O. Mayer geprägte Anstaltsbegriff bei ihrer Errichtung ebensowenig Pate gestanden hat wie der überkommene Körperschaftsbegriff. Gewiß reicht der Arm des Staates im Hinblick auf die Sachentscheidungen der BA weit, die herkömmliche Anstalt war jedoch auch personell vom Staat beherrscht: Staatliche Funktionsträger, deren Loyalitätsverpflichtung dem Staat galt, nahmen staatliche Geschäfte wahr.

46 (Anm. 8), § 100 I c (S. 402 f.), ebenso nunmehr auch Stober i n der 5. Auflage des Wölfischen Lehrbuchs (§ 100 I 4 a, S. 399 f.) Wie sich das in Anbetracht der offenkundigen Strukturähnlichkeiten zwischen der BA und den Sozialversicherungsträgern mit deren Qualifizierung als öffentlicher Körperschaft (§ 96 I b, S. 345 f. bzw. 5. Aufl., § 96 I 6, S. 275) in Einklang bringen läßt, ist mir unerfindlich.

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In der BA hingegen verfolgen - soweit die entscheidungsbezogenen Lenkungs- und Kontrollbefugnisse des Staates hierzu Raum lassen - Vertreter der Tarifparteien deren Interessen. Charakterisiert man die BA dennoch als Anstalt, so beraubt man den Begriff - wie schon bezüglich der Sozialversicherungsträger dargelegt - seines präzisen rechtlichen Gehalts und degradiert ihn zu einer Art dogmatischem Resteverwerter, der alles schlucken muß, was nicht Staat noch Körperschaft ist. Mag diese Lösung angesichts der traditionellen Weite des Anstaltsbegriffs grundsätzlich einer Erosion des Körperschaftsbegriffs immer noch vorzuziehen sein, so stößt sie doch hier auch deshalb auf Bedenken, weil sie dem klaren und unmißverständlichen Willen des Gesetzgebers widerspricht. Einen unkonventionellen Ausweg aus dem Dilemma des unbefriedigenden Entweder - Oder von Körperschaft und Anstalt sucht Schönefelders Kommentierung zu § 189 AFG. Für ihn ist die BA zugleich öffentliche Körperschaft und Anstalt 4 7 ; je nach Aufgabenkreis tritt sie mal als Körperschaft, mal als Anstalt in Erscheinung. Ersteres soweit sie im Interesse ihrer Beitragsschuldner, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, tätig wird; letzteres, soweit sie sonstigen Personen, m. a. W. der Allgemeinheit zur Verfügung steht 48 . Doch damit werden die institutionsbezogenen Kategorien „Körperschaft" und „Anstalt" unter der Hand in funktionelle Begriffe umgedeutet ein dogmatisch unsinniges Unterfangen. Hinzu kommt, daß bereits die in dem Versuch einer personenbezogenen Unterscheidung zweier Aufgabenkreise anklingende Fruchtbarmachung der alten Gegenüberstellung von (Körperschafts-)Mitgliedern und (Anstalts-)Benutzern die Tatsache verfehlt, daß jedermann - gleich ob Beitragspflichtiger oder nicht - der BA gegenüber in der passiven Rolle des bloßen Genußdestinatärs ist. Schließlich leistet Schönefelders Lösung weiterer dogmatischen Verwirrung Vorschub, indem sie zwei Begriffe, deren Existenzberechtigung gerade in ihrer wechselseitigen Unterscheidbarkeit liegt, kumulativ auf ein und dasselbe Objekt anwendet. Die Untersuchung der BA muß mit dem Befund schließen, daß die maßgebliche Beteiligung der Gewerkschaften und der Arbeitgebervereinigungen sie vor allem dem traditionellen Körperschafts-, aber auch dem traditionellen Anstaltsbegriff entfremdet. Die Ermittlung ihres verfassungsrechtlichen Legitimationsbedarfs kann mithin kaum auf allgemeine Erkenntnisse der Dogmatik der verselbständigten Verwaltungseinheiten zurückgreifen, sie muß sich vielmehr ganz an den Besonderheiten der Rechtsstellung der BA orientieren.

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(Anm. 15), Erl. 7 zu § 189. 48 (Anm. 15), Erl. 9 zu § 189.

Dritter Teil

Der Bereich der Staatsgewalt und die Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip Nachdem die Untersuchung sich bislang auf die Entfaltung des Begriffs der demokratischen Legitimation und die Darstellung der Legitimationsstrukturen der funktionalen Selbstverwaltung konzentriert hat, wird sie im folgenden deren Legitimationsbedarf ermitteln. Muß auch die funktionale Selbstverwaltung von Verfassungs wegen demokratisch legitimiert sein, lautet mithin die Frage. Die Antwort wird positiv ausfallen, wenn zumindest eine der drei folgenden Bedingungen erfüllt ist: 1. Dem Verfassungsbegriff der Selbstverwaltung ist das demokratische Prinzip inhärent. 2. Das demokratische Prinzip wird durch besondere Anordnung auf die Selbstverwaltung erstreckt. 3. Die Selbstverwaltung übt staatliche Gewalt aus und ist insofern dem demokratischen Prinzip unterworfen. Zu 1.: Demokratie und Selbstverwaltung weisen - zumal in Deutschland - vielfältige Berührungspunkte auf. Gleichwohl bleibt zu fragen, ob es sich dabei um eine bloße Affinität der beiden Kategorien handelt oder ob das demokratische Prinzip einen integralen Bestandteil des Verfassungsbegriffs der Selbstverwaltung bildet. Es sei hervorgehoben, daß in diesem Zusammenhang beide Seiten des demokratischen Prinzips angesprochen sind: die parlamentsvermittelte Legitimation durch das Staatsvolk ebenso wie die autonome durch das Verbandsvolk. Mithin gilt es zu untersuchen, ob dem Verfassungsbegriff der Selbstverwaltung als solchem das Gebot einer parlamentsvermittelten Legitimation sowie einer demokratischen Binnenstruktur innewohnt. Die Selbstverwaltungsartikel des Grundgesetzes wie der Landesverfassungen gewährleisten bzw. anerkennen das Recht der Selbstverwaltung lediglich „ i m Rahmen der Gesetze" (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG). Sie machen damit zwar deutlich, daß auch die Selbstverwaltung - die kommunale nicht anders als die funktionale - einer gewissen Legitimation durch das Staats-

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

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volk bedarf, deren Reichweite und Beschaffenheit aber lassen sie offen, denn sie geben keinen Aufschluß darüber, wie der „Rahmen der Gesetze" aussehen muß, welche Ausmaße und welche Gestalt er haben muß. Weder das erforderliche Maß an Lenkung der Selbstverwaltung durch Parlament und Regierung noch ihr Kontrollbedarf lassen sich mithin allein ihrem Verfassungsbegriff entnehmen. Im Hinblick auf beide Legitimationskomponenten ist vielmehr der Rückgriff auf allgemeine Verfassungsgrundsätze - und d. h. hier vor allem auf das demokratische Prinzip - vonnöten 1 . Dies ist auch keinesfalls Ausdruck einer planwidrigen Unvollkommenheit des verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsbegriffs, sondern nichts anderes als die notwendige und legitime Folge seiner Offenheit für die Inanspruchnahme zu staatlichen ebenso wie zu staatsfreien Zwecken. Während im Hinblick auf das parlamentsvermittelte Legitimationselement schlicht von „dem" Verfassungsbegriff der Selbstverwaltung die Rede sein konnte, müssen die Ausführungen zum autonomen Legitimationselement feiner differenzieren. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen sind in diesem Falle zu verschiedenartig, als daß sie ohne weiteres über einen Leisten geschlagen werden könnten. Anders als einige Landesverfassungen verwendet das Grundgesetz den Begriff der Selbstverwaltung nur in bezug auf die kommunalen Gebietskörperschaften. Diesem Umstand käme keine entscheidende Bedeutung zu, sofern in den in Art. 86 f. und 130 GG gebrauchten Begriff der „Körperschaft" eine demokratische Binnenstruktur seiner Träger gleichsam eingewoben wäre. Doch die heute wie je zahlreichen Abweichungen vom egalitärgenossenschaftlichen Idealtyp 2 dokumentieren, daß die demokratische Binnenstruktur nicht eo ipso zu den Tatbestandsmerkmalen des verfassungsrechtlichen Körperschaftsbegriffs zählt. Ohne schon an dieser Stelle auf seinen Gehalt eingehen zu müssen3, erhellt bereits hieraus ebenso wie aus der Entstehungsgeschichte der Art. 86 f. GG 4 , daß die körperschaftliche Variante der funktionalen Selbstverwaltung zwar mitgliedschaftlich strukturiert ist und in einer fruchtbaren Nähe zum demokratischen Gedanken steht, nicht aber per definitionem eine bloße Erscheinungsform des demokratischen Prinzips darstellt. Bestätigt wird diese These sowohl durch die grundrechtlich geprägten Spielarten der funktionalen Selbstverwaltung (Rundfunk, Universitäten) als auch durch die Regelungen der Landesverfassungen. Letztere begnügen 1 In diesem Zusammenhang ist auf die Ausführungen zu den demokratischen Wurzeln des Wesentlichkeitsvorbehalts (oben 2. Kap. I I 3 a) hinzuweisen. 2 Vgl. dazu 1. Kap. I I 1 a sowie Kap. 3 - 5 . 3 Dazu unten 14. und 15. Kapitel. 4 Dazu JöR NF 1 (1951), S. 641 - 652, 857; Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 195 ff.; Köttgen, JöR NF 3 (1954), S. 112 sowie ebenfalls unten 14. Kap. I 2 b.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

sich ebenfalls häufig damit, das Verhältnis von Selbstverwaltung und Staat zu regeln, und enthalten sich jeglicher Aussage zur Binnenorganisation 5 . Man wird davon ausgehen müssen, daß dieser Regelungsmechanismus die überkommene - nicht am demokratischen Prinzip ausgerichtete - Struktur der Gewährleistungsadressaten rezipieren und damit zumindest für verfassungsgemäß erklären will. Aber auch von jenen landesrechtlichen Selbstverwaltungsgarantien, die Aussagen zur Binnenverfassung ihrer Adressaten treffen 6 , sehen nur wenige eine Legitimation der Selbstverwaltungsorgane durch sämtliche, egalitär zusammenwirkende Entscheidungsadressaten vor 7 , die Mehrzahl hingegen gewährleistet keine demokratische Binnenorganisation 8 . Die kleine Tour d'horizon durch die deutschen Verfassungen soll ihren Abschluß finden mit einem Blick auf die grundgesetzliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, in dem sie niedergelegt ist, bedient sich hierzu nicht des Begriffs der Selbstverwaltung, sondern macht sich die Mühe, dessen sachlichen Gehalt eigens zu umschreiben. Erst im Anschluß an diese authentische Interpretation wird der Terminus selbst in die Verfassung eingeführt. Man wird nicht sagen können, daß der Aufwand und die Sorgfalt dieser Regelungstechnik fehl am Platze ist; 150 Jahre Streit um den Erhalt der Selbstverwaltung sprechen eine beredte Sprache und dokumentieren, daß der Verfassungsgeber nicht auf einen eindeutig konturierten Begriff zurückgreifen konnte und gut daran tat, seine eigenen Vorstellungen textlich festzuhalten. Bemerkenswert an der Definition des Grundgesetzes ist, daß auch sie nichts über die Binnenverfassung der Gemeinden aussagt; dies gilt in gleicher Weise für die entsprechenden Regelungen einiger Landesverfassungen 9. Erst durch die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG sowie die analogen Bestimmungen der Landesverfassungen* wird die demokratische Struktur der Kommunen ausdrücklich sichergestellt. Auch der verfassungsrechtliche Begriff der kommunalen Selbstverwaltung impliziert damit - genau genommen - als solcher keine demokratische Ordnung seiner Träger. Man würde es sich zu einfach 5 Art. 20 Abs. 2 bad.-württ. Verf.; Art. 16 Abs. 2 nordrh.-west.Verf. (Hochschulselbstverwaltung); Art. 59 saarl.Verf. (Kammerselbstverwaltung). 6 Dies ist der Fall in den meisten Garantien der universitären Selbstverwaltung („Beteiligung" der Studenten), in allen Garantien der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung (Regelung der Mitwirkungsbefugnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern) sowie in der rhpf. Gewährleistung der Kammerselbstverwaltung (Art. 69). 7 Art. 59 Abs. 1 saarl.Verf. (Arbeitskammern); Art. 35 Abs. 1 hess.Verf. und Art. 57 Abs. 4 brem.Verf. (Sozialversicherungsträger). 8 Dies gilt für die universitären Selbstverwaltungsgarantien, die die Vormachtstellung der Professoren unangetastet lassen, nicht weniger als für Art. 53 Abs. 4 und Art. 69 der rhpf.Verf., die die Sozialversicherungsträger und teilweise auch die Kammern am Prinzip der Parität von Kapital und Arbeit ausrichten. 9 Art. 71 bw.Verf., Art. 137 hess.Verf., Art. 144 Abs. 1 nds.Verf., Art. 49 rhpf.Verf. und Art. 117 saarl.Verf.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

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machen, die dieser Regelungssystematik zugrunde liegende Trennung zwischen dem Begriff der Selbstverwaltung und der inneren Organisation seiner Träger als sachlich belanglose begriffsjuristische Spitzfindigkeit abzutun. Ein Rückblick auf das preußische Dreiklassenwahlrecht sowie auf die totalitäre Verfassung der Gemeinden im Dritten Reich macht vielmehr deutlich, daß der Verfassungsgeber gute Gründe dafür hatte, nicht auf die Annahme zu vertrauen, Selbstverwaltung sei eo ipso demokratisch 10 . Läßt man die hier zusammengetragenen Selbstverwaltungsartikel der deutschen Verfassungen noch einmal Revue passieren, so bestätigt sich der Eindruck, daß „dem" Verfassungsbegriff der Selbstverwaltung als dem gemeinsamen Nenner all dieser Regelungen das demokratische Prinzip nicht eo ipso inhärent ist 1 1 . Selbst wenn man die Auffassung vertritt, das mitgliedschaftliche Element der Selbstverwaltung sei in ihren Verfassungsbegriff eingeflossen und trete nicht erst als wenn auch häufiger, gleichwohl aber kontingenter Faktor hinzu, ist seine Prägung jedenfalls doch nicht durchweg und eindeutig egalitär-demokratisch. Es führt mithin nichts an der Feststellung vorbei, daß die institutions- und dogmengeschichtliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Selbstverwaltung trotz des dominanten Einflusses des demokratischen Prinzips sowohl auf ihre rechtlichen Grundlagen als auch auf ihr Verhältnis zur Ministerialverwaltung sowie auf ihre Binnenorganisation es nicht ermöglicht, sie per se und per definitionem für demokratisch zu erklären. Zu 2.: Während - wie dargelegt - sowohl Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG als auch eine Reihe von Landesverfassungen die Geltung bestimmter Elemente des demokratischen Prinzips auch auf die kommunale Selbstverwaltung erstrecken, enthält das Grundgesetz keine analogen Regelungen hinsichtlich der funktionalen Selbstverwaltung; die Landesverfassungen bieten durchweg das gleiche Bild 1 2 . Zu 3.: Da die ersten beiden der oben aufgeführten drei Bedingungen nicht erfüllt sind, richtet sich das Augenmerk im folgenden auf die verfassungsrechtliche Grundnorm des demokratischen Prinzips: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Gegenstand der weiteren Untersuchung ist mithin die Frage, ob die funktionale Selbstverwaltung Staatsgewalt ausübt. Die Antwort w i r d 10 Allerdings soll nicht verkannt werden, daß den Verfassungen von Bayern (Art. 11 Abs. 4), Nordrhein-Westfalen (Art. 78 Abs. 1) und Schleswig-Holstein (Art. 2) ein demokratisch geprägter Selbstverwaltungsbegriff zugrunde liegt. 11 Ebenso Frotscher, Selbstverwaltung und Demokratie, in: Festgabe v. Unruh, S. 143 f. 12 Abgesehen von den in Anm. 7 aufgeführten Ausnahmen.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

anhand der Bestimmungen des Grundgesetzes entwickelt; die Regelungen der Landesverfassungen bleiben weitgehend außer Betracht. In bezug auf die Selbstverwaltungseinrichtungen des Bundes - die BA, die bundesrechtlichen Sozialversicherungsträger, die Bundeskammern der Steuerberater, der Wirtschaftsprüfer sowie die der rechtsberatenden Berufe - versteht sich dies von selbst. Aber auch für die auf der Ebene der Landesverwaltung angesiedelten, jedoch bundesgesetzlich errichteten Selbstverwaltungsträger, mithin also für sämtliche Sozialversicherungseinrichtungen sowie die Kammern der Anwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, ist primär das Grundgesetz maßgeblich. Die Ursache hierfür liegt darin, daß sämtliche Bundesorgane an das Grundgesetz gebunden sind. Der Bundesgesetzgeber unterliegt daher auch dann dem Grundgesetz, wenn er Regelungen bezüglich der Rechtsstellung landesrechtlicher Selbstverwaltungseinrichtungen trifft. Art. 20 GG ist mithin nicht nur für die Bundesverwaltung, sondern soweit sie durch Normen des Bundesrechts verfaßt ist - auch für die Verwaltungen auf Landesebene einschlägig 13 . Bleiben die durch den Landesgesetzgeber errichteten Selbstverwaltungsträger: die Kammern der Heilberufe, die Arbeitnehmer- und Landwirtschaftskammern sowie die ländlichen Genossenschaften. Als Einrichtungen des Landesrechts unterliegen sie der Bindung an die jeweilige Landesverfassung. Wenn die Regelungen der Landesverfassungen über die Ausübung der Staatsgewalt i m folgenden gleichwohl nur eine Nebenrolle spielen, so können für diese Gewichtsverteilung vor allem zwei Argumente ins Feld geführt werden. Zum einen sei darauf hingewiesen, daß durchaus gewichtige Stimmen der Literatur die Auffassung vertreten, das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG beziehe sich nicht nur auf den Bund, sondern auch auf die Länder; die entsprechenden Landesverfassungen hätten demzufolge lediglich deklaratorischen Charakter 14 . Zum anderen binden auch die Landesverfassungen, sei es ausdrücklich, sei es dem Sinne nach, die Ausübung der Staatsgewalt an das demokratische Prinzip, und dies zumeist sogar durch Vorschriften, die mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG völlig übereinstimmen 15 . Spricht bereits diese Tatsche für die Möglichkeit einer 13 Soweit hingegen bundesgesetzlich errichtete Selbstverwaltungsträger auf Landesebene ihre Rechtsstellung durch autonome Satzung regeln, unterliegen sie dem Landesrecht. Die Folgen dieser Aufspaltung des Legitimationsmaßstabs sind indessen nicht allzu gravierend. Wie im weiteren dargelegt wird, stimmen der landesverfassungsrechtliche Begriff der Staatsgewalt und die an ihn geknüpften Rechtsfolgen mit der Regelung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG überein. 14 Genannt seien hier Zinn, Der Bund und die Länder, AöR 75 (1949), S. 297; Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, I, Rdnr. 31-33, III, Rdnr. 15, V, Rdnr. 91 - 102 zu Art. 20 GG; Walter Schmidt, Das Verhältnis von Bund und Ländern im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes, AöR 87 (1962), S. 258, 284; Hempel, Der demokratische Bundesstaat, insb. S. 231 ff., 2908 ff. In die gleiche Richtung geht die verfassungstheoretisch begründete Verneinung des Staatscharakters der Länder bei·Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 398 ff. und Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, § 7 F N 1.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

207

e i n h e i t l i c h e n D o g m a t i k der A u s ü b u n g v o n Staatsgewalt, so k o m m t h i n z u , daß die homogenisierende W i r k u n g sowohl des A r t . 28 Abs. 1 G G als auch die der unitarisierenden D y n a m i k der (verfassungs)politischen E n t w i c k l u n g nahelegen, Gehalt u n d Geltungsbereich des demokratischen Prinzips i n B u n d u n d L ä n d e r n i n Ü b e r e i n s t i m m u n g z u bringen. Dies liegt schließlich auch i n der Konsequenz der n i c h t zwischen der Bundes- u n d der Landesebene differenzierenden D o g m a t i k der m i t t e l b a r e n Staatsverwaltung.

15 Art. 2 Abs. 1 bay.Verf.; Art. 70 hess.Verf.; Art. 2 beri.Verf.; Art. 66 brem.Verf.; Art. 3 hamb.Verf.; Art. 74 Abs. 1 rhpf.Verf.; Art. 2 Abs. 1 schl.-holst.Landessatzung. Die nach Entstehung des Grundgesetzes zustande gekommenen Landesverfassungen wiederholen wörtlich Art. 20 Abs. 2 GG: Art. 25 Abs. 1 ba-wü.Verf.; Art. 2 Abs. 1 nds.Verf. In der nordrh.-westf.Verfassung fehlt eine entsprechende Bestimmung, dies ist jedoch nicht Ausdruck einer abweichenden Rechtslage, sondern darauf zurückzuführen, daß der Gehalt des Art. 20 Abs. 2 GG als selbstverständlich angesehen wurde; ebenso Kleinrahm, in: Loschelder/Salzwedel, Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 55.

. Kapitel

Der Begriff der Staatsgewalt Wie überhaupt bei der Analyse des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Versuchung lockt, sich im Labyrinth von Staat und Gesellschaft, von Demokratie und Herrschaft zu verlieren, so gilt dies auch für die Interpretation des Begriffs der Staatsgewalt. Ihr zu widerstehen, ist um so wichtiger, als derartige allgemein staatstheoretische Reflexionen nie über die Darstellung der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung hinauszugelangen und zu einer konkreten verfassungsrechtlichen Lösung vorzustoßen vermögen. Es kann im folgenden also nur darum gehen, von den vielfältigen und schillernden assoziativen Besetzungen des Begriffs der Staatsgewalt jene hervorzuheben, die konkreten Aufschluß darüber versprechen, ob sein Gehalt eindeutige Aussagen über sein Verhältnis zur funktionalen Selbstverwaltung ermöglicht. Die Untersuchung geht aus von der Erkenntnis, daß Staatsgewalt im Verfassungs- und Rechtsstaat der Gegenwart - anders als im Absolutismus - durch die Rechtsordnung konstituierte und limitierte Zuständigkeit ist. Bei der Konkretisierung dieser Feststellung orientiert sie sich an den beiden semantischen Elementen des Begriffs, dem Staat und der (Staats)Gewalt. Sie wendet sich zuerst dem Staatsbegriff zu, um im Anschluß daran über das Gewaltmoment Zugang zum Verhältnis von demokratischem Prinzip und funktionaler Selbstverwaltung zu suchen.

I. Der Staatsbegriff Was der Staat ist und was des Staates ist, war seit jeher dem Wandel der politischen Verhältnisse und der wissenschaftlichen Anschauungen unterworfen; keine Antwort kann daher Allgemeingültigkeit beanspruchen, und jeder Versuch einer Antwort muß sich auf eine bestimmte Staats- und Verfassungsordnung beziehen. Das Grundgesetz verwendet den Terminus Staat an keiner Stelle. Es spricht gelegentlich von der „Staatsgewalt" (Art. 20 Abs. 2 Satz 1) bzw. der „staatlichen Gewalt" (Art. 1 Abs. 1), dem „Rechtsstaat" (Art. 28), dem „Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1), den „staatlichen Aufgaben und Befugnissen" (Art. 30), der „staatlichen Einheit", dem „staatlichen Leben" (Präambel), der „deutschen Staatsangehörigkeit" (Art. 16 Abs. 1, Art. 116) sowie

6. Kap.: Der Begriff der Staatsgewalt

209

sehr häufig von dem „Bund" und den „Ländern". Die zitierten Bestimmungen sowie ihr Regelungskontext lassen keinen Zweifel daran, daß das Grundgesetz sowohl den Bund wie auch die Länder als Staaten betrachtet. Sie stellen auch klar, daß Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung die staatlichen Funktionen sind; im übrigen aber enthält das Grundgesetz keine ausdrückliche Definition seines Staatsbegriffs 1 . Es überläßt deren Erstellung vielmehr der Arbeit des Interpreten. Daß diese Aufgabe heute nicht anders als früher zu den unterschiedlichsten Lösungen führt, überrascht kaum. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um den Staatsbegriff setzt schon auf der Ebene der Begriffsbildung ein, und sie entzündet sich sodann in voller Intensität auf der der Subsumtion der konkreten Verhältnisse unter die abstrakten Kategorien. Insbesondere die Zuordnung von Staat und Gesellschaft ist stets Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen gewesen2. Dies gilt in besonderer Weise für die Übergangsphänomene zwischen den beiden Antipoden und damit auch für jenen Teilausschnitt des Problems, der im Mittelpunkt dieser Arbeit steht: der Verortung der Selbstverwaltung zwischen gesellschaftlicher Beliebigkeit und staatlicher Bindung. Eine gewisse Stabilisierung und Klärung des Staatsbegriffs haben erst die formalisierenden Definitionen des Positivismus, insbesondere Georg Jellineks 3 gebracht. Aber auch wenn dessen Drei-Elemente-Lehre außer Frage gestellt hat, daß der Staat die zentrale Herrschaftsorganisation innerhalb eines Gebiets ist, so läßt diese Begriffsbestimmung - nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Selbstverwaltung - doch viele Fragen offen 4 . Dies sowie die im Zeichen der „Überwindung" des Positivismus stehenden, durch die Weimarer Staatslehre begründeten, Tendenzen zur Entformalisierung des Staatsbegriffs 5 mögen als Erklärung dafür genügen, daß seine Konturen bis heute unscharf sind. Zur Charakterisierung des Staats werden denn auch die unterschiedlichsten Begriffe und Konzepte aufgeboten: Er wird als Anstalt 6 , als juristische Person - zumal als Körper1 Ergiebiger ist insofern die baden-württembergische Landesverfassung, die in der Fundamentalnorm des Art. 25 (Abs. 3) ebenso wie in Art. 69 die Selbstverwaltung als Element der vollziehenden Gewalt qualifiziert. Ob allerdings die Konsequenzen dieser Verstaatlichung der Selbstverwaltung dem Verfassungsgeber wirklich bewußt waren und seinen Intentionen entsprachen, muß bezweifelt werden. 2 Siehe hierzu 2. Kap. I 3 a aa, Anm. 39 und 40. 3 Allgemeine Staatslehre, insb. S. 427 ff., 435 ff. 4 Kritisch zu diesem Aspekt des Jellinekschen Staatsbegriffs Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 88 f.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 86 f.; allgemein zum Begriff der Staatsgewalt bei Jellinek Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 96 ff. 5 Heller, Staatslehre, S. 228 - 248 und vor allem Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, insb. S. 127 - 142 (kritisch dazu Kelsen, Der Staat als Integration, insb. S. 45 ff.). 6 O. Mayer, Die juristische Person und ihre Verwertbarkeit im öffentlichen Recht; E.-W. Böckenförde, Organ, Organisation und juristische Person, in: FS für H. J. Wolff, S. 294 ff.

14 Emde

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip schaft 7 - , als W i r k u n g s e i n h e i t 8 , als I n b e g r i f f der Gesamtheit der Rechtsordn u n g 9 , als I n t e g r a t i o n s e i n h e i t 1 0 , als politische E i n h e i t des V o l k e s 1 1 bezeichnet u n d er w i r d m i t u n z ä h l i g e n anderen, schillernden, i n unterschiedlichem Maße aufschlußreichen A t t r i b u t e n u n d E t i k e t t e n belegt. M a l ist es seine juristische, m a l seine politische Seite, die hervorgehoben w i r d , m a l k e n n zeichnen i h n die M i t t e l , derer er sich bedient, d a n n w i e d e r die W i r k u n g e n , die er zeitigt; m a l die Rechtsform, i n der er organisiert ist, m a l die Rechtsform, i n der er handelt. U n d i m m e r w i e d e r w e r d e n diese unterschiedlichen Aspekte m i t e i n a n d e r k o m b i n i e r t . Angesichts dieser V i e l f a l t der Beschreibungen u n d Bezeichnungen des Staates k ö n n t e v o n einem semantisch eindeutigen Staatsbegriff n u r d a n n die Rede sein, w e n n i h r sachlicher Gehalt übereinstimmte. Das ist indessen n i c h t der F a l l . D a zudem keiner der Definitionsversuche dem Verhältnis v o n Staat u n d S e l b s t v e r w a l t u n g besonderes A u g e n m e r k schenkt, g i b t jeder einzelne v o n i h n e n hierüber n u r b e d i n g t A u s k u n f t . U m so weniger ist auf r e i n begrifflicher Ebene eine K l ä r u n g dieser Frage möglich, solange eine V i e l z a h l divergierender Staatsbegriffe m i t e i n a n d e r k o n k u r r i e r e n , ohne daß die Verfassung sich e x p l i z i t f ü r einen v o n i h n e n entschiede. Setzt somit die assoziative

Vieldeutigkeit

des

Staatsbegriffs

allen

begriffsjuristischen

Bemühungen, das V e r h ä l t n i s v o n Staat u n d S e l b s t v e r w a l t u n g aufzuschlüs7 G. Jellinek (Anm. 3), S. 433; Kelsen (Anm. 4), S. 71 ff.; H. J. Wolff, Organschaft und juristische Person, insb. S. 425 ff.; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl., § 71 I I a 2 (S. 4), I I I b 1 (S. 7), § 84 I I I (S. 174 ff). Da die Deutung des Staats als Juristische Person nach wie vor gängig ist (kritisch allerdings bereits O. Mayer, Anm. 6, und in jüngerer Zeit E.-W. Böckenförde, Anm. 6, S. 272 ff.), erscheinen zwei Bemerkungen am Platz. Erstens: Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich das Grundgesetz auf das Verständnis des Staates als Juristischer Person festgelegt hat, und auch aus der Sicht einer Demokratie und Grundrechte vermittelnden Staatstheorie kann man am Nutzen dieser Konstruktion zweifeln; in diesem Sinne E.-W. Böckenförde, ebd., S. 295 f.; Goerlich, Demokratieverständnis und Grundrechtsdoktrin, in: Rechtstheorie 1982, S. 514 f. Zweitens: Die Deutung des Staats als Juristischer Person trägt nichts zur Klärung des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung bei. Versteht man sie in dem vom Begriff nahegelegten, streng formal-organisatorischen Sinne, so sind alle rechtsfähigen Verwaltungsträger infolge ihres Status als eigene Juristische Personen per definitionem außerstaatliche Einrichtungen. Daß dies nicht richtig sein kann, beweist schon ein kurzer Blick auf die Vielzahl ministeriell gesteuerter, rechtsfähiger Anstalten. Dies erkennend bietet H. J. Wolff eine elastischere Variante der Juristischen Staatsperson an; danach gehören zum Staat auch jene rechtsfähigen „Glieder" öffentlicher Verwaltung, die staatliche Aufgaben wahrnehmen. Diese Aufweichung und Ergänzung der formal-organisatorischen Fixierung des Staatsbegriffs durch funktionelle Kriterien ist ohne Frage wirklichkeitsgerecht, sie raubt dem Begriff der Juristischen Staatsperson jedoch jegliche Trennschärfe und damit die Möglichkeit, aus sich selbst heraus die Grenzen der staatlichen Verwaltungszuständigkeiten festzulegen. Ist er aber außerstande, hierzu einen eigenständigen Beitrag zu leisten, so hat er keinen Erkenntniswert für den Gegenstand dieser Arbeit; er wird daher im folgenden nicht weiter bemüht.

β Heller (Anm. 5), S. 228 - 248. 9 Kelsen (Anm. 4), S. 71, 96 f. 10 Smend (Anm. 5), S. 127 - 142. 11 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 3.

6. Kap.: Der Begriff der Staatsgewalt

211

sein, enge Grenzen, so gilt es im folgenden zu untersuchen, inwieweit das Moment der Gewalt im Begriff der Staatsgewalt hierüber Aufschluß erteilt.

II. Das Moment der Gewalt im Begriff der Staatsgewalt 1. Der Eingriff als Signum der Staatsgewalt

Mit dem dröhnenden Klang von (Staats)Gewalt stellt sich unweigerlich die Assoziation von Herrschaft, Befehl und Zwang ein. Sie trifft auch genau das, was jene Epoche, für die der Begriff noch im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stand 12 , als seinen Kern herausgearbeitet hat. Die Staatslehre des Konstitutionalismus, von der hier die Rede ist 1 3 , hat erkannt, daß die Handlungsmodi des modernen Staates sich von denen anderer Organisationen dadurch unterscheiden, daß er befugt ist, Herrschaftsgewalt auszuüben, d. h. Befehle zu erteilen und ihre Durchsetzung zu erzwingen 14 . Auch daß jene Unwiderstehlichkeit der Herrschaftsgewalt allein dem (modernen) Staat zukommt und nicht wie im Feudalismus einer Mehrzahl von Herrschaftsverbänden, ist eine insbesondere vom staatsrechtlichen Positivismus 15 publik gemachte Erkenntnis jener Epoche. Max Weber hat den damals entwickelten und heute noch bedeutsamen Staatsbegriff in der berühmten Formel vom Staat als dem Träger des Monopols der legitimen physischen Gewaltsamkeit anschaulich zuammengefaßt 16 . So unverzichtbar Max Webers Definition des Staates auch heute noch ist, so problematisch wäre es doch, allein sie zum Fundament des Begriffs der Staatsgewalt zu machen. Wollte man diesen anhand des Kriteriums der legalen Zwangsanwendung beschreiben, so käme man zu einer rein modalen Definition der Staatsgewalt - sie wäre nichts anderes als Ausübung von Eingriffsbefugnissen. Es liegt auf der Hand, daß eine so einseitig befugnisfixierte Konzeption jedenfalls unter den Bedingungen der Gegenwart weder imstande ist, den Bereich des Staates noch den der Staatsgewalt zu bestimmen. Die die Staatslehre des Konstitutionalismus beherrschende Vorstellung vom Staat als Eingriffsapparat 17 hat schon die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts verkürzt, um so weniger ist sie dazu geeignet, den planenden, 12 Für die heutige Staatslehre scheint er hingegen eher zum lästigen Pflichtprogramm zu gehören; nur wenige Autoren, insb. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 820 ff. sowie Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 82 - 100 widmen ihm bzw. dem häufig als Synonym verwendeten Begriff der Hoheitsgewalt mehr als routinemäßige Aufmerksamkeit. 13 Näher dazu Martens (Anm. 12), S. 85 - 95. 14 G. Jellinek (Anm. 3), S. 429 f. is G. Jellinek (Anm. 3), S. 420 ff. 16 Wirtschaft und Gesellschaft. S. 28 ff., 541 ff.; ders., Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, S. 493 f.; weitere Nachw. für diese Staatsauffassung bei Martens (Anm. 12), S. 88 f., insb. F N 48 und 57. 17 Hierzu Martens (Anm. 12), S. 85 - 91. 14*

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

lenkenden, leistenden Sozialstaat des Grundgesetzes auf seinen Begriff zu bringen. Ist er nicht mehr nur Eingriffsstaat, so kann auch die begriffliche Umschreibung seines Aktionsbereichs nicht mehr allein mit dem Modus des Eingriffs geleistet werden. Es besteht somit keine Kongruenz zwischen Eingriff sverwaltung und vollziehender Gewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. Auch Leistungsverwaltung kann Ausübung von Staatsgewalt sein. Daß die - mehr oder weniger - neue Wirklichkeit des Staates Einlaß in den Geltungsbereich des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG nicht erst über funktionelle oder systematische Interpretationserwägungen suchen muß, sondern ihn bereits auf begrifflicher Ebene gefunden hat, beweist schon eine flüchtige Durchsicht der einschlägigen Stellungnahmen. Bereits der Parlamentarische Rat hatte, ohne dies völlig deutlich zu machen, erkannt, daß auch die Leistungsverwaltung zur vollziehenden Gewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gehört 18 , und die staatsrechtliche Literatur der Gegenwart hat hieran nie einen Zweifel gelassen19. Wendet man sich von den allgemeinen Prolemen des Begriffs der Staatsgewalt ab und den speziellen des Verhältnisses von Staatsgewalt und Selbstverwaltung zu, so stellt sich die Frage, ob die Aktivitäten rechtsfähiger Verwaltungsträger überhaupt als Ausübung von Staatsgewalt qualifiziert werden können. Mit ihr hatte sich bereits der staatsrechtliche Positivismus auseinanderzusetzen, und seine Lehre vom Staat als juristischer Person hat ihm die Entwicklung einer die Ebene formaljuristischer Distinktionen durchstoßenden, an den Sachproblemen orientierten Antwort nicht leichter gemacht, mündete auf der einen Seite dieser Ausgangspunkt doch notwendig in der Erkenntnis, Staat und Selbstverwaltungsträger stünden sich als voneinander geschiedene Rechtspersonen mit je eigenen Zuständigkeiten gegenüber, während auf der anderen Seite das positivistische Souveränitätsdogma zur Beseitigung der Eigenständigkeit der Selbstverwaltungsträger und damit zu ihrer Eingliederung in den Staat drängte. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die Diskussion im Grunde heute noch. Es ist denn auch kein Zufall, daß sie sich nach wie vor mit der vagen Formulierung begnügt, die Selbstverwaltung übe „abgeleitete staatliche Gewalt" bzw. „Staatsgewalt im weiteren Sinne" aus 20 . Die Unbestimmtheit dieser Formeln hält vielmehr auf durchaus absichtsvolle Weise sowohl die Option für die Zuordnung der Selbstverwaltung zum Staat als auch die für die Betonung ihrer Eigenständigkeit offen. 18 Stellungnahme des Abgeordneten v. Mangoldt zu Art. 20 GG, in: JöR 1951, S. 296. 19 Beispielhaft seien hier genannt Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 23 I I I (S. 110 f.); Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Rdnr. 96 ff. zu Art. 20. Im übrigen war natürlich auch der älteren Staatswissenschaft bewußt, daß der Staat nicht lediglich ein Eingriffsapparat war; vgl. wiederum Max Weber, Politik als Beruf (Anm. 16), S. 494. 20 BVerfGE 8, 104, 132; Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft, S. 158.

6. Kap.: Der Begriff der Staatsgewalt

213

Klopft man den Begriff der „abgeleiteten Staatsgewalt" und seine Synonyme auf ihren dogmatischen Gehalt ab, so zeigt sich immerhin, daß sie die Bindung der Selbstverwaltung an das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte implizieren - mit anderen Worten: abgeleitete Staatsgewalt ist öffentliche Gewalt im Sinne des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4, 93 Abs. 1 Nr. 4 a). Indessen ist damit nicht beantwortet, ob die funktionale Selbstverwaltung auch an die für den Staat geltenden Legitimationsprinzipien gebunden sein soll. Allerdings legen es die seit dem Absolutismus übliche und seit dem staatsrechtlichen Positivismus unangefochtene Betonung des staatlichen Herrschaftsmonopols und die Ableitung aller Hoheitsbefugnisse der Selbstverwaltung vom Staat 2 1 nahe, zumindestens deren Eingriffsmaßnahmen als Akte der Staatsgewalt zu qualifizieren. Dies hat Bedeutung für sämtliche hier untersuchten Selbstverwaltungsträger, sie alle besitzen Eingriffsbefugnisse. Zumindest sind sie berechtigt, die gesetzlich begründete Beitragspflicht ihrer Mitglieder zu aktualisieren, zumeist gilt dies auch für deren Beitrittspflicht - sofern die Mitgliedschaft nicht schon bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen automatisch entsteht - , und häufig gehört der Erlaß von Geboten und Verboten zu ihrer alltäglichen Verwaltungspraxis. Doch auch damit ist nicht mehr als eine Teillösung erreicht. Nach wie vor bleibt offen, ob jene Maßnahmen der Selbstverwaltungsträger, die keinen Eingriffscharakter haben, ebenfalls Akte der Staatsgewalt sind. Dies ist um so bedeutender, als bei einer Reihe von Kammern sowie bei den Sozialversicherungsträgern Eingriffsmaßnahmen kaum ein Rolle spielen und sich im wesentlichen auf die Realisierung von Beitritts- und Beitragszwang beschränken. Eine formale und durch ihre Operationalisierbarkeit bestechende Lösung des Problems wäre möglich, wenn man jede Entscheidung eines Trägers von Eingriffsbefugnissen oder vielleicht sogar noch darüber hinausgehend überhaupt jede Maßnahme eines Trägers öffentlicher Verwaltung als Ausübung von Staatsgewalt qualifizieren könnte. Ein solcher Ansatz könnte - zu Recht - für sich reklamieren, die gängige Wendung vom öffentlichen Recht als dem Sonderrecht des Staates 22 wirklich ernst zu nehmen und konsequent durchzuhalten; er wird jedoch, wenn überhaupt, dann nur vereinzelt vertreten 23 , 21 H. Krüger (Anm. 12), S. 870 - 879; Wolff/Bachof (Anm. 7), § 74 I I b 3 (S. 55 f.), § 84 IV b 5 (S. 183); Mronz (Anm. 20), S. 158 m. w. Ν.; H. H. Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: FS Forsthoff, S. 175 ff. 22 Dazu näher Martens (Anm. 12), S. 93. 23 Zu dieser Auffassimg neigte die Staatslehre des vergangenen Jahrhunderts. Sie betrachtete öffentlich-rechtliches und hoheitliches Handeln als Synonym: Beides meinte Handeln in Ausübung von Staatsgewalt (näher dazu Martens, Anm. 12, S. 86 88). Ähnliche Tendenzen zeigt der etatistische Flügel der heutigen Staatslehre; zu nennen sind hier insb. Forsthoff, Krüger, Klein und Mronz. Für Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 471 ff. und Mronz (Anm. 20), S. 157 ff. etwa ist Selbstverwaltung stets eine Spielart mittelbarer Staatsverwaltung.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

und vor allem kann er sich nicht auf das herkömmliche Verständnis des Begriffs der Staats-Gewalt berufen. Es trifft zu, daß mit staatlicher Gewalt nicht mehr nur das Eingriffshandeln des Staates, sondern seine Tätigkeit überhaupt assoziiert wird. Sicherlich aber würde es den Rahmen des allgemein konsentierten Begriffsverständnisses sprengen, wenn man jedwede Betätigung von rechtsfähigen Verwaltungseinheiten überhaupt oder auch nur von mit Eingriffsbefugnissen ausgestatteten Verwaltungsträgern als Ausübung von Staatsgewalt apostrophierte. Daß eine derartige, pauschale Verstaatlichung der Selbstverwaltung nicht mit dem geltenden Recht in Einklang steht, wird noch zu zeigen sein; hier reicht es hin, darzulegen, daß sie nichts weniger als eine semantische Selbstverständlichkeit ist und jedenfalls der Rundfunk sowie die privaten Zwecken dienenden ländlichen Genossenschaften nicht als Organe der Staatsgewalt zu betrachten sind 24 . Im Ergebnis ist festzuhalten, daß aus dem schieren Begriff der Staatsgewalt, soweit er eine eindeutige und allgemein konsentierte Prägung hat, nicht abgeleitet werden kann, ob die funktionale Selbstverwaltung ihm generell unterfällt. Wo Selbstverwaltung sich nicht der Handlungsform des Eingriffs bedient, vermag folglich erst eine Ausdehnung des interpretatorischen Untersuchungsfelds auf andere als rein semantische Aspekte Klarheit darüber zu verschaffen, ob Staatsgewalt ausgeübt wird. 2. Die Entscheidung als Charakteristikum der Ausübung von Staatsgewalt

War den bisherigen Anstrengungen, dem Gewaltmoment im Begriff der Staatsgewalt mittels der grammatischen Interpretation Konturen zu verleihen, nur begrenzter Erfolg beschieden, so sollen sie doch zumindestens noch eine weitere Frucht abwerfen. Sowohl die Verknüpfung des Begriffs der Staatsgewalt mit bestimmten Rechtsfolgen - der Bindung ihrer Ausübung an verfassungsrechtlich festgelegte Legitimationsstrukturen - als auch die im Wortbestandteil „Gewalt" mitschwingenden Assoziationen von Befehl und Herrschaft indizieren, daß nicht alles, was sich unter dem Dach des Staates vollzieht, Ausübimg von Staatsgewalt ist, sondern daß dieses Signum nur Akten mit gewissen rechtlichen Qualitäten zukommt. Unselbständige Hilfstätigkeiten (Akten transportieren, Kopien anfertigen, Heizung bedienen etc.), vorbereitende Tätigkeiten sowie reine Beratungsfunktionen passen weder im Hinblick auf seinen semantischen Gehalt unter den Begriff der Staatsgewalt noch besteht in der Sache eine Notwendigkeit, sie den an ihn anknüpfenden Rechtsfolgen zu unterwerfen 25 . Der Bote, die Sekretärin 24

Siehe hierzu auch oben 1. Kap. I I I 1. Ebenso BVerfGE 47, 253, 273 (nordrhein-westfälische Bezirks Vertretungen). Andere Akzente setzt allerdings die Entscheidung zum hamburgischen Volksbefra25

6. Kap.: Der Begriff der Staatsgewalt

215

und der privatrechtlich verpflichtete Ratgeber oder Gutachter müssen nicht demokratisch legitimiert sein; sind sie es nicht, so tut das der demokratischen Staatsordnung keinen Abbruch. Anders hingegen verhält es sich mit all jenen Organwaltern, die die Befugnis haben, Entscheidungen mit rechtlicher Wirkung zu treffen. Auf sie ist die Regelung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zugeschnitten und auf sie findet sie Anwendung 26 - gleich ob die von ihnen gefällten Entscheidungen Außenwirkung oder nur interne Wirkung haben. Da alles Handeln des Staates letztlich auf seine Bürger bezogen ist, müssen alle seine Entscheidungen, auch die formal staatsinternen, den Vorschriften über die Bildung des staatlichen Willens und über die Rechtfertigung staatlichen Handelns genügen 27 . Auch auf die Genehmigungsbedürftigkeit einer Entscheidung oder auf die Möglichkeit ihrer Aufhebung oder Abänderung kommt es nicht an; sofern sie den Bereich des rechtlich Unverbindlichen und den des rein Tatsächlichen verläßt und im Rahmen der staatlichen Normenordnung rechtliche Wirkungen zeitigt, unterliegt sie auch den Legitimationsprinzipien für staatliches Handeln. Die Bedeutung der Beschränkung der Staatsgewalt auf rechtlich belangvolle Maßnahmen für den Kontext dieser Arbeit liegt in der Ausscheidung rein vorbereitender sowie rein konsultativer Tätigkeiten. Zumal im Dunstkreis der Bundesministerien finden sich eine Vielzahl von demokratisch nicht legitimierten Organen und Organisationen, die mit derartigen Tätigkeiten befaßt sind; es spielt dabei keine Rolle, ob sie als Beiräte oder als Kommissionen oder als organisatorisch nicht verfestigte Expertengremien firmieren. Wie auch immer problematisch diese Aktivitäten unter verfassungspolitischen Aspekten sein mögen, verfassungsrechtlich sind sie jedenfalls im Hinblick auf das demokratische Prinzip wohl nicht zu beanstanden - anders als die unter dem Stichwort „ministerialfreie Stellen" zusammengefaßten Instanzen mit eigenen Entscheidungsbefugnissen. Faßt man das Ergebnis der Betrachtungen zum Terminus Staatsgewalt zusammen, so bleibt festzuhalten, daß rein begriffliche Deduktionen nur begrenzte Erkenntnisse hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung ermöglichen. Dies gilt für den Staats- nicht weniger als für den Gewaltbegriff. Immerhin wurde auf der einen Seite deutlich, daß jedenfalls alle Eingriffsmaßnahmen der Selbstverwaltung als Akte der Staatsgewalt zu betrachten sind, während auf der anderen Seite das Moment der Entscheidung einer Ausgrenzung rein tatsächlicher Hilfsdienste sowie vorbereitender und konsultativer Akte ermöglicht hat. gungsgesetz (Bd. 8, 104, 114 f.), in der die konsultative Volksabstimmung als Ausübung von Staatsgewalt qualifiziert wird. 26 Wenn auch nicht eindeutig, so doch von der Tendenz her ebenso BVerfGE 47, 253,273 - 275. 27 Ebenso nunmehr auch Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, S. 78 ff. m. w. N.

. Kapitel

Rückblick auf die geschichtlichen Grundlagen der Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip I. Vom Kaiserreich zum Dritten Reich 1. Der Status der funktionalen Selbstverwaltung im staatsrechtlichen Positivismus

Eine detailgetreue Nachzeichnung der Entwicklungsgeschichte des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Sie ist auch zur Erhellung der aktuellen Verfassungslage kaum erforderlich, da die älteren historischen Formationen hierfür erst von dem Augenblick an wirklich Bedeutung erlangen, indem die verfassungsrechtlichen Implikationen des Beziehungsgefüges von Staat und Selbstverwaltung den heutigen Verhältnissen entsprechen. Das aber ist erst der Fall, seitdem die Demokratie auch für die staatliche Verwaltung die Legitimationsbasis darstellt. Gleichwohl wäre es verfehlt, die Ära des konstitutionellen Positivismus völlig zu übergehen. Allein die bis in die Gegenwart wirkende und noch in der Weimarer Epoche übermächtige Prägekraft seiner dogmatischen Figuren gebieten es auch heute noch, ihm Beachtung zu schenken. Dies soll im folgenden anhand der Ausführungen Georg Jellineks geschehen1. Wie bereits angeklungen ist, weisen die dogmatischen Grundpositionen der konstitutionellen Staatslehre, das Souveränitätsdogma und die Qualifizierung des Staats als juristischer Person bezüglich des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung in verschiedene Richtungen. Der Betonung der staatlichen Souveränität eignet eine unverkennbare Spitze gegen alle überkommenen oder modernen Tendenzen zur Feudalisierung des Gemeinwesens. Nur der Staat verfügt danach über eigenständige Herrschergewalt, die einstmals autonome Gewalt der Verbände und Körperschaften ist vom Staat aufgesogen worden und existiert nurmehr als staatlich verliehene Kompetenz fort. Herrschaftsrechte sind also stets staatliche oder vom Staat abgeleitete Befugnisse. Schlägt in diesen Feststellungen voll die unitarisch-etatistische Tendenz des Jellinekschen Denkens durch, so wirkt die aus der Tradition des demokatischen Liberalismus hinübergerettete und zudem kon1

Allgemeine Staatslehre, S. 429 ff., 643 ff.

7. Kap.: Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip - Rückblick

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struktiv bedingte Betonung des vom Staat distanzierten Eigenlebens der Selbstverwaltungsträger als balancierendes Gegengewicht. Die begriffliche Überwölbung und Verklammerung der auseinanderdriftenden Figuren der Dogmatik wird mit der Ableitung der Herrschaftsgewalt aller „dem Staat eingegliederten Verbände" aus der Staatsgewalt unternommen. Ob das eine Bindung der Selbstverwaltungsträger an die für den Staat geltenden Legitimationsmaßstäbe zur Folge haben sollte, hat die damalige Staatslehre indessen offengelassen. Vielleicht muß auch das als Niederschlag der Schwebelage der Souveränitätsfrage gesehen werden, tendierten doch die Selbstverwaltungsträger zu einer demokratischen Legitimationsbasis, während die staatliche Verwaltung noch ganz im Banne des monarchischen Prinzips stand. Eine klare Zuordnung ist allerdings möglich im Hinblick auf den Status der Kirchen. Nicht nur unterschied sich ihre Legitimationsbasis grundlegend von der des Staates, daneben wiesen auch ihre Funktionen sie als eigenständige, außerstaatliche Einrichtungen aus2. 2. Funktionale Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip der Weimarer Republik

Hinsichtlich der historischen Ausgangslage der Weimarer Epoche ist von Bedeutung, daß der mit der Etablierung des demokratischen Prinzips vollzogene Bruch mit dem Konstitutionalismus im Verhältnis von Staat und Selbstverwaltung nur auf Seiten des Staates zu grundlegenden Veränderungen führte. Auf Seiten der Selbstverwaltung hingegen dominierten die Elemente der Kontinuität. Dies zum einen aufgrund der Tatsache, daß die dogmatische Potenz des staatsrechtlichen Positivismus zumindestens einstweilen unangetastet blieb, und zum anderen aufgrund des demokratischen Gehalts der körperschaftlichen Selbstverwaltung, der fundamentale Veränderungen entbehrlich erscheinen ließ. a) Das demokratische Prinzip der Reichsverfassung und seine Bedeutung für die funktionale Selbstverwaltung Projiziert man Verlauf und Ergebnis der Beratungen der Weimarer Nationalversammlung vor diesen rechtstatsächlichen und geistesgeschichtlichen Hintergrund, so nimmt es kaum wunder, daß der Verfassungsgeber, von drängenden nationalen Problemen überhäuft, es unterlassen hat, den Bereich der Staatsgewalt abzustecken. Ebensowenig überrascht es, daß er die Rechtsstellung der funktionalen Selbstverwaltung weder ausdrücklich geregelt noch ihr Verhältnis zur Staatsgewalt reflektiert hat und insbesondere keine explizite Entscheidung darüber getroffen hat, ob das in Art. 1 2 So auch Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 6 - 22, der erstàunlicherweise auch die Kommunen als außerstaatliche Einrichtungen ansah.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

Abs. 2 sowie in Art. 17 Abs. 2 niedergelegte demokratische Prinzip 3 nur für den Staat oder auch für die Selbstverwaltung Geltung beanspruchen sollte. Da die Legitimationsbasis der Selbstverwaltung vom Prinzip her mit der des nunmehr demokratisierten Staats kongruent war 4 , bestand keine zwingende Notwendigkeit zur sofortigen vollen Demokratisierung der Selbstverwaltungsträger. Im Gegenteil, die Unübersehbarkeit der daraus resultierenden Folgen für das Kammerwesen und die Sozialversicherungsträger legte einen Verzicht des Verfassungsgebers auf einschneidende Änderungen geradezu nahe 5 ; hinzu kam die Erwägung, aus Rücksicht auf die Autonomie der Länder, diesen die Regelung der Selbstverwaltung zu überlassen 6. Es überrascht daher nicht, daß die Reichsverfassung auf eine allgemeine Homogenitätsklausel verzichtete und die weitere Entfaltung des demokratischen Prinzips in der Selbstverwaltung der zukünftigen politischen und verfassungsdogmatischen Entwicklung überließ.. An zwei Stellen allerdings durchbrach die Weimarer Verfassung das Prinzip der Enthaltsamkeit gegenüber Regelungen der Rechtsstellung der Selbstverwaltungsträger. Zum einen erklärte sie in Art. 17 Abs. 2 Satz 1 das Verhältniswahlrecht auch bei Gemeindewahlen für verbindlich, und zum andern ordnete sie in Art. 161 eine „maßgebende Mitwirkung der Versicherten" in der sozialen Selbstverwaltung an. Beide Bestimmungen stützen die Annahme, daß der Reichsverfassung der Gedanke einer generellen Bindung der Selbstverwaltung an die Legitimationsanforderungen für staatliches Handeln fremd war. Nicht Art. 17 Abs. 1, sondern erst Art. 17 Abs. 2 RV erstreckt demnach die Geltung des demokratischen Prinzips auf die Kommunalverwaltung. Hält diese Annahme und die durch sie indizierte Beschränkung des Normbereichs von Art. 17 Abs. 2 Satz 1 RV auf die Gemeinden einer entstehungsgeschichtlichen Überprüfung stand 7 , so kann eine Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip aus Art. 17 Abs. 1 bzw. aus Art. 1 Abs. 2 RV nicht hergeleitet werden. Dies ist um so bedeutsamer, als der Text der Reichsverfassung - anders als der des Grundgesetzes (Art. 86 f.) und der der heutigen Landesverfassungen - auch keine Anhaltspunkte für eine Einbeziehung der Selbstverwaltung in den Bereich der Staatsverwaltung bietet. 3 Näher dazu Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, Bern. 2 zu Art. 1 sowie Bern. 2 - 5 zu Art. 17. 4 Dies betont als Exponent der Mehrheitsfraktionen der Nationalversammlung der Abgeordnete Haas; Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 327, S. 1259. 5 Dieses Argument wurde von den Vertretern der Weimarer Mehrheit während der Verfassungsberatungen (45. Sitzung) hervorgehoben; Verhandlungen, S. 1256 (Preuß), 1258 (Heine, preußischer Minister des Inneren). 6 Auch die Notwendigkeit eines schonenden Ausgleichs zwischen unitarischen und föderalen Interessen klingt in den Beratungen zu Art. 17 WRV wiederholt an; Verhandlungen, S.1255 - 1262. 7 Siehe dazu Verhandlungen, S. 1255 - 1262.

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b) Die Beratungen der Nationalversammlung zu Art 17 Abs. 2 Satz 1 RV Art. 17 Abs. 2 Satz 1 gehörte zu jenen Bestimmungen der Reichsverfassung, deren Inhalt heftig umstritten war. Jede der drei Hauptströmungen der Weimarer Nationalversammlung verfolgte hier andere Ziele. Die Konservativen lehnten jegliche Festlegung des Wahlrechts der Selbstverwaltungseinrichtungen sowie überhaupt ihrer Binnenverfassung ab 8 . Die Weimarer Mehrheitsparteien vertraten - mit Ausnahme der Deutschen Volkspartei - eine mittlere Linie und befürworteten die Festschreibung des demokratischen Verhältniswahlrechts für die Kommunen 9 , während die extreme Linke für eine verfassungsrechtliche Erstreckung des egalitär-demokratischen Wahlrechts auf sämtliche Selbstverwaltungseinrichtungen kämpfte 10 . Durchgesetzt hat sich die Konzeption des Weimarer Blocks und damit die Bindung der Kommunen an das demokratische Prinzip. Es wäre verfehlt, ihre Anliegen auf die verfassungsrechtliche Verankerung des Modus der Gemeindewahlen zu reduzieren, vielmehr ging es ihr sowie der Linken darum, eine Grundsatzentscheidung für die Geltung des demokratischen Prinzips in den Kommunen zu treffen und die Stellung der demokratisch gewählten Gemeindevertretung als zentralem Willensbildungs- und Kontrollorgan verfassungsrechtlich zu sichern 11 . Dieser Befund steht außer Frage - nicht so seine Begründung. Ob bereits Art. 17 Abs. 1 RV die Bindung der Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip enthalten sollte - dann unterläge ihm auch die funktionale Selbstverwaltung und dann hätte Abs. 2 Satz 1 nur hinsichtlich der Ausgestaltung der Kommunalwahlen konstitutive Bedeutung - oder ob erst durch letzteren das demokratische Prinzip verankert wurde - dann wäre die funktionale Selbstverwaltung, da nicht Regelungsadressat des Art. 17 Abs. 2 Satz 1, von seinen Bindungen freigestellt - , bedarf näherer Prüfung. Wendet man sich der Position der Konservativen zur Binnenverfassung der Selbstverwaltung zu, so drängt sich die Erkenntnis auf, daß ihr verbissener Kampf gegen jede (reichs)verfassungsrechtliche Festlegung der Wahlgrundsätze 12 nur sinnvoll war, sofern damit nicht lediglich das Verhältniswahlrecht abgewehrt, sondern das viel weiter reichende Ziel verwirklicht 8

Als ihr Wortführer trat der Abgeordnete Düringer auf. Für sie äußerten sich Hugo Preuß, der preußische Minister des Innern, Heine, sowie die Abgeordneten Quark, Haas und Andre; der Vertreter der Deutschen Volkspartei (Kahl) hingegen wollte den Landesverfassungen die Entscheidung über die Prinzipien des Kommunalwahlrechts überlassen. 10 Für sie meldete sich der Abgeordnete Cohn zu Wort. 11 So ausdrücklich die Stellungnahmen des Weimarer Blocks und der parlamentarischen Linken (Verhandlungen, S. 1258 - 1262). Ebenso Anschütz (Anm. 3), Bern. 7 u. 8 zu Art. 17 und Forsthoff (Anm. 2), S. 109 f. 12 Anträge Nr. 413 (Ranstadt und Genossen) sowie 422 (Dr. Heinz und Genossen). 9

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

wurde, den Selbstverwaltungsträgern hinsichtlich der Regelung ihrer inneren Struktur eine verfassungsrechtliche Tabula rasa zu bescheren 13. Die Rechte sah mithin in Art. 17 Abs. 1 RV keine, auch für die Selbstverwaltung verbindliche Grundentscheidung für das demokratische Prinzip; die Bestimmung war nach ihrer Auffassung eine lediglich an die Rechtspersonen der Gliedstaaten gerichtete Homogenitätsklausel. Eine ähnliche Einschätzung lag dem Eintreten der Linken für die Geltung des Art. 17 Abs. 2 Satz 1 RV auch bei „den weiteren Selbstverwaltungskörpern und den Körperschaften des öffentlichen Rechts" 14 , mithin dem Bereich der gesamten funktionalen Selbstverwaltung zurunde. Auch diesem Antrag war es wohl nicht nur um die verfassungsrechtliche Verankerung einer bestimmten Wahlrechtsspielart der Demokratie zu tun, sein Motiv war vielmehr ebenfalls die Vorstellung oder zumindestens die Befürchtung, ohne eine derartige Regelung sei die Geltung des demokratischen Prinzips im Bereich der Selbstverwaltung nicht garantiert 15 . Auch die Linke hegte somit zumindestens Zweifel daran, ob durch Art. 17 Abs. 1 bzw. durch Art. 1 Abs. 2 RV allein das demokratische Prinzip im Bereich der Selbstverwaltung gewährleistet sei. Daß diese Bedenken nicht grundlos waren, erhellt aus den Stellungnahmen der Vertreter des Weimarer Blocks. Insbesondere die Bemerkung des preußischen Innenministers Heine, man gedenke nicht in die Autonomie der Kirchen einzugreifen 16 , bietet ein Indiz dafür, daß der Sinn der Beschränkung des Art. 17 Abs. 2 Satz 1 RV auf die Kommunen nicht nur darin bestand, hinsichtlich der übrigen Selbstverwaltungsträger die Option zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht sowie zwischen direkter und indirekter Wahl offenzuhalten, sondern diese überhaupt aus dem Geltungsbereich des demokratischen Prinzips herauszuhalten. Auch die in den Stellungnahmen der Mehrheitsfraktionen wiederholt anklingende Überzeugung, das demokratische Prinzip sei im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung bereits verwirklicht, und die Betonung seiner Bedeutung für die politische Integration des Staates 17 widerstreiten dieser Annahmen nicht. Eher im Gegenteil: Ist die Selbstverwaltung ohnehin demokratisch, so besteht für den Verfassungsgeber keine Notwendigkeit, sich ihrer Demokratisierung anzunehmen. Dies zumal dann nicht, wenn er - wie im Jahre 1919 der Fall - darauf vertrauen kann, daß weder der Reichs- noch die Landesge-

13 Dies ist die Quintessenz der Polemik der Abgeordneten Kahl und Düringer gegen die in Art. 17 Abs. 2 Satz 1 RV verankerte „unnatürliche Gleichmacherei" des demokratischen Prinzips (Verhandlungen, S. 1255 - 1258). 14 Antrag Nr. 428 (Agnes und Genossen). 15 Dies klingt in den Ausführungen des Abg. Cohn (Verhandlungen, S. 1260) an. 16 Verhandlungen, S. 1258. 17 Abg. Haas, Quark und Andre, Verhandlungen S. 1258 - 1262.

7. Kap.: Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip - Rückblick

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setzgeber das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Selbstverwaltung autoritär organisieren werden. Ungeachtet aller Gegensätze in den politischen Sachfragen bestand mithin in der Nationalversammlung Einigkeit darüber, daß Art. 1 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 1 RV keine Demokratisierung der funktionalen Selbstverwaltung forderten. Der Befund der Textinterpretation wird mithin durch die genetische Auslegung bestätigt. c) Die Bedeutung des demokratischen Prinzips für die funktionale Selbstsverwaltung in der Weimarer Staatspraxis Die nachfolgende Entwicklung der normativen Grundlagen der funktionalen Selbstverwaltung folgte der Option von Verfassung und Verfassungsgeber. Weder der Reichs- noch die Landesgesetzgeber noch die Träger der Selbstverwaltung sahen sich veranlaßt, deren Binnenverfassung den für den Staat geltenden Legitimationsprinzipien anzupassen, d. h., vor allem das egalitär-demokratische Wahlrecht generell einzuführen 18 . Auch wenn man wohl nicht darin fehlgeht, die Vorstellung von der Dispositionsfreiheit über die Legitimationsordnung der Selbstverwaltung als Grundlage dieser legislativen Enthaltsamkeit anzusehen, so soll doch nicht verkannt werden, daß sie darüber hinaus von der seit dem Konstitutionalismus in Politik und Wissenschaft verwurzelten Überzeugung gespeist wurde, „die Selbstverwaltung" sei ohnehin demokratisch. Wie auch immer: die Weimarer Staatspraxis deutet ebenso wie die Verfassung selbst darauf hin, daß die funktionale Selbstverwaltung nicht den für den Staat geltenden Legitimationsprinzipien unterlag, mochte sie nun dem Begriffe nach Staatsgewalt ausüben oder auch nicht. d) Funktionale Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip in der Weimarer Staats- und Verwaltungslehre Wiewohl das Verhältnis von Staat und Selbstverwaltung auch während der Weimarer Zeit eine durchaus umstrittene und intensiv diskutierte Angelegenheit war 1 9 , hat doch die Frage nach der verfassungsrechtlichen Geltung der staatlichen Legitimationsordnung für die funktionale Selbstverwaltung kaum Beachtung gefunden. Weder die breit angelegte Monographie von Peters noch die Untersuchung von Forsthoff über „die öffentliche Körper-

18

Im einzelnen hierzu oben 3. Kap. I l e und 4. Kap. I I 1. Einen umfassenden Überblick über die Literatur auf dem Stande von 1925 bietet Hans Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, insb. S. 5 - 46. 19

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

schaft im Bundesstaat" 20 noch die verwaltungsrechtlichen Lehrbücher nehmen sich der Legitimationsproblematik an; obschon gerade für Peters und Forsthoff das Maß an möglicher und wünschenswerter Eigenständigkeit der Selbstverwaltung, sei es in funktioneller, sei es in politischer Hinsicht, gegenüber dem Staat im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht 21 . Die Ergebnislosigkeit der Suche nach expliziten Stellungnahmen zur Frage der Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip der Weimarer Reichsverfassung zwingt einmal mehr dazu, die Möglichkeit von Rückschlüssen aus der Stellung der Selbstverwaltung zum Staat zu prüfen. Insoweit ist unverkennbar, daß die Staats- und Verwaltungslehre der Weimarer Zeit in Fortführung des staatsrechtlichen Positivismus 22 eine starke Neigung zur Etatisierung der Selbstverwaltung zeigte. Begünstigt durch deren sowohl staatstheoretisch als auch verfassungsrechtlich schmale und kaum belastbare Fundamente 23 , trieb die Dogmatik damit eine Entwicklung voran, die im Dritten Reich mit der unter dem Losungswort der „mittelbaren Staatsverwaltung" stehenden Gleichschaltung der Selbstverwaltung mit der Staatsverwaltung enden sollte. Die einzelnen Etappen dieses Prozesses können hier nicht dokumentiert werden; es sei lediglich hervorgehoben, daß nicht nur die Jellineksche Charakterisierung der Herrschaftsbefugnisse der Selbstverwaltung als abgeleiteter Staatsgewalt Gültigkeit behielt 24 , sondern darüber hinaus die Selbstverwaltung auch in organisatorischer und funktioneller Hinsicht unter das Dach des Staates gezogen wurde 2 5 . Könnte man die Formel von der abgeleiteten Staatsgewalt zumal dann, wenn man den Staat mit dem Gesetzgeber identifiziert, vielleicht noch als verfassungsrechtlich bedeutungsloses begriffsdogmatisches Glasperlenspiel abtun, so versagen solche Bagatellisierungsversuche vor der Feststellung, Selbstverwaltung nehme „ i m Interesse" bzw. „an des Staates Stelle staatliche Verwaltungsaufgaben" 26 wahr. Sie läßt keinen Zweifel daran, daß die Selbstverwaltung nach damaliger Auffassung Funktionen der Staatsverwaltung erfüllte 27 . Auf dem Boden dieser funktio20 (Anm. 2). 21 Zu den Ursachen dieses Desinteresses siehe unten. 22 Zahlreiche Nachweise für die Fortwirkung der positivistischen Doktrin finden sich bei Peters (Anm. 19), S. 8 - 11. 23 Nur die Selbstverwaltung der Gemeinden und der Sozialversicherungsträger hatte überhaupt eine verfassungsrechtliche Verankerung, aber auch sie stand bis zur „Entdeckung" der institutionellen Garantien voll zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. 24 Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, S. 101; Peters (Anm. 18), S. 26 f., 54, 60. 25 Fleiner (Anm. 24), S. 101; Peters (Anm. 18), S. 19 - 33 sowie auch die Begründung zum Regierungsentwurf von 1922 für eine preußische Städteordnung (zitiert nach Peters, S. 116). Anders allerdings erstaunlicherweise Forsthoff (Anm. 2), S. 25; er betont, daß jedenfalls manche Korporationen nicht staatlich seien und auch keine staatlichen Zwecke wahrnähmen; in gleicher Richtung S. 21 f. und 102. 26 Peters (Anm. 19), S. 32 bzw. Fleiner (Anm. 24), S. 101.

7. Kap.: Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip - Rückblick

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nellen Einbeziehung in den Bereich der Staatsverwaltung war es dann ebenso folgerichtig wie zwangsläufig, die Selbstverwaltung auch organisatorisch zu etatisieren. Dieser Schritt wurde denn auch 1931 von Tula Simons formell vollzogen, indem sie betonte, „durch die Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft" werde diese „organisatorisch und funktionell einbezogen in die staatliche Ordnung" 2 8 . Damit war der Sache nach die Dogmatik der mittelbaren Staatsverwaltung bereits umrissen 29 . Die der Staatspraxis der Weimarer Republik und ihrer öffentlich-rechtlichen Dogmatik gleichermaßen immanente Tendenz zur Eingliederung der Selbstverwaltung in den staatlichen Verwaltungsbereich 30 darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß damit nicht die Absicht verbunden war, die funktionale Selbstverwaltung den dem Staat vorgegebenen Legitimationsprinzipien zu unterwerfen. Mehr noch, es kann nicht einmal die Rede davon sein, daß dies auch nur als mögliche Folge ins Auge gefaßt worden ist. Die Konsequenzen der etatistischen Standortbestimmung der Selbstverwaltung für deren Legitimationsstrukturen blieben durchweg unbeachtet. Die Ursachen dieses Desinteresses können hier nur angedeutet werden. Eine wesentliche Rolle dürfte die angesichts der Überzeugung, die Selbstverwaltung sei im Grunde ohnehin demokratisch, verständliche Konzentration auf dringendere Probleme - etwa das der Erhaltung der politischen Einheit eines zerfallenden Staatswesens31 - gespielt haben. Eine weitere Ursache dürften die Eigentümlichkeiten der Struktur der damaligen Dogmatik gesetzt haben: sie war weder verfassungsrechtlicher noch demokratietheoretischer Natur, sondern siedelte vielmehr teils auf der Ebene der Staatstheorie (Begriff der Staatsgewalt), teils auf der der Rechtspolitik (Möglichkeiten und Grenzen des staatlichen Zugriffs auf Selbstverwaltungsangelegenheiten 32 ). Schließlich neigte die damalige Rechtslehre so sehr zu einer Trennung

27 Die Betonung der Notwendigkeit eines „eigenen Wirkungskreises" bei Peters (Anm. 19, S. 30 ff.), Fleiner (Anm. 24, S. 112 f.) sowie der gesamten kommunalwissenschaftlichen Literatur steht zu dieser Feststellung nicht in Widerspruch, da auch der eigene Wirkungskreis nach bereits damals herrschender Auffassung auf gesetzlicher Verleihung beruht (Peters, S. 30) und somit die sei es staatstheoretische, sei es verwaltungswissenschaftlich fundierte Einbeziehung der Selbstverwaltung in den Bereich der staatlichen Aufgaben nicht in Frage stellt (in diesem Sinne auch Forsthoff, Anm. 2, S. 7). 28 Der Aufbau der Kohlenwirtschaft, S. 32. 29 Köttgen, Die rechtsfähige Verwaltungseinheit, VerwArch. 44 (1939), S. 20 und Werner Weber, Die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, S. 69, die den Begriff der mittelbaren Staatsverwaltung populär gemacht haben, betonen beide die Vorreiterfunktion von T. Simons. 30 Sie war den zeitgenössischen Autoren durchaus bewußt; so hebt etwa Werner Weber (Anm. 29), S. 21 hervor, daß der Marsch in den totalen Verwaltungsstaat und damit die Verstaatlichimg der Selbstverwaltung bereits zwischen 1930 und 1933 in vollem Gange war. 31 Besonders hervorgehoben von Forsthoff (Anm. 2), S. 27, 111, 180 ff. 32 Dazu Peters (Anm. 19), S. 21 - 26, 39 - 44.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

von verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Betrachtungsweise 33 , daß es ihr nicht in den Sinn kam, aus verwaltungswissenschaftlichen Erkenntnissen - etwa dem funktionell-staatlichen Charakter auch des „eigenen Wirkungskreises" der Selbstverwaltung - verfassungsrechtliche Schlußfolgerungen zu ziehen 34 ; und in der Tat bestand hierzu um so weniger Anlaß, als bis zur Entdeckung der institutionellen Garantien der verwaltungsrechtliche Status quo ohnehin zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stand. e) Ergebnis Der Begriff der Staatsgewalt hat in der Frage der Bindung der Selbstverwaltung an die staatliche Legitimationsordnung während der Weimarer Republik keine Bedeutung erlangt. Soweit das Problem überhaupt diskutiert wurde - in nennenswertem Umfang geschah dies nur in den Beratungen der Nationalversammlung - ist eine Tendenz zur Freistellung der funktionalen Selbstverwaltung vom demokratischen Prinzip zu verzeichnen. Ursächlich hierfür war jedoch vor allem das nicht zuletzt föderativ motivierte Bestreben, eindeutige Festlegungen der Reichsverfassung in Sachen Selbstverwaltung zu vermeiden; einer Abkoppelung der Selbstverwaltung vom Staat sollte hingegen nicht der Weg bereitet werden.

II. Das Verhältnis von Staatsgewalt und Selbstverwaltung in den Beratungen des Parlamentarischen Rats Begriff und Bereich der Staatsgewalt haben in den Beratungen zu den „Selbstverwaltungsartikeln" des Grundgesetzes keine Rolle gespielt; das Verhältnis von Staat und funktionaler Selbstverwaltung wurde lediglich in den Beratungen zu Art. 116 des Herrenchiemseer Entwurfs, dem nachmaligen Art. 87, angesprochen 35. Auch dabei allerdings gelangte man nicht über die vage Erkenntnis hinaus, alle Träger öffentlicher Verwaltung müßten entweder dem Bund oder einem Land verantwortlich sein und der parlamentarischen Kontrolle unterliegen 36 . Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Forderung nach einer - legitimationsvermittelnden - Abhängigkeit der unter Art. 87 GG fallenden Institutionen vom Staat die Vorstellung wider33

Paradigmatisch O. Mayers berühmtes Vorwort zur Ί924 erschienenen dritten Auflage seines „Deutschen Verwaltungsrechts": „Groß Neues ist ja seit 1914 und 1917 nicht nachzutragen, Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht; dies hat man anderwärts schon längst beobachtet. Wir haben hier nur die Anknüpfungspunkte entsprechend zu berichtigen". 34 Hierzu sowie zum folgenden beispielhaft Peters (Anm. 19), S. 21 - 26, 30 - 33 und 39 - 44. 35 Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 194 - 198. 36 Abgeordnete von Brentano und Seebohm (Verhandlungen S. 196 f.).

7. Kap.: Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip - Rückblick

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spiegelt, auch sie übten Staatsgewalt aus 37 und bedürften mithin einer demokratischen Legitimation. Indessen erscheint es doch etwas verwegen, den verfassungsrechtlich ziemlich wolkigen Bemerkungen des Parlamentarischen Rats einen derart präzisen dogmatischen Gehalt zu unterlegen. Allein auf die Entstehungsgeschichte des Art. 87 GG läßt sich mithin die These, auch die funktionale Selbstverwaltung übe Staatsgewalt aus, nicht stützen. Wenig aufschlußreich für die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung ist auch die Entstehungsgeschichte des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG. Ebenso wie bereits die Weimarer Nationalversammlung bei der Beratung des Art. 1 Abs. 2 RV hat sich der Parlamentarische Rat 3 8 vor allem mit den bundesstaatlichen Problemen der grundgesetzlichen Verankerung des demokratischen Prinzips beschäftigt 39 , nicht jedoch dessen Anwendbarkeit auf die Selbstverwaltung diskutiert. Immerhin bestand Einigkeit darüber, daß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 die Volkssouveränität garantieren sollte 40 . Der Abgeordnete Schmid skizzierte deren grundgesetzliche Gestalt dahingehend, daß sie als „suprema potestas" oder „plentitudo potestatis" zu verstehen sei; sie habe zum Inhalt, „daß das ganze Leben des Staates von dem Fundamentalsatz durchdrungen sei, daß das Volk Träger aller Gewalt ist" 4 1 . Diese extensive Deutung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG meint mit „Staat" wohl das politische Gemeinwesen und nicht nur die juristische Staatsperson. Von daher läge es in ihrer Konsequenz, auch das Wirken der Selbstverwaltung dem Prinzip der Legitimation durch das Volk zu unterstellen, es mithin als Ausübung von Staatsgewalt anzusehen. Indessen ist das genetische Material auch hier zu dürftig, um eindeutige und sichere Aussagen zu ermöglichen. Aufschlußreicher ist die Entstehungsgeschichte des Art. 30 GG 4 2 . Sein Weimarer Vorgänger, Art. 5 RV, verwendete statt der Formulierung „staatliche Aufgaben und Befugnisse" den Begriff der Staatsgewalt. Indessen 37 Zumal der Abg. Seebohm - unwidersprochen - die Auffassung vertrat, die Einrichtungen des Art. 87 seien „staatliche Stellen", die „staatliche Aufgaben" erfüllten (Verhandlungen, S. 196). 38 Zum Gang und zum Inhalt der Beratungen Verhandlungen, S. 46 f.; Doemming/ Füsslein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR, NF 1 (1951), S. 195 - 202; v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Kommentierung zu Art. 20. 39 Dazu v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Anm. V 4 zu Art. 20. 40 Dies betont der Abg. Schmid in der 11. und der 20. Sitzung des Grundsatzausschusses, JöR 1951, S. 196, 198 f.; zustimmend v. Mangoldt (Anm. 38), Anm. 1 und 3 zu Art. 20. 41 11. Sitzung des Grundsatzausschusses, JöR 1951, S. 196. Soweit an den Ausführungen Carlo Schmids K r i t i k geübt wurde, richtete diese sich gegen seine säkulare Grundeinstellung; der Wunsch der CDU, den göttlichen Ursprung der Staatsgewalt zu akzentuieren (Abg. v. Mangoldt in der 11. Sitzung des Grundsatzausschusses, JöR 1951, S. 196) fand jedoch keine Berücksichtigung. 42 Dazu JöR 1951, S. 295 - 298; v. Mangoldt (Anm. 38), Kommentierung zu Art. 30.

15 Emde

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

wollte der Parlamentarische Rat durch die Veränderung der sprachlichen Fassung keinen Unterschied hinsichtlich des Geltungsbereichs begründen. Es herrschte Einigkeit darüber, daß Art. 30 GG ebenso wie schon Art. 5 RV die Abgrenzung des gesamten Funktionsbereichs von Bund und Ländern zum Gegenstand haben sollte. Das erhellt sowohl aus dem vom Zuständigkeitsausschuß gebilligten Formulierungs vor schlag des Herrenchiemseer Konvents, dessen Satz 2 dies ausdrücklich darlegte 43 , als auch aus dem von einer breiten Minderheit unterstützten Antrag der Abgeordneten Seebohm und Kaufmann, Art. 30 den Wortlaut zu geben, „Alle Rechte, die nicht durch das Grundgesetz dem Bunde übertragen sind, verbleiben den Ländern" oder diesen Satz dem jetzigen Art. 30 vor anzustellen 44 . Die Entscheidung des Hauptausschusses gegen diese Vorschläge und für die jetzige Fassung war vornehmlich redaktionell bedingt 45 , sie verfolgte nicht die Absicht, den Geltungsbereich der Bestimmung restriktiver zu fassen. Der Parlamentarische Rat ging mithin von einem Begriff der staatlichen Aufgaben und Befugnisse aus, dem nicht mehr das verengte Bild des Eingriffsstaates zugrunde lag, sondern der auch die Leistungsverwaltung 46 sowie die Selbstverwaltung 47 umfaßte. Der Verzicht auf ihre ausdrückliche Erwähnung im endgültigen Text ist ausweislich der Beratungen kein Votum gegen ihre Qualifizierung als Träger staatlicher Aufgaben und Befugnisse, sondern entsprang - wie überhaupt die Überarbeitung des Art. 30 Herrenchiemseer Entwurfs - dem Bestreben nach sprachlicher Vereinfachung. Erfüllen demnach auch die Selbstverwaltungen „staatliche Aufgaben und Befugnisse", so ist es um so bemerkenswerter, daß sowohl die Vertreter der CDU 4 8 als auch die der SPD 4 9 die Auffassung vertraten, die Formulierung sei nichts anderes als eine Umschreibung des Begriffs der Staatsgewalt. Daß ein entsprechender An43 Art. 30 HchE: „Soweit nicht dieses Grundgesetz die Zuweisung an den Bund anordnet oder zuläßt, sind die staatlichen Befugnisse und Aufgaben Sache der Länder und der in ihnen bestehenden Selbstverwaltungen. Dies gilt insbesondere für die Gesetzgebung, die Verwaltung, die Rechtspflege, die Inanspruchnahme von Einnahmequellen und die Bestreitung öffentlicher Ausgaben". 44 6. Sitzung des Hauptausschusses, Verhandlungen S. 74 f. 45 Vgl. die ablehnenden Stellungnahmen der Abg. Schmid, Katz und Heuss in der 6. Sitzung des Hauptausschusses, Verhandlungen S. 74. 46 Dies geht schon aus Art. 30 HchE hervor, der ausdrücklich von der Bestreitung öffentlicher Ausgaben spricht. Es erhellt auch aus den Stellungnahmen der Abg. Hoch (5. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses, JöR 1951, S. 296), Seebohm (6. Sitzimg des Hauptausschusses, Verhandlungen S. 74) und Laforet (5. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses, JöR 1951, S. 296; 6. Sitzung des Hauptausschusses, Verhandlungen S. 74). Ob Art. 30 auch die Verwaltung i n privatrechtlichen Formen erfassen sollte, ist aus den Beratungen nicht eindeutig ersichtlich. Dagegen v. Mangoldt/Klein (Anm. 39), Anm. I I I 1 b zu Art. 30; offengelassen in BVerfGE 12, 205, 244. 47 So explizit Art. 30 Satz 1 HchE sowie der Abg. Hoch in der 5. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses, JöR 1951, S. 296. 48 Abg. v. Mangoldt in der 48. Sitzung des Hauptausschusses, Verhandlungen S. 626. 49 Abg. Schmid i n der 48. Sitzung des Hauptausschusses, S. 626; Abg. Hoch in der 5. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses, JöR 1951, S. 296.

7. Kap.: Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip - Rückblick

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trag der Abgeordneten Schmid und von Mangoldt - knapp und ohne Begründung - abgelehnt wurde 5 0 , wird man wiederum nicht als Zurückweisung seiner sachlichen Substanz betrachten können 51 , sondern dem angesichts des enormen Entscheidungstempos der 3. Lesung verständlichen Wunsch der Mitglieder des Hauptausschusses zuschreiben müssen, von lediglich stilistisch motivierten Änderungsanträgen verschont zu bleiben. Die Analyse der Entstehungsgeschichte des Art. 30 GG erbringt somit folgenden Befund: 1. Der Begriff der staatlichen Aufgaben und Befugnisse ist extensiv zu interpretieren, er umfaßt den gesamten staatlichen Funktionsbereich. 2. Der Begriff ist synonym mit dem der Staatsgewalt. 3. Träger der staatlichen Aufgaben und Befugnisse - und damit der Staatsgewalt - sind auch die Selbstverwaltungen. Auf dem Boden dieser Feststellungen drängt sich die Schlußfolgerung auf, die funktionale Selbstverwaltung übe Staatsgewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG aus und unterliege daher auch seinen Legitimationsprinzipien. Indessen stehen ihr zwei Einwände entgegen. Zum ersten läßt sich den Beratungen des Art. 30 GG nicht entnehmen, daß alle Selbstverwaltungseinrichtungen notwendigerweise Staatsgewalt ausüben; zumal die Formulierung des Ursprungsentwurfs deutet vielmehr darauf hin, daß Art. 30 GG selbst keine Entscheidung über diese Frage trifft, sondern lediglich ihre bundesstaatlichen Rechtsfolgen regelt 52 : Übt ein Selbstverwaltungsträger staatliche Aufgaben und Befugnisse aus, so handelt es sich dabei um Emanationen der Landesstaatsgewalt, sofern das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt. Zum zweiten ist zu bedenken, daß der Parlamentarische Rat bei seinen Überlegungen zu den Begriffen „staatliche Aufgaben und Befugnisse" sowie „Staatsgewalt" die Rechtsfolgen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG die Zuständigkeitsbereiche von Bund und Ländern festlegen, nicht aber eine Entscheidung über die Bindung der Selbstverwaltung an die staatliche Legitimationsordnung fällen wollte 5 3 . Vor dem Hintergrund der begrenzten Ziele des Art. 30 GG gibt auch die in seinem Kontext durchaus plausible Identifikation von „staatlichen Aufgaben und Befugnissen" und 50

4 8. Sitzung des Hauptausschusses, Verhandlungen, S. 626. Die sachliche Übereinstimmung der Formulierung des Art. 30 mit dem Begriff der Staatsgewalt war bereits bei der Beratung des Art. 20 vom Abg. Seebohm zum Anlaß genommen worden, dort seinen späteren Änderungsantrag zu Art. 30 zu stellen. 52 Auf die rein bundesstaatliche Zwecksetzung des Art. 30 GG weist eindringlich das Minderheitsvotum zum 2. Fernsehurteil hin; BVerfGE 31, 314, 341. 53 Diese beschränkte Zwecksetzung des Art. 30 GG betont auch H. H. Klein, Zum Begriff der öffentlichen Aufgabe, DÒV 1965, S. 758, der es daher ebenfalls für problematisch hält, allein aus dem Vorliegen einer staatlichen Aufgabe i. S. des Art. 30 GG auf deren Bindung an die für den Staat geltenden Verfassungsgebote zu schließen. Konkret geht es Klein um die Grundrechtsbindung und den Vorbehalt des Gesetzes. 51

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III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

„Staatsgewalt" nur ein schwaches Argument für die Erstreckung der Rechtsfolgen des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf die Selbstverwaltung ab. Seine Stoßkraft wird gebrochen durch das Gebot, den Geltungsbereich des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG aus sich selbst heraus zu bestimmen und ihn nicht durch die Hintertür des Art. 30 GG zu erweitern.

. Kapitel

Selbstverwaltung und Staatsgewalt in Wissenschaft und Rechtsprechung Bereits verschiedentlich ist angeklungen, daß das Verhältnis der Selbstverwaltung zum Staat seit ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert stets ein viel beachtetes Standardthema der Staatswissenschaft gewesen ist. Im Vordergrund stand dabei in der Vergangenheit vor allem die Frage nach Existenz, Umfang und Grenzen des Rechts auf Selbstverwaltung bzw. - aus der Perspektive des Staates betrachtet - nach Umfang und Grenzen seiner Bestimmungsmacht über verselbständigte Verwaltungsträger. In jüngster Zeit hat sich der Schwerpunkt des Interesses auf verwaltungswissenschaftliche bzw. organisationstheoretische Probleme verlagert 1 . Welche Funktionen nimmt öffentliche Verwaltung wahr und welche Organisationsstruktur ist welchen Funktionen angemessen, lauten die Fragen der Gegenwart. Die vom demokratischen Prinzip erhobenen verfassungsrechtlichen Forderungen an die Binnenorganisation der Selbstverwaltung sowie an ihre Rechtsstellung gegenüber dem Staat spielen heute nicht anders als früher allenfalls eine Nebenrolle auf der Bühne der Dogmatik. Und auch dort, wo das Problem thematisiert wird, geschieht dies nicht unbedingt unter der Flagge der Subsumtion der Selbstverwaltung unter die Staatsgewalt. Im folgenden sind daher nicht nur die Beiträge zu sichten, die sich explizit zur Bindung der Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip äußern (I.), sondern auch jene, die - in anderer Ansicht verfaßt - damit jedenfalls in sachlichem Zusammenhang stehen. Hierbei sind insbesondere die Dogmatik der mittelbaren Staatsverwaltung (II.) sowie die Diskussion um die öffentlichen und die staatlichen Aufgaben (III.) zu skizzieren. I. Stellungnahmen zur Bindung der funktionalen Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Verhältnis von Staat und Selbstverwaltung hat, wie bereits mehrfach angeklungen ist, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts des 1

Beispielhaft für diese Betrachtungsweise: Wagener (Hrsg.), Verselbständigung von Verwaltungsträgern; Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten.

III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

öfteren eine Rolle gespielt. Nicht wenige dieser Entscheidungen beziehen sich auch auf den Begriff der Staatsgewalt und die Bindung der Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip 2 . Allerdings wird der letztgenannte Aspekt kaum sub specie des Art. 20 Abs. 2 GG thematisiert, häufig sind es Probleme der kommunalen Selbstverwaltung, die dem Gericht Gelegenheit geben, sich zu diesen Zusammenhängen zu äußern; es wendet sich dann Art. 28 GG direkt zu, ohne Art. 20 Abs. 2 GG in seine Betrachtung einzubeziehen3. Auch in jenen Fällen, in denen es um Fragen der Wahlrechtsgleichheit geht, unternimmt das Gericht keinen Rückgriff auf Art. 20 Abs. 2 GG, sondern leitet seine Entscheidungen direkt aus Art. 38 GG bzw. aus Art. 3 Abs. 1 GG ab 4 . Schränken bereits diese Umstände die Verwertbarkeit der gerichtlichen Spruchpraxis für die Verhältnisbestimmung von Staat und funktionaler Selbstverwaltung ein, so wird sie noch zusätzlich in Frage gestellt durch die Tatsache, daß auch jene Entscheidungen, die sich des Begriffs der Staatsgewalt annehmen, dies häufig nicht im Hinblick auf den Kontext von Staatsgewalt und Demokratieprinzip, sondern auf den von Staatsgewalt und grundrechtlichen bzw. rechtsstaatlichen Bindungen tun 5 . Trotz dieser Transferprobleme soll im folgenden die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum Begriff der Staatsgewalt kurz skizziert werden. Schon in der Frühzeit seiner Sprachpraxis entwickelt das Gericht die Grundzüge seiner Konzeption des Verhältnisses von Selbstverwaltung und Staatsgewalt. In seinem Urteil zur hessischen Volksbefragung 6 bezeichnet es die Beschlüsse der Gemeindevertretungen und die in ihrem Vollzug getroffenen Maßnahmen der hessischen Gemeinden betreffs einer gemeindlichen Volksbefragung als Ausübung gemeindlicher Hoheitsmacht. Diese wiederum qualifiziert es als „öffentliche Gewalt, Staatsgewalt im weiteren Sinne". Eine ausdrückliche Bindung der Kommunen an das demokratische Prinzip des Art. 20 GG hat das Verfassungsgericht aus diesen Feststellungen nicht abgeleitet. Hierzu bestand auch kein Anlaß, hatte das Gericht doch lediglich die bundesstaatliche Problematik der Volksbefragungen zu klären. Diesbezüglich nun läßt die Entscheidung keinen Zweifel daran, daß es der Auffassung folgt, die Volksbefragung verstoße gegen die Kompetenz des Bundes in Angelegenheiten der Verteidigung. Dies wiederum ist nur möglich, wenn sie zumindestens Staatsgewalt i. S. des Art. 30 GG ist. 2 Genannt seien hier nur E 8, 122, 132 - 35 (hessische Volksbefragung); E 21, 362, 368 - 370 (Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde einer Landesversicherungsanstalt); E 33, 125, 158 f. (Facharztbeschluß); E 38, 258, 269 - 271 (schleswig-holsteinische Gemeindeordnung); E39, 302, 313 f. (Verfassungsbeschwerde der Allgemeinen Ortskrankenkassen); E47, 253, 271-273 (nordrhein-westfälische Bezirksvertretungen); E 71, 81, 94 (Arbeitnehmerkammerwahlen). 3 Vgl. E 47, 253, 271 - 73. 4 Dazu im einzelnen unten 11. Kap. V I 2. 5 E 21, 362, 368 - 70; 33, 125, 158 f. 6 E 8,122,132 - 35; damit in engem Zusammenhang stehend E 8,104,114 f. (bremisches und hamburgisches Volksbefragungsgesetz).

8. Kap.: Selbstverwaltung i n Wissenschaft und Rechtsprechung

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An den Grundsätzen des Volksbefragungsurteils hat das Gericht auch in seinen späteren Entscheidungen festgehalten 7. Es stellt fest, aus grundrechtlicher Perspektive seien die rechtsfähigen Verwaltungseinheiten „besondere Erscheinungsformen der einheitlichen Staatsgewalt" und bezeichnet die Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse durch die Selbstverwaltungsträger stets als Ausübung von Staatsgewalt (im weiteren Sinne) 8 . Wie weit der Begriff der hoheitlichen Befugnisse reicht, wird allerdings nicht recht deutlich. Während er im 8. Band den Beschluß zur Befragung des Volkes, deren Durchführung und sogar die Teilnahme an ihr umfaßt, mithin recht extensiv interpretiert wird, tendiert die Entscheidung des 1. Senats über die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde einer Landesversicherungsanstalt 9 zu einem eher restriktiven, auf Verwaltungsakte und zumal auf Eingriffsmaßnahmen bezogenen Begriff von Hoheitsbefugnissen. Der Zusammenhang zwischen der Qualifizierung von Selbstverwaltungsakten als Maßnahmen der Staatsgewalt und der Bindung ihrer Träger an das demokratische Prinzip hingegen wird nur ansatzweise deutlich. Immerhin hebt der Facharztbeschluß 10 Selbstverwaltung und Autonomie ausdrücklich als Emanationen des demokratischen Prinzips hervor. Aufschlußreicher noch ist das Urteil des 2. Senats zur Übereinstimmung der schleswig-holsteinischen Gemeindeordnung mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 der Landessatzung von Schleswig-Holstein 11 . Unter Hinweis auf das Volksbefragungsurteil betont das Gericht in dieser Entscheidung erneut, hoheitliche Maßnahmen der Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts seien Ausfluß von öffentlicher Gewalt, „Staatsgewalt im weiteren Sinne und damit Gewalt i. S. von Art. 2 Abs. 1 der Landessatzung, die vom Volk ausgehen muß". Allerdings ist Gegenstand des Urteils lediglich die schleswig-holsteinische Landesverfassung, nicht hingegen das Grundgesetz. Art. 2 Abs. 1 und 2 der Landessatzung stimmen jedoch sachlich überein mit Art. 20 Abs. 2 GG. Es ist daher nur folgerichtig, wenn das Verfassungsgericht im Rahmen der Auslegung des Art. 2 Landessatzung auf seine Ausführungen zum Begriff der Staatsgewalt i. S. des Grundgesetzes rekurriert. Die Identität der verfassungsgesetzlichen Regelungen macht es aber nicht nur möglich, die verfassungsgerichtliche Judikatur zum Begriff der Staatsgewalt auf die Landessatzung zu übertragen, sondern gebietet es ebenso, im Gegenzug die für die Landes7 Siehe die in Anm. 2 genannten Nachweise. I n E 3 8 , 258, 269-271 verweist das Gericht ausdrücklich auf seine Entscheidung zur hess. Volksbefragung. 8 E 21, 362, 368 - 70 sowie E 39, 302, 313 f. Betont sei, daß das Gericht in beiden Entscheidungen die Sozialversicherungseinrichtungen als Träger mittelbarer Staatsverwaltung bezeichnete. Zumindest in diesen Entscheidungen gehen also die Qualifikation als mittelbarer Staatsverwaltung und die Ausübung von Staatsgewalt Hand in Hand. 9 E 21, 362, 368. 10 E 33, 125, 158 f. 11 E 38, 258, 269 - 71.

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III. Teil: Staatsgewalt, Selbstverwaltung und demokratisches Prinzip

Satzung getroffenen Schlußfolgerungen auf das Grundgesetz anzuwenden. Nicht nur Art. 2 der Landessatzung, sondern auch Art. 20 Abs. 2 GG fordert demnach eine demokratische Legitimation der Selbstverwaltungsorgane. Quelle der demokratischen Legitimation der Gemeindegewalt ist dem Verfassungsgericht zufolge die „Gesamtheit der Bürger der Gemeinde als (das) Volk, von dem alle Gewalt ausgeht". Ob auch diese, auf Art. 2 Abs. 1 und 2 LS gemünzte Feststellung auf Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG übertragbar ist - dann wären nicht nur das Staatsvolk, sondern auch die aus den Mitgliedern von Selbstverwaltungsträgern bestehenden „Teilvölker" unter den Begriff des „Volks" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG zu subsumieren - , beantwortet das Urteil ebensowenig wie die Frage, ob damit das Staatsvolk als Legitimationsquelle ausscheidet oder ob insoweit lediglich das Gemeindevolk hinzutritt. Aufmerksamkeit verdient weiterhin auch die Entscheidung des Gerichts zum verfassungsrechtlichen Status der nordrhein-westfälischen Bezirksvertretungen 12 . Zwar wird dort die Bindung der Gemeinden an das demokratische Prinzip ausschließlich aus Art. 28 GG hergeleitet, das trägt jedoch lediglich der begrenzten bundesstaatlichen Reichweite des Art. 20 GG Rechnung, es bedeutet weder, daß die Träger der funktionalen Selbstverwaltung nicht Staatsgewalt ausüben 13 , noch, daß nur Art. 28 GG die Selbstverwaltung an das demokratische Prinzip bindet. Art. 20 Abs. 2 GG als Maßstabsnorm für die bundesgesetzlich eingerichteten Selbstverwaltungsträger sowie die entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen für die landesgesetzlich eingerichteten Selbstverwaltungsträger bleiben von der Entscheidung im 47. Band unberührt. Schließlich verdient der erst unlängst ergangene Beschluß des Ersten Senats zum anwaltlichen Standesrecht Beachtung 14 . Das Gericht stützt in dieser Entscheidung seine These vom fehlenden Normcharakter der anwaltlichen Standesrichtlinien unter anderem auf das Argument, Normsetzungsbefugnisse der Bundesrechtsanwaltskammer ließen sich „auch schwerlich damit vereinbaren, daß die Bundesrechtsanwaltskammer als Verbandskörperschaft nicht von den Berufsangehörigen als Mitgliedern, sondern von den Regionalkammern gebildet und daß diese ihrerseits lediglich von ihren Präsidenten ohne Rücksicht auf die Mitgliederstärke vertreten werden" 1 5 . Wenn auch nicht auf den verfassungsrechtlichen Begriff gebracht, so doch in der Sache unmißverständlich ist damit die Qualität des demokratischen Prinzips als Prägestock für die Binnenverfassung der funktionalen Selbst12 E 47, 252, 271 - 73. 13 Im Gegenteil, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf E38, 258, 271 betont das Gericht, die Gemeinden seien Träger von Staatsgewalt (S. 252, 271 f.) 14 NJW 1988, S. 191 ff.; siehe hierzu auch Kleine-Cosack, Verfassungswidriges Standesrecht, NJW 1988, S. 164 ff. is Ebd., S. 192.

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Verwaltung ausgesprochen worden - ein Entscheidungsgehalt, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Eine kritische Würdigung der Rechtsprechung des Gerichts hat vor allem folgende Punkte ins Visier zu nehmen: - den Begriff der hoheitlichen Maßnahmen - die Unterscheidung zwischen Staatsgewalt und Staatsgewalt im weiteren Sinne. Damit im Zusammenhang stehend: - den Gehalt des Begriffs „demokratische Legitimation". Das Gericht stellt zwar klar, daß jedenfalls Eingriffsmaßnahmen und wohl überhaupt Verwaltungsakte hoheitliche Maßnahmen im Sinne seiner Dogmatik sind, ob der Begriff sich aber hierauf beschränkt und, falls nein, welche anderen Aktivitäten der Selbstverwaltungsträger ihm dann unterfallen, wird nicht deutlich. Die Frage, ob die funktionale Selbstverwaltung Staatsgewalt ausübt, kann daher anhand der Kriterien des Verfassungsgerichts nur teilweise beantwortet werden. Probleme wirft auch die in steter Regelmäßigkeit wiederholte Feststellung des Gerichts auf, die Selbstverwaltung übe Staatsgewalt „ i m weiteren Sinne" aus. Die beharrliche Betonung dieses einschränkenden Zusatzes 16 läßt es kaum zu, ihn kurzerhand als unbeachtliche salvatorische Klausel abzutun. Soll er aber spezifische Rechtsfolgen auslösen, so kann deren Besonderheit im Unterschied zu den Rechtsfolgen des Begriffs der Staatsgewalt im engeren Sinne wohl nur in einer Aufweichung der Legitimationsmaßstäbe liegen. In der Tat deutet hierauf manches in der Rechtsprechung des Gerichts hin. Doch das wird im 4. Teil im einzelnen darzulegen sein. An dieser Stelle ist lediglich von Bedeutung, daß das Gericht keinerlei Nachweis dafür erbringt, daß das Grundgesetz zwischen Staatsgewalt und Staatsgewalt im weiteren Sinne unterscheidet. 2. Herzog

Einen aktuellen Beitrag zum Geltungsbereich des demokratischen Prinzips liefert Herzog in seiner 1978 erschienenen Kommentierung zu Art. 20 GG 1 7 . Er vertritt die Auffassung, das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG betreffe ausschließlich die Staatsverfassungen des Bundes und der Länder; „auf andere Glieder der öffentlichen Organisation bezieht er (der Art. 20 - Erl. vom Verf.) sich nur insoweit, als auch sie 16 Er fehlt allerdings in E 47, 252, 271 ff. sowie in E 21, 362, 370. In der letztgenannten Entscheidung qualifiziert das Gericht die Sozialversicherungsträger schlicht als „besondere Erscheinungsformen der einheitlichen Staatsgewalt" (vgl. Anm. 8) und identifiziert diese mit dem Begriff der öffentlichen Gewalt. 17 In: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, II, Rdnr. 56 - 58, 98 - 102.

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prinzipiell entweder zur Bundes- oder zur Landesorganisation zu rechnen sind" 1 8 . Wann dies der Fall ist, legt Herzog nicht dar; allerdings deutet manches darauf hin, daß er den Geltungsbereich des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auch auf die Selbstverwaltung erstrecken will. So ist er der Auffassung, das demokratische Prinzip des Art. 20 GG habe konstitutive Bedeutung auch für die Länder und die kommunale Selbstverwaltung, vor allem aber betont er, die Körperschaften des öffentlichen Rechts seien „Teilvölker", die Quellen demokratischer Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 bildeten 19 . Auf der anderen Seite gibt nicht nur die Hervorhebung der kommunalen und der berufsständischen Selbstverwaltung als möglicher Quellen demokratischer Legitimation 2 0 Anlaß zu der Vermutung, nicht alle Träger öffentlicher Verwaltung seien Adressaten des Art. 20 GG. Stärker noch w i r d sie vielmehr gestützt durch Herzogs implizit getroffene Feststellung, durchaus nicht alle „Glieder der öffentlichen Organisation" seien Bestandteil der Bundes- oder der Landesorganisation 21 . Wie diese tendenziell gegenläufigen Argumentationslinien miteinander in Einklang zu bringen sind, w i r d aus Herzogs Darlegungen nicht deutlich. Doch dieser unaufgelöste Widerspruch mag hier dahinstehen. Herzogs Ausführungen zum Platz der funktionalen Selbstverwaltung im Regelungsgefüge des Art. 20 GG vermögen schon deshalb keinen Aufschluß darüber zu geben, welche ihrer Träger Staatsgewalt ausüben und infolgedessen dem demokratischen Prinzip im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG unterliegen, weil er es versäumt, Kriterien für ihre Zurechenbarkeit zur Staatsorganisation zu entwickeln. Es bleibt daher offen, ob die BA, die Sozialversicherungsträger und die Kammern dem Geltungsbereich des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG unterfallen. 3. Herbert Krüger

Anders als für die meisten Autoren der Gegenwart hat für Herbert Krüger der Begriff der Staatsgewalt zentrale Bedeutung. Er widmet seiner Entfaltung das gesamte 4. Buch seiner Staatslehre 22 . Themenstellung und Charakter des Werks entsprechend, liegt der Schwerpunkt der Ausführungen jedoch nicht auf einer konkreten Verfassungsexegese, sondern in der Gedankenwelt der Staatstheorie und -philosophie. Auf dieser Ebene entwickelt Krüger den Begriff der Staatsgewalt sowie ihre Existenzbedingungen und ihre Wirkungsweise. 18 19 20 21 22

Ebd., Rdnr. 102. Ebd., Rdnr. 56 - 58, 98 - 102. Ebd., Rdnr. 56. Ebd., Rdnr. 102. Allgemeine Staatslehre, S. 820 ff.

8. Kap.: Selbstverwaltung in Wissenschaft und R e c h t s p r e c h u n g 2 3 5

Hinsichtlich des Verhältnisses von Selbstverwaltung und Staatsgewalt gelangt Krüger auf dem Boden einer ausgesprochen etatistischen Staatstheorie zu der Einsicht, der Staat könne den monistischen Idealtyp von Einheitsstruktur, dem er bisher gehuldigt habe, wohl nicht behaupten 23 und werde seine Einheit nicht mehr in der monistischen, sondern in der pluralistischen Variante demokratischer Willensbildung zu bewirken haben 24 . Diese Tendenzwende nimmt Krüger auch im Grundgesetz angesichts seines Bekenntnisses zu Föderalismus und Selbstverwaltung wahr 2 5 ; sie stellt ihn vor die Aufgabe, die „neue" Verfassungslage mit seinen etatistischen Grundüberzeugungen zu harmonisieren. Das gelingt ihm, indem er die Selbstverwaltung in vielfältiger Weise dem Regime des Staates unterwirft 2 6 . Wie bereits die traditionelle Staatslehre, so betont auch Krüger, die öffentliche Gewalt der Selbstverwaltung sei nicht ursprünglich, sondern rühre vom Staat her, sei abgeleitete Staatsgewalt 27 . Aus dieser Rechtsnatur folgert er verschiedene Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Ausstattung von Selbstverwaltungsträgern mit staatlicher Gewalt 28 . Wie ihr „Muttergemeinwesen", der Staat selbst, unterliegen diese der Bindung an das Gemeinwohl, daneben müssen sie mit ihm strukturell homogen sein - w i l l sagen, den gleichen Wert- und Verfassungsentscheidungen folgen, etwa: demokratisch organisiert sein, wenn er sich als Demokratie versteht - , und schließlich dürfen sie die staatliche Souveränität nicht gefährden. Letzteres w i r d sichergestellt durch die Staatsaufsicht über die Selbstverwaltungsträger, die für die „Richtigkeit der Innehabung und Ausübung der Delegiertengewalt Sorge zu tragen hat". A l l dies läßt sich unter das Stichwort „Domestizierung der Selbstverwaltung" subsumieren und erhellt, daß Krüger ihr zwar einen inhaltlichen Entscheidungsspielraum belassen, sie aber strukturell der Staatsorganisation gleichschalten und funktionell in diese einbetten will. Die Transformation dieses Konzepts von der staatstheoretischen auf die verfassungsrechtliche Ebene hätte die Erstreckung der Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf die Selbstverwaltung zur wohl logischen Konsequenz. Indessen, Krüger zieht sie nicht. Er bleibt seinem Gegenstand, der allgemeinen Staatslehre, treu und gibt seine Überlegungen nicht als Ergebnisse einer Exegese des Grundgesetzes aus. Begründet schon das Zweifel an der Verwertbarkeit von Krügers Begriff der Staatsgewalt für die Interpretation des 23

Der Bundeswirtschaftsrat in verfassungspolitischer Sicht, DÖV 1952, S. 554. Staatsverfassung und Wirtschaftsverfassung, in: Hecker/Krakau/Oppermann (Hrsg.), Staat-Wirtschaft-Völkergemeinschaft, S. 77. 25 Ebd. 2