Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft?: Normative Grundlagen legitimer Herrschaft in einer globalen politischen Ordnung 9783110214116, 9783110214109

This study investigates the conditions of legitimate rule and argues that legitimacy can only be realized in a tiered gl

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Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft?: Normative Grundlagen legitimer Herrschaft in einer globalen politischen Ordnung
 9783110214116, 9783110214109

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Teil 1 Grundlagen einer philosophischen Theorie legitimer Herrschaft
1. Warum überhaupt Herrschaft? Zur Möglichkeit und Notwendigkeit von Herrschaft zwischen Macht und Politik
2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I: Gerechtigkeitstheoretische Begründungen der Legitimität und ihre Schwierigkeiten
3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II: Republikanische Begründungen von Legitimität auf der Basis politischer Freiheit und ihre Schwierigkeiten
4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III: Legitimität durch „Nicht-Beherrschung“
Teil 2 Herrschaft, Legitimität und Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft
5. Modelle globaler Ordnung und Integration diesseits von legitimer republikanischer Herrschaft
6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten und zwischen ihnen
7. Transnationale Demokratie und legitime Herrschaft
Backmatter

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Andreas Niederberger Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft?



Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Andreas Niederberger

Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft? Normative Grundlagen legitimer Herrschaft in einer globalen politischen Ordnung

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-021410-9 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: ⫹malsy, Willich Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Danksagung Das vorliegende Buch geht auf eine Habilitationsschrift zurück, die im April 2008 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Ein solch umfangreiches Buch hätte ich nicht schreiben können, wenn es nicht die – vor allem für die Politische Philosophie – hervorragenden Arbeitszusammenhänge an der Goethe-Universität sowie an der Northwestern University in Evanston/USA gegeben hätte. Mein erster Dank geht daher an diese Universitäten sowie an den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der meinen zweijährigen Aufenthalt an der Northwestern University im Rahmen seines Nordamerika Dozenten-Programms mitgefördert hat. Während der Arbeit an dem Buch hatte ich Gelegenheit, einzelne Teile und Überlegungen desselben in Vorträgen vorzustellen bzw. mit Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden an vielen Orten zu diskutieren. Für Anregungen und Kritiken in diesen Gesprächen danke ich insbesondere Jens Badura, James Bohman, Hauke Brunkhorst, Allen Buchanan, Kirstin Bunge, Robin Celikates, Francis Cheneval, Rainer Forst, Eva Gedö, Stefan Gosepath, Jürgen Habermas, Bonnie Honig, Axel Honneth, Christoph Horn, David Ingram, Dietmar Köveker, Regina Kreide, Cristina Lafont, Vanessa Lemm, Barbara Merker, Lukas Meyer, Corinna Mieth, Jason Murphy, Peter Niesen, Martha Nussbaum, Philip Pettit, Bill Rehg, Lars Rensmann, Galya Ruffer, Martin Saar, Thomas M. Schmidt, Rainer Schmalz-Bruns, Tibor Schwendtner, Jeff Seitzer, Anselm Spindler, Miguel Vatter, Andreas Wagner, Marcus Willaschek und Ruth Zimmerling. Es hat mich sehr gefreut, dass Wilfried Hinsch und Lutz Wingert dieses Buch in ihre Reihe Ideen & Argumente aufgenommen haben, die sicherlich im deutschsprachigen Raum derzeit eine der

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Danksagung

wichtigsten und innovativsten Reihen im Bereich der Politischen Philosophie ist. Ich danke daher den beiden Reihenherausgebern für diese Aufnahme und Gertrud Grünkorn sowie Claudia Hill vom Verlag Walter de Gruyter für die Betreuung bei der Fertigstellung der Publikation. Die Überlegungen und Thesen, die in diesem Buch entwickelt werden, reflektieren in vielen Hinsichten das Gespräch mit Matthias Lutz-Bachmann und Philipp Schink, mit denen ich in den letzten Jahren eng zusammengearbeitet habe und die durch ihre Rückfragen und Hinweise mein eigenes Argumentieren nachhaltig geprägt haben. Ohne den ständigen intellektuellen Austauch mit ihnen und die z.T. handfeste praktische Unterstützung hätte dieses Buch nicht die Form angenommen und annehmen können, die es nun hat. Anstelle vieler zusätzlicher Fußnoten, die es hätte geben können, um die Genese von Gedanken in unseren Diskussionen nachzuzeichnen, möchte ich Matthias Lutz-Bachmann und Philipp Schink hier meinen tiefen Dank für diese andauernde Kooperation aussprechen. Schließlich schulde ich den größten Dank meiner Frau Miriam Pahlsmeier, deren Unterstützung in allen Belangen die wichtigste Voraussetzung für meine philosophische Arbeit ist. Gewidmet ist das Buch unseren Kindern Anouk und Christoph, die parallel zu diesem Buch das Licht der Welt erblickt haben. Andreas Niederberger Frankfurt am Main, Juli 2009

Inhalt TEIL 1 GRUNDLAGEN EINER PHILOSOPHISCHEN THEORIE LEGITIMER HERRSCHAFT 1. Warum überhaupt Herrschaft? Zur Möglichkeit und Notwendigkeit von Herrschaft zwischen Macht und Politik ......................................................................................

3 1.1 Macht und Herrschaft ............................................................ 14 1.2 Die erste Bedingung legitimer Herrschaft: Normsetzung, Normanwendung und die Aufnahme des Handlungskontextes .............................................................. 24 1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft: Herrschaft an der Stelle der Macht .......................................................... 28 1.4 Die dritte Bedingung legitimer Herrschaft: Das Verhältnis von Normierungsverfahren und Normenumsetzung ................................................................ 42

2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I: Gerechtigkeitstheoretische Begründungen der Legitimität und ihre Schwierigkeiten ................................. 2.1 Zur allgemeinen Charakterisierung von Gerechtigkeitstheorien zwischen Moral, Politik und Legitimität ............. 2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien und ihre Konzeption politischer Legitimität ..................................... 2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien und ihre Konzeption politischer Legitimität ............................. 2.4 Gerechtigkeit und legitime Herrschaft – Eine Zwischenbilanz .......................................................................

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Inhaltsverzeichnis

3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II: Republikanische Begründungen von Legitimität auf der Basis politischer Freiheit und ihre Schwierigkeiten ......... 95 3.1 Legitimität durch die Ermöglichung politischer Existenzweisen ....................................................................... 3.2 Legitimität durch Volkssouveränität .................................... 3.2.1 Herrschaft und Souveränität ........................................... 3.2.2 Freiheit und Selbstgesetzgebung ..................................... 3.2.3 Von der Souveränität zur Volkssouveränität ................ 3.2.4 Die Volkssouveränitätstheorie und ihre Schwierigkeiten ..................................................................

98 121 123 128 152 158

4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III: Legitimität durch „Nicht-Beherrschung“ ......................... 169 4.1 Zur sozialen Dimension von Handlungsintentionen ........ 4.2 Freiheit zwischen positiver Ausübung und negativer Absicherung ............................................................................ 4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium .. 4.3.1 Drei Kriterien für Beherrschung ..................................... 4.3.2 Nicht-Beherrschung und Nicht-Willkürlichkeit ........... 4.3.3 Nicht-Beherrschung und die positive Ausübung von Freiheit ................................................................................ 4.3.4 Nicht-Beherrschung und die negative Absicherung von Freiheit ........................................................................ 4.4 Nicht-Beherrschung und demokratische Rechtsstaatlichkeit .................................................................. 4.4.1 Rechtsförmigkeit ............................................................... 4.4.2 Gewaltenteilung ................................................................. 4.4.3 Verwaltungsrechtliche Kontrolle .................................... 4.5 Legitimität durch einen Republikanismus der NichtBeherrschung ..........................................................................

172 180 191 192 198 205 221 231 232 239 258 260

Inhaltsverzeichnis

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TEIL 2 HERRSCHAFT, LEGITIMITÄT UND DEMOKRATIE UNTER BEDINGUNGEN DER WELTGESELLSCHAFT 5. Modelle globaler Ordnung und Integration diesseits von legitimer republikanischer Herrschaft ....................... 269 5.1 Der internationale Raum und Sicherheit, Freiheit und (negativer) Frieden ................................................................. 5.1.1 Wider die Möglichkeit transnationaler Herrschaft ....... 5.1.2 Wider die Wünschbarkeit transnationaler Herrschaft . 5.2 Internationale Gerechtigkeit und (positiver) Frieden ........ 5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie und die Schwierigkeiten von (legitimer) Herrschaft unter Bedingungen globalisierter Ökonomie ........................................................

273 277 291 296

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten und zwischen ihnen ...................................................................... 323 6.1 Legitimität durch Dezentralität: Modelle marktförmiger, systemisch-ökonomischer oder zivilgesellschaftlicher Integration ............................................................................... 6.2 Legitimität durch die Autonomie des (Völker- oder internationalen) Rechts .......................................................... 6.3 Legitimität durch demokratische bzw. republikanische Global- oder Weltstaatlichkeit ............................................. 6.3.1 Modelle einer globalen Konföderation .......................... 6.3.2 Zentralstaatliche Modelle des Weltstaats ....................... 6.3.3 Föderale Modelle von Weltstaatlichkeit .........................

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7. Transnationale Demokratie und legitime Herrschaft ..... 405 7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie: Zwischen Subsidiarität und Inklusion ................................................... 409 7.1.1 Drei Grundformen beherrschender Effekte zwischen Zusammenhängen ............................................................. 416 7.1.2 Eine Heterarchie asymmetrischer Zusammenhänge ... 426

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Inhaltsverzeichnis

7.1.3 Beherrschende Effekte in der Heterarchie asymmetrischer Zusammenhänge ................................... 7.1.4 Transnationale Demokratie und soziale Gerechtigkeit 7.2 Elemente und Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit .................................................................. 7.2.1 Netzwerkstruktur und Netzwerkelemente .................... 7.2.2 Eine nicht-beherrschende globale Garantie von Nicht-Beherrschung ......................................................... 7.2.3 Globale Instanzen und Befähigung ................................ 7.2.4 Stabilität und Wandel in der transnationalen Demokratie ........................................................................ 7.3 Transnationale Demokratie und republikanische Theorie legitimer Herrschaft ...............................................................

447 454 460 461 466 472 478 482

Bibliographie ............................................................................. 487 Personenregister ....................................................................... 519

Teil 1 Grundlagen einer philosophischen Theorie legitimer Herrschaft

1. Warum überhaupt Herrschaft? Zur Möglichkeit und Notwendigkeit von Herrschaft zwischen Macht und Politik Vor wenigen Jahren schien Europa auf dem Weg zu sein, den Kern und das Modell legitimer Herrschaft weltweit zu bilden. In der Form einer Demokratie, die die Nationalstaaten überschreitet, sollte, wenn man der Präambel des Verfassungsentwurfs Glauben schenkt,1 eine transnationale Ordnung gestiftet werden, die dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet ist. Diese Ordnung beanspruchte, auf drängende Probleme zu reagieren, die die überkommenen Strukturen nicht mehr zu lösen vermögen, und zugleich zu gewährleisten, dass die von den Nationalstaaten gewährten Individualrechte weiterbestehen und deren Befriedung gesellschaftlicher Verhältnisse fortgeführt wird. Nimmt man hinzu, dass dieser Entwurf aus einem transnationalen Verfassungskonvent, also einer „demokratischen Urszene“ hervorgegangen ist, dann sieht es so aus, als wäre der europäische Integrationsprozess zumindest einen Moment lang der Verwirklichung kosmopolitischer philosophischer Überlegungen nahe gekommen.

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„In der Überzeugung, dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will, (...) In der Gewissheit, dass Europa, „in Vielfalt geeint“, ihnen die besten Möglichkeiten bietet, unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und im Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde dieses große Abenteuer fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann (...)“ Präambel des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

Die Ablehnung des Entwurfs in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden kann in dieser Deutung nicht mehr sein als ein Missverständnis derjenigen, die gegen ihn gestimmt haben, bzw. ein letzter Akt des Widerstands von „ewig Gestrigen“. Offensichtlich ist die Situation nicht so einfach, denn hinter der europäischen Integration stehen auch Interessen, die bestehende Machtverteilungen zu verstetigen beabsichtigen, und es werden mit ihr politische und ökonomische Ziele verfolgt, die sich in den Einzelstaaten nicht in dieser Weise und Geschwindigkeit durchsetzen ließen (Niederberger 2005b). In vielen Teilen der Welt wird sie nicht als ausdehnbares und ausdehnungswürdiges Modell begriffen, sondern als Projekt gesehen, europäische Hegemonie zu erhalten oder wieder zu erringen, sei es gegen die Hegemonie der USA oder internationaler Organisationen oder im Verbund mit ihr (Niederberger 2006b). Und insgesamt ist es angesichts der globalen Probleme neuer und alter Kriege, von Klimawandel und anderen Umweltkatastrophen, Armut und Ausbeutung sowie allgemein einer ökonomischen Entwicklung, für die politische Eingriffe – bei aller Bedeutung derselben in Krisen – oft weitgehend irrelevant sind, fragwürdig, welchen Unterschied das Bestehen einer transnationalen Organisation wie der EU in der Welt macht. Es gibt also eine Spannung, wenn nicht sogar einen Widerspruch zwischen dem Eindruck, realhistorische Fortschritte identifizieren zu können, und der (selbst-)kritischen Einschätzung, dass der vermeintliche Fortschritt nicht mehr als die jüngste List von Akteuren ist, die sich dem gewünschten Fortschritt gerade entgegenstellen. Für die politische Philosophie legt dies nahe, sich auf Fragen zu konzentrieren, die sich diesseits oder jenseits der zeitdiagnostischen und z.T. deskriptiven Probleme stellen, und es anderen Disziplinen zu überlassen, historische Tendenzen in Verbindung mit normativen Überlegungen zu bringen. Ein solcher Schritt ist aufgrund der Möglichkeiten und Kompetenzen der politischen Philosophie sinnvoll und notwendig, zugleich verkennt er in der genannten Form wesentliche Herausforderungen für diese Disziplin, die sich in der Spannung zeigen: So sind nahezu alle gegenwärtigen kosmopolitischen Ansätze überzeugt (und unterschei-

1. Warum überhaupt Herrschaft?

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den sich darin nicht vom Großteil anderer Ansätze in der politischen Philosophie), dass die gewünschte Form politischer Ordnung nicht in einem Universalismus bestehen kann, der jegliche sozio-politischen, ökonomischen oder kulturellen Differenzen in ihrer Geltung negiert. Diese Differenzen müssen vielmehr in den Universalismus integrierbar sein bzw. deren Bestehen und Verhältnis zueinander hat Gegenstand des kosmopolitischen Gefüges zu sein. Die begrifflichen und systematischen Schwierigkeiten eines solchen Kosmopolitismus werden erst dann ernst genommen, wenn Autoren sich der Tatsache aussetzen, dass reale Ordnungen (wie etwa die EU) sich längst jenseits einer Opposition von uniformem Universalismus und partikularistischem Partikularismus bewegen und somit immer schon den Anspruch erheben, deshalb legitim und global ausdehnbar oder zumindest von allen akzeptierbar zu sein, weil sie einen „differenzsensitiven“ Universalismus inkarnieren. Ein weiteres wichtiges Beispiel bieten die Kritik von Repräsentier- und Delegierbarkeit in der Demokratietheorie sowie die Demokratiekritik vieler Gerechtigkeitstheorien. Diese Kritiken bestreiten einerseits, dass sich die Genese legitimer Politik sinnvoll als delegierte Repräsentation von Interessen und Auffassungen verstehen lässt, während sie andererseits die Möglichkeit des Populismus in demokratischen Verfahren problematisieren und die Berechtigung oder gar Verpflichtung begründen, sich an „fundamentaleren“ Normen zu orientieren, selbst wenn diese nicht aus den Verfahren resultieren. Die Plausibilität dieser Kritiken hängt wiederum davon ab, dass es ihnen gelingt zu erläutern, unter welchen Voraussetzungen sie nicht dazu führen, dass politische Akteure überhaupt nicht mehr rechenschaftspflichtig sind. Es bleibt zu begründen, warum die Kritiken nicht zur Konsequenz haben sollten, dass es so viele Bezugspunkte und berechtigte Vorbehalte ihnen gegenüber gibt, dass niemand legitimerweise beanspruchen kann, dass ihm gegenüber Rechenschaft abgelegt wird (mit den entsprechenden Konsequenzen im Fall der Zurückweisung des Handelns), weshalb Regieren letztlich kontingent wird bzw. auf der moralischen Einsicht der Amtsinhaber aufruht. Ein bloßes Absehen von der Spannung hat zur Folge, dass die Komplexität dessen unterschätzt wird, was auch in philosophischer Perspektive

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

zu leisten ist. Selbst wenn man nicht von der Annahme ausgehen will, dass philosophische Überlegungen direkte Bedeutung in der Politik oder für die Analyse und Bewertung derselben haben, so ist doch methodologisch auf der Grundlage zu arbeiten, dass die sozio-politische Wirklichkeit mit ihren Widersprüchen wichtige „Beispiele“ liefert, an denen sich die Überzeugungskraft philosophischer Argumentation bemessen lassen muss. Die politische Philosophie sollte sich aber nicht nur der Irritation durch Beispiele aussetzen. Sie muss vielmehr zugestehen, dass die Zusammenhänge auch deshalb als Spannungen erscheinen, weil es unterschiedliche Vorstellungen der Bedingungen gibt, die die Legitimität von Herrschaft ausmachen, und zur Begründung dieser Vorstellungen Argumente angeführt werden, deren Verhältnis zueinander zumeist ungeklärt bleibt. So stehen sich in der gegenwärtigen Philosophie der internationalen Beziehungen Theorien globaler Gerechtigkeit und Ansätze kosmopolitaner oder transnationaler Demokratie gegenüber, die für signifikant andere normative Grundlagen politischer Ordnung und ihrer Umsetzungen argumentieren. Zieht man zusätzlich normativ informierte Friedensund Stabilitätstheorien aus der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen, Geltungs- und Institutionalisierungstheorien von Völkerrechtlern sowie die Untersuchung der Frage hinzu, ob es sich bei der Philosophie der internationalen Beziehungen um eine ideale oder nicht-ideale bzw. anwendungsorientierte Argumentation handelt, dann ergibt sich schnell eine Unübersichtlichkeit, bei der der Status von Theorien und Argumenten alles andere als evident ist. Bei einer solchen Lage „entdeckt“ die Betrachtung einer Situation im Licht dieses oder jenes Ansatzes je anderes an ihr, und es überrascht nicht, dass die „Entdeckungen“ den Eindruck von Spannungen erzeugen, wenn sie zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Unübersichtlichkeit resultiert nicht (nur) aus der fehlenden Genauigkeit der Ansätze, und sie lässt sich nicht kurzerhand durch deren Systematisierung bzw. die Prüfung einzelner Thesen und Argumente beheben. In ihr drückt sich vielmehr – nun allerdings nicht über die Vielfalt von Beispielen – die Komplexität der gegenwärtigen sozialen und politischen Verhältnisse selbst aus.

1. Warum überhaupt Herrschaft?

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Denn die Themenwahl und die Überzeugungskraft von philosophischen Argumenten hängen, wie John Rawls mit seinem Begriff des Überlegungsgleichgewichts zu Recht konstatiert (Rawls 1998: 73), eng mit der jeweiligen Wahrnehmung von Problemen zusammen. Politische Philosophie beschäftigt sich nicht allein abstrakt mit Ordnung überhaupt, sondern hinter Begriffen und der Wahl von Beispielen liegen immer auch lebensweltlich-empirisch gewonnene Anschauungen von Handelnden, Institutionen, Erwartbarem und Nicht-Erwartbarem. Dies heißt nicht, dass die Philosophie kontextualistisch an diese Anschauungen gebunden ist und daher jenseits des Kontextes, dem sie entstammt, keine Geltung zu beanspruchen vermag. Es besagt aber, dass ein Argument für das, was von einer Institution leistbar ist und was nicht, mehr oder weniger überzeugend ist (und eventuell auch mit mehr oder weniger Gründen gestützt wird), je nachdem, ob ein Autor bzw. Leser dabei das Antike Rom, einen westlichen Wohlfahrtsstaat oder die Vereinten Nationen vor Augen hat. Derart betrachtet spiegelt die Unübersichtlichkeit im Feld theoretischer Ansätze die Vervielfältigung von Akteuren, Ebenen, Instanzen und Institutionen, Handlungsund Wirkungsweisen sowie von Problemen mit unterschiedlichen Reichweiten. Diese Unübersichtlichkeit ist nicht einfach hinzunehmen, und die politische Philosophie etwa im Sinn einer Kasuistik fortzuführen, die auf Systematizität oder sogar auf Konsistenz und Kohärenz zu Gunsten eines praktisch-politischen Beitrags zu aktuellen Entwicklungen verzichtet. Die vorliegende Studie wählt daher zur Bewältigung der Unübersichtlichkeit, ohne die Komplexität realer Entwicklungen unterschätzen zu wollen, eine doppelte Herangehensweise: Im ersten Teil des Buches wird grundsätzlich gefragt, was die Legitimität von Herrschaft und deren Ausübung ermöglicht und bedingt. Mit „grundsätzlich“ ist dabei gemeint, dass Unterstellungen, die in der Philosophie der letzten beiden Jahrhunderte üblich waren, wie etwa die Auszeichnung des Staates als der privilegierten Ordnungsform oder die Annahme andauernder und unentrinnbarer Kooperationsverhältnisse, zunächst eingeklammert bzw. in ihrer normativen Notwendigkeit oder Relevanz eigens begründet werden. Im zweiten Teil des Buches wird untersucht, ob

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

es eine global einheitliche Theorie legitimer Herrschaft geben kann und sollte oder ob sich die Probleme, auf die Herrschaft bzw. andere Formen politischen Handelns reagieren, so unterscheiden, dass die Bedingungen legitimer Herrschaft ebenfalls je nach Bereich variieren müssen. Hierbei stehen v.a. jüngere globale Entwicklungen und Probleme im Mittelpunkt, diese werden aber nicht als singuläre Ereignisse und Fakten thematisiert, sondern hinsichtlich einer allgemeinen Theorie der Legitimitätsbedingungen von Herrschaft, unter der im Anschluss an Max Weber das Bestehen von Handlungsverhältnissen begriffen wird, die die Handelnden in Relationen zueinander setzen, die ihnen Handlungen ermöglichen und Grenzen auferlegen, und den Handelnden selbst unmittelbar entzogen sind. Die Begründung für diesen Herrschaftsbegriff, auf den die Argumentation ausgerichtet ist, findet sich in den weiteren Abschnitten dieses Kapitels. Im Ausgang von der handlungstheoretischen Differenz zwischen Macht und Herrschaft wird expliziert, in welcher Weise Macht ubiquitär ist und welchen Vorteil Herrschaftsverhältnisse gegenüber Machtkonstellationen versprechen. Aufgrund der primären Alternative von Macht und Herrschaft ergibt sich zugleich eine Reihe von Anforderungen an Herrschaftsverhältnisse, bei denen zu klären ist, wie sie sich zu geltungstheoretischen Legitimitätsbestimmungen verhalten bzw. ob sie nicht sogar in Widerspruch zu letzteren stehen. Um die Konvergenz von Herrschafts- und Legitimitätstheorie zu sichern, werden drei Anforderungen an legitime Herrschaft (d.h. an die Bestimmung derselben in der Herrschafts- und der Legitimitätstheorie) artikuliert, die garantieren, dass Herrschaft an die Stelle von Macht zu treten vermag, und ausschließen, dass die Substitution von Macht durch Herrschaft die normativ gewünschte Gestaltung der Handlungsverhältnisse unterminiert. Im Anschluss daran werden in drei weiteren Kapiteln zentrale Ansätze zur Bestimmung legitimer Herrschaft systematisch erörtert, wobei jeweils die normativ-geltungstheoretische Argumentation sowie die Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse einer Herrschaftstheorie untersucht werden, wie sie das Kapitel 1 darlegt. Das Kapitel 2 beschäftigt sich mit den handlungs- und Grund-

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struktur-orientierten Strängen der Gerechtigkeitstheorie. Hierbei zeigt sich als Resultat, dass die handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie grundsätzlich als normativer Ausgangspunkt für eine Theorie legitimer Herrschaft ungeeignet ist. Die Fälle, von denen ihre Bestimmung der Gerechtigkeit des Handelns ausgeht, sind unterbestimmt mit Blick auf soziale Handlungsverhältnisse und erfassen v.a. Situationen, die für die genannten Verhältnisse marginal sind. Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien stehen nicht vor diesem Problem, da sie die Institutionen und Strukturen selbst, die über Sozialverhältnisse entscheiden, zum Gegenstand der Betrachtung unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten machen. Diese Theorien sind aber nicht in der Lage, den Status ihrer Überlegungen mit Blick auf Institutionen, Strukturen und Akteure zu explizieren, die konkret Herrschaft ausüben. Der Versuch, die Gerechtigkeitstheorie mit einer Demokratietheorie zu verbinden und so einen Zusammenhang zwischen Gerechtigkeitsprinzipien und faktischen Verfahren und Einrichtungen zu stiften, scheitert, da mit einem inadäquaten Demokratieverständnis operiert wird. Im Kapitel 2 werden Ansätze vorgestellt und kritisiert, die Legitimität an die primär moralphilosophisch erkannte Qualität von Prinzipien, Strukturen oder Verfahren binden, auf denen Herrschaft aufruht. Im Gegensatz dazu vertreten die Ansätze, die im Kapitel 3 im Zentrum stehen, die Auffassung, dass dasjenige, was die Legitimität und den Zweck von Herrschaft ausmacht, gar nicht anders als in faktischen politischen Strukturen und Verfahren erzeugt werden kann. Eine erste Variante dieser Argumentation versteht die Entwicklung des politischen Wesens des Menschen bzw. die beständige Revision existierender Bestimmungen als Zweck der Politik und schließt daraus, dass politische Strukturen dann legitim sind, wenn sie diesem Zweck dienen. In der Untersuchung dieser Argumentation ergibt sich, dass sie mit einer fragwürdigen „politizistischen“ Anthropologie operiert und nicht plausibel begründen kann, warum die „radikale Demokratie“ als anzustrebende Form von Herrschaft den ausgezeichneten Zweck erreichen sollte. Alternativ dazu vertreten Volkssouveränitätstheorien als zweite Variante die Position, dass der Rekurs auf politische Verfahren und Strukturen unumgänglich ist, da sich nur in

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

ihnen die Ausrichtung von Interessen und Projekten auf das Gemeinwohl bzw. die Berechtigung derselben begründen lässt. In einer Republik muss folglich eine zirkuläre Struktur etabliert werden, in der der Durchgang durch gemeinsam ausgeübte Gesetzgebung die notwendige Bedingung dafür ist, dass Entscheidungen und Projekte, an denen jeder Einzelne und alle gemeinsam interessiert sind oder sein sollten, kollektiv verbindlich gemacht und notfalls erzwungen werden dürfen. Diese Variante beansprucht zwar den Politizismus, der Legitimität ausschließlich an die Möglichkeit knüpft, an der Politik teilzuhaben, und den Moralismus, der Legitimität über Gerechtigkeitsprinzipien von der Politik abkoppelt, gleichermaßen zurückzuweisen. Auch die Vorstellung der Volkssouveränität sieht sich aber zuletzt mit den beiden unplausiblen Optionen konfrontiert, entweder der faktischen Politik normativen Vorrang zuschreiben zu müssen oder dem Gemeinwohl einen moralischen Gehalt zu verleihen, der notfalls auch gegen die Politik zur Geltung gebracht werden darf. In der Analyse der unterschiedlichen Ansätze zeigt sich, dass viel für den Vorrang faktischer Verfahren und Strukturen spricht, dass dieser Vorrang aber nicht zur grundsätzlichen Invalidierung von möglicherweise moralisch gut begründeten Vorbehalten gegen Resultate der politischen Praxis führen darf. Das Kapitel 4 entwickelt vor dem Hintergrund dieser doppelten Erwartung an legitime Herrschaft das Modell eines Republikanismus der „Nicht-Beherrschung“. Hinter diesem Titel steht die Gestalt einer Ordnung, die durch die Befähigung zur Teilhabe an der Politik, Gewaltenteilung mit einem klaren Vorrang der Legislative vor der Exekutive sowie Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet ist, die allen Gewalten und Akteuren als Ermöglichungsbedingung entzogen ist. Mit einer solchen Ordnung lässt sich die positive Ausübung von Freiheit gewährleisten, die auf soziale Koordination und Kooperation angewiesen ist, ohne dass die Voraussetzungen bedroht oder gar genommen werden können, die es (einigen) unmöglich machen, in Zukunft Freiheit in der und qua Beteiligung an der Politik positiv auszuüben. Es ist also ein Republikanismus denkbar, der den Vorrang und die Unverzichtbarkeit faktischer Verfahren und Strukturen behauptet und dem es zugleich und gerade auf diesem Weg

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gelingt, basale negative Freiheitsräume zu etablieren und zu sichern, wie sie in der Gerechtigkeitstheorie wesentlich sind. Der Republikanismus der Nicht-Beherrschung ruht dabei, wie viele andere Theorien in der politischen Philosophie, auf einem normativen Individualismus auf. Im Gegensatz zur Mehrzahl der anderen Theorien wird das „Individuum“, auf das Bezug genommen wird, aber primär handlungstheoretisch verstanden, und nur vermittelt darüber auch mit einem Begriff der Person bzw. rationalen Vermögen derselben in Verbindung gebracht. Dieser handlungstheoretische Ausgangspunkt kennzeichnet die vorliegende Untersuchung in besonderer Weise, und seine Begründung im Kapitel 4 ist einer der zentralen Argumentationsschritte für das gesamte Buch. Denn er führt zu einer universalistischen Freiheitstheorie, die erklärt, warum Herrschaft notwendig ist und dass sie legitim wird, wenn sie den Ansprüchen aller auf positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit (in dieser Reihenfolge) genügt. Über das handlungs- und freiheitstheoretische Fundament steht der Republikanismus der Nicht-Beherrschung auch in enger Verbindung zu sozialphilosophischen Überlegungen, die im zweiten Teil des Buches relevant werden. Die Betrachtung des ersten Teils blendet weitgehend die Frage aus, ob diese Art legitimer Herrschaft ein Außen hat bzw. ob und inwiefern sie Auswirkungen auf ein solches Außen hat oder haben kann. Es wird daher zumindest implizit davon ausgegangen, dass die Bestimmung wesentlicher Legitimitätsbedingungen zunächst im Rahmen eines Einzelstaates geschehen kann und die Vorstellung einer andauernden Struktur sinnvoll ist (d.h. Herrschaft nicht auf Momente singulärer Interventionen reduzierbar ist). Mit diesen Annahmen schließen die Ausführungen, wie schon die im ersten Teil erörterten Ansätze belegen, an die Vorgehensweise der politischen Philosophie seit der Frühen Neuzeit an. Der zweite Teil des Buches wendet diese Annahmen in Probleme und untersucht, ob und wenn ja, wie und mit welchen Modifikationen die Legitimitätstheorie für den Raum jenseits der Einzelstaaten oder unter Bedingungen einer Globalisierung, die die Kontinuität einer Ordnung beständig herausfordert, Geltung beanspruchen kann.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

Im Kapitel 5 werden zunächst drei Ansätze in den Blick genommen, die bestreiten, dass jenseits einzelner Staaten legitime Herrschaft überhaupt denkbar ist bzw. in der Bestimmung der Legitimität dieser Ausübung derselbe Republikanismus zur Anwendung kommen kann oder sollte, der sich im ersten Teil als notwendig ergeben hat. Hierbei vertreten zahlreiche Autoren unter Bezug auf Hobbes, Spinoza oder Kant die Auffassung, dass die Etablierung von Herrschaftsverhältnissen jenseits einzelner Staaten es entweder unmöglich macht, innerhalb der Staaten von Macht zu Herrschaft überzugehen, oder aber eine Herrschaftsausübung zur Folge hat, die nicht mehr als Ausdruck von Freiheit zu begreifen ist. Eine Analyse dieser Auffassung zeigt, dass sie von einem inadäquaten Verständnis von Recht und Gewaltenteilung getragen ist und die meisten ihrer Schlüsse nicht zu ziehen sind, wenn ein adäquateres Verständnis, wie es das Kapitel 4 entwickelt, zu Grunde gelegt wird. Auch Versuche, zumindest für den Fall internationaler oder globaler Verhältnisse die Gerechtigkeitstheorie als Alternative zur republikanischen Freiheitstheorie erneut ins Spiel zu bringen, sind nicht überzeugend. Zwar weisen entsprechende Ansätze zu Recht auf die Bedeutung von Disparitäten und Konflikten zwischen Staaten hin, die durch Handlungen verursacht sind, durch die ein Staat einen anderen Staat willentlich oder unwillentlich schädigt oder gravierend benachteiligt. Daraus lässt sich aber schon innerhalb der Gerechtigkeitstheorie nicht begründen, warum Herrschaft im internationalen Raum auf einem Set minimaler Menschen- und sozialer Rechte aufruhen und nicht direkt in die Entscheidungsprozesse und -möglichkeiten der Staaten eingreifen können sollte. Und auch der dritte Ansatz, der die These vertritt, dass aufgrund der ökonomischen Globalisierung die „sozialen Handlungsverhältnisse“, um die es in der Herrschaft jenseits der Staaten geht, nicht dieselben sind wie innerhalb derselben, verweist auf eine wichtige Differenz bzw. Erweiterung gegenüber der Perspektive des ersten Teils dieses Buches. Daraus ergibt sich aber wiederum nicht per se die weitergehende Schlussfolgerung, dass legitime internationale Herrschaft die Form der Steuerung und Dynamisierung von hegemonialen Verhältnissen anneh-

1. Warum überhaupt Herrschaft?

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men muss, Herrschaft also dem Zweck dienen sollte, Macht zu verteilen und umzuverteilen. Wenn somit nichts Grundsätzliches dagegen spricht, den freiheitstheoretischen Republikanismus mit Blick auf die (besonderen) Probleme weiterzuentwickeln, die sich jenseits von Staaten oder aufgrund der Pluralität politischer Organisationsformen stellen, dann bleibt zu bestimmen, wie diese Weiterentwicklung aussehen muss. Das Kapitel 6 betrachtet daher unterschiedliche Ansätze in der Philosophie und Theorie internationaler Beziehungen, konstitutionalistische Völkerrechtstheorien sowie kosmopolitane Modelle von Weltstaatlichkeit und Demokratie und fragt, ob sie überzeugende und hinreichende Anwendungen, Ergänzungen oder Revisionen des republikanischen Legitimitätsmodells präsentieren. Dabei werden zunächst drei Ansätze diskutiert, die sich diesseits der Forderung nach Rechtsstaatlichkeit bewegen, wie sie das Kapitel 4 für die Binnenverhältnisse einer Ordnung herausarbeitet. Die Diskussion erweist aber, dass weder Marktmodelle, noch zivilgesellschaftliche oder rein rechtliche Ansätze den Ansprüchen auf positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit genügen können, die als Kern der Legitimität identifiziert wurden. Gleiches gilt für Ansätze, die die politischen Strukturen und Verfahren in Formen von konföderaler, zentraler oder föderaler Weltstaatlichkeit aufheben wollen. Denn auch diese Ansätze haben letztlich zur Konsequenz, dass eine Begrenzung von Möglichkeiten der positiven Ausübung von Freiheit oder aber der negativen Absicherung derselben in Kauf genommen werden muss, die dem Ausgangspunkt entgegensteht. Als Alternative zu den scheiternden Versuchen, Freiheit durch Verzicht auf Staatlichkeit oder durch Festschreibung in Weltstaatlichkeit zu gewährleisten, wird im Kapitel 7 die Konzeption einer transnationalen Demokratie entfaltet, die die Legitimitätstheorie des ersten Teils nicht nur anwendet oder ergänzt, sondern die gesamte Theorie legitimer Herrschaft in neuem Licht erscheinen lässt. Es wird nämlich deutlich, dass der Republikanismus der Nicht-Beherrschung an sich für eine Pluralität bzw. Heterarchie asymmetrischer Organisationsformen argumentieren muss und diese Pluralität in der Form eines Netzwerkes so eingerichtet wer-

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

den kann, dass wechselseitige Beherrschung zwischen jeweiligen Staaten und nicht-staatlichen Organisationen bzw. Beherrschung von Einzelnen oder Gruppen durch Staaten oder nicht-staatliche Organisationen ausgeschlossen wird. Einzelnen Staaten oder anderen Organisationen kommt somit v.a. die Aufgabe zu, die positive Ausübung von Freiheit unter gleichzeitiger negativer Absicherung von Freiheit und der Befähigung zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen zu ermöglichen, während die globalen Einrichtungen sich darauf beschränken, beherrschende Effekte der unterschiedlichen Staaten und nicht-staatlichen Organisationen zu unterbinden. Die Argumentation dieses Buches verweigert sich, wie schon in diesem Überblick ersichtlich wird, der Unterscheidung zwischen einer grundlegenden Perspektive und der speziellen Perspektive einer Philosophie der internationalen Beziehungen oder globaler Gerechtigkeit etc. Das Bestehen legitimer Herrschaft hängt vielmehr schlechthin entscheidend davon ab, dass es globale demokratisch-rechtsstaatliche Verhältnisse gibt, denn nur diese können die Voraussetzung dafür bilden, dass Freiheit legitimerweise so lokal wie möglich positiv ausgeübt werden kann. Mit der Komplexität dieser Argumentation wird eine Basis gelegt, die es erlaubt, sich den Entwicklungen zu stellen, die in Politik und Gesellschaft derzeit zu beobachten sind, und es erweist sich, dass die Philosophie durchaus Signifikantes zum Verständnis und zur Bewertung dieser Entwicklungen beitragen kann.

1.1 Macht und Herrschaft Eine Bestimmung der normativen Prämissen legitimer Herrschaft muss damit beginnen, die Notwendigkeit von Herrschaft zu explizieren. Sie darf aber nicht suggerieren, dass eine Situation denkbar wäre, in der über die Existenz oder Nicht-Existenz von Macht und Herrschaft überhaupt befunden werden könnte. Viele Untersuchungen zeigen, dass die Geschichte der Menschheit immer auch eine Geschichte von Macht und Herrschaft war. Von Gesellschaften oder politischen Ordnungen, wie von Geschichte selbst könnte gar nicht in Geschichts- oder Sozialwissenschaften gespro-

1.1 Macht und Herrschaft?

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chen werden, wenn nicht Handlungen, Strukturen oder Diskurse identifizierbar wären, die Einheit oder zumindest einen Zusammenhang in der Divergenz einzelnen Handelns und Wahrnehmens stiften und so Grenzen der abstrakten Unendlichkeit möglichen individuell-singulären Handelns und Verhaltens setzen. Es wird aber schnell auch systematisch klar, dass die Möglichkeit, übergreifende Einheiten im Handeln und Wahrnehmen auszumachen, d.h. die Tatsache, dass menschliches Leben mit Macht und Herrschaft einhergehen, keine bloß kontingente Koinzidenz ist. Das Bestehen von Macht und Herrschaft und die Reaktion auf sie sind wesentliche Faktoren im Erzeugen von Handlungskompetenz und konkreten Optionen und darüber vermittelt auch der sozio-historischen Entwicklung. Der Erfolg vieler Handlungen setzt voraus (was auch bedeutet, dass Handelnde bereits in der Konstitution ihrer Handlungen darauf bezogen sein müssen), dass in entsprechenden Situationen ein gemeinsames semantisches und normatives Verständnis der Beteiligten und Betroffenen,2 das nur in Ausnahmefällen im Handlungsvollzug selbst von den Akteuren (möglicherweise noch konsensuell) erzeugt werden kann (Niederberger 2007a: 107-226), oder eine äquivalente „objektive“ Struktur des Handlungskontextes besteht (Bourdieu 1980: 87-109; Giddens 1995: 185-198). Denn die Handlungen als solche sind oft kein hinreichender Grund für ihren Erfolg, nämlich dann, wenn durch die Handlungen andere Handelnde zu Anschlusshandlungen oder

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Die Dopplung in „Beteiligte“ und „Betroffene“ weist auf die Schwierigkeit im Deutschen hin, dass keine Bezeichnung für Handelnde existiert, die zugleich deren Aktivität und deren Unterworfenheit unter Ermöglichungsbedingungen für ihr Handeln gerecht wird. In der Folge ist zumeist von „Betroffenen“ die Rede, was möglicherweise, auch wenn es um die „Teilhabe der Betroffenen“ ergänzt wird, zu stark die Passivität unterstreicht, von der nicht notwendig an allen Stellen auszugehen ist. In der anglo-amerikanischen Diskussion werden für ähnliche Bestimmungen eines Oszillierens zwischen Aktivität und Passivität im politischen Handeln und seiner Bedingung durch Institutionen etc. unterdessen teilweise der ökonomische Ausdruck „stakeholder“ bzw. in der politischen Theorie derjenige der „stakeholder-democracy“ genutzt, die eher das aktive Moment des Interesses an einer Institution betonen, die das Handeln ermöglicht (und dabei z.T. die passive Seite vernachlässigen, vgl. dazu Shell 1995: 907-925).

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

zum Unterlassen von Handlungen angeregt werden sollen. In solchen Situationen muss die Handlung damit einhergehen, dass Anschlusserwartungen kommuniziert werden, oder es muss unterstellt werden, dass Normen oder Regeln gelten, die die Handlung zulassen und andere Handelnde verpflichten, sich in einer bestimmten Weise dazu zu verhalten. Gewöhnlich verlassen sich Handelnde (v.a. bei sozialen Handlungen im engeren Sinn, d.h. Handlungen, die soziale Kooperation als solche fortführen oder aufrecht erhalten) darauf, dass der normative Zusammenhang „objektiv“ gilt und daher nötigenfalls auch mit Zwang gegen Abweichungen erhalten wird oder sie selbst über das Vermögen verfügen, ihre Erwartungen gegenüber anderen (vermittels ihrer eigenen oder sozial gesicherter Ressourcen) durchzusetzen.3 Und selbst in Situationen, in denen die Handlungsbedingungen in kommunikativen Verfahren geklärt werden, greifen Handelnde zumeist auf semantische und soziale Ressourcen zurück, die in der aktuellen Klärung nicht selbst thematisch werden. Macht und Herrschaft bringen somit eine relationale Sozialstruktur zum Ausdruck, die als wesentliche Ermöglichungsbedingung für die Konstitution sowie den Erfolg oder Misserfolg der Handlungen von Einzelnen und Kollektiven den Handelnden selbst ganz oder teilweise entzogen ist bzw. durch jeweiliges Handeln und Verhalten anderer entzogen wird oder werden kann. Die Asymmetrie, die die Begriffe Macht und Herrschaft unumgänglich implizieren, liegt dementsprechend zunächst und vor jeder weiteren Konkretisierung in einzelnen Formen der „Macht-“ oder „Herrschaftsausübung“ und deren normativer Bestimmung in diesem Entzugscha-

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Dieses „Verlassen“ ist nicht voluntaristisch zu verstehen, d.h. es kommt (zumindest zunächst) nicht die webersche Machtdefinition zur Anwendung, laut der Macht dann besteht, wenn es die „Möglichkeit [gibt], den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen“ (Weber 1980: 542, Kursivierung A.N.). Das „Verlassen“ besagt vielmehr, dass Handelnde unproblematisch davon ausgehen, dass ein normativer Zusammenhang „objektiv“ besteht oder notfalls (von einem relevanten Teil von dessen Mitgliedern) etabliert wird. Es beschreibt solcherart analog zu „natürlichen“ Voraussetzungen soziale Gegebenheiten, die nicht aktiv erzeugt werden müssen, sondern als eine Art „zweiter Natur“ wahrgenommen werden.

1.1 Macht und Herrschaft?

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rakter von Handlungsbedingungen.4 Macht und Herrschaft bestehen also dann, wenn nicht jeder, der von einer Struktur oder anderen Handlungsvorgaben betroffen oder durch sie eingeschränkt ist, gleichermaßen auf sie oder ihre Konstitution zugreifen kann. Dabei ist dieses Bestehen von Macht und Herrschaft nicht von besonderen Absichten, einem „Willen zur Macht“ also, und schon gar nicht vom „Wesen des Menschen“ abhängig (Mann 1990: 19-22). Sie resultieren vielmehr notwendig daraus, dass Menschen (im Entwickeln und Verfolgen ihrer individuellen und kollektiven Pläne) aufeinander und auf ihre sozialen oder institutionellen Errungenschaften verwiesen sind und es unmöglich ist, diese Verwiesenheit in eine intentionale und von jedem Einzelnen kontrollierbare Relation zu transformieren, sie also auf die Relata oder den Willen der Handelnden zu reduzieren. Diese mangelnde Transformierbarkeit, die schon basalen Handlungskonstellationen eigen ist, in denen Traditionen, Konventionen, lokale Institutionen (Berger/Luckmann 1980: 49-98) oder etablierte Konnotationen sprachlicher Ausdrücke (Benveniste 1969: 7-13) ihre Wirkung entfalten, hat sich im Lauf der Geschichte noch zusätzlich verstärkt. Denn durch die Ausbildung und Ausdifferenzierung umfassender und weitreichender Institutionen sowie anderer Arten von strukturierten sozialen Zusammenhängen und Erwartungen wird die Menge der Faktoren, die neben den Individuen und der „ersten Natur“ auf das Handeln und Verhalten begrenzend und ermöglichend wirken, immer unüberschaubarer und immer weniger aufeinander zurückführbar (Luhmann 1984: 160). Zugleich ist dieser Entzugscharakter der Handlungsbedingungen wiederholt Thema in sozialen Auseinandersetzungen gewesen. Der Entzug wurde nämlich oft nicht unhinterfragt hingenommen, sondern Einzelnen oder Gruppen als (intentionale) Leistung (zum je eigenen Vorteil, d.h. zur Beherrschung anderer, also als „Macht über“ [Pitkin 1972: 276-278; Dahl 1986: 46-50]) zugeschrieben und darüber problematisiert oder als Anlass begriffen zu versuchen, die Handlungsbedingungen selbst anzueignen, also den Zu-

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Aufgrund dieser Asymmetrie qua Entzug lässt sich Macht auch im Anschluss an den Doppelsinn des französischen Wortes „pouvoir“ als „Macht zu“ („power to“; Pitkin 1972: 276-278) nicht einfach normativ neutralisieren.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

stand der „Unmündigkeit“ (Kant) zu verlassen. Wie etwa Jacques Rancière plausiblerweise argumentiert, sind politische Revolutionen häufig so zu verstehen, dass in ihnen eine gegebene „Aufteilung der sinnlichen Welt“5 mit ihrer jeweiligen Zuschreibung von Positionen und sinnhaft-strukturell oder aber auch rechtlich-politisch erschlossenen Handlungsgegenständen bzw. dem unterschiedlichen Zugriff auf sie kritisiert und sogar ausgesetzt wird (Rancière 2002: 14-32). In solchen Aussetzungen kann sich ein konstitutives Moment neuer Instituierung von Handlungspositionen und -gegenständen eröffnen, das jedoch nicht perpetuierbar ist, sondern wiederum zu einer „Aufteilung“ führt, die neuerlich kritisiert werden kann, wenn sie als beherrschend wahrgenommen wird (Rancière 2002: 33-54). Rancière veranschaulicht somit, wie der revolutionäre Prozess als Übergang von einem „Reich der Notwendigkeit“ in ein „Reich der Freiheit“ gesehen werden kann, den die hegel-marxistische Tradition immer gefordert hat (Marx 1964: 828; zur Kritik am Motiv Niederberger/Schink 2004: 4749). Er hält jedoch zugleich fest, dass die „Freiheit“ nicht mehr als ein Moment ist und der Übergang daher nie zum Abschluss kommen kann. Die Beschreibung der Entzogenheit von Handlungsbedingungen als eines Verhältnisses von Macht und Herrschaft erlaubt es somit zu verstehen, dass und warum die Zurückweisung bloßen Bestimmtwerdens durch Gegebenheiten ein wesentlicher Faktor für sozio-historische Entwicklungen ist. Macht und Herrschaft sind also für die Erzeugung von Handlungskompetenz und -gegenständen sowie für bestimmte Arten sozialen und politischen Wandels unverzichtbar. Dies allein rechtfertigt aber noch nicht die Ausgangsthese, dass die philosophische Begründung der Legitimität von Herrschaft nicht auf eine Situation referieren sollte, in der dieses „Unverzichtbare“ allererst etabliert wird. Denn selbst wenn die Existenz von Macht und Herrschaft nicht sinnvoll zu bestreiten ist, so könnte doch jede einzelne Gestalt, die sie annehmen, kritisiert und auf die Bedingungen ihrer Etablierbarkeit hin befragt werden. Eine umfassende Recht-

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Vgl. zur „Aufteilung“ Rancière 2001: 122-125 sowie zur problematischen „Ontologisierung“ oder „Ästhetisierung“ der Handlungswelt in Ansätzen, wie demjenigen von Rancière, Niederberger 2004: 135-138.

1.1 Macht und Herrschaft?

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fertigung der Ausgangsthese ergibt sich erst durch eine Differenzierung von Macht und Herrschaft und die daran anschließende Explikation der Weise, in der Herrschaft (notwendig) auf Macht bezogen ist. Trotz der problematischen voluntaristischen und insgesamt subjektphilosophischen Prämissen in der Bestimmung von Macht und Herrschaft bei Max Weber weist sein Unterscheidungsvorschlag in die richtige Richtung: Er differenziert Macht und Herrschaft danach, ob jemand aufgrund sozialer Gegebenheiten bzw. aktueller Bedürfnisse und einer korrespondierenden Ressourcenverteilung dem anderen ein bestimmtes Verhalten aufzwingen kann (Macht) oder ob jemand qua Organisation oder Struktur den anderen durch (explizite) Anweisungen (bzw. Befehle) zum Handeln bzw. dessen Unterlassung zu nötigen vermag (Herrschaft) (Weber 1980: 542-544). Macht im engeren Sinn (im weiteren Sinn ist auch Herrschaft für Weber Macht) ist also ein „naturwüchsiges“ Phänomen. Es stellt sich dadurch ein, dass Handelnde unterschiedlich direkten Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen haben (wobei dies sowohl äußere Gegenstände als auch Handlungen anderer oder kognitive Kompetenzen bzw. Einsichten sein können) und sie zugleich auf die Interaktion oder Kooperation mit anderen angewiesen sind, um ihre Ziele zu erreichen oder Bedürfnisse zu befriedigen. Selbst wenn der Interaktionspartner dabei seinen Zugriff auf Ressourcen nicht unmittelbar dazu nutzt, bestimmte Handlungen zu erzwingen, so bleibt die Relation dennoch eine der Macht, da derjenige, der auf die Ressourcen angewiesen ist, sein Handeln nicht unmittelbar auf sie richten kann, sondern den anderen mit seinen Optionen mitberücksichtigen muss. Zumindest diese Berücksichtigung unterliegt nicht seiner Willkür und wird ihm folglich „aufgezwungen“. Macht ist daher eine Relation, die sich unmittelbar aus den Relata und ihrer „Ausstattung“ oder „Bedürftigkeit“ ergibt. Herrschaft und Herrschaftsansprüche müssen demgegenüber als Versuch oder Leistung begriffen werden, dieses unmittelbare Machtverhältnis (mit seinen expliziten oder impliziten Zwängen) in eine (zumindest für einen oder einige) kontrollierte und transparente Form zu bringen, die Relation also von ihrer unmittelbaren Bestimmung durch die Relata abzulösen. Dabei kann es sich um die Verstetigung eines bestehenden Machtverhältnisses, um die Kontrolle bzw.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

Umwandlung eines solchen Verhältnisses oder um die Schaffung eines neuen Verhältnisses handeln. In diesem Sinn erzeugt die (historische) Begründung von Herrschaft diese zwar allererst, ihr liegen aber oft schon Machtverhältnisse voraus, deren Ursprünge sich nicht ebensolchen Begründungen verdanken – und selbst dann, wenn tatsächlich ein „neues“ Verhältnis etabliert wird, muss sich dieses in ein Verhältnis zu bestehenden Machtverhältnissen (und seien es nur solche differenter unmittelbarer Vermögen) setzen (können), um seinem Anspruch gerecht zu werden. Von einem Machtverhältnis ist zu reden, sobald zwei Menschen aufeinandertreffen, womit der Begründung von Herrschaft die Existenz von Macht im engeren Sinn vorausgeht. Herrschaft ist zwar insofern etwas Neues, als es in ihr um die Perpetuierung bzw. Kontrolle von Handlungsverhältnissen geht, sie setzt sich dabei aber an die Stelle von Machtverhältnissen, weshalb sie nur behaupten kann, „Herrschaft“ zu sein, wenn sie sich gegen alternative Machtverhältnisse zu behaupten, also in der Perspektive dieser Verhältnisse selbst als „Macht“ zu agieren vermag. Bleibt man in der Terminologie Webers, dann unterscheiden sich Herrschaft und Macht im engeren Sinn also der Form des „Zwangsverhältnisses“ nach, aber nicht nach dem Bestehen des „Zwangsverhältnisses“ selbst. Die Einrichtung von Macht (im weiteren Sinn) kann damit überhaupt keine Wahloption sein, vor der die Menschheit jemals gestanden hätte. Die Abwesenheit von Herrschaft bedeutet notwendig die Anwesenheit von Macht (in ihrer engen und weiten Bedeutung), so dass die Philosophie sich allein mit der Frage beschäftigen kann, ob und wenn ja, warum es notwendig ist, Herrschaft an die Stelle von Macht im engeren Sinn treten zu lassen bzw. Herrschaftsverhältnisse als Faktor in der Gesamtheit von Machtverhältnissen zu etablieren. Eine Antwort auf die so präzisierte und eingeschränkte Frage scheint nach den vorhergehenden Ausführungen bereits nahe zu liegen: Bloße Machtverhältnisse bedeuten Willkürlichkeit von Zwang bzw. von Asymmetrie oder (relativer) Entzogenheit der Handlungsbedingungen, während die Einrichtung von Herrschaft verspricht, dass die Verhältnisse transparent, kontrollierbar oder sogar Gegenstand gemeinsamer Beratungen und Entscheidungen, die Bedingungen al-

1.1 Macht und Herrschaft?

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so auf „höherer“ Ebene und zumindest für bestimmte Bereiche angeeignet werden können.6 So führt z.B. der neuzeitliche Kontraktualismus den Naturzustand (Hobbes oder Locke) bzw. den „privatrechtlichen“ Zustand (Kant) darüber ein, dass in ihm (Rechts-)Ansprüche nur provisorisch, d.h. in dem Maß geltend gemacht werden können, in dem die den Anspruch erhebende Person ihn faktisch durchzusetzen vermag.7 An die Stelle der kontingenten oder „natürlichen“ Verteilung der Möglichkeiten, den Anspruch durchzusetzen, soll eine politische Ordnung treten, die aus der „volonté générale“ (Rousseau) oder dem „vereinigten Willen“ aller (Kant) hervorgeht und eventuell sogar in demokratischen Verfahren dauerhaft an diese gebunden wird. In der Form einer verfassten politischen Einheit sollen derart die bloßen Machtverhältnisse in Rechtsverhältnisse transformiert werden, die einerseits allen Grundrechte zuweisen, die basale Freiheitsräume schützen oder gerecht verteilen, und andererseits Gegenstand öffentlicher Setzung, Kontrolle und Durchsetzung sind oder zumindest sein könnten. Herrschaft ist notwendig, da nur sie bloße Macht durch eine explizite und kontrollierbare Ordnung zu ersetzen vermag, und sie wird legitim, wenn sie mit Zustimmung aller ge- oder begründet wird und deshalb nicht mehr von kontingenten Vermögen oder partikularen Interessen der Einzelnen abhängig ist, son-

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Der Option, der Legitimität von Herrschaftslosigkeit nachzugehen, also darauf zu setzen, dass sich unter Machtverhältnissen im engeren Sinn durchsetzt, was normativ oder anthropologisch wünschbar ist bzw. nicht in seiner Produktivität gehemmt werden sollte, wird hier nicht weiter nachgegangen. Ansätze dazu bieten Spinoza 1994 und unter Bezug darauf Negri 1982 oder Deleuze 1988. Mit dieser Darstellung des „Naturzustands“ wird auch klar, dass die entsprechenden Autoren (mit der Ausnahme von Rousseau 1997), den Naturzustand nicht als erstes, eventuell optionales Aufeinandertreffen von Menschen charakterisieren, sondern durch die Weise, in der Ansprüche gegenüber anderen geltend gemacht werden können. Damit muss keines der Modelle begründen, dass Interaktion notwendig ist, und der „Naturzustand“ muss, wie etwa Kant festhält, auch nichts „Natürliches“ haben, sondern er kann durchaus als „gesellschaftlicher“ Zustand mit entsprechenden Institutionen und geschaffenen Körperschaften gedacht werden (Kant 1977a: 423). Dies gilt bis zu Rawls, bei dem die Begründungsfiktion des „Urzustands“ erst angesichts unumgänglicher Kooperation und der relativen Abgeschlossenheit einer gesellschaftlich-territorialen Einheit zur Anwendung kommen kann (Rawls 1998: 77).

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

dern von dem, was sich als gemeinsames Interesse bzw. vernünftige Einsicht aller rechtfertigen lässt.8 Kritiker am Kontraktualismus haben diesem – hier auf wenige Charakteristika beschränkt dargestellten (eine ausführliche Diskussion des Kontraktualismus und seiner normativen Ansprüche folgt weiter unten in den Kapiteln 2.3 und 3.2) – Theorieansatz zu Recht vorgeworfen, häufig die Notwendigkeit von Herrschaft zu schnell über die Bedingungen legitimer Generierung von Prinzipien, die Handlungsräume bestimmen sollten, zu begründen und derart die Schwierigkeiten zu vernachlässigen, auf die der Machtbegriff hinweist. In der präsentierten Fassung suggeriert der Kontraktualismus nämlich, dass Herrschaftsverhältnisse denkbar wären, die – zumindest in den relevanten Hinsichten – allein durch die Zustimmung aller (als Weise und Instanz der Setzung der Relationen), also durch ein geltungstheoretisches Legitimitätskriterium begründet werden, womit die Problematisierung der Tatsache überflüssig würde, dass Handlungsbedingungen entzogen oder vorgegeben sind. Eine solche Engführung der Begründungen der Notwendigkeit und der Legitimität von Herrschaft hätte somit zur Folge, dass nachgewiesen würde, dass Asymmetrien, die weiter be-

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Eine prägnante Zusammenführung des Legitimitätskriteriums der Zustimmung aller („vereinigender Wille“), des Rechts als der Form und des Mediums der Zustimmung sowie des Staates in seiner Wirkung nach Innen als einer bloßen Realisierung gemeinsam gesatzten Rechts – einhergehend mit der Einsicht, dass der Staat in seinem Außenverhältnis zunächst einen bloßen Machtfaktor konstituiert – bieten die ersten drei Sätze zu Beginn des Abschnitts zum Öffentlichen Recht in Kants Metaphysik der Sitten: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht. – Dieses ist also ein System von Gesetzen für ein Volk, d.i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden. – Dieser Zustand der einzelnen im Volke, in Verhältnis untereinander, heißt der bürgerliche (status civilis), und das Ganze derselben, in Beziehung auf seine eigene [sic!] Glieder, der Staat (civitas), welcher, seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustande zu sein, das gemeine Wesen (res publica latius sic dicta) genannt wird, in Verhältnis aber auf andere Völker eine Macht (potentia) schlechthin heißt [...].“ Kant 1977a: 429.

1.1 Macht und Herrschaft?

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stehen und sich z.B. in Polizeieinsätzen auch demokratischer Staaten finden, normativ irrelevant sind. Sie könnte aber nur dann plausibel sein, wenn drei wesentliche Bedingungen erfüllt würden: Erstens müsste die Herrschaft, die dem Legitimitätskriterium der Zustimmung aller entspricht, tatsächlich transparent sein und von allen Betroffenen verstanden und begründet werden können (im doppelten Sinn der Teilhabe an der diskursiv-prozeduralen Rechtfertigung und an der faktischen Etablierung der Herrschaft durch die [mögliche] Übernahme von Ämtern und Mandaten in den verschiedenen Instanzen). Zweitens müsste es der Herrschaft möglich sein, vollständig an die Stelle der Machtverhältnisse zu treten, die sie zu ersetzen beansprucht, und/oder überzeugend die Machtverhältnisse zu begrenzen oder zu kontrollieren, die sie nicht ersetzen kann, auf deren bloß kontingente Gestalt sie aber einwirken soll. Und drittens schließlich müsste grundsätzlich ausgeschlossen werden können, dass die Herrschaft selbst zu einem mehr oder minder bloßen Machtverhältnis im engeren Sinn wird. Die erste Bedingung erfordert wiederum, dass die Gesamtheit der möglichen bzw. angezielten Relationen zwischen Handelnden als Gesamtheit und im Detail thematisiert und strukturiert werden kann und dabei alle Betroffenen einbezogen werden können. Es wird also die Möglichkeit der kognitiven und prozeduralen Erfassung und Bearbeitung von komplexen Sozialverhältnissen sowie diejenige der Inklusion und Berücksichtigung von Personen mit heterogenen Interessen und Bedürfnissen erwartet (1.2). Die zweite Bedingung formuliert die Voraussetzung, dass Herrschaftsverhältnisse tatsächlich ihren Grund allein in sich selbst haben können und nicht doch (möglicherweise vermittelt) von Machtverhältnissen im engeren Sinn abhängig sind, auf deren Existenz sie keinen oder nur beschränkten Einfluss haben. Zudem expliziert diese Bedingung eine notwendige Äquivalenz von Herrschaft und Macht, denn erstere muss in der Reichweite, die sie beansprucht, die handlungsermöglichenden Funktionen der Machtverhältnisse übernehmen bzw. realisieren können, und sie muss in der Lage sein, ihre Geltung gegen konkurrierende Machtverhältnisse durchzusetzen. Letztlich steckt hierin auch die Frage, ob es Herrschaft streng genommen eigentlich gibt (1.3). Die dritte Bedingung schließlich be-

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

zieht sich auf das Verhältnis der „allgemeinen Zustimmung“ zu den Instanzen, die es der Herrschaft erlauben, Macht im engeren Sinn zu substituieren, also auf das Verhältnis dessen, was die erste und die zweite Bedingung erfüllt. Herrschaft wäre nämlich nur dann der Kontingenz von Macht im engen Sinn absolut entgegengesetzt, wenn definitiv ausgeschlossen werden könnte, dass die Instanzen der Herrschaftsausübung selbst zu einem Relatum in einer Machtrelation werden könnten, ohne dass diese Relation selbst wieder in der erwarteten Weise eines Herrschaftsverhältnisses kontrollierbar wäre (1.4).

1.2 Die erste Bedingung legitimer Herrschaft: Normsetzung, Normanwendung und die Aufnahme des Handlungskontextes Ein reiner Kontraktualismus hat – selbst wenn man von den normativen und prozeduralen Details absieht, die weiter unten thematisiert werden und Gerechtigkeit oder allgemeiner die Zustimmung aller als entscheidendes Legitimitätskriterium begründen – bei allen drei Bedingungen Schwierigkeiten nachzuweisen, dass sie allein auf der Basis der Argumente, die bisher genannt wurden, notwendig erfüllt werden. So zeigt sich bei einer Untersuchung der ersten Bedingung, dass explizite Begründungen und Rechtfertigungen von Normen (d.h. von Rechtsnormen, moralischen Normen, bloß konventionellen Regeln etc.), die Relationen zwischen Handelnden etablieren sollen, die realen Ausprägungen dieser Relationen aus prinzipiellen Gründen nicht hinreichend determinieren können. Entsprechende Begründungen können nur in beständiger „Kommunikation“ mit den jeweiligen Ausprägungen, d.h. durch Informationsaufnahme und die Modellierung möglicher Entwicklungen unter verschiedenen Prämissen, sowie in selbstreflexiver Korrektur annähernd adäquat die Normen auf die Erfordernisse der sozialen Handlungszusammenhänge beziehen. Sozialwissenschaftliche Studien zur (z.B. staatlichen) „Steuerung“ sozialer Kontexte zeigen, dass Steuerungen in den meisten Fällen nur eine zeitlich beschränkte oder rahmende Bedeutung in der Ausgestaltung der Kontexte haben (Mayntz 1996; Lange 2002).

1.2 Die erste Bedingung legitimer Herrschaft

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Diese „Schwäche“ von Steuerungen hat v.a. für die Einschätzung der zweiten Bedingung große Bedeutung, insofern sie darauf verweist, dass Normen, denen Handelnde nicht ohnehin schon folgen, nur unter hohem Aufwand in allen Fällen erzwungen werden können. Da die „Steuerungsschwäche“ aber darüber hinaus auf das komplizierte Verhältnis zwischen den Voraussetzungen für eine faktische Normenbefolgung bzw. -durchsetzung und den kognitiven und diskursiven Möglichkeiten9 einer Bearbeitung oder Erzeugung der Normen aufmerksam macht, wirft sie auch hinsichtlich der ersten Bedingung Probleme auf. Explizite und explizierte Normen selbst sind nicht nur kein hinreichender Grund für ihre Befolgung, sondern sie taugen – zumindest in der Art, in der sie allein kognitiv-diskursiv verhandel- und erzeugbar sind – auch nur bedingt als Instrument der Strukturierung und Kontrolle von Kontexten. Explizite Normensetzungsprozesse erfordern eine gewisse Abstraktheit und damit einhergehend Einfachheit der Normen bzw. der normierten Situationen, da nur unter dieser Voraussetzung sinnvoll diskursiv und im Austausch von Gründen über (mögliche) Geltungsansprüche befunden werden kann und Akteure, seien es einzelne Handelnde oder Institutionen, durch sie angeleitet werden können. Derart abstrakte und einfache Normen müssen dann aber entweder von Handelnden selbst auf ihre Situation bezogen werden, mit der eventuellen Folge, dass es zu eigentümlichen Aneignungen kommt, die tendenziell im Widerspruch zur Norm bzw. anderen Applikationsmöglichkeiten stehen,10 oder es muss Instanzen geben, die notfalls über die „Auslegung“ bzw.

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10

Die Qualifikation der Normenerzeugung oder -kontrolle als „kognitiv“ und „diskursiv“ erhebt keine rationalitätstheoretischen oder ethischen Ansprüche an die Erzeugung oder Kontrolle. Es soll damit lediglich gesagt sein, dass die Normen sich weder einfach an faktischen Regularitäten ablesen lassen, noch auf einem idiosynkratisch-autoritativen Urteilsakt darüber beruhen, was in einer Situation zu tun ist. Stattdessen müssen sie in dem Sinn „Gemeingut“ sein können, dass sie Teil des gemeinsamen sprachlichen Austauschs werden können und von allen in ihrem Gehalt hinreichend ähnlich verstehbar sind. Vgl. zu den Schwierigkeiten einer subsumtionslogischen Konzeption des Verhältnisses von Normen und ihrer Anwendung und zu einer daraus folgenden Unverzichtbarkeit der relativen Eigenständigkeit von „Klugheit“ (Aristoteles) oder „Urteilskraft“ (Kant) u.a. Bayertz 1991: 14-16.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

„Anwendbarkeit“ der Normen im Einzelfall befinden und diese „Auslegung“ auch durchsetzen, wiederum mit der Schwierigkeit, diese Auslegung oder Anwendung selbst zu normieren.11 Schon diese Abstraktheit und Einfachheit von Normen, die diskursiv erzeugbar sind, stellt eine wesentliche Einschränkung für die mögliche Wirkung kollektiver Abstimmungen oder Normengenerierungen bzw. zumindest eine Herausforderung für die Präzisierung der Verfahren dar, in denen qua Zustimmung kollektiv verbindliche Normen erzeugt werden sollen. Noch gravierender ist aber die Schwierigkeit, soziale Kontexte in der Normensetzung oder -revision adäquat zu erfassen, was eine weitere entscheidende Bedingung für das Wirken von Normen ist. Normensetzungsprozesse stehen vor zwei Optionen: Sie können entweder regelnd in bestehende Verhältnisse eingreifen oder die Konstitution eines Handlungskontextes überhaupt anzielen.12 Wird die erste Option eines regelnden Eingriffs gewählt, dann ist es unerlässlich, die geltenden Verhältnisse möglichst angemessen zu erkennen, um zu verstehen, was regelungsbedürftig oder gerade nicht zu regeln ist und welche Konsequenzen jeweilige Normierungen haben. Dies setzt voraus, dass die Beteiligten nicht nur Maßstäbe für Normenbegründungen überhaupt haben, sondern sie müssen auch über geteilte Weisen der Beschreibung relevanter Handlungszusammenhänge und Kriterien für die Richtigkeit der Beschreibungen verfügen. In Normensetzungsprozessen werden aber – selbst oder gerade in den hochinstitutionalisierten Verfahren moderner Staaten – keine sozialwissenschaftlichen Studien betrieben, so dass außerhalb des eigenen, performativen „Wissens“, über das Beteiligte eventuell qua eigener Involviertheit in den Zusammenhängen verfügen, zunächst unklar bleibt, wie das notwendige Wissen in die Prozesse hineinkommt. Selbst wenn die Einschätzungen darüber auseinandergehen, ob es sich um ein prinzipielles und daher unbe-

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Vgl. zu den Problemen dieser sekundären Normierung bzw. der Umsetzung von allgemeinen Normen in konkrete handlungsleitende Regeln etwa in Gerichtsverfahren Günther 1988: 335-353. Diese Unterscheidung geht auf die Differenz zwischen regulativen und konstitutiven Regeln zurück, die John Searle im Anschluss an Ludwig Wittgenstein herausgestellt hat, vgl. dazu Searle 1971: 54-60.

1.2 Die erste Bedingung legitimer Herrschaft

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hebbares Problem handelt (Luhmann 1988a: 337f.) oder wir es dabei mit falschen Modellierungen zu tun haben, die durch eine wissenschaftlichere Gestalt von Legislativen und Exekutiven verändert werden können (Scharpf 1989: 17f.), so bleibt doch eine Schwierigkeit, die in den bisherigen Entwicklungen staatlicher und nicht-staatlicher Normierung und Regulation noch nicht befriedigend gelöst wurde. Aber auch im Fall der Konstitution eines Handlungskontextes kann die Normensetzung nicht schlicht konstruktivistisch verfahren und davon ausgehen, dass die gewünschte Wirklichkeit aus der Geltung der Normen geradezu emergiert. Bei der Konstitution von Kontexten, die so zuvor nicht existiert haben, was sicherlich seltener vorkommt als regelnde Eingriffe, spielen Faktoren, wie allgemeine und besondere Vermögen der Handelnden, der Zugang der Handelnden zum neuen Kontext oder die Einordnung desselben in bereits bestehende Kontexte ebenfalls eine wichtige Rolle. So mögen hier zwar die Schwierigkeiten, ein adäquates Verständnis der Handlungskontexte zu gewinnen, geringer als bei regelnden Eingriffen sein, sie verschwinden aber nicht vollends. Zudem unterliegen auch konstituierte Kontexte eigenen Dynamiken, so dass jede konstitutive Normierung eine spätere regelnde Normierung für den Fall vorsehen muss, dass es zu Konflikten innerhalb des Kontextes kommt, die auf differenten Auslegungen und Weiterentwicklungen der grundlegenden Normen beruhen. Die gängige Analogie zu Spielen, bei denen konstitutive Normen tatsächlich hinreichend zur Bestimmung ihrer Durchführung sind, eignet sich nur selten, reale Handlungsverhältnisse zu erörtern. Hinsichtlich der ersten Bedingung ist also festzuhalten, dass ein „reines“ Verfahren der Begründung von Normen, wie es teilweise in Metaethiken entworfen wird und wie es in der Skizze des Kontraktualismus auch für diesen als Perspektive behauptet wurde, für die Bestimmung der Normen, die Herrschaft konstituieren und durch sie um- bzw. durchgesetzt werden sollen, nicht hinreichend ist. Spätestens über den Bezug der Normensetzung auf die faktischen Anwendungskontexte, der aufgrund der Ausrichtung der Normen auf die Regulierung oder Konstitution dieser Kontexte notwendig ist, kommen Faktoren ins Spiel, die (vorerst)

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

nicht selbst im Modus „reiner“, von allen geteilter Begründung gerechtfertigt werden können (vgl. zur methodologischen Problematisierung der politischen Philosophie als „angewandter Moralphilosophie“ auch Gosepath 2004: 18-25). Es ist nicht auszuschließen, dass Zustimmungen zu Einzelnormen auf fehlerhaften oder inadäquaten Situationsbeschreibungen beruhen oder Normen bei ihrer Anwendung derart modifiziert werden müssen, dass nicht mehr ersichtlich ist, ob dies noch die Normen sind, denen ursprünglich zugestimmt wurde oder deren Geltung auf der Basis geteilter Prinzipien berechtigterweise angenommen werden konnte. Von einer Theorie, die die Notwendigkeit von Herrschaft gemeinsam mit den geltungstheoretischen Bedingungen für Legitimität begründen will, muss also – neben der weiterhin offenen Frage nach den Grundlagen, die es erlauben, die „Zustimmung aller“ überhaupt zu konzipieren – erwartet werden, dass sie nachvollziehbare Verfahren angibt, in denen Kriterien für die Identifizierung, Beschreibung und systematische Charakterisierung relevanter Handlungskontexte entwickelt, getestet und kritisiert werden können, und dass sie zudem expliziert, wie der Abstand zwischen der Ebene, auf der abstrakte, allgemeine und eventuell universelle normative Prinzipien geklärt werden, und derjenigen ihrer „Anwendungsbedingungen“ überbrückt wird. Dabei muss der Ausdruck „Anwendungsbedingungen“ in Anführungszeichen stehen, da dies, wie die genannte Aufteilung der Ebenen in solche der Prinzipien und der Anwendung insgesamt, schon eine selbst rechtfertigungsbedürftige Weise bietet, den Abstand zu überbrücken.

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft: Herrschaft an der Stelle der Macht Die Untersuchung der Voraussetzungen, unter denen die erste Bedingung erfüllt wird, führen also dazu, dass von einer Begründung der Legitimität und Notwendigkeit von Herrschaft eine Präzisierung des Legitimitätskriteriums hinsichtlich der genauen handlungsleitenden und -steuernden Aufgabe der Prozesse und Instanzen zu erwarten ist, die Legitimität verbürgen sollen. Sie verbleibt somit letztlich im Rahmen der Klärung dessen, was es überhaupt als normativ wünschenswert erscheinen lässt, eine Alternative zur

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft

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Macht im engeren Sinn einzuführen. Die Erfüllung der zweiten Bedingung wirft demgegenüber die Frage auf, welche Voraussetzungen eine solche Alternative zur Macht erfüllen muss, damit sie in der Tat eine Alternative zur Macht sein kann. Im Anschluss an Weber wurde Herrschaft dadurch charakterisiert, dass in ihr das jeweilige Verhältnis zwischen Handelnden in gewissem Maß unabhängig von letzteren ist. Ihre Optionen bzw. die Erwartungen an das Verhalten anderer, von deren Erfüllung Handelnde sicher ausgehen können, dürfen sich somit nicht der Kontingenz einer Ressourcen- oder Bedürfnisverteilung verdanken, sondern sie müssen auf eine Setzung und Durchsetzung der entsprechenden Relation zurückgehen. Von der Herrschaft eines Offiziers gegenüber einem einfachen Soldaten ist nicht deshalb zu reden, weil ersterer über eine stärkere Waffe verfügt oder zweiterer durch einen masochistischen autoritären Charakter gekennzeichnet ist, sondern weil es die Struktur des Militärs ist, dass Personen höheren Ranges niedriger stehenden Personen Befehle erteilen können und Letztere Ersteren Gehorsam schulden. Ein skeptischer Vorbehalt gegenüber der Möglichkeit von Herrschaft überhaupt könnte angesichts dieser Explikation fragen, ob dieser Verweis auf eine „Struktur“ nicht verdeckt, dass faktisch auch das Militär nur ein Machtverhältnis im engeren Sinn ist. Denn es könnte sein, dass es sich allein dadurch von „einfachen“ Machtverhältnissen abhebt, dass es sich einer komplexen Konstellation von Ressourcen und Bedürfnissen verdankt, in der nicht nur zwei Personen miteinander konfrontiert sind, sondern ein Geflecht von Personen besteht, die durch Ressourcen und Bedürfnisse aneinander gebunden sind, und das Geflecht als solches die vermeintliche „Struktur“ einer Befehls- und Gehorsamshierarchie trägt. Wenn ein solches Verhältnis folglich als Herrschaftsverhältnis beschreibbar sei, so der Vorbehalt, dann weniger aufgrund eines speziellen Setzungs- und Erhaltungsmodus der handlungsermöglichenden und -begrenzenden Relationen, sondern vielmehr aufgrund der besonderen Dauer und Stabilität einer kontingenten Konstellation.13

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Diese These findet sich, bei allen Differenzen in der Bestimmung von Macht, z.B. in den Studien zur „Gouvernementalität“, die Foucault in den siebziger Jahren begonnen hat und die Sozialwissenschaften in den letzten Jahren aufge-

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

Soll der Zweifel an der Differenz von Herrschaft und Macht ausgeräumt werden, dann kann von einem Herrschaftsverhältnis nur unter der Voraussetzung die Rede sein, dass die Ressourcen, die die Relationen etablieren, kontrollieren und aufrecht erhalten, die einen Kontext konstituieren oder regeln, (zumindest der direkten Verfüg- und Einsetzbarkeit nach) nicht mit den Ressourcen der beteiligten Handelnden identisch sind. Zugleich dürfen diese Ressourcen aber nicht einfach einem dritten Handelnden mit eigenen „Interessen“ an den Relationen zukommen, sondern sie müssen allein oder wenigstens primär an das Ziel geknüpft sein, die Relationen zu etablieren, zu kontrollieren und aufrecht zu erhalten. Denn wäre derjenige, der sie etabliert etc., selbst an Ressourcen anderer Handelnder bzw. einer Konstellation zwischen ihnen interessiert, die ihm einen Vorteil im Zugriff auf ihre oder andere Ressourcen bietet, dann würde jedes Machtverhältnis mit mehr als zwei Polen zu einem Herrschaftsverhältnis, womit es wiederum keine signifikante Differenz zwischen Macht und Herrschaft gäbe. So sieht Weber etwa ein bloßes Machtverhältnis zwischen einer Bank und einem kreditsuchenden Unternehmen, wenn die Bank dem Unternehmen ihren Willen aufzwingen kann, da sie über Geld verfügt und das Unternehmen desselben bedarf. Dieses Verhältnis wird unter der Bedingung in ein Herrschaftsverhältnis transformiert, dass sich das Unternehmen eine Form gibt, die u.a. einen Aufsichtsrat mit einer Kontroll- und Weisungsbefugnis gegenüber dem Vorstand des Unternehmens vorsieht, und die Bank in diesen Aufsichtsrat aufgenommen wird (Weber 1980: 543). Das Herrschaftsverhältnis besteht in der Form, die die Beziehung zwischen dem Aufsichtsrat und dem Vorstand des Unternehmens annimmt, und die Bank kann nun insofern in dem und auf das Unternehmen in verstetigter Weise „Macht“ ausüben, als sie Mitglied des Aufsichtsrates ist. Zugleich ist diese „Machtausübung“ nicht mehr (oder zumindest nicht mehr direkt) von den eigenen Ressourcen der Bank abhängig (weshalb „Macht“ in Angriffen haben. Die Gouvernementalität soll dabei einen Machtzustand charakterisieren, in dem Handelnde sich selbst und sich wechselseitig auf bestimmte Praktiken verpflichten, so dass direkte Herrschaftstechniken zunehmend verzichtbar werden (Foucault 2000; Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 25-32).

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft

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führungszeichen steht), sondern davon, dass es eine Instanz gibt, die notfalls den Vorstand zwingt, sich der Kontrolle des Aufsichtsrates zu unterwerfen.14 Herrschaft tritt also nur dann an die Stelle von Macht, wenn es eine Einrichtung gibt, die über genügend Ressourcen verfügt, eine Relation zwischen Handelnden zu etablieren, zu kontrollieren oder aufrechtzuerhalten, und dabei kein anderes Ziel verfolgt, als das Etablieren, Kontrollieren oder Aufrechterhalten dieser Relation. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, wenn Weber anmerkt: „Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung.“ (Weber 1980: 545) Dies besagt nicht, dass ein Herrschaftsverhältnis ein Machtverhältnis ist, an dem (notwendig) eine „Verwaltung“ beteiligt ist, und auch nicht, dass Herrschaft keine Asymmetrien oder anderen normativen Schwierigkeiten, wie etwa Ungleichheit derjenigen, die der Herrschaft unterworfen sind bzw. sie ausüben, oder die Verfolgung fragwürdiger Ziele, beinhaltet, weil sie „nur“ Verwaltung ist. Herrschaft „äußert sich“ und „funktioniert“ insofern als Verwaltung, als es einer Instanz bedarf, die allein die Relationen „verwaltet“ – über Art und Gestalt der Verwaltung und eine entsprechende Rechtfertigungsbedürftigkeit ist damit noch nichts gesagt. Eine solche Bestimmung von Herrschaft schließt ohne Zweifel verschiedene historische Formen, die politische oder soziale Steuerung und Kontrolle angenommen hat, von dieser Bezeichnung aus. Insbesondere in der Rede von „Gewaltherrschaft“ bedarf es, so man der Bestimmung folgt, einer Klärung, ob sich die „Herrschaft“ allein auf den potentiellen, willkürlichen Einsatz von Gewaltmitteln stützt (womit es sich um ein Machtverhältnis handelt) oder ob die Willkürlichkeit desjenigen, der die Gewaltmittel

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Diese Rekonstruktion von Webers Beispiel macht klar, dass es seine Argumentation nur bedingt stützt, denn für ihn legt es den Übergang von einem Machtverhältnis zwischen der Bank und dem Vorstand des Unternehmens zu einem Herrschaftsverhältnis zwischen ihnen dar. Richtiger müsste gesagt werden, dass beide in der zweiten Situation einem Herrschaftsverhältnis unterworfen sind, das allerdings der Bank einen wesentlichen Vorteil gegenüber dem Vorstand des Unternehmens einräumt. Herrschaft der Bank über den Vorstand würde es erst dann geben, wenn zudem gezeigt werden könnte, dass die Bank auch die Instanz ist, die über die Aufrechterhaltung und Gestalt des Verhältnisses zwischen Aufsichtsrat und Vorstand wacht.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

inne hat, begrenzt ist (unter welcher Voraussetzung erst darüber nachgedacht werden kann, ob ein Herrschaftsverhältnis besteht).15 Die Charakterisierung von Herrschaft dadurch, dass eine „Verwaltung“ existiert, bedeutet aber nicht, dass jede vormoderne Ordnung (mit Ausnahme eventuell des Römischen Reiches und anderer Imperien mit wesentlichen administrativen Elementen), d.h. jedes Regieren ohne staatliche Institutionen, wie sie sich v.a. in Europa seit dem Zeitalter des Absolutismus herausgebildet haben, als bloßes Machtverhältnis betrachtet werden muss. So zeigt etwa die spätmittelalterliche Diskussion über die Stellung des Kaisers als eines Amtsträgers, der funktional die Aufgabe hat, letztinstanzlich eine Gerichtsbarkeit sicherzustellen, die Streitigkeiten zwischen Fürsten zu lösen vermag, aber keine Besitzansprüche gegenüber seinem Imperium und d.h. auch hinsichtlich der Ressourcen seiner „Untertanen“ geltend machen kann (Dante 1989: 60-113; Ockham 1995: 198-225), dass der Verweis der Herrschaft auf Verwaltung nicht zu eng und konkret zu verstehen ist. Gleiches gilt für die Bedeutung von mittelalterlichen Verträgen oder Erlassen, wie etwa der Magna Charta mit ihrer Absicherung eines dauerhaften Verhältnisses zwischen dem englischen König und dem Rest des Adels, das durch das wechselseitige Zugeständnis von Rechten gekennzeichnet ist und worauf dann ein Gerichtswesen basiert (Berman 1991: 468-472). Der Verweis der Herrschaft auf Verwaltung bedeutet vorerst nicht mehr als die Angebbarkeit einer Instanz, die eine Relation setzt und erhält, ohne selbst an dieser besonderen Relation „interessiert“ zu sein. Damit zeichnet sich aber schon ab, dass die Rechtsförmigkeit der Normen, die Handlungskontexte konstituieren oder regulieren, sowie die korrespondierenden Instanzen, wie eine Gerichtsbarkeit, ein paradigmatischer Fall für Herrschaftsverhältnisse sind.16

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D.h. auch, dass in Fällen, in denen ein Verhalten direkt erzwungen wird, selbst wenn dies durch einen politischen Amtsinhaber geschieht, nicht schon von Herrschaft zu sprechen ist (wohl aber von Beherrschung, vgl. Kap. 4.3). Herrschaft setzt gemäß der vorliegenden Bestimmung die Ablösung der Normen von ihrer Durchsetzung voraus, wie im Folgenden noch stärker deutlich wird. Vgl. zum Zusammenhang von Herrschaft und Recht bei Weber auch Habermas 1992: 541-570.

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft

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Die „Angebbarkeit einer Instanz“ ist nicht als bloßer Anspruch oder als reine Zuschreibung zu verstehen, Relationen zu „verwalten“. Denn aus einem solchen Anspruch bzw. einer Zuschreibung folgt nicht das entsprechende faktische Vermögen.17 Nicht jede Instanz kann aus eigenem Betreiben „Verwaltung“ werden, was klar wird, wenn man wiederum auf die webersche Herrschaftssoziologie blickt und expliziert, warum für Weber „Legitimität“ entscheidend für die Möglichkeit ist, Herrschaftsverhältnisse zu etablieren.18 „Legitimität“ in diesem nicht-normativen,19 d.h. formalen oder typisierenden Sinn, der nicht notwendig auf das bezogen ist, was in der ersten Bedingung erläutert wurde, hat zwei wesentliche Implikationen: Erstens muss die Instanz, die beansprucht, Herrschaftsverhältnisse zu etablieren und aufrechtzuerhalten, eine gewisse Unparteilichkeit nachweisen. Ihre Entscheidungen oder Normierungen dürfen (zumindest der Erscheinung oder Darstellung nach) nicht direkt von denjenigen abhängen, die Interessen an einer bestimmten Relation von Handelnden haben. Die Instanz kann sich also gar nicht anders denn als bloße „Verwaltung“ präsentieren, wenn sie nicht ihren Anspruch auf Legitimität kompromittieren will. Zweitens dürfen die Entscheidungen und Normierungen aber auch nicht willkürlich sein, d.h. die Instanz muss eine anerkannte Autorität oder Verfahren anführen, die die Entscheidungen bzw. Normierungen notwendig oder einsichtig, aber zumindest zulässig machen. Egal ob die Herrschaftsverhältnisse durch eine (charismatische) Einzelperson, ein Kollegium oder eine moderne Verwaltung etabliert und durchgesetzt werden, so ist für sie jeweils kennzeichnend, dass die entsprechen-

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Deshalb hält Weber selbst für den Typus charismatischer Herrschaft fest, dass diese sich dauerhaft nicht nur darauf stützen kann, dass dem Herrscher Besonderheit zugeschrieben wird, sondern „objektiver“ Leistungen zu ihrer Erhaltung bedarf, vgl. Weber 1980: 140-142. Weshalb sie Weber sogar nach dem jeweiligen „Legitimitätsanspruch“ typisiert, vgl. Weber 1980: 122. Zur Kritik an „Legitimität“ als Definiens eines „deskriptiven“ Macht- oder Herrschaftsbegriffs vgl. Luhmann 1988b: 68f. Was hier hinzugefügt wird, da es nicht um „legitime“ Legitimität geht, sondern nur um die Zuschreibung/Wahrnehmung der besonderen Berechtigung des Wirkens. Vgl. zu dieser – problematischen – Differenzierung zwischen „normativer“ und „empirischer“ Legitimität auch Kielmansegg 1978.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

de Instanz sich auf göttliche Gebote, überkommene Traditionen, wissenschaftliche (oder sonstige besonders verlässliche) Erkenntnisse oder Verfahren bezieht, die „Objektivität“ verbürgen. Die Instanz bringt also nur etwas zum Ausdruck oder zur Geltung, ohne selbst im engeren Sinn (wieder der Form und Darbietung nach) die Quelle dessen zu sein, was zum Ausdruck oder zur Geltung gebracht wird. Eine solche Bezugnahme auf Autorität bzw. Verfahren setzt deren „Anerkennung“20 voraus, weshalb dieses zweite Charakteristikum nicht mehr im alleinigen Vermögen der Instanz liegt, die sich als Verwaltung präsentiert. Eine Instanz, die Herrschaftsverhältnisse zu etablieren vermag, muss sich also in eine „unparteiliche“ und „objektiv richtige“ Verfassung bringen und zugleich als solche von den Betroffenen (bzw. einem relevanten Teil derselben) verstanden werden. Webers Einführung der „Legitimität“ als notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer Instanz, die Herrschaftsverhältnisse zu „verwalten“ vermag, ist, wie gesagt, kein normatives Unternehmen. Ihm geht es nicht darum, Bedingungen festzulegen, die die entsprechende Instanz erfüllen sollte. Die Existenz einer solcherart (eventuell indirekt, d.h. über die Autorität der Quelle von Normen und Entscheidungen) „anerkannten“ Instanz ist vielmehr erforderlich, um das Problem der Ressourcen zu lösen, das die Einführung der Herrschaft als Alternative zur Macht stellt. Denn die Frage nach den Ressourcen, die erforderlich sind, um kontingente Machtverhältnisse zu begrenzen oder gar durch normierte Herrschaftsverhältnisse zu substituieren, lässt sich nicht derart lösen, dass eine Instanz über eine größere Menge an Zwangsressourcen verfügt, als sie in jeder möglichen Relation von Handelnden (und d.h. auch der Summe der Relationen in dem Kontext, die zugleich möglich sind) zur Geltung gebracht werden könnten. Herrschaftsverhältnisse sind demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen unter Bezugnahme auf die Normierung ihrer Handlungskontexte eigene Ressourcen (auch) dazu nutzen,

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Weber spricht von „Glauben an die Legalität“, „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen“ oder „der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person“ (Weber 1980: 124).

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft

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einander wechselseitig zu motivieren oder gar zu zwingen, die Normen einzuhalten. Zwar muss eine direkte Intervention jederzeit möglich sein, sie erfüllt aber, wenn sie stattfindet, oft die Funktion, eine Norm „exemplarisch“ durchzusetzen oder aufrechtzuerhalten – „exemplarisch“ auch deshalb, weil darüber die Norm selbst in Erinnerung gerufen wird. Erst die Konzeption der Instanz, die die Herrschaftsverhältnisse verbürgt, als „legitime“ Verwaltung erlaubt es zu verstehen, wie eine solche Instanz überhaupt über hinreichende Ressourcen verfügen kann, um die gewünschten Verhältnisse durchzusetzen. Durch ihre Normierung schreibt eine Verwaltung Ressourcen und Bedürfnissen einen Sinn zu, der ihre unmittelbare Bedeutung überlagert und sie von jeweiligen Trägern ablöst: Wenn ein männlicher Haushaltsvorstand als Bindeglied zwischen dem öffentlichen Leben und der ökonomischen Rolle und Reproduktion des „Hauses“ etwa als Teil der „Verfassung“ der antiken Polis ausgezeichnet wird (weil nur er vernünftig genug bzw. in der Lage ist, die Verantwortung zu tragen; weil es schon immer so war, dass „Familienväter“ diese Aufgabe hatten etc.), dann hängt die Erfüllung seiner Bedürfnisse nicht direkt von der Stärke seiner Ressourcen und Fähigkeiten ab, die Erfüllung durchzusetzen. Da er den „Haushalt“ integriert und derart die Relationen zwischen den einzelnen Mitgliedern dieses Kontextes bestimmt, ist er kein einfaches Gegenüber, sondern das „Prinzip“ ihrer Koexistenz. Und auch seine Stellung, die äquivalent zur Stellung anderer Haushaltsvorstände ist, nimmt ihm seine kontingente Singularität und macht ihn zum Funktionsträger für das Ganze der politischen Gemeinschaft. Seine Bedürfnisse oder wenigstens Teile seiner Bedürfnisse werden derart Bedürfnisse aller, die dem Haushalt angehören und somit prima facie ihre Optionen dem Bestehen geregelter Handlungsverhältnisse verdanken, sowie der sozialen Einheit als ganzer, für die die Haushaltsvorstände wesentliche Elemente der Ordnung sind. Weigert sich ein „Untergebener“, entsprechende Ressourcen aufzubringen, stehen die anderen diesem Widerstand nicht einfach „uninteressiert“ gegenüber, sondern müssen sich darüber hinaus fragen, ob der Widerständige (in ebenso guter bzw. für jeden von ihnen vorteilhafter Weise) dieselbe Funktion für die

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

„Ordnung“ des Haushaltes übernehmen könnte, wie der aktuelle Inhaber der Funktion.21 Solcherart stehen der widerständigen Person nicht nur die Ressourcen des Haushaltsvorstands entgegen, über die letzterer direkt verfügt, sondern auch die Ressourcen anderer Mitglieder des Haushaltes und eventuell sogar weiterer Mitglieder der politischen Gemeinschaft. Im Anschluss daran lässt sich zudem festhalten, dass im genannten Beispiel auch die Ressourcen des Haushaltsvorstandes wesentlich umfangreicher sind als diejenigen, die ihm unmittelbar (d.h. in einem Machtverhältnis im engen Sinn) zukommen: Wenn er z.B. einen Untergebenen anweist, einen anderen Untergebenen zu einer Handlung zu veranlassen oder zu „disziplinieren“, muss er nicht seine eigene Kraft gebrauchen, um den ersten zu zwingen, sondern dieser führt die Tat aus, weil es sich um einen „legitimen“ Befehl des Haushaltsvorstands handelt.22 Die Handlungen insgesamt erscheinen als mögliche und zulässige, weil sie im Rahmen der Normierung des Kontextes möglich und zulässig sind und nicht weil sie unmittelbar initiiert und erzwungen werden. Eine solche Gestalt der Etablierung und Erhaltung von Herrschaft steht allerdings unter den Prämissen, dass allen Beteiligten die Norm klar ist bzw. jederzeit in Erinnerung gerufen werden kann und alle von der Richtigkeit der Norm bzw. der Berechtigung einer ausgezeichneten Instanz, sie zu erlassen, „überzeugt“ sind (wobei die zweite Prämisse auch dann erfüllt wäre, wenn niemand dies bezweifeln würde). Teilt man nicht die Annahmen des

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Gewöhnlich ist das Bestehen von Herrschaftsverhältnissen dadurch gekennzeichnet, dass die genannte Frage gar nicht aufkommt, sondern die „Illegitimität“ des Handelns automatisch ablehnende und sanktionierende Reaktionen bei anderen erzeugt. Vgl. dazu Rancière 2002: 33-54. Einer der anschaulichsten Fälle, bei dem die Bedeutung unmittelbarer Bedürfnisse und Ressourcen überlagert wird, ist die Lehre von den „zwei Körpern des Königs“ und die mittelalterliche politische Praxis, die damit einherging und von Kantorowicz eindrucksvoll beschrieben wird. Hier werden selbst die „natürlichen“, d.h. lebenserhaltenden Bedürfnisse des Körpers des Königs von der kontingenten Lebenssituation des aktuellen Königs abgelöst und an das Amt des „Königs“ gebunden, womit der „König“ über konkrete physische Bedürfnisse eigentlich nicht mehr verfügt und derart auch nicht von entsprechenden Ressourcen abhängig ist. Vgl. Kantorowicz 1997: 314-450.

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft

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Idealismus, der in verschiedenen Varianten des Historismus zur Anwendung kommt, mit seiner Vorstellung einer Entelechie „historischer Ideen“,23 dann ist die Erfüllung der Prämissen nur in Kontexten zu erwarten, die entweder sehr klein sind, nur durch wenige, eindeutige Normen reguliert bzw. konstituiert sind oder eine derart etablierte traditionale Praxis haben, dass die beständige Erinnerung an die Praxis hinreicht, um die geltenden Normen im wahrsten Sinn des Wortes vor Augen zu führen. In allen anderen Kontexten kann demgegenüber nicht davon ausgegangen werden, dass die bloße, „legitime“ Normierung hinreicht, um die Kontexte durch sie zu regulieren (durchaus im Sinn der Erzwingung einer Normenbefolgung) (Habermas 1987b: 213f.) – was sich schon im Problem der Unterbestimmtheit allgemeiner Normen in der Erörterung der ersten Bedingung zeigte. Die Verwaltungsinstanz muss daher über ein gewisses Maß an Ressourcen verfügen, die ihr direkt zugeordnet sind und effizient dazu genutzt werden können, in Handlungskontexten zu intervenieren. Diese Notwendigkeit hat historisch oft zur Folge gehabt, dass nur diejenigen Herrschaftsverhältnisse etablieren konnten, die schon über ein vergleichsweise hohes Maß an Zwangsressourcen oder solchen Ressourcen verfügten, die Zwangsmittel zu erwerben erlaubten.24 Eine Alternative dazu bilden politische Institutionen,25 womit Einrichtungen gemeint sind, die (zunächst) funktio-

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Damit werden Ansätze zurückgewiesen, die annehmen, dass Epochen oder zumindest stabile Handlungskontexte dadurch ermöglicht oder konstituiert werden, dass es eine geteilte „Kultur“ bzw. ein analoges Set von Normen gibt. Vgl. zur problematischen Ontologie „historischer Ideen“ Ankersmit 1996: 401-406 und zum Zusammenhang zwischen Historismus und sogenanntem cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften Heinßen 2003: 47-54. Dies ist kein Widerspruch zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft, da der Einsatz eigener Ressourcen zur Etablierung von Herrschaftsverhältnissen (zumindest dauerhaft) nicht willkürlich sein konnte, sondern mit einer Legitimierung und der Ausbildung einer „Verwaltung“ einhergehen musste, die die Ressourcen als solche der Allgemeinheit oder Gottes etc. präsentierten und damit dem direkten Zugriff ihres ursprünglichen Inhabers entzogen. Wenn in der Folge nur von „Institutionen“ die Rede ist, sind damit immer „politische Institutionen“ in dem präsentierten Sinn gemeint. Wenn von Institutionen im weiteren Sinn, d.h. von sedimentierten Handlungsgewohnheiten im Allgemeinen (Waschkuhn 1987) gesprochen wird, wird dies gesondert

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

nal durch die Aufgabe, einen Handlungskontext zu etablieren und zu kontrollieren, also als Verwaltung im expliziten und engen Sinn definiert sind und dazu mit eigener physischer Lokalisierung – und sei es nur über die Identifizierbarkeit einer Person, die die Aufgabe zu erfüllen hat – versehen werden (Acham 1992: 36f.). Eine solche Institution erlaubt zwei sich wechselseitig verstärkende Dinge: Sie kann einerseits Expertise hinsichtlich des betreffenden Kontextes erwerben, so dass sie besser als andere versteht, wie welche Intervention zu welchen Konsequenzen innerhalb des Kontextes führt, womit sie sich auch dazu eignet – dies sei mit Blick auf die erste Bedingung festgehalten –, Interventionsbedürftigkeiten festzustellen. Da sie als „Verwaltung“ eingesetzt ist, ist sie andererseits zudem berechtigt, Ressourcen zu akquirieren, die notwendig sind, um entsprechende Interventionen durchzuführen. Dieser Ressourcenerwerb kann sich entweder auf andere Institutionen mit benötigten Ressourcen, auf den Kontext selbst und seine Betroffenen oder aber auf einen weiteren Kreis richten, der sich eventuell aus heterogenen „Akteuren“ (d.h. Handelnden, Gruppen, Institutionen etc.) zusammensetzt. Diese beiden Eigenschaften verstärken sich wechselseitig, da die Expertise es erlaubt, Mittel konzentriert einzusetzen, während der Einsatz der Mittel (bzw. dessen Möglichkeit) wiederum die Institution selbst zu einem entscheidenden Faktor innerhalb des Kontextes macht oder machen kann, womit sie teilweise selbst dasjenige bedingt, was sie zu erkennen und zu verstehen gehalten ist. Politische Institutionen lösen nicht per se die zuvor genannten Probleme, die das Etablieren und Aufrechterhalten von Herrschaftsverhältnissen stellt. So wurde schon in der Diskussion der ersten Bedingung auf Steuerungsschwächen hingewiesen, die dann aufkommen, wenn entweder eine Institution über zu wenige Ressourcen verfügt, um intervenieren zu können, Kontexte zu komplex sind, um in der kognitiven Bearbeitung innerhalb einer Institution hinreichend verstanden zu werden, oder Kontexte derart verfasst sind, dass in ihnen die Ressourcen, mit denen eine Institukenntlich gemacht. Die Qualifikation der Institutionen, die vornehmlich gemeint sind, als „politische“ folgt der üblichen Bezeichnung, ohne dass damit schon ein besonderer Politikbegriff verbunden wäre (Greven 1987).

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tion allein operieren kann, keine hinreichenden Wirkungen der gewünschten Art erzeugen. Darüber hinaus ist ein zeitlicher Faktor zu berücksichtigen, d.h. sowohl der Erwerb bzw. das Bestehen von Expertise als auch derjenige von Ressourcen ist abhängig von der Vorgeschichte und v.a. der Dauer der Existenz einer Institution. Eine Behörde, die in einem Kontext neu etabliert wird, der bislang keiner Steuerung oder Strukturierung unterworfen war, muss sicherlich, um effizient zu sein, mit umfangreicheren und „robusteren“ Ressourcen ausgestattet sein, als eine Einrichtung, die schon länger existiert, für Betroffene Teil ihrer „zweiten Natur“ geworden ist und erfolgreich darin war, einen Kontext zu regulieren. Ein letzter Faktor für die „Effizienz“ einer Institution ist – wiederum in Aufnahme einer Unterscheidung, die sich in der Erörterung der ersten Bedingung ergeben hat – ihre regulative oder konstitutive Funktion: In Handlungskontexten, die von einer Institution konstituiert werden, werden Optionen geschaffen, weshalb Betroffene gewöhnlich selbst ein Interesse an der Normierung haben, während regulative Normierungen oder Eingriffe zumindest für einige gewöhnlich Optionen einschränken, weshalb mit größerem Widerstand zu rechnen ist.26 In der Moderne wurde die Einrichtung politischer Institutionen häufig mit der Staatsbildung in eins gesetzt. Das Etablieren von Einzelinstitutionen in einem Verbund derselben war wesentlich mit dafür verantwortlich, dass die genannten Schwierigkeiten von Institutionen beseitigt oder zumindest abgeschwächt werden konnten. So hat die Einrichtung von Finanzbehörden andere Institutionen davon entlastet, selbst finanzielle Mittel akquirieren zu müssen, während die sukzessive, in vielen Staaten und zu unterschiedlichen Zeiten allerdings nur partielle Durchsetzung eines Gewaltmonopols, indem Polizeikräfte aufgebaut wurden und das

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Ausgehend von dieser Gegenüberstellung ließen sich auch die Schwierigkeiten beschreiben, die daraus resultieren, dass ein Kontext „auf Kosten“ anderer Kontexte etabliert wird, wie es etwa durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht geschah: Hier stehen sich der innerschulische Kontext als konstituiert und die regulierende Einordnung dieses schulischen Kontextes in die Gesamtheit der Lebensvollzüge (und d.h. z.B. die Einbindung der Kinder in die ökonomische Reproduktion der Familien) gegenüber (Parias 1981).

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

Militär (bzw. dessen Kontrolle) konzentriert wurde, es ermöglicht hat, das Wirken verschiedenster Institutionen in Krisenfällen abzusichern (ganz abgesehen von der Einbindung in das „Staatsganze“, die die allgemeine Wehrpflicht für männliche Bürger z.T. erzeugt hat). Gleichzeitig hat das Recht als wesentliches Medium der Interaktion und Kommunikation zwischen Institutionen und ihrer Steuerung durch politische Instanzen eine generelle Normierung des sozialen Raums mit sich gebracht, die zu einer tendenziellen Ubiquität von Handlungskontexten geführt hat, die durch Herrschaft etabliert und aufrecht erhalten werden.27 Demgegenüber ist aber auch zu sehen, dass „der Staat“ schon in der westlichen Hemisphäre so verschiedene Formen angenommen hat, dass er kaum als einheitliche und schon gar nicht als unumgängliche Gestalt der Zuordnung und Integration von Institutionen begriffen werden kann (Reinhard 2004: 287-304; Kriegel 2002: 21-83). Und schließlich sind die Dysfunktionalitäten nicht zu übersehen, die die Integration der Institutionen in staatliche Verhältnisse mit sich gebracht hat: Erstens ist das Funktionieren der Institutionen z.T. einem politischen Willen unterworfen worden, der ihnen äußerlich blieb, was für ihr konkretes Operieren nicht immer hilfreich war. Denn – und dies wird mit Blick auf die dritte Bedingung zu erörtern sein – die Voraussetzungen und Ergebnisse politischer Willensbildung müssen nicht unbedingt den innerinstitutionellen Effizienz- oder Operationsbedingungen genügen, etwa wenn Aufgabenstellungen für Institutionen mit politischen Zielen verbunden werden, für die die Institutionen nicht mit Ressourcen ausgestattet bzw. auf die sie ihrem Aufbau und ihrer Struktur nach nicht ausgerichtet sind.28 Zweitens wurden Institutionen eng an das

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Vgl. hierzu die Diskussionen über die „Öffentlichkeit“ des Privaten bzw. die rechtliche Durchdringung vermeintlicher „Privaträume“ und die Schwierigkeiten des Öffentlichkeitsbegriffs, der darin zur Geltung kommt, bei Benhabib 1991 und Fraser 1997: 69-120. Ein normativ relevantes Beispiel für die Schwierigkeit, von der hier die Rede ist, präsentiert Denninger anhand der Spannungen zwischen der Absicherung von politischen Absichten und Interessen in der Form von Verfassungszielen einerseits und den Möglichkeiten rechtlicher Programmierung und Kontrolle staatlicher Institutionen andererseits (Denninger 1994).

1.3 Die zweite Bedingung legitimer Herrschaft

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Funktionieren anderer Institutionen gebunden, woraus sich einerseits Schwierigkeiten der Abstimmung, andererseits aber auch Funktionsverschiebungen ergeben haben. Die Notwendigkeit der Kooperation mit anderen Institutionen und der Abstimmung auf sie führt z.T. zu eigenen „staatlichen“ Erfordernissen, die der Leistung einzelner Institutionen nicht unbedingt zuträglich sein müssen – und sogar zur Bildung von Institutionen führen können, deren Existenz allein den Schwierigkeiten „inter-institutioneller“ Abstimmung geschuldet ist. Dies ist ein Vorbehalt gegenüber dem Staat, der insbesondere in der Kritik an der Bürokratie wiederholt artikuliert wurde (Lefort 1979). Und zuletzt sollte auch nicht übersehen werden, dass die „Logik des Staates“ einer der wesentlichen Gründe bzw. eine entscheidende Voraussetzung für die Möglichkeit des Totalitarismus, viele zwischenstaatliche Kriege und sonstige Phänomene kollektiver Gewalt z.B. gegen Minderheiten in den letzten Jahrhunderten war. Die Einführung von Institutionen in einem staatlichen Gesamtzusammenhang ist also eine wichtige Option, v.a. für die Allokation und Nutzung von Ressourcen, sie ist aber nicht per se die überzeugendste und effizienteste Variante von deren Existenz. Die vorliegende Abhandlung konzentriert sich – trotz der Allgemeinheit der Ausführungen dieses Kapitels – auf die komplexen Handlungskontexte, die sich partiell überlagern und durch die die moderne soziale Welt gekennzeichnet ist. Auch in der Moderne mag es Kontexte geben, die hinreichend klein sind, so dass sie als Herrschaftsverhältnisse charakterisiert werden können, selbst wenn es keine Institutionen gibt, die über die Aufrechterhaltung der Verhältnisse wachen. Möglicherweise lässt sich angesichts solcher Kontexte sogar ein Einspruch gegen die genannte „tendenzielle Ubiquität“ staatlichen Wirkens entwickeln (Frankfurter Arbeitskreis 2004b: 25f.). Diese Kontexte können aber nicht das Beispiel abgeben, anhand dessen untersucht wird, wie eine Instanz beschaffen sein muss, um als Alternative zur Macht Herrschaftsverhältnisse zu etablieren. Die Handlungsverhältnisse, die entscheidend sind, sind solche, in denen Normen ohne Instanzen zu ihrer Durchsetzung zwar das Handeln Einzelner anleiten können, in denen aber niemand sicher davon ausgehen kann, dass sie tatsächlich

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

befolgt werden. Somit ist – zumindest in der Moderne – mit Blick auf die zweite Bedingung abschließend zu konstatieren, dass die bloße, eventuell normativ richtige Generierung von Normen, die Kontexte etablieren, strukturieren oder kontrollieren sollten, oder die Existenz anerkannter „Autoritäten“ nicht hinreicht, um eine Alternative zur Macht zu begründen. Selbst richtige Normen können „ohnmächtig“ sein und in Kontexten wirkungslos bleiben, womit ihre Geltung von kontingenten Überzeugungen oder Zielen derjenigen abhängig wäre, die über die entscheidenden Ressourcen verfügen. Von einer Theorie, die die Notwendigkeit von Herrschaft gemeinsam mit den geltungstheoretischen Bedingungen für Legitimität begründen will, muss also in dieser Hinsicht erwartet werden, dass sie expliziert, wie die Normen, die die Handlungsverhältnisse bestimmen sollen, durch „verwaltende“ Instanzen faktisch zur Geltung gebracht werden (können), und d.h. auch, dass sie angeben kann, wie die Normen beschaffen sein müssen, damit deren Geltung überhaupt vermittels der genannten Instanzen in den fraglichen Kontexten realisiert werden kann, wie diese Instanzen (etwa als politische Institutionen) die möglicherweise notwendigen Ressourcen zur Intervention in Kontexten akquirieren und wie sie intern verfasst sein müssen, damit sie adäquat mit den Gegebenheiten in den Kontexten umgehen können.

1.4 Die dritte Bedingung legitimer Herrschaft: Das Verhältnis von Normierungsverfahren und Normenumsetzung Herrschaftsverhältnisse können also in der Moderne nur dann an die Stelle von Machtverhältnissen treten, wenn Institutionen entwickelt werden, die zu den jeweiligen Handlungskontexten „passen“ und in sie im Sinn der angezielten Normierung eingreifen können. Vor diesem Hintergrund wirft die dritte Bedingung für eine Begründung der Notwendigkeit von Herrschaft über deren Legitimität die Frage auf, wie das Verhältnis zwischen den Verfahren, die angesichts der ersten Bedingung zu präzisieren sind und Legitimität verbürgen, und der Weise und Gestalt, in der Herrschaft allein wirksam werden kann, genau beschaffen ist bzw. sein kann. Unter welchen Voraussetzungen können erstere zweitere hinreichend bestimmen, binden und kontrollieren, so dass tatsäch-

1.4 Die dritte Bedingung legitimer Herrschaft

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lich mit dem „Legitimitätskriterium“ auch die Notwendigkeit (bzw. die Berechtigung) von Herrschaft erwiesen ist. Eine überzeugende Begründung von Legitimität kann sich nicht darin erschöpfen, Kriterien anzugeben, die festlegen, welche normativen Grundlagen für die Relationen zwischen Handelnden berechtigt sind und welche nicht. Sie müssen darüber hinaus erklären, (1) wie und warum die Grundlagen in der Tat angemessen sind, (2) wie und unter welchen Bedingungen die faktische Geltung der Grundlagen um- und durchgesetzt werden kann und (3) wie vermieden wird, dass die Um- und Durchsetzung selbst in Widerspruch zu den fraglichen Grundlagen tritt. Während aber die Klärung der Implikationen der ersten und zweiten Bedingung allgemeine Züge jeder Konzeptualisierung von „Zustimmung“ bzw. von Herrschaftsinstanzen herausarbeiten konnte, lässt sich die Erfüllung der dritten Bedingung nicht ohne die Berücksichtigung des konkret begründeten Legitimitätskriteriums erörtern. Denn die Voraussetzungen, unter denen Herrschaftsinstanzen an das Legitimitätskriterium gebunden sein können oder faktisch sind, sind andere, wenn das Kriterium als letztlich moralische Erwartung einer gerechten Grundstruktur bzw. als Set von Gerechtigkeitsprinzipien verstanden wird, wenn es über die Anforderung einer möglichst rationalen oder effizienten Nutzung und (Re-)Distribution von Ressourcen expliziert wird oder wenn es freiheitstheoretisch über die (faktische) Zustimmung zu Gesetzen eingeführt wird. Eine solche Thematisierung der Eigentümlichkeiten der Institutionen, mit denen Normen, deren legitime Geltung erwiesen wurde, um- und durchgesetzt werden, fehlt leider häufig in Theorien legitimer Herrschaft. Dennoch soll diese Diagnose nicht unmittelbar zum Anlass genommen werden, bestimmte Ansätze in der politischen Philosophie von Vornherein auszuschließen, sondern in den folgenden Erörterungen verschiedener Angebote, dem Legitimitätskriterium eine klare Gestalt zu geben, wird jeweils untersucht, ob hinreichende Bestimmungen angeführt werden, die alle entwickelten Bedingungen erfüllen. Wenn dies prima facie nicht geschieht, wird darüber hinaus diskutiert, ob es sich hierbei um ein grundsätzliches Problem oder nur um ein Desiderat handelt, das bisher offen bleibt.

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1. Warum überhaupt Herrschaft?

Dies gilt auch für die kontraktualistischen Positionen, die in den vorausgehenden Ausführungen lediglich in der Form eines verkürzten Zerrbilds als Widerpart verwendet wurden, nicht um damit die Unplausibilität dieser wesentlichen Strömung zu erweisen, sondern zu erklären, warum es zusätzlicher Überlegungen bedarf, damit sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Solche Überlegungen finden sich bei fast allen kontraktualistischen Autoren und sie haben nicht zuletzt häufig zu einem herrschaftsskeptischen liberalen Kontraktualismus geführt. Dieser Kontraktualismus bewahrt den Bürgern entsprechender politischer Ordnungen das Recht zum Widerstand gegen Institutionen, die Herrschaft ausüben, oder schreibt es ihnen sogar explizit zu und vermeidet somit eine zu starke Engführung von Legitimität und Notwendigkeit. Es wird zwar die Notwendigkeit von Herrschaft überhaupt behauptet, nicht aber diejenige der realen Formen, die sie angenommen hat und in Zukunft annehmen wird. Auch dies wird nun als ein Modell der Explikation von Bedingungen legitimer Herrschaft untersucht werden.

2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I: Gerechtigkeitstheoretische Begründungen der Legitimität und ihre Schwierigkeiten Das vorhergehende Kapitel hat gezeigt, dass sich Herrschaft von Macht dadurch unterscheidet, dass Herrschaft in der expliziten Setzung, Kontrolle oder Aufrechterhaltung von Relationen zwischen Handelnden besteht. Diese Relationen bringen Handelnde in ein Verhältnis zueinander, durch das sich ihnen, etwa qua Ausstattung mit bzw. Vorenthalten (der Nutzung) von Ressourcen, Handlungsmöglichkeiten eröffnen, durch das aber auch festgelegt wird, was welcher Handelnde von welchem anderen Handelnden unter welchen Bedingungen sicher erwarten kann, zu welchen Handlungen bzw. Unterlassungen man also genötigt wird oder werden kann. Normative Theorien der Legitimität von Herrschaft konzentrieren sich zunächst auf die Frage, wie die Relationen beschaffen sein müssen, damit sie nicht nur faktisch die jeweiligen Verhältnisse etablieren, sondern dies berechtigterweise leisten und d.h. mit dem Anspruch, von den Betroffenen anerkannt zu werden, bzw. mit der Berechtigung, sie notfalls auch mit Zwang durchzusetzen. Blickt man auf die politische Philosophie der letzten Dekaden, dann zeigt sich, dass spätestens seit der Publikation von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit oft die Gerechtigkeit als entscheidendes (wenn auch z.T. nicht hinreichendes) Kriterium für die Legitimität von Herrschaft begriffen wird. Unter dem Titel der „Gerechtigkeit“ werden wiederum verschiedene Anforderungen an Herrschaft entwickelt, so dass drei Dimensionen gerechtigkeitstheoretischer Bestimmung von Legitimität zu unterscheiden sind: Erstens teilen die verschiedenen Positionen eine „moralphilosophische Begründung“ des Legitimitätskriteriums, d.h. die Begründung ist zumeist unabhängig von faktischen Interessen und

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

Bedürfnissen Betroffener bzw. der besonderen Lage einer politischen Gemeinschaft. Sie stützen sich auf allgemeine, etwa vernünftige bzw. universelle Überlegungen oder auf kommunitaristische oder sittlichkeitstheoretische Annahmen dazu, wie das Verhältnis der Handelnden zueinander und die Handlungsoptionen beschaffen sein sollte(n). Differenzen zeigen sich zweitens aber darin, was als entscheidender Aspekt oder ausschlaggebende Hinsicht verstanden wird, mit Blick auf die das Verhältnis oder die Optionen konzipiert werden. Hierbei lassen sich v.a. zwei Verständnisweisen von Gerechtigkeit unterscheiden: einerseits eine handlungsorientierte Gerechtigkeitskonzeption, die Gerechtigkeit als Hilfe in (unverschuldeten) Notlagen begreift, andererseits eine Konzeption, die mit der Gerechtigkeit eine gesellschaftliche oder politische Grundstruktur qualifiziert. Drittens ist eine weitere Ebene von Differenzierungen zu beobachten, die aus der Frage nach den hinreichenden Kriterien für die Legitimität politischer Akteure, Institutionen und Ordnungen resultieren. Denn die meisten Ansätze weisen die unmittelbare Legitimation durch eine moralphilosophische Gerechtigkeitskonzeption zurück und betten die Konzeption in politische Verfahren bzw. Institutionen ein, deren Begründung z.T. über die Gerechtigkeitskonzeption hinausreicht. Im Folgenden werden zunächst einige Charakteristika moralischer Begründungen von Legitimitätskriterien präsentiert, die die verschiedenen Ansätze teilen (2.1). Im Anschluss daran werden erst die handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie (2.2) und dann die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie (2.3) untersucht, wobei v.a. auch auf die politischen Realisierungsbedingungen geblickt wird.

2.1 Zur allgemeinen Charakterisierung von Gerechtigkeitstheorien zwischen Moral, Politik und Legitimität Die Geschichte der praktischen Philosophie war immer auch eine Geschichte der Einsicht in Unzulänglichkeiten realer Handlungen und Handlungsverhältnisse – und zwar nicht erst durch die Entdeckung der Macht, wie sie das vorherige Kapitel skizziert hat.

2.1 Allgemeine Charakterisierung von Gerechtigkeitstheorien

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Der Mensch wird als Wesen betrachtet, das grundsätzlich fähig ist, richtige bzw. gute Handlungen von falschen zu unterscheiden, zugleich aber mit der Willensschwäche, dem Hedonismus oder der Täuschung durch innerweltliche Gegebenheiten und bloß vermeintliche Möglichkeiten zu kämpfen hat. Die soziale Wirklichkeit als solche ist somit – wenn überhaupt – nur ein zweifelhafter Ratgeber für die Handlungen, die der Mensch ausführen sollte. Nach ersten Ansätzen bei Platon bildet sich spätestens bei Aristoteles die Moralphilosophie als Theorie eines Wissens bzw. einer Klugheit (fro,nhsij, prudentia) heraus, die zumindest in Teilen qua Reflexion erworben werden kann (Aubenque 1963: 143-152; Höffe 1996: 157-180; Rese 2003: 103-140), und gerade in ihrer Explizitheit dazu dienen soll, einen alternativen Leitfaden zum bloßen Bewegen innerhalb der Welt bereitzustellen (Wieland 1981: 53-60). In der Vormoderne wird hierbei häufig teleologisch argumentiert, d.h. moralische Forderungen werden aus einem Endzweck oder einer Aufgabe bestimmter Gemeinschaften, der Schöpfung bzw. des Kosmos oder aus einer Gattungsbestimmung der Menschheit abgeleitet (Lutz-Bachmann 2000). Ein idealer Zustand der Welt bzw. der Aktualisierung von Vermögen, die den einzelnen Menschen zukommen, wird so zur Grundlage für die Artikulation moralischer Anforderungen (Horn/Scarano 2002: 17-34). In der Moderne tritt dieses teleologische Motiv in den Hintergrund, was sich etwa in der abnehmenden Bedeutung von Reflexionen über das „gute Leben“ sowie des Primats der Gemeinschaft vor dem Individuum manifestiert (Brunkhorst 1997: 11-20). Es kommt zu einer generellen Formalisierung der Argumentation in der Moralphilosophie, die sich im abstrakt-universellen Individuum als Ausgangspunkt, aber auch in der Universalisierung weiterer Begriffe zeigt, wie etwa demjenigen der Gemeinschaft, der häufig im Zug der Universalisierung durch denjenigen der Gesellschaft ersetzt wird (Habermas 1987a: 22; Honneth 2000: 328-338). Die Auszeichnung eines abstrakt gleichen Individuums als Ausgangspunkt der Moralphilosophie hat mindestens drei wichtige Konsequenzen: So wird erstens die Argumentation – zumindest der Intention nach – von historischen Prämissen und d.h. von faktischen sozio-kulturellen und ökonomischen Differenzen zwischen Menschen abge-

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

löst und ein Geltungsgrund moralischer Anforderungen gesucht, der gegenüber jedem Menschen gleichermaßen gerechtfertigt werden kann (auch wenn er zu unterschiedlichen Anforderungen gegenüber je Einzelnen bzw. zu berechtigten Differenzen führen mag). Schon aus dieser gleichen Rechtfertigungsbedürftigkeit folgt, dass der Geltungsgrund den Individuen nicht rein äußerlich sein kann, sondern sich aus der jeweiligen Vernunft(fähigkeit) der Individuen selbst ergeben muss (Gosepath 2004: 144-154). Zweitens werden die Individuen aber auch noch in einer weiteren Hinsicht relevant, denn die Rechtfertigung über und durch sie hat zur Folge, dass sie in ihren Eigentümlichkeiten als Individuen in den Blick geraten. Moralische Forderungen können nicht mehr ohne Weiteres auf eine angezielte Ordnung oder einen Gesamtzusammenhang bezogen sein, sondern sie müssen die Individuen als Individuen mit unveräußerlichen Ansprüchen berücksichtigen – ohne diese Berücksichtigung wäre nicht einzusehen, warum ihnen gegenüber moralische Forderungen gerechtfertigt werden könnten.1 Die wichtigste Konsequenz, die eng mit den zuvor genannten zusammenhängt, ist drittens der Übergang von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie und d.h. oft im engeren Sinn zur Rechtsphilosophie: Die unveräußerlichen Ansprüche der Individuen führen angesichts der weiterhin bestehenden Probleme der Willensschwäche etc. zur Forderung nach dem Schutz oder der Gewährleistung basaler Rechte, die nicht mehr in Abhängigkeit von individuellen und kontingenten Motivationen oder der Willkür von Akteuren stehen sollten.2 Die geltungstheoretische Umstellung der Moralphilosophie auf das Individuum als solches hat somit zur Folge, dass sich die moralische Forderung nach einer politischen Ordnung oder äquivalenten Institutionen bzw. Akteuren ergibt, die dem Individuum basale Ansprüche sichern, ohne die es Gefahr läuft, in seiner personalen Integrität geschädigt zu werden (Lutz-Bachmann 2004: 287-290), und ohne die es nicht sinnvoller-

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Vgl. dazu Kants Aussage: „Der Nutz[en] vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen.“ (Kant 1934: 97) und auch Rousseau 1986: 32-36. Vgl. zum Übergang der „Ansprüche“ zu „Rechten“ sowie zum „Willkürverbot“ auch Höffe 1989: 43f. und Köhler 2002: 29-31.

2.1 Allgemeine Charakterisierung von Gerechtigkeitstheorien

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weise als Teil ein moralischer, politischer oder rechtlicher Rechtfertigungsverfahren betrachtet werden kann (Forst 1999: 81-95). Der solcherart beschriebene Übergang von der Moralphilosophie zur politischen Philosophie hat aber auch auf Seiten der Ordnungen, Institutionen oder Akteure Auswirkungen. Denn aus der moralischen Begründung des politischen Handelns bzw. einer politischen Ordnung ergibt sich auch für letztere ein neues und einschränkendes Kriterium der Berechtigung: Aufgrund des moralisch unbedingt gebotenen Schutzes von unveräußerlichen individuellen Ansprüchen existieren Ordnungen, Institutionen oder politische Akteure nur so lange und so weit berechtigterweise, als sie diesen Schutz gewährleisten. Ordnungen etc., die selbst Ziele verfolgen bzw. zu Dynamiken führen, die tendenziell oder möglicherweise die Ansprüche verletzen, können keine Legitimität (mehr) beanspruchen. Es verweist also nicht nur die Moralphilosophie auf die politische Philosophie, sondern auch umgekehrt die politische Philosophie auf die Moralphilosophie, da sie von dieser eine wesentliche Bestimmung der Legitimität von Ordnungen etc. erhält, die sie zu begründen für sich reklamiert (Rawls 1992b: 110-113). Die Begründung bleibt dementsprechend insgesamt moralphilosophisch, denn dem „Eigenleben“ des Rechts oder der Politik kommt in ihr nur in dem Maß Berechtigung zu, als Recht und Politik es vermögen, grundlegende Ansprüche unter Absehung von motivationalen oder sonstigen Schwierigkeiten als solche zu sichern und notfalls mit Zwang durchzusetzen (Gosepath 2004: 1825, 315-347). Dies führt teilweise zu einer zumindest ambivalenten Situation: Denn einerseits werden zur Sicherung interpersonaler Ansprüche, die sich moralphilosophisch ergeben, rechtlichen und politischen Institutionen oder Akteuren uneingeschränkte oder wenigstens weitreichende Kompetenzen zugeschrieben, während andererseits mit Blick auf konkrete politisch-rechtliche Verhältnisse gerade solche Institutionen als signifikante Bedrohung der Ansprüche wahrgenommen werden und folglich die basalen Rechte v.a. auch als Abwehrrechte gegen institutionelles Handeln konzipiert werden. Für die fraglichen Theorien insgesamt, aber nicht nur für diese, wie sich später herausstellen wird, zeichnet sich damit die systematische Schwierigkeit ab, wie der notwendige Re-

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

duktionismus in der moralphilosophischen Begründung und die Abstraktheit ihrer Begriffe überzeugend mit den empirisch-historischen Ausprägungen von Institutionen und politisch-rechtlichen Ordnungen als ganzer in Verbindung gebracht werden kann.3 Dabei handelt es sich um eine Schwierigkeit, die auf die Differenzen in der Erfüllung der ersten (die Normengenerierung betreffenden) und zweiten (die Substitution von Macht durch Herrschaft explizierenden) Bedingung zurückgeht, die zuvor für den Übergang von Macht zu legitimer Herrschaft artikuliert wurden. Politische Ordnungen, die in der beschriebenen Weise gleiche grundlegende Rechte und Ansprüche aller Individuen sichern und daher Legitimität für sich beanspruchen, werden gewöhnlich unter den Titel der „Gerechtigkeit“ gestellt. Gerechtigkeit beschreibt somit in der modernen politischen Philosophie4 im Unterschied zur Moral im engeren Sinn, für die die direkte Begegnung zwischen (zwei) Individuen den paradigmatischen Fall abgibt, grundsätzlich ein multipolares Verhältnis. Sie bezeichnet eine Verteilung von Positionen, Ressourcen, Optionen oder Pflichten für eine Menge von Individuen, die nicht notwendigerweise an unmittelbare Ansprüche zwischen einzelnen Individuen und Pflichten, die ihnen korrespondieren, geknüpft ist, sondern durchaus die Einrichtung oder das Wirken politischer Institutionen begründen kann, die sich nicht auf symmetrische Beziehungen reduzieren lassen.5 Für das Bestehen gerechter Verhältnisse ist dabei entscheidend, dass sie unter einem Gesichtspunkt der Unparteilichkeit gerechtfertigt werden können. Eine erste Bestimmung dieses „Gesichtspunktes der Unparteilichkeit“ erlauben schon die beiden bisher genannten

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4

5

Vgl. zu den Schwierigkeiten in der Übersetzung zwischen „moralischen“ Rechten und „rechtlichen“ Rechten auch Lohmann 1998: 65-67, 89-95. Zur Gerechtigkeit als Tugend v.a. in der antiken Philosophie, aber auch in anderen Epochen vgl. Kersting 2002: 217-254 und Williams 1984b. Vgl. dazu die Diskussion im folgenden Abschnitt, in der mit der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie ein Ansatz präsentiert wird, der eine enge Korrespondenz von Ansprüchen und Pflichten als Ausgangspunkt wählt. Zur Auseinandersetzung über vollkommene Rechte und Pflichten siehe zudem O’Neill 1996: 169-179 und Shue 1988: 689-691; zur Zurückweisung dieser Grundierung gerechter Verhältnisse in interpersonalen moralischen Ansprüchen und Pflichten Pogge 2002b: 128-140.

2.1 Allgemeine Charakterisierung von Gerechtigkeitstheorien

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Charakteristika der Gerechtigkeitstheorien: „unparteilich“ ist eine Begründung dann, wenn sie gegenüber jedem Einzelnen und gegenüber allen gerechtfertigt werden kann. Denn erstens sollen sich die Verhältnisse nicht den besonderen Beziehungen zwischen betroffenen Individuen verdanken, sondern einer Einsicht, die sich aus deren ursprünglicher Gleich-Berechtigung und Gleich-Gültigkeit ergibt; und zweitens erfordert die Multipolarität eine Berücksichtigung aller in der Weise, dass die getroffene Verteilung von Positionen etc. tatsächlich für alle als eine Gesamtheit etabliert werden kann. Aus dem Gesichtspunkt der Unparteilichkeit folgt dabei nicht notwendig eine arithmetische Gleichverteilung der Positionen etc., denn die Berücksichtigung der Unparteilichkeit hat je andere Konsequenzen, wenn sie hinsichtlich des abstrakten Begriffs des Individuums, einer fiktiven gemeinsamen Ausgangsposition, der Entwicklung von Individuen über die Zeit ihres Lebens, der Bedrohung Einzelner durch besondere Notlagen etc. zur Geltung gebracht wird. Die Gleichheit der Individuen als Ausgangspunkt für die Rechtfertigung einer politisch-rechtlichen Ordnung oder von (institutionellen) Handlungen ist also durchaus mit einer Ungleichverteilung von Positionen etc. vereinbar, so sich gute Gründe finden lassen, die eine solche Ungleichverteilung rechtfertigen (Hinsch 2002: 170-173; Kersting 2002: 23-95). Diese weiteren Ausführungen zur Unparteilichkeit explizieren letztlich auch, inwiefern alle hiermit bezeichneten Theorien als moralische Begründungen von Legitimität zu verstehen sind. Sie begründen Kriterien anhand derer das Wirken von Akteuren, Institutionen oder ganzer Ordnungen als richtig oder falsch bewertet werden kann, ohne dass die Akteure etc. selbst (und d.h. in ihren konkret-historischen Ausprägungen, in ihrer Bedingtheit durch Nicht-Moralisches, in ihren faktischen Einstellungen zu den Pflichten/Rechten etc.) in die Begründung der Kriterien eingehen. Selbst wenn Gerechtigkeitstheorien einen besonderen Kontext als Ausgangspunkt nehmen, so fließt dieser doch nur formalisiert und abstrakt in die Begründung der Geltungsbedingungen ein, was bedeutet, dass existierende Asymmetrien, Abhängigkeiten, Konventionen und Traditionen o.Ä. nicht als solche Prämissen für die Argumentation sein können. Für den Fall, dass ihre Berechtigung er-

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

wiesen werden soll, müssen sie einen Test auf ihre Rechtfertigbarkeit auch gegenüber denjenigen bestehen, die sich in der schlechter gestellten bzw. nicht begünstigten Position befinden. Gerechtigkeitstheorien argumentieren somit immer mehrstufig, d.h. es gibt eine erste Stufe rein philosophischer Begründung von Prinzipien, Verpflichtungen oder Strukturen, bevor diese dann auf weiteren Stufen entweder zum Entwerfen adäquater Akteure, Instanzen oder Institutionen genutzt werden oder aber als Bewertungsmaßstab bzw. Handlungsanleitung an existierende Akteure, Instanzen oder Institutionen herangetragen werden.6

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien und ihre Konzeption politischer Legitimität Bisher waren die Ausführungen zur Gerechtigkeitstheorie sehr allgemein, da es zunächst darum ging, Gemeinsamkeiten verschiedener Positionen herauszuarbeiten. Wie genau die Kriterien bestimmt werden, die die Legitimität von Akteuren, Institutionen oder Strukturen angeben sollen, wird erst bei einem Blick auf die gerechtigkeitstheoretischen Ansätze ersichtlich. Die Darstellung der Gemeinsamkeiten zeichnete schon grob nach, dass und wie die Gerechtigkeitstheorien aus der Moralphilosophie hervorgehen. Ein erster Ansatz der Gerechtigkeitstheorie beansprucht, seine Wurzeln in der Antike zu haben, namentlich in den Schriften von Platon und Aristoteles (Platon 1990: 352a-354c, 432b-435a; Aristoteles 1991: 1129a3-1130b18), und er verbleibt in seiner Argumentation nah an der Moralphilosophie im engeren Sinn, selbst

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Vgl. dazu die Definition politischer Legitimität von Allen Buchanan: „A wielder of political power (the supremacist making, application, and enforcement of laws in a territory) is legitimate (i.e., is morally justified in wielding political power) if and only if it (1) does a credible job of protecting at least the most basic human rights of all those over whom it wields power and (2) provides this protection through processes, policies, and actions that themselves respect the most basic human rights. The intuitive appeal of this view of legitimacy can be stated quite simply: The chief moral purpose of endowing an entity with political power is to achieve justice.“ Buchanan 2004: 247.

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

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wenn er letztlich u.a. zur Legitimation des Handelns nicht-personaler Akteure führt. Diesem Ansatz zufolge ist der Ausdruck „gerecht“ primär Handlungen zuzuschreiben, die das Kriterium erfüllen, dass man sie jedem anderen schuldet, unabhängig von den besonderen (familiären, ökonomischen etc.) Beziehungen, die man zur jeweiligen Person unterhält, und eventuell sogar ohne Ansehen der Leistungen bzw. Verfehlungen der Person. Abgeleitet davon können auch Personen „gerecht“ genannt werden, wenn sie dadurch ausgezeichnet sind, dass sie ständig derartige Handlungen ausführen oder zu einer solchen Ausführung disponiert sind.7 „Jedem anderen eine entsprechende Handlung zu schulden“ bedeutet in dieser Bestimmung, dass die Notwendigkeit bzw. Gebotenheit einer Handlung sich daraus ergibt, dass erstens jedes Individuum, das sich in einer derartigen Lage befindet, den gleichen Anspruch auf Unterstützung oder die Durchführung einer Handlung durch eine andere Person hätte, und zweitens die Person, die die Handlung ausführt, das Vermögen zu dieser Ausführung hat. „Gerecht“ ist eine Handlung also dann, wenn es auf jeden Fall richtig oder geboten ist, sie auszuführen, und ein Handelnder in der Lage dazu ist. Die vorliegenden Theorien argumentieren daher mit einer Korrelation von Ansprüchen und Pflichten bzw. Erwartungen, diese Korrelation ist aber nicht streng reziprok, sondern sie steht unter einem Primat des Anspruchs oder Rechts: Das Vermögen des Handelnden, eine Handlung auszuführen, wird erst dann gerechtigkeitstheoretisch relevant, wenn es einen prima facie Anspruch auf die korrespondierende Handlung gibt. Es gibt somit keine „gerechten“ Handlungen, die sich allein daraus ergeben, dass jemand das Vermögen zu einer bestimmten Handlung hat und jemand anderes aus ihr einen Nutzen ziehen könnte (Raz 1984: 199-201). Vor diesem Hintergrund vertritt die handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie die Auffassung, dass es moralische Dringlich-

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Diese Argumentationslinie wird hier nicht weiter verfolgt, da sie letztlich eine Weiterentwicklung der handlungs- zu einer charaktertheoretischen Gerechtigkeitskonzeption darstellt, ohne dass die wesentliche Bestimmung der Kriterien für Gerechtigkeit über Handlungen aufgegeben würde. Vgl. zu solchen Ansätzen MacIntyre 1988: 136-140 oder Young 2005: 88.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

keiten oder moralisch relevante Zustände gibt, die bei ihrem Bestehen eine zweite Person zum Handeln verpflichten und die moralisch relevant bleiben, auch wenn es Institutionen, Einrichtungen oder Strukturen gibt, die die Zustände prinzipiell beheben könnten. Auch in diesem Fall existieren weiterhin individuell zurechenbare Handlungspflichten oder zumindest -imperative und das Wirken von Institutionen etc. kann grundsätzlich allein als Realisierung – die weiterhin in der Verantwortung der Personen steht, die unmittelbar verpflichtet sind – der solcherart begründeten Pflichten „gerecht“ genannt werden. Eine Theorie, die sich auf die Begründung von Ansprüchen oder Rechten, aber auch Institutionen oder Strukturen beschränkt, ohne zugleich die Adressaten konkreter Pflichten zu nennen, kann in der Perspektive der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie nicht für sich reklamieren, eine umfassende Gerechtigkeitstheorie zu sein.8 Ansprüchen und Rechten müssen Handlungsverpflichtungen entsprechen, denn nur auf dieser Grundlage kann sinnvoll behauptet werden, dass sie bestehen.9 Es kann niemandem gerechterweise ein Recht oder ein Anspruch zukommen, ohne dass jemand verpflichtet wäre, das Recht zu gewährleisten oder den Anspruch zu erfüllen. Damit wird klar, dass ein Schwerpunkt der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie darin liegt, relevante Missstände und moralisch einschlägige Situationen sowie korrespondierende Vermögen auf Seiten der Personen aufzuzeigen, die jeweils verpflichtet werden. Das erste Kriterium für eine gerechte Handlung ist, dass sie jedem geschuldet wäre, der sich in einer derartigen Situation befän-

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Vgl. zu einem solchen, hiermit kritisierten Ansatz die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie, die im folgenden Abschnitt diskutiert wird. Diese These findet sich – selbst wenn sie heute zumeist mit Autoren, wie den zuvor genannten Onora O’Neill oder Henry Shue, in Verbindung gebracht wird, die kantianisch oder kontraktualistisch argumentieren – v.a. bei utilitaristischen Autoren. Dabei gibt es aber keinen inneren Zusammenhang zwischen der utilitaristischen Begründung des moralischen Maßstabs und derjenigen des Verhältnisses von Rechten/Ansprüchen und Pflichten (vgl. Brandt 1959: 434441; Grice 1967: 37-45). Zu Unterscheidungen zwischen verschiedenen Varianten der These, wie das Entsprechungsverhältnis von Rechten/Ansprüchen und Pflichten zu verstehen ist, siehe (auch wenn der Autor die meisten der Bestimmungen eines Entsprechungsverhältnisses zurückweist) Lyons 1970.

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

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de. Es kann auf verschiedene Weise erklärt werden, wann diese Voraussetzung gegeben ist. So können die Situationen einerseits derart beschrieben werden, dass sie an sich schlechte oder zu beseitigende Situationen sind, d.h. unabhängig von den Entwicklungen oder Handlungen, die zu ihnen geführt haben (Singer 1972: 231). Wenn z.B. jemand mit seinem Auto auf Schienen feststeckt, er das Auto nicht ohne Hilfe verlassen kann und zugleich ein Zug auf das Auto zurast, dann hat er den Anspruch auf Hilfeleistung unabhängig davon, ob er sich selbst durch nachlässiges oder gar moralisch falsches Verhalten in diese Situation gebracht hat. Wie dieses Beispiel zeigt, sind „an sich schlechte Situationen“ gut über Notfälle zu erläutern, gleichzeitig wird aber in dem Beispiel auch klar, dass „Notfall“ hier keinen unerwarteten, zufälligen oder durch äußere Einwirkung induzierten Ausbruch aus dem intentional steuerbaren Gang der Dinge bedeuten muss. Denn es lassen sich klar die Gründe (die z.T. vom Betroffenen gewählt wurden und ihm bekannt sind) benennen, die zur gegebenen Situation geführt haben.10 Andererseits kann die Art oder der Umfang der Handlungen, auf die jemand Anspruch hat, aber auch darüber bestimmt werden, wie verantwortlich er selbst (im negativen oder positiven Sinn) für die Situation ist, in der er sich befindet. Jemand, der etwa durch betrügerisches oder ausbeuterisches Handeln anderer verarmt ist oder Hunger leidet, hat den Anspruch, dass ihm aus seiner Notlage oder aber auch nur aus einer Lage, in der er relativ schlechter gestellt ist als andere, geholfen wird oder dass die Betrüger zur Rechenschaft gezogen und die Schädigungen des Betroffenen behoben werden. In einem anderen Fall könnte derjenige, der für eine Gruppe von Personen eine Leistung erbracht hat, die ihnen zugute kommt und die sie nicht ohnehin von ihm erwarten konnten (d.h. zwar möglicherweise moralisch gefordert haben, aber von deren Realisierung sie nicht ohne Weiteres ausgehen konnten, die Person sich also einen Verdienst [desert] erworben hat), beanspruchen, dass diese Gruppe bestimmte Handlungen durchführt, die ihm wiederum von Nutzen sind. In diesem zwei-

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Diese Präzisierung ist notwendig, um den Unterschied zur folgenden Variante der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie zu verdeutlichen, die ihre Argumentation wesentlich auf die Zuschreibbarkeit von Verantwortung stützt.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

ten Fall wird allerdings nur dann das oben genannte Prinzip beachtet, dass sich die Verpflichtung nicht besonderen Relationen zur Person verdanken darf, wenn es sich nicht um eine kontingente Beziehung handelt, sondern um eine „Schuld“, die sich aus der allgemeinen Anerkennungswürdigkeit der Leistung für die anderen ergibt. „Allgemeine Anerkennungswürdigkeit“ bedeutet nicht notwendig, dass die Handlung als solche für jeden unabhängig von seiner konkreten Betroffenheit ein Gut darstellen muss, aber es muss zumindest für jeden nachvollziehbar sein, dass die Handlung für einige ein Gut ist und er selbst von ihr nicht geschädigt wird. D.h. aber auch, dass – zumindest in der Perspektive dieses gerechtigkeitstheoretischen Ansatzes und im Unterschied zur kommunitaristisch-kontraktualistischen Begründung von Rechten und Pflichten – die anderen einer Person keine Handlung(en) schulden, wenn diese durch betrügerisches oder ausbeuterisches Agieren gegenüber Dritten die Gruppe insgesamt bereichert hat; in einem solchen Fall wäre eine bloß kontingente Beziehung ausschlaggebend, da kein allgemein (d.h. z.B. denen gegenüber, die geschädigt wurden) rechtfertigbarer Grund angeführt werden könnte, warum die Tat richtig gewesen sein sollte. In diesem Ansatz der Gerechtigkeitstheorie stehen sich also Modelle gegenüber, die die Handlungen, die mit dem Prädikat „gerecht“ qualifiziert werden können, entweder über Notlagen bestimmen, in denen besondere Betrachtungen hinsichtlich der Betroffenen irrelevant sind, oder aber über solche Situationen, in denen die Lage betroffener Personen aus ihren eigenen, allgemein schätzungswürdigen Leistungen bzw. unverantworteten Schädigungen resultiert. Beide Modelle stimmen darin überein, dass aus den Situationen, die jeweils als moralisch relevant verstanden werden, Handlungsimperative folgen und nicht bloß abstrakte Ansprüche oder Berechtigungen. Das erste Modell gibt Kriterien an, was eine „an sich schlechte Situation“ auszeichnet und in welcher Hierarchie verschiedene „schlechte Situationen“ stehen, während das zweite Modell gleich drei Theoriebestandteile hinzufügt: es legt erstens eine Theorie der Verantwortung vor (vgl. Kersting 2000: 398-403 sowie umfassend und differenziert v.a. Miller 2007), zweitens expliziert es, etwa kontraktualistisch, warum für Zweite

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

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oder Dritte die Schäden bzw. Leistungen einer ersten Person relevant sein sollten (vgl. Hinsch 2002: 240-244, Miller 1999: 131-155; Sher 1987), und es gibt drittens parallel zum Notfallmodell an, welche Schäden bzw. Leistungen überhaupt und aus welchen Gründen berücksichtigt werden sollten (vgl. Shklar 1986: 24-26). Während das erste Modell auf wenige Situationen beschränkt ist, in denen dann aber unbestreitbar eine moralische Dringlichkeit vorliegt, impliziert das zweite Modell nicht, dass es sich bei moralisch relevanten Situationen um Notfälle handeln muss. Es kann sogar zu einer allgemeinen Theorie sozialer Gerechtigkeit entwickelt werden, woraus dann auch gewisse Nähen zum Modell einer Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorie resultieren, das der nächste Abschnitt vorstellt. Daraus folgt, dass der Aufwand zu begründen, warum eine Situation gerechtigkeitstheoretisch bedeutsam ist, wesentlich größer ist und sich zweifelsohne größeren Kontroversen ausgesetzt sieht. Aus diesen Differenzierungen zwischen einem Notfall- und einem Verantwortungs- bzw. Leistungsmodell ergeben sich auch für das zweite oben angeführte Kriterium, nämlich das Vermögen bzw. die Art und den Grad der Verpflichtung einer Person, eine Handlung auszuführen, unterschiedliche Bestimmungen. Im Notfall-Modell ist, gegeben die Notlage eines anderen, jeder verpflichtet zu handeln, der den Betroffenen aus seiner Situation befreien kann, ohne sich selbst dabei zu schädigen.11 Im Verantwortungsbzw. Leistungsmodell ergeben sich klarerweise Differenzen in der Erwartung und Verpflichtung je nachdem, ob (a) die verpflichtete Person selbst Verursacher oder Nutznießer der Schädigungen oder Handlungen der anderen Person ist, sie sich (b) in einer Posi-

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Dies zieht weitere Überlegungen nach sich, wann von einer „Schädigung“ des Helfenden zu reden ist. Vgl. dazu etwa die Bestimmung vermittels „moralischer Wichtigkeit“ bei Peter Singer: „If it is in our power to prevent something bad from happening, without thereby sacrificing anything of comparable moral importance, we ought, morally, to do it. By „without sacrificing anything of comparable moral importance“ I mean without causing anything else comparably bad to happen, or doing something that is wrong in itself, or failing to promote some moral good, comparable in significance to the bad thing that we can prevent.“ Singer 1972: 231.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

tion befindet, die die Kontrolle oder Disziplinierung einer schädigenden Person vorsieht oder erlaubt, oder sie (c) als unbeteiligter Dritter einer Situation begegnet. Im Fall (a) ist es gerecht, dass die Person verpflichtet ist oder wird, den Schaden, den sie verursacht hat, zu kompensieren bzw. Anerkennungsleistungen zu erbringen, selbst wenn dies für sie wesentliche Nachteile bedeutet.12 Im Fall (b) ist es gerecht, wenn die Person ihre Ressourcen und Kompetenzen einsetzt, um entweder den Schädigenden zu zwingen, den Schaden zu restituieren, oder aber selbst den Schaden zu beheben. Keine Leistung ist allerdings mehr einzufordern hinsichtlich des positiven Verdienstes einer Person, die durch das Handeln einer weiteren Person „begünstigt“ werden soll, und auch der für den fraglichen Handelnden gebotene, möglicherweise für ihn nachteilige Aufwand ist abhängig davon, ob jemand es bloß faktisch vermag, einen anderen zur Restitution zu zwingen, oder ob er qua Amt dazu ermächtigt ist. In letzterem Fall ist er dazu verpflichtet, den Schädigenden zur Restitution zu zwingen bzw. sie selbst zu leisten. Im Fall (c) ist es gerecht und lobenswert, wenn die Person ihre Ressourcen und Kompetenzen einsetzt, um einen Schaden zu restituieren, sie kann aber auf keinen Fall verpflichtet werden, dies zu ihrem Nachteil zu tun. Ob sie verpflichtet ist, in dem Fall zu handeln, in dem dies für sie keinen Nachteil bedeutet, hängt davon ab, ob die Gerechtigkeitstheorie die Annahmen des NotfallModells teilt, dass es Situationen gibt, die an sich schlecht sind, und aus solchen Situationen eine Verpflichtung zumindest dann erwächst, wenn man selbst ohne Schaden vermag, die Situation zu beheben – womit auch gesagt ist, dass die beiden hier präsentierten Modelle einander nicht exklusiv gegenüber stehen, sondern durchaus komplementär sein können. Damit ist zunächst eine moralphilosophische Theorie der Genese und des Bestehens von Pflichten aus Gerechtigkeit entwickelt. In die politische Philosophie im engeren Sinn ist diese Theorie in zwei Weisen eingegangen: Erstens greifen Ansätze sie auf,

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In diesem Fall ist es hinsichtlich einer Weiterentwicklung von der handlungsorientierten zur charakterorientierten Gerechtigkeitstheorie ausgeschlossen, dass die Person selbst als „gerecht“ bezeichnet wird, da sie nur wiederherstellt, was sie an Schaden angerichtet hat, bzw. „belohnt“, was ihr zugute gekommen ist.

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

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die bestreiten, dass die Handlungs- und Objektbereiche von Politik und Moral wechselseitig exklusiv sind, und daher auch bei bestehenden Institutionen, Akteuren oder Strukturen in moralisch relevanten Verhältnissen davon ausgehen, dass weiter unmittelbare Verpflichtungen für die Einzelnen bestehen. So argumentiert Peter Singer in dem berühmten Text Famine, Affluence, and Morality, dass der Hunger in der sogenannten Dritten Welt auch dann ein moralisch relevantes Übel bleibt, wenn prinzipiell Einrichtungen bestehen, die alle Formen von Hunger beseitigen könnten. Handelnde – und niemals nur entsprechende Einrichtungen – sind seiner Auffassung zufolge verpflichtet, solange es Hunger in der Welt gibt, ihre Ressourcen zu nutzen, um dem Hunger Einhalt zu gebieten.13 Kritiker an dieser Position haben darauf hingewiesen, dass sie ihre Plausibilität wesentlich daraus bezieht, dass sie das globale Hungerproblem zu einem „einfachen“ Notfall analog setzt, im Fall Singers zum Ertrinken eines Kindes und Schaden an der eigenen Kleidung, die der Lebensretter hinnimmt (Singer 1972: 231). Die Bedeutung dieser Analogie wird unklar, so die Kritiker, wenn die „Entitäten“, die sich gegenüber stehen, einander nicht mehr in der Form eines „einfachen“ Notfalls korrespondieren, wie es beim globalen Hunger zu konstatieren ist: Neben den „praktischen“ Fragen, wie mit der Dauer der Interventionsbedürftigkeit umzugehen ist und welche Formen direkter oder indirekter Hungerbeseitigung (z.B. Spenden an Hilfsorganisationen) zulässig und geboten sind, hat der Ansatz v.a. keine klare Antwort auf das normative und kognitive Problem, wie das Verhältnis verschiedener Akteure zueinander bestimmt sein sollte, die danach streben, dieselben oder unterschiedliche moralische Übel zu beheben. So ist im Fall des Hungers nicht klar, ob eine „karitative“ Intervention von außen überhaupt das beste oder effizienteste Mittel ist, um die Notlage zu beseitigen, und ob sie nicht eher dazu beiträgt, die

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„I put forward both a strong and a moderate version of the principle of preventing bad occurrences. The strong version, which required us to prevent bad things from happening unless in doing so we would be sacrificing something of comparable moral significance, does seem to require reducing ourselves to the level of marginal utility. I should also say that the strong version seems to me to be the correct one.“ Singer 1972: 241.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

Lage zu verschärfen, indem sie das Handeln anderer Akteure/Institutionen unterminiert (Kuper 2005b: 157-162). Die Verdopplung ähnlicher oder identischer Verpflichtungen der Individuen und politischer Instanzen/Institutionen trägt also u.U. nicht nur nicht dazu bei, das moralische Übel zu lösen, sondern führt geradezu zu dessen Verstetigung oder Verschärfung (Badhwar 2006). Zweitens wird die handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie aber auch von Ansätzen genutzt, die hierüber die Legitimität oder zumindest prima facie Legitimität14 politischer Akteure bestimmen. Solche Ansätze beschreiben wechselseitige Ansprüche auf Handlungen bzw. Unterlassungen von Handlungen zunächst in der Weise der genannten Gerechtigkeitstheorien, d.h. die Verhältnisse, die moralisch relevant sind, stellen sich auf der basalsten Ebene als Netz von Ansprüchen bzw. Pflichten zwischen je zwei Individuen dar. Gemäß den beiden Modellen, die entwickelt wurden, geht dieses Netz entweder auf irreduzible Ansprüche der Einzelnen auf Abwesenheit moralischen Übels und Verpflichtungen zurück, die den Ansprüchen bei anderen korrespondieren (Notfallmodell), oder aber auf Leistungen füreinander, die allgemein anerkennungswürdig sind, bzw. auf Handlungen, die die betroffenen Parteien zu verantworten oder nicht zu verantworten haben (Verantwortungs-/Verdienstmodell). Resultat beider gerechtigkeitstheoretischen Beschreibungen der Genese wechselseitiger Ansprüche und Pflichten ist eine (quasi-)objektive Einsicht in dasjenige, was den Polen jeweiliger Relationen zusteht bzw. was sie zu leisten haben. Die Legitimitätstheorie konzentriert sich – egal ob sie letztlich das Notfall- oder das Verantwortungs-/Verdienstmodell als moralphilosophische Grundlage favorisiert – auf Situationen, in denen sich eine Partei in einem moralisch defizitären Zustand befindet, d.h. ein absolutes Übel erleidet oder einem ungerechtfertigten Nachteil gegenüber anderen ausgesetzt ist.15

–––––––––––––– 14

15

„Prima facie Legitimität“ bezeichnet eine „provisorische“ Legitimität, die nicht per se in jeder Situation beansprucht werden kann. Die Relevanz dieser Unterscheidung wird weiter unten klar. Diese Konzentration umgeht die Schwierigkeiten, die sich aus positiven Verdiensten und deren Anerkennung ergeben. Vgl. dazu u.a. Sher 1987: 194-211

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

61

Wie schon im Fall von Singers Argumentation für das Weiterbestehen moralischer Pflichten sichtbar wurde, werden die fraglichen Situationen in Analogie zu Fällen von Notwehr bzw. Nothilfe gebracht, womit die im engeren Sinn moralphilosophische Betrachtung berechtigter wechselseitiger Ansprüche und Erwartungen um eine Erörterung der Mittel und Wege erweitert wird, die zulässig sind, um Ansprüche und Erwartungen im Fall ihrer Nichterfüllung durchzusetzen. Jemand, dessen Leben bedroht ist, ist berechtigt, (alle) Mittel einzusetzen, die erforderlich sind, um die Quelle der Gefährdung zu beseitigen, d.h. jemand, der eine andere Person erschießt, weil diese ihn zu nahezu hundertprozentiger Sicherheit ansonsten selbst erschießen würde, ist zu dieser Tat berechtigt (Notwehr).16 In Ableitung davon kann ein Dritter advokatorisch im Sinn der ersten Person für diese und eventuell17 gegen die zweite Person eingreifen (Nothilfe). Während Notwehr und Nothilfe aber zumindest in ihrer rechtlichen Bedeutung auf den engen Kontext weniger, grundlegender Rechtsgüter beschränkt sind, führt die Analogisierung im Zusammenhang der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie dazu, dass einerseits die relevanten Situationen je nach Bestimmung der absoluten Übel oder relativen Nachteile erweitert werden und andererseits auch die Maßnahmen zu ihrer Behebung weiteren Begründungen oder Abwägungen unterworfen werden. Die dominierende Bestimmung legitimitätstheoretisch relevanter Übel oder Nachteile ist die Begründung eines Katalogs von „Menschenrechten“, wobei eine Hierarchie der „Menschenrechte“ präsentiert und kategorial zwischen absoluten und relationalen

16

17

und allgemeiner zum Verhältnis von direkten Hilfspflichten zu weiteren „Pflichten“ Shue 1996: 158-166. Probleme der Analogisierung werden schon in dieser Formulierung sichtbar, da nicht jede Form, in der eine lebensbedrohliche Gefahr abgewehrt wird, gleichermaßen moralisch gerechtfertigt ist. V.a. Fälle, in denen die Gefährdung beiderseitig besteht – etwa bei begrenzten Hilfsressourcen nach Katastrophen –, sind gewichtige moralische Abwägungen von Nöten (zu denen es zweifelsohne in den Situationen selbst nur sehr eingeschränkt kommen kann). Dieses „eventuell“ bringt zum Ausdruck, dass ein Dritter, der sich nicht selbst in der Notlage befindet, in anderer Weise gehalten ist, die Ansprüche des Zweiten zu beachten, als es die erste Person ist.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

Ansprüchen unterschieden wird. „Menschenrechte“ sind nur die absoluten Ansprüche, d.h. Ansprüche, die jedem Individuum qua Menschsein zukommen, während relationale Ansprüche im besonderen motivationalen und institutionellen Kontext einer jeweiligen politischen Gemeinschaft niedergelegt werden müssen.18 Die „Menschenrechte“ stehen hier in Anführungszeichen, da auch verschiedene andere Legitimitätstheorien, von denen in der Folge die Rede sein wird, teilweise von „Menschenrechten“ sprechen, diese aber anders begründen als die vorliegenden handlungstheoretischen Ansätze. In der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie werden Menschenrechte als moralische Rechte betrachtet, die Individuen absolut zukommen, d.h. es geht hier nicht um Güter, die eventuell nur beschränkt verfügbar sind und nach gewissen Prinzipien verteilt werden, sondern zumindest auf der jeweiligen Ebene einzelner Menschenrechte kommen diese allen in gleicher Weise und gleichem Maß zu. Diese Bestimmung umfasst eine weitere notwendige Qualifikation, denn die Hierarchisierung der Menschenrechte führt dazu, dass zwar einerseits jedem „Rechte“ qua Menschsein zukommen, andererseits aber im Fall einer Kollision von Pflichten die „Rechte“, die im Katalog höher stehen, vor denen zu realisieren sind, die niedriger stehen. Angenommen die Begründung eines Katalogs, in dem sich ein allgemeines Existenzrecht und ein Recht auf Redefreiheit finden, dann wäre eine Handlung, die die Redefreiheit einer Person nur durchsetzen kann, indem eine andere Person in ihrer Existenz bedroht wird, nicht zulässig. Andersherum wäre es aber möglich, jemandem seine Redefreiheit zu nehmen, wenn dies der einzige Weg ist, um das Leben einer anderen Person zu schützen. Die Absolutheit der Geltung der Menschenrechte schließt also deren Relativierung im Sinn der graduellen Abstufung ihrer Geltung innerhalb des Katalogs der Menschenrechte nicht aus. Damit wird auch das Problem

–––––––––––––– 18

Diese Unterscheidung zwischen absoluten und relationalen Ansprüchen steht nicht in Widerspruch zur früheren Aussage, dass sich Gerechtigkeitstheorien grundsätzlich mit Relationen zwischen Individuen beschäftigen, da es an dieser Stelle genau um die Bestimmung von solchen Relationen (in der Form von Handlungsverpflichtungen, -berechtigungen oder -verboten) auf der Basis absoluter Ansprüche geht.

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

63

verringert, vor dem der zuvor vorgestellte Ansatz steht, der beansprucht, dass moralische Pflichten und politische Institutionen parallel zueinander existieren können, indem eine Basis für die Beurteilung und Hierarchisierung konkurrierender Ziele angegeben wird. Die Absolutheit der Menschenrechte ist entscheidend für die präsentierte Theorie der Legitimität politischer Akteure: Denn durch die Bestimmung der Menschenrechte als absoluter Ansprüche ist erstens ihre Relativierung etwa durch fehlende Bereitschaft zu ihrer Umsetzung oder durch institutionelle bzw. kommunitäre Grenzen nicht möglich, während zweitens wesentliche Gründe für die Berechtigung eines Handelns genannt werden, das möglicherweise (gravierende) Nachteile für zweite oder dritte Personen nach sich zieht. Damit werden die Menschenrechte zur primären Quelle der Legitimität von Akteuren, wogegen alle weiteren Gründe höchstens sekundär relevant sein können und unter der Bedingung stehen, dass die Menschenrechte realisiert sind. So argumentiert Allen Buchanan für einen Katalog von neun „basic human rights“ (Buchanan 2004: 129), deren Durchsetzung für die Legitimität politischer Akteure notwendig ist19 und die bei Abwesenheit demokratischer Institutionen, die über politische Autorität verfügen, sogar zum hinreichenden Kriterium wird. In Situationen nicht, noch nicht oder nicht mehr bestehender Staatlichkeit agiert daher ein Militärregime legitimerweise, wenn es fähig ist, die basalen Menschenrechte zu schützen und selbst keine Menschenrechte

–––––––––––––– 19

„The intuitive idea of the justice-based conception of legitimacy can be elaborated as follows. The Moral Equality Principle requires us to take very seriously certain basic interests that all persons have; it grounds both negative and positive duties of justice [...]. One exceptionally important way of promoting these fundamental interests is by ensuring that the basic human rights are protected. Adequate protection of basic human rights requires the exercise of political power – an agency to make, apply, and enforce laws, and to approximate supremacy in doing so. So long as political power is wielded for the sake of protecting basic human rights and in ways that do not violate those same rights, it is morally justified – unless those over whom it is exercised have a right not to be coerced to respect basic human rights. But there is no right not to be coerced to respect basic human rights, so long as coercion is used in ways that do not themselves violate basic human rights.“ Buchanan 2004: 248.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

verletzt.20 Zusätzliche Legitimitätsbedingungen, wie das Recht auf die Mitbestimmung über die Weise, in der die Menschenrechte durchgesetzt werden, und die Wahl damit befasster Personen, können erst zur Geltung kommen, wenn es die Option gibt, zwischen verschiedenen Akteuren zu entscheiden, die gleichermaßen in der Lage sind zu gewährleisten, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Die Absolutheit der Menschenrechte und ihr legitimitätstheoretischer Vorrang vor allen anderen normativen und politischen Erwägungen hat also zur Folge, dass es eine gewisse Offenheit gegenüber der „Kontingenz“ jeweiliger Akteure gibt – wobei im Fall Buchanans festzuhalten ist, dass diese „Kontingenz“ nicht notwendig zu einer legitimen Pluralität gleichzeitig agierender Instanzen führt, da er die Fähigkeit zur Durchsetzung von Menschenrechten nicht als ad hoc-Vermögen in singulären Situationen begreift, sondern als allgemeine Kompetenz, quasirechtsförmig Menschenrechte durchzusetzen („attempt to excercise supremacy, within a jurisdiction, in the making, application, and enforcement of laws“ [Buchanan 2004: 235]; zur Weiterentwicklung von institutionellen Implikationen dieser Menschenrechtstheorie Buchanan/Keohane 2004 und Buchanan 2006). Eine solche handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie offeriert eine Bestimmung der Legitimität von Akteuren, die von einer Betrachtung der spezifischen Verfassung der Akteure zunächst entlastet und somit v.a. eine normative Perspektive für die Fälle anbietet, in denen die Abwesenheit glaubwürdiger „klassischer“ politischer Akteure (wie etwa von Nationalstaaten) oder die Konkurrenz zwischen Aspiranten auf politische Autorität bzw. den

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„[A]n entity has political legitimacy if and only if it is morally justified in wielding political power, where to wield political power is to (make a credible) attempt to excercise supremacy, within a jurisdiction, in the making, application, and enforcement of laws. The supremacy feature is necessary if we are to distinguish political power from mere coercion. [...] This definition of political power is deliberately inclusive. It covers not only the actions of the governments of a state within its own borders, but also those of an occupying military force. [...] The definition of political power I am operating with leaves open the possibility that entities wielding political power can be legitimate even if they do not achieve an ideal of democratic governance or are less than morally optimal in some other respect.“ Buchanan 2004: 235f.

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

65

ökonomischen Profit von Machtausübung zu bürgerkriegsartigen Verhältnissen führt. Die Relevanz der ersten Bedingung, die im vorherigen Kapitel entwickelt wurde, nämlich die Angabe von „sekundären Normen“ oder Verfahren, die über die Anwendung allgemeiner Normen in konkreten Kontexten befinden können, ist in diesem Ansatz eher gering, da durch die Absolutheit der Menschenrechte und ihre strikte Hierarchisierung wenig Spielraum hinsichtlich ihrer Umsetzung bleibt. Was die zweite Bedingung betrifft, nämlich die Existenz von Institutionen, die in der Lage sind, die Verbindlichkeit der Menschenrechte in fraglichen Kontexten durchzusetzen, so vertrauen die entsprechenden Gerechtigkeitstheorien, wie etwa diejenige Buchanans, darauf, dass die notwendigen Akteure faktisch vorkommen werden. Dabei stützt sich dieses Vertrauen sicherlich auch auf die Kürze der Liste von Menschenrechten, die zu gewährleisten sind, da eine solche Liste die Identifikation, „Programmierung“, Generierung und Kontrolle potentieller Akteure vereinfacht. Daraus folgt schließlich auch, dass Spannungen zwischen legitimen Normen und dem faktischen Wirken von Institutionen, die Herrschaft ausüben, auf die das dritte Kriterium hinwies, weitgehend vernachlässigt werden. Die Überschaubarkeit der Normen, die durchzusetzen sind und an die sich entsprechende Institutionen selbst zu halten haben,21 legt es nahe, dass Akteure – so sie denn überhaupt existieren – auch in Übereinstimmung mit den Normen zu handeln und wirken vermögen. Selbst die supremacy-Forderung bei Buchanan ist keine legitimitätstheoretische Anforderung an die interne Verfassung des Akteurs, der Menschenrechte durchsetzt, sondern richtet sich allein auf seine Stärke gegenüber anderen Akteuren. Bei aller Überzeugungskraft dieses Ansatzes in Fällen, in denen etablierte politische Strukturen fehlen, bzw. in Situationen des Staatszerfalls mit unmittelbar drohendem Leid vieler Menschen steht er doch vor gravierenden Begründungsproblemen, wenn er

–––––––––––––– 21

„Institutionen sind [...] nur in einem derivativen Sinn gerecht. [...] Ist der Bezug auf individuelle Handlungen [...] in der Tat primär, so sind die Schaffung der betreffenden Institutionen oder auch die von diesen Institutionen geforderten Handlungen ‚gerecht’ oder ‚ungerecht’ zu nennen, nicht eigentlich aber die Institutionen selbst.“ Gosepath 2002a: 199.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

beansprucht, eine allgemeine Legitimitätstheorie anzubieten – und zwar nicht erst dann, wenn komplexe sozio-politische Lagen mit Interessen berücksichtigt werden, die keinen Menschenrechtsstatus für sich reklamieren können, sondern schon dann, wenn die vermeintlichen moralischen Notfallsituationen differenzierter beschrieben werden. Es ist grundsätzlich fragwürdig, ob es gelingt, sinnvoll von der moralphilosophischen Begründung interpersonaler Ansprüche und korrespondierender Pflichten zur Bestimmung der Legitimität politischer Akteure überzugehen. Aufgrund des Ausgangs der Argumentation in der Moralphilosophie im engeren Sinn bleiben bis hin zur Ebene politischen Handelns einzelne Handlungen der Gegenstand der normativen Auszeichnung durch „Gerechtigkeit“. Handlungen sollen sich als notwendig erweisen, da derjenige, auf den die Handlung gerichtet ist, einen berechtigten Anspruch hat, und derjenige, der die Handlung ausführt, über das Vermögen verfügt, den Anspruch zu erfüllen. Diese Fokussierung auf Einzelhandlungen mag in der Tat in einigen moralphilosophischen Erörterungen berechtigt sein, sie bleibt aber dann unterbestimmt, wenn sich einerseits Ansprüche und Vermögen nicht eindeutig entsprechen und andererseits Dritte von der Handlung tangiert werden. Schon in vermeintlich einfachen Situationen wie dem genannten Beispiel des Autos, das auf den Schienen feststeckt, sind häufig keine Verhältnisse gegeben, in denen dem Anspruch auf Hilfeleistung eindeutig ein Vermögen auf Seiten potentiell Helfender entspricht (etwa wenn das Auto nur mit technischem Gerät geöffnet oder bewegt werden könnte, über das momentan niemand verfügt). In solchen Situationen ist unklar, ob daraus folgt, dass keiner der Anwesenden in der Gerechtigkeitsperspektive etwas zu tun verpflichtet ist, oder aber ob zu fordern ist, dass potentiell Helfende alles, was in ihrer Macht steht (etwa durch Kooperation miteinander), unternehmen müssen, um die Hilfeleistung zu erbringen. Die erste Option ist unbefriedigend, da sie in vielen Situationen zur Konsequenz hätte, dass niemand zur Hilfeleistung verpflichtet wäre; die zweite Option wiederum, die von den meisten Ansätzen favorisiert wird (vgl. Shue 1988, Shue 1996: 63-64), hat zur Folge, dass die Einschränkung des Bestehens einer Verpflichtung durch die Voraussetzung eines korrespondie-

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

67

renden Vermögens derart unpräzise wird, dass von einem entsprechenden Vermögen immer auszugehen ist.22 In einer Legitimitätstheorie kann dies sogar dazu führen, dass nur eine Meta-Kompetenz erforderlich ist, nämlich das Vermögen, andere so zu koordinieren (bzw. sie dazu zu zwingen), dass sie gemeinsam die erforderliche Handlung leisten. Der letzte Schritt setzt mehr Begründung voraus als diejenige bloßer moralischer Gebotenheit. Wie im Fall Buchanans gesehen, führt dies gewöhnlich dazu, dass ein minimaler Katalog objektiver Menschenrechte dargelegt wird, womit ausgeschlossen werden soll, dass jemand deren Geltung in Frage stellen kann, und gleichzeitig beansprucht wird, die Berechtigung zu erweisen, sie durchzusetzen. Eine solche Argumentation über die Objektivität moralisch begründeter Menschenrechte steht aber vor mindestens drei Problemen, nämlich erstens vor dem epistemischen Problem, wie die Objektivität der Menschenrechte angesichts des Fallibilismus und von Kontroversen schon innerhalb der Philosophie rein moralphilosophisch begründet werden kann, und zweitens vor dem politischen oder freiheitstheoretischen Problem, wie der Paternalismus zu rechtfertigen ist, der aus der Spannung zwischen moralphilosophischer Einsicht und mangelnder Realisierung notwendig

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Für das Verantwortungs-/Verdienstmodell ist darüber hinaus festzuhalten, dass es potentiell Handelnden zusätzlich zumutet, in jeder eventuell moralisch relevanten Situation zu untersuchen, wen welche Verantwortung an gegebenen Verhältnissen trifft, in welchem Verhältnis der Untersuchende zu diesen Verantwortlichkeiten steht und was daraus für die eigene Verpflichtung zu konkretem Handeln folgt. Eine solche Untersuchung steht bei komplexen Situationen vor einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten: So verlangt sie ein klares Identifizieren von Kausalketten, wie es oft sogar in wissenschaftlichen Analysen unmöglich ist, und sie eröffnet demjenigen, der im jeweiligen Fall die eigene Verwicklung zu bestimmen versucht, diverse Gelegenheiten durch die Betonung bestimmter Faktoren, die eigene Involviertheit zu mindern. Die Theorien stehen also – abgesehen von der Entscheidung des Notfallmodells, die in leicht modifizierter Form auch dieses Modell betrifft – vor der Option, entweder die Verantwortungs-/Verdienstkette objektiv zu verstehen und sie auf diese Weise der Verfügung des Handelnden zu entziehen (womit aber angegeben werden muss, wie derjenige, der zur Handlung verpflichtet wird, zur Kenntnis seiner Verpflichtung kommen soll), oder aber die Verpflichtung in kontingente Abhängigkeit von der Wahrnehmung durch den Handelnden zu setzen.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

folgt (zu den Vorbehalten ausführlicher Niederberger 2008b). Selbst wenn sich überzeugende Lösungen dieser zwei Probleme finden ließen, würde aber drittens die Schwierigkeit bestehen bleiben, ob sich aus diesem Ansatz in der Tat eine allgemeine Legitimitätstheorie ableiten lässt. Denn aus dem Objektivitätsanspruch der Menschenrechte folgt, wie mehrfach betont, deren enge Begrenzung. Eine solche enge Begrenzung kann aber das Handeln auch nur in wenigen Situationen bzw. in allen Situationen nur auf basale Weise normativ anleiten und gibt in allen anderen Fällen bzw. auf allen anderen Ebenen, in denen weder Menschenrechte gefährdet, noch deren Gewährleistung unmittelbar befördert wird, keinerlei normativen Hinweis. Buchanans Versuch, in einer Zweistufigkeit von basalem Menschenrechtsschutz und Demokratie für diese weiteren Fälle oder Ebenen demokratische Strukturen zu begründen, mutet naiv und wenig überzeugend an. Denn er unterschätzt sowohl die Eigendynamik nicht-demokratischer Instanzen oder Akteure, wie auch diejenige demokratischer Verfahren und Einrichtungen. Die Legitimität eines Handelns zum Schutz basaler Menschenrechte, das nicht-demokratisch gerechtfertigt ist, eröffnet beständig die Option, demokratische Verfahren und Institutionen zu umgehen (Orford 1999: 696-699), während andererseits solche Verfahren und Institutionen nicht einfach moralischen Einschränkungen unterworfen werden können (Zakaria 1997). Diese Problemlage zeigt an, dass die handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie – selbst wenn sie die vorgebrachten Einwände widerlegen könnte – wesentlich zu erweitern ist, bis sie zu einer überzeugenden allgemeinen Theorie legitimer Herrschaft weiterentwickelt wäre. Die Basis der Phänomene und Situationen, auf die sie sich bezieht, ist zu schmal, um auch nur einen relevanten Ausschnitt der politischen Wirklichkeit angemessen in den Blick zu bekommen, und eine zweistufige Argumentation à la Buchanan unterstellt zu schnell, dass die normativen Begründungen für den Bereich des grundlegenden Menschenrechtsschutzes von denjenigen demokratischen Handelns und entsprechender Verfahren und Instanzen klar abtrennbar sind und v.a. die normativen Bindungen in der Realität voneinander zu unterscheiden sind. Trotz aller Bedenken bleibt allerdings von diesem Ansatz für die weiteren Theo-

2.2 Handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien

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rien die Anfrage festzuhalten, wie jene adäquate Reaktionen auf Dringlichkeiten bzw. die Abwesenheit normativ begründeter Handlungsverhältnisse in ihre Überlegungen integrieren können.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien und ihre Konzeption politischer Legitimität Wenn – zumindest mit Blick auf eine Theorie legitimer Herrschaft – einzelne moralisch begründete Handlungen deshalb keinen überzeugenden gerechtigkeitstheoretischen Ausgangspunkt abgeben, weil sich aus ihnen kein angemessener Umgang mit der Gesamtheit, der Komplexität und der Eigendynamik der sozio-politischen Wirklichkeit begründen lässt, dann bietet es sich an, die Grundstruktur dieser Wirklichkeit als Gegenstand der Gerechtigkeitstheorie zu wählen. Diese Strategie hat in der jüngeren politischen Philosophie insbesondere Rawls in seinem schon genannten Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit verfolgt und in weiteren Schriften zu einem Paradigma der Gerechtigkeitstheorie entwickelt. Seine Überlegungen greifen historische Vorgängerfiguren aus dem Umfeld der liberalen Gesellschaftsvertragstheorie von Hobbes, über Locke bis hin zu Kant und Mill auf (vgl. Hobbes 1966: 99-109; Locke 1977: 260-278; Kant 1977a: 434; Mill 1998: 83-103), unterscheiden sich von diesen aber wesentlich dadurch, dass die angestrebte Grundstruktur primär über Verteilungsprinzipien und nur sekundär über Freiheit (die selbst so begriffen wird, dass sie in der Form von Rechten/Pflichten bzw. eines Gutes zu verteilen ist) konstruiert wird.23 Bereits zu Beginn seines Buches hält Rawls fest, was er unter der Grundstruktur einer Gesellschaft versteht: „Für uns ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.

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Zum Verhältnis der rawlsschen Gerechtigkeitstheorie zu den Gesellschaftsvertragstheorien der Aufklärung und deren Orientierung an ökonomischer Freiheit vgl. Nagel 2003. Zur Kritik an der Relativierung von Freiheit in den späteren Schriften von Rawls siehe Carter 1999: 20.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

Unter den wichtigsten Institutionen verstehe ich die Verfassung und die wichtigsten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse.“ (Rawls 1975: 23) Im Gegensatz zur handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie setzt Rawls somit nicht bei den Empfängern bzw. Erbringern „gerechter“ Handlungen an, sondern bei einer Verteilung von Rechten, Pflichten und Gütern, die erst Handlungsräume und Positionen in einem sozialen Gefüge hervorbringt bzw. sichert. Die handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorie bleibt im engeren Sinn moralphilosophisch, indem sie ihre gesamte Argumentation auf unmittelbare wechselseitige Ansprüche und Verpflichtungen zwischen Individuen stützt und alles Weitere als derivativ betrachtet. Rawls benennt demgegenüber mit den „gesellschaftlichen Institutionen“ einen originär politischen Bereich von prinzipiengeleiteten Einrichtungen, die Herrschaft im zuvor beschriebenen Sinn etablieren und ausüben. „Originär politisch“ sind diese Einrichtungen, da die Leistungen, die sie erbringen, nicht ohne dieselben denkbar sind, und die Institutionen zugleich eine Art gemeinsamer sozialer Existenz der Individuen schaffen, die weder genetisch, noch normativ auf unmittelbare Relationen zwischen Handelnden reduzierbar ist. Die Institutionen konstituieren daher eine politische Einheit, in der vermeintlich unmittelbare Beziehungen durch Einrichtungen ermöglicht sind, die die (etwa rechtlichen) Bedingungen, unter denen die Beziehungen stehen, und die Ansprüche und Verpflichtungen, die aus ihnen resultieren, setzen und kontrollieren.24 Was dieser Gerechtigkeitstheorie zufolge also als „gerecht“ bezeichnet werden sollte, ist eine Verteilung von Rechten, Pflichten und Gütern sowie abgeleitet davon der Institutionen, die die Verteilung durchsetzen und unabhängig von Motivationen derjenigen Individuen machen, deren Handlungsspielraum durch die Verteilung gestaltet wird. Folgerichtig weist dieser Ansatz es zurück, „gerechte Handlungen“ über dringliche Notfälle25 zu bestim-

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Vgl. zum Begriff „politischer Gerechtigkeitstheorie“ Rawls 1998: 76-81. Zu konzeptionellen Schwierigkeiten des „Politisch-Seins“ dieser Gerechtigkeitstheorie siehe weiter unten. Wie v.a. die Arbeiten von Thomas Pogge zeigen, muss dies nicht heißen, dass z.B. Hunger nicht als gerechtigkeitsrelevantes Thema begriffen wird. Er wird

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

71

men – diese kommen maximal abstrakt als zusätzliche Anforderungen an die Grundstruktur in den Blick, gewöhnlich wird die Antwort auf sie aber als primär im engeren Sinn moralisches (und d.h. nicht gerechtigkeitsrelevantes) Gebot verstanden.26 Über die Auszeichnung der Grundstruktur als des „Gegenstands“ der Gerechtigkeitstheorie hinaus muss die Theorie Kriterien bzw. Prinzipien angeben, die die Grundstruktur realisieren sollte und sie dann als „gerecht“ qualifizieren. Da die Grundstruktur der Konzeption nach Handlungsspielräume erst schafft, müssen die Prinzipien so beschaffen sein, dass sie in dem Sinn universell sind, dass sie unabhängig von faktisch bestehenden Spielräumen bzw. den jeweiligen Positionen in Gesellschaften und in gewissem Maß auch unabhängig von historischen Entwicklungsstadien von Institutionen27 gerechtfertigt werden können (vgl. dazu Kukathas/Pettit 1990: 22). Eine wesentliche Differenzierung unter den Ansätzen ergibt sich an dieser Stelle je danach, ob das „Schaffen“ der Spielräume so verstanden wird, dass sie zum ersten Mal eröffnet oder beständig erhalten und kontrolliert werden. Ein erster Ansatz be-

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dann aber weniger als unmittelbar moralisches Problem verstanden, das sich im Leiden ausdrückt, sondern vielmehr in der Perspektive einer Güterverteilung betrachtet, die vielen keine Handlungsspielräume eröffnet oder ihnen solche geradezu vorenthält: „As it is, the moral debate is largely focused on the extent to which affluent societies and persons have obligations to help others worse off than themselves. Some deny all such obligations, others claim them to be quite demanding. Both sides easily take for granted that it is as potential helpers that we are morally related to the starving abroad. This is true, of course. But the debate ignores that we are also and more significantly related to them as supporters of, and beneficiaries from, a global institutional order that substantially contributes to their destitution.“ Pogge 2002a: 117. Geteilt mit der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie wird jedoch die Prämisse, dass für eine Gerechtigkeitstheorie überhaupt nur Verhältnisse, Handlungen etc. relevant sind, die menschlicher Verfügung unterliegen. Gegeben die aktuellen technischen Möglichkeiten könnte es also höchstens metaphorisch als ‚ungerecht’ bezeichnet werden, dass nicht alle Menschen immer schönes Wetter haben o.Ä. (Rawls 1975: 123; Gosepath 2002a: 198). Mit diesem Hinweis deuten sich bereits Schwierigkeiten hinsichtlich der Weise an, in der die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie die politische Wirklichkeit berücksichtigt oder in der Form eines utopischen Entwurfs zu begründen beansprucht. Vgl. dazu etwa die Ausführungen zur „realistischen Utopie“ bei Rawls 2002: 13-25.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

greift die Grundstruktur als Ausgangspunkt für soziale Kooperationen und Interaktionen, deren Resultate und Entwicklungen nicht zu beanstanden sind, solange sie in der eigenen Verantwortung Betroffener liegen.28 Damit kann durchaus eine Rechtfertigung aktueller Interventionen von Institutionen in Handlungskontexte verbunden sein, nämlich immer dann, wenn sich aktuelle Verhältnisse nicht so rekonstruieren lassen, dass sie die Gestalt, die sie haben, hätten, wenn sie aus eigenverantworteten Handlungen von Individuen hervorgegangen wären, die sich ursprünglich in einem gerechten Ausgangssetting befanden. Die Auffassung der „Grundstruktur als Ausgangspunkt“ bezieht sich also auch auf das je aktuelle Wirken von Institutionen und expliziert mit dem Verweis auf den „Ausgangspunkt“ nur die Weise, in der die Prinzipien und Kriterien angewendet werden sollten, die für die Gerechtigkeit der Grundstruktur entscheidend sind. Ein zweiter Ansatz erachtet die Eigenverantwortung als irrelevant oder aber zumindest wenig bedeutsam (etwa Goodin 1985). Die Grundstruktur beschreibt folglich eine a-historisch richtige Verteilung von Rechten, Pflichten

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Wie der Ausdruck der „Verantwortung“ bereits nahe legt, gibt es hier eine gewisse Berührung zwischen dieser Linie der „Grundstruktur“-orientierten und einer der Linien der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie. Die Berührung betrifft allerdings v.a. die Auszeichnung der Handlungen bzw. Spielräume, die nicht von einer Gerechtigkeitstheorie thematisiert werden sollten, nämlich diejenigen, die von Handelnden selbst verantwortet werden (zu einer komplementären Übersicht über „positive“ Theorien moralischer oder „politischer“ Verantwortung siehe Banzhaf 2002). Vgl. dazu etwa die Entwicklung eines legitimationstheoretischen Subsidiaritätsprinzips durch Gosepath, mit dem er zwei moralphilosophische Prinzipien zu explizieren beansprucht, die die Grundlage für berechtigtes oder gar notwendiges institutionelles Handeln abgeben sollen: „Das Individuum hat die Pflicht, sich selbst zu helfen. Eine Pflicht zur Hilfeleistung, wenn man sich ohne zu große Opfer selbst helfen kann, lässt sich nicht begründen. Denn solche weiterreichenden Ansprüche laufen im Prinzip auf eine Ausbeutung und Versklavung anderer hinaus. Autonomie und Freiheit sind Recht und Pflicht zugleich. Die Folgen von autonomen Handlungen muss die handelnde Person selbst tragen, sofern die Ausgangslage für alle fair ist. [...] Es ist ungerecht, wenn eine Person schlechter als andere gestellt ist, außer dieser Umstand ist die Folge ihrer eigenen freien Entscheidung. Wer sich unverschuldet in einer Notlage befindet, hat moralischen Anspruch auf Ausgleich bzw. Hilfeleistung, sofern die betreffende Person sich nicht selbst helfen kann.“ Gosepath 2002b: 80.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

73

und Gütern, d.h. selbst wenn die aktuelle Verteilung auf bewusste Entscheidungen und Handlungen zurückgeführt werden kann, so ist sie dennoch ungerecht und daher korrekturbedürftig, wenn sie den Prinzipien nicht entspricht, die für die Gerechtigkeit der Grundstruktur entscheidend sind. Die Unabhängigkeit der gerechten Verteilung von solchen Verteilungen, die selbst zu verantworten oder verdient sind, kann – aufgrund der zunehmenden und notwendigen Komplexität von Prioritätenlisten und „Kollisionsnormen“ – damit einhergehen, dass die gerechtigkeitsrelevanten Güter, Ressourcen und Positionen reduziert werden, muss dies aber nicht (vgl. den marxistischen Anschluss an Rawls etwa bei Peffer 1990). Der erste Ansatz hat Institutionen vor Augen, die je aktuelle Verhältnisse daraufhin untersuchen, ob sie als Resultat eigenverantworteten Handelns unter Bedingungen gleicher Ausgangspositionen verstehbar sind, und dann korrigierend eingreifen, wenn eine solche Rekonstruierbarkeit nicht gegeben ist. Im zweiten Ansatz ist der kognitive Aufwand für die Institutionen geringer, da sie die Verhältnisse unmittelbar daran messen müssen, ob sie zu diesem Zeitpunkt eine gerechte Grundstruktur zum Ausdruck bringen. Die Bedingungen für die Gerechtigkeit der (ursprünglichen oder immer erforderten) Grundstruktur können daher aber wiederum in beiden Ansätzen gleich bestimmt werden, so dass die unterschiedlichen Varianten von Kriterien und Prinzipien für die Gerechtigkeit der Grundstruktur, die im Folgenden skizziert werden, durchaus alle mit den beiden vorgenannten Ansätzen einer temporalisierten Verantwortungsperspektive und einer atemporal gerechten Verteilung kombiniert werden können. Schematisch betrachtet lassen sich drei Varianten identifizieren, die Prinzipien zu bestimmen, wobei in den ersten beiden Varianten normative Ansprüche auf Freiheit und Gleichheit in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, während der dritte Ansatz genau in Abgrenzung davon sein Kriterium expliziert: Eine erste Variante hat, wie der Verweis auf die historischen Gesellschaftsvertragstheorien bereits andeutete, schon der Liberalismus der Aufklärung entwickelt. Ihr zufolge ist eine gerechte Grundstruktur dann gegeben, wenn allen Individuen größtmögliche gleiche Freiheiten bzw. Räume des

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

Handelns zukommen, in denen sie autonom über den Einsatz und Gebrauch ihrer Fähigkeiten und Güter verfügen können (z.B. Locke 1977: 215-231). Entscheidend in dieser Variante ist also die Freiheit, die gesichert wird (bzw. der Besitz, dessen freier Gebrauch gewährt und gesichert wird),29 während die Gleichheit lediglich als Verteilungsprinzip, nämlich als Prinzip für die Bestimmung derjenigen Freiheitsräume fungiert, die zugleich möglich sind.30 In einer zweiten Variante, die etwa von Rawls mit seinem Differenzprinzip und häufig unter dem Titel der „sozialen Gerechtigkeit“ verteidigt wird, tritt die Freiheit hinter die Gleichheit zurück, indem die Frage in den Mittelpunkt gestellt wird, wie ein gleicher Wert der Freiheitsräume etabliert und gesichert werden kann. Die „Freiheitsräume“ werden folglich intern an die Vergleichbarkeit der Möglichkeit geknüpft, diese Räume nutzen zu können, so dass letztlich der Gleichheit der Handlungsräume (im Sinn faktischer Möglichkeiten) ein Vorrang vor der Freiheit (im Sinn reiner oder formaler Möglichkeiten) eingeräumt wird.31 Die Freiheit behält dabei insofern eine wichtige Bedeutung, als es nicht um eine bestimmte, der spezifischen Tätigkeit nach gleiche Nutzung oder Ausgestaltung der Räume geht, sondern um möglichst große Selbstbestimmung im Gebrauch von Optionen. Die erste, libertäre Variante der Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorie konzentriert sich v.a. auf die Abwehr von

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Die Ergänzung der Klammer macht darauf aufmerksam, dass das Ziel der „Sicherung von Freiheit“ nicht immer schon klar ist in seiner Bedeutung. Gerade im Kontext liberaler Theorien gibt es eine Debatte über den Sinn bzw. die Bedeutungslosigkeit des Ziels, „Freiheit überhaupt“ zu sichern, dem einige Autoren als einzig sinnvolle Option die Sicherung „spezifischer Freiheiten“ entgegenhalten. Zur Kritik an der „Freiheit überhaupt“ siehe Dworkin 1978: 270271, zur Verteidigung derselben Carter 1999: 31-67. In der jüngeren Philosophie wird diese Auffassung von sogenannten libertarians, wie Friedrich August von Hayek oder Robert Nozick, vertreten. Vgl. dazu Hayek 1991: 105-124 und Nozick 1974: 232-275. Zu den Implikationen der rein negativen Gestalt von Rechten und der daraus folgenden Zurückweisung v.a. positiver sozialer Rechte Buchanan 1987. „Nimmt man die beiden Grundsätze [des Differenzprinzips, A.N.] zusammen, so ist die Grundstruktur so zu gestalten, dass der Wert des gesamten Systems der Freiheiten, das für alle da ist, für die am wenigsten Begünstigten möglichst groß wird. Das ist das Ziel der sozialen Gerechtigkeit.“ Rawls 1975: 233.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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Eingriffen in die Handlungsräume, während die zweite, egalitaristische Variante an den Bedingungen für die Nutzung der Räume und d.h. auch an der Verteilung der Benachteiligungen interessiert ist, die die Betroffenen an der Ausübung von Freiheit hindern. Diese Bedingungen können wiederum hinsichtlich der Ausstattung mit Ressourcen oder hinsichtlich der Ziele betrachtet werden, die Individuen verfolgen. Innerhalb der egalitaristischen Gerechtigkeitstheorien ergibt sich daraus eine Differenzierung in Modelle der Gleichheit von Ressourcen (Dworkin 1981b), der Gleichheit von Chancen oder der Gleichheit des Wohlergehens (Dworkin 1981a). Es ist einfacher, das Wirken von Institutionen darüber zu überprüfen, ob sie Ressourcengleichheit erzeugen, als ihre Leistung hinsichtlich der anderen Gleichheiten zu beurteilen. Gleichzeitig ergibt sich die Relevanz von Ressourcen aber zumeist erst daraus, dass sie im Licht der Perspektiven untersucht werden, die soziale Handlungskontexte bieten, und d.h. der Chancen auf Erfolg in diesen Kontexten sowie der Realisierung von gewünschten Lebensentwürfen in ihnen.32 Die meisten heute gängigen egalitaristischen Theorien vertreten daher Kombinationen der verschiedenen Gleichheitsbestimmungen im Sinn ihrer wechselseitigen Explikation und Einschränkung (Gosepath 2004: 435-446). Die dritte Variante, in der Kriterien und Prinzipien dargelegt werden, die gewährleisten, dass eine Grundstruktur gerecht ist, wendet sich dagegen, die Handlungsräume bzw. die Ausstattung von Handelnden mit Ressourcen und Chancen wie in den beiden ersten Varianten relational festzulegen. Ihr zufolge ist jeder Egalitarismus (worunter nun sowohl die gleichzeitige Möglichkeit wie auch der gleiche Wert der Freiheitsräume verstanden wird) dafür zu kritisieren, dass er die Forderungen an die Grundstruktur von den zugleich realisierbaren Bedingungen abhängig macht, d.h. letztlich der Gleichheit an sich einen Vorrang einräumt und absieht von dem,

–––––––––––––– 32

Diese Einsicht geht auf kommunitaristische Kritiken liberaler Gerechtigkeitstheorie zurück, wie sie David Miller oder Michael Walzer vorgebracht haben (Miller 1999: 21-41; Walzer 1992: 26-64). Anders als letztere dachten, kann die liberale egalitaristische Gerechtigkeitstheorie diese Kritik aber durchaus inkorporieren, indem sie die Reflexivität von Institutionen aufnimmt, die dafür zuständig sind, gleiche Handlungsräume zu etablieren (Forst 1994: 222-223).

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

was gleich sein bzw. verteilt werden soll (Krebs 2000b: 16-30). Demgegenüber wird argumentiert, die gerechte Grundstruktur solle dadurch gekennzeichnet sein, dass sie absolute Ansprüche auf bestimmte Güter oder Anerkennung realisiere (also nicht allein auf den Ausgangspunkt schaut, sondern – zumindest bis zu einer gewissen Schwelle – auch die tatsächlichen Auswirkungen und Leistungen einer Grundstruktur berücksichtigt [Nussbaum 2006: 69-92]). Dabei werden diese Ansprüche zumeist aus einer Konzeption der Würde des Menschen (z.B. als „menschliche Grundfunktionen“ bei Nussbaum 1993: 332-340) oder aber aus einer perfektionistischen Theorie des guten Lebens bzw. kollektiver Existenz abgeleitet.33 Die bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck vermitteln, die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie präsentiere in ihren verschiedenen Fassungen per se auch eine Theorie legitimer Herrschaft. Legitim wären die Institutionen bzw. Wirkungsweisen von Institutionen, die die gerechte Grundstruktur etablieren und im Sinn einer solchen Grundstruktur unparteiisch und beständig in Handlungsverhältnisse intervenieren. Wie schon die Erörterung der Differenzen zwischen Macht und Herrschaft mit Blick auf den Kontraktualismus allgemein gezeigt hat, würde dies die Überlegung aufgreifen, dass die Etablierung einer gerechten Grundstruktur aufgrund ihrer Unverzichtbarkeit für das Bestehen der Handlungsräume und Interaktionsmöglichkeiten überhaupt per se legitim ist, da nur durch eine solche Grundstruktur kontingente Machtverhältnisse in eine rechtfertigbare Herrschaftsstruktur transformiert werden können. Eine solche Legitimitätstheorie, die Legitimität und Gerechtigkeit kurzschließt, würde sich aber – analog zur handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie – wiederum den Vorwürfen des Paternalismus und – angesichts der

–––––––––––––– 33

Wie bei allen hier präsentierten Gerechtigkeitskonzeptionen überlagern sich auch bei diesen Ansätzen z.T. die verschiedenen Positionen, die in den vorliegenden Ausführungen zum Zweck größerer Klarheit voneinander abgehoben werden. So zeigt sich, dass mit der genannten Kritik am Egalitarismus durchaus die Zurückweisung der Konzentration auf die Grundstruktur überhaupt verbunden und stattdessen eine „Anerkennungsstruktur“ oder „-praxis“ als Ideal begründet werden kann. Vgl. dazu Honneth 2003: 201-224.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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Vielfalt unter den Varianten, Kriterien und Prinzipien, die die Gerechtigkeit der Grundstruktur bestimmen und hier nur sehr schematisch skizziert wurden, wenig überraschend – des nicht angemessenen Umgangs mit dem Fallibilismus des jeweiligen Ansatzes ausgesetzt sehen. Diese Vorwürfe würden nun aber noch schwerer ins Gewicht fallen als in der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie, da sich die Verteilung von Gütern und Positionen in der Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorie nicht mehr auf moralische Notlagen bezieht, sondern für sie auf der Basis von Freiheit, des fairen Werts der Freiheit oder von anthropologischen Annahmen argumentiert wird.34 Es käme zu einer paradoxen Situation, wenn einerseits Freiheit oder andere absolute Ansprüche etabliert oder gesichert werden sollten, während andererseits zu dieser Etablierung und Sicherung Freiheit bzw. von ersteren absoluten unterschiedene Ansprüche bestritten oder beschnitten werden müssten oder zumindest dürften. Die Umsetzung der Gerechtigkeitstheorie in einer Herrschaftsstruktur muss also selbst noch einmal in der Gerechtigkeitsperspektive bzw. unter Rekurs auf deren Prämissen erörtert werden. Im Rahmen der Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorien werden daher eigene Überlegungen dazu angestellt, wie eine legitime Herrschaftsstruktur aussehen müsste, die auf den Kriterien für die Gerechtigkeit der Grundstruktur beruht, zugleich aber der Gefahr entgegenwirkt, dass der Bezug auf die Gerechtigkeitstheo-

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Die meisten Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorien argumentieren kontraktualistisch, d.h. sie gehen – zumindest methodologisch – nicht von „natürlichen“ oder „moralischen“ Rechten bzw. Pflichten von Handelnden aus, die per se bestehen, sondern begründen diese als Verpflichtungen, die (kontrafaktisch) wechselseitig eingegangen werden (zur Kritik an diesem „Prozeduralismus“ in der Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien Nussbaum 2006: 54-69). Hieraus folgt für die Menschenrechte, die in der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie, wie gesehen, eine prominente Rolle spielen, dass sie entweder als moralische „Rechte“ betrachtet werden, die jenseits der Gerechtigkeitstheorie liegen (Scanlon 2003: 113-123), oder selbst als Resultat eines Gesellschaftsvertrags gelten müssen, auch wenn sie eine schwache transzendierende Kraft haben und gegen jeden konkreten sozialen oder institutionellen Zusammenhang bzw. zur Begründung eines solchen zur Geltung gebracht werden können (Wellmer 1998).

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

rie zur letztlich delegitimierenden Beherrschung derer genutzt wird, deren Freiheit oder Ansprüche die Grundstruktur sichern soll (zu diesem Argument für die Zweistufigkeit insbesondere des rawlsschen Ansatzes vgl. Dreben 2003). Eine solche legitime Herrschaftsstruktur muss wenigstens drei Elemente aufweisen: erstens müssen die gerechtigkeitstheoretischen Kriterien in der Form eines Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium) in öffentlicher Reflexion von allen zumindest in einem überlappenden Konsens (overlapping consensus) als Bestandteil ihres jeweiligen Gerechtigkeitsverständnisses begriffen werden können; zweitens muss der Zugang zu bzw. die Beteiligung an den Institutionen, die für das Etablieren und Aufrechterhalten sowie die Kontrolle der Grundstruktur zuständig sind, selbst nach Gerechtigkeitsprinzipien geregelt sein; und drittens müssen die Institutionen bzw. diejenigen, die in ihnen entscheidende Funktionen innehaben, den starken und schwachen Öffentlichkeiten35 gegenüber im strengen Sinn verantwortlich sein, in denen das Überlegungsgleichgewicht verkörpert ist.36 Institutionen können nur dann legitimerweise Zwangsmittel einsetzen, um eine Grundstruktur zu etablieren und zu kontrollieren, wenn es keine guten Gründe gibt, mit denen bezweifelt werden könnte, dass die Prinzipien und Kriterien gerecht sind, nach denen sie operieren. Eine Zurückweisung derartiger „guter Gründe“ kann aber auch eine hoch-reflektierte Gerechtigkeitstheorie nicht alleine leisten, da sie nicht selbst einen unbezweifelbaren und unabhängigen Maßstab37 für die Qualität ihrer Prinzipien und Kriterien anführen kann. Rawls fordert vor diesem Hintergrund, die Gerechtigkeitstheorie im engeren Sinn nur als einen Teil des umfassenderen öffentlichen Reflexionsprozesses politischer Gemeinschaften über die Grundlagen ihres eigenen Zu-

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Zur Unterscheidung von starker und schwacher Öffentlichkeit und zur Bedeutung der Gerechtigkeitstheorie bzw. Gleichheit dafür vgl. Fraser 1997: 89-92. Die Verantwortlichkeit ist hier im Sinn der accountability zu verstehen. Vgl. zu den unterschiedlichen und z.T. gegensätzlichen normativen Funktionen von responsibility und accountability in der Demokratietheorie Setälä 2006. Der „unabhängige Maßstab“ bezeichnet eine Quelle der Autorität der eigenen Überzeugungen/Aussagen, die faktischen Widerspruch dagegen von dieser Quelle her zu entkräften erlauben würde.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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sammenlebens zu begreifen. Neben der philosophischen Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien müsste es demnach möglich sein, dass sich diese Prinzipien auch in solch einem kollektiven „Nachdenken“ behaupten. Dabei gibt es allerdings einen Primat der Gerechtigkeitstheorie gegenüber den Verfahren der öffentlichen Reflexion, da die Reflexion keinen Voluntarismus oder kollektiven Dezisionismus zum Ausdruck bringen soll,38 sondern auf die Bestimmung oder sogar allein die Klärung von Gerechtigkeitsgrundsätzen verpflichtet ist.39 Damit die Institutionen in legitimer Weise wirken können, muss es also Orte öffentlicher Verständigung und Entscheidung über die Gerechtigkeitsprinzipien und deren Interpretation im Licht der speziellen Umstände im vorliegenden Kontext geben. Aus diesem Gebot folgt wiederum zweierlei: einerseits muss es überhaupt derartige öffentliche Orte geben, andererseits muss sichergestellt sein, dass sich an diesen Orten nicht irgendwelche „kommunikative Macht“ aggregiert, sondern die Verständigung in der Tat auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Wie die genannte Unterscheidung von starken und schwachen Öffentlichkeiten andeutet, die Nancy Fraser im Anschluss an Jürgen Habermas einführt, legt die Existenz von Öffentlichkeiten, in denen über die Prinzipien der Grundstruktur beraten und entschieden wird, die Zweistufig-

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Damit ist auch gesagt, dass dieser Argumentation zu Folge ein Modell repräsentativ ausgeübter Herrschaft der direkten „Herrschaft“ durch alle Betroffenen vorzuziehen ist. Denn nur durch die Distanzierung vom unmittelbaren „Willensausdruck“ durch eine Repräsentation, in der die Unmittelbarkeit durch andere Bezugspunkte, wie etwa eine längerfristige Perspektive (d.h. die Repräsentation der verschiedenen Generationen) oder die Berücksichtigung heterogener Interessen, gebrochen wird, kann sichergestellt werden, dass Gerechtigkeitsprinzipien die Herrschaft bestimmen. Vgl. dazu schon die Argumentation Kants gegen die Aufhebung von „Gewaltenteilung“ in der „Demokratie“ in Kant 1977a: 435-437, auf die im Kap. 3.2 genauer eingegangen wird. Da es kontraintuitiv wäre anzunehmen, dass es einen wirklichen Primat der philosophischen Gerechtigkeitstheorie vor der öffentlichen Beratung geben könnte, behauptet Rawls die schwächere These, dass jeder Bürger im Rahmen der politisch-moralischen Überzeugungen, die er insgesamt hat, auch Überzeugungen hinsichtlich der Gerechtigkeit (der Grundstruktur) hat und diese Überzeugungen durch die Konfrontation mit der philosophischen Gerechtigkeitstheorie „geklärt“ oder „überprüft“ werden können (Rawls 2002: 209-211).

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

keit dieser Öffentlichkeiten mit unterschiedlich engen Vorgaben nahe. Schwache Öffentlichkeiten können in vielfältiger Weise und an vielfältigen Orten bestehen. Voraussetzung für sie ist v.a. die Sichtbarkeit ihrer Beratungen und die Offenheit des Zugangs zu diesen Beratungen, d.h. die Tatsache, dass der Zugang nicht davon abhängt, dass jemand ohnehin zu den selben Resultaten wie alle anderen kommt (Habermas 1992: 435-467; Young 1997). Starke Öffentlichkeiten sind demgegenüber dadurch charakterisiert, dass sie gewöhnlich institutionalisiert sind und in ihnen die Resultate der schwachen Öffentlichkeiten zusammengeführt sowie in bindende Entscheidungen umgesetzt werden. Parlamente sind folglich eine paradigmatische Gestalt starker Öffentlichkeiten. Die Festlegung der Existenzbedingungen von Öffentlichkeiten sowie des Zugangs zu ihnen gewährleistet allerdings in der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive40 noch keine hinreichende inhaltliche Bestimmung der Gegenstände, über die in den Öffentlichkeiten befunden wird, bzw. der Ziele, auf die sie ausgerichtet sind.41 In der Gerechtigkeitstheorie von Rawls führt dies zur Explikation von Grenzen öffentlicher Deliberation sowie zur Auszeichnung der Verfassungsgerichtsbarkeit als ihres Modells – beides wird unter dem Titel eines „Ideals des öffentlichen Vernunftgebrauchs“ verhandelt. Die Grenzen bestehen wesentlich darin, dass nicht jede mehrheitliche Meinung (und selbst nicht jede Meinung mit qualifizierter Mehrheit) Geltung beanspruchen und schon gar nicht aufgrund bloßer Mehrheit zu einer legitimen Entscheidung führen darf, sondern allein dasjenige, was „von solchen Urteilen, Schlussfolgerungen, Gründen und Evidenzen geleitet [wird], die vernünftigerweise mit [...] Zustimmung rechnen können“ (Rawls 1998: 327, Kursivierung A.N.). Für die Legitimität eines Gerechtigkeitsprinzips muss also sichergestellt sein, dass keines der Argumente, das zur Begründung geführt hat, von partikularen

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Vgl. dagegen die freiheitstheoretische Konzeption von Öffentlichkeit(en) im Kap. 3.2. Für Rawls ist eine solche weitere Bestimmung allerdings auch nur hinsichtlich der Prinzipien und Voraussetzungen notwendig, die die Grundstruktur betreffen, für alle weiteren Fragen ist reine „Verfahrensgerechtigkeit“ hinreichend (Rawls 1998: 314f.).

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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Interessen oder Überzeugungen abhängig ist, die andere nicht nachvollziehen können (d.h. von denen sie nicht mindestens einsehen können, warum jemand zur entsprechenden Überzeugung kommen kann).42 Rawls hält fest, dass damit philosophische Begründung und öffentliche Rechtfertigung analogisiert werden, soll es doch in beiden Fällen darum gehen, Einvernehmen vermittels der Qualität der Gründe bzw. Argumente herbeizuführen. Der amerikanische Supreme Court dient als Modell für die Öffentlichkeiten, die derart beschrieben werden, bzw. für die Ausübung der Kontrolle darüber, dass die Grenzen der Beratung und Entscheidung nicht überschritten werden. Er hat (zumindest in der idealen Darstellung) nicht selbst rechtsetzende Gewalt, sondern überprüft in der Annahme, dass es eine gemeinsame Verfassung gibt, der alle zugestimmt haben, ob einzelne Gesetze, Ausführungsbestimmungen oder Maßnahmen der Legislative und v.a. der Exekutive, die die Grundstruktur betreffen, mit der Verfassung in Übereinstimmung gebracht werden können.43 Der Verweis auf ein „Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs“, um hinreichende Bedingungen für legitime Herrschaft zu explizieren, leidet ohne Zweifel unter der Schwierigkeit, dass ein Ideal nicht garantieren kann, dass tatsächlich Mechanismen der Selbstkontrolle gemäß dem Modell des Supreme Court entwickelt werden und jeder in den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ einbezogen wird. Daher soll das Ideal um eine gerechte Verteilung von Möglichkeiten ergänzt werden, in den Institutionen mitzuwirken, dass die gerechte Grundstruktur etabliert und erhalten wird. Dabei

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Mit dieser Darstellung werden die Probleme einer primär funktionalen, nämlich auf Stabilität ausgerichteten Bedeutung des Überlegungsgleichgewichts umgangen, die Rawls zunächst favorisiert hat. Vgl. zur Kritik daran Habermas 1996: 79-82, zur Antwort darauf Rawls 1995: 146-149. Vgl. dazu die Formulierung eines Legitimitätsprinzips bei Rawls: „[T]he exercise of political power is legitimate only when it is exercised in fundamental cases in accordance with a constitution, the essentials of which all reasonable citizens as free and equal might reasonably be expected to endorse. Thus, citizens recognize the familiar distinction between accepting as (sufficiently) just and legitimate a constitution with its procedures for fair elections and legislative majorities, and accepting as legitimate (even when not just) a particular statute or a decision in a particular matter of policy.“ Rawls 1995: 148.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

gehören der „öffentliche Vernunftgebrauch“ und seine Ermöglichungsbedingungen bzw. Kontrollerfordernisse selbst zur Grundstruktur, weshalb auch sie durch das institutionelle Handeln befördert und unterstützt werden. Zur gerechten Verteilung der Mitwirkungsmöglichkeiten muss einerseits eine Gleichverteilung der Partizipationsmöglichkeiten an bzw. Wahlmöglichkeiten in „schwachen“ und v.a. „starken Öffentlichkeiten“ gegeben sein sowie andererseits für alle akzeptable Auswahlverfahren für die Besetzung von Ämtern in den Institutionen. Schließlich muss in den internen Verfahren der Institutionen wie auch in den Revisions- und Kontrollinstanzen unumgänglich niedergelegt sein, dass sie an die Gerechtigkeitsprinzipien gebunden sind, von denen sich im Überlegungsgleichgewicht herausstellt, dass sie von allen geteilt werden. All dies führt zur Demokratie, die als Herrschaftsform so gekennzeichnet ist, dass sie gewährleistet, dass nichts für alle verbindlich wird, dem nicht jeder in der Besinnung auf seine moralischen oder gerechtigkeitstheoretischen Überzeugungen zustimmen könnte, während alle gleichermaßen (durch aktives und passives Wahlrecht, Abstimmungen etc.) daran beteiligt sind, das konkrete Wirken der Institutionen zu bestimmen. Die Tatsache, dass es sich bei der legitimen Herrschaftsform, zu der die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie hinführt, um eine Demokratie handelt, fügt dem inhaltlichen Geltungskriterium für die Legitimität des Wirkens der Institutionen (insofern sie damit befasst sind, die Grundstruktur zu etablieren und zu kontrollieren) nichts hinzu. Mit Demokratie wird also nicht ein neuer Modus angegeben, in dem über Distributionsprinzipien befunden wird, die die Grundstruktur bestimmen. Die Demokratie charakterisiert vielmehr allein eine Struktur des öffentlichen Raums, die sicherstellt, dass die Gerechtigkeitsprinzipien, die die Gerechtigkeitstheorie erkennt, wirklich die Institutionen anleiten, und diese Absicherung zugleich nicht Gefahr läuft, paternalistisch zu sein oder Prinzipien zu verfolgen, von denen sich bei näherer Betrachtung herausstellt, dass sie falsch sind.44 Joshua Cohen hält daher auch richtigerweise

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Da es evidentermaßen kein (und d.h. auch kein demokratisches) Verfahren gibt, die mögliche Falschheit eigener moralphilosophischer Überzeugungen vollends auszuschließen, beschränkt sich die Leistung der gerechtigkeitstheo-

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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mit Blick auf die rawlssche Gerechtigkeitstheorie fest, dass in dieser Gerechtigkeit und Demokratie nahezu synonym sind, da die Gerechtigkeitstheorie von der (vagen) Vorstellung einer demokratischen Gesellschaft ausgeht (bzw. von deren Faktizität), um dann die Grundlagen zu bestimmen, die sie zu einer gerechten sozialen und politischen Ordnung machen, und somit eine Anleitung für die Urteile demokratischer Bürger in ihren Interaktionen zu bieten, die diese aber selbst ratifizieren müssen, bevor sie legitimerweise die Institutionen bestimmen (Cohen 2003: 91-103). Die Tatsache, dass sich zahlreiche „liberale“ und „republikanische“ Autoren gleichermaßen auf derartige gerechtigkeitstheoretische Demokratiekonzeptionen beziehen, bezeugt deren Attraktivität.45 Die enge wechselseitige Bindung von Gerechtigkeit und Demokratie verleiht der Intuition einen Ausdruck, dass die besondere Überzeugungskraft der Demokratie darin beruhen könnte, dass sie es erlaubt, die Partikularität und Willkürlichkeit von Macht oder beliebiger Herrschaft dadurch zu überwinden, dass eine Grundstruktur etabliert und auf normative Prinzipien der Gerechtigkeit ausgerichtet wird und dies zugleich nicht zu einem normativen oder epistemischen Paternalismus führt, indem die Gerechtigkeit an die faktischen Reflexionen bzw. Interaktionsmuster der Mitglieder des politischen Gemeinwesens zurückgebunden bleibt. Die Demokratie würde dementsprechend nicht primär durch den Modus umfassender politischer Inklusion zu einer Herrschaftsform werden, die zu bevorzugen ist, sondern v.a. durch ihre intrinsische Bindung an das normative Ziel einer Ordnung, die für alle gleichermaßen gerecht ist. Dabei sieht es zudem so aus, dass die Bedingungen, die es ermöglichen, eine Herrschaftsstruktur überhaupt zu

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retischen Demokratie darauf, Schwächen abzuwehren, die momentan bereits erkennbar sind. Darüber hinaus offeriert sie eine Struktur, die offener als andere Herrschaftsformen für die Wahrnehmung von Fehlern in Prinzipien oder Schwierigkeiten in deren Applikation ist. Zur Unterscheidung zwischen „liberaler“ (Demokratie als „Programmierung“ des Staates mit gesellschaftlichen Interessen) und „republikanischer“ (Demokratie als „Reflexionsform eines sittlichen Lebenszusammenhangs“) Demokratieauffassung vgl. Habermas 1996: 277-283. Überlegungen zu einem „liberalen“ Anschluss an Rawls finden sich bei Gutmann 2003, eine „republikanische“ Aufnahme beim genannten Cohen 2003.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

etablieren, sowie die Bindung einer solchen Struktur an die Gerechtigkeitsprinzipien, wie es im vorhergehenden Kapitel skizziert wurde, gerade in einer derartigen Demokratie denkbar sind: Das Unterbestimmtheitsproblem der ersten Bedingung (d.h. die Schwierigkeit, in allgemeinen Prinzipien deren besondere Applikationen vorweg zu regeln) wird durch den gerecht verteilten Zugang zu den Instanzen, die die allgemeinen Prinzipien auslegen, bzw. den kontrollierenden Instanzen selbst in normativ akzeptabler Weise gelöst.46 Hinsichtlich der zweiten Bedingung, d.h. der Voraussetzungen für die Etablierung von Herrschaft überhaupt, wird einerseits gefordert, dass eine Struktur so beschaffen sein sollte, dass sie die entscheidenden innergesellschaftlichen Interaktionsweisen bzw. die korrespondierenden (freiheitlichen) Handlungsräume thematisier- und steuerbar macht. Zugleich übernimmt die Gerechtigkeitstheorie nicht selbst die Rolle des „Designers“ von Institutionen, sondern ist offen gegenüber der „Wirklichkeit“ des Funktionierens und den Spielräumen von institutioneller Etablierung und Kontrolle von Handlungskontexten. Durch die gerechte Verteilung des Zugangs zu den Ämtern in den Institutionen sowie die Einführung von Zurechenbarkeiten und Verantwortungen soll dabei zudem die dritte Bedingung erfüllt werden, nämlich die faktische Koppelung der jeweiligen Operationsund Effizienzbedingungen der Institutionen an die Prinzipienfindung, die die Gerechtigkeitstheorie anleitet und sich in den starken und schwachen Öffentlichkeiten vollzieht. Trotz der Attraktivität dieser Engführung von Gerechtigkeit und Demokratie vermag sie aber letztlich nicht zu überzeugen.47 Wie gesehen, geht es der gerechtigkeitstheoretischen Demokratiekonzeption um mehr als politische Inklusion und Verfahren, in denen Interessen und Überzeugungen berücksichtigt werden. Normatives Ziel ist vielmehr eine „demokratische Gesellschaft“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es in der Politik um ein bonum com-

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Wobei zu untersuchen bleibt, ob es wirklich möglich ist, durch Verfahren, die den Zugang zu Institutionen regeln, die Normenpräzisierung jener Institutionen legitim zu gestalten. Vgl. zu einer grundsätzlichen Kritik an der Vereinbarkeit von „liberaler“ Gerechtigkeit und Demokratie Wolin 1996.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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mune, d.h. ein Gemeinwohl in der Form einer Integration der Interessen aller Betroffenen48 bzw. die Gestaltung von gleichermaßen gerechten Lebensverhältnissen für alle geht. Dazu muss die Vorstellung von Demokratie aber wesentlich über die traditionellerweise mit ihr assoziierten Verfahren und Institutionen hinaus erweitert werden, insbesondere um eine Zivilgesellschaft, in der sich nicht primär Träger individueller Besitzansprüche und partikularer Interessen begegnen, sondern Bürger, die bestrebt sind, einander wechselseitig dasjenige zuzugestehen, was ihre Lebensformen zu „gleichwertigen“ machen könnte (Cohen 1997a: 71). Eine solche Vorstellung von Demokratie bedarf aber einer stärkeren Begründung, als sie im Zusammenhang der genannten Theorien gegeben wird – und letztlich kehrt derart doch das Paternalismus-Problem zurück. So wäre erstens zu erläutern, in welchem Verhältnis die „demokratische Gesellschaft“ zur Demokratie steht, d.h. ob sie eine zusätzliche soziologische oder sozialphilosophische Geltungsbedingung für die Legitimität der Demokratie ist (z.B. in der Form einer „politischen Kultur“), ob sie zur Demokratie hinzutreten sollte, um diese zu perfektionieren, oder ob sie sich notwendig daraus ergibt, dass sich eine Gesellschaft in demokratischen Verfahren und Institutionen selbst steuert. Wenn hierauf eine Antwort gegeben werden könnte, dann wäre zweitens zu fragen, welche Grenzen der oder Erfordernisse an die Demokratie sich daraus ergeben. Wenn es z.B. eine unabhängige (Be-)Gründung der „demokratischen Gesellschaft“ bzw. der „politischen Kultur“ geben muss, dann ist zu explizieren, wie sich diese (Be-)Gründung zur Etablierung anderer Anforderungen an die Demokratie verhält. Sollte dagegen die „demokratische Gesellschaft“ ein Effekt demokratischer Interaktion sein, wie es im Anschluss an John Dewey mit dem Begriff eines „democratic circle“ rekonstruiert wurde (Dewey 1954: 143-184; Bohman 2005), dann ist zu untersuchen, welche demokratischen Verfahren/Institutionen den „circle“ eher

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Die Präzisierung des Gemeinwohls ist notwendig, da sich das Gemeinwohl, das hier den Bezugspunkt bildet, deutlich von der Vorstellung unterscheidet, die von einigen im Anschluss an Rousseaus Allgemeinwillen vertreten wird. Zur Diskussion dieser Vorstellung des Gemeinwohls siehe das Kap. 3.2.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

befördern als andere und was dies für das institutionelle und prozedurale Design bedeutet. Hierbei stellt sich die entscheidende Frage, ob eine „ungerechte“ Demokratie denkbar ist und, wenn ja, ob und unter welchen weiteren Bedingungen sich daraus die Legitimität nicht-demokratischer Akteure ergeben können (etwa analog zur Begründung einer Militärregierung bei Buchanan, die in der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie diskutiert wird). Gibt es einen Primat der Gerechtigkeit vor der Demokratie (bzw. umgekehrt) oder ist das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Demokratie eines wechselseitiger Implikation im strengen Sinn, so dass gar nicht von Demokratie zu reden wäre, wenn sie nicht die Gerechtigkeitsprinzipien zumindest bestrebt ist durchzusetzen, eine gerechte Verteilung aber auch nur dann bestehen kann, wenn sie aus einem demokratisch kontrollierten Institutionengefüge hervorgeht?49 Alle genannten Lösungsstrategien werfen zusätzliche Fragen auf, die teilweise auch auf weitere ungeklärte Annahmen der Gerechtigkeitstheorie verweisen: Ein Problem „demokratischer Gesellschaften“, von dem in Rawls’ Theorie selbst und in ihrer Rezeption häufig die Rede ist, besteht im vernünftigen Pluralismus „umfassender Lehren“, in die die Gerechtigkeitsauffassungen „eingelassen“ sind. Die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie verfolgt hierzu, indem sie die Zweistufigkeit und reine Formalität bzw. das reine „Politischsein“ der Gerechtigkeitskonzeption auf der untersten Ebene verteidigt, eine „Trivialisierungs-“ oder „Versöhnungsstrategie“. Derart soll festgehalten werden, dass das Selbstverständnis einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft darauf aufruht, dass eine bestimmte Gleichverteilung von Grundgütern und die Anerkennung von Verfahren, in denen weitere Verteilungsmodi

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Die Option der „Gleichursprünglichkeit“ liegt näher als diejenige einer Hierarchie von Gerechtigkeit und Demokratie. So verweist Gutmann zur Bezeugung der Gleichursprünglichkeitsthese bei Rawls darauf, dass er in Konfliktfällen zwischen grundlegenden „persönlichen“ und „politischen“ Freiheiten keineswegs per se ersteren den Vorrang einräumt (Gutmann 2003: 182). Eine solche Gleichursprünglichkeit gibt aber dann kein Legitimitätskriterium an die Hand, wenn nicht gerechte demokratische Verhältnisse vorherrschen oder zu erreichen sind.

2.3 Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorien

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festgelegt werden, als allgemein geteilt angenommen werden kann (Cohen 1997b: 420-422). So lässt sich eine bestimmte Grundverteilung als grundlegend und unkontrovers behaupten, während gleichzeitig der demokratische Streit über maximalere Gerechtigkeitsauffassungen (Forst 2002a: 228-232) bzw. die Entscheidung über weitergehende Verteilungen als allgemein konsentiertes Verfahren dargestellt werden kann. Diese Argumentation unterschätzt allerdings entweder, wie kontrovers bereits der Streit um dasjenige ist, was auf der basalsten Ebene verteilt werden müsste, was also „Gegenstand“ einer Erwägung unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ist, oder sie überführt die Fragen sozialer und politischer Gerechtigkeit in solche der Verfahrensgerechtigkeit, womit die Position wesentliche Elemente dessen verspielen würde, was sie so attraktiv macht.50 Sie vermag schließlich aber v.a. nicht mehr zu explizieren, wie die Referenz auf die Gerechtigkeit(stheorie) in der konkreten politischen Auseinandersetzung aussehen sollte, denn einer Mehrheit, die eine „ungerechte“ Entscheidung treffen möchte, kann mit dem Verweis auf Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit nur unzulänglich entgegengetreten werden. In ihren vorliegenden Formen vermag die Grundstruktur-orientierte Gerechtigkeitstheorie nicht wirklich eine intrinsische wechselseitige Beziehung von Gerechtigkeit und Demokratie zu entwickeln. Die Demokratie bleibt die überzeugendste Anwendungsgestalt der Gerechtigkeitstheorie, womit sie aber zugleich jede Berechtigung verliert, wenn sie nicht mehr als eine Anwendungsgestalt beschreibbar ist. Das Verhältnis ist also nicht wechselseitig, sondern die Demokratie steht in Abhängigkeit von der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeitstheorie kann somit nicht ausschließen, dass am Ende doch paternalistisch „gerechte“ Verhältnisse gegen den „freien Willen“ der Betroffenen durchgesetzt werden müssen. Die „Freiheit“ oder „Menschlichkeit“ der Bezugspersonen der Gerechtigkeitstheorie ist somit zunächst immer eine „un-“ oder „vor-politische“ Freiheit.

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Vgl. zu einer Untersuchung der Differenzen zwischen „bloßer“ Verfahrensgerechtigkeit und einem Begriff „sozialer Gerechtigkeit“ sowie der Voraussetzung von letzterem für ein aus der Perspektive der Gerechtigkeitstheorie „akzeptables“ Verständnis von Verfahrensgerechtigkeit Miller 1999: 93-110.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

2.4 Gerechtigkeit und legitime Herrschaft – Eine Zwischenbilanz Zu Beginn dieses Kapitels wurde festgehalten, dass die gerechtigkeitstheoretischen Begründungen von Kriterien legitimer Herrschaft insgesamt moralisch bzw. moralphilosophisch argumentieren. In der Diskussion der handlungs- und Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorien hat sich als Konsequenz daraus ergeben, dass der moralphilosophische Charakter der Argumentation letztlich den Vorbehalt des Paternalismus aufwirft – einen Vorbehalt, den die Gerechtigkeitstheorie bei aller Referenz auf die Demokratie als eines Verfahrens, das „reale“ und normative Interessen abgleicht, nicht auszuräumen vermag. Substantielle Standards für Legitimität lassen sich nicht a priori als hinreichende Kriterien bestimmen, selbst nicht als formale Implikationen verschiedener Gerechtigkeitsauffassungen. Bedingungen der Legitimität von Herrschaft müssen Möglichkeiten vorsehen, in denen die Kontingenz der Auffassungen derjenigen zum Ausdruck kommen kann, die von der Herrschaft bzw. Herrschaftsstruktur betroffen sind – zumindest in der Weise, dass sie vermeintlich oder tatsächlich oktroyierte „Gerechtigkeitsstandards“ zurückweisen können. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Gerechtigkeit ein notwendiges Kriterium für die Legitimität von Herrschaft ist. Eine Begründung dafür lässt sich allerdings aus den Gerechtigkeitstheorien als solchen nicht gewinnen, da diese keine überzeugende Regelung für Situationen anbieten, in denen es zum Konflikt zwischen Gerechtigkeitsforderungen und eventuell kontingentem, möglicherweise aber auch auf andere normative Ansprüche verweisendem Widerstand gegen diese kommt. Die Theorien, die präsentiert wurden, denken Gerechtigkeitsforderungen grundsätzlich als materiale Ansprüche (selbst wenn sie in der Form von Prinzipien artikuliert werden), die in Konflikt mit anderen Interessen von Individuen, Institutionen und weiteren politischen Akteuren stehen können und in Konfliktsituationen Vorrang genießen sollten. Vor diesem Hintergrund wären politische Handlungen bzw. Institutionen per se illegitim, wenn sie nicht in Übereinstimmung mit Gerechtigkeitsforderungen zu bringen sind. Damit gäbe es aber kein legiti-

2.4 Gerechtigkeit und legitime Herrschaft

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mes Handeln bzw. Wirken von Institutionen in Situationen des Konflikts bzw. v.a. in Situationen, in denen der Konflikt sich um die Frage dreht, ob ein politisches Handeln bzw. eine Institution gerecht ist oder nicht. Aus dieser Theorie der Illegitimität jeglicher Herrschaftsausübung in Konfliktsituationen ergeben sich aber zahlreiche Schwierigkeiten, angefangen von der Frage nach der Berechtigung von Widerstand gegen politisches Handeln und Institutionen bis hin zu derjenigen nach der Zulässigkeit von politischem Streit im Allgemeinen. Eine Bestimmung der Notwendigkeit von Gerechtigkeit für legitime Herrschaftsausübung darf dem politischen Streit nicht so enge Grenzen setzen, dass er weder seine historische Rolle spielen kann, normative und politische Standards zu erweitern und zu revidieren (Rancière 2002: 33-54, Brunkhorst 1997: 21-38), noch als Ort und Modus der Generierung gemeinsamer Überzeugungen, Regelungen und Handlungsweisen zu operieren vermag.51 Bei aller methodologischen Verortung der Gerechtigkeitstheorie in der Allgemeinheit und Formalität der Sprache der Philosophie ist ihre Gebundenheit an historische soziale Bewegungen und Entwicklungen nicht zu vernachlässigen (Habermas 1996: 77). Andererseits wäre es widersinnig, wenn der Streit als so fundamental angesehen würde, dass gerade in Situationen, in denen die Frage nach den Bedingungen legitimer Herrschaft besonders drängend ist, nämlich in Situationen des Konflikts und fehlender oder divergierender Motivationen, allein auf Macht und die Kontingenz jeweiliger Ressourcenverteilungen verwiesen würde. Ein alternatives Angebot, die Gerechtigkeit als ein notwendiges Kriterium für die Legitimität politischer Handlungen bzw. das Wirken von Institutionen zu bestimmen, unterbreiten epistemische Theorien der Legitimität (z.B. Cohen 1997b, Estlund 1993, Estlund 1997). Anders als die Theorien, die zuvor erörtert wurden, überbrücken sie die Diskrepanz zwischen moralischer Richtigkeit und politischer Auseinandersetzung, indem sie Richtigkeit intern an die Durchführung von bzw. Generierung in politischen

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Vgl. zu dieser Rolle politischer Auseinandersetzungen, aber auch zu deren Grenzen Niederberger 2006a, Niederberger 2008a.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

und d.h. deliberativen Verfahren binden (Martí 2006). Damit sieht es zunächst so aus, als wäre hier eine Versöhnung zwischen dem kritischen Anspruch, unter Verweis auf moralische Erwartungen de facto Herrschaftsverhältnisse problematisieren zu können, und der Unhintergehbarkeit des Ausdrucks der Betroffenen selbst erreicht.52 Diesem Eindruck stehen allerdings gravierende Einwände entgegen: So wird erstens die „Versöhnung“ dadurch erreicht, dass an das Verfahren selbst Erwartungen erhoben werden, die mit der Eigendynamik politischer Verfahren bzw. dem Verhalten von politischen Akteuren in ihnen nicht in Übereinstimmung gebracht werden können.53 So wird neben der Einhaltung von Verfahrensregeln von den Teilnehmern an Deliberationen auch eine gewisse Tugendhaftigkeit gefordert. Sie sollen die Argumente anderer ernst nehmen, andere in ihrer Gleichheit achten und auf das Gemeinwohl ausgerichtet beraten. Diese Erwartungen können nicht selbst im engeren Sinn als prozedurale Bedingungen aufgefasst werden, und es bleibt folglich offen, wie sie sich in realen Deliberationen auswirken (für deren Wert und Wünschbarkeit gerade argumentiert wird). Zweitens ist es schwierig zu verstehen, wie festgestellt werden kann, ob eine Deliberation hinreichend für Legitimität ist oder nicht. Es fehlen Darstellungen von Situationen, in denen es legitim wäre, die Geltung von Resultaten faktischer Deliberationen auszusetzen. Diese Schwierigkeit lässt sich nicht durch die Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie lösen, da der Wert realer Deliberationen und „verzerrter“ Auseinandersetzungen betont und eine zu ideale Deliberationskonzeption zurückgewiesen wird.54 Es kommt daher der Verdacht auf, dass die wahrscheinlichkeitstheoretische Zuschreibung von Leistungen faktischer Verfahren dieselben bzw. deren Resultate letztlich entproblematisiert. Selbst wenn nämlich die einfache

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Mit dem Verweis auf die „Unhintergehbarkeit des Ausdrucks der Betroffenen selbst“ wird dasjenige, was bisher mit dem Paternalismus negativ bezeichnet wurde, positiv gewendet. Zur Kritik an der Festschreibung von Verfahrensprinzipien und deren Widerspruch zur Demokratie vgl. van Mill 2006: 140-173. Vgl. zur Kritik am Ziel, reale Deliberation einem Ideal derselben anzugleichen, Estlund 2006.

2.4 Gerechtigkeit und legitime Herrschaft

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Identität der Richtigkeit mit dem Resultat der Deliberation abgelehnt wird, scheint bei epistemischen Ansätzen zumindest politische Richtigkeit letztlich ohne Deliberation nicht auskommen zu können. Drittens schließlich ist auch der Begriff der Richtigkeit selbst nicht ohne Schwierigkeiten. Sie wird als Meta-Prinzip verstanden, das Deliberierende verpflichtet, keine Interessen einzubringen, deren Richtigkeit sie nicht unterstellen können. Dies setzt aber voraus, dass es ein geteiltes Verständnis dessen gibt, was Richtigkeit ausmacht, d.h. in der Erfüllung welcher Kriterien Richtigkeit besteht und was „Gegenstände“ sein können, für die diese Kriterien zur Anwendung kommen. Selbst wenn Personen zugestehen, dass es sein kann, dass sich ihre moralischen Überzeugungen als falsch erweisen, so heißt dies nicht, dass damit schon ein gemeinsamer Bezugspunkt gefunden ist. Die Unterscheidung zweier Dimensionen richtiger Überzeugungen, d.h. zwischen dem Richtigkeitsanspruch als solchen und der konkreten Überzeugung ist zu formal, um in Konflikten für deren Bewältigung hinreichend zu sein. Jede Person geht von Richtigkeitsstandards aus, die ihre Überzeugungen verbürgen und die sie als heuristisches Werkzeug gebraucht, um Einwände anderer nachzuvollziehen und zu bewerten. Wenn also ein geteiltes Richtigkeitsverständnis angenommen werden muss, dann wird entweder doch wieder mit einer „richtigen“ Moraltheorie operiert, oder die Deliberation wird mit einer Meta-Ebene belastet, auf der über Richtigkeit überhaupt befunden werden muss. Eine solche Beratung auf einer Meta-Ebene bringt aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Lösung, d.h. die Deliberation ist v.a. auf der ersten Ebene sinnvoll, auf der konkrete Fragen gelöst werden. Eine Deliberation über den (idealen) Verlauf von Deliberationen bzw. die Kriterien, an denen sich Teilnehmer orientieren sollten, ist dagegen zu komplex und kognitiv anspruchsvoll und führt daneben auch nur selten zu Lösungen, die zumindest mehrheitlich geteilt werden. Immerhin ist es schon der Philosophie als deliberativer Disziplin par excellence und trotz all der Kompetenz von Philosophen in ihrer Geschichte nicht gelungen, bestimmte formale Vorgehensweisen als vollkommen illegitim zu erweisen und auf diese Weise grundsätzlich auszuschließen.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

Wenn es sein kann, dass die Entscheidungen im Anschluss an Deliberationen falsch sind oder auf falschen Gründen aufruhen, weil die Teilnehmer nicht die Erwartungen erfüllt haben, die an sie erhoben wurden, dann muss, wie zuvor festgehalten, eine Theorie, die an der Richtigkeit oder Gerechtigkeit von Herrschaft interessiert ist, in Fällen, in denen Entscheidungen als falsch wahrgenommen werden, mehr anbieten können, als die Hoffnung darauf, dass die Herrschaft zumeist richtig ist oder mit fortschreitender Deliberation richtiger wird. Die epistemische Legitimitätstheorie bietet daher keine überzeugende Alternative zu den untersuchten Gerechtigkeitstheorien, da sie entweder Richtigkeit einfach mit Faktizität identifiziert (vgl. zu den Problemen dieser Identifikation Derrida 1991: 27-28; Niederberger 2002) oder doch wiederum auf eine Gerechtigkeitstheorie angewiesen ist, die ein „Minimum“ an Richtigkeit artikuliert.55 Gerechtigkeitstheorien haben gegenüber epistemischen Theorien einen Vorteil, die die „Unhintergehbarkeit“ der faktisch Betroffenen postulieren. Denn indem sie substantielle Gerechtigkeitsforderungen artikulieren, die von verschiedenen Akteuren realisiert werden können, gibt es – bei allen Schwierigkeiten des Paternalismus – auch unter „nicht-idealen“ Bedingungen Ausgangspunkte, von denen her legitime von illegitimer Herrschaft unterschieden werden kann (vgl. dazu z.B. Buchanan 2004: 54). Epistemische Theorien müssen dagegen gesondert explizieren, welche Legitimitätsbedingungen unter nicht-idealen Voraussetzungen gelten, d.h. dann wenn das Verfahren unzureichend realisiert wird, das Richtigkeit oder – wie im folgenden Kapitel zu diskutieren sein wird – Freiheit verbürgen soll. Es muss auch eine Theorie legitimer Herrschaft unter nicht-idealen Bedingungen geben, sei es um zu argumentieren, dass es legitim ist, eine Herrschaft herbeizuführen, die auf Deliberation bzw. den Resultaten derselben beruht, oder um zu erläutern, unter welchen Voraussetzungen gegebene Verhältnisse beachtet oder überschritten werden müssen.

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Zudem bieten epistemische Ansätze hinsichtlich der Institutionalisierung von Deliberationen sowie der Umsetzung von Entscheidungen nur wenig, was über das hinausführt, was sich bei Rawls und im Anschluss an ihn findet.

2.4 Gerechtigkeit und legitime Herrschaft

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Zuletzt sei noch kurz eine weitere Implikation festgehalten, die sich aus der Erörterung der gerechtigkeitstheoretischen Legitimitätsmodelle ergibt: Wie die Untersuchung der handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie gezeigt hat, lässt sich eine allgemeine Legitimitätstheorie nicht allein aus interpersonalen Relationen oder Pflichten ableiten. Herrschaft umfasst notwendig Auswirkungen auf Handlungsräume und Optionen, die nicht annähernd erschöpfend mit Blick auf interpersonale Verpflichtungen begriffen und bewertet werden können. Bereits diesseits der Einrichtungen, die Machtverhältnisse in Herrschaftsverhältnisse transformieren, ist einzusehen, dass die Prinzipien und Ziele, an denen die Gestaltung von Verhältnissen ausgerichtet werden sollte, nur zu einem gewissen Anteil aus wechselseitigen Verpflichtungen zwischen Individuen hergeleitet werden können. Optionen, die nur indirekt andere betreffen, z.B. indem sie deren Optionen begrenzen oder nicht in gewünschtem Maß befördern, benötigen weitergehende Betrachtungen, wenn sie nicht einfach so verstanden werden sollen, dass sie jenseits jeder Theorie legitimer Herrschaft liegen – also per se immer legitim oder illegitim sind. Zudem erfordert jede (moderne) Herrschaft, wie gezeigt wurde, das Wirken einer institutionalisierten „Verwaltung“, die es vermag, die interpersonalen Relationen der unmittelbaren Verfügbarkeit Betroffener zu entziehen. Das Operieren der Verwaltung lässt sich normativ nicht hinreichend unter Rekurs auf interpersonale Verpflichtungen begründen, anleiten und kritisieren – zumal so insbesondere die Relation zwischen denjenigen, die jeweils betroffen sind, und der Verwaltung entweder selbst wieder interpersonal betrachtet werden muss, oder aber normativ unter- bzw. unbestimmt bleibt.56 Selbst wenn interpersonale Verpflichtungen insbesondere in kontraktualistischen Ansätzen einen wichtigen und häufig überzeugenden Ausgangspunkt bilden, so erfordert doch der Zweck, legitime Herrschaft zu begründen, weitergehende Betrachtungen zu individuellen und kollektiven Handlungen bzw. Optionen sowie eine eigenständige normative Erörterung der Operationsweisen der In-

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Vgl. zur Differenz zwischen dominium (Macht zwischen Personen) und imperium (Macht von Institutionen über Personen), die durch legitime Herrschaft beide überwunden werden sollen, Kriegel 1989: 53-66 und Kriegel 2002: 85-105.

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2. Normative Theorien legitimer Herrschaft I

stitutionen, die die („Verwaltung“ der) Herrschaft ausüben. Angesichts dessen werden bei den folgenden Theorien legitimer Herrschaft ausschließlich Modelle betrachtet, die den genannten zusätzlichen Erfordernissen Rechnung tragen.

3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II: Republikanische Begründungen von Legitimität auf der Basis politischer Freiheit und ihre Schwierigkeiten In den bislang diskutierten gerechtigkeitstheoretischen Modellen der Legitimitätstheorie wurde argumentiert, dass der Sinn dieser Theorie darin besteht, Kriterien oder Verfahren zu bestimmen, die gerechte oder richtige von ungerechter oder falscher Herrschaft zu unterscheiden erlauben. Damit soll ausgeschlossen werden, dass Herrschaft letztlich doch mit Macht ineinsfällt, indem das bloße „Funktionieren“ politischer Verhältnisse, d.h. die Abwesenheit von Widerstand, zum Grund für deren Legitimität gemacht wird. Zur Kritik an den Gerechtigkeitstheorien wurde allerdings darauf verwiesen, dass sie die Unhintergehbarkeit des Urteils derjenigen nicht hinreichend berücksichtigen, die von der Herrschaftsausübung betroffen sind. Der Verweis auf diese Unhintergehbarkeit sollte dabei nicht bloß auf eine faktische Grenze in der Realisierung idealer Ansprüche an legitime Herrschaft aufmerksam machen, wie etwa fehlende Motivationen zur Unterstützung gerechter Herrschaftsverhältnisse oder Schwierigkeiten sozialer Kooperation. Ihm kommt darüber hinaus selbst normativer, d.h. das bloße „Funktionieren“ ebenfalls übersteigender Wert zu, da sich für diese Unhintergehbarkeit mit dem Ziel von Herrschaftsstrukturen und der Herrschaftsausübung argumentieren lässt, individuelle oder politische Freiheit zu gewährleisten und zu ermöglichen. Hierbei wird aber ein Freiheitsbegriff gebraucht, der sich von demjenigen unterscheidet, der auch in einigen Gerechtigkeitstheorien am Werk ist. In der Gerechtigkeitstheorie wird der Begriff der Freiheit gewöhnlich angeführt, um der Gleichheit der Menschen eine klare Gestalt zu verleihen. Menschen sind dann gleich,

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

da sie das gleiche Vermögen dazu bzw. den gleichen Anspruch darauf haben, einen eigenen Lebensentwurf zu entwickeln sowie eigene Interessen zu verfolgen. Freiheit taucht somit sowohl auf der Seite gleicher Ansprüche/Vermögen auf, die den Ausgangspunkt für die gerechte Grundstruktur bieten, als auch auf der Seite der Effekte dieser Grundstruktur, indem diese danach strebt, gleiche Freiheitsräume bzw. den gleichen Wert dieser Räume zu sichern. Freiheit ist somit primär dem Individuum und seiner vorpolitischen Existenz zugeordnet, wogegen der Politik und der Grundstruktur die Rolle zukommt, die gleiche Freiheit der Individuen zu ermöglichen. Denn erst auf der Basis der Grundstruktur können die Ansprüche und Vermögen in gleicher Weise und in gleichem Maß zur Geltung gebracht werden und sind nicht von kontingenten Ressourcenverteilungen abhängig.1 Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Gerechtigkeitstheorien das Paternalismus-Problem bzw. die Unhintergehbarkeit des Urteils Betroffener oft nicht thematisieren oder als Antwort auf Einwände betonen, dass ihre Gerechtigkeitsprinzipien mit dem „vernünftigen“ Urteil Betroffener vereinbar sind. Wenn die Grundstruktur einer Gesellschaft gleiche Freiheit erst ermöglicht, dann gibt es keine Position, von der her Freiheit gegen eine solche Struktur ins Spiel gebracht werden kann. Der Einspruch klingt wie ein Einwand derjenigen, die unter der Abwesenheit einer Grundstruktur von der Ungleichheit zugunsten ihrer eigenen Freiheit profitieren. Die Ansätze, die die Unhintergehbarkeit verteidigen bzw. die Zustimmung zu den Gründen der Herrschaftsausübung als notwendig für deren Legitimität erklären, stimmen der Kritik zu, dass der Verweis auf (vermeintliche) Freiheitsverletzungen in vielen Situationen bloß dazu dient, unberechtigte oder partikulare Vorteile zu verteidigen. Sie konzentrieren sich daher auch weniger darauf, die Frage zu thematisieren, ob eine individuelle, vorpolitische Freiheit dadurch verletzt wird, dass die Grundstruktur existiert (ob-

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Zur Kritik an dieser Engführung von Freiheit mit Gleichheit in der egalitaristischen Gerechtigkeitstheorie vgl. Anderson 2000 oder Krebs 2000b. Diese Kritik ist z.T. mit den Interpretationen der Freiheit verbunden, die in diesem Kapitel thematisiert werden, z.T. zielt sie aber allein darauf ab, die Gerechtigkeitstheorie zu revidieren, siehe dazu Nussbaum 2006.

3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

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wohl dieser Punkt im Übergang von der Volkssouveränitätstheorie zum „neo-römischen Republikanismus“, der im folgenden Kapitel diskutiert wird, eine gewisse Bedeutung bekommt). Diese Frage ist vielmehr selbst eine „liberale“ Thematik, um die zuvor kurz eingeführte Terminologie zu gebrauchen, mit der der hier beschriebene Gegensatz gewöhnlich dargestellt wird. Allein in der liberalen oder „libertären“ Tradition erscheint jede politische Grundstruktur als Gefährdung individueller oder vorpolitisch gedachter Freiheit.2 Die freiheitstheoretischen Ansätze zur Bestimmung legitimer Herrschaft argumentieren dagegen, dass sich der Begriff der Freiheit notwendig (auch) auf den Raum und die Strukturen der Politik bezieht und nicht erst auf deren Resultate. Eine Theorie legitimer Herrschaft muss in dieser Perspektive erklären, welche Bedeutung die Freiheit in der Herrschaftsausübung hat bzw. ob und wenn ja, in welcher Weise sie als Ausdruck der Freiheit begriffen werden kann. Wie bereits bei den zuvor diskutierten Theorien sind auch hier Ansätze zu unterscheiden, die erhebliche Differenzen aufweisen. Um die Parallelen, aber auch die Differenzen präzise herauszuarbeiten, werden drei Ansätze nacheinander präsentiert und diskutiert (zwei in diesem und einer im folgenden Kapitel). Der erste Ansatz ist erst im 20. Jahrhundert explizit formuliert worden, in dieser Formulierung wurde aber beansprucht, dass er sich in wesentlichen Zügen schon in der Antike dargelegt findet, etwa in der athenischen Polis oder der politischen Philosophie von Aristoteles. Für diesen Ansatz hängt die Legitimität einer politischen Ordnung davon ab, dass sie das „politische Wesen“ des Menschen freisetzt, d.h. dass er zur aktiven Ausübung individuell verstandener politischer Freiheit im Verbund mit anderen bzw. in der politischen Gemeinschaft kommt (3.1). Der zweite Ansatz geht in der Fassung, die bis heute aktuell ist, auf Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant zurück. Er betont die Realisierung von Freiheit im Sinn der Autonomie oder der Selbstgesetzgebung, die durch

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Vgl. dazu die Diskussion unterschiedlicher „libertärer“ Theorien bei Höffe 1989: 191-377 sowie allgemeiner zum Spannungsfeld von Liberalismus und Republikanismus und zu den Gründen, warum dieser Gegensatz nur bedingt tragfähig ist, Habermas 1996: 277-292.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

die Verbindung mit einer Konstellation von Institutionen zu einer Struktur von Volkssouveränität entwickelt wird. Politische Freiheit ist in diesem Modell nicht notwendig identisch mit individueller Freiheit, letztere wird vielmehr in politischer Freiheit „aufgehoben“ (3.2). Der dritte Ansatz schließlich greift Motive des Freiheitsverständnisses im gerechtigkeitstheoretischen Egalitarismus auf und versteht Freiheit im Sinn der Möglichkeit, Projekte und Interessen zu verfolgen, die auf Kooperation angewiesen sind. Die Freiheit verbindet so Politisches mit Außerpolitischem, und Legitimität ergibt sich, wenn die Herrschaftsausübung beide Dimensionen adäquat inkorporiert (Kapitel 4).

3.1 Legitimität durch die Ermöglichung politischer Existenzweisen In einem der einflussreichsten Bücher der politischen Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert, Vita activa, unterscheidet Hannah Arendt drei Arten menschlicher Tätigkeit, die sie zugleich als Ausdruck dreier distinkter und hierarchisch geordneter Vermögen des Menschen begreift, deren höchstem sie die Möglichkeit zuschreibt, Freiheit zu realisieren. Auf diese Weise entwickelt sie das Modell einer Theorie des Zwecks und der Form legitimer Herrschaft, in der diese darin besteht, gleichzeitig Ermöglichung und Ausübung politischer Freiheit zu sein.3 Um seine Existenz zu erhalten, ist der Mensch wie alle Lebewesen auf Arbeit angewiesen, die ihn mit den Gütern oder „Lebensmitteln“ versorgt, derer seine physische Natur bedarf und über die er nicht immer schon verfügt (Arendt 1981: 90-91). In der Arbeit ist für Arendt nicht von Freiheit zu reden, da sie v.a. und z.T. allein darauf abzielt, das Leben zu reproduzieren, und somit in den Kreislauf der Natur eingebunden ist. Menschen arbeiten, weil sie Lebewesen sind und nicht

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In Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus entwickelt Arendt weitere Überlegungen zu den Bedingungen legitimer Herrschaft, die hier vernachlässigt werden. Vgl. dazu v.a. ihre Diskussion des Scheiterns eines menschenrechtlichen Ansatzes in Arendt 1986: 422-470 sowie insgesamt zur Bedeutung der Totalitarismustheorie für das politische Denken Arendts Bradshaw 1989: 39-51 oder Rensmann 2003.

3.1 Legitimität durch politische Existenzweisen

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weil sie in der Arbeit ihre Menschlichkeit realisieren oder ihrem Willen nachgehen. Arbeit ist ein Mittel, das zum Selbstzweck wird. Besondere menschliche Vermögen kommen dagegen in der zweiten Art menschlicher Tätigkeit, dem „Herstellen“ zum Ausdruck („zum Ausdruck“, weil sich aufgrund der besonderen menschlichen Vermögen schon die menschliche „Arbeit“ signifikant von der „Arbeit“ anderer Lebewesen unterscheidet, was allerdings im Zweck und Resultat der Arbeit, d.h. der Reproduktion, nicht sichtbar wird). Im Herstellen ist der Mensch weiterhin produktiv tätig, d.h. er gewinnt der Natur etwas ab, nun aber nicht mehr (oder zumindest nicht mehr primär), um lebensnotwendige Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um etwas eigenes zu erzeugen, das nicht zur Natur zurückkehrt bzw. in den natürlichen Kreislauf eingebunden ist (Arendt 1981: 125). Da der Mensch im Herstellen selbst zu einer Art Schöpfer gegenständlicher „Natur“ wird, könnte es so scheinen, als würde er dabei die „Freiheit“ Gottes aufgreifen und für sich selbst beanspruchen. Arendt ist überzeugt, dass diese Betrachtung des Herstellens im Hintergrund „liberaler“ Freiheitsmodelle und Legitimitätstheorien liegt, wie sie zuvor in der Gestalt der Gerechtigkeitstheorien untersucht wurden. Freiheit wird hier Arendts Auffassung nach als Freiheit zur Selbst-Bestimmung im doppelten Sinn der Erzeugung eines Selbst, das nicht vom Kreislauf der Natur abhängt, und der Bestimmung dieses Selbst durch es selbst verstanden. Diese Idee der Freiheit ist aber fragwürdig, da das vermeintlich freie Selbst in vielfältiger Weise unfrei ist. Es bleibt abhängig von der (Vorstellung von) Gegenständlichkeit, die die natürliche Welt präsentiert, und die Dinge treten dem Selbst schließlich als eigene Gegenstände entgegen, deren Existenz nicht mehr im Belieben desjenigen steht, der sie „geschaffen“ hat, sie „verdinglichen“ sich (Arendt 1981: 127-131).4 Unter Rekurs auf die aristotelische Bestimmung

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Arendt greift hier Motive der Verdinglichungstheorie und -kritik auf, wie sie zuvor Martin Heidegger in Sein und Zeit sowie Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts entwickelt haben (Heidegger 1986: 41-230; Sartre 1993: 633-748). Beide Autoren betonen wie Arendt den aktiven und praktischen, z.T. sogar rein negativen Charakter der Freiheit und die Unmöglichkeit, sie zu verstetigen bzw. ihr einen festen Ausdruck zu verleihen.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

der „poiesis“ (poi,hsij, als deren Übersetzung „Herstellen“ fungiert [vgl. Aristoteles 1991: 1139b]) hält Arendt noch grundsätzlicher fest, dass das Herstellen auf eine Zweck-Mittel-Relation bezogen ist, die dem Herstellenden einen Rahmen setzt, über den er nicht frei verfügen kann. Der Gegenstand ist letztlich der Gegenstand, als der er in der Welt erscheint, und nicht eine aus freien Gründen ausgeführte Tätigkeit desjenigen, der ihn herstellt oder hergestellt hat, oder ein Ausdruck dieser Tätigkeit. Dies hat zur Folge, dass eine Grundstruktur oder allgemeiner politische Verhältnisse, die darauf abzielen, die „Freiheit“ im Herstellen zu maximieren, letztlich nicht Freiheit maximieren, sondern nur die Proliferation neuer Gegenstände befördern. Dadurch wird aber die Freiheit gerade bedroht, da, wie in Arendts Augen insbesondere die Entwicklungen im 20. Jahrhundert zeigen, an einem bestimmten Punkt die neuen Gegenstände und Techniken einen Charakter annehmen, der die Menschen vergessen lässt, dass sie selbst deren Ursprung sind und sie stattdessen zu irrationalen und freiheitsfeindlichen Abwehrgesten treibt.5 Freiheit kann folglich für Arendt, wenn von ihr sinnvollerweise die Rede sein soll, nur in der Aktualisierung des höchsten menschlichen Vermögens, dem Handeln (womit die aristotelische „praxis“ übersetzt wird [vgl. u.a. Aristoteles 1894: 1140a]), verwirklicht werden. Im Handeln zeigt sich die Nicht-Determiniertheit des Menschen, seine Fähigkeit, „neu anzufangen“ und mit anderen in ein Verhältnis zu treten, das in dieser Form zuvor nicht absehbar oder notwendig war.6 Arendt setzt auf diese Weise Freiheit mit Nicht-Determiniertheit gleich, wodurch sie einerseits Linien der Diskussion aufgreift, wie sie sich z.B. bei Kant in seiner Darstellung der

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6

Vgl. dazu etwa den Zusammenhang zwischen der Atombombe und dem AntiAmerikanismus, den Arendt zugleich so begreift, dass er eine politische Freiheitsidee zurückweist, in Arendt 1989: 82-87. Für Arendt steht diese Fähigkeit, „neu anzufangen“, insgesamt unter dem Titel der „Natalität“, mit dem sie herausstreicht, dass die menschliche Existenz durch eine „Geworfenheit“ gekennzeichnet ist, die es dem Menschen verunmöglicht, sich bloß als Teil eines andauernden natürlichen Prozesses zu begreifen. Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion der Bedeutung der „Natalität“ in Arendts Werk Bowen-Moore 1989.

3.1 Legitimität durch politische Existenzweisen

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Kompatibilität von Naturgesetzlichkeit und Freiheit finden (Kant 1974: 488-506), aber auch in den Freiheitsvorlesungen Heideggers (Heidegger 1994). Andererseits verschließt sie sich den Zugang zu weniger ontologischen Freiheitsbegriffen, wie sie in der politischen Philosophie sonst gängig sind.7 Es wird später zu bewerten sein, ob dieses Herausstreichen des ontologischen Charakters von Freiheit diesen Ansatz eher stärkt oder schwächt – für Arendt bedeutet das Insistieren auf einem „emphatischen“ Freiheitsverständnis jedoch ein Abzielen auf dasjenige, was dem Menschen im höchsten Maß eigen ist. Eine solche Nicht-Determiniertheit lässt sich nicht erreichen oder verstetigen, indem der Mensch sich selbst an die Stelle des Schöpfers der Natur setzt und parallel zu ihm Gegenstände hervorbringt. Hier ist ihm das Ziel letztlich vorgegeben, also determiniert, und er ist gezwungen, bestehende Dinge zu negieren oder gar zu zerstören und Neues oder Anderes herzustellen, um sich in der Schöpferposition zu halten. Das Handeln ist dagegen nicht in dieser Weise durch ein Ziel festgelegt, denn im Handeln ist der Handelnde ein nicht-determinierter, freier Anfang neuer Handlungen. Aber es ist auch festzuhalten, dass der Handelnde über diese Anfänglichkeit nicht im Sinn eines Vermögens zu intentionalem und bewusstem Setzen verfügt, zur Konstitution oder eindeutigen Bestimmung der Weise, in der seine Handlungen oder gar seine Person in der Welt erscheinen.8 Freiheit gibt es nur in der menschlichen Gemeinschaft, im „Miteinander“ (Arendt 1981: 172), denn nur im Handeln (und Sprechen) miteinander realisiert sich eine „Selbst-Bestimmung“, in der nichts und niemand anderes als die jeweils Handelnden selbst (qua Handeln) entscheiden, was zur Erscheinung kommt. Da das „Entscheiden“ ein ontologisches Moment bezeichnet und nicht aus einem gezielten Urteilsakt resultiert,9 „ist“ die Frei-

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Vgl. zu dieser Tendenz und den Problemen, die sich daraus für eine freiheitstheoretische Bestimmung von Legitimität ergeben, auch Pettit 2001a: 6-31. „[N]iemand weiß, wen er eigentlich offenbart, wenn er im Sprechen und Handeln sich selbst unwillkürlich mit offenbart.“ Arendt 1981: 169. Mit dem „Urteil“ ist ein weiterer Topos von Arendt genannt, denn in ihrem Spätwerk setzt sie sich mit der kantischen Kritik der Urteilskraft auseinander.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

heit nicht etwas, auf das verwiesen und das in seiner Explizitheit bewahrt werden kann. Arendt spricht daher von der konstitutiven „Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 1981: 180) und in einer Wendung zur griechischen Polis expliziert sie, dass und wie diese als Antwort auf die Wahrnehmung der Zerbrechlichkeit verstanden werden kann. Ihrer Ansicht nach hatte die Polis den doppelten Effekt, einerseits die Möglichkeit zu verstetigen, menschliche Freiheit auszuüben, indem die gemeinsame Existenz auf das Handeln und Sprechen gegründet wurde, und andererseits in der Polis menschlicher Freiheit eine eigene Dauer und sichtbare Erscheinungsform zu geben (Arendt 1981: 190). Dabei darf die Polis aber nicht als Bedingung der Möglichkeit derart verstanden werden, dass sie in etwas Distinktem, etwa einer rechtlichen Verfassung, Gesetzen oder Institutionen besteht oder etwas bereitstellt, das der Ausübung des Handelns vorhergeht. Vielmehr benennt sie (bzw. das Gesetz und die Ordnung der Polis) und macht etwas explizit, was bereits vorher zur Erscheinung kam, aber der Gefahr unterlag, ohne Spuren wieder zu verschwinden. Die Polis gründet daher für Arendt nicht auf einer Ordnung (dies ist das römische Modell), sondern auf dem Handeln selbst.10 Politische Strukturen, Gesetze oder Institutionen können daher nur dann legitim sein, wenn sie ausschließlich dazu beitragen, das Handeln (und Sprechen) zu erhalten und fortzuführen, nicht aber wenn sie ihm einen Rahmen geben, der es zum Erliegen bringt oder gar an dessen Stelle zu treten beansprucht.11

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Hierbei wird deutlich, dass sie den Urteilsakt an Entscheidungsakte im oben beschriebenen Sinn annähert und somit der Reflexion (teilweise) entzieht. Vgl. dazu Arendt 1979: 179-192, Arendt 1985 sowie Benhabib 1988. „Der politische Bereich im Sinne der Griechen gleicht einer solchen immerwährenden Bühne, auf der es gewissermaßen nur ein Auftreten, aber kein Abtreten gibt, und dieser Bereich entsteht direkt aus einem Miteinander, dem „mitteilenden Teilnehmen an Worten und Taten“. So steht das Handeln nicht nur im engsten Verhältnis zu dem öffentlichen Teil der Welt, den wir gemeinsam bewohnen, sondern ist diejenige Tätigkeit, die einen öffentlichen Raum in der Welt überhaupt erst hervorbringt.“ Arendt 1981: 191. Vgl. zu dieser „performativen“ Konzeption von Öffentlichkeit und Politik Marchart 2005: 84. Hierin zeichnet sich auch eine Kritik der „politischen Philosophie“ seit der Antike ab, die diesen „Skandal“ der „Selbständigkeit“ und Unkalkulierbarkeit

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Die freiheitstheoretische Legitimitätstheorie, wie sie sich bei Arendt abzeichnet, verweist also auf das Ziel politischer Strukturen, die Ausübung der Freiheit zu ermöglichen, die dem Menschen eigentümlich ist. Selbst wenn diese Freiheit keine Implikationen für die Gestalt der außerpolitischen Welt und das Leben der Menschen in ihr hat, so ist sie in Arendts Augen doch als einzig wahres Moment menschlicher Nicht-Determiniertheit allen anderen Zielen vorzuziehen. Aber in der Einführung der Freiheit wird deutlich, dass sie nicht nur keine besonderen Implikationen für die außerpolitische Welt hat, sondern dass das Handeln im arendtschen Sinn insgesamt selbstbezüglich verstanden werden muss. Durch die Abgrenzung des Handelns von der Arbeit und vom Herstellen wird ersichtlich, dass der Wert des Handelns nicht in dem Zweck liegen kann, dem es als Mittel dient, sondern in der Tatsache, dass es stattfindet oder weiteres Handeln ermöglicht. Damit ist aber für jede Erörterung politischer Verhältnisse auch klar, dass legitime Herrschaftsausübung im Handeln bzw. in der Perpetuierung des Handelns bestehen muss, ohne dass dabei auf Zwecke geblickt werden dürfte, die die Herrschaftsausübung bedient. Diese Zurückweisung betrifft in erster Weise „außerpolitische“ ökonomische und soziale Zwecke, da diese schon der Konstruktion nach auf etwas verweisen, das die Politik in die Position eines Mittels zu gegebenen Zwecken bringt.12 Die Politik wird in

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des politischen Handelns vermeintlich beseitigen will, um an dessen Stelle die Ordnung des Gesetzes oder der Vernunft zu setzen. Vgl. Arendt 1981: 188 oder Rancière 2002: 73-104. Daraus erklärt sich auch die Zurückweisung des Sozialen und damit jeder Idee sozialer Gerechtigkeit als eines Ziels der Politik. Wenn die Politik der Raum des Handelns sein soll, muss die Selbsterhaltung des Menschen in der „Arbeit“ und im „Herstellen“ derart vorausgesetzt werden, dass sie in der Politik nicht mehr thematisch werden muss. In einer Gesellschaft, die erst noch Mittel zur Selbsterhaltung finden muss, kann es nicht zum Handeln kommen. Vgl. zur Kritik an diesem „Nebeneffekt“ der Selbstbezüglichkeit der Politik Demirović 2003, zu einer entgegengesetzten Interpretation der „Politisierung“ als inhaltlicher Alternative zur „Ökonomisierung“ Marchart 2005: 94-95. Eine vermittelnde Position, die für das Modell der Legitimität durch Volkssouveränität relevant ist und in der die Politik das Ziel verfolgt, die sozio-ökonomischen Prämissen in ihrer Bedeutung für die Neugründung der Gesellschaft zu reduzieren, findet sich bei Castoriadis 1986: 366-371.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

einer solchen Zurückweisung grundsätzlich als Raum verstanden, der nicht bloß das Handeln ermöglicht (denn dann könnte angenommen werden, dass die Politik die Ressourcen bereitstellen sollte, die zum Handeln notwendig sind), sondern geradezu durch das Handeln definiert wird, d.h. die Politik steht nicht einmal mit Blick auf das Handeln in der Relation eines Mittels zu einem Zweck. Die Legitimitätstheorie, die hier von Arendt entwickelt wird, lässt sich also als politizistische Legitimitätstheorie verstehen – „politizistisch“, da sie das Politische absolut setzt, indem sie weder äußere, noch interne Bezugspunkte zulässt, die sich als Standards oder notwendige Voraussetzungen objektivieren ließen.13 Gerade diese letzte Zuspitzung der Theorie durch das Betonen der Selbstreferentialität des Handelns und der Politik wirft allerdings wichtige Fragen dazu auf, wie das Legitimitätskriterium genau zu verstehen ist, wenn doch zuvor erklärt wurde, dass das Handeln (und Sprechen) per se unbeständig und fragil ist und d.h. nicht immer schon und v.a. nicht andauernd selbstverständlich stattfindet. Wie vermag es dennoch ein Kriterium derart zu bilden, dass legitime von illegitimer Herrschaftsausübung unterschieden werden kann, also weder jede Herrschaftsausübung legitim ist (weil es keine Möglichkeit gibt, das menschliche Vermögen zum Neuanfangen insgesamt zum Verschwinden zu bringen), noch illegitim (weil jede Strukturierung und Rahmung des Handelns dieses einschränkt)?14 Ein solches Kriterium lässt sich nur artikulieren, wenn die Leistung des Handelns genauer bestimmt wird bzw. genauer auf dasjenige geblickt wird, was in Gesetzen oder Institutionen direkt mit den Eigenschaften oder Leistungen des Handelns verbunden ist und was dem Handeln dagegen äußerlich bleibt.

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Vgl. zu den Schwierigkeiten, die „Autonomie“ der Politik zu bestimmen, die Beiträge in Frankfurter Arbeitskreis 2004a. Diese strukturelle Ambivalenz des arendtschen Modells wird sichtbar, wenn Arendt ins Feld geführt wird, um den unpolitischen Charakter gegenwärtiger Verhältnisse zu kritisieren und gleichzeitig strukturelle Maßnahmen zur Förderung von politischer Inklusion zurückzuweisen. Vgl. zu solchen Kritiken, bei denen Arendt häufig um den Blick auf Überlegungen Ernesto Laclaus ergänzt wird, Hetzel 2004: 207-209 oder Marchart 2006: 158-160.

3.1 Legitimität durch politische Existenzweisen

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Die Selbstbezüglichkeit des Handelns und der Politik ist eine wichtige Einschränkung für die Bestimmung der Gestalt und Leistung des Handelns, sie ist aber auch eine Einschränkung, die die Bestimmung nicht einfacher macht. Arendt konzentriert sich auf das Miteinander, um von dorther zu bestimmen, wie sich dieses auf die Realisierung individueller Freiheit15 im (politischen) bzw. als (politisches) Handeln auswirkt. Hierzu streicht sie den Wert der Agonalität heraus, d.h. des politischen Streits oder gar Kampfes, da darin die Differenz der Beteiligten und d.h. ihre Nicht-Determiniertheit bzw. ihr Vermögen, neu anzufangen, besonders deutlich zum Tragen kommt. Das Bestehen von Auseinandersetzung hat dabei für Arendt weniger die Funktion, dasjenige, was sich in der „Differenz“ ausdrückt, politisch aufzunehmen, weshalb es auch prima facie nicht notwendig ist, sie als Vertreterin einer pluralistischen Politikkonzeption zu verstehen.16 Politischer Streit zwingt die Beteiligten vielmehr, sich zu sich selbst und anderen zu verhalten – und d.h. zu handeln, durch die eigenen Handlungen dem Miteinander eine neue Gestalt zu verleihen oder neue Impulse zu geben, also Freiheit auszuüben. So verstanden resultieren aus dem Unterstreichen der Differenz auch keine Implikationen für die Gewähr von Minderheitenrechten oder gar für Ansprüche auf Befähigung, dasjenige einzubringen, was die eigene „Differenz“ ausmacht. Differenz formiert und artikuliert sich allererst im Handeln und korrespondiert nicht mit den Unterschieden in Lebensweisen oder der Stellung in der Gesellschaft. Im Anschluss an diese Konzeption der Agonalität von Politik entfaltet Arendt einen eigenen Machtbegriff, den sie dem politi-

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Zur Charakterisierung ihres eigenen Modells als „individualistisch“ vgl. Arendt 1981: 187. Die Bezeichnung als Theorie, die auf die Realisierung „individueller“ Freiheit abzielt, hat keine starken „individualistischen“ Implikationen, wie sie von Arendt dem liberalen Modell zugeschrieben werden. Sie verweist aber darauf, dass die Autoren, die hier behandelt werden, bei aller Konzentration auf Politik und Gemeinschaft Freiheit nicht kollektivistisch verstehen. Siehe zu den Schwierigkeiten, aber auch zur Attraktivität eines „kollektivistischen“ oder zumindest allein von der Gemeinschaft her zu verstehenden Freiheitsbegriffs auch die Ausführungen zur Volkssouveränität im folgenden Abschnitt. Vgl. zu den Schwierigkeiten einer pluralistischen Lesart von Arendt, wenn deren Zurückweisung des Sozialen ernst genommen wird, Flathman 2005: 53-75.

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schen Raum vorbehält und jedem Verständnis von Stärke oder Kraft entgegenstellt, die sie als objektive Faktoren oder Aggregationen im Raum der gegenständlichen Welt begreift (Arendt 1981: 194-199).17 In der Erzeugung dieser Macht liegt auch die Leistung des Miteinanders begründet: Im Unterschied zu bloßem „Zusammensein“, das den Ausgangspunkt jeden Handelns und jeder Politik bildet, können sich Menschen im Miteinander nämlich frei miteinander verbinden oder verbünden, indem sie einander „Versprechen“ geben und so die Macht eines Vertrags generieren, der sie zu binden vermag (Arendt 1981: 240). In klarer Abgrenzung vom Kontraktualismus hängt für Arendt die Bindungskraft des Vertrages entscheidend an dem „Projekt“, das mit dem Vertrag verbunden ist, d.h. der Vertrag sichert nicht bestehende Ansprüche vor dem Zugriff anderer, sondern ermöglicht die Ausübung positiver Freiheit im Verfolgen eines gemeinsamen Projektes. Diese Konzeption der politischen Auseinandersetzung als des herausragenden Modus der Integration, des gesellschaftlichen Vertragschließens und kollektiver Bindung, die darüber erzeugt wird, wirft an sich bereits zahlreiche Schwierigkeiten auf – zumal wenn die Agonalität radikal pluralistisch oder kontingent verstanden wird, wie es in der jüngeren Literatur in der Hegemonietheorie im Anschluss an Antonio Gramsci, aber auch an Arendt üblich geworden ist.18 Es trägt aber v.a. nicht wesentlich dazu bei, den selbstbezüglichen Charakter des Handelns und der Politik besser zu verstehen, denn was hat man sich unter kollektiven „Projekten“ vorzustellen, wenn diese in keiner Weise auf die Tätigkeitsbereiche bezogen sein dürfen, die Arendt als Arbeit und Herstellen benennt, zugleich aber auch nicht das Handeln zum Stillstand bringen sollen? Arendt verfolgt die Idee, dass sich in einem bestimmten Austrag des politischen Streits ein Kollektiv eine Gestalt verleiht, die historisch andauert, also „unsterblich“ wird, indem sie

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Ein Echo dieses Machtbegriffs findet sich in Habermas’ Verständnis von „kommunikativer Macht“, die in Öffentlichkeiten aggregiert wird, und auf das das Kap. 4.4 zurückkommt. Vgl. zur radikalen Agonalität Mouffe 1999, Mouffe 2005: 29-34 und Mouffe 2007; zur Unplausibilität einer Theorie, die Legitimität darauf gründet, dass Agonalität besteht und perpetuiert wird, Niederberger 2006a.

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über die Zeit hinweg als Beispiel dient und sich damit dem Entstehen und Vergehen entzieht. Dabei denkt sie v.a. an die athenische Demokratie, von deren Einzelentscheidungen kaum mehr jemand etwas weiß, die aber dennoch weiterhin oft als herausragende menschliche und politische Form und Leistung gilt.19 Aus dieser Idee historischer Größe und Unsterblichkeit lassen sich aber keine Kriterien dafür gewinnen, was genau ihr Erreichen ermöglicht hat, d.h. welches Handeln dazu erforderlich war und in welchem Maß ein politischer „Rahmen“ dazu beigetragen hat. Einige andere Autoren, die ebenfalls eine (freiheitstheoretische)20 Legitimitätsbegründung vertreten, in der der selbstbezügliche Charakter des Handelns und der Politik herausgehoben wird, verstehen den Verweis auf die athenische Polis enger als Arendt selbst und sind überzeugt, dass der Blick auf genau diese historische politische Form und ihre Theoretisierung sich eignet, um besser zu begreifen, welche menschlichen Vermögen im politischen Handeln und möglicherweise sogar nur in diesem Handeln ausgebildet und ausgeübt werden können (vgl. dazu Meier 1980: 40-47; Meier 1982; Ober 1996: 149-151). Die Betrachtung der Leistungen der athenischen Demokratie soll erweisen, dass diese in der Förderung und Ermöglichung tugendhaften Handelns bestand und sich von dort ausgehend die Legitimitätstheorie präziser formulieren lässt. Um zu dieser Formulierung zu kommen, wird das Denken der Politik und der athenischen Polis aufgegriffen, wie es von Aristoteles initiiert wurde, der einen engen Konnex von Tugend und Politik behauptet. Im ersten Satz der Nikomachischen Ethik konstatiert Aristoteles, dass jedes Handeln (pra/xij), wie auch anderes, z.B. Techniken oder Methoden, auf Güter bzw. Ziele ausgerichtet ist (Aristoteles 1991: 1094a). Das beste Handeln ist ein Handeln, das um seiner

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Dieses Bild der athenischen Polis bezieht Arendt v.a. aus den Darstellungen von Fustel de Coulanges 1988. Die jüngere Forschung blickt dagegen wesentlich genauer auf die Funktionsweisen der Demokratie in Athen, vgl. dazu Finley 1988 oder Rhodes 2004. Diese Einklammerung hier ist notwendig, da sich im Verlauf der Argumentation zeigen wird, dass bei diesen Autoren nicht mehr klar ist, inwiefern es sich wirklich um freiheitstheoretische Ansätze handeln kann.

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selbst willen erstrebt wird, d.h. ein Handeln, das als dieses Handeln selbst sein Ziel ist. Es gibt drei Handlungsweisen bzw. Lebensformen, die in Reihen von Handlungen bestehen, die als solche erstrebt werden: „Handeln“, das Lust (h`donh,) verschafft, politisches Handeln und die Kontemplation des Wahren (Aristoteles 1991: 1095b). Als Kandidaten für richtige Handlungsweisen kommen nur politisches Handeln und Kontemplation in Frage, da die Maximierung von Lust letztlich in ihrem Gelingen, d.h. im Erreichen von Glückseligkeit (euvdaimoni,a) nicht (nur) vom Handelnden abhängt, sondern v.a. von günstigen äußeren bzw. natürlichen Gegebenheiten. Im politischen Handeln wird die Tugend (avreth,) ausgebildet und ausgeübt, während in der Kontemplation das Wahre erkannt wird. Ist die eudaimonia das höchste Ziel,21 dann erweist sich auch das politische Handeln als fragwürdiger Weg. Prinzipiell sind die Tugend und ihre Entwicklung zwar vom Handelnden selbst abhängig, da dieser allein alles zu leisten hat, was die Tugendhaftigkeit des tugendhaften Handelns ausmacht. Das tugendhafte Handeln muss sich aber dennoch in der Welt vollziehen und bleibt daher in seinem Gelingen (d.h. in der faktischen Ausbild- und Ausübbarkeit der Tugend) von günstigen Gelegenheiten abhängig. Mit Blick auf das Erreichen von Glückseligkeit kann es sogar zu Reaktionen der Umwelt führen, die den Handelnden nicht mit demjenigen „belohnen“, was ihn „glückselig“ macht (Aristoteles 1991: 1095b-1096a). Es scheint daher, als könne allein die Einsicht in das Wahre eine eudaimonia hervorbringen, die nicht von äußeren Umständen abhängt. Aristoteles stellt dies wiederum dadurch in Frage, dass er zwischen zwei Weisen unterscheidet, in denen der Mensch dasjenige, was für ihn eigentümlich ist, bestmöglich ausbilden und ausüben kann (worin das Ziel [te,loj] einer jeden Art besteht). Die Einsicht in das Wahre setzt die Schulung und den Gebrauch kognitiver Vermögen voraus, die allein dem Menschen im Vergleich mit anderen Lebewesen vorbehalten sind (Aristoteles 1991: 1097b-

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Hiermit wird nicht ein weiteres „höchstes Ziel“ oder „Gut“ neben dem Handeln eingeführt, „das um seiner selbst willen erstrebt wird“, sondern es wird nach einem Handeln gefragt, das „um seiner selbst willen erstrebt wird“ und genau als solches zur eudaimonia führt.

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1098a). Gleichzeitig verfügt der Mensch aber auch über praktische Vermögen, die ihm eigen sind und sich nicht auf die kognitiven Vermögen reduzieren lassen, selbst wenn sie in eng mit jenen verbunden sind (Aristoteles 1991: 1103a). Die Ausbildung und Ausübung der praktischen Vermögen ist in gewissem Sinn sogar die Vorbedingung dafür, die kognitiven Vermögen auszubilden und auszuüben, da die Ausbildung letzterer ein allgemeines Verständnis von Tugendhaftigkeit voraussetzt. Daraus ergibt sich als erste Anforderung an politische Verhältnisse, dass sie „die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft“ (Aristoteles 1991: 1103b) machen und somit auch für die Einsicht in das Wahre vorbereiten.22 Anders als Wissen können Tugenden aber für Aristoteles nicht ein für allemal und v.a. nicht abstrakt, also in der Form von Wissen erworben werden. Sie bedürfen der kontinuierlichen Ausübung in der Welt, und zwar auch deshalb, weil das Finden der richtigen Mitte, das für sie wesentlich ist, nicht a priori stattfinden kann, sondern der Schulung der Klugheit unter wirklichen Handlungsbedingungen bedarf. Gerecht ist nicht, wer nur versteht, warum eine Handlung gerecht ist oder nicht, sondern derjenige, der die Handlung ausführt (Aristoteles 1991: 1105b). Wenn es das Ziel politischer Verhältnisse sein soll, „die Bürger (...) tugendhaft“ zu machen, dann müssen neben der Vermittlung von Wissen Kontexte geschaffen werden, in denen die Bürger ihre Tugendhaftigkeit ausüben können. Dies wirft die Frage auf, welche Tugenden überhaupt oder prioritär Gegenstand politischer Ermöglichung oder Schulung sein sollen, da sich nur darüber verstehen lässt, welche Kontexte in welcher Art eröffnet werden müssen. Aristoteles untersucht dazu zunächst jeweils an sich die Tapferkeit (äavndrei,a [Aristoteles 1894: 1115a-1117b]), die Besonnenheit

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Aristoteles weist also im Verhältnis von politischer Ordnung zu Tugend/Freiheit nicht so eindeutig letzterer den Vorrang zu wie Arendt (vgl. zur Bezogenheit der Tugend auf das Gesetz bei Aristoteles MacIntyre 1984: 152-155). Hieraus erklärt sich auch, dass Arendt Aristoteles gemeinsam mit Platon als „Verabschieder“ der Politik kritisiert. Es zeigt sich aber, dass Aristoteles durchaus selbst auf die arendtschen Schwierigkeiten trifft, wie Ermöglichung und Ermöglichtes bei tugendhaftem Handeln und politischem Raum genau zu verorten sind.

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(swfrosu/,nh [1117b-1119b]), die Freigebigkeit (evleuqerio,thj [1119b-1122a]), die Großartigkeit (megalopre,peia [1122a-1123a]), die Großgesinntheit (megaloyuci,a [1123a-1125b]), die Sanftmut (prao,thj [1125b-1126b]),23 um schließlich im Buch 5 der Nikomachischen Ethik zur Gerechtigkeit (dikaiosu,nh) zu kommen.24 Im Unterschied zu den anderen Tugenden ist die Gerechtigkeit als „vollkommene“ (Aristoteles 1991: 1129b) und „ganze Tugend“ (1130a) zu beschreiben, da sie direkt die Relationen zwischen Menschen betrifft und nicht nur das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst und seiner Umwelt und zudem die Tugenden insgesamt als Bestimmungsgrund für die menschlichen Verhältnisse einrichtet.25 Als vollkommene Tugend zielt die Gerechtigkeit darauf, dass die Menschen grundsätzlich tugendhaft handeln. Mit dieser Charakterisierung der Gerechtigkeit wird klar, dass diese Tugend im Zentrum der Politik stehen muss. Denn die Orientierung an ihr ist die Voraussetzung dafür, dass diejenigen, die die politischen Geschäfte leiten, sie tatsächlich so einrichten, dass sie die Tugendhaftigkeit aller oder zumindest der meisten bzw. derjenigen zum Ziel haben, die besonders zur Tugendhaftigkeit disponiert sind. Dies hat für die Politik eine interessante Konsequenz, denn einerseits ist die Politik somit selbst der beste Kontext, in dem die (Meta-)Tugend der Gerechtigkeit ausgebildet und ausgeübt werden kann, während die Ausübung von letzterer ande-

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Es ist wichtig, sich diese Liste zu vergegenwärtigen, um zu verstehen, dass die Tugenden bei Aristoteles, wie bei den meisten späteren Autoren, nicht alle politischer Natur sind, selbst wenn allen auch Bedeutung in der Politik zugeschrieben werden kann. Zu einer primär politischen Interpretation aller Tugenden bei Aristoteles vgl. Garver 2006: 131-142. Es wird hier der Nikomachischen Ethik eine Systematik und Stringenz unterstellt, die möglicherweise philologisch nicht zu erhärten ist. Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion der Tugend der Gerechtigkeit bei Aristoteles Kraut 2002: 98-177. Da es aber um einen systematischen Blick auf den Beitrag von Aristoteles zu einem freiheitstheoretischen Modell legitimer Herrschaft geht, kann dies vernachlässigt werden. Daneben beschäftigt sich Aristoteles auch noch mit der Tugend besonderer Gerechtigkeit, in der es um die Proportionalität und Zuteilung von Anteilen etc. geht (Aristoteles 1991: 1130b-1133b) – also um dasjenige, was in den heutigen Gerechtigkeitstheorien, die zumeist distributiv oder re-distributiv ausgerichtet sind, unter dem Titel der „Gerechtigkeit“ erörtert wird.

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rerseits die (an sich richtige) Politik bildet, die sie doch gerade befördern soll – hier findet sich also der aristotelische Bezugspunkt von Arendts These der größeren „Ursprünglichkeit“ des politischen Handelns gegenüber jeder Ordnung oder Rahmung. Politische Verhältnisse befördern die Ausbildung und Ausübung von Tugend dann in größtem Maß, wenn sie Verhältnisse sind, die durch Handeln gemäß der Tugendhaftigkeit konstituiert sind (Rese 2003: 248-249). Dabei unterstellt Arendt, dass die Verhältnisse überhaupt nur dann die Tugendhaftigkeit bzw. das Handeln als Ausdruck menschlicher Freiheit befördern können, wenn sie allein oder v.a. auf (tugendhaftem) Handeln beruhen, also politische Verhältnisse im emphatischen und exklusiven Sinn sind. Aristoteles schließt dagegen nicht aus, dass es auch andere Verhältnisse gibt, in denen die Tugendhaftigkeit – allerdings weniger gut und umfangreich – befördert werden könnte, wie etwa in Kampfsituationen oder der theoretischen Betrachtung (Müller 2004: 35-36). Noch wesentlicher als diese Differenz zwischen Arendt und Aristoteles ist aber, dass Arendts Beschreibung – modern – von der Gleichheit aller Menschen hinsichtlich ihres Vermögens, neu anzufangen, ausgeht. So kann es in der Tat so aussehen, dass alle im politischen Handeln möglichst häufig Gelegenheit bekommen sollten, ihr Vermögen auszubilden und auszuüben. Für Aristoteles ist die Situation komplizierter, denn selbst wenn er der These zustimmen könnte, dass alle prinzipiell das Vermögen haben, Tugenden zu einem gewissen Grad auszubilden, so gibt es doch für ihn einige, die dabei besser (mit Voraussetzungen ausgestattet) sind als andere. In seinen Augen kann es in der Politik – zumindest was die Tugenden angeht – nicht nur um die größte Menge gehen, sondern es muss auch die höchste Exzellenz zur Ausübung kommen. Tugenden lassen sich nicht einfach als Vermögen begreifen, deren Realisierung per se gut ist, sondern ihre Ausübung ist besonders wünschenswert, wenn sie für alle den größten Nutzen erbringt, wobei dieser „Nutzen“ nicht als „größte Tugendhaftigkeit der größten möglichen Menge von Menschen“ übersetzt werden darf (Aristoteles 1986: 1281a-1282b). Hierin klingt bereits an, dass Aristoteles auch der Selbstbezüglichkeitsthese nicht zustimmt. Er ist nämlich nicht der Auffassung, dass alle Fragen, um die es in der

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Politik geht, am besten durch tugendhaftes Handeln bzw. besonders tugendhafte Personen entschieden werden sollten,26 so dass er den Vorrang der Tugendhaftigkeit den Fällen vorbehält, in denen die Regelung im Sinn allgemeiner Gesetze unangemessen oder unsinnig wäre. Damit trägt er der Einsicht Rechnung, dass sich die „Vollkommenheit“ der höchsten Tugend der Gerechtigkeit nicht so verstehen lässt, dass sie die anderen Tugenden vollständig in sich aufheben würde. Die Gerechtigkeit ist in der Tat das Modell für Tugendhaftigkeit überhaupt, als ein solches Modell gibt sie aber nur die Form für andere Tugenden ab, wie die Tapferkeit oder die Besonnenheit, legt aber nicht deren besondere inhaltliche Prinzipien fest, die durchaus und sogar wesentlich auf nichtpolitisches Handeln bezogen sein können. Diese Diskussion der Ausführungen von Aristoteles zum Verhältnis von Tugend und Politik war notwendig, um die Überzeugungskraft von Arendts Theorie zu überprüfen. Gängige Interpretationen von Arendts Vorstellung der Größe der athenischen Demokratie (mit dem Ziel etwas zu ergänzen, wozu sich bei Arendt [zu] wenig findet) bzw. grundsätzliche Bestimmungen des Zwecks legitimer politischer Verhältnisse unter Rekurs auf Aristoteles führen die Ausbildung und Ausübung spezifisch menschlicher Tugenden als Ausgangspunkt für die politizistische, freiheitstheoretische Legitimitätstheorie an (z.B. Gerhardt 1990b: 300). Das „Wesen des Menschen“ besteht demnach in dem Vermögen, tugendhaft zu handeln, und es wird angenommen, dass solche Tugendhaftigkeit, wie bei Arendt und z.T. bei Aristoteles gezeigt, nur oder v.a. im politischen Handeln ausgebildet und ausgeübt werden kann, da sie intrinsisch an die Politik gebunden ist. Der Gesamtblick auf den Peripatetiker macht aber deutlich, dass sich diese Argumentation – zumindest wenn sie der Freiheit Wert beimessen will – nicht direkt auf Aristoteles zurückführen lässt. Bei ihm findet sich kein Beleg für die These, dass es das primäre oder gar ausschließliche Ziel der Politik sein sollte, Tugendhaftigkeit bei der größten Menge von Menschen auszubilden (und zwar nicht, weil

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In diesem Kontext verweist MacIntyre auch darauf, dass bei Aristoteles der Agonalität kein großer Wert zugeschrieben wird, vgl. MacIntyre 1984: 157.

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Aristoteles den Wert dieser Ausbildung bestreitet, sondern eher weil er dies nicht für ein erreichbares Ziel hält oder andere Ziele, wie etwa dasjenige der größten möglichen Tugendhaftigkeit der Besten, bevorzugt). Gleichfalls argumentiert er nicht, dass die Tugendhaftigkeit sich allein oder primär selbstreferentiell auf das politische Handeln bezieht – also Ausdruck der Freiheit der Menschen in der Politik ist. Solche Interpretationen der Bedeutung der Tugend für den Menschen oder menschliche Gemeinschaften im allgemeinen sind erst vor dem Hintergrund der modernen Annahmen der Gleichheit und Freiheit von Individuen plausibel – auch wenn Gleichheit und Freiheit, wie zuvor betont, hier anders verstanden werden, als in den liberal-egalitaristischen Gerechtigkeitstheorien. Alasdair MacIntyre erkennt diese Distanz von Aristoteles zu einer modernen Verteidigung der Tugenden als eines zentralen Orientierungspunktes für die Politik klarerweise, wenn er eine Teleologie der menschlichen Gattung zurückweist, deren Annahme es in seinen Augen dem griechischen Philosophen versperrt, die Gleichheit der Frauen und Nicht-Griechen anzuerkennen und so die Freiheit als Träger der Tugenden allgemeiner zu fassen (MacIntyre 1984: 159). Freiheit kann für MacIntyre nicht einfach ein historisches oder soziales Faktum bzw. die teilweise kontingente Zuschreibung in einer Gemeinschaft sein (wie er es Aristoteles unterstellt), sondern sie muss im universellen menschlichen Vermögen bestehen, durch eigene Entscheidung „tugendhaft“ zu handeln. Damit führt MacIntyre ein kantisches Motiv in seinen Neo-Aristotelismus ein, nämlich dessen Vorstellung von Freiheit und Autonomie in der Moralität (oder zumindest eine [christliche] Vorstellung der Willensfreiheit und Verantwortung) und unterscheidet sich auf diese Weise deutlich von skeptischen, humeanischen Neo-Aristotelismen à la Bernard Williams, bei denen die Tugendhaftigkeit letztlich vollkommen der Kontingenz natürlicher und kontextueller Gegebenheiten unterliegt.27 Der Rekurs auf die Tugend eignet sich folglich nicht, um der freiheitstheoretischen Bestimmung von Legitimität, wie sie im An-

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Vgl. zur Vorordnung von desire vor belief im humeanischen Neo-Aristotelismus Williams 1984c.

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schluss an Arendt entfaltet wurde, bzw. der „Größe der athenischen Polis“ als einer Orientierung für politisches Handeln eine präzisere Gestalt zu geben. Tugend lässt sich nicht mit Freiheit identifizieren, ohne zugleich von der politizistischen Freiheitstheorie zu einer handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorie zu wechseln. Eine „moderne“ Reformulierung der Tugend „nach der Tugend“ (MacIntyre), d.h. die Auszeichnung einer Tugend, der keine objektive Bedeutung bzw. Notwendigkeit für die Menschheit insgesamt oder eine bestimmte Gemeinschaft mehr zugeschrieben werden kann, läuft Gefahr, zirkulär und letztlich wiederum nur von einer Theorie formaler Gleichheit getragen zu werden. Der Bezug auf den Tugendbegriff muss insgesamt aufgegeben werden, damit die entsprechende Bestimmung von Legitimität als Freiheitstheorie konzipiert werden kann. Angesichts dieser Schwäche der Tugendlehre28 ist aber weiterhin unklar, wie ein Kriterium der politizistischen Legitimitätstheorie aussehen sollte, das es erlaubt, legitime von illegitimer Herrschaft zu unterscheiden. Der Rekurs auf die Tugend verfolgte die Absicht, eine Deutung dessen vorzulegen, was in der politischen Freiheit ausgebildet und ausgeübt werden soll, um darüber einen Maßstab für politische Verhältnisse zu gewinnen (unter der Bedingung, dass dieser Maßstab nicht vorpolitisch bezogen werden darf). Wenn ein jeder Tugendbegriff (zumindest in seiner aristotelischen Fassung) eine Teleologie impliziert, die es nicht erlaubt, eindeutig der Erweiterung und Perpetuierung der Freiheit aller zur Ausbildung von Tugendhaftigkeit den Primat zuzuschreiben, dann ergibt sich als Alternative, die (politische) Freiheit selbst so absolut zu setzen, dass ihr Wert gerade in ihrer vollkommenen Unbestimmtheit liegt. Freiheit in der Politik zu ermöglichen und zu realisieren, ist in dieser Perspektive nicht deshalb für die Legitimität der Herrschaft zentral, weil in ihr irgendetwas, letztlich für die Handelnden als solche Entscheidendes zum Ausdruck kommt (und sei es „nur“ ihre tugendhafte oder politische Natur), sondern weil Freiheit die

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Womit nicht gesagt ist, dass der Bezug auf Tugend in der Ethik nicht notwendig ist. Hier antwortet der Tugendbegriff aber auf ein anderes Problem, nämlich die Frage, unter welchen Bedingungen moralische Prinzipien oder Einsichten am ehesten faktisches Handeln anleiten.

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menschliche Existenz im Fluss und offen hält, also beständig zur Bestimmung und Neubestimmung zwingt.29 Eine solche Variante der politizistischen Legitimitätstheorie ist in den letzten zwei Dekaden im Ausgang von der Demokratietheorie Claude Leforts entwickelt worden. Lefort selbst ist in der Demokratietheorie nicht primär an der Leistung der Freiheit für menschliche Existenz oder der Perpetuierung des politischen Streites interessiert.30 Ihn beschäftigt eher die Form der Demokratie, die gewährleistet, dass politischer Wandel und der Ausgleich bzw. die Stabilität zwischen konkurrierenden Gruppen verstetigt werden, Herrschaft möglich, aber auch kontrollierbar und adäquat bleibt. Er führt dabei zwei Überlegungen zusammen: Erstens hängt für ihn die Möglichkeit von Herrschaft entscheidend daran, dass es eine identifizierbare Person oder Stelle gibt, von der (aus) diese Herrschaft ausgeübt wird. Mit diesem Ausgangspunkt schließt Lefort an Webers Herrschaftstheorie, die im ersten Kapitel ausführlich diskutiert wurde, und deren Betonung der Bedeutung, die die Verwaltung hat, an, deutet diese aber Kantorowicz folgend im Licht theologisch-politischer Modelle der Souveränität des Herrschers vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Die Herrschaft erhält so eine irreduzibel symbolische Dimension, d.h. die Identifizierbarkeit muss immer eine Sichtbarkeit sein und kann sich nicht auf Zurechenbarkeit beschränken (Lefort 1999a). Für die Demokratie ist zweitens in seinen Augen charakteristisch, dass sie nur in einem bestimmten Sinn das monarchisch-theokratische Herrschaftsmodell überwindet. Denn in ihr verschwindet Herrschaft nicht und sie wird auch nicht einfach über die Menge der-

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Arendts Texte selbst sind für dieses Freiheitsverständnis nicht als Beleg heranzuziehen, da sie bei aller Betonung des „neuen Anfangens“ viel Wert auf die dadurch ermöglichten kollektiven Projekte bzw. gesicherte Verfahren der Partizipation legt – und insofern eine Politik zurückweist, die allein darauf gerichtet ist, „neues Anfangen“ zu perpetuieren. Vgl. dazu die Ausführungen zur Ambivalenz der „Revolution“ und ihrer Verstetigung in Arendt 1963: 277-362. Dieses Moment ist bei ihm präsent, stellt aber keinen Selbstzweck dar, sondern richtet sich darauf, die „Angst vor dem Neuen“ zurückzuweisen. „Neues“ zu ermöglichen ist für Lefort eine Bedingung dafür, dass sich politische Verhältnisse an sich wandelnde soziale Gegebenheiten anpassen können. Vgl. Lefort/Gauchet 1990: 91 und Lefort 1994: 29-30.

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jenigen dispersiert, die ihre Bürger sind oder an ihrer Ausgestaltung teilhaben. Sie ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass in ihr die Stelle, von der (aus) Herrschaft ausgeübt wird, leer bleibt (Lefort 1990b). In der demokratischen Auseinandersetzung geht es beständig darum, diese leere Stelle personell oder inhaltlich zu füllen oder einzunehmen, aber von einer Demokratie ist genau dann zu reden, wenn diese Aneignungsversuche aufgrund struktureller Vorkehrungen notwendig scheitern.31 In der politizistischen Legitimitätstheorie wird diese Beschreibung der Demokratie von ihrer Funktion abgekoppelt, Herrschaft unter modernen sozio-ökonomischen Bedingungen zu explizieren.32 Sie wird stattdessen als Modell für die Perpetuierung politischer Auseinandersetzung bei gleichzeitigem Vermeiden von Spannungen gebraucht, die zur Auflösung der politischen Gemeinschaft führen würden. Diese Theorie geht dabei mit Arendt, aber v.a. mit Heidegger und Sartre, z.T. auch mit Foucault33 davon

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Später wird auf dieses wichtige Verständnis der Demokratie hinsichtlich seiner Bedeutung für die Organisation demokratischer Institutionen und Verfahren zurückgekommen. Lefort präsentiert die moderne Demokratie so, dass sie einem Paradox ausgesetzt ist: Im Gegensatz zur Vormoderne, in der die soziale Ordnung die göttliche oder natürliche Ordnung spiegelt, beansprucht die Demokratie für sich, das Gesellschaftliche allererst zu instituieren, d.h. den Grund für Sozialverhältnisse abzugeben und so tendenziell über alles zu verfügen. Zugleich sind moderne Akteure, die sich demokratischer Institutionen bedienen, dadurch gekennzeichnet, dass sie für sich reklamieren, von politischen Strukturen in möglichst großem Maß unbehelligt zu bleiben, d.h. in ihren individuellen Interessen bestreiten, dass die Demokratie über alles verfügen darf. Für Lefort ergibt sich daraus eine Paradoxie, die paradigmatisch in der Spannung zwischen Menschenrechten (als vermeintlich der Politik entzogenen Rechten) und Politik (die allererst Menschenrechte zu gewähren vermag) zum Ausdruck kommt (Lefort 1990a). Eine Verschärfung der Analyse der paradoxen Grundlage moderner Demokratie und ihrer Implikationen für gegenwärtige Konflikte (etwa in der Frage nach der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit) findet sich bei Gauchet 1998, Manent 2001: 55-70 und Gauchet/Manent/Finkielkraut 2003. Der Verweis auf Foucault an dieser Stelle ist notwendig, da er wie kein Zweiter dargelegt hat, wie politischer Ausschluss bzw. disziplinierender Einschluss mit der Konstruktion von Wesensbestimmungen etc. einhergeht (Dreyfus/Rabinow 1983: 126-167). Zugleich ist festzuhalten, dass Foucault in seinen Gouvernementalitätsanalysen nahe legt, dass das Betonen von Offenheit und Frei-

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aus, dass die größte Bedrohung für den Menschen darin besteht, Strukturen und Regelungen ausgesetzt zu sein, die das „Wesen des Menschen“ oder das „Wesen der Bürger“ verdinglichen und so andere Bestimmungen bzw. diejenigen Personen ausschließen, auf die die Strukturen und Regelungen nicht passen. Die politische Freiheit, „neu anzufangen“, ist daher v.a. eine Freiheit, bestehende Strukturen und Regelungen zu kritisieren und negieren, die verdinglichende Wirkungen haben. In der Freiheit kommt also nicht etwas „Positives“ zum Ausdruck, das vielmehr als radikal kontingent begriffen wird, sondern sie aktualisiert ein Moment der Unter- und Unbestimmtheit in den Herrschaftsverhältnissen. Gleichzeitig wird eine anarchistische Perspektive zurückgewiesen, d.h. bei aller Kontingenz dessen, was in der Herrschaft zum Zug kommt, ist es wichtig, dass sich dies nicht in der Form bloßer Machtungleichgewichte durchsetzt. Denn eine anarchistische Freisetzung von Ressourcendifferenzen würde letztlich zu Gewalt führen. Der politische Streit ist also Streit um des Streits willen, Streit, der die Artikulation von Differenz ermöglichen soll (wobei Artikulation als „Konstruktion“ oder „Erfindung“ verstanden wird), nicht aber notwendig Streit, der auf den Eigenwert des Kampfhaften, Gewalttätigen im Streit setzt.34 Diese Variante, eine freiheitsorientierte, politizistische Legitimitätstheorie zu verteidigen, passt gut zum Selbstverständnis wesentlicher Akteure der westlichen (Post-)Moderne zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Die „großen Erzählungen“ menschlicher Emanzipation, der Gerechtigkeit oder geschichtlicher Teleologie sind an ihrem Ende angekommen (Lyotard 1979: 63), aber daraus wird nicht einfach die Berechtigung der Beliebigkeit und Kontingenz dessen gefolgert, was sich unter jeweiligen Umständen aufgrund

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heit selbst ein Modus der Disziplinierung und des Einschlusses sein kann, nun einer, der von den Betroffenen selbst etabliert und aufrecht erhalten wird (Foucault 2004b: 81-111). Eine solche Linie der Argumentation gibt es auch und ihr Gewährsmann ist zweifelsohne Carl Schmitt mit seiner Bestimmung der Freund-Feind-Differenz als Grundmerkmal des Politischen, vgl. dazu Schmitt 1963: 26-45 sowie zur Bedeutung Schmitts für den sogenannten „Rechtspopulismus“ und seine Variante des Politizismus Marti 2006: 123-148.

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faktischer Ressourcen durchsetzt. Stattdessen wird betont, dass das Ende und die Kritik der „großen Erzählungen“ selbst in der Weise „radikaler Demokratie“ verstetigt werden muss,35 die jedes konkrete politische Projekt verdächtigt, doch wieder eine gegebene Zuschreibung zu verabsolutieren. „Revolution“ soll in der Form einer offenen Demokratie perpetuiert werden, die beständig sich selbst und ihre Funktionsweisen „revolutioniert“ – aber die Offenheit für das „Ganz Andere“ ist nicht mehr verbunden mit der Erwartung einer Lösung der Probleme, denen die soziale Welt gegenübersteht, oder gar einer Erlösung davon.36 Diese überspitzte Darstellung macht schon klar, dass diese Fassung der politizistischen Legitimitätstheorie genausowenig überzeugend ist, wie der Versuch, sie mit Hilfe des Tugendbegriffs attraktiver zu machen. Und dies gilt nicht nur, weil das gegenwärtige Selbstverständnis sich eventuell stärker der allgemeinen Unsicherheit verdankt als wirklichen Einsichten. Wichtiger ist, dass es widersinnig und respektlos ist, politischen Akteuren zu entgegnen, dass die Anliegen und Interessen, die sie vorbringen, irrelevant sind und allein die Offenheit der politischen Auseinandersetzung und die Teilhabe daran zählen sollte. Es ist nur aus dem Blickwinkel (quasi-professioneller) politischer Aktivisten nachzuvollziehen, dass die politische Aktivität selbst der Zweck ist. Eine „Politisierung“ derjenigen, die nicht schon politisch aktiv sind, ist so sicherlich nicht zu erklären und wahrscheinlich auch nur selten zu erreichen. Und von denjenigen, die – bereits in Spannung zur Zurückweisung der „Fortschrittsthese“ – glauben, dass die Perpetuierung

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Eine solche Verbindung von radikaler Kritik oder Dekonstruktion mit der Demokratie findet sich v.a. in Interpretationen der démocratie à venir, wie sie Jacques Derrida entwickelt hat (Derrida 1996: 109-111; Derrida 2001a: 149-157). Vgl. dazu Saar 2007 oder Flügel 2004, zu einer alternativen Interpretation Niederberger 2002 sowie Niederberger 2007b. In einigen politizistischen Legitimitätstheorien klingt die Idee größerer sozioökonomischer Gerechtigkeit etwa in der Bezugnahme auf Marx noch an. Unter Bedingungen der Unklarheit, wie die Gerechtigkeit im Spannungsfeld verschiedener sozialer Bewegungen mit verschiedenen Forderungen, die unmöglich miteinander zu vereinbaren sind, heute noch aussehen könnte, setzen aber auch diese Ansätze ausschließlich darauf, für die Offenheit der Politik/Demokratie zu plädieren. Vgl. DemoPunk/Kritik & Praxis Berlin 2005.

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der „Revolution“ eine Voraussetzung für grundsätzlichen sozioökonomischen Wandel ist, ist zur Erhärtung dieser These zu erwarten, dass sie erläutern, warum die Offenheit und Agonalität des politischen Feldes Auswirkungen darauf haben sollte, wie sich die sozialen und ökonomischen Verhältnisse gestalten, warum also die Vorbehalte gegen Rechtspopulismen (d.h. deren Mobilisierung mit dem Ziel, von sozio-ökonomischen Strukturen abzulenken bzw. „Sündenböcke“ auszuzeichnen) nicht mehr gelten sollten. Darüber hinaus ist der Verzicht auf die Betrachtung desjenigen, was politisches Handeln erst ermöglicht, ebenfalls nicht nachvollziehbar. Jeder Mensch mag zwar das Vermögen haben, „neu anzufangen“, es ist aber nicht jedem in gleicher Weise möglich, dieses Vermögen politisch auszuüben – selbst wenn es einen „politischen Raum“ gäbe, in dem jeder auftreten könnte, d.h. einen wirklich offenen und öffentlichen Raum ohne Zugangsbeschränkungen.37 Es ist dementsprechend nicht, wie Arendt und mit ihr andere Theoretiker annehmen, verzichtbar, auf die Bedingungen zu blicken, die Individuen faktisch befähigen, politisch aktiv zu werden und zu sein. Wenn dies aber unverzichtbar ist, dann muss der Ansatz neben einer Darlegung dessen, was die Personen zu politischem Handeln befähigt, Überlegungen dazu enthalten, wie die Befähigung aussehen könnte, ohne die Selbstbezüglichkeit der Politik zu unterminieren und die Freiheit einiger einzuschränken. Insgesamt betrachtet vermag diese erste Fassung eines freiheitstheoretischen Legitimitätsmodells also keine überzeugende (normative) Begründung dafür zu geben, dass das Urteil oder die Beteiligung derjenigen, die von der Herrschaft betroffen sind, unhintergehbar ist – womit sie auch keine Alternative zu den gerechtigkeitstheoretischen Bestimmungen legitimer Herrschaft ist. Weder der Verweis auf Tugenden, die allein im politischen Handeln ausgebildet werden können, noch die Verteidigung eines formalen Offenheitsmoments in politischen Verhältnissen, das dem Zweck

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Eine Variante, die gleiche Möglichkeit zur Ausübung eines gleichen Vermögens zu denken, bieten Michael Hardt und Toni Negri mit ihrem Begriff der multitude (Hardt/Negri 2002: 361-420). Diese Denkbarkeit hat jedoch die Konsequenz, dass die politischen Akteure ihr Gesicht verlieren und auf ihre Irritationskraft für bestehende Verhältnisse reduziert werden.

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dient, verdinglichende Regelungen aufzulösen, lassen sich als Explikation der Freiheit verstehen, die in einer Herrschaftsausübung verletzt würde, die darauf abzielt, gerechte Standards umzusetzen. Es werden zwar Motive angedeutet, die interessant sein könnten, wie etwa der Vorteil des politischen Handelns für das Erzeugen kollektiver Bindungen oder seine Notwendigkeit, um Regelungen und Institutionen zu kritisieren bzw. ihren Wandel zu ermöglichen, aber diese Motive allein ergeben kein eigenständiges Modell legitimer Herrschaft und sie greifen als Kritik an den Modellen, die bislang diskutiert wurden, zu kurz (denn diese erkennen den Sinn eines demokratischen „Realitätsprinzips“ an). Damit bleibt zu untersuchen, ob sich diese Motive nicht in einem anderen freiheitstheoretischen Modell formulieren lassen bzw. ob sie in gerechtigkeitstheoretische Modelle integrierbar sind. Grundsätzlich wird solcherart klar, dass den Differenzen zwischen einer ontologischen Betrachtung der Welt und menschlicher „Freiheit“ in ihr einerseits und einem politischen Verständnis von Freiheit andererseits hinreichend Rechnung zu tragen ist. Die ontologische Betrachtung ist attraktiv, da sie die Behauptbarkeit einer absoluten Freiheit des Menschen und damit der Besonderheit seiner Menschlichkeit und Dynamik verspricht, aber bei der Anwendung dieser Perspektive auf politische Kontexte wird ersichtlich, dass daraus eine problematische Formalisierung bzw. inhaltliche Leere der politischen Freiheit resultiert. Die Schwierigkeit der verschiedenen politizistischen Legitimitätstheorien, ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Herrschaft zu präsentieren, hängt wesentlich damit zusammen, dass Überlegungen, die unter Blick auf eine fundamentale ontologische Ebene gewonnen wurden, komplexer Übersetzungen bedürfen, um in politischen Kontexten positive oder kritische Aussagekraft zu haben (Niederberger 2005a). Revolutionen und andere radikale Umstürze des Bestehenden haben in der Moderne nicht immer zu größerer Inklusion und Freiheit geführt, sondern sie haben auch autoritäre, totalitäre und faschistische Regime zur Erscheinung gebracht. Diese Möglichkeit kann nicht einfach als „nicht-intendierte Nebenfolge“ unthematisiert bleiben – und schon gar nicht selbst als Bestätigung dafür, dass sich das Freiheitsstreben nicht still stel-

3.1 Legitimität durch politische Existenzweisen

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len lässt, normativ neutralisiert werden (wie es z.T. mit „formalisierendem“ Blick auf anti-demokratische Bewegungen geschieht [vgl. u.a. Rancière 2005]).

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität Auch das zweite Modell einer freiheitstheoretischen Begründung legitimer Herrschaft verzichtet nicht vollständig auf den Bezug auf das ontologische Freiheitsmodell. Wie in der Beschreibung der postmodernen Kritik der „großen Erzählungen“ schon anklang, steht die Moderne insgesamt im Zeichen der Freiheit. Der Mensch emanzipiert sich aus sozialen und politischen Kontexten, in denen Konventionen und Autoritäten ihm Rollen und die Unterwerfung unter Hierarchien (vermeintlich) aufzwingen, aber er erhebt sich auch über natürliche Grenzen, indem er technische Mittel perfektioniert, die ihn vom Wirken der Natur unabhängiger machen. Die Emanzipation von Konventionen und der Natur war einer der wichtigsten Motoren für menschliches Handeln in den letzten Jahrhunderten – und aufgrund dieser Zentralität ist es gut nachvollziehbar, dass nach einer politischen Theorie und Praxis gesucht wird, die belegt, dass der Mensch tatsächlich frei ist oder sein kann, auch wenn Beschreibungen des Menschen in den Natur- und Sozialwissenschaften oft deterministisch aussehen, indem sie sein Handeln ohne Bezug auf den Freiheitsbegriff erklären (Niederberger 2007a: 299-333). Wie gezeigt, konzentriert sich die politizistische Legitimitätstheorie auf das Moment der Nicht-Determiniertheit im Handeln und beabsichtigt, dies trotz oder gerade in seiner Zerbrechlichkeit und Unbestimmtheit zu perpetuieren. Die freiheitstheoretische Bestimmung von Legitimität, die auf Volkssouveränität abzielt und nun erörtert wird, nimmt eine andere Fokussierung vor, indem sie v.a. soziale Handlungsverhältnisse in den Blick nimmt und nach den Bedingungen fragt, unter denen in ihnen von freiem Handeln gesprochen werden kann. Soziale Handlungsverhältnisse sind solche Verhältnisse, in denen Handelnde unmittelbar in Relationen zueinander stehen (und d.h. v.a. Handlungen des einen di-

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

rekt auf die Handlungen eines anderen bezogen sind)38 und ihre Handlungsmöglichkeiten wesentlich durch das bestimmt sind, was diese Relation ihnen erlaubt bzw. von ihnen erwartet. Im ersten Kapitel wurde hinsichtlich des Übergangs von Macht zu Herrschaft gezeigt, dass Herrschaft sich nur dergestalt verstehen lässt, dass denjenigen, die ihr unterworfen sind, die Verfügung über die Relationen entzogen ist. Es könnte also so scheinen, als sei Herrschaft bzw. das Bestehen sozialer Handlungsverhältnisse aufgrund von Herrschaftsausübung per se mit Freiheit unvereinbar oder als könne Freiheit nur kontingenterweise – da von konkreten Ressourcen abhängig – vor der Herrschaftsausübung (also unter Bedingungen der Macht) existieren oder durch sie in der Weise einer Grundstruktur ermöglicht werden (wobei die politizistische Legitimitätstheorie befürchtet, dass sie keine „wirkliche“ Freiheit ist). Die Theorie der Legitimität von Herrschaft durch Volkssouveränität bringt eine dritte Option ins Spiel, die darin besteht, dass soziale Handlungsverhältnisse dann Freiheit zum Ausdruck bringen, wenn sichergestellt ist, dass diejenigen, deren Handeln durch die Verhältnisse ermöglicht, reguliert oder eingeschränkt wird, selbst die Autoren der Verhältnisse sind, d.h. wenn sie sich so begreifen lassen, dass diejenigen, die von ihnen betroffen sind, deren Bestehen aus freien Gründen bzw. in Ausübung ihrer Freiheit herbeigeführt haben.39 Die Argumentation, unter welchen Bedingungen ein solches Begreifen möglich ist, vollzieht sich dabei in drei Schritten: Im ersten Schritt wird gezeigt, warum eine Souveränitätsstruktur für die Herrschaftsausübung notwendig ist. Im zweiten Schritt wird, z.T. unter dem Titel der Autonomie, Selbstge-

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39

Damit ist nicht gesagt, dass andere Handlungsverhältnisse nicht auch thematisch werden, z.B. solche, in denen es um die Interaktion mit der Natur zum Zweck der Selbsterhaltung geht. Die jüngere Geschichte ist voll von Fällen, in denen versucht wurde, politisch bzw. mit dem Ziel der Befreiung der Menschheit oder eines Volkes Bedingungen zu etablieren, unter denen die Sorge um natürliche Ressourcen etc. überflüssig würde. Solche Versuche waren aber immer viel umstrittener und häufig weniger explizit Ziel moderner Politik als das Anstreben einer freien Gestaltung der sozialen Handlungsverhältnisse. Zu einer klaren Formulierung der Forderung nach einem Zusammenhang zwischen der konstitutiven Rolle des Staates für die Handlungsverhältnisse und der Freiheit der Bürger im Staat vgl. Schwan 1990: 20-21.

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität

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setzgebung als Modus eingeführt, in dem Freiheit damit vereinbar ist, dass beschränkte und beschränkende Handlungsverhältnisse bestehen. Im dritten Schritt schließlich werden Souveränität und Autonomie in der Volkssouveränität zusammengeführt. Nach diesem Durchgang wird untersucht, ob die Theorie der Legitimität von Herrschaft durch die Ausübung von Volkssouveränität in sich stimmig ist und wie sie auf den Populismus-Vorbehalt antworten kann, der zur Begründung gerechtigkeitstheoretischer Bestimmungen legitimer Herrschaft angeführt wird.

3.2.1 Herrschaft und Souveränität Bereits im Abschnitt zum Übergang von Macht zu Herrschaft wurde aufgezeigt, welche Schwierigkeiten mit dem Übergang verbunden sind und welche Form Herrschaft haben muss, damit sie an die Stelle der Macht zu treten vermag. Herrschaft muss die Bestimmung der Verhältnisse durch die Ressourcen derjenigen, die in ihnen in einem Verhältnis zueinander stehen, in eine Bestimmung dieser Verhältnisse durch Regeln und Prinzipien umwandeln, bei der die Verhältnisse den Handlungsmöglichkeiten der Handelnden vorhergehen. Ohne sie zu nennen, verweisen diese Ausführungen bereits auf die Souveränität, unter deren Titel seit dem 16. Jahrhundert die Existenz von (staatlicher) Herrschaft gedacht wird (Dennert 1964; Weinert 2007: 20-50).40 Die Souveränität hat – unter verschiedenen Bezeichnungen wie der summa potestas – zahlreiche Vorläufer in der Geschichte politischen Denkens, aber erst in den Theorien von Jean Bodin und Thomas Hobbes nimmt sie die Gestalt an, die für die moderne Staatenbildung zentral geworden ist. Souverän ist diesen Theoretikern gemäß, wer den Handlungsverhältnissen Regeln und Prinzipien in der Form von Gesetzen zu Grunde zu legen oder aufzuerlegen vermag, ohne selbst noch einmal diesen

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Die Ausführungen im Kap. 1 haben gezeigt, dass Herrschaft in verschiedenen historischen Phasen und Kontexten unterschiedlich hoher Komplexität andere Gestalten angenommen hat. Der genannte „Verweis“ darf daher nicht als Identitätsbehauptung missverstanden werden: Nicht jede Herrschaft impliziert eine Struktur der Souveränität, aber vieles im Verständnis von Herrschaft und ihrer Prämissen verdankt sich dem modernen Denken der Souveränität.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

oder anderen41 Regeln und Prinzipien bzw. sonstigen Faktoren unterworfen zu sein, die Auswirkungen auf das Auferlegen haben.42 In dieser Definition stecken zwei Elemente, die zu einem gewissen Grad distinkt sind, sich aber zugleich wechselseitig bedingen: erstens muss die souveräne Instanz in der Lage sein, die Handlungsverhältnisse (gesetzlich) zu bestimmen; zweitens muss diese Bestimmung ihren Grund in der souveränen Instanz selbst haben. In der Souveränität kommt insbesondere im zweiten Element zum Ausdruck, dass es sich bei ihr um ein Herrschaftssystem handelt, dass sein eigener Ursprung ist. Die souveräne Herrschaft konstituiert das Gemeinwesen, in dem sie ausgeübt wird, was bei Bodin unter Verweis darauf festgehalten wird, dass sie die Einheit in der Vielheit des Vorpolitischen stiftet: „République est un droit gouvernement de plusieurs ménages, et de ce qui leur est commun, avec puissance souveraine.“ (Bodin 1993: 57) Von Souveränität (und von einem politischen Gemeinwesen) wäre laut Bodin und Hobbes nicht zu reden, würde der Souverän selbst in Abhängigkeit von jemand oder etwas anderem stehen. Diese Unabhängigkeit setzt zweierlei voraus: einerseits dass die Gesamtheit des Gemeinwesens keiner externen Ressourcen bedarf, um sich zu erhalten, und andererseits dass der Souverän keiner solchen Ressourcen bedarf, um seine Funktion auszuüben. Würde das Gemeinwesen notwendig43 externer Ressourcen bedürfen, dann

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V.a. bei Bodin ist die loi de Dieu et de nature wichtig, was so aussehen könnte, als ob sich der Souverän doch an anderen Prinzipien orientiert. Dieser Eindruck trügt aber, da Bodin festhält, dass das Gesetz Gottes und der Natur an sich unbestimmt ist und erst in der souveränen Gesetzgebung konkret Gestalt annimmt (Bodin 1993: 119). Vgl. dazu auch Engster 2001: 72-79. „La souveraineté est la puissance absolue et perpétuelle d’une République.“ Bodin 1993: 111. „And in him consisteth the Essence of the Common-wealth; which (to define it,) is One Person, of whose Acts a great Multitude, by mutuall Covenants one with another, have made themselves every one the Author, to the end he may use the strength and means of them all, as he shall think expedient, for their Peace and Common Defence. And he that carryeth this Person, is called Soveraigne, and said to have Soveraigne Power; and every one besides, his Subject.“ Hobbes 1985: 228. Das „notwendig“ besagt, dass das Gemeinwesen durchaus davon abhängen kann, dass es im Austausch mit anderen Gemeinwesen etc. steht, und diese „Abhängigkeit“ die Souveränität nicht einschränkt, solange das Gemeinwesen selbst darüber befinden kann, ob es diesen Austausch betreiben will oder

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität

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müsste es so eingerichtet werden, dass es die Ressourcen erwerben und nutzen kann (womit die Prinzipien, die es bestimmen, zumindest in dieser Hinsicht dem Souverän entzogen wären). Würde der Souverän selbst externe Ressourcen benötigen, um die Handlungsverhältnisse bestimmen zu können, dann wäre er den Bedingungen für den Erwerb der Ressourcen unterworfen. Diese beiden „Bedürfnislosigkeiten“ lassen sich nur erreichen, wenn erstens die souveräne Herrschaft ein Gemeinwesen konstituiert, dass sich mit seinen Ressourcen bzw. den Ressourcen, die sich aus der Gemeinschaft ergeben, selbst zu erhalten vermag, und zweitens der Souverän nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit ist, diese Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, die sich selbst trägt.44 Er kann dann nämlich – wie dies zuvor ausführlicher für die „Verwaltung“ bei Weber gezeigt wurde – die Gemeinschaft für die Gemeinschaft und eventuell gegen deviante Individuen oder widerständige Gruppen mobilisieren und verfügt immer über die Menge an Ressourcen, derer er bedarf, um die Handlungsverhältnisse zu bestimmen, ohne diese von einer externen Quelle beziehen zu müssen. In diesen beiden „Bedürfnislosigkeiten“ liegt schon die problematische Rolle der Souveränität für das Verhältnis des Gemeinwesens zu seinem Außen begründet, denn wenn das Ziel der Souveränität „Selbständigkeit“, also eine Art Autarkie ist, dann kann es weder das Ziel des Gemeinwesens sein, in einem (gesetzlich) geregelten Verhältnis zu anderen Gemeinwesen zu stehen, noch kann der Souverän sich externen Verpflichtungen unterwerfen – woraus allerdings in beiden Fällen nicht folgt, dass die Souveränität per se zur Aggression nach Außen führt.45

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nicht. Vgl. zur „Willensfreiheit“ des Gemeinwesens als eines zentralen (und für Kelsen problematischen) Kennzeichens von Souveränität Kelsen 1970. In dieser Deutung wird die erste Bedingung empirisch verstanden, während die zweite Bedingung als Bestimmung der Form der Souveränität interpretiert wird. Wie bereits im Kap. 1.3 ausgeführt wurde, ist die zweite Bedingung nicht oder zumindest nicht ausschließlich empirisch zu erfüllen. Dies wird in der Theorie Émer de Vattels deutlich, der einerseits eine Souveränitätsheorie vertritt, die rechtliche Bindungen nach Außen weitgehend zurückweist (d.h. sie ausschließlich zulässt, um das Prinzip der Nichtintervention abzusichern), andererseits aber für supererogatorische humanitäre Leistungen anderen Gemeinschaften gegenüber plädiert (Vattel 1959: 184-192).

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

Es ist folglich von einem politischen Gemeinwesen erst dann zu reden, wenn die Handlungsweisen, die denjenigen zur Verfügung stehen, die in ihm leben, souverän gesetzt und erhalten werden. Das „souveräne Setzen und Erhalten“ darf dabei nicht als absolute Willkür missverstanden werden, denn die konstitutive Funktion der Herrschaft kann bei aller Absolutheit der souveränen Instanz nur in der Form von Gesetzen ausgeübt werden (was noch nichts zur Qualität der Gesetze aussagt, sondern allein unterstreicht, dass die Gesetzesförmigkeit notwendig ist). Eine personale bzw. ad hoc Konstitution oder Erhaltung von Handlungsverhältnissen würde die Leistungsfähigkeit jedes möglichen Souveräns übersteigen. Aber noch wichtiger wäre sie keine „Konstitution“ von Verhältnissen, die den Handelnden vorausliegen, sondern sie wäre von beständigen Interventionen bzw. der kontingenten Bereitschaft der Handelnden abhängig, sich an vorhergehende Bestimmungen zu halten. Die Theorie der Souveränität ist somit nicht primär eine Theorie des „Ausnahmezustands“, wie sie von Carl Schmitt und jüngst Giorgio Agamben mit Blick auf die Interventionsfähigkeit des Souveräns im Einzelfall charakterisiert wird (Schmitt 1996: 13; Agamben 2004). Es ist für sie vielmehr entscheidend, dass die soziale Einheit, selbst unter der Voraussetzung, dass Individuen und Gruppen mit ihren Interessen immer schon existieren und agieren, als ganze etabliert wird und an die Stelle dessen tritt, was ihr vorhergeht oder -ging. In der Souveränität wird die Gesetzesförmigkeit des sozialen Raums etabliert und garantiert und zu diesem Zweck die Position des Souveräns geschaffen, die dem Gesetz enthoben ist (primär weil es sonst zu einem infiniten Regress in der Festlegung der höchsten geltenden Regel kommen würde, auf die jede einzelne Regel letztlich zurückgeführt werden können muss) und damit potentiell in jedem Einzelfall das Gesetz auch aussetzen kann (etwa derart, dass eine andere Regel zur Anwendung kommt) – die Aktualisierbarkeit dieser Potenz ist aber als solche kein definierendes Merkmal für die Existenz von Souveränität (vgl. ausführlicher zu dieser Kritik der vermeintlichen Logik des „Ausnahmezustands“ in der Souveränitätstheorie Niederberger/Schink 2004).

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität

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Das Denken der Souveränität changiert zwischen einem normativen und einem nicht-normativen Verständnis derselben. So finden sich einerseits Argumente, die intendieren zu zeigen, dass Handlungsverhältnisse nur qua Souveränität durch richtige Prinzipien bzw. durch die überhaupt normativ gebotene Gesetzmäßigkeit bestimmt werden können. Andererseits gibt es Überlegungen, die herausarbeiten, dass von Herrschaft grundsätzlich nur unter Bedingungen von Souveränität die Rede sein kann, ohne dass dies implizieren würde, dass die jeweilige Ausübung bzw. Existenz von Herrschaft besser oder schlechter ist als andere Verhältnisse. Es gibt zweifelsohne einen Zusammenhang zwischen den beiden Verständnisweisen, etwa da die Bestimmung durch Prinzipien die Bestimmbarkeit von Verhältnissen überhaupt voraussetzt oder der Vorrang von Handlungsverhältnissen vor den Handelnden eine prinzipielle Gestalt der Verhältnisse erfordert. Gleichzeitig hat das Changieren der Argumentation aber zur Konsequenz, dass häufig nicht klar ist, ob notwendige oder hinreichende Aspekte von Souveränität entwickelt werden und d.h. ob die Aspekte, die normativ ausgezeichnet werden, auch nicht-normativ, also auf jeden Fall mit Souveränität einhergehen oder diese qualifizieren können. Grundsätzlich ist mit Blick auf die Verbindung zur Freiheitsthematik festzuhalten, dass die Souveränität, so sie denn erreichbar ist, als Herrschaftsform gewährleistet, dass eine Instanz existiert, die Träger aller wesentlichen Voraussetzungen dafür ist, dass die sozialen Handlungsverhältnisse bestimmt und kontrolliert werden (können). Sie ist somit eine ontologische Aussage zur Verfassung des sozialen Raums – und als solche eine notwendige Bedingung dafür, den Anspruch auf freie Gestaltung der sozialen Handlungsverhältnisse zu formulieren, solange die angestrebte Freiheit mit ontologischen Ansprüchen einhergeht, wie sie zu Beginn dieses Abschnitts angeführt wurden. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist, ob die erreichbare Souveränität mit Freiheit zusammengehen kann oder ob die Bedingungen zu ihrer Etablierung und Erhaltung nicht jedem Freiheitsmoment entgegenstehen. Hierauf zielen die Betrachtungen des Souveränitätsbegriffs, die auf den „Ausnahmezustand“ oder das „Recht zur Kriegserklärung“ abheben, denn sie unterstreichen, dass ein Moment von Willkür unver-

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zichtbar ist, ohne das es nicht denkbar ist, dass Handlungsverhältnissen Gesetzmäßigkeit auferlegt wird. Systematisch steckt dahinter das Problem, wie personal und unitarisch die Instanz zu denken ist, die die Souveränität verkörpert, denn es ist weniger schwierig, die Freiheit des Souveräns zu denken als eine Freiheit derjenigen, die von einer souveränen Herrschaftsstruktur betroffen sind (Hampton 1994: 20-24). Bevor diese Fragen beantwortet werden können, ist zu erörtern, inwiefern Freiheit überhaupt mit der Weise verbunden werden kann, in der souverän die Handlungsverhältnisse eingerichtet und erhalten werden sollen.

3.2.2 Freiheit und Selbstgesetzgebung Die Darstellung der Souveränität zeigt, dass sich souveräne Herrschaft, unabhängig von der Gestalt oder Besetzung der Stelle des Souveräns, darin manifestiert, dass sie soziale Handlungsverhältnisse einer Gesetzmäßigkeit unterwirft, die ihnen ohne diese Herrschaftsausübung nicht eigen wäre. Wenn dies nicht einfach als Beleg hinreicht, dass Souveränität und Freiheit unvereinbar sind, weil ein Handeln, das sich einem Gesetz zu beugen hat, nicht frei ist, dann muss die Freiheit darin bestehen können, dass Handelnde sich selbst und zwar aus bzw. in Ausübung von Freiheit (und nicht allein [und eventuell überhaupt nicht] zur Sicherung vorpolitischer Freiheit, denn dies würde auch für die Gerechtigkeitstheorien gelten) die Gesetzmäßigkeit der Verhältnisse auferlegen. Auch dieses Problem ist nicht neu, denn in der Geschichte der Philosophie wurde immer wieder erörtert, wie die Freiheit eines Schöpfers zu verstehen ist, wenn sein Geschöpf (etwa natürlichen) Gesetzen unterliegt (Fidora/Niederberger 2002). In der Moderne haben v.a. zwei politische Philosophen wirkmächtige Modelle entwickelt, wie es zu verstehen ist, dass (die Ausübung von) Freiheit intern mit der Gesetzmäßigkeit des Raums sozialen Handelns zusammenhängt: Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Rousseau argumentiert dabei substitutionslogisch, d.h. bei ihm tritt die politische Freiheit in der Gesetzgebung an die Stelle bloß vermeintlicher vorpolitischer „Freiheit“. Kant analysiert dagegen dasjenige, was in jedem Handeln vorausgesetzt wird, und folgert aus den Ansprüchen, die dabei zur Erscheinung kommen, dass von

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität

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Freiheit nur in der Form der Beteiligung an der Setzung und Gestaltung der Gesetzmäßigkeit der sozialen Verhältnisse geredet werden kann (wobei aufgrund der transzendentalen Argumentation der Bezug zu allen Formen des Handelns erhalten bleibt). Rousseau und Kant initiieren mit ihren Überlegungen zwei distinkte Konzeptionen von Volkssouveränität, weshalb sich bei allen Ähnlichkeiten die Rekonstruktion der Elemente lohnt, in denen ihre Unterschiede deutlich werden. Parallel zur Annahme vorpolitischer Freiheit in der Gerechtigkeitstheorie hält Rousseau fest, dass der Mensch ursprünglich frei ist. Diese Freiheit findet aber nicht nur an den Handlungen, den Ressourcen und der Stärke anderer eine faktische Grenze und hat daher limitierten Wert, sondern – und hier endet die Parallele zur Gerechtigkeitstheorie – es handelt sich insgesamt um eine natürliche Freiheit, deren Wert zweifelhaft ist. Sie ist wenig anderes als das unbeschränkte Vermögen, kontextgebundene Wünsche zu verfolgen, ohne dass diese Wünsche bzw. die Effekte ihres Verfolgens irgendwie qualifiziert wären (Rousseau 1986: 22-23). „Wahre“ Freiheit wird erst mit der „Freiheit des Bürgers“ (liberté civile) erreicht, da sich der Mensch als Bürger, der an der Gesetzgebung oder allgemein der Gestaltung der Politik beteiligt ist, nicht auf die „natürliche“ Befriedigung seiner Wünsche richtet, sondern seine Fähigkeit zur (moralisch) richtigen Einrichtung des sozio-politischen Raumes nutzt.46 Diese Überlegung Rousseaus, dass das Individuum im Übergang von der „natürlichen“, vorpolitischen Existenz zur Rolle des Bürgers seine individuelle Freiheit verliert, ist häufig als Vorbereitung oder Entproblematisierung des Totalitarismus kritisiert worden. Denn es könnte so aussehen, als würde dies besagen, das Individuum sei dann wahrhaft frei, wenn es im politischen Kollektiv aufgehe und im Handeln bzw. seinen Mei-

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In Rousseaus Werk spielt auch die individuelle Lebensgestaltung, d.h. der Umgang mit Wünschen bzw. die Wahl moralischer Ziele und Absichten eine große Rolle, was sich u.a. in der Schrift Émile zeigt. Diese Überlegungen stehen für Rousseau aber nur unter anderem unter dem Titel der Freiheit, da hier v.a. ein Ideal von Naturnähe und Bescheidenheit entwickelt wird und der Autor bei aller Aufnahme stoischer Motive Freiheit nicht ausschließlich im Sinn des Nicht-affiziert-Werdens denkt.

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nungen mit den anderen konvergiere. Die Kritik scheint v.a. deshalb berechtigt zu sein, weil es nicht eindeutig ist, wie Rousseau die Souveränität einführt und an den Allgemeinwillen bindet.47 Rousseau gebraucht den Ausdruck der Souveränität, um damit den letzten Grund für die Legitimität von Gesetzen und Entscheidungen anzugeben. Im Unterschied zum Souveränitätsbegriff, der zuvor erörtert wurde (und damit als Bestätigung der schon angezeigten Schwierigkeit, ob Selbstgesetzgebung und souveräne Herrschaft miteinander einhergehen können), bezeichnet die Souveränität für ihn einen normativen Bezugspunkt für die Geltungsansprüche von Herrschaft und keine Instanz, die letztere faktisch ausübt. Souveränität ist weder delegier- oder aufgebbar noch teilbar (Rousseau 1986: 27-30). Dass sie nicht delegier- oder aufgebbar ist, liegt wesentlich darin, dass sie die Freiheit der Bürger ausdrückt. Als freie legen die Bürger jederzeit fest, dass ein und welches Gesetz gelten soll. Die Durchsetzung dieser Gesetze können sie delegieren und eventuell müssen sie dies aufgrund der Größe politischer Gemeinwesen sogar tun. Sie können aber nicht die Freiheit, Gesetze festzulegen, delegieren oder gar abgeben, ohne sie damit zu verlieren. Die zweite Bestimmung der Souveränität, ihre Unteilbarkeit, lässt dagegen mehrere Deutungen zu: Die genannte Kritik an Rousseau versteht sie als Primat des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen, also als Forderung, dass sich ein divergierender Einzelwille als (weil Einzelwille) bloß partikularer Wille zurücknehmen muss oder gar vom Kollektiv zu dieser Zurücknahme gezwungen werden dürfte. Ein solches Verständnis ist aber nicht notwendig und liegt in der Logik der rousseauschen Argumentation auch nicht nahe, denn die Unteilbarkeit lässt sich als Ausdruck der (erforderlichen) Qualität dessen verstehen, was der Souverän festlegt – und sie führt somit den Gedanken fort, dass Freiheit nicht in Willkür bestehen kann, d.h. in diesem Kontext

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Hinter der Kritik an Rousseau steht auch die These, dass die klassische, bereits von Platon und der Stoa vertretene Lehre der Unfreiheit des Menschen, der nur seinen natürlichen Bedürfnissen nachgeht, nicht aufrechtzuerhalten ist, sondern dass spätestens mit der modernen Freisetzung ökonomischer Motivationen das „natürliche Streben“ selbst zum Motor für die Bildung und Entwicklung von Gesellschaften wird.

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weder in der Willkür der Mehrheit, der Minderheit ohne weitere Begründung ihre Interessen vorzuschreiben, noch in der Willkür der Minderheit, einer gut begründeten „Mehrheitsmeinung“ in der Verfolgung eigener Wünsche die Zustimmung zu verweigern. Es kann nicht etwas als Allgemeinwille verstanden werden, von dem nicht anzunehmen ist, dass es allgemein und d.h. von jedem Einzelnen geteilt werden könnte. In dieser Deutung ist ausgeschlossen, dass ein Kollektiv Einzelne zu etwas verpflichten könnte, dem sie nicht aus ihrer (Bürger-)Freiheit heraus zustimmen (können), aber auch dass Einzelne ihre Freiheit dazu „missbrauchen“, „unfreie“ Verhältnisse zu fördern oder zu erhalten. Insbesondere die letzte Implikation der Souveränität, d.h. deren Unteilbarkeit, hat Auswirkungen auf die Form, die die Freiheit der Bürger annehmen kann. Sie lässt sich nicht in der Weise operationalisieren, dass sie direkt in einer politischen Ausübung von Freiheit durch die Bürger zum Tragen kommen könnte, etwa in der Partizipation an Verfahren.48 Es bedarf einer Instanz, die eine Artikulation des Allgemeinwillens anbietet, den der Souverän verkörpert. In all ihrer Freiheit, die v.a. ausdrückt, dass die Souveränität unaufgebbar ist, gibt es doch keinen Modus, in dem die Bürger als solche den Allgemeinwillen zum Erscheinen bringen könnten. Ihre Freiheit beschränkt sich letztlich auf das Recht, diejenige Artikulation des Allgemeinwillens zurückzuweisen, die nicht für sie spricht. Rousseaus Variante der Substitution „natürlicher“ Freiheit durch die Freiheit des Bürgers erfordert so eine zirkuläre Struktur des politischen Prozesses, in dem die Beiträge aller Bürger zur Gestaltung des sozio-politischen Raumes vernommen werden und in einen Vorschlag zur Gestaltung münden.49 Im Anschluss daran können sich die Bürger erneut zu dem Vorschlag verhalten und ihn zurückweisen, wenn er ihrer Auffassung nach im Widerspruch zum Allgemeinwillen steht, den jeder von ihnen (auch) verkörpert.

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49

Rousseau diskutiert solche Verfahrenselemente bzw. die Frage, wie die Teilhabe aller Bürger an einer gesetzgebenden Versammlung organisiert werden kann (Rousseau 1986: 98-105), aber in dieser Diskussion wird klar, dass es transzendierende Eigenschaften des Allgemeinwillens gibt, die in den Verfahren bzw. der Volksversammlung nicht aufgehoben sind. Vgl. zum législateur bei Rousseau die Ausführungen im Kap. 1.1.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

Die Argumentation arbeitet dabei, wie die meisten Theorien der Volkssouveränität, die seitdem entwickelt wurden, mit zwei wichtigen Prämissen: Erstens, dass die Instanz, die den Allgemeinwillen artikuliert (und dann eventuell in Gesetze um- und in entsprechenden Maßnahmen durchsetzt), ausschließlich auf der Grundlage des Allgemeinwillens wirkt (und wirken kann/muss),50 d.h. dass sie keine eigenen Interessen verfolgt und überhaupt nur operiert, wenn der Allgemeinwille artikuliert wurde. So ist garantiert, dass der Gebrauch der Möglichkeit, einen Vorbehalt gegenüber einer Artikulation des Allgemeinwillens geltend zu machen, für die Bürger nicht zur Konsequenz hat, dass sie etwas Schlechterem als dieser Artikulation ausgesetzt werden. Die Bürger dürfen also nicht genötigt sein, irgendeiner Artikulation des Allgemeinwillens zuzustimmen, um darüber eine Kontrolle und Begrenzung von Institutionen und Strukturen zu erreichen. Die zweite Prämisse ist, dass die Bürger keinen Vorteil aus einem „egoistischen Missbrauch“ des Rechts auf Einspruch gegen Artikulationen des Allgemeinwillens ziehen können oder dürfen. Diese Prämisse bedeutet, dass das Einspruchsrecht kein Einfallstor dafür sein darf, dass die Durchsetzung eines Allgemeinwillens verhindert wird, der eigentlich allgemein Zustimmung finden würde, aufgrund partikularer Nachteile bei dessen Durchsetzung aber zurückgewiesen wird. Beide Prämissen sind normativer Natur, aber Rousseau erklärt nicht, ob sie Handlungs- bzw. Unterlassungsgebote sind, die direkt die Motivationen und das Wirken der politischen Akteure betreffen, oder in der Struktur und Organisation des politischen Raumes festgeschrieben werden sollten. Allein auf ihrer Basis wird aber verstehbar, warum die politische Freiheit Ansprüche und Ziele substituieren kann, die Handelnde sonst verfolgen würden, denn durch sie kommt ihr ein genuiner, konstitutiver Sinn zu. Trotz dieser Prämissen bleiben Allgemeinwille und Souveränität in ihrem Verhältnis zur Freiheit ambivalent: Es ist zwar der Vorwurf zurückzuweisen, dass Rousseau dem Terror des Kollektivs das Wort redet, aber durch die doppelte Bestimmung des All-

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Vgl. dazu die Aufhebung der Kompetenzen einer Regierung im Moment, in dem der Souverän zusammentritt, bei Rousseau 1986: 101.

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gemeinwillens, dass er Ausdruck der Allgemeinheit (und nicht aller) ist und keiner Einspruch gegen ihn erhebt (d.h. er für alle akzeptabel ist), bleibt unklar, ob à la limite die Allgemeinheit im Licht der Einspruchslosigkeit oder die Einspruchslosigkeit im Licht der Allgemeinheit zu verstehen ist. Darf einer Artikulation des Allgemeinwillens bloß aufgrund der Freiheit widersprochen werden, ohne dass der Widersprechende weitere Gründe anzugeben hätte, oder kann ein Einspruch mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass er ein bloß partikularer, also nicht mit dem Allgemeinwillen verträglicher Einspruch ist?51 In dieser Ambivalenz der Bedeutung des Allgemeinwillens kommt eine Ambivalenz im rousseauschen Freiheitsbegriff selbst zum Tragen, denn er drückt zunächst die Selbstbestimmung derjenigen aus, die von Gesetzen etc. betroffen sind, bindet dann aber die Berechtigung der Selbstbestimmung an deren Richtigkeit. Es ist also eine notwendige Bedingung für Freiheit, dass jemand sich selbst die Gesetze gibt, unter denen er lebt, hinzu kommt aber als hinreichende Bedingung, dass nur derjenige frei ist, der unter den richtigen Gesetzen lebt. Das Problem ist, dass Rousseau nicht klar erklärt, wie die notwendige und die hinreichende Bedingung zusammenhängen. Wie die beiden genannten Prämissen unterstreichen, hat er die Vorstellung, dass wenn Menschen als Bürger in die Lage versetzt werden, sich selbst die Gesetze zu geben, unter denen sie leben, sie dies unter Orientierung an der Idee des Allgemeinwillens tun werden. Spätestens die Erfahrungen der Französischen Revolution haben gezeigt, dass dieser Konnex weder notwendig, noch unproblematisch ist, sondern selbst eine Präzisierung erfordert, wie diese Orientierung im politischen Handeln bzw. in Strukturen und Verfahren verbindlich niedergelegt werden kann. Ansonsten kann es passieren, dass die hinreichende Bedingung nicht so begriffen wird, dass sie zur notwendigen Bedingung hinzukommen muss, sondern alleine hinreicht. Rousseaus Variante der Selbstgesetzgebung bringt einen wichtigen Gedanken ins Spiel, indem sie die faktische Ausübung politischer Freiheit mit der Vorstellung einer Organisation des sozio-

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Dies deutet konzeptuelle und normative Schwierigkeiten an, die auch für ein Modell kontestatorischer Demokratie gravierende Folgen haben. Vgl. dazu die Diskussion im Kap. 4.3.4.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

politischen Raums verbindet, die den (vernünftigen) Interessen und Überzeugungen all derer gerecht wird, die davon betroffen sind – auf diesen Gedanken haben sich schon die obigen Vorbehalte gegenüber der Gerechtigkeitstheorie bezogen. Rousseau erklärt allerdings nicht, wie die beiden Momente, die der Gedanke miteinander verbindet, in politischen Verfahren und Strukturen niedergelegt werden können, so dass er letztlich denselben Schwierigkeiten gegenübersteht, wie entweder die Gerechtigkeitstheorie, wenn er dem Allgemeinwillen den Vorrang gibt (und dann erklären muss, warum die Zurückweisung einer Artikulation unberechtigt sein kann und daher keiner Berücksichtigung bedarf), oder die politizistische Legitimitätstheorie, wenn er der Freiheit den Primat zuschreibt (und dann begründen muss, warum die Ausübung von Freiheit tatsächlich zur Formulierung und Durchsetzung des Allgemeinwillens führen sollte). Die bloße emphatische Auszeichnung der „wahren“ Freiheit als einer Freiheit, die danach strebt, den Allgemeinwillen oder das Gemeinwohl52 durchzusetzen, ist genausowenig überzeugend, wie die Annahme, dass die politische Ausübung von Freiheit per se garantieren würde, dass sich dabei die „wahre“ Freiheit durchsetzt. Kant bietet eine alternative Konzeption der Weise an, in der garantiert werden soll, dass die Freiheit der Bürger mit der Gesetzmäßigkeit sozialer Handlungsverhältnisse vereinbar ist, ohne darüber bloß einem leeren Freiheitsbegriff zur Geltung zu verhelfen. Dabei versteht er die Gesetzmäßigkeit der Handlungsverhältnisse, die angestrebt wird, enger und „legalistischer“ als Rousseau, für den das Recht v.a. effizientes Instrument zur Steuerung sozialer Verhältnisse ist – und somit ein Instrument, das bei verfügbaren

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Die Ersetzung der volonté générale durch den Ausdruck „Gemeinwohl“, auf den schon die Rekonstruktion der Gerechtigkeitstheorie zurückgegriffen hat, ist bereits eine Interpretation (die allerdings häufig unkommentiert vorgenommen wird), denn sie deutet den Allgemeinwillen weniger voluntaristisch und mehr als dasjenige, was für alle richtig oder gut ist. Die volonté générale lässt sich dagegen auch so verstehen, dass sie einfach das zum Ausdruck bringt, was in und von einer partikularen Gemeinschaft für diese Gemeinschaft und möglicherweise zu ihrem Besten gewollt wird – was die Deutung des Verhältnisses der Einspruchsmöglichkeit zum Allgemeinwillen weiter kompliziert.

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Alternativen durchaus ersetzt werden kann. In Kants Argumentation verweist der Freiheitsbegriff dagegen intern auf das Recht – und zwar genauer auf die Rechtsförmigkeit des Rechts und nicht auf spezifische Verteilungen von Rechten (rights) und Pflichten durch das jeweilige Recht (law). Denn selbst wenn jemand unter nicht- oder vor-rechtlichen (in Kants Terminologie „privatrechtlichen“) Verhältnissen (frei) handeln will, muss er, um die Handlung beginnen zu können, unterstellen, dass er ein Anrecht darauf hat, auf die Objekte zuzugreifen, die er braucht, um die Handlung durchzuführen, bzw. andere nicht berechtigt sind, ihn an seinem Zugriff oder Handeln zu hindern. Freies Handeln setzt voraus, dass die Ziele des Handelns erreichbar und die Instrumente dazu verfügbar sind,53 und drückt so einen Anspruch darauf aus, in der Handlungsausführung unbehelligt zu bleiben bzw. sogar berechtigt zu sein, Eingriffe anderer abzuwehren (Kant 1977a: 354-355). Dieser Anspruch ist aber nicht so zu verstehen, dass er ein individueller oder partikularer Anspruch ist, also in der Integrität der beanspruchenden Person oder ihrem besonderen Interesse am Gegenstand liegen würde. Denn dann würde er erstens eine dauerhafte physische Verbindung von Beanspruchendem und Beanspruchtem nötig machen und es könnte zweitens aus ihm nicht abgeleitet werden, dass er andere Handelnde in irgendeiner Art bindet. Andere Handelnde könnten dem ersten Handelnden ihre Ansprüche entgegenstellen, und es wäre nicht klar, was aus diesen gegensätzlichen Ansprüchen folgen würde. Von einer wechselseitigen Bindungskraft von Ansprüchen kann dagegen nur ausgegangen werden, wenn die Zugriffsrechte auf Gegenstände sich einer Ver- oder Zuteilung bzw. einer Absicherung dieser Ver-/Zuteilung verdanken, die in der Form eines öffentlichen Rechts niedergelegt und so für alle gleichermaßen verbindlich ist.54 Damit aber

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„Voraussetzung“ ist hier transzendental zu verstehen, d.h. der Handelnde muss annehmen, dass er seine Ziele erreichen und über die entsprechenden Instrumente verfügen kann. „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemeinen gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öf-

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die Bindung durch und an das öffentliche Recht nicht kontingent ist, d.h. damit nicht von der Quelle und dem Inhalt des Rechts abgesehen wird, fügt Kant hinzu, dass öffentliches Recht nur dann Freiheit realisiert, wenn es von allen gleichermaßen ausgeht und getragen wird, sich also so verstehen lässt, dass es einem „allgemein gesetzgebenden Willen“ entspringt und „öffentliche Gerechtigkeit“ etabliert. Damit distanziert sich Kant wie Rousseau von dem gerechtigkeitstheoretischen Modell, individuelle Freiheiten im Recht oder der gesellschaftlichen Grundstruktur abzusichern oder zu koordinieren. Denn bei allem Ausgang von kontingenten Ansprüchen auf „Mein und Dein“ im vorpolitischen Handeln sind es nicht die beanspruchten Gegenstände oder Zugänge zu ihnen, in denen die Freiheit liegt, sondern sie besteht – schon in der Ausgangssituation – darin, über die Bedingungen der Handlungsausführung bzw. der Ver- und Zuteilung der Ansprüche zu verfügen. Die Freiheit, die die Teilhabe am „allgemein gesetzgebenden Willen“ realisiert, ist deshalb keine, in der die Interessen an Gegenständen etc. unmittelbar geltend gemacht werden können. Sie ist eine Freiheit, sich gesetzgebend zu betätigen und als gleicher Ursprung des Rechts zum Zug zu kommen, wie alle anderen auch. Freiheit wird somit absolut verstanden, d.h. jemand kann nur frei oder nicht frei sein, und Freiheit kennt keine graduellen Abstufungen in Abhängigkeit von faktischen Optionen. Was wird durch diese stärkere Bedeutung des Rechts bzw. der Rechtsform gegenüber der Perspektive Rousseaus gewonnen? Was unterscheidet Kants „allgemein gesetzgebenden Willen“ von Rousseaus volonté générale? Es gibt zwei wesentliche Differenzen der kantischen Argumentation zu derjenigen Rousseaus: Erstens impliziert der Bezug auf das Recht, dass es einer institutionellen und gewaltenteiligen Struktur, eines „Staats“ (Kant 1977a: 429), bedarf, in der sich die Ebenen und Dimensionen des Rechts ar-

fentliche Gerechtigkeit, welche in Beziehung, entweder auf die Möglichkeit, oder Wirklichkeit, oder Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen in die beschützende (iustitia tutatrix), die wechselseitig erwerbende (iustitia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) eingeteilt werden kann.“ Kant 1977a: 423.

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tikulieren und realisieren lassen.55 Wenn die Freiheit in gemeinsamer Gesetzgebung besteht, die Kant mit den Titeln der „Herrschergewalt“ bzw. der „Souveränität“ belegt (Kant 1977a: 431), dann muss es auch eine Exekutive geben, die das Gesetz umsetzt, sowie eine Judikative, in der jeder seine Ansprüche gemäß dem Recht geltend machen kann. Weil es keinen höheren Grund der Gesetzgebung als den „vereinigten Willen des Volks“ (Kant 1977a: 432) gibt und die Exekutive strikt an das Recht gebunden sein soll, kann der „vereinigte Wille“ oder das „Volk“ nicht selbst die Exekutive sein, denn dann wäre die Exekutive nicht mehr an das Recht gebunden (Kant 1977a: 436).56 Wenn das Recht herrschen soll, können nicht die Bürger herrschen, sondern es muss eine Instanz geben, die nichts anderes als die Umsetzung des Rechts betreibt, was auch heißt, dass sie berechtigt ist, die Bürger daran zu hindern, in Übersteigung des Rechts die Gewaltenteilung aufzuheben und direkt exekutiv oder judikativ zu wirken. Zweitens sieht Kant den Grund für die „Gerechtigkeit“ des öffentlichen Rechts nicht primär in einer bestimmten Verteilung von Zugriffsrechten auf Gegenstände etc. Rousseau versteht den Allgemeinwillen bei aller abstrakten Allgemeinheit als Ausdruck der moralisch-ethischen57 Betrachtung des Gemeinwesens, d.h. in

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Auch bei Rousseau gibt es Überlegungen, die auf eine Gewaltenteilung verweisen (Rousseau 1986: 83-84, 102-105). Wie aber insbesondere seine Ausführungen zur (Zurückweisung der) Demokratie zeigen, hält er die „Gewaltenteilung“ aus moralischen (und nicht wie Kant primär aus rechtlichen) Gründen für notwendig, d.h. er befürchtet, dass das Volk als Exekutive nicht das Niveau an Moralität erreicht, auf das es sich als Gesetzgeber zu erheben vermag (Rousseau 1986: 72-74). Zugleich zeigt Rousseaus Lob der antiken Demokratie, dass er davon ausgeht, dass in Situationen, in denen sich das gesamte Volk versammelt, die Differenzierung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative (in seinen Augen richtigerweise) suspendiert wird und das Volk alle drei Gewalten unmittelbar verkörpert (Rousseau 1986: 101). Dieser Punkt wurde in der Kant-Kommentierung häufig als Zurückweisung der Demokratie missverstanden, dabei bringt er einen Grundgedanken demokratischer Herrschaft des Gesetzes (rule of law) zum Ausdruck, wie etwa Kelsen klar erkannt hat (Kelsen 1963: 69-77). Diese Dopplung hält offen, ob sich das, was für die Gemeinschaft gut ist, auf Gemeinschaften überhaupt oder auf die partikulare Gemeinschaft bezieht. Vgl. zur Unterscheidung von Moral und Ethik Habermas 1991: 100-118.

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ihm artikuliert sich für ihn dasjenige, was alle für richtig halten (würden), wenn sie im Sinn des Gemeinwesens über dessen Erfordernisse nachdenken. Es kann daher sein, dass die Umstände es verhindern, dass der Allgemeinwille adäquat sichtbar wird (Rousseau 1986: 112-114), denn er ist, wie gesagt, nicht auf konkrete Willensäußerungen reduzierbar und setzt die kognitive Leistung voraus, dass erkannt wird, was für das Gemeinwesen unter gegebenen Umständen das Beste wäre. Kant enthält sich weitgehend einer solchen „moralisierenden“ oder kommunitaristischen Perspektive und damit auch der Einschränkung der Gesetzgebung.58 Es reicht in seinen Augen hin, wenn formal sichergestellt ist, dass alle59 am Gesetzgebungsprozess beteiligt sind oder sein können und niemand die Möglichkeit hat, über exekutives Handeln dasjenige, was im Gesetz allgemein festgelegt ist, selektiv auf Betroffene anzuwenden. Die Gesetzesförmigkeit selbst mit ihrer Bindung an die Freiheit aller ist in dieser Betrachtung eine hinreichende Bedingung für die Gerechtigkeit des öffentlichen Rechts. Kant formalisiert und prozeduralisiert so den Allgemeinwillen und vermag

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Diese Interpretation Kants mag überraschend klingen, gibt es doch die Tendenz, Kant als den „Moralisten“ in politischen Fragen zu betrachten und nicht Rousseau: „Ganz im Sinne Rousseaus geht auch Kant von einem ‚ursprünglichen Contract‘ aus. Das Rousseausche Wollen verflüchtigt [sic!] bei ihm jedoch ins Ideelle und wird zu einem ethischen Sollen. Die Rechtmäßigkeit eines Gesetzes ist darnach bereits dadurch erwiesen, daß ein solcher Beschluß des Volkes überhaupt nur möglich ist. Als das „einzige Palladium der Volksrechte“ verbleibt nach Kant die Feder.“ (Kurz 1970b: X) Die vorliegende Interpretation widerspricht nicht der Bedeutung des Recht und der Rechtmäßigkeit bei Kant, sie deutet diese aber freiheitstheoretisch und nicht als Ausdruck eines formalen und letztlich leeren Autonomiebegriffs, der bei Kant in der Moralphilosophie eine andere Rolle spielt und anders bestimmt wird (Lutz-Bachmann 1988: 82-90; Willaschek 2002; Willaschek 2005). Dieses „alle“ ist bei Kant der problematischen Einschränkung der „bürgerlichen Selbständigkeit“ (Kant 1977a: 432) unterworfen, die hier nicht vernachlässigt werden soll. Die „bürgerliche Selbständigkeit“ zeigt eine begrenzte Offenheit für politische Inklusion an, die wir heute erwarten. Noch interessanter macht sie aber darauf aufmerksam, dass auch Kant mit Prämissen operiert, die sich sowohl im Souveränitätsbegriff insgesamt als auch – wie gezeigt – bei Rousseau finden: Es wird nämlich argumentiert, dass die Personen bereits einen gewissen Grad der Unabhängigkeit erreicht haben müssen, damit sie die Erwartungen an ihr politisches und gesetzgeberisches Wirken erfüllen können.

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auf diese Weise die Ambivalenzen zu vermeiden, in denen Rousseaus Argumentation endet – eventuell mit der Implikation, dass die Orientierung der Handelnden am „Gemeinwohl“ schwächer ausfällt oder ganz ausbleibt. Aber auch diese Formalisierung steht vermeintlich vor einem Problem, denn es scheint, als operiere sie weiterhin mit der homogenisierenden und totalisierenden Annahme, die schon bei Rousseau den Ausgangspunkt für die Kritik bildete, die fragte, ob es den „vereinigten Willen des Volks“ gebe, d.h. ob die Ausübung der Freiheit der verschiedenen Bürger letztlich zu genau einer Willensartikulation führen würde.60 Eine solche Problematisierung ist selbst fragwürdig, da sie die Freiheit der Bürger eng an ihre vorpolitischen Interessen zurückkoppelt. Aber selbst wenn sie so verstanden wird, dass sie in der Folge Arendts die „Differenz“ einfordert, die sich im (politischen) Handeln erst äußert, kann Kant eine Antwort darauf geben. Denn die Formalisierung des „vereinigten Willens des Volks“ erlaubt es, ihn zu prozeduralisieren, d.h. ihn so zu begreifen, dass er aus Verfahren resultiert, in denen Differenzen vorpolitischer Art oder im politischen Handeln selbst zur Geltung gebracht werden können, ohne dass dies ausschließen würde, dass es am Ende des Verfahrens zu genau einer Willensartikulation kommt. Solange sichergestellt ist, dass alle in hinreichendem Maß an den Verfahren beteiligt sind, das Verfahren der Freiheit aller das gleiche Gewicht einräumt und die Existenz der Verfahren mit der Willensartikulation nicht endet, kann das Ensemble der Verfahren als hinreichender Grund für die „Vereinigung“ des „Willens“ betrachtet werden, selbst wenn nicht jeder in gleicher Weise mit dem Verfahrensresultat einverstanden ist. Die kantische Bestimmung der Selbstgesetzgebung deutet also die Verbindung der Freiheit der Bürger mit der Existenz von rechtlich geregelten sozialen Handlungsverhältnissen so, dass letztere dann keinen Widerspruch zur Freiheit darstellen, wenn sie das Resultat von Gesetzgebungsverfahren sind, an denen alle formal gleich beteiligt waren oder sein konnten und nichts in die Verhält-

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Vgl. zu diesem Vorbehalt, dass die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Pluralismus in der Theorie der Volkssouveränität fehlt, und zur Widerlegung dieses Vorbehalts Maus 1994: 203-226.

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nisse eingegangen ist, was nicht aus diesen Verfahren resultierte – die Verfahren selbst folglich Ausdruck der Freiheit sind. Diese Bestimmung wirft zwei Rückfragen auf: Erstens muss erklärt werden, warum diese Gesetzgebungsprozesse es überflüssig machen sollten, auf die transzendierende Kraft von Gerechtigkeitsansprüchen zu rekurrieren. Warum ist davon auszugehen, dass die Resultate der Prozesse normativ unbedenklich (wenn nicht sogar normativ wünschenswert) sind, die Freiheit also als ausschließlicher Bestimmungsgrund für die Verfahren gelten können soll, die zur Regulierung und Verrechtlichung der Handlungsverhältnisse führen? Zweitens bleibt zu verstehen, wie sichergestellt ist, dass „alle formal gleich“ beteiligt sein können, d.h. in der Tat alle ihre Freiheit in den Verfahren ausüben (können). Eine solche Beteiligung ergibt sich nämlich nur bedingt aus dem Freiheitsbegriff selbst und betrifft darüber hinaus auch die Einrichtung und Durchführung der Verfahren – womit es aber tendenziell zu einer Spannung zwischen der Ausübung der Freiheit (einiger) und der Erfüllung der Verfahrensbedingungen kommt. Diese Spannung ist nicht mehr mit derjenigen identisch, der wir in der Erörterung der gerechtigkeitstheoretischen Legitimitätsmodelle begegnet sind. Denn aufgrund der transzendentalen Perspektive stehen die Verfahrensbedingungen bei Kant nicht von Außen der Ausübung der Freiheit entgegen, sondern sie sind vielmehr Bedingungen der Ausübung von Freiheit. Sie dürfen daher nicht so verstanden werden, dass sie als Distributionskriterium den „gleichen Wert“ politischer Freiheit sicherstellen sollen, sondern sie müssen Teilhabe ermöglichen, ohne dass damit schon gesagt wäre, welche Bedeutung diese Teilhabe für das Resultat haben wird.61 Antworten auf die beiden Rückfragen finden sich bei Kant höchstens im Ansatz. Sie stehen aber im Zentrum vieler gegenwärtiger Ansätze, die die Idee der Volkssouveränität aufgreifen und weiterentwickeln. Als Antwort auf die erste Rückfrage wird

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Die weitere Voraussetzung der kantischen (wie der rousseauschen) Argumentation, dass nichts Drittes in die Gestaltung der sozialen Verhältnisse einfließt, hat, wie gezeigt, Implikationen für die Gewaltenteilung und betrifft somit eher die Frage, ob Selbstgesetzgebung mit der Souveränität als Herrschaftsausübung vereinbar ist, was im nächsten Abschnitt untersucht werden wird.

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dabei herausgearbeitet, dass unter Bedingungen des modernen Pluralismus und Multiperspektivismus grundsätzlich jeder Gerechtigkeitsbegriff prozedural verstanden werden muss. Zur Formulierung dessen, was Gerechtigkeit ausmacht, ist also ein Verfahren notwendig, in dem unterschiedliche Aspekte der Gerechtigkeit und Perspektiven auf sie eingebracht und konfrontiert werden können.62 Pluralismus und Multiperspektivismus werden so gedeutet, dass sie auch ein Element des Voluntarismus zum Ausdruck bringen. Das Gerechte bzw. das Gemeinwohl ist keine präexistente Entität, die nur kognitive Schwierigkeiten aufwirft, sondern sie sind intern so verfasst, dass sie von (kontingenten oder historisch variablen) Entscheidungen bzw. Situationen der Betroffenen abhängen. Wenn sichergestellt ist, so die Argumentation, dass sich alle in gleicher Weise und mit gleichem Gewicht in ein Verfahren haben einbringen können63 bzw. derart in ihm berücksichtigt wurden, dann ist das Verfahren bzw. die Freiheit, die in der Beteiligung an ihm besteht, eine hinreichende Gewähr für die normative Richtigkeit der Resultate. Dies gilt selbst dann, wenn die Resultate im Widerspruch zu gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen stehen bzw. vorpolitische Positionen und Optionen ungleich belas-

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Eine solche Fassung des Gerechtigkeitsbegriffs gesteht nicht per se politischer Freiheit einen Wert zu, sondern sie kann die Einbeziehung der unterschiedlichen Perspektiven durchaus kognitiv verstehen. Es zählt dann das, was im Verfahren eingebracht wird, und nicht dass das Entsprechende artikuliert wird. Um dem Eindruck eines Widerspruchs entgegenzuwirken, ist festzuhalten, dass diese Theorie der Selbstgesetzgebung zwar mit einer Idee gleicher Freiheit in der Beteiligung an den Gesetzgebungsverfahren argumentiert, dass diese gleiche Freiheit aber nicht so zu verstehen ist, dass sie ein Anspruch auf die gleiche Wichtigkeit des eigenen Beitrags im Verfahren und im Resultat des Verfahrens ist. Im Gegensatz zum aggregativen Koordinationsansatz einiger Gerechtigkeitstheorien betont die Volkssouveränitätstheorie die Ausübung der Freiheit in der Festlegung der Prinzipien, die das soziale Handeln bestimmen. Aufgrund dieser Metaperspektive darf die gleiche Freiheit nicht aggregativ verstanden werden, sondern sie ist qualitativer Natur: Wenn der Beitrag von jedem „in gleicher Weise und mit gleichem Gewicht“ berücksichtigt wird, heißt dies, dass jeder Beitrag gleich ernst genommen wird. Dieses Ernstnehmen schließt aber nicht aus, dass ein Beitrag als irrelevant verworfen wird. Solange das Verwerfen nicht willkürlich ist, liegt genau darin sogar die Ausübung von Freiheit im Verfahren. Vgl. dazu Dworkin 1994: 181-188.

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sen oder machen. Bürgern, die sich frei für eine rechtliche Struktur der Sozialverhältnisse entscheiden, in denen etwa Ansprüche auf den gleichen Wert individueller Handlungsräume nicht garantiert werden, kann zwar vorgeworfen werden, dass sie sich in ein ungerechtes Verhältnis zueinander setzen, aber dies ist selbst nicht mehr als ein Beitrag zur Entscheidungsfindung in den Verfahren, d.h. es autorisiert niemanden, die Legitimität der darauf beruhenden Herrschaftsausübung in Frage zu stellen. Die normative Plausibilität des hinreichenden Charakters der Verbindung von Freiheit und rechtlich geregelten Sozialverhältnissen64 hängt so wesentlich an der Antwort, die auf die zweite Rückfrage gegeben wird, denn die Argumentation dafür, dass ein externes normatives Kriterium, wie die Gerechtigkeit, verzichtbar ist, steht und fällt mit der Überzeugungskraft der Behauptung, dass ein Verfahren wirklich den „vereinigten Willen eines Volks“ artikuliert. Die Präzisierung der Verfahren, mit der die zweite Rückfrage nach der gleichen Ausübung von Freiheit beantwortet werden soll, ist, wie schon der kurze Blick auf die epistemischen Legitimitätstheorien zeigte, das zentrale Thema der gegenwärtigen philosophischen bzw. normativen Demokratietheorie. In dieser Präzisierung werden v.a. drei Aspekte der Verfahren erörtert: erstens wie der Zugang zu ihnen aussehen muss, damit alle beteiligt werden können; zweitens wie sie organisiert sein müssen, damit alle relevanten Perspektiven und Differenzen zur Darstellung kommen können; und drittens wie in der Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden kann, dass es zu gravierenden oder gar strukturellen Benachteiligungen einiger kommt. Bereits die Erörterung des ersten As-

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Zuvor wurde mit Blick auf die handlungsorientierten Gerechtigkeitstheorien gezeigt, dass diese häufig Menschenrechte auszeichnen und derart moralisch Gebotenes in eine Rechtsform bringen, so dass es in der Herrschaftsausübung zur Geltung kommen kann, ohne dass dies so verstanden werden müsste, dass dabei das Recht aus rein moralischen Gründen überschritten wird. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass die Positionen, die mit einem Begriff der Volkssouveränität argumentieren, häufig die vermeintlich herausragende Bedeutung von Menschenrechten zurückweisen und teilweise die Notwendigkeit von Grund- oder Menschenrechten (zumindest im Binnenraum der Republik) grundsätzlich bestreiten (etwa Gauchet 1991, Gauchet 2002: 353356).

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pekts führt zu verschiedenen Strategien, die wiederum auf die Differenzen zwischen Rousseau und Kant bzw. unterschiedlich enge Fassungen der politischen Freiheit zurückgehen, die die Verfahren ermöglichen und realisieren sollen. Wenn die Ausübung der politischen Freiheit den Ermöglichungsgrund für jede weitere soziale Freiheit oder Handlungsmöglichkeit abgeben soll, dann kann dies mit Rousseau so verstanden werden, dass die Ausübung der politischen Freiheit auf eine distinkte Sphäre des Handelns mit distinkten Orientierungspunkten und „Interessen“ verweist. Es kann aber auch mit Kant transzendental so verstanden werden, dass die Ausübung politischer Freiheit ein Moment expliziert, das im (außerpolitischen) Handeln notwendig impliziert ist. Inklusion in die Verfahren in der ersten Perspektive heißt, dass für jeden ein Bürgerstatus zugänglich sein muss, der auf die Artikulation des Allgemeinwillens im zuvor entwickelten Sinn zielt, während Inklusion in der zweiten Perspektive heißen kann, dass die kontingenten vorpolitischen Interessen der Bürger in der Ausübung der politischen Freiheit präsent sein können oder müssen, da nur so die besonderen Bedingungen der außerpolitischen Existenz thematisiert und etabliert werden können.65 In beiden Fällen muss sichergestellt werden, dass alle Betroffenen überhaupt beteiligt werden können, die Art dieser Beteiligung ist aber unterschiedlich. Die Möglichkeit zur Beteiligung

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Historisch bringt diese Differenz Marx in seiner Kritik an Hegel zum Ausdruck. Hegel ist überzeugt, dass die Vernunft sich nur dann als Instanz durchsetzen kann, die die Sozialverhältnisse gestaltet, wenn es politische Verfahren und Institutionen gibt, in denen alle ausschließlich als citoyens und nicht als bourgeois auftreten. So soll sichergestellt werden, dass das Gemeinwesen als solches der Grund für politische Entscheidungen ist und nicht partikulare Interessen (Hegel 1970: 468-490 [§§301-320]). Marx stellt dem entgegen, dass derart die Probleme, die sich in den Sozialverhältnissen präsentieren, nicht in die politischen Verfahren eingehen, d.h. der hegelsche Staat sei ein Konstruktionsmechanismus sozialer Handlungsverhältnisse, der blind für die eigentlichen Herausforderungen sei (was Marx für eine gewollte Blindheit hält, da auf diese Weise die Eigentums- und Produktionsverhältnisse unangetastet bleiben). Erst politische Verfahren, in denen die Mechanismen präsentiert und diskutiert werden können, die wirklich die Sozialverhältnisse gestalten, kann Alternativen dazu entwickeln und somit Ausdruck einer politischen Freiheit zur Gestaltung der Verhältnisse sein (Marx 1843: 263-333).

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überhaupt ist ein komplizierter Punkt, der sich, wie schon angedeutet, allein aus dem Blickwinkel der Verfahren und dem, was sie umsetzen sollen, nicht vollständig lösen lässt. Soziale, ökonomische, kulturelle und kognitive Kompetenzen und Ressourcen, die zur Teilhabe befähigen und deren Bedeutung die Wahl eines bestimmten Verfahrens bzw. seiner Lokalisierung nur z.T. reduzieren kann, spielen eine entscheidende Rolle. Allerdings hängen die erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen stark von der Ebene, Gestalt und Ausrichtung des Verfahrens ab, das zur Wahl steht (vgl. dazu Anderson 2000: 155-162). Eine andere Frage, die den Zugang zu den Verfahren betrifft, ist diejenige, welcher „vorpolitischen“ Bildung oder Sozialisation es bedarf, um grundsätzlich ein Verständnis von politischen Verfahren und ihrer Bedeutung zu erwerben und zudem bereit zu sein, sich an ihnen zu beteiligen und an die Resultate derselben gebunden zu fühlen. Wenn in der Folge Rousseaus ein allgemeiner und auf die Allgemeinheit ausgerichteter Bürgerstatus für alle verfügbar sein muss, dann heißt dies, dass Beteiligungsoptionen bestehen müssen, die für alle gleich aussehen und alle in ein Verhältnis abstrakter Gleichheit zueinander bringen. Dies setzt voraus, dass es eine abstrakt gleiche Perspektive von Bürgern überhaupt gibt, erlaubt es aber auch, die Beteiligungsmöglichkeiten und Voraussetzungen zu standardisieren, die auf die Allgemeinheit der Verfahrensresultate abzielen. Für ein Einbringen der Spezifika von Kontexten, die reguliert und verrechtlicht werden sollen, wie es in der Folge Kants notwendig ist, ist es ebenfalls erforderlich, dass ein gemeinsamer und vergleichbarer Bürgerstatus geschaffen und gesichert wird, da nur mit einem solchen Status die Freiheit in den Verfahren gesichert werden kann. Der Status muss aber in dieser Perspektive auch sicherstellen, dass die relevanten Differenzen von Handlungskontexten artikuliert und eingebracht werden können (nicht um in diesen Kontexten Interessen in der Regulierung durchzusetzen, sondern um in den Verfahren verstehen zu können, welche die entscheidenden Aspekte in den Kontexten sind). Was die Befähigung betrifft, an den Verfahren teilzunehmen, heißt dies, dass nicht nur jeder über die gleiche Kompetenz verfügen muss, seinen Blick auf die Gestaltung des Allgemeinen einzu-

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bringen, sondern es müssten die besonderen Kompetenzen entwickelt werden, die Eigentümlichkeiten unterschiedlichster Kontexte wahrzunehmen, zu artikulieren und in eine allgemein verständliche Beschreibung zu „übersetzen“ (Bohman 1997, Young 1997). Aus diesen Zugangsbedingungen zu den Verfahren folgt noch keine genaue Bestimmung dessen, was in ihnen geschieht, d.h. der Weise, in der sie Informationen „verarbeiten“. In einem gewissen Sinn lässt sich sicherlich sagen, dass die Tatsache, dass die Verfahren es ermöglichen und verbürgen sollen, dass Freiheit ausgeübt wird oder werden kann, bedeutet, dass diejenigen, die an den Verfahren beteiligt sind, selbst darüber mitentscheiden können müssen, wie die Verfahren arbeiten, welche Argumentationsweisen akzeptabel sind und welche nicht, welche Informationen Berücksichtigung finden oder nicht und welche Fakten zählen oder nicht.66 Allerdings wiederholt sich hier die Argumentation bezüglich der Freiheit, denn dieses Entscheiden oder Mitentscheiden kann nicht heißen, dass es z.B. ad hoc Abstimmungen darüber gibt, ob ein Argument oder Fakt berücksichtigt wird oder nicht. Die Entscheidung über das, was in Verfahren zulässig oder unzulässig ist, muss selbst generell getroffen werden und so das Verfahren strukturieren, ohne ein Urteil in Einzelfällen zu sein (sonst wäre das Verfahren nämlich kein Verfahren). Um dies zu gewährleisten, müssen allgemeine Verfahrensprinzipien bei themenbezogenen Auseinandersetzungen zur Anwendung kommen, die allen als solche bewusst sind oder bewusst sein können, in nachvollziehbarer Weise entstanden sind und nur revidiert werden können, wenn eine Auseinandersetzung über Verfahrensprinzipien als solche geführt wird (bei der wiederum klar ist, dass sie sich aus allgemeinen Erforder-

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In der Souveränitätsdiskussion stand immer schon die Frage im Zentrum, ob die Existenz eines Souveräns voraussetzt, dass er über die sogenannte „Kompetenz-Kompetenz“ verfügt, d.h. die Kompetenz festzulegen, welche Kompetenzen andere Einrichtungen haben bzw. an welche Vorgaben sie gebunden sind (Combothecra 1970: 29-34). Das Problem der Verortung dieser Kompetenz-Kompetenz in gesetzgebenden Verfahren liegt, wie die Ausführungen im Text zeigen werden, darin, dass die Unterscheidung zwischen der Ebene der Durchführung des Verfahrens und der Ebene eines Verfahrens, dass die Gestalt von Verfahren festlegt, nur schwer zu treffen ist.

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nissen ergibt und nicht bloß dem Konflikt in einem spezifischen Verfahren geschuldet ist). Gleichzeitig muss die Revision der Prinzipien beständig eine Option bleiben, d.h. es muss möglich sein, eine Auseinandersetzung zu initiieren, die darauf bezogen ist, und so eine selbstreflexive Verfahrensdurchführung zu gewährleisten. Konkret bedeutet dies, dass nur dann davon auszugehen ist, dass sich ein Allgemeinwillen bzw. ein „vereinigter Willen“ gebildet hat, wenn die Gründe, die zur Bildung geführt haben, allgemein nachvollziehbar sind. „Nachvollziehbar“ ist schwächer als „teilbar“, denn dies würde jedes Mehrheitsprinzip unmöglich machen und damit Regulierungen in nahezu allen Fällen verhindern. Es ist aber stärker als die bloße Explizitheit von Gründen, denn jeder, der von einer Regulierung/Verrechtlichung der Verhältnisse betroffen ist, sollte – so sie ein Ausdruck von Freiheit ist – zumindest verstehen können, dass jemand überzeugt sein kann, dass die Grundlage, auf der die Regulierung aufruht, eine gute oder richtige Grundlage ist.67 Die „allgemeine Nachvollziehbarkeit“ schließt derart bloß willkürliche Verläufe von Gesetzgebungsverfahren aus, d.h. sie können nicht nur pro forma stattfinden, ohne dass diejenigen, die später mit ihrer Mehrheit entscheiden, in ihnen einer Rechtfertigungspflicht unterliegen würden. Aber sie erlaubt es, dass Dissense bestehen, und lässt somit – unter weiter zu präzisierenden Bedingungen – dem Voluntarismus einen gewissen Raum. Dieser Raum ist deshalb notwendig, da nicht bei jeder politisch relevanten Angelegenheit klar ist, dass es ein Verfahren gibt, das letztlich erweisen würde, dass nur eine Lösung des Problems bzw. eine Entscheidung möglich oder zulässig ist. Der Verweis auf die Nachvollziehbarkeit wirft die Frage auf, ob sie zu Verfahrenserwartungen oder -standards führt, die den Beteiligten nicht zur Disposition stehen. Solche Erwartungen mögen zwar allgemein formulierbar sein, etwa als Ansprüche an die argumentative Gestalt des Verfahrens, den Gebrauch einer gemeinsamen Sprache oder die Weise des Interagierens in den Verfahren. Es lässt sich aber nicht a priori feststellen, was unter wel-

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Vgl. zu diesen Differenzierungen auch die Diskussion des „übergreifenden Konsenses“ von Rawls bei Forst 1994: 155-161, Forst 2001: 350 und Habermas 1996: 105-118.

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chen Bedingungen bzw. unter welchem Aufwand für wen nachvollziehbar sein wird oder nicht – die Verfahren sind gerade deswegen notwendig, weil (eventuell nur) in ihnen überprüft werden kann, welche Argumente Kandidaten für gute Gründe sind und welche nicht.68 Die Nachvollziehbarkeit wird immer auch von der Wahrnehmung von Kontexten und der bisherigen Geschichte des Handelns und Interagierens abhängen. Sie kann daher letztlich nur wiederum im Sinn eines selbstreflexiven Moments von Verfahren verankert werden. Ein weiterer Aspekt der Prinzipien, die im Verfahren zur Anwendung kommen, leitet schon zur dritten Dimension der Verfahrensbedingungen über. Denn die Verfahren sind nur Ausdruck der politischen Freiheit aller, wenn sie in der Tat das Ergebnis haben, dass es in ihrer Folge zu einer Regulierung der sozialen Handlungsverhältnisse kommt. Würde die „Freiheit“ in einem politischen Verfahren realisiert, das letztlich wirkungslos bleibt, wäre sie eine rein „spekulative“ Freiheit, was der Bedeutung des Freiheitsbegriffs nicht entspricht. Auch eine Freiheit, die im Verfahren „aufgehoben“ ist, ist intern und notwendig auf das Handeln und die Gestalt der Handlungsverhältnisse bezogen. Das heißt aber, dass die Verfahren nicht nur abstrakt und hypothetisch auf Regulierungen ausgerichtet sein müssen, sondern direkt auf ein Regulierungsziel bzw. allgemeiner auf einen Abschluss in der Form, dass über eine Regulierung entschieden wird. Bei aller prinzipiellen Unabschließbarkeit der Beratung über Gesetze und Regelungen kann diese Unabschließbarkeit nicht selbst zum Zweck werden, ohne dem Anspruch der Selbstgesetzgebung entgegen zu stehen. Diese Anforderung an die Verfahren hat wiederum zu unterschiedlichen Vorschlägen geführt. Eine prominente Variante ist die Aufspaltung von sogenannten „starken“ und „schwachen“ Öffentlichkeiten, die schon im Zusammenhang der gerechtigkeitstheoretischen Legitimitätskonzeptionen eingeführt wurde (vgl. Kap. 2.3), d.h. die parallele Existenz von z.B. parlamentarischen Verfahren, die unter strengen Vorgaben und mit begrenzten Zeitressourcen beraten

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Vgl. dazu Albrecht Wellmers Kritik an Apels „A-priorisierung“ des Diskurses in Wellmer 1986: 81-102.

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und entscheiden, also zu konkreten Regulierungen führen, und von z.B. medial vermittelten Öffentlichkeiten, die nicht unter Entscheidungsdruck stehen, den Rahmen partikularer Abstimmungsprozesse abgeben können und ohne starken Rechtfertigungsbedarf Themen auf die Agenda setzen bzw. von ihr nehmen können. Die Schwierigkeit der „Aufspaltung“ des Verfahrens in verschiedene Verfahren ist, dass bei ihr sichergestellt bleiben muss, dass die distinkten Verfahren bzw. Verfahrensräume aufeinander bezogen sind und diejenigen, die von den Resultaten betroffen sind, hinreichende Möglichkeiten haben, sich in den verschiedenen Verfahren, aber auch im Übergang zwischen ihnen zur Geltung zu bringen. Eine andere Variante ist daher ein klares Setting von Verfahren, die einander bedingen, aber auch zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander sind (da sie z.B. unterschiedlichen Erwartungen folgen), wie es u.a. in parlamentarischen Zweikammersystemen vorliegt. Hier verliert die Ausrichtung auf die Entscheidung einen Teil ihrer Dramatik, da jede Entscheidung einer weiteren Entscheidung bedarf und daher in der Folge revidiert oder gar revoziert werden kann. Die Frage der Entscheidungen am Verfahrensende hat aber nicht nur Bedeutung für den Verfahrensablauf und die in ihm zulässigen Beiträge bzw. Interaktionsweisen. Die Entscheidungen stehen auch für den Punkt, an dem festgelegt wird, wie die Handlungsverhältnisse später aussehen werden oder sollen. Bei der Bewertung von Entscheidungen zeigen sich, wie zuvor schon bemerkt, erneut Auswirkungen der Schwierigkeit, wie eine Rückkopplung der Effekte an die Verfahren und ihre Entscheidungsprozesse aussehen kann, wenn die Freiheit in den Verfahren der alleinige Maßstab für sie bzw. ihre Resultate ist und nicht die Welt „vor“ oder „nach“ den Verfahren. Es lassen sich aber zwei Bedingungen ausmachen, die die Resultate von Verfahren erfüllen müssen, wenn die Verfahren Ausdruck von Freiheit sein sollen: Erstens darf niemand durch die Handlungsverhältnisse, die sich aus ihnen ergeben, an der Ausübung politischer Freiheit gehindert werden. Bei aller Zulässigkeit von „ungerechten“ Regulierungen darf deren Resultat nicht so aussehen, dass es durch die Regulierung Einzelnen oder Gruppen letztlich unmöglich wird, sich an

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den Verfahren zu beteiligen. Modelle von Minderheitenschutz zielen gewöhnlich darauf ab, solche Konsequenzen zu verhindern bzw. Defizite in der Möglichkeit zu beheben, politische Freiheit auszuüben. In der Perspektive der Freiheit qua Selbstgesetzgebung bedeutet Minderheitenschutz dabei nicht, dass eine Minderheit in ihren partikularen Interessen geschützt und bewahrt wird oder gleiche Handlungsfreiheiten gewährt bekommt, wie es die Gerechtigkeitstheorie formulieren würde. Er verweist vielmehr darauf, dass die Möglichkeit bewahrt oder geschaffen wird, sich signifikant in politischen Verfahren zur Geltung zu bringen. Die Forderung, dieses „signifikante Einbringen“ zu ermöglichen, kann durchaus die Folge haben, dass Besonderheiten der Minderheit gefördert werden müssen bzw. sie Zugang zu besonderen Ressourcen haben muss, um zur Teilhabe befähigt zu werden, aber diese Maßnahmen sind kein Selbstzweck und sie ergeben sich auch allein aus der benachteiligten Stellung mit Blick auf das Verfahren. Hierbei ist es wichtig festzuhalten, dass Verfahrensresultate oft die Auswirkung haben (werden), für einige nachteiliger zu sein als für andere, und damit auch die Möglichkeiten affizieren, sich in Verfahren zur Geltung zu bringen. Der genannte Minderheitenschutz greift in der Perspektive der hier diskutierten Theorie nur dann, wenn Verfahrensresultate wiederholt und strukturell dieselbe Gruppe von Individuen mit Blick auf die Teilhabebedingungen deutlich schlechter stellt als andere. Und es handelt sich um einen Schwellenwert, d.h. es muss nicht jede Differenz in den Zugangsmöglichkeiten zu den Verfahren ausgeglichen werden. Die zweite Bedingung dafür, dass Entscheidungen nicht der Freiheit entgegenstehen, ist eine weitere allgemeine Implikation der „Freiheit in der Selbstgesetzgebung“. Es muss nämlich in den Verfahren wirklich über dasjenige befunden worden sein, was sich in ihrer Folge als soziale Realität ergibt. Ein wesentliches Kriterium für die Zulässigkeit von Resultaten liegt darin, dass die Umsetzung einer Regulierung in der Tat zu der Gestalt der Handlungsverhältnisse führt, über die in den Verfahren beraten wurde bzw. die in ihnen als Resultat der Umsetzung der Regulierung antizipiert wurde. Weicht die Umsetzung deutlich von dem ab, was im Verfahren erwartet wurde, und lässt sich diese Abweichung nicht

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durch Defizite in der Umsetzung erklären, dann muss es möglich sein oder sogar die Verpflichtung existieren, erneut in die Beratung über die Regulierung einzutreten. Selbst wenn die Beiträge im Verfahren nicht auf die Durchsetzung individueller Freiheit in der Welt „nach“ der Politik zielen, so hängen sie doch an Auffassungen darüber, was in der Welt zulässig sein sollte oder nicht, und das Faktum, dass eine Regulierung wesentliche andere Effekte hat als diejenigen, die antizipiert wurden, muss sie zumindest problematisch erscheinen lassen. Diese Präzisierung der Verfahren, die die Vereinbarkeit der Freiheit und der Gesetzmäßigkeit sozialer Handlungsverhältnisse garantieren sollen, und ihrer zulässigen Resultate unterstreicht im wiederholten Umkreisen der Frage, wie Ansprüche auf „gleiche“ Teilhabe bzw. Befähigung zur Teilhabe nicht im Sinn einer Bestimmung gleicher vor- oder außerpolitischer Freiheit zu verstehen sind, die wesentliche Schwierigkeit von Legitimitätstheorien, die mit einem Modell von Selbstgesetzgebung argumentieren, in dem diese prozedural begriffen wird: Sie explizieren nämlich einerseits die Verfahren auf der Grundlage des politischen Freiheitsbegriffs, d.h. aus der Freiheit wird abgeleitet, dass die Verfahren das Recht erzeugen sollen und müssen, das die Handlungsverhältnisse bestimmt. Andererseits wird aber auch festgelegt, was in den Verfahren geschehen muss, damit sie bzw. die Regulierungen, die aus ihnen resultieren, Ausdruck der Freiheit sein können. So kommt bei allen Referenzen auf die Transzendentalphilosophie ein weiterer Bezugspunkt ins Spiel, bei dem nicht klar ist, wie er sich zur Freiheit verhält. Eine gängige Interpretation dieses Bezugspunktes ist es, ihn gerechtigkeitstheoretisch oder zumindest egalitaristisch zu verstehen, d.h. als Explikation des gleichen Wertes oder der Gleichheit (in) der politischen Freiheit. Auf diese Weise wird die Gerechtigkeitstheorie doch noch einmal als Grundlage für die Überzeugungskraft der Freiheitstheorie betrachtet, womit sich das Problem ergibt, dass die Gerechtigkeits- oder Gleichheitstheorie beanspruchen muss, Kriterien auszeichnen zu können, an denen der „gleiche Wert“ der politischen Freiheit zu bemessen ist, ohne dass dieser „gleiche Wert“ auf die vorpolitischen Lebensverhältnisse bezogen werden darf. Eine solche Interpretation mag auf

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den ersten Blick nahe liegen, da sie sich gut eignet, der Gleichheit einen Ausdruck zu verleihen; sie scheitert aber daran, dass sich die politische Freiheit, wie der Blick auf Rousseau und Kant gezeigt hat, nicht aggregativ verstehen lässt. Es ist nicht notwendigerweise ein Ausdruck von ungleichen Teilhabemöglichkeiten, wenn es einzelnen Bürgern selten oder nie gelingt, ihre Perspektive in einer abschließenden Regulierung durchzusetzen. Eine andere Interpretation weist die „Externalisierung“ des Bezugspunktes für die richtige Einrichtung der Verfahren und d.h. v.a. für die Bestimmung der Gleichheit in der gleichen Ausübung der Freiheit folglich zurück und sieht ihn demgegenüber als selbstreflexives Moment der Verfahren selbst. In dieser Perspektive ist die Ausübung von Freiheit in politischen Verfahren intern daran gebunden, dass sie reflektieren, ob sie hinreichend inklusiv sind (in den drei zuvor erörterten Dimensionen des Zugangs zu ihnen, der Artikulation aller relevanten Standpunkte und der Akzeptabilität und Antizipierbarkeit der Auswirkungen von Resultaten). Diese Deutung kann wiederum einerseits so verstanden werden, dass die Verfahren von ihrer Anlage her zu dieser Reflexivität „gezwungen“ sind (mit der Frage, wer oder was diesen Zwang ausübt), oder andererseits derart, dass die Dynamik der Verfahren notwendig immer umfassendere Inklusion bewirkt (was die Frage aufwirft, worin diese Notwendigkeit begründet liegt). Die erste Lesart verweist auf die prozedurale Bedeutung der Gewaltenteilung, indem z.B. der Judikative, aber eventuell auch der Exekutive die Aufgabe zugewiesen wird zu überprüfen, ob in der Generierung einer Regelung tatsächlich hinreichend inklusive Verfahren zur Anwendung kamen (wobei Judikative und/oder Exekutive nicht aus einem Vorbehalt selbst legislative Kompetenzen ableiten dürften). Die zweite Lesart wurde in jüngerer Zeit, wie schon ausgeführt wurde, im Anschluss an Dewey und dessen Idee des „democratic circle“ vertreten, d.h. (demokratische) Verfahren werden so beschrieben, dass aufgrund der Interaktion Ansprüche auf Befähigung bzw. umfassendere Teilhabe an den Verfahren ab einem gewissen Punkt nicht mehr zurückgewiesen werden können. Beide Lesarten zeigen deutlich, dass die Idee, Freiheit in der Selbstgesetzgebung auszuüben, darauf verweist, dass die Verfah-

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ren der Selbstgesetzgebung in ein weiteres politisch-institutionelles bzw. demokratisch-gesellschaftliches Setting eingebettet sein müssen. Damit die Verfahren derart begriffen werden können, dass in ihnen Freiheit ausgeübt und abgesichert wird, reicht es nicht hin, dass sie irgendwo als unbestimmte „Diskurse“ realisiert sind, sondern sie begründen und verbürgen nur dann Freiheit, wenn sie in einer gewaltenteiligen Institutionenstruktur verankert sind oder allgemeiner zur Praxis einer „demokratischen Gesellschaft“ gehören (wozu dann weitere soziale Praktiken, „entgegenkommende Umstände“ dazugehören). Die Selbstgesetzgebung bedarf also aus ihr selbst heraus einer souveränen Herrschaftsstruktur, da nur in einer solchen Struktur sichergestellt sein kann, dass den Verfahren der Wert und die Gestalt zukommt, die zum Verbürgen und Umsetzen von Freiheit erforderlich sind. Dies wirft weitere Fragen dazu auf, ob und in welchem Maß diese Verfahren bzw. die Strukturen und Institutionen mit der Demokratie identisch sind bzw. auf welche Elemente der Demokratie sie insbesondere Bezug nehmen. Zu klären ist aber v.a., ob die souveräne Herrschaftsausübung mit der Selbstgesetzgebung verbunden werden kann, d.h. ob das Verweisungsverhältnis nicht einseitig ist.

3.2.3 Von der Souveränität zur Volkssouveränität Bevor wir also zur Frage zurückkehren, ob sich die Verfahrensbedingungen für die Realisierung von Freiheit in Selbstgesetzgebung ausschließlich unter Bezug auf den Freiheitsbegriff explizieren lassen, soll untersucht werden, ob die Vorstellung von Selbstgesetzgebung (angenommen sie würde in der Tat die Freiheit der Bürger zum Ausdruck bringen) mit den Bedingungen dafür zu vereinbaren ist, dass Souveränität (im Sinn der Konzentration oder Monopolisierung des Vermögens, Handlungsverhältnisse zu setzen und zu kontrollieren) etabliert und erhalten wird, oder ob der Souveränität der Instanz, die Herrschaft ausübt, nicht vielmehr die „Bindung an das Gesetz“ widerstrebt. Der gegenwärtige Diskurs zur Souveränität leidet darunter, dass er sich v.a. der Kritik zwischenstaatlicher Verhältnisse bzw. der Geltungsbedingungen des Völkerrechts verdankt (z.B. prominent Krasner 1999). Auf diese Weise steht als Grundbestimmung der Souveränität die Willkürfreiheit

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des Staates im Zentrum, sich an internationale Abkommen zu binden. Dies hat zur Folge, dass es so aussieht, als sei die Souveränität grundsätzlich derart zu verstehen, dass sie in einer Kompetenz liegt, die über jedem Recht steht, da Staaten vermeintlich selbst entscheiden, ob sie internationale Abkommen unterzeichnen und sich daran halten. Eine solche Bestimmung der Souveränität, die es fragwürdig machen würde, sie in Verfahren zu verorten, deren Revision denjenigen, die sich an ihnen beteiligen, nur bedingt zur Disposition steht, wird aber der Diskussion möglicher innerstaatlicher Souveränitätsverständnisse nicht gerecht. Es gibt zwar zahlreiche Staatsrechtslehren, wie etwa diejenigen von Otto von Gierke oder Harold Laski, die bestreiten, dass es überhaupt Sinn macht, innerhalb des Staates von einer souveränen Instanz zu reden, und stattdessen auf die historische Genese von Staatsgebilden verweisen, die nach Außen souverän auftreten können (Laski 1948: 550-551), oder solche, wie die schon genannte Theorie Carl Schmitts, die die Existenz von Souveränität daran knüpfen, dass eine Instanz besteht, die die Geltung des Rechts auszusetzen vermag. Aber diese Erläuterungen der Souveränität bilden – auch historisch gesehen – nicht den Hauptstrang der Diskussion (Kurz 1965). Wie zuvor festgehalten wurde, ist bereits bei Bodin und Hobbes klar, dass von Souveränität in der Herrschaftsausübung nur dann zu reden ist, wenn sich die Herrschaft in der Regulierung von Handlungskontexten der Rechtsförmigkeit bedient. Damit wird aber vorausgesetzt, dass der Souverän derart an das Recht gebunden ist, dass er gar nicht anders als rechtsförmig wirken kann – was nicht heißt, dass er selbst irgendeinem spezifischen vorhergehenden Recht unterworfen ist. Hinzu kommt die Einsicht, dass die Souveränität einer souveränen Instanz nicht so verstanden werden kann, dass sie als höchste Macht in der Lage wäre, jeden anderen Akteur (und v.a. alle anderen Akteure zusammen) zu einem bestimmten Handeln bzw. Unterlassungen zu zwingen. Die Fähigkeit der souveränen Instanz, Befolgung zu erzielen, wird wiederum unter Rekurs auf den Rechtsbegriff erklärt, d.h. der Souverän ist zwar dem Recht enthoben, er vermag sich aber nur auf-

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grund (der Aura) des Rechts, dem er zur Geltung verhilft, in der Position des Souveräns zu halten.69 Es ist also nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass die Instanz der Souveränität durch einen „vereinigten Willen des Volkes“ besetzt wird, der bzw. dessen Hervorbringung prozedural zu verstehen ist. Damit dieses Ineinsfallen von souveräner Herrschaft und Selbstgesetzgebung möglich ist, muss das gesetzgebende Verfahren aber eine wesentliche Bedingungen erfüllen, wie zuvor mit Blick auf Rousseau bereits vermerkt wurde: Das gesetzgebende Verfahren muss der Bestimmung sozialer Handlungsverhältnisse so vorgeschaltet sein, dass jede Bestimmung strikt auf die Gesetzgebung zurückgeführt werden kann und in der Bestimmung keine Faktoren ins Spiel kommen, die nicht aus dem Verfahren hervorgegangen bzw. von ihm autorisiert worden sind. Der erste Teil dieser Bedingung stellt inhaltlich fest, dass jede Bestimmung auf etwas zurückgeführt werden können muss, das in den Verfahren entwickelt wurde. Da ein solcher Anspruch aber nicht auszuschließen vermag, dass die Regulierungen, die aus den Verfahren hervorgegangen sind, mit gravierenden Konsequenzen selektiv angewendet werden, fordert der zweite Teil, dass das Verfahren selbst auch der ausschließliche Anlass für die Anwendung oder NichtAnwendung bzw. sogar für die Art der Anwendung einer Regulierung ist. In einer gewaltenteiligen Ordnung muss die Legislative als Zentrum und exklusiver Ausgangspunkt für die Regulierung von Handlungsverhältnissen fungieren. Ermessensspielräume der Exekutive müssen durch legislative Akte eröffnet70 und in Gerichten auf ihr Zusammenstimmen mit der Gesetzgebung überprüfbar sein. Es muss zudem vorgesehen sein, dass die Legislative im Nachgang zu bisherigen Ermessensspielräumen und deren Nut-

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Vgl. zu einer soziologischen Betrachtung des Verhältnisses von Herrschaft und Recht auch Luhmann 1993: 407-439. Diese Eröffnung kann durchaus heißen, dass eine Legislative einsieht, dass sich bestimmte Operationsweisen der Exekutive nicht gesetzesförmig vorweg eindeutig determinieren lassen. So kann die Legislative etwa die Exekutive zur Verbrechensbekämpfung mit bestimmten Zielen, aber auch Grenzen „programmieren“, in dieser Programmierung muss aber offen bleiben, welche konkreten Mittel in welcher Situation gewählt werden.

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zung in allgemeiner rechtlicher Form die Erfahrungen aufgreifen und in revidierten oder erweiterten Regelungen aufnehmen kann. Diese Bindung der souveränen Ausübung von Herrschaft an die Legislative wirft die Frage auf, wer gewährleisten kann oder soll, dass die Legislative die Funktion innehat, die sie dieser Bedingung gemäß innehaben soll. Ist hier nicht wiederum eine souveräne Instanz von Nöten, die das Verhältnis der Legislative zu Exekutive und Judikative so bestimmt, dass das Verhältnis den drei Gewalten nicht zur Disposition steht bzw. maximal in einer verfassungsgebenden Versammlung (einer höheren, d.h. eventuell in den Beratungs- und Abstimmungsverfahren anders qualifizierten Legislative also) neu und anders bestimmt werden kann? Die Lösung dieser Frage hat zu unterschiedlichen Überlegungen geführt: Ein erster Vorschlag besteht in der Betonung der symbolischen Stärke des „vereinigten Willens des Volkes“, d.h. die Wirkmächtigkeit eines jeden herrschaftlichen Handelns hängt entscheidend daran, dass die Instanz, die gerade Herrschaft ausübt, nachweisen kann, dass sie auf dem „vereinigten Willen“ aufruht.71 Es wurde zuvor bereits unter Verweis auf die Demokratietheorie Leforts gezeigt, wie es zu verstehen sein könnte, dass diese symbolische Dimension durch das Offenhalten der „Stelle der Macht“ und d.h. die Unmöglichkeit, sich die Instanz der Ausübung von Herrschaft qua überwältigender Macht dauerhaft anzueignen, eine Gemeinschaft integriert. In der Symbolizität des Bezugs auf den „vereinigten Willen“ liegt aber auch die Schwierigkeit dieses Vorschlags, denn er ist unterbestimmt gegenüber möglichen Realisierungen dieses Bezugs, d.h. ein „Volksgerichtshof“, der sich über geltendes Recht und existierende Gesetzgebung unter Referenz auf „gesundes Volksempfinden“ erhebt, ist genauso denkbar wie eine Legislative, die sich gegen Sicherheitsmaßnahmen oder andere „executive prerogatives“72 wendet, die die Ausübung politischer Freiheit

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Dies ist eine gängige staatsrechtliche Fassung der Volkssouveränität, vgl. Kurz 1965: 140-143. Unter diesem Titel wird in den USA die Diskussion über besondere „Rechte“ der Exekutive geführt, die von Legislative und Judikative nicht kontrolliert und eingeschränkt werden können, da sie dem Funktionsauftrag der Exekutive (vermeintlich) inhärent sind (Margulies 2006).

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und die Kontrolle exekutiven Handelns gefährden.73 Ein anderer Vorschlag konzentriert sich daher stärker auf ein institutionelles Setting, in dem der Primat der Legislative derart festgeschrieben sein kann, dass bei aller Aggregation von „Macht“ in den Händen der Exekutive, die zweifelsohne notwendig ist, dieser die Hände so gebunden sind, dass sie die Macht nicht gegen die Funktion und Stellung der Legislative nutzen kann. Wie mit der Frage zu Beginn dieses Abschnitts angedeutet wurde, ist das Einrichten eines solchen Settings keine einfache Angelegenheit, weshalb es gewöhnlich auch so beschrieben wird, dass es verschiedene Elemente kombiniert. Ein wesentliches Element ist z.B. die Festschreibung einer Verantwortlichkeit der Exekutive nicht direkt gegenüber dem „Volk“, sondern gegenüber der Legislative, so dass die Legislative Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Exekutive als ganzer, aber eventuell auch gegenüber einzelnen Mitgliedern derselben hat. Eine Erweiterung dieser Fixierung des Vorrangs, der der Legislative zukommt, findet sich im „Parteienstaat“, wie er in der BRD entwickelt wurde und in dem die Bestimmung von Kandidaten für Ämter und Mandate nicht direkt durch deren eigene Entscheidung oder die Wählerschaft getroffen werden kann, sondern im Umweg über selbst wiederum demokratisch verfasste Parteistrukturen vollzogen wird. Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal eines Settings, in dem der Vorrang der Legislative gesichert wird, ist die Unabhängigkeit der Judikative, womit bezeichnet ist, dass Richter nicht von der Ernennung und Abberufung durch die Exekutive oder Legislative abhängig sind. Dazu trägt auch ein Verbot für Mitglieder der Judikative bei, zu einem späteren Zeitpunkt in die Exekutive oder Legislative zu wechseln.74 Schließlich ist es nicht unerheblich, in welcher Weise

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Die Möglichkeit der unterschiedlichen Varianten, sich auf den „vereinigten Willen“ zu beziehen, liegt auch in den allgemeinen Schwierigkeiten begründet, wie die Repräsentation des Volkes zu gewährleisten ist, d.h. unter welchen Voraussetzungen eine Instanz oder Institution für sich beanspruchen kann, den „vereinigten Willen“ „vernommen“ zu haben. Vgl. zu den Schwierigkeiten des Repräsentationsbegriffs Möllers 2008 sowie weiter unten das Kapitel 4.4.2. Bonnie Honig weist allerdings für die USA nach, dass eine Kontrolle exekutiven Handelns durch die Judikative nicht notwendig zur Folge hat, dass der

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und zu welchem Grad die Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns als öffentlicher Standard für die Bewertung desselben gilt. (Öffentliche) Reaktionen auf exekutives Handeln, in denen dieses dann besondere Anerkennung findet, wenn es „mutig“ die Rechtslage überschreitet, führen dazu, dass die Exekutive geneigter wird, eigene Handlungsgründe zu entwickeln und diese den Grenzen des Rechts entgegenzustellen. Zeigt sich mit diesen Erläuterungen zur Verbindung von Selbstgesetzgebung und souveräner Herrschaftsausübung im Modell der Volkssouveränität, dass es die Schwierigkeiten zu lösen vermag, die im ersten Kapitel für den Übergang von Macht zu Herrschaft genannt wurden? Die letzten Ausführungen haben erklärt, wie dieses Modell die Umsetzung der Normen und Regelungen, die die Legitimität der Herrschaft verbürgen, in einem gewaltenteiligen Setting von Instanzen denkt. Dabei wurden Mechanismen angedeutet, die sicherstellen können, dass die Verfahren, die Regelungen entwickeln, an die Umsetzung letzterer zurückgekoppelt bleiben. Und in der Beschreibung der Funktionsweisen der Verfahren wurde auch ein Zusammenspiel von konkreten Handlungszusammenhängen, der Allgemeinheit der Deliberation und der Regulierung der Zusammenhänge als Resultat der Deliberation dargelegt, das hinreicht, um zu gewährleisten, dass in der Deliberation die relevanten Faktoren für die Handlungsverhältnisse aufgegriffen und beraten werden können. Es handelt sich also insgesamt betrachtet um ein Modell, das im Vergleich mit den anderen Ansätzen, die untersucht wurden, am ehesten in der Lage ist, ein normatives Geltungskriterium – die Existenz von (politischer) Freiheit – mit den realen Bedingungen der Herrschaftsausübung – in der Form der Souveränität – zu verbinden. Dies bringt uns zur Frage zurück, die zunächst offen gelassen wurde, ob die prozeduVorrang der Legislative durchgesetzt wird (vgl. Honig 2005). Dies ist aber wesentlich dadurch bedingt, dass das Gewaltenteilungsmodell in den USA, das zumindest z.T. in der Verfassung rechtlich niedergelegt ist, nicht aus dem prozeduralen Verständnis der Selbstgesetzgebung, wie es hier im Anschluss an Kant entwickelt wurde, abgeleitet werden kann. Vgl. zur Gewaltenteilung in der amerikanischen Verfassung und den Verfassungen der Einzelstaaten Friedman 2007: 73-79 und zur Kritik daran Maus 1994: 30-31.

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rale Konzeption der Selbstgesetzgebung letztlich als Umsetzung der Freiheit zu überzeugen vermag.

3.2.4 Die Volkssouveränitätstheorie und ihre Schwierigkeiten Die Theorie der Legitimität von Herrschaft durch Volkssouveränität wurde ausführlich untersucht, da sie bislang die wichtigste und (durch ihren Einfluss auf den juristischen staatsrechtlichen Diskurs v.a. in Deutschland und Frankreich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) wirkmächtigste philosophische Legitimitätstheorie ist. Die Bedeutung der Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorie ist demgegenüber jüngeren Datums und ihr Erfolg in den letzten Dekaden ist auch als Reaktion auf Schwächen der Volkssouveränitätstheorie zu begreifen, die v.a. im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts zu Tage getreten sind. Die Vertreter der Gerechtigkeitstheorie unterstellen daher gewöhnlich, dass ihre Forderungen nicht im Widerspruch zur Volkssouveränität stehen, sondern dieser einen besseren Ausdruck verleihen. Die Überzeugungskraft der Theorie der Volkssouveränität beruht entscheidend darauf, dass sie mit der prozedural verstandenen Selbstgesetzgebung eine Quelle der Strukturierung sozialer Handlungsverhältnisse auszeichnet, in der deren normativer Grund, d.h. die gleiche Ausübung von Freiheit, und dessen Umsetzung, d.h. die Verfahren, in denen die Freiheit ausgeübt wird, (vermeintlich) in eins fallen. Die Ergänzung des „vermeintlich“ ist notwendig, da bisher nicht abschließend geklärt werden konnte, ob die Verfahren wirklich in all ihren Aspekten auf die (Ausübung der) Freiheit zurückgeführt werden können. Wie ist zu verstehen, dass die Verfahren die Ausübung der Freiheit ermöglichen, d.h. gibt es ein übergeordnetes Ziel, dem die Verfahren folgen, um Freiheit zu ermöglichen, oder können die Verfahren als Implikation der Freiheit derart begriffen werden, dass sie gar nicht anders als in Verfahren der vorliegenden Gestalt ausgeübt werden kann? Gehen also die Gerechtigkeit oder die Gleichheit als normative Orientierungspunkte zumindest qua Distribution gerechter bzw. gleicher Anteile an der Ausübung von Freiheit letzterer nicht doch notwendig voraus? Die Antwort auf diese Fragen zeigt, dass die vermeintliche Auflösung des Problems, das das Verhältnis zwischen Freiheit und volon-

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té générale bei Rousseau mit sich brachte, bei Kant nicht so weit reicht, wie zunächst erhofft. Rousseau und Kant können den Verdacht einer Vorordnung der Gerechtigkeit vor die Freiheit deshalb zurückweisen, weil sie mit einem Freiheitsbegriff operieren, der nicht als Erweiterung oder Nutzen individueller Handlungs- bzw. Entscheidungsoptionen (miss)verstanden werden darf. Freiheit ist für beide – und mit ihnen für weite Teile der Volkssouveränitätstheorie – intrinsisch an die politische Selbstbestimmung der Gemeinschaft gebunden, so dass in der Ausübung der Freiheit immer die Gemeinschaft als ganze im Vordergrund steht und nur in zweiter Hinsicht der Anteil, den Einzelne an der Gemeinschaft und den Handlungsoptionen haben, die sie eröffnet. Die Gemeinschaft wird allerdings nicht als Kollektivsubjekt mit eigenen Bedürfnissen etc. hypostasiert (womit sie Gegenstand einer gerechtigkeitstheoretischen Gemeinwohlbestimmung werden könnte), sondern im Sinn einer „Gleich-Berechtigung“ aller Mitglieder der Gemeinschaft oder einer gleichen Autorenschaft bei der Gestaltung der Gemeinschaft gedacht. Auf diese Weise ist die Freiheit (in) der Gemeinschaft ein Projekt der Selbstgesetzgebung und nicht dessen Voraussetzung. Wenn die Verfahren also Begrenzungen unterworfen sind, dann ergeben sich diese Begrenzungen aus der „inhaltlichen“ Füllung der Freiheit und nicht aus einer vorgängigen Bestimmung von gleichen Anteilen an ihrer Ausübung. Nur mit dieser Betrachtung der Verfahren können diese hinreichend reflexiv konzipiert werden, d.h. nur so wird nachvollziehbar, wie in den Verfahren selbst darüber befunden werden kann und muss, wie außerpolitische Verhältnisse zu gestalten sind, um die Ausübung politischer Freiheit zu verstetigen. Diese Präzisierung dessen, was mit der Freiheit gemeint ist, ist wichtig und sie macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sie nicht als individuelle Willkür verstanden werden muss (bzw. darf). Sie führt aber auch, wie mit Blick auf Rousseau gezeigt wurde, zu gravierenden systematischen Schwierigkeiten, da unklar bleibt, wer darüber befinden können soll, ob die Freiheit richtig oder falsch ausgeübt wird (also keine Freiheit ist) und welche Konsequenzen eine falsche Ausübung der „Freiheit“ hat. Wenn auch Kants Alternative, den Zusammenhang der Ausübung individueller, eventuell

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willkürlicher Freiheit und des „vereinigten Willens aller“ zu prozeduralisieren, in der Einrichtung der Verfahren davon abhängig bleibt, dass der „vereinigte Willen“ inhaltlich gedeutet wird, ergeben sich analoge Schwierigkeiten zu denjenigen, die am Beispiel von Rousseau vorgeführt wurden. Die Schwierigkeiten wirken sich spätestens dann aus, wenn einzelne Bürger ihre politische Freiheit ge- oder missbrauchen, um (vermeintliche) Vorteile in ihrer außerpolitischen Existenz zu erhalten oder herbeizuführen. Eine solche Handlungsweise lässt sich nicht ausschließen, wenn die Legitimität von Regulierungen etc. vollkommen in Abhängigkeit von der Ausübung politischer Freiheit gesetzt wird, sie hätte aber eventuell – so ein signifikanter Anteil derjenigen, die ihre politische Freiheit ausüben, dem Vorbild folgt – Folgen, die mitteloder langfristig die Bedingungen unterminieren, die die gleiche Teilhabe an der Ausübung von Freiheit gewährleisten, und somit verhindern, dass es zu ihrer Ausübung bzw. der Konstitution einer politischen Gemeinschaft insgesamt kommt. Würde ein solcher Verdacht existieren, wäre nämlich nicht mehr unbedingt davon auszugehen, dass diejenigen, die eine Regulierung besonders (nachteilig) betreffen würde, diese als Ausdruck des „vereinigten Willens“ begreifen würden – worunter ihre Bereitschaft, eine Regulierung widerstandslos zu befolgen bzw. grundsätzlich den Leistungen der Verfahren zu vertrauen, zweifelsohne signifikant leiden würde. Es muss also eine Vorkehrung in den Verfahren getroffen werden, die es ausschließt oder wenig(er) wahrscheinlich macht, dass die (vermeintliche) Ausübung von politischer Freiheit dazu genutzt wird, Einzelne zu beherrschen bzw. ihnen Nachteile aufzuerlegen. Dies ist in eine Theorie der Volkssouveränität nur schwer zu integrieren, ohne weitere normative Bezugspunkte neben der prozedural gefassten politischen Freiheit einzuführen. So lassen sich zwar, wie gezeigt, Ansprüche identifizieren, die zur Teilhabe an den Verfahren befähigen und dementsprechend nicht vorenthalten werden dürfen, ohne dass die Verfahren kaum noch als Ausdruck politischer Freiheit begriffen werden können. Diese Ansprüche können wie die Verfahren selbst z.B. in einer Verfassung niedergelegt werden, die die Bedingungen der Möglichkeit von

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Freiheit expliziert und somit nicht als Einschränkung derselben zu verstehen ist. Da kein Einzelner für sich allein politisch frei sein kann, ist es nicht schwierig, ein minimales Setting an Verfahrensprinzipien und Befähigungsansprüchen verbindlich festzuhalten. Der Orientierungspunkt für dieses Setting ist aber die Ausübung der Freiheit zur Konstitution der sozialen Handlungsverhältnisse, die sich in der Form einer politischen Ordnung und Gemeinschaft vollzieht, die zu dieser Konstitution in der Lage ist. Außerpolitische Handlungsweisen und -interessen finden nur zum Zweck der Informiertheit über Handlungskontexte Aufnahme. Das Setting vermag nicht auszuschließen, dass die Verfahren Konsequenzen haben, die es mittel- oder langfristig unwahrscheinlich machen, dass (zumindest) ein Teil derjenigen, die von den Resultaten betroffen sind, die Verfahren noch als Ausdruck ihrer politischen Freiheit begreifen (selbst wenn ihnen die minimalen Befähigungsansprüche sowie der grundsätzliche Zugang zu den Verfahren gewährt werden).75 Es ist unmöglich, von den Verfahrensresultaten vollkommen abzusehen, da diese entscheidend für die Handlungsverhältnisse sind, in denen sich die Bürger im größten Teil ihrer Existenz bewegen. Eine Berücksichtigung der Resultate bzw. der Effekte derselben ist aber nur vorzustellen, wenn an die Ausübung der Freiheit nicht nur prozedurale, sondern auch inhaltliche Erwartungen erhoben werden oder zumindest Mechanismen vorgesehen sind, in denen bestimmte Auswirkungen von Resultaten notwendig zu neuen Verfahren führen. Dieses Problem der Volkssouveränitätstheorie leitet zu einem noch wesentlicheren Vorbehalt über: Wie mehrfach betont, konzipiert diese Theorie die Legitimität der Herrschaft als Konstitution von Handlungsverhältnissen, bei der alle davon Betroffenen in gleichem Maß an der Konstitution mitwirken. Die Konstitutionstheorie setzt voraus, dass – und hier kehren wir zu den Schwierigkeiten ontologischer Freiheitskonzeptionen zurück – es möglich ist, aus freier Entscheidung heraus die soziale Welt politisch zu erzeugen, also selbst-ständig in der Weise zu sein, dass die Entschei-

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Vgl. zu diesem Vorbehalt gegenüber der republikanischen Theorie aus der Perspektive der Gerechtigkeitstheorie Forst 1994: 138-141.

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dung als solche der Grund für die Welt ist, die (vermeintlich) als Resultat der Entscheidung zur Erscheinung kommt. Mit dieser Konstitutionsvorstellung geht notwendig die Forderung einher, eine Einheit zu etablieren, die in der Lage ist, als selbst-ständiger, autonomer Grund zu wirken, was bei Rousseau und Kant zur herausragenden Rolle der politischen Gemeinschaft führt, d.h. zur Annahme, dass Selbst-Ständigkeit und Autonomie primär in und von der Gemeinschaft erreicht werden kann.76 Zuvor wurde darauf verwiesen, dass diese Konstitutionstheorie problematisch ist, wenn sie einfach unterstellt, dass die Teilhabe an der Ausübung politischer Freiheit per se ein hinreichender Grund für die Akzeptabilität der Auswirkungen dieser Ausübung, d.h. die erzeugte soziale Welt ist. Ihr fehlt es aber auch an Überzeugungskraft, wenn gefragt wird, ob sichergestellt werden kann, dass alle, die von der Konstitution der Handlungsverhältnisse betroffen sind, in den Konstitutionsprozess miteinbezogen werden (können).77 Diese Einbeziehung lässt sich nicht darüber garantieren, dass von der Konstitution nur diejenigen betroffen sind oder sein sollen, die gegenwärtig an ihr beteiligt sind oder sein können. Diejenigen, die sich an den Verfahren beteiligen, können sich zwar selbst qua Verfahrensregeln oder mit Blick auf dasjenige, was angezielt wird, Grenzen der Reichweite ihrer Entscheidungen auferlegen, und eventuell sind auch ihre Ressourcen so limitiert, dass Entscheidungen gar nicht weiter reichen können. Aber alle diese Faktoren kön-

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Wie bereits im Kontext der Gerechtigkeitstheorien vermerkt, führt die Forderung nach oder Auszeichnung von Selbständigkeit und Autonomie zu fragwürdigen sozial-ontologischen Konsequenzen, die selbst der Erörterung bedürfen. Eine der wichtigen Auswirkungen, die die Ausrichtung auf die konstituierende Funktion der Gesetzgebung bei Rousseau und Kant hat, ist die Betonung der Selbständigkeit als einer moralischen oder ökonomischen Eigenschaft. Vgl. zu den Schwierigkeiten mit diesem Verweis Saage 1973: 83-92, zur Zurückweisung der Schwierigkeit Maus 1994: 23-25. Hier steht bereits die Perspektive trans- und internationaler Handlungsverhältnisse im Hintergrund, bei denen die „Externalisierung“ von Kosten und Lasten „innerstaatlicher“ Regulierungen ein wesentliches Problem darstellt. Da aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden soll, dass sich die Theorie der Volkssouveränität in den transnationalen Raum hinaus ausdehnen lässt, werden die Fragen zunächst nicht auf diese Zusammenhänge eingeschränkt.

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nen nicht ausschließen, dass Personen und vielleicht sogar ganze (politische) Gemeinschaften von den Auswirkungen der Entscheidungen betroffen sind. Dies liegt daran, dass die Konstitution – bei aller konstitutiven Rolle für einzelne Optionen und Relationen zwischen Handelnden – nie so zu verstehen ist, dass sie einen vollkommen abgeschlossenen Kontext allererst zur Existenz bringt. Handlungskontexte stehen notwendig in Verbindung zu anderen Kontexten (und sei es nur in der Form der Ersetzung oder Verdrängung anderer Kontexte), so dass zu klären ist, welche Relevanz diese Auswirkungen auf andere Kontexte, die das Ausüben politischer Freiheit gewollt oder ungewollt mit sich bringt, für diese Ausübung bzw. die Verfahren haben können oder müssen. Eine Antwort auf diese Frage wäre die Einbeziehung aller Betroffenen in ein neues, erweitertes Verfahren. Diese Antwort lässt sich aber mit der Volkssouveränitätstheorie nur dann geben, wenn entsprechende Personen dauerhaft Teil der politischen Gemeinschaft werden (sollen), deren Auswirkungen sie dann ausgesetzt werden. Das Volkssouveränitätsmodell führt zwar die Bedeutung von Verfahren, in denen Freiheit ausgeübt wird, mit Blick auf einzelne Fragen bzw. ebensolche Handlungsprobleme ein. Es sollte aber klar geworden sein, dass die Ausübung der Freiheit auf eine politische Gemeinschaft verweist, die sich nicht jeweils ad hoc mit Blick auf einzelne Fragen formiert. Die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen in Verfahren, die notwendig sind, damit überhaupt davon auszugehen ist, dass es zu Entscheidungen kommt, hängt wesentlich davon ab, dass erwartet wird, dass die Verfahren weiter bestehen, so dass diejenigen, die derzeit in der Minderheit sind, auch einmal in der Mehrheit sein werden (vgl. dazu die Ausführungen zu Mehrheitsprinzipien im folgenden Kapitel). Das Konstatieren der Tatsache, dass Betroffene existieren, die nicht Autoren der Verhältnisse waren, denen sie ausgesetzt sind, müsste also entweder zur grundsätzlichen Erweiterung der politischen Gemeinschaft führen, oder es müsste im Einvernehmen mit den entsprechenden Personen geklärt werden, ob die Regulierung von Handlungsverhältnissen zulässig ist. Beide Optionen sind denkbare Reaktionsweisen, sie stoßen aber an Grenzen, an denen die Prämissen der Volkssouveränitätstheorie fraglich werden.

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Die beständige und grundsätzliche Erweiterung der Gemeinschaft78 bringt die Gefahr mit sich, dass die Bedeutung des jeweiligen Anteils an der Ausübung politischer Freiheit tendenziell abnimmt. Wenn in der Ausübung von Freiheit nicht nur das allgemeine menschheitliche Gemeinwohl zum Ausdruck kommt, sondern durchaus auch partikulare kollektive Projekte verfolgt werden, dann kann die Abnahme als „Freiheitsverlust“ begriffen werden. Die akzeptable oder inakzeptable, gewünschte oder exzessive Größe des Volkssouveräns ist oft diskutiert worden. Die Kritik an einer „exzessiven“ Größe des Volkssouveräns beruhte dabei zumeist auf Annahmen über die Bedingungen der Kohäsion und Homogenität des „Volkes“ oder die Realisierbarkeit der erforderlichen Verfahren. Gegen diese Kritik wurde zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass moderne Staaten bei all ihrer Ausdehnung und z.T. auch sozio-kulturellen Differenz durchaus in der Lage waren, gesetzgebende Verfahren zu entwickeln und zu etablieren, die den geforderten Ansprüchen angemessen sind.79 Die entscheidende Frage, die in der genannten Kritik häufig nicht im Zentrum steht, ist aber, ab welcher Größe die Aussage, dass in den Verfahren politische Freiheit ausgeübt wird, dem Freiheitsbegriff nur noch wenig wirkliche Bedeutung beimessen kann. Wenn sich Freiheit nicht darauf reduzieren lässt, überhaupt an den Verfahren beteiligt zu sein, sondern auch heißt, den eigenen Blick (wobei wiederum nicht ein egoistischer Blick gemeint ist) und das eigene Interesse an kollektiven Projekten und Strukturen signifikant zur Geltung bringen zu können, dann sollte die Größe des Volkssouveräns so gewählt sein, dass dieses „zur Geltung Bringen“ in größtmöglichem Maß erfolgen kann.80 Die Antwort darauf, dass

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Dies meint, dass ausgehend von tatsächlicher oder potentieller Betroffenheit in einer Situation Betroffene grundsätzlich und d.h. auch mit Blick auf alle weiteren Entscheidungen der Gemeinschaft den Bürgerstatus verliehen bekommen. Dabei wurde die Größe selbst z.T. als Faktor begriffen, der die Tyrannei der Mehrheit verhindert. Vgl. u.a. die Ausführungen im Federalist-Artikel 51 (Hamilton/Madison/Jay 1994: 318). Vgl. zu diesem Problemkomplex insgesamt das republikanische Subsidiaritätsprinzip, das später als wesentliches Charakteristikum transnationaler Demokratie im Kapitel 6.3.2 eingeführt wird.

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität

165

auch Personen von Regulierungen betroffen sind, die (bislang) nicht an den Verfahren beteiligt sind (für die die Regulierungen dementsprechend nicht als Resultat der Ausübung von Freiheit zu begreifen sind), kann also nicht einfach so aussehen, dass die Verfahren immer inklusiver gestaltet werden. Es ergibt sich eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Reichweiten und Auswirkungen, die einzelne Entscheidungen haben, und dem „Mittelwert“ der Freiheit, die in den Verfahren realisiert werden kann. Die Alternative zur Erweiterung der Bürgerschaft, eine „supplementäre“ Legitimierungsweise einzuführen, die im Fall von Auswirkungen einer Regulierung auf Dritte Einvernehmen und d.h. eine konsensuelle Abstimmung sucht, mag der zuvor genannten Spannung zunächst entgehen. Sie wirft aber die Frage auf, warum dem Dritten, der eventuell nicht am Wohlergehen der politischen Gemeinschaft interessiert ist, ein größeres Gewicht eingeräumt wird, als denjenigen, die sich in den Verfahren nicht durchsetzen können/konnten. Ein solches Supplement könnte daher zur Folge haben, dass auch andere diesen Weg der Berücksichtigung suchen. Wenn also die immer weitere Ausdehnung der Gemeinschaft keine Option ist, dann muss auch die Weise der Abstimmung mit Dritten eigenständig untersucht werden, um zu einer überzeugenden Lösung zu werden. Eine Variante, die möglicherweise in Frage kommen könnte, wäre ein Verfahren, in dem verschiedene politische Gemeinschaften gemeinsam über Auswirkungen beraten und befinden.81 Aber ein solches Meta-Verfahren, in dem die Zulässigkeit/Unzulässigkeit von Verfahrensresultaten behandelt wird, wirft selbst wiederum Schwierigkeiten für die Gestalt und die Wirkmöglichkeit des Souveräns der Volkssouveränität auf, etwa indem nun zu fragen wäre, ob die Grenzen des MetaVerfahrens und/oder die Prinzipien, die in ihm zur Anwendung kommen, allein aus den Bedingungen der Ausübung der Freiheit ableitbar sind und wie die Zweistufigkeit des Volkssouveräns (d.h. seine Äußerung einerseits in der partikularen politischen Gemeinschaft und andererseits im übergeordneten Verfahren) zu verste-

–––––––––––––– 81

Vgl. dazu die Stufung von Ebenen, auf denen Volkssouveränität ausgeübt wird, bei Held 1995: 270-278.

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

hen ist. Was würde der Bildung eines einzigen Verfahrens entgegenstehen, so dies von der Mehrheit der Beteiligten am Meta-Verfahren angestrebt wird (womit das Problem der „zu großen“ Inklusivität wieder auftauchen würde)?82 Es muss als Konsequenz insgesamt festgehalten werden, dass die Zirkularitätsvorstellung mit der das Modell der Volkssouveränität operiert, mit gravierenden Hypotheken belastet ist. Die Annahme, dass die Autoren der Regulierungen von sozialen Handlungszusammenhängen mit denjenigen identisch sind oder sein können, die von den Regulierungen betroffen sind, ist sowohl hinsichtlich der Frage, ob die gleiche Autorenschaft tatsächlich Ungleichheiten in der Betroffenheit von Regulierungen unerheblich macht (also mit Blick auf die Folgen von Entscheidungen), als auch hinsichtlich der Frage, ob alle (möglicherweise) Betroffenen zu Autoren der Regulierungen werden können oder sollten, problematisch. Hier zeigt sich, dass das Volkssouveränitätsmodell sehr, eventuell zu eng mit der modernen Entwicklung von Nationalstaaten zusammenhängt. In diesen Staaten sind viele Handlungskontexte wirklich erst durch die staatlichen Institutionen bzw. die legislativen Initiativen hinter dem Wirken dieser Institutionen entstanden, konnten (nahezu) alle Bürger von wesentlichen Erweiterungen ihrer sozialen, ökonomischen und kulturellen Handlungsspielräume profitieren, während die Frage der Externalitäten innenpolitischer Verhältnisse häufig (bewusst) ausgeblendet wurde. Zumindest in einigen Staaten konnten sich im Nationalstaat Rechtsstaatlichkeit (d.h. die Rechtsförmigkeit der Ausübung von Herrschaft) und Solidarität (die u.a. zur wechselseitigen Befähigung zum Nutzen der Verfahren und Strukturen notwendig ist [Brunkhorst 2002: 79-110]) durchsetzen sowie kollektive Projekte verfolgt werden, in denen gemeinsame Ziele zur Realisierung kamen. Dieser Zusammenhang mit dem modernen Staat kann – bei aller Ablösbarkeit legislativer Verfahren von konkreten exekutiven und judikativen Institutionen, wofür schon die unterschiedlichen Varianten des Zuschnitts der Gewaltenteilung und der Kompeten-

–––––––––––––– 82

Vgl. zur Kritik an höherstufiger Volkssouveränität Niederberger 2007c: 116118.

3.2 Legitimität durch Volkssouveränität

167

zen, die damit einhergehen, sprechen – in der Theorie der Volkssouveränität nicht ohne Weiteres aufgegeben werden. Denn der Vorrang der Gesetzgebung vor der Umsetzung und deren Überprüfung hängt wesentlich daran, dass Institutionen, wie sie erst in modernen Staaten entwickelt wurden, eingerichtet und in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Dies zeigt sich v.a. dann, wenn man Diskussionen über die Revision der Volkssouveränität betrachtet, die sich nur auf Verfahren der Gesetzgebung konzentrieren und dabei weitgehend außer Acht lassen, dass neue Gestalten der Gesetzgebung nicht per se garantieren, dass die Resultate dieser Verfahren auch wirklich in Handlungskontexten um- und durchgesetzt werden. Im Volkssouveränitätsmodell kann die Legitimität der Ausübung von Herrschaft sich nicht darauf beschränken, dass diese Ausübung irgendwie mit Verfahren der Gesetzgebung verbunden ist, in denen Bürger ihre Freiheit ausüben, sondern es muss in einer gewaltenteiligen Struktur sichergestellt sein, dass die Resultate der Gesetzgebung der ausschließliche Grund für exekutives Handeln und dessen judikative Kontrolle ist. Volkssouveränitätstheorien sind dabei bislang den Beweis schuldig geblieben, dass diese Konstitution von Herrschaftsausübung durch den Souverän, der sich in legislativen Verfahren äußert, jenseits der Staatsform denkbar ist. Modelle der Volkssouveränität leiden darunter, dass sie bei dem Versuch, die Möglichkeit ihrer Realisierung nachzuweisen, aus dem Blick verloren haben, welchem Zweck politische Freiheit dient oder dienen soll. Die Universalisierung politischer Freiheit macht nur Sinn, wenn sie sich nicht auf formale Teilhabe beschränkt (etwa im Sinn potentiell unendlicher Inklusion in legislativen Verfahren), d.h. wenn klar wird, welchen Unterschied die Teilhabe an den Verfahren, die die Grundlage für die Herrschaftsausübung abgeben, für die (soziale) Welt macht, in der alltäglich gehandelt wird (Sen 2000: 180-195). Legitimitätstheorien, die derzeit prominent sind und bestreiten, dass der Teilhabe ein signifikanter Wert für die Legitimität von Herrschaft zukommt, profitieren von dieser Unbestimmtheit der Volkssouveränitätstheorie, indem sie die Betonung der Partizipation mit dem Formalismus der Ausübung von Freiheit in der politizistischen Legitimitätstheorie

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3. Normative Theorien legitimer Herrschaft II

gleichsetzen.83 Es ist daher wenig überraschend, dass der dritte freiheitstheoretische Ansatz einer Bestimmung legitimer Herrschaftsausübung damit beginnt, den Sinn der Freiheit bzw. den Sinn des Zusammenhangs von Handeln und Freiheit erneut zu betrachten, um von dorther die Leistungen der Volkssouveränitätstheorie aufzugreifen und im notwendigen Maß zu revidieren.

–––––––––––––– 83

Vgl. dazu etwa die Kritik an der Theorie der deliberativen Demokratie und anderen Theorien demokratischer Partizipation bei Majone 1998, Moravcsik 2002 und Moravcsik 2004.

4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III: Legitimität durch „Nicht-Beherrschung“ Die Erörterung zweier zentraler Theorien, die beabsichtigen, die Legitimität von Herrschaft allein unter Bezug auf die Ausübung von Freiheit in der Politik zu explizieren, hat gezeigt, dass es ihnen letztlich nicht gelingt zu erweisen, warum politische Freiheit wirklich alles sein kann und sollte, was in der Bestimmung der (Kriterien für die) Legitimität der Herrschaftsausübung zählt. Menschliche Existenz lässt sich nicht auf „Partizipation in der Politik“ beschränken, sondern die Bedeutung der Politik ist notwendig in einen umfassenderen Lebensvollzug eingebettet und hängt von den Möglichkeiten ab, die sich dabei bieten. Eine Politik, die jenseits der Gewähr der Bedingungen, die es erlauben, an ihr teilzuhaben, wenig oder nichts zu bieten hat oder zumindest garantieren kann, vermag die allgemeineren Ansprüche auf Chancen und Ressourcen nicht zu erfüllen, die zum Verfolgen von Handlungsplänen in unterschiedlichen Kontexten erforderlich sind. Dies bedeutet, dass Handelnde ihre Handlungszusammenhänge nicht nur im Licht politischer Verfahren und Strukturen betrachten und bewerten, die zu ihrer Einrichtung und Aufrechterhaltung geführt haben bzw. führen. Die weitere Perspektive der Handelnden spricht dafür, das Anliegen der Gerechtigkeitstheorie erneut aufzugreifen. Dabei darf diese erneute Annäherung aber nicht ohne Weiteres den Vorbehalt gegenüber der Gerechtigkeitstheorie vernachlässigen, dass sie die Möglichkeit, dass ihre Kriterien paternalistisch geoder missbraucht werden, nicht nur nicht verhindern, sondern v.a. nicht angemessen thematisieren kann. Und es kann auch keine Option sein, die Untersuchung der Auswirkungen, die Entscheidungen, Regulierungen und Maßnahmen in der (sozialen) Welt haben, unter dem Titel der Gerechtigkeit neben die Ausübung politischer Freiheit zu stellen, um dann darauf zu vertrauen, dass sich

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Akteure und Institutionen in kritischen Fällen (d.h. in den Fällen, in denen die Umsetzung dessen, was in Ausübung politischer Freiheit beschlossen wurde oder werden könnte, zu ungerechten Verhältnissen führen würde) auf die Gerechtigkeit beziehen. Denn die Auseinandersetzung mit den Gerechtigkeits- und Freiheitstheorien hat demonstriert, dass Situationen antizipierbar sind, in denen über den Vorrang von Gerechtigkeits- oder Freiheitsansprüchen entschieden werden muss und die Entscheidung aus keinem der beiden normativen Bezugspunkte einfach folgt. Es soll daher zum Abschluss des Durchgangs durch die verschiedenen Legitimitätstheorien ein weiteres Modell ins Spiel gebracht werden, das die überzeugenden Elemente, wenn auch z.T. in signifikant modifizierter Form, beider unterschiedlichen Stränge der Legitimitätstheorie, die bislang betrachtet wurden, miteinander verbindet. In diesem Modell wird Freiheit als primäre normative Grundlage für die Bestimmung der Legitimität von Herrschaft begriffen, dabei aber so verstanden, dass sie sich auf politische Verfahren und Strukturen ebenso bezieht wie auf die Handlungskontexte, die Gegenstand oder Ziel der Verfahren/Strukturen sind, und d.h. auf die Interessen und Projekte, die Handelnde verfolgen wollen. „Handeln zu wollen“ beinhaltet (implizit oder explizit) „frei sein zu wollen, die Handlung auszuführen“, und dies führt notwendig (im Sinn rationaler Argumentation) dazu, die Ausübung oder Ausübbarkeit politischer Freiheit als letztes Geltungskriterium für die Legitimität von Herrschaft anzustreben. Gleichzeitig wird aufgrund der Rückbindung der Ausübung politischer Freiheit an das Handeln schlechthin die Idee der „Aufhebung“ jeglicher Freiheit bzw. Freiheitsansprüche in politischer Freiheit zurückgewiesen. Die politische Freiheit bleibt somit auf einen umfassenderen Freiheitsbegriff verwiesen, wie er von der Gerechtigkeitstheorie artikuliert wird (und d.h. auch auf einen weniger bzw. in anderer Weise formalen Freiheitsbegriff, als er sich in der politizistischen Freiheitstheorie, aber z.T. auch in der Volkssouveränitätstheorie findet). Der Gestalt, die außerpolitische Handlungsver-

4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

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hältnisse als Resultat politischer Verfahren und Strukturen annehmen, kommt so großes Gewicht zu.1 Ein wesentlicher Bezugspunkt für dieses alternative Modell einer Legitimitätstheorie, die auf der Freiheit beruht, ist der „neorömische Republikanismus“, den verschiedene Autoren seit den siebziger Jahren historisch, aber auch systematisch für die aktuelle politische Philosophie herausgearbeitet haben.2 Die Bezeichnung nimmt die Unterschiede zwischen dem „Politizismus“ der athenischen Demokratie (d.h. der Betonung, dass die Bürger tugendhaft in die Angelegenheiten der Polis involviert sein und an den Beratungen auf der agora teilhaben sollten) einerseits und der Bedeutung des Rechts und der Form der Selbstgesetzgebung im Römischen Imperium (bzw. der stilisierten Aufnahme Roms im Denken der Renaissance v.a. bei Machiavelli) andererseits auf. In der vorliegenden Darstellung des Modells wird aber insbesondere hinsichtlich der Frage der Bedingungen, unter denen Bürger positiv die Gestalt sowie die Projekte und Ziele des politischen Gefüges bestimmen können, über die Ausführungen wesentlicher Vertreter des neo-römischen Republikanismus hinausgegangen und die Kontinuität zum Volkssouveränitätsmodell unterstrichen.

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2

Zuvor wurde zur Unterscheidung zwischen dem Freiheitsbegriff liberaler Gerechtigkeitstheorien und demjenigen republikanischer Freiheitstheorien auf die doppelte Rolle der Freiheit in der Gerechtigkeitstheorie verwiesen, d.h. auf die Freiheit als Ausgangspunkt (in der Form der Kontingenz von Interessen) und als Resultat (in der Form gleicher Räume freien Handelns). Die nachfolgende Argumentation wird zeigen, dass das republikanische Modell, das nun diskutiert wird, zwar auch von „vorpolitischen“ Interessen etc. ausgeht, diese aber nicht als Ausdruck individueller Willkürfreiheit deutet, sondern vielmehr in Abhängigkeit von politischen und sozialen Strukturen sieht, weshalb die außerpolitische Freiheit grundsätzlich im Licht der Resultate erörtert wird, die politische Entscheidungen haben. Gegen die Linearität sowohl der Gerechtigkeitstheorien wie auch der bisher präsentierten Freiheitstheorien wird so ein zirkuläres Modell gesetzt. Vgl. zur Kritik am umfassenderen Freiheitsbegriff bzw. an dessen gleichzeitigem Bezug auf Verfahren und Strukturen sowie auf außerpolitische Verhältnisse Ferejohn 2001: 83-84. Zur Genese der Bezeichnung und historischen Autoren im Hintergrund vgl. Pocock 2003, van Gelderen/Skinner 2002a/b und Pettit 1999: 166-167. Hier wird die Bezeichnung ohne weitere Begründung, aber auch ohne systematische Implikationen aufgegriffen, um ein Schlagwort für die Position einzuführen.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Die Präsentation dieser Legitimitätstheorie durchläuft im Folgenden vier Schritte: Im ersten Schritt wird der kantische Ausgangspunkt bei transzendentalen vernunftrechtlichen Implikationen von Handlungsabsichten zur allgemeineren Perspektive des Bezugs von Intentionen auf den sozialen Zusammenhang erweitert. So können einige der individualistischen und z.T. selbst egoistischen Prämissen von Gerechtigkeitstheorien problematisiert und überwunden werden, ohne dass dazu schon ein Übergang von „vermeintlicher“ zu „wahrer“ Freiheit vorgenommen werden muss (4.1). Im zweiten Schritt wird eine stärkere Differenzierung zwischen der positiven und der negativen Dimension von Freiheit vorgeschlagen, als sie für die Modelle von Belang war, die bisher vorgestellt wurden. Dies führt zu unterschiedlichen Ansprüchen hinsichtlich der positiven Ausübung und der negativen Absicherung von Freiheit (4.2). Der dritte und zentrale Schritt übersetzt diese Differenzierung zwischen den zwei Dimensionen der Freiheit mit dem Begriff der „Nicht-Beherrschung“ in den Bereich der politischen Verfahren und Strukturen (4.3). Im vierten Schritt wird schließlich die besondere Rolle des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit für die Gewährleistung und Absicherung der Freiheit als Nicht-Beherrschung untersucht, wobei das Recht als allgemeiner Code, Konstitutionalismus und Gewaltenteilung im Mittelpunkt stehen (4.4). Daraus ergeben sich schließlich Nachfragen zur Tragfähigkeit dieses freiheitstheoretischen Modells für eine Integration der Ansprüche auf Freiheit und Gerechtigkeit in der legitimen Ausübung von Herrschaft (4.5).

4.1 Zur sozialen Dimension von Handlungsintentionen Ausgangspunkt der Argumentation für den revidierten Republikanismus ist eine Beschreibung vorpolitischer Intentionen, Handlungen und Handlungskontexte, die sich der Gegenüberstellung von Individualismus und Gemeinschaftsbezug in Handlungen bzw. Handlungsabsichten entzieht, mit der häufig operiert wird und auf die auch die vorstehenden Abschnitte z.T. rekurrierten. So wird etwa v.a. in liberalen und libertären Gerechtigkeitstheorien mit kontingenten Interessen an Handlungen angehoben, die

4.1 Zur sozialen Dimension von Handlungsintentionen

173

sich der Willkürfreiheit derjenigen verdanken, die handeln oder zu handeln beabsichtigen, und die dann in gleicher Freiheit bzw. gleichen Freiheitsräumen realisiert werden. Freies Handeln ist dieser Auffassung nach so zu verstehen, dass Handelnde selbst (aus welchen Gründen oder Motivationen auch immer) darüber entscheiden, welche Ziele sie in ihren Handlungen verfolgen und wie sie diese Ziele realisieren wollen. Andere Handelnde kommen ausschließlich als Randbedingungen ins Spiel, die quasi natürlich kalkulierbar sind bzw., als Resultat von Herrschaftsausübung, sein sollten. Die republikanischen Freiheitstheorien, wie sie v.a. bei Arendt und Rousseau zu sehen waren, weisen diese individuelle und vorpolitische „Freiheit“, kontingente Interessen zu entwickeln und im Handeln zu verfolgen, als letztlich „unfrei“ zurück und behaupten demgegenüber, dass „wahre“ Freiheit allein im politischen Handeln realisierbar ist. Erst hier befinden sich die Handelnden in einer Position, in der sie tatsächlich über die Konstitution der Verhältnisse entscheiden (können), die ihre Handlungen bzw. deren Erfolg bedingen. Im kantischen Republikanismus zeichnet sich schon eine Alternative zu diesen Verortungen der Freiheit entweder im Individuum oder in der Politik ab, indem das transzendentale interne Bedingungsverhältnis von Handlungszielen einerseits und politischer Freiheit andererseits ins Zentrum gerückt wird. Jeder Anspruch auf (äußere) Freiheit verweist damit per se auf die Politik, diese muss aber nicht einfach als distinkt von sonstigen Handlungsräumen begriffen werden (auch wenn viele im „rousseauistischen“ Anschluss an Kant dies so verstehen). Das kantische Bedingungsverhältnis wird in der Variante des Republikanismus, die nun untersucht wird, aufgegriffen und zugleich die Perspektive erweitert, die es eröffnet. Es ist nämlich zu konstatieren, dass außerpolitische Handlungsabsichten sich schon inhaltlich (d.h. bevor sich die Frage nach der Freiheit bzw. der Berechtigung, eine Handlung auszuführen, überhaupt stellt) nur selten nur auf denjenigen beziehen, der zu handeln beabsichtigt. Kant macht deutlich, dass Absichten Implikationen derart haben, dass vom Handelnden vorausgesetzt werden muss, dass es ein Recht auf und die Möglichkeit zur Durchführung der Handlung gibt. Mit Blick auf andere Handelnde bedeutet dies, dass ihnen un-

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

terstellt wird oder werden kann, dass diese den Erwartungen entsprechen (werden), die sich v.a. auf die Nichtver- und -behinderung des Handelnden richten, also v.a. negativer Natur sind.3 Handlungen lassen sich aber noch grundsätzlicher gewöhnlich nicht so verstehen, dass sie allein das Handeln und Leben eines Individuums betreffen. Sie implizieren vielmehr oft Erwartungen an positive Anschlusshandlungen anderer (etwa indem diese durch die Handlungen zu anderen Handlungen motiviert werden sollen, die Handlung sich in eine Handlungskette einzufügen beabsichtigt oder auf ein Projekt abzielt, das nur in Kooperation realisierbar ist) bzw. sie ergeben sich aus der Wahrnehmung von Handlungskontexten und Optionen oder Gewohnheiten, die die Kontexte vorsehen. Handlungsabsichten treten oft in der Form von „kollektiven“, „geteilten“ (joint/shared intentions) oder „Wir-Intentionen“ (we intentions) auf, d.h. ihr Wert und ihre Bedeutung ergibt sich aus der Funktion oder dem Sinn, die Handlungen für einen und in einem kollektiven Zusammenhang haben (sollen oder können).4 Die Rede von „kollektiven Intentionen“5 erfordert keine Ontologisierung von Gemeinschaften, die eigene Ziele und Intentio-

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5

Es wird sich im Kap. 4.2 zeigen, dass die Unterscheidung zwischen „negativen“ und „positiven“ Erwartungen bzw. Freiheiten kompliziert ist. In Vorwegnahme von Kritiken der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit kann mit Blick auf den kantischen Gedanken gesagt werden, dass die „Nichtverhinderung“ durchaus heißen kann, dass jemand bis zu einem gewissen Grad unterstützend beteiligt ist. Wichtig ist aber, dass bei Kant andere nicht notwendig als solche in die Handlungsabsicht einbezogen sind (was bei ihm allerdings auch nicht ausgeschlossen ist), sondern als Faktor für den Erfolg einer individuellen und auf das Individuum bezogenen Handlung begriffen werden (insofern andere anerkennen müssen, dass der Handelnde berechtigt ist, die Handlung auszuführen). Vgl. zum Begriff der „joint intention“, wie er hier und im Folgenden gebraucht wird, Richardson 1997, Richardson 2002: 163-169 sowie überblicksartig French/Wettstein 2006. Der Ausdruck „kollektive Intentionen“ wird hier summarisch für die Arten von Intentionen gebraucht, die zuvor erwähnt wurden und in einer ausführlichen Diskussion weiter zu differenzieren wären. Der Gebrauch ist damit nicht mit demjenigen zu verwechseln, der sich auf die Frage richtet, unter welchen Bedingungen Kollektiven Intentionen zuzuschreiben sind (vgl. dazu Pettit 2001b). Letztere Frage ist für den Verlauf und die Einrichtung von Verfahren

4.1 Zur sozialen Dimension von Handlungsintentionen

175

nen haben können, auch wenn die Existenz der Intentionen, die hier in ihrer Bedeutung für die politische Philosophie betrachtet werden, eventuell eine Bedingung dafür ist, dass Verhaltensmuster oder gemeinsame Handlungsweisen von Gemeinschaften (wissenschaftlich) beschreib- und beobachtbar sind (Bohman 1991: 146185; Pettit 1996: 111-214). Sie expliziert vielmehr den Sinn und die Genese von Intentionen und weist eine Vorstellung von ihnen zurück, die sie so versteht, dass sie sich nur auf ein singuläres Individuum und seinen Bezug zur natürlichen Welt beschränken lassen, die (selbst wenn andere Handelnde involviert sind) nicht akteurshaft, sondern instrumentell oder strategisch bzw. gemäß „Naturgesetzlichkeiten“ begriffen wird.6 Dagegen wird betont, dass Intentionen sowohl im Verständnis möglicher Handlungen, die einem Handelnden vor Augen stehen, wie auch hinsichtlich der Stellung dieser Handlungen in der Welt bzw. der „Reaktionen“ der „Welt“ auf die Handlungen auf soziale Kontexte bezogen sind, in denen immer schon im Plural, d.h. mit- und gegeneinander gehandelt wird und in die sich die neue Handlung einfügen soll.7 Intentionen werden nicht entwickelt und dann mit den Möglichkeiten in einem gegebenen, quasi-natürlichen Zusammenhang abgeglichen, sondern sie entstehen vor dem Hintergrund sozialer Zusammenhänge, in die Handelnde notwendig eingelassen sind und in denen sie wesentliche kognitive und praktische Kompetenzen inklusive der Semantiken von Handlungen erworben haben.

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relevant (Pettit 2001c) und hat für die Konstellation von Mehr- und Minderheiten eine gewisse Bedeutung, bleibt hier aber zunächst unbehandelt. Wenn der Ausdruck „kollektive Intentionen“ in diesem zweiten Sinn gebraucht wird, wird dies eigens kenntlich gemacht. In der Handlungstheorie sowie in weiten Teilen der Sozialphilosophie ist es unterdessen viel klarer, dass diese Darstellung von Handlungen und Absichten inadäquat ist, als in der politischen Philosophie. Vgl. zur Handlungsbeschreibung in der Sozialphilosophie etwa Joas 1992: 213-285. Mit Blick auf gängige Intersubjektivitätstheorien wirft dies die Frage auf, inwiefern in der Wahrnehmung einer Pluralität von Handelnden diesen Freiheit zugeschrieben wird und was aus einer solchen Freiheit – so sie denn zugeschrieben wird – für eine Theorie politischer Freiheit folgt. Untersucht werden damit verbundene Themen derzeit v.a. hinsichtlich der Zuschreibung von Verantwortung in Strafprozessen (Günther 2005).

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Intentionen müssen darüber hinaus zumindest in einigen Hinsichten bewusst sein (können), weshalb sie schon auf dieser Ebene auf eine (Sprach-)Gemeinschaft verweisen, in der Handlungen sowie Handlungs- und Reaktionsweisen sprachlich thematisiert werden können. Hinter den Handlungen steht – v.a. bei „komplexen Handlungen“ (im Unterschied zu Basis-Handlungen [Danto 1985]) – oft ein Wissen, das nicht nur in seiner (sprachlichen und kulturellen) Gestalt in und von einer Gemeinschaft entwickelt wurde, sondern das auch seinem Gehalt nach in relevanten Hinsichten auf die Gemeinschaft bezogen ist.8 Viele (soziale) Handlungen setzen die Kenntnis von Normen und Konventionen in der Gemeinschaft und z.T. selbst von den Gründen hinter Konventionen und Normen konstitutiv voraus, so dass die Teilbarkeit und die faktische Geteiltheit des allgemeinen Handlungswissens wichtige Prämissen dafür sind, dass Handlungen erfolgreich sein können. In Intentionen wird daher gewöhnlich unterstellt, dass andere Handelnde jederzeit nachvollziehen könnten, wie es zu der Intention gekommen ist und warum es sich um eine Intention handelt, die im Rahmen des sozialen Zusammenhangs akzeptabel ist (zu diesem Begriff sozialen und kommunikativen Handelns vgl. Habermas 1987a: 132-135 und Niederberger 2007a: 115-117). Schon vor diesem Hintergrund ist unmittelbar ersichtlich, dass und warum Handelnde ihre Intentionen nicht so begreifen können, dass sie allein auf sie selbst gerichtet sind, denn in der Form einer sprachlich bedingten Dezentrierung ist die Perspektive anderer auf eigene Handlungen immer schon mitberücksichtigt (wobei dieses „mitberücksichtigt“ nicht normativ im Sinn der Aufnahme der Interessen anderer zu verstehen ist, sondern formal als Be-

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Hiermit soll keine relativistische Sprachspiel- oder Vokabulartheorie für Handlungsverhältnisse nahe gelegt werden, wie sie Richard Rorty verteidigt (Rorty 1992: 21-51). Es soll dagegen darauf hingewiesen werden, dass v.a. soziale Handlungsverhältnisse z.T. Resultat (mehr oder minder) kontingenter Prozesse sind und keinen „natürlichen“ Notwendigkeiten folgen (wie John Searle, etwa in der Explikation der Möglichkeit von Restaurantbestellungen, insinuiert [Searle 1997]). Wenn man z.B. nicht weiß, wie in einem Kontext Konversationen begonnen werden, laufen Handlungen Gefahr zu scheitern, bei denen Informationen nahezu unerlässliche Bedingung für die Ausführung sind.

4.1 Zur sozialen Dimension von Handlungsintentionen

177

wusstsein, dass andere die Handlung wahrnehmen und von ihr eventuell affiziert sind). Die „kollektiven Intentionen“ verweisen auch der intendierten bzw. in den Intentionen vorausgesetzten Gemeinschaft nach9 nicht notwendig (und eventuell überhaupt nur im Ausnahmefall) auf eine ontologisch hypostasierte Gemeinschaft. Sie richten sich grundsätzlich auf verschiedene Weise auf die Gemeinschaft bzw. andere Handelnde: So können sie singuläre bzw. individuelle Ziele betreffen, Kooperation10 positiver (d.h. z.B. Unterstützung anderer) oder negativer (d.h. z.B. die Nichtbehinderung durch andere) Natur voraussetzen. Sie können aber auch kollektive Ziele oder Projekte auszeichnen, die entweder gemeinsame Ziele bzw. Güter (also etwas, das für alle gut oder erstrebenswert ist bzw. sein sollte) oder eine Konstellation individueller Ziele sind. Und schließlich können sie direkt die Verhältnisse anvisieren, die den sozialen Zusammenhang ausmachen. Wichtig ist dabei, dass in den verschiedenen Intentionen die anderen gewöhnlich nicht nur „äußerlich“ von Handlungen affiziert, also von einer Einwirkung von außen betroffen sind. Die Intentionen richten sich vielmehr immer auch auf die Motivationen und Ziele der anderen bzw. deren Verständnisse von Handlungen und Handlungsweisen, die zulässig und unzulässig, sinnvoll und weniger sinnvoll bzw. unsinnig sind. Die Handlungen haben somit – der Intention nach – nicht nur Auswirkungen auf die anderen, sondern sie beziehen in vielen Fällen andere bzw. deren Handlungen, Handlungsweisen und Absichten mit ein. Diese Neubeschreibung als solche könnte allein im Bereich der Handlungstheorie oder der Sozialphilosophie verbleiben und

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Der Unterschied zur Zurückweisung, die zuvor vorgenommen wurde, besteht darin, dass die erste Zurückweisung demonstriert hat, warum das Argumentieren mit „kollektiven Intentionen“ keine ontologische Hypostasierung der Gemeinschaft voraussetzt, während der folgende Abschnitt zeigt, warum auch die Unterstellung in den Intentionen selbst nicht so zu verstehen ist, dass die Handelnden die Existenz der Gemeinschaft als einer eigenen ontologischen Entität annehmen müssen. In der unterstellten „Kooperation“ liegt der wesentliche Unterschied zur geteilten Rechtsordnung, die laut Kant in der Handlungsplanung und -ausführung vorausgesetzt werden muss.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

hätte somit keine direkten Auswirkungen auf eine Theorie legitimer Herrschaft. Denn es ist zunächst nicht evident, warum die normative Untersuchung der politischen Ordnung sich nicht auf ein enges und individualistisches Verständnis von Intentionen und Handlungen konzentrieren sollte. Eine solche Nichtbeachtung ist aber angesichts des Ziels von Herrschaft, Handlungsverhältnisse zu konstituieren, zu kontrollieren und zu erhalten, nicht angemessen, da so sowohl das Potential für politische Interaktionen bzw. Freiheitsausübung, das sich in Absichten etc. abzeichnet, nicht genutzt würde, aber auch die Schwierigkeiten, die sich in Sozialverhältnissen stellen, nicht adäquat thematisiert würden. Die Tatsache, dass Absichten nicht streng individualistisch zu verstehen sind,11 bedeutet, dass die Verhältnisse, die in der und durch die Herrschaft etabliert und kontrolliert werden sollen, mehr erfordern als die bloße Relationierung der verschiedenen Handelnden und ihrer Handlungsräume, wie sie zu Beginn im Anschluss an Weber beschrieben wurde. Die Handlungsverhältnisse müssen selbst so gestaltet sein, dass sie „gemeinschaftliches Handeln“ in den zuvor genannten Dimensionen erlauben und ermöglichen, wenn sie sich nicht ausschließlich auf individualistische Absichten richten und das Verfolgen „kollektiver Intentionen“ in der Perspektive streng individuellen Handelns begreifen wollen. Einer solchen Beschreibung „kollektiver Intentionen“ steht grundsätzlich nichts im Weg, sie leitet die Betrachtung aber in die Irre, wenn jede Kooperation als explizite Leistung begriffen werden muss, die über den basalen Egoismus und Egozentrismus hinausgeht. Für die politischen Verfahren ergibt sich daraus einerseits, dass die Argumentation der republikanischen Modelle dafür, auf die bloße Aggregation von Interessen zugunsten der Deliberation

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Hierbei ist es wichtig, erneut darauf hinzuweisen, dass die Einführung „kollektiver Intentionen“ zunächst keine normativen Implikationen hat, d.h. es soll nicht ein Kommunitarismus qua Handlungsbeschreibung eingeführt werden. Es kann durchaus sein, dass die Absichten, von denen hier die Rede ist, z.B. egoistisch sind, d.h. v.a. dem Handelnden selbst zu Nutze kommen sollen. Selbst diese Absicht setzt aber eine Wahrnehmung und Bezugnahme auf einen sozialen Zusammenhang voraus, in dem egoistisches Handeln erfolgreich sein kann – und nur auf diese Wahrnehmung kommt es hier an.

4.1 Zur sozialen Dimension von Handlungsintentionen

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zu verzichten, weitere Gründe anführen kann, die diesen Übergang plausibilisieren. Handelnde müssen den Bezug zu anderen nicht erst hervorbringen, etwa in der politischen Interaktion, sondern er liegt für sie in der Generierung ihrer Absichten und Handlungen immer schon nahe. Andererseits kompliziert sich aber auch das Bild der Deliberation, wenn zu berücksichtigen ist, dass Gemeinschaftlichkeit in der Deliberation nicht erst gefunden oder erzeugt wird, sondern Bezugnahmen darauf vermittels der „kollektiven Intentionen“ immer schon im Spiel sind. So ergeben sich zweifelsohne weitere Überlegungen zur Durchführung der deliberativen Gesetzgebungsverfahren bzw. zu demjenigen, was in den Verfahren in welcher Weise beraten wird und werden kann. Mit diesem letzten Punkt wird eine noch wesentlichere neue Dimension eingeführt, die bislang von keiner der untersuchten Theorien in den Blick genommen wurde: Handlungsverhältnisse tangieren Handelnde nicht ausschließlich und eventuell nicht einmal primär im Modus der Einschränkung oder Gewährleistung grundlegender, rein individueller Optionen. Sie greifen vielmehr entscheidend in den allgemeinen Lebensvollzug derjenigen ein, die jeweils von der Herrschaftsausübung betroffen sind. Qua Bezug auf die sozio-politische Gemeinschaft, auf die sich die Handlungsabsichten, wie auch zumindest ein Teil der politischen Entscheidungen und Regulierungen richten, werden Handlungsverhältnisse etabliert, die denjenigen, die davon betroffen sind, nur wenige Möglichkeiten lassen, diese zu umgehen und eventuell zu modifizieren. So erzeugen z.B. bildungspolitische Entscheidungen nicht nur revidierbare Curricula, sondern auch Institutionen, wie Schulen und Schulämter, in denen Bildung vermittelt wird, sowie weitere Institutionen, wie Universitäten, in denen Lehrer ausgebildet werden, bzw. Einrichtungen, die das Funktionieren der ersten und zweiten Institutionen kontrollieren. Auch unter solchen Voraussetzungen können alternative Vorstellungen entwickelt und in der Beratung zur Geltung gebracht werden. Es wäre aber illusorisch, erstens zu unterstellen, dass diese Vorstellungen nicht selbst durch die bestehenden Verhältnisse geprägt sind, und zweitens anzunehmen, dass Entscheidungen über zukünftige Regulierungen oder Ziele allein mit Blick auf diese und nicht auch unter Berücksichti-

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

gung der „Kosten“ getroffen werden, die eine Revision der existierenden Strukturen nach sich ziehen würde. Selbst wenn es also denkbar ist, an einem Nullpunkt Institutionen und Strukturen erst zu etablieren, so ist diese Perspektive doch gewöhnlich nicht oder nur in beschränktem Maß verfügbar. Hinzu kommt, dass Strukturen und Institutionen, wenn sie einmal eingerichtet sind, ein Eigenleben entwickeln (das nicht einfach als erneute Vermachtung, d.h. als Rückkehr eines Machtverhältnisses im Zug der Aneignung der Institutionen durch Einzelne zu verstehen ist), das in dieser Weise in den Verfahren nicht antizipierbar war und aufgrund der kognitiven Vorteile mit Blick auf den Betrieb der Einrichtungen nur schwer wieder vollständiger Kontrolle zu unterwerfen ist. Die Untersuchung der Intentionen, die Handelnde in ihren sozialen Handlungen verfolgen, zeigt also mindestens drei Dinge, die für die Bestimmung der Legitimität der Herrschaftsausübung relevant sind, die sich auf die Verhältnisse richtet, in denen die Handlungen durchgeführt werden (können sollen): Erstens beziehen sich viele Intentionen auf kollektive Handlungsverhältnisse, womit der (nicht-normative) Bezug auf andere (Handelnde) nicht als Leistung verstanden werden muss, die über den basalen Egoismus hinausgeht. Zweitens machen es solche „kollektiven Intentionen“ schwieriger, das Etablieren, Erhalten und Kontrollieren von Handlungszusammenhängen zu denken, da nicht nur Freiräume voneinander abgegrenzt werden müssen, sondern auch die Koordination von Handlungen zu erreichen ist, die nur im Zusammenspiel ihr Ziel erreichen können. Drittens lassen sich unter solchen Bedingungen Handlungsverhältnisse nicht so verstehen, dass sie wesentlich regulieren. Sie greifen vielmehr konstituierend in die Genese von Absichten und Handlungen ein.

4.2 Freiheit zwischen positiver Ausübung und negativer Absicherung Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der Freiheitsbegriff der bislang erörterten Gerechtigkeitstheorien und Theorien politischer Freiheit zu kurz greift. Beide Freiheitsbegriffe sind angesichts der Strukturen und Institutionen, die (potentiell) durch die

4.2 Freiheit zwischen Ausübung und Absicherung

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und in der Herrschaftsausübung etabliert werden, zu wenig komplex angelegt. Denn weder die Perspektive gleicher, voneinander abgegrenzter Freiheitsräume, die kontingent genutzt werden, noch diejenige gleicher Teilhabe(möglichkeiten) an der Ausübung politischer Freiheit bietet einen Freiheitsbegriff, der das Operieren und die Auswirkungen der Strukturen und Institutionen hinreichend zu bestimmen und zu bewerten erlaubt. Das heißt nicht, dass diese Freiheitsbegriffe ihren Sinn völlig verlieren, sie sind aber im Licht der Verhältnisse weiter zu entwickeln, denen Handelnde in der Tat ausgesetzt sind und auf die sie sich in der Entwicklung und Ausführung ihrer Handlungen gewöhnlich immer schon und auch beziehen. Dabei ist das Bild in verschiedenen Hinsichten komplexer zu fassen: Es muss erstens untersucht werden, was die neue Dimension von Handlungsverhältnissen für politische Verfahren bedeutet, d.h. in welcher Form sie antizipieren und strukturieren können, dass Handelnde nicht nur in ein einander äußerliches Verhältnis gesetzt werden, sondern ihre Handlungen zumindest z.T. direkt aufeinander bezogen sind und aneinander anschließen. Zweitens muss erörtert werden, wie mit der eigentümlichen Realität und Eigendynamik von Strukturen und Institutionen (im Sinn von deren konstitutiver Kraft) umzugehen ist und was dies für die Gewaltenteilung bedeutet. Es muss also hinsichtlich der gemeinsamen Autorenschaft, wie sie z.B. die Volkssouveränitätstheorie als Legitimitätskriterium einführt, betrachtet werden, wie diese trotz oder gerade aufgrund der besonderen Verfassung der Strukturen und Institutionen als Ausgangs- und in wesentlichen Hinsichten entscheidender Bezugspunkt sichergestellt werden kann oder modifiziert werden muss. Drittens schließlich muss die besondere Form der Macht oder Herrschaft betrachtet und thematisiert werden, die durch das Verhältnis zwischen den Institutionen bzw. Strukturen und den Handelnden ins Spiel kommt. Bevor gezeigt werden kann, dass diese drei Hinsichten im Ausgang von einem einzigen Freiheitsbegriff im Rahmen einer politischen Ordnung behandelt werden können, soll zunächst mit Hilfe der Unterscheidung einer negativen und einer positiven Dimension der Freiheit erläutert werden, inwiefern überhaupt Freiheit im Spiel ist bzw. sein kann.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Es wurde zuvor schon angedeutet, dass die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit umstritten ist. Dies liegt daran, dass sich in der vermeintlich unkomplizierteren Bestimmung negativer Freiheit zeigt, dass diese nicht so „negativ“ ist oder sein kann, wie es zunächst scheint, sondern durchaus in Abhängigkeit von „positiven“ Leistungen oder Zuständen steht. Zugleich haben Verteidiger des Republikanismus die Behauptung zurückgewiesen, diese Tradition sei auf ein positives Ideal kollektiver Selbstbestimmung ausgerichtet, das – falls nötig – die Sicherung negativer, individueller Freiheit zu vernachlässigen erlaube. Die jüngere Diskussion über die Differenzierung von negativer und positiver Freiheit wird im Anschluss an Isaiah Berlins Artikel Two concepts of liberty geführt,12 der allerdings schon als solcher an einigen Unklarheiten leidet, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass so zahlreiche Autoren den Sinn der Unterscheidung bestreiten. Sieht man von dem politischen Subtext dieser Diskussion ab, die, wie Vivienne Brown schreibt, sich weniger um zwei Freiheitsbegriffe als um alternative „Freiheitsdiskurse“ dreht (Brown 2001: 60), dann zeigt sich, dass die Unterscheidung der beiden Freiheiten bzw. Freiheitsdimensionen sinnvoll und notwendig ist. Denn nur im Ausgang von ihr kann ein adäquater und interessanter Freiheitsbegriff entwickelt werden, der auf die Komplikationen reagiert, die der Verweis auf die „kollektiven Intentionen“ nach sich zieht. Dabei kann es durchaus sein, dass es aufgrund der Gefahr der Verwechslung mit Positionen in der vorgenannten Diskussion besser ist, schließlich auf die terminologische Unterscheidung zwischen den beiden Freiheitsdimensionen zu verzichten. Grundsätzlich steht hinter der Unterscheidung die Idee, Freiheit als Nichtbehinderung oder Nicht-Interferenz (negative Freiheit) von der Frei-

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„I am normally said to be free to the degree to which no man or body of men interferes with my activity.“ (Berlin 1969: 122) „The ‚positive’ sense of the word ‚liberty’ derives from the wish on the part of the individual to be his own master. I wish my life and decisions to depend on myself, not on external forces of whatever kind.“ (Berlin 1969: 131) Der klassische Text von Berlin wird hier im Original zitiert, da die existierende deutsche Übersetzung gravierende Mängel aufweist.

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heit abzuheben, etwas (nach eigenem Gutdünken) tun zu können (positive Freiheit). Negative Freiheit enthält daher keine Aussage dazu, was eine Person wirklich zu tun vermag bzw. unter bestimmten Umständen tun wird, sondern eher dazu, was andere Personen und Strukturen nicht tun werden, um die erste Person am Handeln zu hindern. Die Bestimmung positiver Freiheit muss dagegen die spezifischen Projekte einer Person in den Blick nehmen, um darzulegen, unter welchen Bedingungen und in welchem Maß sie frei ist oder nicht. Beide Freiheiten lassen graduelles Bestehen von Freiheit zu, aber nur negative Freiheit kennt den Grenzfall absoluter Freiheit, während der Grad positiver Freiheit immer relativ zu den Zielen und Projekten bleibt, die eine Person oder eine Gruppe verfolgt. Viele Theorien in der politischen Philosophie gehen davon aus, dass, bei allen Differenzen in der Bestimmung der Voraussetzungen, negative und positive Freiheit zwei Seiten derselben Medaille sind. Unter dem Titel der „negativen Freiheit“ wird folglich der Freiheitsraum bzw. die Abwesenheit von Beeinflussung/Beschränkung beschrieben, die dann in Ausübung positiver Freiheit genutzt werden können. Dabei kann sich diese Kombination von negativer und positiver Freiheit sowohl, etwa in der Perspektive einiger Gerechtigkeitstheorien, auf die vorpolitische Welt oder, wie in republikanischen Theorien, auf die politischen Verfahren beziehen.13 Die Gedankenfigur, die dabei zur Anwendung kommt, sieht die negative Freiheit als notwendige Bedingung für die Möglichkeit positiver Freiheit, wozu dann weitere, hinreichende Bedingungen hinzukommen müssen. Eine solche Vorordnung der negativen Freiheit vor die positive Freiheit hat zudem den Vorteil, dass

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Es wird hier zum Zweck der Klarheit der Argumentation unterstellt, dass Gerechtigkeits- und Volkssouveränitätstheorien mit Unterscheidungen zwischen negativer und positiver Freiheit operieren, auch wenn gerade diese Theorien oft die Unterscheidung unter Verweis auf die genannte Unplausibilität der „Negativität“ der negativen Freiheit ablehnen. Wie der Grund für die Ablehnung zeigt, ist die Zuschreibung aber dennoch berechtigt, da in der nachfolgenden Argumentation für eine alternative Verhältnisbestimmung gezeigt wird, dass das Problem nicht in der Bestimmung der beiden Freiheiten liegt, sondern in der Weise, in der sie voneinander abhängig gemacht werden.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

die Vereinbarkeit der verschiedenen „Freiheiten“ gewährleistet werden kann. Denn aufgrund der Vorstellung der negativen Freiheit als eines Zustands, in dem niemand in die Entscheidungen und das Wirken eines Handelnden eingreift, ist diese Freiheit in ihrer Formalität ohne größere Schwierigkeiten generalisierbar. Positive Freiheit kann dann in den Bereich weiterreichender sozialphilosophischer oder ethischer Überlegungen und Verpflichtungen bzw. Leistungen verschoben werden, so dass sie im Kern der politischen Philosophie zwar formal präsent ist, aber nie inhaltlich gefüllt werden muss. Die Verschiebung kann auch damit einhergehen, dass die Betrachtung positiver Freiheit unter Distributionskriterien problematisiert oder umgangen wird, denn es ist grundsätzlich unklar, ob und welche Voraussetzungen zur Ausübung positiver Freiheit mit negativer Freiheit vereinbar sind. Geht man dagegen von den „kollektiven Intentionen“ und ihren Konsequenzen aus, dann wird diese Verhältnisbestimmung fragwürdig.14 Die Ausübung zumindest einiger relevanter Formen „positiver Freiheit“, in denen „kollektive Intentionen“ realisiert werden, setzt voraus, dass die Handlungen anderer Teil eines Handlungsgefüges sein können und faktisch sind. Dies würde aber – so denn die negative Freiheit aller als notwendige Bedingung für die positive Ausübung (einiger oder aller) von Freiheit verstanden werden soll – bedeuten, dass die positive Ausübung von Freiheit ihre Grenze bei den Bedingungen finden müsste, die sicherstellen, dass die negative Freiheit anderer besteht und bestehen bleibt. „Kollektive Intentionen“ dürften daher nur umgesetzt werden, wenn sie entweder im strikten Sinn Bedingungen für den Erhalt individueller Freiheitsräume sind oder aber der positiven Nutzung des Freiheitsraumes durch einen jeden Betroffenen entsprechen –

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Die Fragwürdigkeit beginnt für viele Autoren schon früher. Denn es ist wenig überzeugend, (negative) Freiheit auf das formale Moment der Nicht-Interferenz oder Nicht-Affiziertheit zu reduzieren (was notwendig ist, um einen allgemeinen Begriff negativer Freiheit formulieren zu können), da dieser Freiheit kaum ein Wert zuzuschreiben ist, wenn Handelnde über keinerlei Ressourcen verfügen, um mit der Nicht-Affiziertheit etwas anzufangen (Rawls 1998: 443451; van Parijs 1995: 60-61). Vgl. im Gegensatz dazu die Argumentation von Carter 1999 für den allgemeinen Wert der Freiheit.

4.2 Freiheit zwischen Ausübung und Absicherung

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also rein auf das jeweilige Individuum bezogene Handlungen oder Intentionen folglich auch als notwendigerweise (weil den Erhalt der Freiheitsräume betreffend) oder kontingenterweise (weil aus den jeweiligen positiven Nutzungen resultierend) zusammenstimmend beschrieben werden könnten. Eine solche Einschränkung der Ausübung positiver Freiheit bzw. des Verfolgens kollektiver Intentionen hätte aber zur Folge, dass ein Großteil der Intentionen grundsätzlich nicht in Frage kommen würde, da sie strukturell im Widerspruch zu dem stehen, was mit Blick auf die negative Freiheit gesichert werden soll, nämlich von den Handlungen anderer nicht affiziert zu werden. Die Überlegungen der Volkssouveränitätstheorie legen es nahe, das Dilemma, das sich abzeichnet, dadurch zu umgehen, dass die negative und die positive Freiheit unter Beibehaltung der Bedingtheit der positiven durch die negative Freiheit unterschiedliche Bezugspunkte bekommen und so prinzipiell nicht miteinander in Konflikt geraten können. Wie zuvor schon bemerkt wurde, verortet die Volkssouveränität beide „Freiheiten“ zunächst und wesentlich in den politischen Verfahren. Dabei werden sie so gedeutet, dass unter dem Titel der negativen Freiheit die Bedingungen erörtert werden, die es überhaupt zulassen, dass alle gleichermaßen an den Verfahren beteiligt sind, die Verfahren also Ausdruck der Freiheit aller sind. In Rousseaus Terminologie beschreibt die negative Freiheit daher die Nicht-Delegierbarkeit der Souveränität. Niemand darf in den Verfahren so von anderen beeinträchtigt werden, dass er sich nicht selbst zur Geltung bringen und d.h. dort Auffassungen, Projekte und Ziele anführen kann. Dabei kann durchaus der Kritik an der Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit Rechnung getragen und diese negative Freiheit so begriffen werden, dass sie die Ausstattung mit Ressourcen und Fähigkeiten impliziert, die nötig sind, um sich und seine Anliegen tatsächlich zur Geltung zu bringen. Im Unterschied zu dieser negativen Freiheit (eventuell mit positiven Ansprüchen) richtet sich die positive Freiheit dagegen primär auf dasjenige, was in den und durch die Verfahren ermöglicht wird, d.h. auf die Tatsache, dass als Resultat der politischen Strukturen Handlungsverhältnisse etabliert und aufrechterhalten werden können und diese Verhältnisse

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

allein auf den politischen Strukturen aufruhen. Die negative Freiheit kommt so im Rahmen der sozialen Handlungsverhältnisse, die in positiver Ausübung von Freiheit geschaffen werden, nur derart ins Spiel, dass letztere nicht die (negativen Bedingungen der) Teilhabe an den Verfahren gefährden dürfen. Abgesehen von der Spannung zwischen Freiheit und Gerechtigkeit (d.h. der Frage, ob die Teilhabe an den Verfahren wirklich ein hinreichendes Kriterium für die Legitimität von deren Resultaten ist, für die Konsequenzen also, die diese für die Optionen der Einzelnen haben), die dabei, wie mehrfach erläutert, auftritt, ist auch freiheitstheoretisch nicht klar, ob sich die Linien so ziehen lassen, wie es nahe gelegt wird. Die Bestimmung der Bedingungen, unter denen jemand sich und seine Anliegen in den Verfahren zur Geltung zu bringen vermag, lassen sich nicht strikt von dem trennen, was in den Verfahren verhandelt und entschieden wird. Die Handlungsverhältnisse und die Probleme, die sich in ihnen stellen, erfordern z.T. andere Möglichkeiten der Artikulation etc., so dass jede Ausübung positiver Freiheit „Ausfallbürgschaften“ für diejenigen enthalten müsste, deren Möglichkeiten, sich zur Geltung zu bringen, durch Entscheidungen irgendwie affiziert würden. So würde aber die Attraktivität des Volkssouveränitätsmodells (mit Blick auf die Vereinbarkeit von negativer und positiver Freiheit) verspielt, da es gerade nicht mehr einfach die Konstitution von Handlungsverhältnissen zu denken erlauben würde, sondern immer zur Konstruktion und Bewertung komplexer Vorschläge und Regulationen bzw. der reflexiven Aufnahme von Resultaten früherer Regulationen führen würde. Die Vorschläge und Regulationen wären dabei komplex, da sie in allen Hinsichten, in denen potentiell die Teilhabe an Verfahren betroffen wird, das Aussetzen bzw. eine qualifizierte Anwendung der Vorschläge und Regulation vorsehen müssten. Die Alternative dazu wäre es, die Ausübung positiver Freiheit wesentlich zu restringieren, um zu verhindern, dass Teilhabemöglichkeiten zu stark beeinträchtigt werden. Es zeigt sich somit, dass die positive Ausübung von Freiheit nicht rein formal als ausschließlich ermöglicht betrachtet und allein auf der Seite der Resultate von Strukturen und Verfahren ver-

4.2 Freiheit zwischen Ausübung und Absicherung

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ortet werden kann, sondern sie muss auch in ihrer ermöglichenden Funktion in die Überlegungen mit einbezogen werden. In dieser Kritik an der Volkssouveränitätstheorie erweist sich, dass der Freiheitsbegriff unklar bleibt, wenn er nicht in den negativen und positiven Dimensionen präzisiert wird. Die Konzentration auf die Bedingung der Möglichkeit negativer Freiheit bzw. der negativen Absicherung von Freiheit enthält keine oder zu wenig entscheidende Aussagen dazu, wie die Optionen, die die negative Freiheit eröffnet oder sichert, von den unterschiedlichen beteiligten Akteuren genutzt werden können und dürfen. Eine Zurückweisung der Differenzierung von negativer und positiver Freiheit darf daher nicht dazu führen, dass nur die negative Absicherung von Freiheit genauer untersucht wird. Dies gilt auch, wie sich zeigen wird, für die Diskussion des neo-römischen Republikanismus, die mehr und mehr zu einer Diskussion um den Charakter der Negativität der Freiheit wird (vgl. Skinner 1998, Pettit 2002). Wenn die ermöglichende Funktion berücksichtigt wird, die in der positiven Ausübung von Freiheit liegt, dann bietet es sich an, das Verhältnis der beiden Freiheiten grundsätzlich anders, nämlich als Verhältnis zweier nicht aufeinander reduzierbarer Dimensionen einer einzigen Freiheit zu bestimmen. Es kann nicht einfach behauptet werden, dass einer der beiden Freiheiten der Vorrang vor der jeweils anderen zukommt. Sie müssen vielmehr so verstanden werden, dass sie einander wechselseitig bedingen bzw. die Gestalt und Bedeutung jeder der beiden „Freiheiten“ von der Gestalt und Bedeutung der jeweils anderen abhängt. Dabei heißt „Bedingung“ und „Abhängigkeit“ mit Blick auf jede der beiden Dimensionen der Freiheit etwas anderes. Wie zuvor festgehalten wurde, unterscheiden sich negative und positive Freiheit auf der allgemeinsten Ebene darin, dass erstere Möglichkeiten zur Abwehr gibt, während letztere Möglichkeiten zum Handeln bereithält. Gemäß den Ausführungen zu „kollektiven Intentionen“ ist davon auszugehen, dass Handelnde grundsätzlich ein Interesse daran haben, dass ihre Handlungen mit denjenigen anderer zusammenstimmen (können) bzw. in Kooperation mit anderen oder deren Handlungen ausgeführt werden (können). Dieses Interesse ist nicht per se als „Gemeinwohlorientierung“ o.Ä. zu verstehen,

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

sondern ergibt sich allein aus den Interessen, die Handelnde mit und in ihren Handlungen verfolgen. Handelnde sind derart primär daran interessiert, wie die Handlungsverhältnisse verfasst sind, die kooperatives Handeln, aber auch alle anderen Arten des Handelns erlauben.15 Dem Sinn16 der Absichten (und darüber vermittelt auch dem Sinn politischer Strukturen und Verfahren) nach ist somit das Ziel, Freiheit positiv auszuüben, sei es in der Form, dass kooperative Strukturen angestrebt werden (können), oder in der Weise, in der der Zweck der Politik bestimmt werden (kann), primär.17 Bei allem modernen Individualismus, der hier (v.a. in seinen normativen Dimensionen) nicht bestritten werden soll, ist festzuhalten, dass „negative Freiheit“ nur in der Hinsicht ein Ziel von Handelnden ist, dass in der Wahrnehmung von Möglichkeiten, die Handlungsverhältnisse bzw. Verfahren für die Handelnden, aber auch für andere bereitstellen, bestimmte Optionen, die Freiheit positiv zu nutzen, gesichert werden sollen, indem anderen einige Optionen nicht zur Verfügung stehen.18 Es gibt somit ein sekundä-

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Die Ergänzung des letzten Teilsatzes weist darauf hin, dass die folgende Argumentation in ihrer Grundlinie Implikationen von Absichten überhaupt expliziert und auf dieser basalsten Ebene dem Bezug auf das „Kollektive“ in den „kollektiven Intentionen“ keine besondere Bedeutung zuschreibt. Wichtig am „Kollektiven“ der „kollektiven Intentionen“ ist, dass die anderen nicht nur und nicht einmal primär als Hinderungsfaktoren für die Handlungsausführung in den Blick kommen. Der Verweis auf den „Sinn“ der Absichten beschreibt eine „Ordnung der Entdeckung“ der beiden Freiheitsdimensionen und enthält, wie sich zeigen wird, keine direkte Aussage dazu, wie die politischen Strukturen und Verfahren selbst die Dimensionen einrichten. Hierbei wird mit Kant angenommen, dass die Tatsache, dass Handelnde bestimmte Absichten verfolgen, impliziert, dass sie ein „Interesse“ daran haben, sie auch verfolgen zu können, also derart „äußerlich frei“ zu sein, dass der Ausführung der Handlungen nichts entgegen steht und sie über die Mittel verfügen, die für die Ausführung erforderlich sind. Selbst für die Teilhabe an politischen Verfahren gilt, dass wenn Bürger nicht davon ausgehen könnten, dass dasjenige, was sie zu den Verfahren beizutragen haben – und sei es nur in der Form einer Stimme, die in einer Statistik auftaucht –, einen Unterschied macht, nicht verständlich würde, warum dies als Ausdruck von Freiheit zählen sollte. Es wäre eine Situation denkbar, in der negative politische Freiheit fraglos realisiert wäre, eine Person also zu den Verfahren beitragen könnte, was sie wollte (d.h. niemand und nichts sie an dem

4.2 Freiheit zwischen Ausübung und Absicherung

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res Interesse von Handelnden daran, dass sie nicht beständig ausschließlich dazu verpflichtet sind, in den Kooperationsschemata der anderen mitzuwirken. Dieses Interesse ist durch das Interesse an der positiven Ausübung von Freiheit bedingt. Anders als es in dem zuvor dargelegten Modell der umgekehrten Bedingung präsentiert wird, führt diese Bedingtheit aber nicht dazu, dass sich Bedeutung und Funktion der negativen Freiheit in dem erschöpfen, was in der positiven Ausübung von Freiheit betrieben wird. Die negative Absicherung von Freiheit gibt Handelnden in der Tat ein Recht an die Hand, Eingriffe anderer in die eigenen Handlungen und Handlungsmöglichkeiten zu problematisieren und notfalls auch abzuwehren, und sie ist insofern höchstens vermittelt eine Bedingung für die positive Ausübung von Freiheit – „vermittelt“, da nicht immer schon klar ist, dass die negative Gewährleistung von Freiheit selbst den Handelnden zu etwas befähigt. Die Existenz von negativer Freiheit bzw. die negative Sicherung von Freiheit ist aber eine Bedingung für die positive Ausübung von Freiheit, da ihre Gewährleistung es für diejenigen, die von dieser Ausübung durch andere eventuell v.a. so betroffen sind, dass ihnen bestimmte Optionen nicht (mehr) zur Verfügung stehen, einfacher ist, eine solche positive Ausübung von Freiheit hinzunehmen. Diese Verknüpfung von positiven und negativen Dimensionen der Freiheit, die dem Zweck dient, einen Freiheitsbegriff zu explizieren, der sich als Grundlage für die Bestimmung der Kriterien legitimer Herrschaft eignet, verbindet Motive, die zuvor in den vermeintlich konträren Gerechtigkeits- und Volkssouveränitätstheorien entwickelt wurden (und weist zugleich die von Berlin

Beitrag hindern würde, sie wählen könnte, wen sie wollte etc.), dieser Beitrag aber nie von jemand anderem als relevant erachtet würde und die Person auch keine Möglichkeit hätte, eine solche Relevanz zu erwirken (etwa weil die Mehrheit für etwas anderes immer schon klar ist). In dieser Situation davon zu reden, dass die Person nur aufgrund der negativen Freiheit „frei“ ist, ist nicht plausibel. Es müsste wenigstens gezeigt werden können, dass die Möglichkeit dieser Person, Dissens zu artikulieren, in einigen Fällen Auswirkungen, z.B. in der Revision von Vorschlägen o.Ä., nach sich zieht. Vgl. dazu auch die Kritik an der Verbindung von Freiheit und Demokratie bei van Parijs 1999: 194-195.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

zugespitzte Gegenüberstellung von „liberaler“ Nicht-Interferenz und „republikanischer“ Selbstmeisterung zurück). Mit der Volkssouveränitätstheorie, aber noch fundamentaler in der Perspektive der Handlungstheorie überhaupt wird die positive Ausübung von Freiheit (in politischen Strukturen und Verfahren bzw. vermittelt durch sie)19 als Grundlage jeder legitimen Form der Konstitution, Aufrechterhaltung und Kontrolle von Handlungsverhältnissen verstanden. Insofern Handelnde überhaupt ein Interesse an Freiheit haben, haben sie nicht zuerst ein Interesse daran, unbehelligt zu bleiben, sondern vielmehr daran, in der Lage zu sein, ihre Interessen (gemeinsam mit anderen) zu realisieren. Unter Aufnahme von Elementen der Gerechtigkeitstheorie und deren Idee eines „Werts der Freiheit“ wird gerade aus dem Interesse daran, Handlungsverhältnisse zu etablieren, in denen verschiedene Handlungen zueinander in Beziehung gesetzt werden (können), ein zusätzliches Interesse an Möglichkeiten konstatiert, nicht wider eigene (andere) Interessen gezwungen zu sein, an kooperativen Handlungsverhältnissen beteiligt zu werden. Freiheit ist also ein mehrdimensionaler, komplexer normativer Bezugspunkt für politische Strukturen und Verfahren und damit auch für die Legitimität von Herrschaft. Sie lässt sich deshalb, wie zuvor postuliert, weder einfach in gleichen Handlungsräumen, noch in gleicher Teilhabe bzw. gleichen Teilhabebedingungen an politischen Verfahren allein sichern. Dies hat wichtige Konsequenzen für die drei Hinsichten, die zu Beginn dieses Abschnitts angeführt wurden, nämlich für die Bestimmung der Verfahren selbst, für die Bestimmung desjenigen, was von Institutionen und Strukturen erwartet wird, sowie schließlich für den speziellen Machtfaktor, den die Einrichtungen darstellen, die nicht nur einzelne Handlungen ermöglichen

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Für den Konnex zwischen der positiven Ausübung der Freiheit und den Verfahren bzw. Strukturen wurde zwar bislang noch kein klares Argument entwickelt, aber der Übergang zwischen dem allgemeinen Interesse an positiver Ausübung von Freiheit und dem Ziel, diese in bzw. in der Form von Strukturen und Verfahren zu realisieren, liegt im kantischen Argument für den Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht, auf das sich auch diese Republikanismusvariante weiter bezieht, wie im Folgenden ersichtlich werden wird.

4.2 Freiheit zwischen Ausübung und Absicherung

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bzw. begrenzen, sondern direkt und nahezu unumgänglich in den Lebensvollzug der Handelnden eingreifen.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium Bislang wurden die positive Ausübung und die negative Absicherung von Freiheit wesentlich mit Blick auf Handelnde, deren Absichten und die direkten Interaktionen zwischen Handelnden eingeführt. Die besonderen Erfordernisse, die die Etablierung und Kontrolle von (sozialen) Handlungsverhältnissen zu dem Zweck, von Macht zu Herrschaft überzugehen, mit sich bringen, machen es notwendig, diese Überlegungen in den Bereich der politischen Philosophie im engeren Sinn zu übersetzen, zumal die drei angeführten Hinsichten eine Präzisierung gegenüber den Anforderungen darstellen, die im ersten Kapitel entwickelt wurden. Einen wesentlichen Beitrag zu einer solchen Übersetzung hat Philip Pettit mit seinem Buch Republicanism und zahlreichen weiteren Artikeln geleistet. Er präsentiert in seinen Ausführungen „Nicht-Beherrschung“ (non-domination) als zentrales Kriterium für die Legitimation eines Gesamtsettings von Verfahren und Strukturen sowie Handlungsverhältnissen, die aus diesen hervorgehen. Dieser Begriff der Nicht-Beherrschung eignet sich, einen Freiheitsbegriff zu formulieren, der die positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit umfasst, wobei allerdings die Fassung der Nicht-Beherrschung bei Pettit selbst signifikant ergänzt werden muss. Die Argumentation für Nicht-Beherrschung als Bestimmung eines umfassenden Legitimitätskriteriums vollzieht sich in vier Schritten: Zunächst wird im Anschluss an den Bezug von Intentionen auf kollektive Handlungsverhältnisse gezeigt, warum nicht Interferenz in Handlungsräume schlechthin das freiheitstheoretische Problem darstellt, sondern beherrschendes Eingreifen (domination). Hierbei werden drei Kriterien für beherrschende Handlungen eingeführt, die einerseits die Macht reformulieren, die die Ausübung von Herrschaft überwinden soll, und andererseits die Handlungen bzw. Handlungsweisen einschränken, die im Rahmen der Legitimitätstheorie zu thematisieren sind. Im zweiten Schritt

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

wird dargelegt, dass aus der Bestimmung der (negativen) Kriterien für Beherrschung für die Legitimitätstheorie v.a. die Nicht-Willkürlichkeit der Verfahren und Strukturen folgt, die die positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit ermöglichen. Da die nicht willkürliche Einrichtung von Verfahren und Strukturen, die die negativen Bedingungen der Nicht-Beherrschung garantieren, nicht hinreichend für umfassende nicht-beherrschende Verhältnisse ist, wird im dritten Schritt erörtert, welche Implikationen die Nicht-Beherrschung für die positive Ausübung von Freiheit hat. Aus der Kombination von positiven Implikationen und negativer Absicherung gegen Beherrschung, die beide nicht willkürlich realisiert sein müssen, ergeben sich schließlich neben der besonderen Gestaltung der politischen Verfahren weitere Elemente, die Freiheit negativ absichern.

4.3.1 Drei Kriterien für Beherrschung Bei der Nennung der „Nicht-Beherrschung“ als des Ausdrucks für die freiheitstheoretische Grundlage der Legitimitätstheorie drängt sich die Frage auf, warum in einer Theorie, die der positiven Ausübung von Freiheit den Primat zuschreiben will, die sprachliche Negativ-Konstruktion der „Nicht-Beherrschung“ gewählt werden sollte.20 Der Grund für diese Wortwahl liegt bei Pettit darin, dass er im Anschluss an die Beschreibung der Handlungsverhältnisse

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Die Interpretation der Nicht-Beherrschung, die im Folgenden entwickelt wird, steht Lesarten von Pettit entgegen, in denen er so verstanden (und oft dafür kritisiert) wird, dass er ein Modell vor Augen hat, in dem Eliten regieren und dabei z.T. allein dadurch kontrolliert werden, dass es Veto- und Bestreitungsmöglichkeiten für diejenigen gibt, die von dieser Regierung betroffen sind, letztere also über Mittel verfügen, Beherrschung zu verhindern, aber nicht über solche, die es ihnen positiv erlauben, sich in Strukturen und Verfahren zur Geltung zu bringen. V.a. in den Texten, die seit Republicanism publiziert wurden, neigt Pettit in der Tat zum Unterstreichen der Negativität der Freiheitsvorstellung, die in der Nicht-Beherrschung zum Ausdruck kommt (vgl. Pettit 2002). Dieses Betonen wird hier aber so verstanden, dass es die positive Freiheit in Sinn der Selbstmeisterung zurückweist (Pettit 1997: 81-82), nicht aber in der Form der positiven Ausübung von Freiheit, wie sie in den vorliegenden Ausführungen im Zentrum steht (und wie sie bei Pettit selbst z.B. unter dem Titel der „undominated choice“ [Pettit 1997: 106] angeführt wird).

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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und Absichten als solche, in denen Handelnde (wie auch Institutionen) wechselseitig und intentional (d.h. den Absichten gemäß und nicht nur in nicht-intendierten Nebeneffekten) in die Handlungsräume und -möglichkeiten je anderer eingreifen, festhält, dass es keinen Sinn macht, die Bedeutung und die Implikationen von Freiheit für politische Strukturen und Handlungsverhältnisse insgesamt ausgehend von der Vorstellung der Nicht-Interferenz zu explizieren. Wie zuvor nachgezeichnet, operieren sowohl „liberale“ Gerechtigkeits- wie auch „republikanische“ Theorien politischer Freiheit mit genau dieser Vorstellung. In Pettits Augen ist es dagegen falsch, sich eine ursprüngliche (kollektive) Konstitution von Handlungsverhältnissen, also eine Art Nullpunkt derselben vorzustellen, an dem sie oder die Bedingungen der Handlungsausführung auf der Grundlage freier individueller Setzung oder einer im strikten Sinn originären politischen Freiheit erzeugt werden (könnten), d.h. ausgehend von einem Zustand, in dem nichts und niemand in das Handeln und den Handlungsraum des- oder derjenigen eingreift, der/die die Konstitution leistet/leisten. Handlungsverhältnisse sind immer schon derart verfasst, dass sie Optionen bereitstellen und einschränken, ohne dass diejenigen, die ihnen momentan ausgesetzt sind, in der Lage sein könnten, alle Elemente, die sie ausmachen, in individuellen Entscheidungen oder politischen Verfahren anzueignen und explizit zu setzen. Wie schon im ersten Kapitel konstatiert, steht dieser Entzug (zumindest der Gesamtheit) der Bedingungen, die Handlungszusammenhänge bestimmen, nicht per se der Freiheit derjenigen entgegen, die in ihnen handeln, da die Bedingungen in vielen Hinsichten Handlungen und Optionen allererst ermöglichen. Die Negativität in der „Nicht-Beherrschung“ drückt daher in erster Linie aus, dass die Möglichkeit einer umfassenden Konstitutionsperspektive, eines ursprünglichen Atomismus (sei es des Individuums oder der politischen Gemeinschaft), also die Nicht-Interferenz als Ausgangspunkt, zurückzuweisen ist. Verhältnisse oder Verfahren, in denen einseitige oder wechselseitige Interferenzen beobachtbar sind, müssen prinzipiell zulässig sein, da sonst viele Intentionen als unzulässig deklariert werden müssten bzw. die Bedingungen für deren Verfolgen nicht gewährleistet werden könnten. Und die Ver-

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

hältnisse und Verfahren können dann ein Ausdruck von (negativer Absicherung und positiver Ausübung der) Freiheit sein, wenn sie bzw. die Interferenzen nicht-beherrschend sind, sondern Nicht-Beherrschung gerade ermöglichen. Die Verhältnisse bzw. Verfahren oder Handlungen mit ihren Auswirkungen auf andere müssen nicht in allen Aspekten bei denjenigen ihren Ausgang nehmen oder genommen haben, die von ihnen betroffen sind, um mit der freiheitstheoretischen Perspektive vereinbar zu sein. Dies ist im Übrigen kein „naturalistischer Fehlschluss“, da sich die Argumentation nicht (unmittelbar) auf faktische Handlungsverhältnisse bezieht und dortige Gegebenheiten oder Sachzwänge anführt, sondern zu explizieren beansprucht, wie der Freiheitsbegriff mit Bezug auf den Handlungsbegriff angemessen zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund sind Handlungsverhältnisse freiheitstheoretisch problematisch, d.h. sie stehen einer Deutung derselben als freiheitsverbürgend bzw. nicht freiheitsgefährdend entgegen, wenn durch sie einige (Personen) von anderen (Personen, Gruppen oder Institutionen) beherrscht werden. Handlungen oder Handlungsverhältnisse sind dann beherrschend, wenn drei Bedingungen erfüllt sind, die an die Stelle des allgemeineren, aber, wie gesehen, unplausiblen Interferenzkriteriums treten (Pettit 1997: 52): Erstens muss jemand oder eine von Menschen getragene Instanz das Vermögen haben, mit eigenen Handlungen Handlungsverhältnisse so zu gestalten oder zu beeinflussen, dass die Optionen anderer dadurch modifiziert werden. Diese Bedingung wiederholt in anderer Form eine einschränkende Voraussetzung, die zuvor schon bei einigen Gerechtigkeitstheorien gemacht wurde: Verhältnisse sind in normativer bzw. freiheitstheoretischer Perspektive überhaupt nur dann von Interesse, wenn sie in der Verfügung derer stehen, deren Handeln und Wirken untersucht wird. Die Tatsache, dass etwa durch natürliche Entwicklungen Optionen modifiziert werden (also von Seiten dessen betrachtet, der von den Entwicklungen betroffen ist, eine Interferenz stattfindet), kann, selbst wenn dies in Fällen von Katastrophen gravierende Konsequenzen hat, nicht so verstanden werden, dass jemand be-

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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herrscht wird. Von einer Beherrschung der Menschen durch die Natur zu reden, ist dementsprechend ein Kategorienfehler.21 Zweitens muss die entsprechende Person oder Instanz, die vermeintlich Herrschaft ausübt, selbst und allein darüber entscheiden können, ob sie dieses Vermögen gebraucht. Die Dopplung in „selbst“ und „allein“ ist dabei notwendig, da über das „selbst“ gesagt wird, dass die Person/Instanz selbst (unter der Prämisse, dass es sich um eine gewachsene Ursprünglichkeit handeln kann) der Ursprung der fraglichen Handlung ist, während über das „allein“ angezeigt wird, dass sie – zumindest mit Blick auf die von der Handlung betroffene Person – allein der Ursprung der Handlung ist. Für die weiteren Ausführungen zur Nicht-Beherrschung ist diese Unterscheidung insofern wichtig, als etwa ein Rechtsstaat nicht ausschließen kann, dass eine Person/Instanz selbst der Ursprung beherrschender Handlungen ist. Auch der rigideste Polizeistaat wird Verbrechensabsichten und -versuche nicht abschaffen können. Aber er verdient nur dann den Namen „Rechtsstaat“, wenn er sicherstellt, dass die Person/Instanz nicht allein der Ursprung einer solchen Handlung sein kann. Das heißt z.B., dass die Polizei in einem Rechtsstaat schon gezielt inaktiv bleiben müsste, wenn einer anderen Person ein Schaden zugefügt wird, bzw. dass die Tatsache, dass die Polizei nicht wegschaut, ein Grund dafür ist, dass im Rechtsstaat die beherrschende Handlung (in den allermeisten Fällen) nicht vollzogen wird oder werden kann. Drittens schließlich müssen die Optionen anderer Personen, die von den Handlungen der ersten Person oder Instanz betroffen sind, reale Optionen sein, über die die anderen wirklich verfügen. Diese drei Kriterien schließen aus, dass Verhältnisse schon beherrschend sind, wenn durch das Handeln einer Person oder Instanz die Optionen einer anderen Person überhaupt verändert werden, also eine Interferenz in ihren Handlungsraum stattfindet. Ein solches Handeln der ersten Person oder Instanz ist nur unter

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Dies schließt nicht aus, dass natürliche Veränderungen, die direkt oder indirekt auf menschliche Handlungen oder Handlungsweisen zurückgehen, vermittelt als beherrschend verstanden und problematisiert werden können. Zu einer Problematisierung der Thematisierbarkeit solcher „Nebenwirkungen“ in Pettits Ansatz vgl. Ferejohn 2001: 86-87.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

den Bedingungen beherrschend, dass es in ihrer eigenen Entscheidung steht, ihr Handeln zu dem Zweck zu nutzen, in die Möglichkeiten anderer einzugreifen, und letztere zudem in der Tat (und nicht ausschließlich virtuelle) Möglichkeiten anderer sind. Durch diese Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen zu konstatieren ist, dass Beherrschung die Ausübung von Freiheit einschränkt, werden systematisch zwei Fälle als irrelevant für die Untersuchung der Kriterien legitimer Herrschaft behauptet, von denen in Theorien, die Freiheit mit Nicht-Interferenz gleichsetzen, nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie mit berücksichtigt werden müssen. Dabei wird unterstellt, dass die Berücksichtigung nicht nur nicht notwendig ist, sondern zudem unplausible Konsequenzen für die politische Übersetzung der Freiheitstheorie nach sich zieht. Diese beiden Fälle betreffen die zweite bzw. die dritte Bedingung: In gewissem Maß unproblematisch22 ist gemäß dieser Theorie der Beherrschung erstens der Fall, in dem einem Handelnden überhaupt nur eine Option zur Verfügung steht, weil er z.B. zum Zweck der Selbsterhaltung, aufgrund begrenzten Wissens etwa über den möglichen Gebrauch von Ressourcen oder in der Verfolgung eines übergeordneten Ziels (sinnvoller- und realistischerweise) (nur) eine einzige Handlung wählen kann, die einschränkende Konsequenzen für eine zweite Person hat. Die Entproblematisierung dieses Falls zielt darauf ab, vermeintlich freiheitstheoretische Diskussionen darüber zu vermeiden, ob bestimmte basale Rechte bzw. deren Durchsetzung prinzipiell mit der Freiheit vereinbar sind. Freiheitseinschränkungen, die für die Legitimitätstheorie relevant sind, müssen daher vom Verhältnis bzw. von der Art des Verhältnisses der Handelnden zueinander her verstanden werden und lassen sich, wie dies schon der Ausschluss der Relevanz „natürlicher“ Gründe von Einschränkungen

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„In gewissem Maß“, da mit der folgenden Beschreibung nicht ausgeschlossen werden kann, dass Dritte dafür verantwortlich sind, dass dem fraglichen Handelnden nur eine einzige Option mit Konsequenzen für weitere Handelnde zur Verfügung steht.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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anzeigte, nicht nur von Seiten desjenigen her begreifen, der von einer Einschränkung betroffen ist.23 Aber selbst wenn ein Handlungsverhältnis besteht, in dem eine Person oder Instanz die Möglichkeiten eines anderen willkürlich (und d.h. ohne übergeordnete Notwendigkeit oder Begründung auf Seiten des ersten Handelnden) einschränkt, ist dabei doch zweitens auch der Fall irrelevant, in dem eine Handlung vollzogen wird, die Möglichkeiten „einschränkt“, die reine Potentialitäten sind.24 Dieser Fall kann wiederum in zwei Arten eintreten: Er kann einerseits in einer Situation bestehen, in der eine Handlung (räumlich oder mit Blick auf Fähigkeiten und Eigenschaften, die prima facie für die Ausübung und Sicherung von Freiheit nicht relevant sind) so weit entfernt von einem Zweiten ist, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass sie denjenigen wirklich betrifft, der vermeintlich in seinen Optionen limitiert wird. So schränkt die Hochzeit zweier Personen die Möglichkeit von Dritten ein, ebenfalls einen der beiden Partner zu heiraten. Diese „Einschränkung“ betrifft aber den Großteil derjenigen, die in ihren „Möglichkeiten“ eingeschränkt werden, nicht wirklich, da es in den meisten Fällen unwahrscheinlich gewesen wäre, dass diejenigen, die geheiratet ha-

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Die Zurückweisung dieses ersten Falls ist plausibel, da sie der Intuition Ausdruck verleiht, dass jemand, der zum Zweck des Überlebens einem anderen etwas wegnimmt, nicht so beschrieben werden kann, dass er den anderen beherrscht – und wenn abgeleitet davon zeigbar ist, dass bestimmte Elemente von Rechtsstaatlichkeit unverzichtbar sind, um das Überleben (einiger) sicherzustellen, dann kann das Wirken von Rechtsstaaten in dieser Hinsicht nicht als beherrschend begriffen werden. Pettit wendet sich hiermit gegen libertäre Problematisierungen des Rechts schlechthin als eines freiheitsbeschränkenden Eingriffs in Handlungsräume. Die Zurückweisung darf aber nicht als Explikation der Legitimität der Handlungen missverstanden werden, d.h. die Handlungen geben nicht das Modell für die Theorie der Nicht-Beherrschung ab. Verhältnisse der Nicht-Beherrschung müssen demgegenüber so verfasst sein, dass die Existenz nur einer einzigen Option, die zugleich einen Schaden für jemand anderes bedeutet, ein Ausnahmefall in Krisensituationen (z.B. nicht vollkommen auszuschließenden Unfällen etc.) ist. Dieser Punkt wird im Folgenden noch sehr wichtig werden, denn in ihm deutet sich eine Präzisierung der Betroffenheit bzw. eine Auszeichnung von Weisen der Betroffenheit an, die für die Legitimitätstheorie relevant sind, und solchen, die dies nicht sind.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

ben, bereit gewesen wären, einen der „eingeschränkten“ Dritten zu heiraten.25 Es ist folglich unsinnig, solche Einschränkungen regulieren oder gar verbieten zu wollen, was bei einem strikten Verständnis von Freiheit als Nicht-Interferenz notwendig werden könnte.26 Andererseits sind damit Situationen zunächst zu vernachlässigen, in denen die Auswirkungen wesentlich in einer Pluralisierung von Optionen bestehen, selbst wenn dies zu komplizierteren Handlungsvollzügen für diejenigen führen mag, die sich nun mit mehr Optionen konfrontiert sehen.27

4.3.2 Nicht-Beherrschung und Nicht-Willkürlichkeit Diese Einführung der Kriterien, unter denen von Beherrschung zu reden ist, enthält nicht selbst eine Aussage dazu, ob die Veränderungen der Optionen anderer gut oder schlecht sind, die durch beherrschendes Handeln herbeigeführt werden.28 Beherrschung ist ein strukturelles Phänomen (bzw. eine Situation, in der bestimmte Strukturen abwesend sind), das durchaus zum „Wohl“ desjenigen, der von ihr betroffen ist, eingesetzt werden kann. Denn auch dieser Gebrauch ändert nichts daran, dass diejenigen, die von Beherr-

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Ich danke Cristina Lafont für dieses Beispiel, das sich deshalb besonders gut eignet, da hier schon die „Kooperation“ von zwei Personen im Spiel ist, die Auswirkungen auf Dritte hat. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass diese Konstellation sowohl innerhalb politischer Einheiten wie auch im Verhältnis zwischen Einheiten zentral ist. In der Diskussion des republikanischen Subsidiaritätsprinzips weiter unten erweist sich, dass umgekehrt sogar gerade die Möglichkeit bestehen muss, solche Handlungen relativ ungestört von denjenigen zu verfolgen, die nicht direkt von ihnen betroffen sind. Vgl. dazu Kap. 6.3.2. Diese Variante des zweiten Falls ist – obwohl sie zunächst wiederum plausibel klingt – nicht ohne Schwierigkeiten. Denn v.a. in der Diskussion und Kritik der Systemtheorie wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass ein Gewinn an Komplexität nicht notwendig einen Gewinn an Freiheit und Selbstbestimmung nach sich zieht (Bohman 1996: 151-195; Demirović 2001). So könnte z.B. argumentiert werden, dass ein Rauchverbot bzw. die Verhinderung des Zugangs zu Zigaretten der Person nur zugute kommt und daher nicht von Beherrschung zu reden wäre. Es wird sich in der Tat zeigen, dass argumentiert werden kann, dass ein Rauchverbot nicht beherrschend ist, aber der Grund dafür liegt nicht darin, dass jemand sein Vermögen wohlwollend einsetzt, willkürlich die Optionen eines anderen einzuschränken.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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schung betroffen sind, dadurch einen Freiheitsverlust erleiden, der die Legitimität der Handlungen bzw. der Herrschaftsausübung grundsätzlich unterminiert. Sie müssen nämlich auf das Wohlwollen des oder der anderen vertrauen und sind nicht mit unabhängigen Ressourcen ausgestattet, die es ihnen erlauben, Handlungen oder Handlungsverhältnisse notfalls zu erzwingen bzw. eine bloß vermeintliche Wohltat zurückzuweisen. Beherrschung ist selbst ein Verhältnis zwischen Handelnden bzw. zwischen Einrichtungen und Handelnden, bei denen eine Seite über das Vermögen oder die Ressourcen verfügt, willkürlich die Möglichkeiten der anderen Seite zu verändern, wobei die Art und Qualität der Veränderung nicht ausschlaggebend dafür ist, ob Beherrschung vorliegt oder nicht. Damit ist auch klar, dass der neo-römische Republikanismus einen Grund liefert, den tendenziellen Paternalismus der Gerechtigkeitstheorien zurückzuweisen – und es wird zu untersuchen sein, inwiefern aufgrund der Voraussetzung von Willkürlichkeit in den Handlungsbedingungen, die ersetzt werden sollen, diese republikanische Theorie (Gerechtigkeits-)Ansprüche, die sich (vermeintlich) aus dem Status von Personen ergeben, also zu einem gewissen Grad unabhängig von Relationen zwischen Personen sind, überhaupt denken kann. Unter dem Titel der Beherrschung formuliert Pettit – unter Aufnahme der Überlegungen zu „kollektiven Intentionen“, wie sie zuvor angeführt (und von ihm selbst auch behandelt [Pettit 1996]) wurden – eine Alternative zur „Interferenz“, mit der Bedrohungen von Freiheit thematisierbar sind und zudem deskriptiv eine Variante des Begriffs und der Grenzen der Macht präsentiert wird (Pettit 1997: 78-79), wie sie im Kapitel 1 im Anschluss an Weber rekonstruiert wurden. So wird im Unterschied zur Mehrzahl der bislang untersuchten Legitimitätstheorien das Problem des Übergangs von Macht zu Herrschaft nicht nur im Lauf der Argumentation aufgegriffen und als Anwendungsfall der Theorie begriffen, sondern explizit an den Anfang und ins Zentrum der Überlegungen gesetzt. Damit steht sie der Forderung nahe, die zu Beginn dieses Buches festgehalten wurde, dass eine Legitimitätstheorie nicht nur in dem überzeugen muss, was sie als „positiven“ Bezugspunkt auszeichnet, sei es Gerechtigkeit, Wahrheit oder (ein

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

bestimmter Gebrauch von) Freiheit, sondern sie v.a. darin erfolgreich sein muss, dass sie zu erläutern vermag, warum der Bezugspunkt es erlaubt, die bloßen Machtverhältnisse zu überwinden. Dennoch (oder: gerade deswegen) ergibt sich auch in dieser Variante des Republikanismus allein aus der Darlegung dessen heraus, unter welchen Voraussetzungen Auswirkungen auf Möglichkeiten anderer freiheitstheoretisch problematisch sind – also dazu auffordern, eine Gestaltung der Verhältnisse zu suchen, die Freiheit verbürgt oder erhält –, noch keine Bestimmung dessen, was mit Nicht-Beherrschung gemeint ist, insofern sie als (positives) Kriterium für die Legitimität von Herrschaft dienen soll. Aufgrund der sprachlichen Negation des problematischen Zustands der Beherrschung mag es zwar so aussehen, als solle v.a. verhindert werden, dass einige durch andere beherrscht werden. Dies ist aber nur ein, allerdings wegen der expliziten Thematisierung des Übergangs von Macht zu Herrschaft wichtiger Aspekt der umfassenderen „republikanischen“ Bestimmung der Bedingungen, unter denen Herrschaft legitim ausgeübt wird. In der Nicht-Beherrschung ist die negative Dimension der Freiheit, nicht von anderen beherrscht zu werden, unauflöslich mit der positiven Dimension verbunden, die Freiheit im Verfolgen eigener Interessen und Projekte (mit ihrer Bezugnahme auf andere) nutzen zu können. Dabei wird – und dies macht einen weiteren wichtigen Unterschied zu den bisher untersuchten Ansätzen politischer Freiheit aus – insbesondere herausgehoben, dass dasjenige, was für einige zur Beseitigung von (möglicher) Beherrschung führt, bei anderen genau diese zur Folge haben kann, und zwar aufgrund der strukturellen und institutionellen Erfordernisse, die die positive Ausübung von Freiheit mit sich bringt. Die umfassende Bestimmung der Nicht-Beherrschung als des Kriteriums für die Existenz legitimer Herrschaft oder gar als Anleitung29 für die Weise, in der politische Verfahren, Strukturen und

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Diese „Anleitung“ ist weniger als „Bauplan“ zu verstehen, sondern mehr als Ausdruck der Notwendigkeit mitzubedenken, dass auch eine freiheitstheoretische Bestimmung von Legitimität nicht nur die Legitimität des Handelns derer thematisieren sollte, die schon handeln und über (Zugang zu) Institutionen verfügen. Es ist daher zu untersuchen, ob diejenigen, die bislang keine politi-

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

201

Institutionen eingerichtet werden sollten, erfordert einen weiteren Blick auf „kollektive Intentionen“ (insofern sie basale Absichten sind und die Ausübung von Herrschaft wesentlich ermöglichen soll, dass sie verfolgt werden können) sowie die Unterscheidung zwischen den positiven und negativen Dimensionen von Freiheit.30 Aus der Bestimmung der Bedingungen, unter denen Beherrschung vorliegt, ergibt sich aber schon allgemein, dass das Verfolgen kollektiver Intentionen bzw. die positive Ausübung oder die negative Gewährleistung von Freiheit dann nicht die Anforderungen an nicht-beherrschende Verhältnisse erfüllen, wenn sie in Abhängigkeit davon stehen, dass jemand sein bzw. eine Instanz ihr Vermögen, anderen Möglichkeiten zu eröffnen oder vorzuenthalten, willkürlich so einsetzt, dass Intentionen verfolgt werden können oder „Freiheit“ besteht.31 Die Tatsache, dass, und die

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sche Freiheit ausüben können bzw. über keinen Zugang zu Institutionen verfügen, diese Möglichkeit bekommen müssen und wie sie im Fall der Bejahung der ersten Frage realisiert werden können. Dabei besteht nicht nur die Option, den Zugang zu bestehenden Verfahren und Institutionen zu gewährleisten, sondern auch diejenige, neue Verfahren und Institutionen einzurichten. Wie in der Diskussion der Bedeutung der Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit schon angemerkt wurde, weisen Pettit und einige derjenigen, die seinen Überlegungen folgen, diese Unterscheidung bzw. die Differenzierungsmöglichkeiten, die sie bietet, zu schnell zurück (Pettit 1997: 17-50), obwohl sie bei ihnen weiter eine wichtige Rolle spielt (z.B. in der Annahme, dass Verfahren und Institutionen auf der Basis der Interessen derer operieren, die sich in einem politischen Zusammenhang befinden) – oder zumindest spielen sollte, wie die vorliegenden Ausführungen argumentieren. Wenn nicht herausgehoben wird, dass Nicht-Beherrschung die Befähigung umfasst, Freiheit positiv auszuüben, dann ist, wie z.T. vermutet wird, unklar, warum sie einen „republikanischen Freiheitsbegriff“ artikulieren sollte. Aus der bloßen Tatsache, dass es keine anderen Handelnden und keine Einrichtungen gibt, die beherrschend operieren, ergibt sich noch keine Handlungsmöglichkeit für irgendjemanden. Vgl. dazu die Kritik an Pettit von van Parijs 1999: 196-197. Bei Pettit klingt die Begründung für die Nicht-Willkürlichkeit z.T. wie eine psychologische Begründung. Handelnde können einer solchen Begründung gemäß nicht frei sein, wenn die Verhältnisse keine klar erwartbare Gestalt haben, d.h. Handelnde nicht gewiss sein können, dass andere nicht willkürlich in ihre Möglichkeiten eingreifen werden (Pettit 1997: 86). Der Eindruck einer solchen psychologischen Begründung führt John Ferejohn dazu zu vermuten, dass Nicht-Beherrschung letztlich nicht Ausdruck von Freiheit, sondern von

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Art, in der Handelnde auf die Möglichkeiten zugreifen können, dürfen nicht von willkürlichen Entscheidungen eines Handelnden oder einer Einrichtung abhängen. Der Anspruch auf Nicht-Willkürlichkeit aller Verfahren, Strukturen und des Wirkens von Institutionen resultiert also unmittelbar daraus, dass beherrschendes Handeln und Wirken, für das die Willkürlichkeit ein entscheidender Faktor ist, als zu überwindender Ausgangspunkt identifiziert wird. Sie bedarf daher keiner weiteren positiven Rechtfertigung (etwa im Sinn einer Ressource für die Ausübung von Freiheit) bzw. steht daher nicht zur Disposition. Zu untersuchen bleibt allein, wie die Nicht-Willkürlichkeit in den oder qua Verfahren und Strukturen realisiert werden kann, d.h. es muss sichergestellt sein, dass die Verfahren und Strukturen nicht neue Willkür(möglichkeiten) zur Folge haben, ohne dass die Absicherung zu wenig (aufgrund des Ziels, Willkürmöglichkeiten gar nicht erst entstehen zu lassen) oder zu viel (aufgrund der Ausstattung von Institutionen etc. mit Ressourcen, mit denen sie sich wechselseitig kontrollieren können) leistet.32 Damit bestätigt sich als erstes wesentliches Resultat der Fassung von Freiheit als Nicht-Beherrschung eine Forderung, die schon im Kontext der Volkssouveränitätstheorien als Voraussetzung artikuliert wurde. Denn aus der Nicht-Willkürlichkeit der Strukturen, die Nicht-Beherrschung etablieren und verbürgen sollen, ergibt sich, dass nicht nur den Handelnden in ihren Interaktionen die Bedingungen für jene entzogen sein müssen, sondern auch den Personen, Institutionen und Instanzen, die Herrschaft ausüben (wobei „Herrschaft“ im gesamten Kapitel als „Etablieren, Aufrechterhalten und Kontrollieren von Handlungsverhältnissen“ verstanden wird und nicht als „Beherrschung“), muss die Ent-

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Sicherheit ist und dass Pettit Sicherheit gegenüber Freiheit bzw. der Möglichkeit privilegiert, Freiheit positiv auszuüben (Ferejohn 2001: 85-86). Eine solche psychologische Begründung ist aber nicht notwendig, denn die Begründung der Nicht-Willkürlichkeit ergibt sich, wie der Fortgang der Argumentation zeigen wird, schon in der rationalen Betrachtung des Handelns bzw. des Freiheitsbegriffs, den Intentionen implizieren. Vgl. dazu auch die Diskussion potentieller Spannungen zwischen der „Intensität“ und der „Ausdehnung“ der Nicht-Beherrschung bei Pettit 1997: 103-106.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

203

scheidung darüber, ob und wie sie Herrschaft ausüben, weitgehend unverfügbar sein. Denn sonst würde von Verhältnissen der Beherrschung zwischen Personen (dominium) zur Ausübung von „Herrschaft“ übergegangen, die in der Willkür derjenigen liegt, die sie ausüben (imperium).33 Eine solche „Herrschaft“ wäre angesichts dessen, was mit den Mitteln der Herrschaftsausübung geschehen kann, schon Ausdruck der Beherrschung einiger durch andere. Bei dieser Unverfügbarkeit der Bedingungen der Herrschaft darf aber nicht allein der Standard, dem gemäß operiert wird, etwa in der Form entzogen sein, dass auf die Transzendenz Gottes oder der Vernunft34 bzw. die Überzeitlichkeit einer positiven Gesetzesordnung verwiesen wird, also Webers Forderung nicht normativ verstandener „Legitimität“ erfüllt wird. Eine solche Entzogenheit mag zwar garantieren, dass es aktuell nicht willkürlich ist, dass und wie Herrschaft ausgeübt wird, d.h. sie an klare Vorgaben gebunden ist, die für diejenigen, die sie betrifft, im Vorhinein transparent sind. Diese Art der Entzogenheit kann aber nicht ausschließen, dass die Setzung oder Auszeichnung des Standards selbst willkürlich war und d.h. die aktuelle Ausübung von Herrschaft in abgeleiteter Weise deshalb willkürlich ist, weil sie auf die willkürliche Festlegung der Bedingungen zurückgeht, denen die Herrschaft folgt. Es kann also auch dann ein Fall von Beherrschung gegeben sein, wenn die Person oder Instanz, die in die Möglichkeiten anderer eingreift, gegenwärtig nicht über das Vermögen verfügt, selbst und allein zu entscheiden, ob sie die Handlung ausführt. Wenn das Wirken der Person oder Instanz nämlich von einem willkürlichen (weil von den Betroffenen nicht mitverfügten oder -verfügbaren) Akt der (Selbst-)Bindung abhängig ist, so ist dies hinreichend, um das Wirken als beherrschend zu charakterisieren (Pettit 1997: 65).

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Ein solcher Übergang findet sich in den Gerechtigkeitstheorien, die Handelnden die Bedingungen ihres Interagierens zugunsten eines moralischen „Schiedsrichters“ entziehen wollen, der garantiert, dass alle gerecht behandelt werden oder einen gerechten Anteil bekommen. Vgl. dazu das Kap. 2. Vgl. dazu die Erörterung der Möglichkeit, von Nicht-Beherrschung schon dann zu reden, wenn garantiert ist, dass wir es mit moralischen Akteuren zu tun haben, bei Ferejohn 2001: 81-83.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

An dieser Stelle wären weitere Überlegungen dazu anzustellen, welche Bedeutung die Temporalisierung der Willkür für die „Entproblematisierung“ der Entzogenheit von Handlungsbedingungen hat. Denn eventuell werden viele der Bedingungen, die gegenwärtig entzogen sind, auf willkürliche Entscheidungen an einem Punkt der Geschichte zurückführbar sein, woraus sich ergeben könnte, dass die Entzogenheit doch immer problematisch ist, weil sie in allen Fällen Ausdruck von Beherrschung ist. Dieses RegressProblem tritt aber dann nicht auf, wenn die vorstehenden Ausführungen so verstanden werden, dass sie nur beschreiben, wie die Entzogenheit zu interpretieren ist, der Institutionen und andere Instanzen unterworfen sind, die Herrschaft ausüben. Der Standard, auf dem die Herrschaftsausübung beruht, muss grundsätzlich für Betroffene nachvollziehbar sein, während die bloße Entzogenheit des Standards noch nichts darüber aussagt, ob die Herrschaftsausübung wirklich nicht-beherrschend ist. Alles Wirken der Einrichtungen, die Herrschaft ausüben, muss daher sowohl den Standards als auch der gegenwärtigen Anwendung der Standards gemäß notwendig an die (Ausübung und Sicherung der) Freiheit derjenigen gebunden sein, die von den Verhältnissen betroffen sind, da nur so ausgeschlossen ist, dass das Wirken im zuvor entwickelten Sinn willkürlich ist. Die Personen, Instanzen und Institutionen, die Standards für die Herrschaftsausübung setzen oder direkt Herrschaft ausüben, dürfen folglich nicht selbst Handelnde mit (positiven) Interessen, Intentionen etc. sein (wobei zu untersuchen bleibt, ob den Personen, Instanzen und Institutionen negative Interessen zugeschrieben werden können oder gar müssen, mit denen verhindert wird oder werden soll, dass sie von einigen zum Zweck, andere zu beherrschen, angeeignet werden [können]). Angesichts der Differenzierung zwischen den Bedeutungen und Rollen der positiven Ausübung und der negativen Sicherung von Freiheit hat diese Forderung aber unterschiedliche Auswirkungen auf die Gestalt und die einzelnen Bereiche der politischen Struktur. Damit bestätigt sich selbst für die Nicht-Willkürlichkeit, dass durch das Ziel, Beherrschung zu verhindern, nicht unmittelbar ersichtlich ist, wie Nicht-Beherrschung gewährleistet wird. Denn die nicht-willkürliche Bindung der Ein-

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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richtungen an die Freiheit heißt etwas anderes, je nachdem, ob sie in der positiven Ausübung von Freiheit „programmiert“ oder „gesteuert“ werden oder negativ die Freiheit derer sicherstellen sollen, die von der positiven Ausübung der Freiheit primär durch Einschränkungen von Optionen betroffen sind.

4.3.3 Nicht-Beherrschung und die positive Ausübung von Freiheit Der Übergang zu der Seite der Nicht-Beherrschung, die expliziert, unter welchen Bedingungen nicht nur nicht eingeschränkt oder verhindert wird, dass Freiheit besteht oder ausgeübt wird, sondern die positive Ausübung ermöglicht wird, erfordert nicht, dass eine ganz neue Betrachtungsweise eingeführt wird. Denn die Darstellung des Sinns, den die Unterscheidung zwischen der positiven und der negativen Dimension von Freiheit hat, hat schon gezeigt, dass jedes Wirken politischer Strukturen und Institutionen wie jedes Handeln überhaupt, will man grundsätzlich verstehen, wie es zustande kommt, auf die positive Ausübung von Freiheit (derart, dass ein Ziel verfolgt wird, von dem unterstellt wird, dass es erreichbar ist) zurückgeführt werden können muss.35 Moderne (Rechts)Staatlichkeit ist zwar wesentlich dadurch entstanden, dass denjenigen gegenüber, die über signifikante Machtpotentiale verfügten, Garantien erworben wurden, wie diese Machtpotentiale (nicht) eingesetzt würden – aber das Interesse an den Garantien oder der Wert derselben lässt sich, wie für den modernen Individualismus festgehalten wurde, nur darüber verstehen, dass diejenigen, für die mit diesen Garantien das Wirken der Macht kalkulierbarer wurde, positive eigene Interessen hatten. Die moderne institutionelle Entwicklung kann nicht nur durch ein (negatives) Interesse daran erklärt werden, von Beeinträchtigung durch andere unbehelligt zu bleiben,36 zumal die Artikulation negativer Interes-

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Diese Aussage betrifft allein die Intentionen und enthält nicht schon eine Aussage dazu, wie frei Handelnde überhaupt sind. Diese Beobachtung lässt sich dadurch belegen, dass es häufig „Gegen-Eliten“ waren, die rechtliche Absicherungen erwirkt haben, wie im Fall der Magna Carta der Adel und die Kirche (Berman 1991: 470) oder aber in den modernen

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

sen gewöhnlich die (problematisierende) Wahrnehmung dessen voraussetzt, was andere mit Hilfe von Institutionen etc. zu leisten vermögen, d.h. wie so Möglichkeiten genommen werden können. Dieses „positive“ Interesse ist nicht als solches schon ein Streben danach, Freiheit in politischen Verfahren und Strukturen positiv auszuüben, sondern kann durchaus so verstanden werden, dass darauf abgezielt wird, individuelle oder partikulare positive Ziele verfolgen zu können. Wenn Verfahren und Strukturen von den Handelnden aber in den Blick genommen werden, dann derart, dass es zumindest ein positives Moment in der Bezugnahme darauf gibt. Es macht keinen Sinn, Diogenes von Sinope bzw. ein Ideal reiner Unaffiziertheit als Ausgangspunkt dafür zu wählen, politische Verfahren und Strukturen zu rechtfertigen. Denn reine Negativität, d.h. der Verzicht darauf, positive Interessen von Handelnden zu erwähnen, vermag nicht zu erklären, warum Handelnde sich in ein allgemeines Verhältnis zueinander begeben bzw. v.a. danach streben sollten, dieses Verhältnis freiheitsermöglichend und -verbürgend zu gestalten. Es müssten weitere Gründe angeführt werden, warum Handelnde es vorziehen sollten, ihre Unaffiziertheit gesichert zu bekommen, und warum es nicht für sie günstiger sein könnte, an einem Handlungsschema anderer „beteiligt“ zu werden, das ihnen eventuell größeren „Schutz“ vor kollektiven Verhältnissen bzw. größere Möglichkeiten bieten würde, die ungenannten Ziele und Interessen zu verfolgen.37 Die Notwendigkeit, auf die politischen Verfahren und Strukturen überhaupt Bezug zu nehmen, die über diese allgemeine Positivität von Interessen hinausgeht, ergibt sich aus dem kantischen Universalismus,38 den der vorliegende Republikanismus anders

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Verfassungsstaaten das aufstrebende Bürgertum. Dagegen setzen sich in sozialen Kontexten, in denen positive Optionen kaum entwickelt werden (bzw. deren Entwicklung strukturell verhindert wird), gewöhnlich auch die negativen Absicherungen nicht durch. Zur Ausdehnung dieser Kritik auf Pettits Konzeption vgl. Ferejohn 2001: 86. Mit dem „Universalismus“ wird an dieser Stelle nicht auf eine universelle Rechtfertigungspflicht oder universelle Strukturen verwiesen, sondern darauf, dass das Interesse, Freiheit positiv ausüben zu können, als universelles Interesse betrachtet wird. Es sind nicht nur einzelne Handelnde, die daran Interesse

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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aufgreift als die zuvor diskutierte Volkssouveränitätstheorie: Wenn jeder ein Interesse daran hat, Freiheit (wie auch immer sie bestimmt wird) positiv auszuüben, dann impliziert dies, gegeben den Bezug auf andere in den Absichten, auch, dass andere diese Ausübung respektieren bzw. im Fall von Kooperation zu ihr und ihrem Gelingen beitragen sollten. Unter je kontingenten Ressourcen- und Machtverteilungen kann keiner dauerhaft sicherstellen, dass andere in der gewünschten Weise handeln oder kooperieren. Dies ist, wie schon im Kapitel 3 im Anschluss an Kants Metaphysik der Sitten argumentiert wurde, der wesentliche Grund, warum für das Bestehen von Freiheit vorausgesetzt werden muss, dass die Bedingungen, die sie ermöglichen und absichern, nicht aufgrund willkürlicher bzw. grundsätzlich in der Willkür einiger Personen und/oder Institutionen stehender Entscheidungen erfüllt sind. Da nun aber zusätzlich ein positives Interesse an eventuell kollektiven Intentionen angenommen wird, muss jeder darüber hinaus auch unterstellen, dass die Bedingungen es erlauben, Freiheit in der gewünschten Weise positiv auszuüben. Es ist daher erforderlich, dass Instanzen etabliert und gesucht werden, die die Bedingungen garantieren, unter denen alle ihre Freiheit ausüben können und nicht nur diejenigen, die zufällig über die Mittel verfügen, andere zur „Kooperation“ zu „motivieren“ – und zwar zunächst (d.h. mit Blick auf die positiven Interessen, die bisher angeführt wurden) so, dass dasjenige, was ausgeübt wird, derart durchsetzbar ist, dass Widerstände unterbunden und Kooperationen notfalls erzwungen werden können. Es wird also vorerst nicht unterstellt, dass die Begründung des Bezugs auf die politischen Verfahren und Strukturen per se eine Umstellung der Absichten in der Form von deren Ausrichtung auf ein Gemeinwohl, wie in der Nachfolge Rousseaus gedacht, oder die Gerechtigkeit, wie bei Kant, impliziert. Diese Anforderung an die Verfassung und Organisation von Institutionen und sonstigen politischen Einrichtungen, dass sie die Bedingungen garantieren, unter denen alle ihre Freiheit ausüben können, klingt – schon aufgrund des geteilten Bezugs auf Kant – haben, sondern es kann jedem Handelnden unabhängig von seiner Lage etc. unterstellt werden, dass er eigene Projekte und Ziele verfolgen möchte.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

ähnlich, wie das, was die (kantianischen) Volkssouveränitätstheorien formulieren. Dies liegt daran, dass deren Motiv aufgegriffen wird, die positive Ausübung von Freiheit in den Verfahren und Strukturen als Ausgangspunkt für das legitime Wirken der Instanzen zu begreifen, die qua Herrschaft Handlungsverhältnisse etablieren und erhalten. Denn die Verfahren und Strukturen gewährleisten nur dann, dass alle ihre Freiheit ausüben können, wenn sie so konzipiert sind, dass sie Verhältnisse so zu gestalten erlauben, dass in ihnen das realisiert ist bzw. werden kann, was die Ausübung positiver Freiheit anvisiert. Im Aufgreifen des Motivs der Autorenschaft von sozialen Handlungsverhältnissen in den Verfahren und Strukturen wird die Vorstellung der positiven Ausübung von Freiheit (neben der im Vergleich zu den anderen Republikanismen schwächeren Annahme in der bisherigen Argumentation, dass diese Ausübung inhaltlich nicht von der vor- oder außerpolitischen Ausübung verschieden sein muss) aber in dreifacher Weise modifiziert: Erstens wird der Ausgangspunkt nicht als linear erster Punkt begriffen, von dem ausgehend Institutionen, Instanzen und die Handlungsverhältnisse überhaupt konstituiert oder gesetzt werden. Der „Ausgangspunkt“ ist ein Moment einer zirkulären Praxis, in der Ausschnitte aus der Handlungswelt thematisiert und mit dem Ziel, die gewünschten positiven Interessen zu realisieren, in der Form von Gesetzen oder Direktiven reguliert, rekonstituiert oder revidiert werden.39 Für den vorliegenden Republikanismus gibt es immer schon Institutionen und weitere Einrichtungen bzw. überkommene Regulierungen, die Handlungsverhältnisse bestimmen und kontrollieren. Viele Faktoren, die dafür sprechen, dass das Wirken solcher Einrichtungen bzw. von jeweiligen Optionen beherrschend oder nicht hinreichend freiheitsermöglichend ist bzw. nicht im Einklang mit positiven Interessen steht, werden erst im Kontext historischer Entwicklungen und (Neu-)Formierungen von Interessen etc. sichtbar oder entdeckt (Pettit 1997: 146-147). Zweitens wird die positive Ausübung von Freiheit selbst so verstanden, dass sie nicht nur zu einer bestimm-

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Vgl. dazu die Beschreibung, die Habermas im Anschluss an Alfred Schütz sowie Berger/Luckmann davon gibt, wie lebensweltliche Selbstverständlichkeiten thematisiert werden (Habermas 1987b: 182-228).

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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ten Gestalt von Handlungsverhältnissen führt, sondern auch zukünftige Verfahren und Strukturen so beeinflusst, dass die Verhältnisse selbst (a) „Plausibilitäten und Unplausibilitäten“40 etablieren, (b) dazu führen, dass Themen eher auf die Agenda kommen können als andere, und (c) schließlich individuelle Fähigkeiten, sich und seine Auffassungen in den Verfahren und Strukturen zur Geltung zu bringen, an Wert gewinnen oder verlieren können. Drittens wird v.a. berücksichtigt, dass das, was in positiver Ausübung von Freiheit realisiert wird, bzw. die Weise, in der Institutionen etc. „programmiert“ werden, Einrichtungen mit eigenem Machtpotential hervorbringt. Die Ziele, die mit der positiven Ausübung von Freiheit verbunden sind, führen zu Einrichtungen, die nicht nur individuelle Handlungsräume in ein Verhältnis zueinander setzen, indem sie z.B. voneinander abgegrenzt werden, sondern aktiv die Ausführung bestimmter Handlungen bzw. sogar die Generierung bestimmter Motivationen betreiben. Solche Institutionen können nicht durch den Verweis auf die Richtung der Programmierung einfach normativ neutralisiert werden. Diese drei Modifikationen gegenüber der kantianischen Konzeption gemeinsamer Autorenschaft der Regulierungen von Handlungsverhältnissen haben zwei Folgen für die Präzisierung der Bedingungen, die die positive Ausübung von Freiheit sicherstellen: Erstens wird der Blick stärker auf die außerpolitischen Bedingungen gerichtet, die es Handelnden erlauben, Interessen zu artikulieren und in den Verfahren und Strukturen zur Geltung zu bringen. Zweitens müssen die Konsequenzen der Entscheidungen, die in den Verfahren getroffen werden, bzw. der Umsetzung der Entscheidungen in der Durchführung der Verfahren bzw. zukünftiger Verfahren unter der Prämisse berücksichtigt werden, dass weder diejenigen, die die Verfahren tragen und erhalten, noch die Institutionen, die die Entscheidungen umsetzen, willkürlich handeln (können). Als Konsequenz der Verfahren und Strukturen

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Dies ist, wie zuvor festgehalten, nicht relativistisch zu verstehen, sondern so, dass eine eingespielte soziale Praxis auf unhinterfragten Prämissen aufruht, die das Funktionieren der Praxis vermeintlich plausibilisiert. In diesem Sinn legt jede Praxis, denen, die sie modifizieren wollen, andere und z.T. höhere Begründungslasten auf als denen, die sie fortführen (wollen).

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

kann es zu Beherrschung kommen, die weder in ihnen antizipierbar war, noch einfach durch eine Gesamtstruktur der Nicht-Beherrschung immer schon vermieden wird oder vermeidbar ist. Die Herleitung der Forderung, dass die Einrichtungen und Instanzen, die Herrschaft ausüben, exklusiv an die positive Ausübung von Freiheit in politischen Verfahren und Strukturen gebunden sein müssen, ist aufgrund des Ausgangspunkts bei kontingenten Interessen von Handelnden sowie der Komplikationen, die die Konstitution der Autorenschaft von Regulierungen von Handlungszusammenhängen aufwirft, bislang unterbestimmt hinsichtlich der Frage, um wessen positive Ausübung von Freiheit es sich jeweils handelt. Hier unterscheidet sich die Argumentation signifikant von derjenigen der Volkssouveränitätstheorien. Denn jene stoßen gar nicht erst auf das Problem auszuzeichnen, wer Freiheit positiv ausüben darf. Durch die Transformation der Freiheit im Übergang von vorpolitischen Interessen zur Teilhabe an den politischen Verfahren erzeugen sie einen neuen „Handelnden“, „das Volk“, dem qua Konstruktion das Recht zugeschrieben wird, positiv Freiheit auszuüben. Der neo-römische Republikanismus verwirft dagegen die faktischen Interessen nicht einfach als partikular und falsch. Er ist daher aber genötigt, Kriterien anzuführen, die die Auswahl des- oder derjenigen erlauben, der oder die Freiheit positiv ausüben dürfen, ohne dabei einen neuen Handelnden zu entwerfen, dem schon in der Konstruktion ein normativ „wahreres“, „richtigeres“ oder „besseres“ positives Interesse zugeschrieben wird.41 Er zieht damit die Konsequenz aus den Schwierigkeiten, die in der Diskussion von Rousseaus und Kants Vorstellungen des „Allgemeinwillens“ bzw. „vereinigten Willens“ deutlich wurden.

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Die Zurückweisung des „Volks“ als des republikanischen Subjekts und die Aufwertung der Interessen Einzelner verbinden die Vertreter des neo-römischen Republikanismus in der politischen Diagnose mit liberalen Positionen, die die Aggregation des „Volks“ zur Ausübung von Herrschaft mit Skepsis betrachten und dabei aktivistischen Populismus befürchten, der zu irrationalen Beschlüssen führt und Institutionen (im engen Sinn des Wortes) mächtig macht (Pettit 1997: 7-8; Sunstein 1988: 1564-1571). Es ist daher nicht überraschend, dass in den Ausführungen zum neo-römischen Republikanismus John Locke, Montesquieu und James Madison als dessen wichtigste neuzeitliche Vertreter genannt werden (Pettit 1997: 19-20).

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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Denn selbst wenn man annimmt, dass in den Verfahren von der partikularen Ausübung der Freiheit vor der Politik zur „wahren“ Freiheit in der Politik übergegangen wird, ist nicht davon auszugehen, dass es dabei jemals um eine kollektiv einheitliche positive Ausübung von Freiheit derer gehen kann, die sich an den Verfahren und Strukturen beteiligen. Politische Gemeinschaften sind – zumindest in der Moderne – plural verfasst, so dass selbst und v.a. bei der Frage, welches (kollektive) Ziel aus einer Reihe möglicher Projekte auszuwählen ist, die nicht direkt negative Konsequenzen für jeweils einige haben,42 nicht davon auszugehen ist, dass es zu einer einstimmigen Auffassung kommt. Auch das andere Extrem, nämlich die positive Ausübung von Freiheit durch Wenige oder Einzelne, die kontingent bestimmt werden, ist unplausibel. Denn aufgrund der Tatsache, dass andere eventuell im Rahmen kooperativer Handlungsschemata an den Resultaten der positiven Ausübung von Freiheit beteiligt werden, ist die Kontingenz in der Auswahl ein zu schwacher Grund für die Legitimität des denkbaren Erzwingens von Kooperation. Aufgrund der freiheitstheoretischen Perspektive verbietet es sich zudem, zur Qualifikation der Gründe ein zusätzliches inhaltliches Kriterium einzuführen, das die Berechtigung, Freiheit positiv auszuüben, an die (vorweg festgelegte) normative, epistemische oder sonstige Qualität dessen bindet, was in der Ausübung realisiert wird. Denn der angeführte Pluralismus verhindert zweifelsohne auch, dass es zur vollständigen Übereinstimmung hinsichtlich der Kriterien kommen könnte, die die Qualität a priori verbürgen sollten. Die Konsequenz, die aus den Schwierigkeiten gezogen wird, die die Bestimmung des Allgemeinwillens aufwirft, besteht also

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Hiermit sind Projekte gemeint, die keine direkten Kosten für irgendjemanden mit sich bringen, aber eventuell auch nicht von Vorteil für den Handelnden sind. Der Blick auf diese Projekte soll zeigen, dass selbst wenn ausgeschlossen würde, dass kollektiv Projekte verfolgt werden könnten, die für einige nur negative Folgen haben (was mit Blick auf wichtige Themen in politischen Kontexten schon eine äußerst problematische Einschränkung wäre – man denke nur an Besteuerungen, die gezielt einzelne Gruppen treffen, wie etwa die Tabaksteuer), dies nicht bedeuten würde, dass es ein einziges positives Projekt gäbe, das legitimerweise verfolgt werden dürfte.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

weniger darin, den Eigenwert bestimmter partikularer Interessen und Projekte zu betonen, die in der Perspektive der Volkssouveränitätstheorien nicht verfolgt werden dürften. Es wird vielmehr aus der Unmöglichkeit, eine klare Formulierung anzubieten, wie garantiert sein kann, dass tatsächlich alle in einem Allgemeinwillen zur Geltung kommen (können), gefolgert, dass ein Moment der Besonderheit jedes Einzelnen berücksichtigt werden muss, ohne das es unmöglich wäre, einen Vorbehalt gegenüber der Artikulation des Allgemeinwillens vorzubringen, die den Verfahren gemäß zustande gekommen ist.43 Die Herausforderung besteht folglich darin, ob und wie zwei Bedeutungen der „Freiheit aller“ miteinander vereinbart werden können, die nicht aufeinander reduzierbar sind und ersichtlich werden, wenn der Blick auf Kriterien für die Auswahl derer geworfen wird, die ihre Freiheit in den Verfahren und Strukturen positiv ausüben können: Die erste Bedeutung ergibt sich im Anschluss an das Interesse aller an Verhältnissen, in denen andere notfalls gezwungen werden können und dürfen, kooperativ zu handeln bzw. die Ausführung bestimmter Handlungen nicht zu behindern, oder man selbst nur gezwungen werden kann, sich an den Handlungsschemata zu beteiligen, die gemeinsam beschlossen wurden. Hier hängt die „Freiheit aller“ an der Existenz von Verfahren und Institutionen, in denen überhaupt gesichert wird, dass Freiheit nicht beherrschend, d.h. in diesem Fall nicht willkürlich aufgrund von eigenen Ressourcen bzw. dem Unterlassen oder Wohlwollen anderer Personen oder Institutionen, positiv ausgeübt werden kann. Dies kann nur gesichert werden, wenn alle an den Verfahren und darüber vermittelt am Wirken der Institutionen beteiligt sein können und die Institutionen strikt an die Verfahren gebunden sind. Das „aller“ wird also im Licht der (Bedingungen der) Freiheit summarisch verstanden, insofern alle (unabhängig von ihrer Stellung bzw. ihren jeweiligen Ressourcen) in einen Handlungszusammenhang und die Bedingungen, die zu seiner Einrichtung erforderlich sind, einbezogen werden. In einer zweiten Bedeutung ist die „Freiheit aller“ als die „Freiheit eines jeden“

–––––––––––––– 43

Vgl. zur Kritik an der Gleichsetzung der „Freiheit aller“ mit der „Freiheit in den politischen Verfahren und Strukturen“ bzw. der „liberté des Anciens“ (Constant) auch Pettit 1999: 166.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

213

zu verstehen, d.h. in dieser Hinsicht wird das „aller“ distributiv begriffen. Denn es haben nicht einfach alle ein Interesse an der gemeinsamen positiven Ausübung von Freiheit (so dass die Gemeinsamkeit ein guter Grund dafür ist, die eigenen Interessen einzuschränken oder gar nicht zu berücksichtigen), sondern jeder Einzelne hat das Interesse an einer solchen positiven Ausübung der Freiheit, die oft die gemeinsame Existenz betrifft und nur in gemeinsamen Verfahren und Institutionen umgesetzt werden kann. Insofern spielt die „Gemeinsamkeit“ zweifelsohne eine gewisse Rolle in der Artikulation und politischen Verteidigung von Interessen und Projekten, sie ist aber (selbst rein normativ betrachtet) kein so klarer und distinkter Bezugspunkt, dass die Perspektive jedes Einzelnen darauf begrenzt werden könnte. Wenn somit die zweite Bedeutung der „Freiheit“ wesentlich vom distributiven Verständnis des „aller“ als „eines jeden“ abhängt, lassen sich die beiden Bedeutungen nicht unproblematisch aufeinander reduzieren oder in einer dritten Bedeutung aufheben: Weder lässt sich die Breite der möglichen Freiheitsansprüche eines jeden dadurch hinreichend reduzieren, dass die Bedingungen für die positive Ausübung von Freiheit überhaupt expliziert werden, noch ergibt sich aus der Divergenz der Freiheitsansprüche eine klare Bestimmung der Verfahren und Institutionen, die sie bzw. ihre Koordination zu sichern vermögen. Bei aller Vorrangstellung, die die vorliegenden Ausführungen der positiven Ausübung von Freiheit zuschreiben, soll nämlich nicht gesagt werden, dass jede von Handelnden angestrebte positive Ausübung von Freiheit gleich gut und „zulässig“ ist. Viele Absichten zielen darauf ab, andere bzw. das Handeln anderer eigenen Interessen unterzuordnen. Es muss daher Möglichkeiten geben, solches Handeln zu verhindern oder ihm zumindest Grenzen aufzuerlegen. Schon daher verbietet es sich, einfach bei der Pluralität positiver Absichten anzusetzen und nach einem modus vivendi zu suchen, in dem sie möglichst umfangreich zugleich verfolgt werden können. Die Kritik an den anderen Republikanismen und deren Absehen von den je individuellen Bedingungen, unter denen Freiheit positiv genutzt werden kann, führt also nicht zu einem (vor-rawlsschen) Liberalismus oder Libertarismus zurück, bei dem kontingente Freiheitsräu-

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

me nicht negativ, sondern positiv bestimmt werden. Einem solchen Rückgriff auf die liberale Argumentation steht entgegen, dass die positive Ausübung von Freiheit immer schon die Möglichkeit vorsieht, andere in Handlungsschemata mit einzubeziehen, also der Nicht-Interferenz-Individualismus oder -Partikularismus zurückgewiesen wird bzw. ohne schwerwiegende Folgeprobleme zurückgewiesen werden können soll. Die Herausforderung, wie die beiden Bedeutungen der „Freiheit aller“ miteinander verbunden werden können, erscheint weniger dramatisch, wenn man den Pluralismus nicht als rigide Gegebenheit betrachtet, sondern ihn als Ausgangspunkt nimmt, der zwar Konflikte voraussehbar und unumgänglich macht, zugleich aber Spielräume für Verhandlungen bzw. das Entwickeln gemeinsamer Interessen und Projekte lässt. Politischen Entscheidungen sollten – wir bereits gesehen – Beratungen vorweggehen, und solche Deliberation ist so zu verstehen, dass in ihr die Beteiligten die Auffassungen und Interessen, mit denen sie in die Beratung einsteigen, durchaus revidieren und modifizieren, sei es um Einwände und Vorbehalte anderer aufzugreifen oder anderen Angebote für gemeinsame Positionen zu unterbreiten. Es ist daher nicht anzunehmen, dass die Bandbreite an Auffassungen und Interessen, die zu Beginn einer Auseinandersetzung besteht, identisch mit derjenigen ist, die zum Zeitpunkt der Entscheidung in letztere einfließen wird (Bohman 1996: 53-66). Darüber hinaus sind auch die Entscheidungen, wenn sie getroffen werden, gewöhnlich keine „Entweder-oder-Entscheidungen“, sondern Entscheidungsvorlagen sind oft Resultate der Beratungen und Verhandlungen in dem Sinn, dass in ihnen durchaus heterogene Auffassungen und Interessen zusammengebracht werden, so diese nicht mit Blick auf ein bestimmtes Gut konfligieren oder (wenn auch in keinem notwendigen Zusammenhang stehend) zugleich realisiert werden können. Diese Entdramatisierung hat aber keine systematischen Auswirkungen. Denn selbst wenn mit der Theorie deliberativer Demokratie für viele Kontexte unterstellt werden kann, dass Deliberation zumindest einige rationalisierende Effekte bei Auffassun-

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

215

gen, Interessen und Entscheidungen hat,44 so vermag diese Unterstellung doch nicht auszuschließen, dass die Effekte ausbleiben bzw. sich eine Gruppe findet, die sich mit ihrem Gewicht in den Verfahren, über die anderen hinwegsetzt und ihre Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit ausreizt. Es muss also sichergestellt werden, dass ein Setting gefunden wird, dass einerseits garantiert, dass alle in die Handlungszusammenhänge mit einbezogen werden (es also einen Primat der Verfahren und Strukturen und dessen, was in ihnen entschieden wird, gegenüber der kontingenten Ressourcenverteilung unter Handelnden gibt), während andererseits jeder Einzelne in seiner Differenz zu den anderen berücksichtigt wird (die Verfahren und Strukturen also nicht nur unbestimmt Freiheit gewährleisten, sondern sie dies für jeden Einzelnen tun). Lässt sich ein solches Setting finden, das jenseits der beiden Optionen liegt, die in den vorhergehenden Kapiteln erörtert wurden: nämlich entweder gleiche, unqualifizierte Möglichkeiten zur außerpolitischen, positiven Ausübung von Freiheit zu geben (und den Verfahren und Strukturen die Aufgabe zu erteilen, die gleiche Möglichkeit zu sichern), oder alle zu verpflichten, diejenige positive Ausübung kollektiver Freiheit als auch individuell richtig zu erachten, die sich in einer (z.B. durch ein Quorum oder die Art der Gründe) qualifizierten Mehrheitsentscheidung in den Verfahren durchsetzt? Aufgrund des Pluralismus und der wechselseitigen Auswirkungen von Intentionen ist es nicht möglich, dass jeder Einzelne gleichermaßen seine Freiheit in den Verfahren und Strukturen positiv ausüben kann. Zugleich lassen sich aber die Ansprüche, die Handelnde berechtigterweise entwickeln, nicht auf die (Bedingungen der) Nutzung individueller Spielräume reduzieren. Dem positiven Ausüben von Freiheit kommt so großer Wert für jeden Einzelnen zu und Verfahren und Strukturen, in die alle einbezogen sind, sind für dieses Ausüben notwendig. Es liegt daher nahe, durch die Kombination unterschiedlicher Elemente, die es erlauben, Freiheit positiv auszuüben und negativ abzusichern, ein politisches Gefüge zu entwickeln, in dem einigen bzw. möglichst vielen die Möglichkeit gewährt wird, Freiheit positiv auszu-

–––––––––––––– 44

Vgl. zudem die Problematisierung von unterschiedlichen Strukturierungen von Deliberationen, die zu unterschiedlichen Resultaten führen, bei Pettit 2001c und Pettit 2003.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

üben, während andere nicht fürchten müssen, auf diese Weise von ersteren beherrscht zu werden, bzw. sogar selbst durch den Einbezug in das Gefüge einen Vorteil haben. Die Verfahren und Strukturen müssen also derart gestaltet sein, dass sie es einerseits den Beteiligten erlauben, dasjenige herauszufinden, was den Interessen und Auffassungen möglichst vieler von ihnen (zu einem möglichst hohen Grad) entspricht. Andererseits muss aber ausgeschlossen sein, dass diejenigen, deren Interessen und Auffassungen letztlich nicht positiv in eine Entscheidung einfließen, dauerhaft und strukturell in dieser Position sind bzw. in diese Position gebracht werden, d.h. sie zwar z.T. die Kosten für die positive Ausübung von Freiheit der anderen mittragen, aber nie in die Rolle derer kommen, die ebenfalls Freiheit positiv ausüben können. Wenn Verfahren und Strukturen Freiheit nicht nur negativ absichern, sondern sie auch zur positiven Ausübung derselben dienen, dann muss eine Theorie der Legitimität von Verfahren etc. bzw. deren Auswirkungen Gründe angeben können, warum diejenigen, die (zumindest momentan) in der positiven Ausübung von Freiheit nicht zum Zug kommen, dies nicht als Anlass begreifen sollten, den Entscheidungen und Maßnahmen keine Folge zu leisten. Pettit formuliert als gemeinsames Kriterium für diese zwei Arten des Bezugs auf die Freiheit, dass Verfahren und Strukturen die Interessen derjenigen aufspüren, die von den Resultaten betroffen sind.45 Dieses Aufspüren hat gemäß dem doppelten Freiheitsbezug zwei Richtungen: es müssen erstens die Interessen und Projekte identifiziert werden, die von den Institutionen positiv realisiert werden sollen, während zweitens die Interessen ausgemacht werden sollten, die durch die Umsetzung ersterer eingeschränkt (und nicht nur nicht befördert) werden. Dies führt zu einer Zweistufigkeit des Verfahrens, in der die positive und die negative Dimension von Freiheit je anders gewichtet und gesichert werden. Das Setting, das angestrebt wird, liegt daher jenseits der Optionen,

–––––––––––––– 45

„The promotion of freedom as non-domination requires, therefore, that something be done to ensure that public decision-making tracks the interests and the ideas of those citizens whom it affects; after all, non-arbitrariness is guaranteed by nothing more or less than the existence of a tracking relationship.“ Pettit 1997: 184.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

217

die bislang erörtert wurden, weil die positive Ausübung von kollektiver Freiheit primär ist, sie aber nicht (vollends) von Kontingenz befreit wird. Als Ausgleich für diese Kontingenz bzw. als Absicherung gegen beherrschende Effekte derselben ergeben sich deshalb in einer zweiten Stufe Forderungen an die Verfahren und die außerpolitischen Handlungsverhältnisse, die in der positiven Ausübung der Freiheit jederzeit berücksichtigt werden müssen bzw. nicht missachtet werden dürfen. Es müssen folglich Verfahren eingerichtet werden, die auf der ersten Stufe die Herausbildung von Mehrheitsentscheidungen erlauben, ohne dass es dabei zu beherrschenden Verhältnissen zwischen denen kommt, die an den Verfahren beteiligt sind. Auf der zweiten Stufe muss gesichert werden, dass die Entscheidungen der ersten Stufe nicht zur dauerhaften Aufteilung in Mehr- und Minderheit führen bzw. einige so benachteiligen, dass ihre Möglichkeit nachhaltig gemindert wird, sich in zukünftigen Verfahren angemessen zur Geltung zu bringen.46 Die erste Stufe setzt voraus, dass alle, die an den Verfahren beteiligt sind oder sein sollten, befähigt werden und dauerhaft befähigt bleiben, sich in den Verfahren zur Geltung zu bringen. Zu diesen Befähigungen gehören einerseits ökonomische, soziale, kulturelle und kognitive Ressourcen sowie die Möglichkeit, die Formen (wie z.B. Parteien, Assoziationen) zu etablieren und zu nutzen, die für die Teilhabe an den Verfahren bzw. an der Struktur insgesamt vorgesehen sind, sowie andererseits Verfahrensvoraussetzungen, die gewährleisten, dass das Nutzen der Ressourcen in der Tat den Effekt hat, dass die eigenen Interessen und Auffassungen zur Geltung gebracht werden können.47 Da diese Befähigungen erst ermöglichen, dass die Verfah-

–––––––––––––– 46

47

Vgl. zu dieser Zweistufigkeit auch Pettits Unterscheidung zwischen primären und sekundären bzw. kompromittierenden und konditionierenden Freiheitseinschränkungen in Pettit 2002: 342. Die Diskussion über Differenzen und Parallelen zwischen Ressourcen- und Befähigungsansätzen ist kompliziert (vgl. die Präsentation der Diskussion aus der Perspektive eines Befähigungsansatzes Nussbaum 2007: 10-33). Im Wesentlichen lassen sich zwei Charakteristika von Befähigungsansätzen identifizieren, die sie von Ansätzen abheben, die an Ressourcen orientiert sind: Das erste Charakteristikum liegt darin, dass der Befähigungsansatz bei aller Betonung einer universalistischen Perspektive und der Betrachtung von Menschen

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

ren mit dem Ziel, Freiheit positiv auszuüben, durchgeführt werden können, dürfen sie grundsätzlich in den Verfahren und auch weiteren Instanzen nicht zur Disposition stehen. Sie ergeben sich aus dem Interesse eines jeden an (den zwei Bedeutungen) der Freiheit aller und dem Anspruch auf nicht-willkürliche Gewährleistung von Freiheit und können daher nicht unter Verweis auf die Ausübung von Freiheit durch einige anderen vorenthalten werden. Eine Mehrheit kann nur dann legitimerweise Freiheit positiv ausüben, wenn das Ausüben nicht auf willkürlichem Ausschluss der Minderheit beruht. Dasjenige, was jeweils an Ressourcen und Verfahrensregeln konkret notwendig ist, um zur Teilhabe an Strukturen und Verfahren befähigt zu sein, lässt sich nur sehr allgemein apriorisch bestimmen (vgl. Pettit 2001d). Sowohl die Art als auch das Niveau erforderlicher Fähigkeiten und Verfahrensprinzipien hängen von vielen Faktoren in den jeweiligen Kontexten ab. Es ist daher wichtig, dass es etablierte Mechanismen gibt, in denen diejenigen, die den Eindruck haben, dass sie sich aufgrund fehlender Kompetenzen, problematischer Verfahrensvoraussetzungen oder aufgrund von fragwürdigen Erwartungen derjenigen, die die Verfahren (aus welchen Gründen auch immer) dominieren, nicht angemessen zur Geltung bringen können, dies thematisieren bzw. eine Revision der Verfahrensbedingungen initiieren können. Diese Mechanismen müssen strikt und so formal wie möglich auf die Verfahren als Zwecke an sich (Nussbaum 2000: 6) keine Ressourcen per se auszeichnet, deren Verteilung unter normativen Gesichtspunkten erörtert wird. Er argumentiert vielmehr holistisch oder sozialtheoretisch und bindet die relevanten Ressourcen an die Bedingungen des „Funktionierens“ in einem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang bzw. an dasjenige, wozu Menschen in dem Zusammenhang befähigt sein müssen (vgl. zum Begriff „menschlicher Funktionen“ Sen 2000: 94-97, zur Abgrenzung der „capabilities“ von einem kontextualistischen Funktionalismus Nussbaum 2000: 86-96). Das zweite Charakteristikum ist eng mit dem ersten verbunden: Es wird nämlich herausgestellt, dass das normative Ziel nicht primär eine Verteilung ausgezeichneter Ressourcen ist. Es ist demgegenüber zu fragen, zu welchen Handlungen eine Person „wirklich“ in der Lage ist (Nussbaum 2000: 71). Ressourcen sind somit in Befähigungsansätzen nicht irrelevant, sie werden aber mit Blick auf tatsächliche Optionen und den Status von Personen im sozialen Zusammenhang bewertet.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

219

selbst bezogen sein, denn nur so kann Missbrauch minimiert werden, während notwendige Veränderungen in den Verfahren bzw. den befähigenden Ressourcen größere Anerkennung finden werden. Mit dieser „Anerkennung“ soll dabei nicht an die „moralisch richtige“ Nutzung der Willkür derer appelliert werden, die die Verfahren derzeit dominieren. Es soll vielmehr auf das Problem hingewiesen werden, dass oft schwer zwischen inhaltlichen und formalen Aspekten eines Verfahrens zu unterscheiden ist. Dies gilt v.a. dann, wenn, wie es hier geschieht, die formalen Fähigkeiten in Abhängigkeit von den inhaltlichen Fragen gesetzt werden. Mit Blick auf die Verfahrensbedingungen erweist sich insgesamt, dass Entscheidungen nur dann nicht-beherrschend, nun im Sinn der Verhinderung von Beherrschung in den Verfahren verstanden, getroffen werden,48 wenn sichergestellt ist, dass in der Durchführung der Verfahren die oben genannten Kriterien für Beherrschung nicht zur Geltung kommen. Es müssen den Verfahrensbeteiligten Beteiligungsoptionen nicht willkürlich zur Verfügung stehen, d.h. es muss in ihrer eigenen Entscheidung stehen, nun und in Zukunft Gebrauch von diesen Optionen zu machen. Neben der Anforderung an die Existenz von Institutionen und Instanzen, die die Verfahren überhaupt erst einrichten und unabhängig von denjenigen erhalten und kontrollieren, die sie derzeit nutzen, bedeutet dies v.a. auch, dass die Beteiligten nicht der Ausübung von Macht durch andere, die an den Verfahren teilhaben, bzw. durch Institutionen, auf deren Leistungen und Ressourcen sie eventuell angewiesen sind, unterworfen sind. Es müssen daher, wie zuvor schon für die Volkssouveränitätstheorie konstatiert, die Verfahrensprinzipien denjenigen, die sich an den Verfahren beteiligen bzw. Interesse an der Durchführung oder Nicht-Durchführung eines Verfahrens haben, so entzogen sein, dass sie als Gewährleistung der Möglichkeit dienen können, andere daran zu hindern, auf die eigene Verfahrensbeteiligung Einfluss zu nehmen.

–––––––––––––– 48

Diese Interpretation der Nicht-Beherrschung bezieht sich primär auf den Modus, in dem festgelegt wird, was in der Ausübung positiver Freiheit zur Geltung kommt. Damit ist noch nicht gesagt, dass nicht besondere Gehalte dessen, was entschieden wird, bzw. Optionen, die durch die Umsetzung der entsprechenden Gehalte zur Erscheinung kommen, beherrschend sein können.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Diese Entzogenheit hat neben der „positiven“ Seite der Befähigung (gemäß der Vorbehalte der Bezeichnung der „negativen Freiheit“ als „negativ“) auch eine „negative“ Seite: Die Verfahren müssen nämlich selbst Teil eines Gefüges von Institutionen, Verfahren und Strukturen sein, bei dem die Bedingungen, die die Durchführung der Verfahren betreffen, denen, die in ihnen zu einem gegebenen Fall beraten, nicht (direkt) verfügbar sind bzw. signifikante Möglichkeiten bestehen, die Weise der Durchführung der Verfahren zu problematisieren. Schon aus kognitiven Gründen müssen die Verfahren selbst deliberativ gestaltet sein, da diese Vorgehensweise am ehesten garantiert, dass die Beteiligten erkennen, wie eine mögliche Perspektive für eine Mehrheit aussehen könnte oder sollte. Deliberative Verfahren erlauben, wie oben ausgeführt, die Modifikation und Revision von Auffassungen und Interessen, was sowohl mit Blick darauf, Mehrheiten zu generieren, wie auch für die Rationalität von Entscheidungsgrundlagen von Vorteil sein kann. Zudem macht es eine solche Genese von Mehrheiten für Minderheiten nachvollziehbarer und akzeptabler, warum sie in der positiven Ausübung von Freiheit nicht zum Zug gekommen sind. Schließlich führt die Deliberation vor Entscheidungen dazu, dass sie letztlich nicht nur in abschließenden Dokumenten bestehen, sondern dass die Gründe, die zu ihnen geführt haben, zumindest z.T. transparent und dokumentiert sind. Dies bietet wichtige Referenzpunkte bei späteren Revisionen von Entscheidungen (etwa auf der zweiten Stufe der Verfahren) bzw. in juristischen oder exekutiven Anwendungen der Dokumente. Die Frage nach dem Setting bezieht sich aber nicht allein auf das Verfahren, in dem Entscheidungen vorbereitet werden, sondern auch auf die Art der Entscheidungsfindung selbst. Wenn es das primäre Interesse der Handelnden ist, in positiver Ausübung von Freiheit Projekte und Ziele zu verfolgen, dann haben sie grundsätzlich ein Interesse daran, dass die positive Ausübung von Freiheit eher möglich als unmöglich ist. Dies spricht bei allem Interesse an der Beteiligung an den Verfahren, die zu Entscheidungen hinführen, gegen quantitativ zu hohe Ansprüche an die Mehrheit, die sich in den Entscheidungen am Ende von Verfahren

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

221

durchsetzt.49 Je höher die Größe der erwarteten Mehrheit bei einer Entscheidung ist, umso weniger wahrscheinlich wird es, dass es zu einer positiven Entscheidung kommt, d.h. einer Entscheidung, in der einzelne Interessen und Projekte verfolgt werden. Ein niedrigschwelliges Mehrheitsprinzip schafft zudem über das Anliegen hinaus, in möglichst vielen Fällen die positive Ausübung von Freiheit zu ermöglichen, zusätzliche Motivationen, sich und seine Auffassungen bzw. Interessen zur Geltung zu bringen, da es erwartbarer wird, dass diese Bemühung erfolgreich ist.

4.3.4 Nicht-Beherrschung und die negative Absicherung von Freiheit Solch ein Mehrheitsprinzip ist dann unbedenklich, wenn – unter der Voraussetzung, dass alle Verfahrens- und Befähigungsbedingungen auf der ersten Ebene erfüllt sind – auf der zweiten Stufe trotz (oder gerade aufgrund) der Niedrigschwelligkeit für diejenigen, die momentan nicht Teil der Mehrheit sind, sichergestellt bleibt, dass sie nicht zu einer strukturellen Minderheit werden.50

–––––––––––––– 49

50

Diese Argumentation für ein niedrigschwelliges Mehrheitsprinzip bezieht sich nur auf Verfahren, die in einem Setting durchgeführt werden, das bereits etabliert ist und nicht direkt durch die Verfahrensresultate modifiziert wird. Von einem „verfassungsgebenden Verfahren“ bzw. von Verfahren, die die Einrichtung der Verfahren selbst betreffen, ist dagegen zu erwarten, dass es (zumindest potentiell) einstimmig zur Einrichtung des Gefüges von Verfahren, Strukturen und Institutionen bzw. zur Festlegung von Verfahrensprinzipien etc. kommt, d.h. es muss allgemein konsensfähig sein, dass ein niedrigschwelliges Mehrheitsprinzip für „einfache“ Entscheidungen gewählt werden sollte. Hiermit werden Phänomene aufgegriffen und rekursiv in die Verfahren und Strukturen eingespeist, von denen Pettit z.T. denkt, dass sie keine gravierenden Probleme darstellen. Für ihn haben zwar beherrschende Strukturen einen Statusverlust Betroffener zur Folge, nicht aber nicht-beherrschende Verfahren und Strukturen (Pettit 2002: 350). Warum eine Einschränkung von Optionen durch regulär durchgeführte Verfahren keinen Statusverlust nach sich ziehen können sollte, wird in seiner Unterscheidung allerdings nicht klar. Denn selbst wenn die qua Beherrschung strukturelle Abhängigkeit des „Gehört-Werdens“ von anderen eine gravierende Statuseinschränkung darstellt, so ist es doch unter Bedingungen von Mehrheitsentscheidungen in deliberativen Verfahren durchaus denkbar, dass jemand dadurch an Status verliert, dass er beständig in der Minderheit ist und seine Auffassungen und Interessen bei anderen keine

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Der vorliegende Republikanismus versteht den Schutz von Minderheiten grundsätzlich nicht so, dass er sie in ihrer Stellung als einer (wie auch immer qualifizierten) Minderheit mit eventuell partikularen Zielen, die von der Mehrheit nicht nachvollzogen werden können oder müssen, zu schützen beabsichtigt. Minderheiten müssen vielmehr davor beschützt werden, zu einer qualifizierten bzw. stigmatisierten Minderheit zu werden, d.h. in einer Stellung zu sein, in der es ihnen dauerhaft unmöglich wird, andere davon zu überzeugen, dass ihre Interessen und Projekte es Wert sind, vermittels der gemeinsamen Strukturen und Institutionen umgesetzt zu werden. Teil eines so verstandenen Minderheitenschutzes ist sicherlich schon, dass es für die „Minderheit“ nachvollziehbar ist, dass sie nicht aufgrund grundsätzlicher Eigenschaften oder besonderer Absprachen in einer Mehrheit in der Minderheit ist. Die Mehrheit muss sich also aus der politischen Auseinandersetzung und Deliberation in den Verfahren ergeben haben, und dies muss anhand des Verfahrensverlaufs transparent sein. Solche Erwartungen an die Verfahren und diejenigen, die in ihnen interagieren, können z.B. dadurch abgesichert werden, dass etwa Parteien (als politischen Akteuren, die Interessen bündeln)51 gewisse Auflagen gemacht, bestimmte Verfahrensphasen52 mit variierenden Beteiligungen und/oder Zielen unterschieden und „Moderatoren“ eingesetzt werden, die als selbstreflexives Element in den Verfahren denen, die jeweils beteiligt sind, vor Augen führen, wie der Verfahrensablauf aussieht und warum er diese Gestalt hat (womit eventuell neue Begründungslasten auferlegt werden, aber auch Resulta-

51

52

Anerkennung finden. Es mag zwar eine wesentliche Differenz zwischen beiden Arten des Statusverlusts geben, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass der zweite Statusverlust irrelevant wird bzw. gar kein solcher ist. Dieses Bündeln ist zu berücksichtigen, da durch es Interessen zusammengeführt werden können, die sonst unverbunden und möglicherweise mit wenig Aussicht auf Realisierung nebeneinander stehen würden. Es ist also die richtige Mitte zwischen der Förderung solcher Bündelung und der Verhinderung einer Bündelung, die einige dauerhaft benachteiligt, zu finden. Womit hier nicht die zwei Stufen gemeint sind, die durchaus in einzelnen Phasen zugleich Teil der Beratung und Entscheidungsfindung sein können, sondern unterschiedliche Arten der Beratung, in denen unterschiedlich eng oder weit darüber befunden wird, was schließlich entschieden werden soll.

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

223

te früherer Beratungen als relativ unproblematisch erwiesen werden können). Historisch hat in vielen Fällen auch eine klare Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition mit abgesicherten Momenten, in denen die Opposition in die Ausübung der Regierungstätigkeit einbezogen werden muss, dazu geführt, dass sich eine Verhärtung zweier oder mehrerer Gruppen als Mehrheit und Minderheit(en) zumindest dauerhaft nicht ergibt. Dieser Schutz derjenigen, die in Entscheidungen in der Minderheit sind, erfordert neben der Transparenz, dass die Aufteilung in Mehr- und Minderheit ein Resultat der Verfahren und nicht sonstiger Kriterien ist, auch, dass es keine Entscheidungen geben darf, in denen diejenigen, die Teil der Minderheit sind, zu Recht fürchten müssen, dass sie durch eine Entscheidung bei zukünftigen Deliberationen und Entscheidungen signifikant benachteiligt werden. In dieser Hinsicht darf die positive Ausübung der Freiheit durch die Mehrheit die negative Absicherung der Freiheit der „Minderheit“ nicht beeinträchtigen, wobei die negative Absicherung zunächst und wesentlich die (Bedingungen der) Teilhabe an den Verfahren und Strukturen betrifft und noch nichts über die allgemeine Gestaltung von Handlungsverhältnissen aussagt. Die negative Absicherung ist notwendig, auch wenn es aktuell in den Bedingungen für die Teilhabe nichts zu beanstanden gibt, denn aufgrund der zuvor genannten Zirkularität von politischen und sozialen Prozessen gibt es keinen Ausgangspunkt, der es im Fall seiner Richtigkeit erlauben würde, im Vorhinein jede Thematisierung und freiheitstheoretische Problematisierung von Verhältnissen, die aus ihm hervorgehen, zurückzuweisen. Um eine solche Thematisierung und Problematisierung zu leisten, müssen auf der zweiten Stufe der Verfahren Handlungsmöglichkeiten derjenigen ausgemacht werden (bzw. durch die Betroffenen zur Kenntnis gebracht werden) können, die durch die Entscheidungen signifikant verändert werden und für die Fähigkeit der Personen, sich in den Verfahren (in Zukunft) zur Geltung zu bringen, relevant sind. Wenn auf der ersten Stufe der Verfahren Freiheit positiv ausgeübt wird, ist dabei nicht auszuschließen, dass Entscheidungen gravierend in die Möglichkeiten einiger, vieler oder aller eingreifen. Die Entscheidung etwa, die Entwicklung

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

erneuerbarer Energien voranzutreiben und dazu nicht-erneuerbare Energieformen oder den Energieverbrauch überhaupt zu besteuern, um zwei gängige und grundsätzlich sinnvolle Strategien anzuführen, ist prinzipiell in Ausübung der Möglichkeiten, die politische Verfahren bieten, denkbar (und zwar unabhängig von der Frage, ob so dauerhaft die menschliche Existenz und d.h. die allgemeine basale Befähigung zur Teilhabe an den Verfahren gesichert wird). Bei einer solchen Entscheidung kann sich aber als Resultat ergeben, dass einige, die beispielsweise keinen Zugang zu Energie aus erneuerbaren Quellen haben bzw. für die die Kosten solcher Energie bislang zu hoch waren, derart höher belastet werden, dass sie durch zusätzliche Transportkosten oder weitere Erwerbsarbeit etc. signifikante Einschnitte in ihrer Möglichkeit erleiden, sich in den Verfahren zur Geltung zu bringen. Ein solches Resultat ist problematisch, da dies – selbst wenn die aktuelle Entscheidung nicht notwendig beherrschend ist – nicht ausschließt, dass die Teilhabe an zukünftigen Entscheidungen bzw. Verfahren, die zu ihnen führen, von der Willkür anderer abhängen kann, die Teilhabe zu ermöglichen. In einer solchen Situation muss die Entscheidung durch diejenigen, die von ihr betroffen sind, bestreitbar sein (womit der englische Ausdruck der contestation bzw. contestability wiedergegeben werden soll). Das Kriterium, auf Grundlage dessen die Minderheit eine Entscheidung, die in positiver Ausübung von Freiheit gemäß den entwickelten Voraussetzungen getroffen wurde, bestreiten kann, ist also klar umschrieben und besteht nicht in der Affiziertheit von Auswirkungen der Entscheidung schlechthin. Jemand, der sehr reich ist, sich nicht mit der Vorstellung eines „minimalen“ Staates durchsetzen kann und stattdessen mit hohen Steuern belastet wird, wird durch die hohe Steuerlast aller Wahrscheinlichkeit nach nicht darin beeinträchtigt, bei nächster Gelegenheit erneut die Idee einer Reduzierung von Steuern und d.h. das Nicht-Verfolgen einiger kollektiver Projekte zu verteidigen. Sein Bestreiten der entsprechenden Entscheidung könnte also unproblematisch zurückgewiesen werden. Eine „Tyrannei der Mehrheit“ wird dementsprechend durch die zweite Stufe der Verfahren in der Weise ausgeschlossen, dass eine Mehrheit sich in die Position bringen kann,

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

225

in der die Minderheit es tendenziell nicht mehr vermag, sich in den Verfahren zur Geltung zu bringen. Dies heißt nicht, dass es nicht doch immer wieder zu Entscheidungen kommen kann, in denen einige (z.B. die Reichen) viel stärker belastet werden als andere (z.B. die Armen). Aber die Vorkehrungen gegen die Festschreibung von Mehrheit und Minderheit bzw. die nicht willkürliche Sicherstellung der Teilhabe an der positiven Ausübung von Freiheit in den Verfahren verhindern, dass es zu einem Beratungsund Entscheidungsverhalten kommt, das wesentlich durch die (vermeintliche) Zugehörigkeit zu einer sozialen, kulturellen oder ethnischen Gruppe bestimmt ist. Die negative Absicherung von Freiheit derart, dass eine zukünftige Beeinträchtigung in der Teilhabe an politischen Verfahren und Strukturen verhindert wird, ist in zwei, durchaus miteinander kombinierbaren Formen denkbar: Die erste Form wurde schon erwähnt und sie besteht darin, dass Möglichkeiten bereitgestellt werden, Entscheidungen, die getroffen wurden, mit Blick auf ihre Konsequenzen zu bestreiten, um so zu bewirken, dass erneut in die Beratung eingetreten oder die Entscheidung um Gewährleistungen für Betroffene ergänzt wird. Wichtig ist dabei, dass die Optionen, die im Bestreiten von Entscheidungen genutzt werden können, nicht an die Stelle der Erfordernisse an die erste Stufe des Verfahrens treten dürfen. Auf der ersten Stufe des Verfahrens muss sichergestellt sein, dass tatsächlich alle an ihm beteiligt sind oder sein können und alle die Chance haben, zur Entwicklung mehrheitlicher Entscheidungen beizutragen. Die Existenz von Optionen, Entscheidungen zu bestreiten, darf nicht, wie es z.T. bei Pettit unter dem Titel der contestatory democracy anklingt (vgl. Pettit 2004), dazu führen, dass die Verfahren zur positiven Ausübung von Freiheit in Abhängigkeit von der Kontingenz jeweiliger Interessen und Ressourcen gesetzt werden. Eine solche Abhängigkeit von der Kontingenz von Interessen etc. würde dann bestehen, wenn aufgrund der Existenz von Mitteln zum Bestreiten von Entscheidungen die Frage, wie es ursprünglich zu ihnen gekommen ist, offen gelassen und d.h. nichts dazu gesagt würde, wer unter welchen Voraussetzungen positiv Freiheit ausüben konnte.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Die Optionen zum Bestreiten von Entscheidungen dürfen wiederum nicht willkürlich, d.h. in der Form von Instanzen und Institutionen bestehen, die und deren Wirken nicht von denen abhängen, deren mehrheitliches Entscheiden problematisiert wird. Da es beim Bestreiten nicht um eine supplementäre Beratung zwecks positiver Ausübung von Freiheit gehen soll, liegt es nahe, die Optionen in der Gestalt einer gerichtlichen Normenkontrolle zu institutionalisieren. Dabei käme der entsprechenden Institution nur die Aufgabe zu, die Erwartbarkeit von Konsequenzen zu bestätigen, die zukünftige Teilhabe an den Verfahren und Strukturen für die Betroffenen schwieriger machen. Die Revision einer Entscheidung sollte nicht von der überprüfenden Institution vorgenommen werden, es könnte ihr aber zugestanden werden, im Anschluss an die Betrachtung der Konsequenzen im gegebenen Fall Empfehlungen auszusprechen, wie die Konsequenzen verhindert oder kompensiert werden könnten. Im Anschluss an diesen Verweis auf eine Kompensation von Konsequenzen, die die (zukünftige) Teilhabe an Verfahren erschweren oder gar unmöglich machen, ist auch die zweite Form einer negativen Absicherung von Freiheit einzuführen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Entscheidungen die (zukünftigen) Teilhabemöglichkeiten an den Verfahren und Strukturen negativ beeinflussen, wird geringer, wenn die generelle Ausstattung aller mit Ressourcen und Optionen umfangreicher ist. Es liegt also im Interesse an der Ausübung positiver Freiheit, dass alle derart mit Ressourcen und Optionen ausgestattet sind, dass einzelne Entscheidungen nur selten Gefahr laufen, die Fähigkeit von Personen und/oder Gruppen zu beeinträchtigen, sich in Verfahren zur Geltung zu bringen. Und auch insgesamt ist zu erwarten, dass die positive Ausübung von Freiheit durch eine Mehrheit dann akzeptabler für die betroffene Minderheit wird, wenn daraus nicht folgt, dass letztere durch die Ausübung wesentliche Optionen verliert. Eine grundsätzliche Umverteilung einiger Ressourcen im Sinn der Gerechtigkeitsprinzipien, die im zweiten Kapitel diskutiert wurden, ist daher aus der freiheitstheoretischen Perspektive durchaus sinnvoll, auch wenn der „Gerechtigkeit“ dabei kein starker normativer Wert eingeräumt wird, der sie tendenziell in Span-

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

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nung zur Freiheit bringen würde. Die Bedingungen der negativen Absicherung von Freiheit auf den beiden Stufen der Verfahren machen zweifelsohne eine gewisse Ressourcenumverteilung notwendig, da nur so die Befähigung zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen garantiert und die erörterten Konsequenzen für zukünftige Verfahren abgefedert werden können. Weitere Umverteilungen hängen aber wesentlich daran, welche Ziele eine Gesellschaft verfolgt bzw. was sie zu leisten verpflichtet ist, um bestimmte Ziele legitimerweise verfolgen zu können. An dieser Stelle könnte eingewandt werden, dass nicht ersichtlich wird, warum die Abfederung der Auswirkungen, die Entscheidungen auf diejenigen haben, die in ihnen ihre Freiheit nicht positiv ausgeübt haben, nicht schon durch die Befähigung zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen abgedeckt wird. Was macht also den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Stufe der Verfahren für die negative Absicherung von Freiheit aus? Wie v.a. die zweite Weise der „Kompensation“ von Nachteilen für eine Minderheit gezeigt hat, gibt es in der Tat eine Kontinuität zwischen der allgemeinen Befähigung zur Teilhabe an der positiven Ausübung von Freiheit in den Verfahren und den Leistungen, die in Entscheidungen vorgesehen sein können, um sie für unterlegene Minderheiten akzeptabel bzw. akzeptabler zu machen. Dennoch ist es sinnvoll, die beiden Hinsichten zu unterscheiden, in denen die Möglichkeit zur (zukünftigen) Teilhabe an den Verfahren und Strukturen, zur (zukünftigen) positiven Ausübung von Freiheit also gesichert wird. Denn die Perspektive der allgemeinen Befähigung zur positiven Ausübung von Freiheit in den Verfahren ergibt sich direkt aus dem Anspruch eines jeden auf diese Ausübung und den Bedingungen für sie. Die Berücksichtigung der Auswirkungen, die Entscheidungen auf diejenigen haben, die ihre Freiheit nicht positiv ausüben konnten, resultiert dagegen aus dem Interesse eines jeden, nur dann mit anderen zu kooperieren bzw. notfalls zur Kooperation gezwungen werden zu können, wenn langfristig gesichert ist, dass jeder die Möglichkeit zur positiven Ausübung von Freiheit behält. Es ergibt sich somit aus der Betrachtung der zweiten Stufe von Verfahren, dass niemand durch politische Entscheidungen mit Blick auf die Teilhabe an zukünfti-

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

gen Verfahren schlechter gestellt sein darf als vor den Entscheidungen (Pettit 1997: 90-92). Legitime Verfahren und Strukturen sind daher durch ein „Bewusstsein“ gekennzeichnet, dass es darum geht, die (Möglichkeit der) Kontinuität der politischen und sozialen Kooperation zu sichern, weshalb es per se illegitim ist, wenn die Verfahrensbedingungen bzw. die Bedingungen der Teilhabe an den Verfahren (ohne Zustimmung einiger) gravierend eingeschränkt oder modifiziert werden. Es wird sich zudem später mit Blick auf transnationale Verfahren und Strukturen zeigen, dass in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen der Gewährleistung der Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit und der negativen Absicherung von Freiheit notwendig ist. Innerhalb von Einzelstaaten mag es sich wesentlich um verschiedene Blickweisen auf dasselbe handeln, in der Interaktion zwischen Staaten bzw. politischen Einheiten erweisen sich die zwei Hinsichten dagegen als distinkte Berechtigungen und/oder Ansprüche. Die Diskussion der negativen Absicherung von Freiheit hat sich bisher v.a. auf diejenigen, die an den Verfahren teilhaben (wollen), bzw. dasjenige konzentriert, was in positiver Ausübung von Freiheit in den Verfahren entschieden wird. Diese Konzentration lässt zwei Dinge unberücksichtigt: Erstens können Personen oder Gruppen beherrscht werden, die sich weigern, sich an den Verfahren zu beteiligen, d.h. die weder Möglichkeiten zur Teilhabe an den Verfahren noch solche zum Bestreiten von Entscheidungen nutzen (wollen). Zweitens können Entscheidungen dazu führen, dass Institutionen etabliert oder programmiert werden, die selbst ein neues Beherrschungspotential mit sich bringen. Hinsichtlich der ersten Personen oder Gruppen ist festzuhalten, dass die Nicht-Teilhabe an den Verfahren kein Grund ist, den Personen/Gruppen Ressourcen und Kompetenzen nicht zuzusprechen, derer sie bedürften, um zur Teilhabe an den Verfahren befähigt zu sein. Auch für sie muss – sowohl mit Blick auf die Personen, die sie mehr oder minder unmittelbar umgeben, wie auch mit Blick auf den allgemeinen sozio-politischen Zusammenhang – sichergestellt sein und bleiben, dass die Ausübung der Herrschaft nicht willkürlich und zumindest der Möglichkeit nach auch nicht-beherrschend ist. Was dies genau heißt und ob es analog zum oben

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

229

beschriebenen Fall von Kompensationen auf der zweiten Stufe der Verfahren weitergehende Verpflichtungen gibt, kann nur nach Betrachtung der Motivation hinter der Nichtbeteiligung entschieden werden. Ist sie ein Resultat einer kontingenten und im eigenen Willen der Person/Gruppe liegenden Entscheidung, dann bestehen dieser Person/Gruppe gegenüber keine weiteren Verpflichtungen. Bringt die Nichtbeteiligung aber zum Ausdruck, dass die Person/Gruppe nicht davon ausgeht, unter den gegebenen Verhältnissen jemals positiv Freiheit in den politischen Verfahren und Strukturen ausüben zu können, dann resultieren daraus eventuell weitergehende Verpflichtungen, sie zu befähigen, eigene Verfahren und Strukturen sowie Institutionen aufzubauen, die Entscheidungen dieser Verfahren und Strukturen umsetzen (können). Dieser Fall ist v.a. in Kontexten relevant, in denen politische Gemeinschaften auf großen Territorien bestehen und die Größe bzw. sozio-kulturelle Differenzen es z.T. verhindern, dass es zur Herausbildung gemeinsamer Interessen und Projekte kommt.53 Ein komplizierter Fall ist der, in dem einige, z.B. Eltern, für andere, z.B. Kinder, advokatorisch die Teilhabe bzw. sogar die Befähigung zur Teilhabe an Verfahren ablehnen. In diesem Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass diejenigen, für die die Ablehnung artikuliert wird, diese in eigener Willensentscheidung hätten beschließen können. Die Nicht-Willkürlichkeit der Nicht-Beherrschung macht es daher erforderlich, dass die Personen eventuell auch gegen den Willen derer, die sich advokatorisch für sie äußern, zur Teilhabe an den Verfahren (und vermittelt auch zur Entscheidung darüber, ob sie an den Verfahren teilhaben wollen oder nicht) befähigt werden. Ohne eine solche Befähigung ist nicht auszuschließen, dass das advokatorische Wirken beherrschend ist. Denn ohne den Rekurs auf die Verfahren steht den Personen keine Option zur Verfügung, sich gegen das zu wenden, was in dem vermeintlich advokatorischen Wirken gefordert wird. Ein Schulzwang lässt sich daher nicht als Beherrschung einiger durch andere begreifen, sondern er ergibt sich aus der Notwendigkeit, Perso-

–––––––––––––– 53

Vgl. zu dieser Verpflichtung zur Befähigung zum Aufbau eigener Verfahren und Strukturen das Kapitel 7.2.3 sowie Niederberger/Schink 2009.

230

4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

nen zur Teilhabe an den Verfahren überhaupt zu befähigen. Kompliziert wird dieser Fall dadurch, dass in vielen Hinsichten Eltern in der Tat die besten oder zumindest gute Advokaten der Interessen ihrer Kinder sind. Die Legitimation eines Schulzwangs und weiterer Befähigungen, die erzwingbar sind, darf somit nicht zur Folge haben, dass der Prozess und die Absicherung der Befähigung nur in institutionalisierten Abläufen realisiert und aufgrund des Voraussetzungscharakters für Nicht-Beherrschung weitgehend denen entzogen ist, die diesen Abläufen ausgesetzt sind. Was das zweite Problem von Einrichtungen als Resultat von Entscheidungen angeht, die eventuell selbst beherrschend wirken, so ergibt sich dieses, wie zuvor angedeutet, daraus, dass der Eingriff in oder die Gestaltung von Handlungsverhältnissen zum Zweck der Ausübung von Herrschaft Institutionen hervorbringt, bei denen nicht qua Etablierung und Programmierung immer schon sichergestellt ist, dass sie nicht anders als nicht-beherrschend wirken können. Es kann also sein, dass in korrekter Durchführung von politischen Verfahren Institutionen etabliert werden, die ein Eigenleben entwickeln – und sei es nur in der Form, dass darauf vertraut werden muss, dass sie ihre Willkürmöglichkeiten nicht einsetzen, über die sie qua Ressourcenakkumulation oder kognitivem Vorteil verfügen. Um diesem Beherrschungspotential von Institutionen vorzubeugen, muss ihnen gegenüber prinzipiell die Möglichkeit bestehen, ihr Wirken zu überprüfen. Diese Überprüfung wird wiederum sinnvollerweise in der Form einer gerichtlichen Kontrolle niedergelegt, da somit erstens eine Instanz in dem Gefüge von Institutionen ausgezeichnet werden kann, die auf derselben Ebene wie die anderen Institutionen operiert, und zweitens verhindert wird, dass es zu einer eigenen Verhandlung über das (gewünschte) Operieren der Institution kommt. Denn auch hier muss sichergestellt werden, dass die Problematisierung oder das Bestreiten des Wirkens einer Institution nicht zu einer supplementären Bestimmung oder Programmierung dieses Wirkens führt. Die Bestimmung/Programmierung muss ihren Ausgang in den Verfahren und Strukturen nehmen, in denen Freiheit positiv ausgeübt wird. Wenn dies unterminiert wird, dann läuft das Gesamtgefüge Gefahr, eine Kombination von Instanzen

4.3 Nicht-Beherrschung als umfassendes Freiheitskriterium

231

willkürlichen Handelns zu bilden, in dem sich Institutionen ad hoc die „Autorisierung“ verschaffen, derer sie vermeintlich bedürfen.

4.4 Nicht-Beherrschung und demokratische Rechtsstaatlichkeit Der vorhergehende Abschnitt hat gezeigt, dass sich unter dem Titel der Nicht-Beherrschung Verfahren, Strukturen und Institutionen bestimmen lassen, die ein Gesamtgefüge bilden, in dem Macht in Herrschaft überführt wird und Freiheit positiv ausgeübt werden kann und negativ abgesichert wird. Als wesentlicher Faktor für die Existenz von nicht-beherrschenden politischen und sozialen Verhältnissen hat sich dabei erwiesen, dass das Gefüge insgesamt wie auch seine einzelnen Bestandteile nicht-willkürlich in der Weise bestehen und operieren müssen, wie es zum Zweck notwendig ist, Freiheit auszuüben und abzusichern. Die Freiheit, die das wesentliche Kriterium für die Legitimität des Gefüges ist, impliziert selbst die Nicht-Willkürlichkeit der Bedingungen ihrer Gewähr – ansonsten wären nur die frei, die die Willkür ausüben können (bzw. auch diese nicht oder nur temporär, da dies von einer kontingenten Ressourcenverteilung abhängen würde und sie somit manchmal willkürlich entscheiden könnten und manchmal nicht). Aus der Forderung, dass die Freiheit nicht-willkürlich gewährleistet sein muss, ergeben sich eigene Konsequenzen für die Verfahren sowie die Anordnung und das Funktionieren der Institutionen und Instanzen, die letztlich die Herrschaft ausüben. Einige Aspekte dieser Konsequenz wurden bereits genannt. Die zentrale Folge ist aber, dass Nicht-Beherrschung in der Form von demokratischer Rechtsstaatlichkeit etabliert und garantiert werden muss. Hinter dem Titel der demokratischen Rechtsstaatlichkeit verbergen sich wieder unterschiedliche Elemente, nämlich erstens eine Aussage zur Rechtsförmigkeit von Entscheidungen und der Kommunikation zwischen Instanzen und Institutionen überhaupt, zweitens zum Verhältnis der Instanzen und Institutionen zueinander, d.h. zur Form der Gewaltenteilung bzw. der Aufteilung der Herrschaftsausübung und drittens zur Existenz und Weise von

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

quasi-verwaltungsrechtlicher Kontrolle des Operierens von Institutionen.

4.4.1 Rechtsförmigkeit Das Recht bietet eine allgemeine Form, in der sich Regeln und Ziele für die Gestaltung, Steuerung und Kontrolle von Handlungskontexten und Institutionen artikulieren lassen. In der Allgemeinheit der Form liegt dabei der Vorteil des Rechts, denn es kann so das Handeln und die Spielräume verschiedenster Akteure (unabhängig von deren besonderen Eigenschaften) bestimmen und zugleich für alle als Rahmen dafür dienen, die (Zulässigkeit der) Handlungen oder Spielräume zu verstehen. Das Recht besteht folglich in Regeln, die einerseits von zulässigen Handlungen ausgehend festlegen, welche Interessen und Ziele verfolgt werden dürfen (also zunächst unbestimmt hinsichtlich der Akteure sind, indem sie gewünschte bzw. unerwünschte Handlungsweisen festlegen), und andererseits selbst ein wesentlicher Grund für die Ausführung bzw. Ausführbarkeit der Handlungen sind. Gesetze legen erst fest, was in sozialen Handlungszusammenhängen richtig und falsch bzw. zulässig und unzulässig ist, und sie richten sich damit nicht primär auf Handelnde und deren Ziele, sondern auf den Raum, in dem es möglich wird, bestimmte Ziele zu verfolgen, bzw. bestimmte Handlungsweisen zu Sanktionen führen. Die Allgemeinheit der Rechtsform ergibt sich aus der Prinzipien- oder Regelhaftigkeit des Rechts selbst. Es ist zwar wünschenswert, dass es nicht zu Rechtstexten oder sonstigen rechtswirksamen Beschlüssen kommt, in denen Erlaubnisse oder Sanktionen ad personam dekretiert werden, aber in einem funktionierenden Rechtssystem würden solche Regelungen ohnehin nur in der Form einer allgemeinen Regel verstanden (und vor diesem Hintergrund zudem auf ihre Vereinbarkeit mit anderen rechtlichen Regelungen hin überprüft). Eine Aussage der Form „Peter darf nicht Fußball spielen“ kann nur dann als rechtsgültige Aussage verstanden werden, wenn ein Prinzip der Art „Wer zuvor grob unsportlich war, darf im Anschluss daran kein Fußball mehr spielen“ oder „Eltern können verfügen, ob ihre Kinder Sport treiben dürfen oder nicht“ unterstellt und vorausgesetzt wird, dass das Prinzip

4.4 Nicht-Beherrschung und Rechtsstaatlichkeit

233

auf Peter Anwendung finden kann. Ein System der Steuerung und Kontrolle von Kontexten, in dem die Steuerung und Kontrolle ausschließlich oder wesentlich auf singulären Dekreten ad personam aufruht, kann dementsprechend nicht als rechtliches System betrachtet werden. Diese Unterscheidung zwischen einem Eingriff in Handlungszusammenhänge, der sich auf Einzelne richtet, und einer rechtlichen Etablierung, Steuerung und Kontrolle der Zusammenhänge ist keine einfache begriffliche Festlegung. Sie gewinnt vielmehr ihre Plausibilität wesentlich aus dem Ziel, Herrschaft in der genannten Etablierung etc. von Handlungszusammenhängen auszuüben. So wurde schon in den Ausführungen zur größeren Überzeugungskraft der kantischen gegenüber der rousseauschen Volkssouveränitätstheorie freiheitstheoretisch dargelegt, warum es notwendig ist, dass Entscheidungsverfahren in Gesetzen enden, und warum die Umsetzung oder Anwendung der Gesetze anderen Instanzen und Institutionen vorbehalten sein muss (vgl. Kapitel 3.2). Wenn das Resultat politischer Verfahren soziale Handlungszusammenhänge sein sollen, in denen die Herrschaftsausübung bestimmte Handlungsweisen bzw. das Verfolgen einzelner Ziele ermöglicht, müssen diejenigen, die an Verfahren teilhaben, die Interessen und Projekte, die sie verfolgen können wollen, in die Allgemeinheit zulässiger bzw. unzulässiger Handlungen übersetzen. Und zwar nicht (primär), weil sie so zu einer Verallgemeinerung ihrer Interessen und Projekte genötigt werden, sondern weil sonst die Etablierung, Steuerung und Kontrolle von Kontexten von willkürlichen Akten der Instanzen abhängig bliebe, die vermeintlich Herrschaft ausüben. Es gäbe keine Differenz zwischen der Gesetzgebung und der Umsetzung von Gesetzen – und dies in beiden Richtungen, d.h. die „Gesetzgebung“ hätte immer schon die Option, direkt Herrschaft auszuüben, während die „Exekutive“ selbst die Prinzipien festlegen könnte, die sie vermeintlich nur umsetzt. Würde etwa ein Beschluss der Art gefasst, dass „Peter Fußball spielen darf“, und dann eine Instanz beauftragt, diesen Beschluss umzusetzen, dann wäre diese Instanz vollkommen unterbestimmt (und hätte so viel Spielraum für willkürliche Entscheidungen), wenn Peter keinen Fußball hätte, kein Ort existieren

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

würde, wo man Fußball spielen kann, ein Spiel anderer im Gange wäre etc. Entweder würde derart ein gesetzgebendes Verfahren die Institutionen ermächtigen, sich zum Zweck der Durchsetzung des Erlasses über alle anderen Beschlüsse und Regelungen hinwegzusetzen, oder aber den exekutiven Institutionen würde die Rolle zugeschrieben, selbst die Regeln festzulegen, die die Anwendung des Erlasses konditionieren. Die komplexere Formulierung singulärer Erlasse würde das Problem nicht lösen, da es sich entweder um eine endlos lange Liste mit Festlegungen für alle denkbaren Fälle handeln müsste oder sie zur Niederlegung von Prinzipien führen würde, die angeben, wie mit dem Erlass in welcher (abstrakt bestimmten) Situation umzugehen ist (womit die Singularität des Erlasses in der Form der Allgemeinheit von Rechtsregeln „aufgehoben“ würde). Die Allgemeinheit rechtlicher Regelungen erschwert auch, dass eine Mehrheit eine Minderheit oder Einzelne direkt beherrschen kann. Wenn Regelungen nicht ad personam bzw. mit Blick auf singuläre Umstände erlassen werden können, dann muss die Begründung für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Handlungsweisen allgemein(er) ausfallen. Die Handlungsweise muss erstens allgemein charakterisiert werden (also unabhängig von Einzelnen, die die Handlungen derzeit vollziehen), und zweitens muss begründet werden, warum die Zulassung bzw. das Verbot nicht (auch) Handlungen erlaubt oder verbietet, die unzulässig bzw. zulässig sein sollten. Durch die Einordnung jeder Regelung in die Gesamtheit des Rechts muss zudem dargelegt werden, in welchem Verhältnis eine neue Regelung zu existierendem Recht steht. Diese Anforderungen, die sich aus der Allgemeinheit des Rechts ergeben, garantieren weder, dass es nicht doch möglich ist, dass einige beherrscht oder diskriminiert werden, noch implizieren sie, dass es zu „unparteiischer“ Anwendung und Durchsetzung des Rechts kommt, d.h. zu einer Anwendung oder Durchsetzung, die von der Allgemeinheit des Rechts ausgeht und dieses nicht so versteht, dass es sich besonders auf einige bezieht. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen von Rechtssystemen ist, dass Handlungen nur dann rechtlich reguliert sein können, wenn die Regelung im Prinzip allen bekannt ist. „Im Prinzip“ besagt

4.4 Nicht-Beherrschung und Rechtsstaatlichkeit

235

hier, dass die Regelungen, wenn schon nicht öffentlich getroffen, doch zumindest veröffentlicht worden sein müssen, wogegen die faktische Kenntnis einer Regelung wünschenswert, aber nicht von Nöten ist. Es gibt also eine Verpflichtung der Instanzen, die Recht setzen oder so anwenden, dass dies für das geltende Recht eventuell Konsequenzen in der Form einer Modifikation oder Fortschreibung hat, ihre Entscheidungen publik zu machen. Diese Publizität muss dabei unkompliziert für alle zugänglich sein, die sich in den Kontexten bewegen, die so etabliert, gesteuert oder kontrolliert werden. Die Öffentlichkeit von Regelungen ist aber nicht nur eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass allen, die an der Gestaltung von und am Handeln in den Kontexten beteiligt sind, die Prinzipien bekannt sind, die das Handeln in ihnen regeln. In der Perspektive der Freiheit als Nicht-Beherrschung ist die Öffentlichkeit auch eine Bedingung dafür, dass die Art der Anwendung und Durchsetzung von Regelungen sowie die Auswirkungen von Entscheidungen thematisiert und problematisiert werden können. Die Nicht-Willkürlichkeit der Nicht-Beherrschung setzt, wie gezeigt, voraus, dass es klare Instanzen und Verfahren gibt, über die diese Thematisierung und Problematisierung stattfinden kann, und die Nicht-Willkürlichkeit der Entscheidungen und Auswirkungen dieser Instanzen und Verfahren erfordert wiederum, dass es einen öffentlichen und klaren Bezugspunkt gibt, in dessen Erörterung untersucht werden kann, ob die Problematisierung berechtigt ist. Wie zahlreiche Fälle in den letzten Jahren belegen, hat die öffentliche Nachvollziehbarkeit des Funktionierens einzelner Institutionen zweifelsohne zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit interner Beherrschung (d.h. der Missbrauch der Macht von Institutionen qua Zwang gegenüber denjenigen, die in den und für die Institutionen arbeiten) sowie diejenige externer Einflussnahmen (z.B. in der Form der Korruption) geringer wird.54

–––––––––––––– 54

Es überrascht daher auch nicht, dass Nichtregierungsorganisationen, die sich mit dem Problem der Korruption beschäftigen, neben der Stärkung inner- und inter-institutioneller Kontrollmechanismen v.a. auf die Transparenz des Operierens der Institutionen setzen. Vgl. z.B. die Webseite von Transparency International: www.transparency.org (zuletzt besucht am 26. Juni 2009).

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Mit Blick auf die Handlungszusammenhänge selbst hat die Rechtsförmigkeit ihrer Etablierung, Regulierung und Kontrolle zur Folge, dass sie eine gewisse Stabilität über die Zeit hinweg haben und Handelnde somit nicht ständig neuen Prinzipien gegenüberstehen, die zur Anwendung kommen und die sie in der Entwicklung ihrer Interessen und Handlungen berücksichtigen müssen. Wie schon das Kapitel 1 dargelegt hat, hängt die Ausübung von Herrschaft wesentlich davon ab, dass nicht ständig korrigierend und sanktionierend in Handlungskontexte eingegriffen werden muss, sondern Handelnde sich selbst wechselseitig durch ihr Handeln bzw. dessen „Kommentierung“ an geltende Prinzipien erinnern. Dies ist umso wahrscheinlicher je beständiger und eindeutiger die Prinzipien sind, die zur Anwendung kommen. Und auch das Wirken von Institutionen wird kalkulierbarer (und eventuell effizienter), wenn sie nicht zu oft neue Aufträge und Zielvorgaben bekommen und ihre Abläufe darauf ausrichten müssen. Bislang wurden Eigenschaften des Rechts angeführt, die in der Rechtsförmigkeit selbst liegen und in der Perspektive von Freiheit als Nicht-Beherrschung notwendig oder zumindest förderlich sind. Aber ergeben sich diese Eigenschaften wirklich direkt aus dem Gebrauch der Rechtsform selbst oder bedürfen sie der Verankerung des Rechts etwa in Rechtsstaatlichkeit? Die Referenz auf die Rechtsform erübrigt nicht schon die Reflexion auf die Bedingungen, unter denen das Recht mit seinen Eigenschaften tatsächlich die Entscheidungsprozesse in den Verfahren, die Ausübung von Herrschaft im Wirken der Institutionen und die Kontrolle der Verfahren und der Herrschaftsausübung bestimmt. Der Bezug auf die Rechtsform darf v.a. nicht dazu führen, dass Betroffene einfach auf die normative Kraft des Rechts vertrauen und vor diesem Hintergrund Aktivitäten zur Rechtspflege unterlassen. Es ist sicher von Vorteil, wenn allen, die an Verfahren und der Ausübung von Herrschaft beteiligt sind, die grundsätzliche Rechtsförmigkeit der Prinzipien und Regelungen, die ihren Interaktionen zu Grunde liegen, ständig vor Augen steht. Selbst wenn z.B. Institutionen Ermessensspielräume zugestanden werden, ist es wünschenswert, dass diejenigen, die die Spielräume nutzen, sich regelmäßig vergewissern, dass es keine „rechtsfreien“ Räume sind, sondern deren

4.4 Nicht-Beherrschung und Rechtsstaatlichkeit

237

Nutzung grundsätzlich rechtlich reguliert oder zumindest gerechtfertigt werden können muss (Pettit 1997: 175). Auch singuläre Exekutiventscheidungen müssen daher so verfasst sein, dass sie rechtsförmig artikuliert und überprüft werden können. Dies hat zur Folge, dass der Primat der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit in den gesetzgebenden Verfahren beständig bewusst bleibt und v.a. exekutive Instanzen die faktisch größere direkte Bedeutung für Handlungskontexte nicht als geltungstheoretischen Vorrang bzw. als Aufforderung zur „verantwortungsvollen“ Überschreitung des gesetzten Rechts begreifen. Angesichts der Wünschbarkeit eines solchen allgemeinen Bezugs auf das Recht ist es sicher sinnvoll, die Bedingungen zu untersuchen, unter denen eine politische Kultur der Rechtlichkeit ausgebildet und weiterentwickelt werden kann. Eine solche Kultur erlaubt es, fundamentale Auseinandersetzungen über Rechtsprinzipien und Ziele zu führen (und so von konkreten Anlässen zu abstrahieren) und zugleich die (v.a. interpersonale) Rechtsanwendung weitgehend zu entpolitisieren (was zweifelsohne für das friedliche Zusammenleben vorteilhaft ist). In einer derartigen Kultur bietet die Sprache des Rechts auch komplexe Artikulationsmöglichkeiten für politische Anliegen und das Zusammenführen von Interessen und Vorhaben, weshalb von ihr insgesamt ein Gewinn für die Rationalität der Verfahren und Auseinandersetzungen zu erwarten ist.55 Mit Blick auf die Gestalt und Vernünftigkeit politischer Auseinandersetzungen ist die Ausrichtung der Politik auf das Recht der umgekehrten Politisierung des Rechts (im Sinn eines Verständnisses des Rechts, dass es in singulären Situationen singulär anzuwenden ist) vorzuziehen, so lange es nicht zu einer

–––––––––––––– 55

Allerdings müssen auch Studien berücksichtigt werden, die darauf hinweisen, dass das Recht soziale und politische Auseinandersetzungen in der Weise „kolonisieren“ kann, dass die wirklichen Streitgegenstände nicht zur Erscheinung kommen (können) (Habermas 1987b: 522-547). Die Kultur der Rechtlichkeit muss daher eine Kultur der „öffentlichen Rechtlichkeit“ sein, d.h. in ihr muss der Bezug des Rechts auf politische Verfahren und Strukturen sichtbar bleiben und es darf nicht als Verteilung quasi-natürlicher, privater Ansprüche begriffen werden, über die letztlich von juristischen „Experten“ befunden wird.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

„Entpolitisierung“ der Politik kommt (vgl. zur Kritik der „Politisierung des Rechts“ ausführlicher Niederberger 2007b). Aber diese „entgegenkommenden Lebensformen“, die in der politischen Soziologie beschreib- und analysierbar sind, können nicht an die Stelle des nicht-willkürlichen Verbürgens der Geltung des Rechts bzw. der Rechtsform in den beschriebenen Dimensionen treten. Das Recht muss vielmehr eine eigene Autorität erwerben, die es allen, die darauf, sei es setzend oder anwendend, bezogen sind, schwer oder gar unmöglich macht, es zu umgehen oder mit Blick auf eigene Interessen und Projekte, die nicht den Verfahren ausgesetzt wurden, zu deuten oder umzudeuten. In diesem Sinn wurde in allen neuzeitlichen Revolutionen gefordert, dass die willkürliche Ausübung von Macht durch einige oder bloß viele durch die Herrschaft des Rechts ersetzt wird.56 Zu diesem Zweck ist es notwendig, dass eine gewisse Kohärenz und Einheitlichkeit des Rechtscodes und der Rechtsdokumente gewährleistet ist, denn diese legen der Umgehung des Rechts qua mehr oder minder willkürlicher Deutung große Bürden auf. Fragmentierte Rechtssysteme bieten dagegen viele Möglichkeiten, Elemente des Rechts gegeneinander auszuspielen und so Optionen für willkürliches Handeln zu gewinnen. Die Orientierung der Verfahren und der politischen Auseinandersetzung insgesamt an der Rechtsform sollte also nicht zur zu großen Fragmentierung des Rechts führen, selbst wenn dies bei dem Ziel der Verrechtlichung möglichst vieler Fragen und Kontexte z.T. attraktiv erscheinen mag. Wenn die Verrechtlichung eines Kontextes durch die Schwächung des Rechts insgesamt „erkauft“ wird, kann dies ein zu hoher Preis sein. Die Kohärenz und Einheitlichkeit des Rechtscodes und der Rechtsbestände wird durch die Hierarchisierung von Rechtsdokumenten unterstützt, so dass es im Recht selbst Momente gibt, die explizieren, was welchen Vorrang besitzt (und damit auch, wie in einer gegebenen Situation unterschiedliche Instanzen zueinander stehen). Eine besondere Rolle kommt dabei einer Verfassung zu,

–––––––––––––– 56

Dies bringt paradigmatisch die Aussage von John Marshall im berühmten Supreme Court-Urteil Marbury v. Madison aus dem Jahr 1803 zum Ausdruck: „The government of the United States has been emphatically termed a government of laws, and not of men.“ (5 U.S. 137 [1803], 163).

4.4 Nicht-Beherrschung und Rechtsstaatlichkeit

239

die als das grundlegendste Rechtsdokument nicht nur die Hierarchie der weiteren Rechtsdokumente festlegen, sondern auch selbst basale Rechte und Prinzipien formulieren kann, die weiteren Gesetzgebungsverfahren weitgehend entzogen sind. Dabei ist aber weniger eine konkrete Verfassung mit der Gewährleistung einer bestimmten Liste von Grundrechten von Interesse (denn dies wirft eigene Schwierigkeiten in der Begründung dieser Grundrechte auf). Die „Verfassung“ ist vielmehr im Sinn einer Praxis des „Konstitutionalismus“ zu verstehen, d.h. als explizite Auszeichnung des Anspruchs, zur Teilhabe befähigt zu werden, sowie der Verfahrensprinzipien auf der ersten und zweiten Stufe der Verfahren, die gemeinsam die Bedingungen dafür artikulieren, dass Verfahren legitimerweise durchgeführt werden und Herrschaft legitim ausgeübt wird. Wichtig für dieses demokratietheoretische Verständnis des Konstitutionalismus (vgl. dazu auch Niederberger 2008b) ist, dass die Grundrechte an die Verfahren gebunden sind und bleiben, in denen Freiheit positiv ausgeübt und negativ abgesichert wird und die Umsetzung sowie die Auswirkungen von Entscheidungen in einer reflexiven Struktur der Thematisierung und Problematisierung berücksichtigt werden können. Grundrechte werden also in diesem Konstitutionalismus nicht als Rechte betrachtet, die den Menschen per se zukommen und daher „überpositiv“ im Sinn einer Unabhängigkeit vom positiven Recht schlechthin sind. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um die Rechte und Ansprüche, die niemandem vorenthalten werden dürfen bzw. die positiv gewährleistet sein müssen, damit die Verfahren und die Herrschaftsausübung, die sich aus ihnen ergibt, legitim sind. So ist eine gewisse Dynamik in der Bestimmung dessen, was jeweils als Grundrecht zu gelten hat, immer schon vorgesehen (vgl. dazu Ely 1980, Holmes 1994, Sunstein 2001a, Zurn 2007).

4.4.2 Gewaltenteilung Das Recht in der Einheitlichkeit seines Codes und in seiner Kohärenz kann die unabhängige Autorität aber nur bewahren, wenn ihm ein institutionelles Gefüge korrespondiert, das derart gewaltenteilig organisiert ist, dass die verschiedenen Instanzen einander wechselseitig an das geltende Recht binden und willkürliche Über-

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

schreitungen desselben (v.a. durch Institutionen) abwehren. Eine solche Gewaltenteilung muss drei Erwartungen erfüllen: Sie muss erstens im Sinn einer funktionalen Gewaltenteilung die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative gewährleisten und in dieser Trennung der Legislative den Primat zuweisen. Zweitens muss sie die unterschiedlichen Instanzen und Institutionen so ausstatten und verfassen, dass sie wirklich Kontrolle übereinander ausüben können. Drittens darf die Ausstattung und Einrichtung der Instanzen und Institutionen nicht dazu führen, dass sie insgesamt so stark werden, dass sie von denen, die von der Herrschaftsausübung betroffen sind, nicht mehr kontrolliert werden können, also alle Kontrolle allein in das Binnengefüge der Instanzen und Institutionen verlagert wird. Es wurde schon im Kapitel 3.2 darauf verwiesen, dass die Unterscheidung zwischen dem Modell funktionaler Gewaltenteilung oder Gewaltengliederung und dem Modell von „checks and balances“, die in der Literatur gängig ist und zur Beschreibung von Differenzen zwischen den politischen Systemen der BRD und der USA dient, theoretisch nicht zu rigide zu fassen ist. Die Notwendigkeit funktionaler Gewaltenteilung ergibt sich, wie die Ausführungen zur Rechtsform erinnert haben, daraus, dass die Setzung der allgemeinen Prinzipien, die Handlungszusammenhänge bestimmen sollten, die Etablierung und Kontrolle dieser Zusammenhänge auf der Basis der Prinzipien sowie die Kontrolle der Verfahren der Gesetzgebung und der Anwendung der Prinzipien in der Herrschaftsausübung voneinander getrennt sein müssen, wenn es sich um eine Struktur handeln soll, die Freiheit nicht-willkürlich verbürgt. Die zusätzliche Gestaltung des Gefüges in der Form von „checks and balances“ resultiert aus der Unmöglichkeit, die funktionale Gewaltenteilung und den Vorrang der Gesetzgebung entweder qua Rechtsmedium allein oder mit Hilfe einer übergeordneten Instanz sicherzustellen, die ausschließlich das Recht als Grundlage der Herrschaftsausübung garantiert. Die funktionale Gewaltenteilung setzt voraus, dass Instanzen derart funktional voneinander abgegrenzt werden, dass sie sich auf die Erfüllung der Funktion konzentrieren können (und eventuell müssen), die ihnen zugeschrieben wird – und mit Blick auf die

4.4 Nicht-Beherrschung und Rechtsstaatlichkeit

241

entsprechende Funktion verfasst und mit notwendigen Ressourcen bzw. dem Zugang zu solchen Ressourcen ausgestattet werden. Dabei ist es zunächst nicht erforderlich, dass es sich in der Tat um distinkte Institutionen handelt, solange nur die Elemente oder Teile, die auf die unterschiedlichen Funktionen bezogen sind, hinreichend distinkt (voneinander organisiert) sind. Gesetzgebende Verfahren können daher auf verschiedene Orte verteilt sein, zumal wenn sie so begriffen werden, dass es nicht nur ein einziges Verfahren gibt, sondern dass sich das Verfahren, das letztlich entscheidend ist, aus vorhergehenden Verfahren speist, in denen mehr Betroffene direkt bzw. unterschiedliche Perspektiven auf eine Regelung einbezogen werden konnten. Wichtig ist aber, dass in den Verfahren sichergestellt wird, dass tatsächlich alle daran teilhaben können, deren Beitrag für das Resultat relevant sein könnte. Da Regelungen oft nicht vollkommen neu sind, sondern auf Probleme bestehender Regelungen bzw. in bereits regulierten Zusammenhängen reagieren, ist es sinnvoll, dass die Institutionen, die bislang die Zusammenhänge etablieren, aufrechterhalten oder kontrollieren, bzw. solche Institutionen, die dies leisten könnten, ihre Expertise zu neuen Gesetzgebungsverfahren beisteuern. Dieses Beisteuern ist aber nur dann wünschenswert, wenn es in der Tat ein Beitrag von Expertise ist und nicht einem besonderen Begehren etwa auf größeren Einfluss auf die Gestaltung eines Zusammenhangs entspricht, also auf die (nachträgliche) Regulierung eines Wirkens abzielt, das primär im Interesse der Institution selbst und ihrer (größeren) Rolle für den Zusammenhang begründet liegt. Hieraus ergibt sich, dass die Weise, in der die „Expertise“ der Institution bzw. Instanz generiert wird, ausschlaggebend dafür ist, ob sie in den weiteren Gesetzgebungsprozess einfließen sollte oder nicht. Innerhalb von Institutionen muss es daher Kanäle der Beschreibung oder Identifizierung von Problemen, aber auch von funktionierenden Mechanismen und Prozeduren geben, die unabhängig von der Hierarchie sind, die die Erfüllung der exekutiven Funktion leistet. Im Gegensatz zum Reduktionismus einiger Demokratietheorien, die insgesamt auf die Expertise von Institutionen und Spezialisten setzen, ist aber die Existenz von Gremien und Foren, die

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

unmittelbar auf die Gesetzgebung ausgerichtet sind, (weiterhin) zentral für die Erfüllung der Funktion der Gesetzgebung. Hierbei kommt Parlamenten zweifelsohne die zentrale Rolle zu, da ein Vorrang der Ausübung von Freiheit in Verfahren der Gesetzgebung sich dauerhaft nur sicherstellen lässt, wenn es sichtbare Instanzen gibt, in denen autoritativ über je geltendes Recht entschieden werden kann.57 Darüber hinaus haben sich im Parlamentarismus der Moderne (etwa mit dem System von Regierungspartei und Opposition, besonderen Rechten von Oppositionsparteien, Verfahren der Rechtfertigung von Regierungen gegenüber dem Parlament etc.) Mechanismen ausgebildet, die mit Blick auf die negative Absicherung der Freiheit allgemein sowie v.a. von Minderheiten bzw. hinsichtlich des Interesses an der Differenzierung zwischen Legislative und Exekutive von großem Vorteil sind. Das größte Problem, vor dem die Bestimmung autoritativer Verfahren und Instanzen der Gesetzgebung steht, ist, dass die lange Zeit wichtigste Rechtfertigung von Parlamenten über die Idee der Repräsentation (Jansson 2007, Manin 1996, Rehfeld 2005) nicht mehr (oder zumindest nicht mehr vollends) zu überzeugen vermag. Parlamente können nicht so verstanden werden, dass in ihnen eine hinreichende Repräsentation der Ideen und Projekte möglich ist, die diejenigen verfolgen (bzw. verfolgen sollten), die von Entscheidungen der Parlamente betroffen sind. Dies liegt einerseits darin begründet, dass die Idee der Repräsentation die

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Pettit hat unterdessen wiederholt vorgeschlagen, die Idee der Autorenschaft von Gesetzen aufzugeben und den Gesetzgebungsprozess eher als gemeinsames Edieren von Gesetzen vorzustellen (Pettit 2004: 61-62). Dieser Vorschlag unterstreicht richtigerweise, dass Gesetzgebung nicht als souveräne Selbstbestimmung, also bewusste und selbstbewusste Setzung der Gesetze verstanden werden sollte, die dann die Handlungszusammenhänge allererst erzeugen. Zugleich darf der Übergang zu einem Prozess des Edierens von Regulierungsvorschlägen nicht dazu führen, dass nicht mehr transparent ist, warum es zu Vorschlägen gekommen ist und wer diese aus welchen Gründen unterbreitet hat. Als prozeduraler Vorschlag ist das „Edieren“ also interessant und überzeugend, nicht aber als generelle Konzeption für den Gesetzgebungsprozess. Hier muss sichergestellt sein, dass es eine Instanz gibt, die autoritativ geltendes Recht festlegen kann und daher auch in besonderer Weise Teilhabe- und Transparenzerwartungen erfüllen muss.

4.4 Nicht-Beherrschung und Rechtsstaatlichkeit

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„Expressivität“ des politischen Prozesses nicht ernst genug nimmt, d.h. sie unterschätzt, zu welchem Grad Interessen und Projekte erst in der politischen Auseinandersetzung zur Erscheinung bzw. zum Ausdruck kommen (Möllers 2008, Niederberger 2007c). Wenn dies so ist, dann können diejenigen, die etwa als Abgeordnete in Parlamenten wirken, nicht so verstanden werden, dass sie Interessen etc., die jenseits ihres Wirkens bzw. vor ihm bestehen, wesentlich wiedergeben und in die Beratungen einbringen. Sie sind vielmehr selbst mitentscheidend dafür, welche Interessen etc. überhaupt als Bezugspunkte für Entscheidungen artikuliert werden – weshalb die Frage, wer unter welchen Bedingungen „Repräsentant“ wird, viel wichtiger ist, als es die überkommene Theorie politischer Repräsentation zugestehen wollte, die den „Repräsentanten“ qua „Repräsentation“ zu neutralisieren beabsichtigte (vgl. zur Analyse von Delegation und Repräsentation auch Bourdieu 1981, Bourdieu 2000). Andererseits ist die Vorstellung von Repräsentation aber auch daher nicht mehr wirklich sinnvoll, weil sie unterstellt, dass Personen grundsätzlich in der Lage sein könnten, eine vollständige und endliche (d.h. letztlich eher kurze) Liste ihrer Präferenzen, Interessen und Projekte zu erstellen, und dass etwa politische Parteien oder einzelne Delegierte diese Liste aufgreifen und politisch darstellen könnten. Personen sind demgegenüber aber so zu begreifen, dass ihnen ihre Präferenzen und Interessen nur selten in toto bewusst sind (wenn sie dies überhaupt sein können) und vielmehr in unterschiedlicher Weise in unterschiedlichen Kontexten als Bezugspunkt dienen bzw. bedeutsam werden. Damit ist grundsätzlich ausgeschlossen, dass Personen als solche und d.h. in der Vielfältigkeit repräsentierbar sind, die sich in der personalen „Einheit“ findet. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Interessen und Projekte in bestimmten Kontexten artikuliert und in politischer Deliberation kontrovers erörtert werden, dass es aber durchaus sein kann, dass Personen anderswo und unter anderen Beratungsumständen andere Interessen und Projekte als vorrangig auszeichnen würden.58

–––––––––––––– 58

In den Demokratietheorien, die sich mit neuen Wegen der Einbeziehung oder Repräsentation von Interessen, Auffassungen und Projekten befassen, wird einerseits überlegt, in welchen Hinsichten Personen oder Gruppen überhaupt an

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Die Rechtfertigung der Forderung, dass die Gesetzgebung wesentlich in Parlamenten verortet sein sollte, muss sich aber nicht der Vorstellung von Repräsentation bedienen. Parlamente haben gegenüber anderen Arenen politischer Auseinandersetzung den Vorteil, dass der Zugang zu ihnen klar festgelegt werden kann, die Verfahren in ihnen geregelt und transparent sein können und sie sich qua Existenz als distinkter Instanz hervorragend eignen, um den Vorrang der Gesetzgebung vor der Umsetzung der Gesetze zum Ausdruck zu bringen. Solange Parlamente auf vorhergehenden Deliberationen in unterschiedlichen Kontexten aufruhen (und d.h. es ausgezeichnete Kanäle gibt, auf denen die Resultate der Deliberationen an das Parlament weitergeleitet werden) und sie nicht beanspruchen, die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit und in allen Hinsichten aufzuheben oder zu inkorporieren (was ja durch die Möglichkeiten der Revision von Entscheidungen und ihren Auswirkungen im Konstitutionalismus niedergelegt ist), sind sie der wichtigste Ort für die autoritative Festlegung geltenden Rechts und sollten dies auch bleiben.

Verfahren teilhaben können müssen, während andererseits z.B. neue Medien dahingehend untersucht werden, inwiefern sie eine Annäherung an die „direkte“ Teilhabe aller an der Gesetzgebung erlauben. In den zuerst genannten Theorien wird die Vorstellung einer Repräsentation von Personen in all ihren Interessen und Präferenzen durch Modelle einer Aggregation oder eines Abgleichs von Interessen in verschiedenen Sphären ersetzt, in denen sich die Personen bewegen. Dies setzt wiederum voraus, dass die Personen in die relevanten Sphären „aufteilbar“ sind und sich sinnvolle Weisen der Interessensartikulation in den Sphären identifizieren lassen. Viele Vorschläge, die hierzu vorgebracht werden, verweisen schon auf das, was im zweiten Teil dieses Buches untersucht werden wird, nämlich transnationale Verfahren der Gesetzgebung bzw. der Autorisierung von Exekutiven. So werden Modelle „sektoraler Repräsentation“ bzw. direkter Teilhabe in „Sektoren“ diskutiert, in denen Sektoren unterschiedliche Kreise von Betroffenen haben und daher auch unterschiedlich weit reichender Einbeziehung der Betroffenen bedürfen (Fung 2006: 682). Dies ermöglicht die „Entzerrung“ von politischen Diskussionen und Themen, es erschwert aber eventuell die Herausbildung kontinuierlicher Interaktionszusammenhänge, was wiederum in der Stabilitätsperspektive sowie hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit von Kompromissbildungen und vielleicht auch bei der Frage nach sozialer Gerechtigkeit Probleme aufwerfen kann.

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Der Exekutive darf aus den genannten Gründen keine eigene legislative Kompetenz zugesprochen werden, auch wenn es, wie sich zeigen wird, zum Zweck der Etablierung von „checks and balances“ sinnvoll sein mag, die Exekutive mit einer Vetomacht zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit legislativer Entscheidungen auszustatten.59 Die Exekutive muss den Gehalt und das Ziel der Gesetze um- und durchsetzen können, dabei aber möglichst weitgehend daran gehindert werden, eigenständige Interessen und Ziele zu verfolgen. In der Gesetzgebung muss daher in den Regelungen selbst festgelegt werden, welche Ermessensspielräume Institutionen zum Zweck der Um- und Durchsetzung des Gesetzes gegeben werden und ab welchem Punkt Institutionen der erneuten Autorisierung durch legislative Verfahren bedürfen. Die Festlegung der Ermessensspielräume muss aber auch die Funktionserfordernisse von Institutionen bedenken. Es wird daher oft sinnvoller sein, Spielräume nicht von vornherein zu stark einzuschränken, um die kognitiven und praktischen Vorteile von Institutionen im Umgang mit Handlungskontexten ausnutzen zu können. Spielräume können so eher zeitlich limitiert werden (um dann in erneute legislative Beratungen auf dem Hintergrund gemachter Erfahrungen einzutreten), oder aber es kann einer Verwaltungsgerichtsbarkeit die Aufgabe zugeschrieben werden, die Rechtmäßigkeit der Weise zu überprüfen, in der Ermessensspielräume genutzt werden. Die zweite Option setzt voraus, dass die Möglichkeit, solche Überprüfungen einzuleiten, verhältnismäßig einfach und schnell genutzt werden kann, so dass jeder Betroffene Überprü-

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Eine solche Veto-Möglichkeit findet sich in verschiedenen modernen Verfassungen, wie etwa im Artikel 1, Sect. 7 der US-amerikanischen Verfassung: „Every order, resolution, or vote to which the concurrence of the Senate and the House of Representatives may be necessary (...) shall be presented to the President of the United States; and before the same shall take effect, shall be approved by him, or being disapproved by him, shall be repassed by two thirds of the Senate and House of Representatives (...).“ (zitiert nach Hay 2005: 349) Diese Regelung ist in ihrer Allgemeinheit problematisch und – wie die historische Entwicklung des Gebrauchs der Vetomacht zeigt – in vielen Fällen Ausdruck der Ausübung bzw. der Beeinflussung von Gesetzgebung durch die Exekutive, da sie kein Kriterium dafür angibt, auf welcher Grundlage ein Veto eingelegt werden kann oder gar muss.

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fungen initiieren kann und nicht befürchten muss, durch die zu lange Dauer des Überprüfungsverfahrens nachhaltig Schaden zu nehmen. Im Kapitel 1 wurde bereits dargestellt, dass Institutionen sich in der Moderne auch deshalb als effiziente Werkzeuge zur Ausübung von Herrschaft erwiesen haben, weil sie es erlauben, untereinander funktional differenziert zu werden, wie es v.a. die Trennung von Finanzinstitutionen (die für die Ressourcenakquisition in vielen Staaten entscheidend sind), Polizei bzw. Militär (die für die notfalls gewaltsame Durchsetzung von exekutiven Maßnahmen zuständig sind) und „thematischen“ Institutionen (die für die Umsetzung gesetzlicher Regelungen und Zielvorgaben in bestimmten Handlungskontexten oder -sphären verantwortlich sind) zeigt. Diese Differenzierung zwischen den Institutionen ermöglicht deren Spezialisierung, die mit dem Zweck der Um- und Durchsetzung von Gesetzen vor Augen zweifelsohne wünschbar ist, wenn sie zu einem Effizienzgewinn führt, und sie hat schon als solche Kontrollmöglichkeiten zwischen den einzelnen Institutionen zur Folge. Sie wirft aber auch weitere Schwierigkeiten auf, die sich aus der Spezialisierung ergeben, wie etwa die „Blindheit“ der Institutionen gegenüber anderen Zielen oder die Abhängigkeit des gesamten sozio-politischen Gefüges vom Grad der Spezialisierung, um gewünschte Steuerungen zu erreichen etc. In den letzten Dekaden hat sich gezeigt, dass der Vorrang der Gesetzgebung vor den anderen Gewalten nicht nur durch exekutives Handeln gefährdet wird und werden kann, sondern dass sich auch Richter in verschiedensten politischen Kontexten zunehmend so verstehen, dass sie legislativ tätig sind und sein sollten. Dies ist nicht im Sinn der funktionalen Gewaltenteilung, da es auch so dazu kommen kann, dass einige jenseits der gesetzgebenden Verfahren (und d.h. willkürlich) die Standards oder Regeln festlegen, unter denen „offizielles“ legislatives oder exekutives Handeln als zulässig oder unzulässig deklariert wird bzw. bei Verhältnissen einer Weisungsbefugnis von Gerichten gegenüber z.B. der Polizei selbst exekutiv gehandelt wird. Wie schon angedeutet wurde, hängt diese Tendenz nicht nur mit „bösem Willen“ bei den Richtern zusammen, sondern sie ergibt sich auch aus den zuneh-

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menden und zunehmend komplexen Aufgaben von Institutionen mit Blick auf Handlungszusammenhänge. Institutionen werden eher selten für alle Aufgaben, die ihnen zukommen, beständig und vollständig neu „programmiert“, denn die Gesetzgebung konzentriert sich häufig auf neue Ziele oder neue Probleme, die der Regulierung bedürfen, und vertraut darauf, dass ein einmal entwickelter rechtlicher Rahmen für andere Bereiche hinreichend ist, um das institutionelle Handeln anzuleiten. Die Institutionen erfüllen daher oft auch dann ihre Aufgaben weiter, wenn sich aus verschiedenen Gründen wesentliche Faktoren in den Zusammenhängen verändern, die von ihnen etabliert, gesteuert oder kontrolliert werden sollen. Bei allen Bemühungen um Komplexität und Berücksichtigung aller relevanten Faktoren zeigt sich doch immer wieder, wie schon im Kapitel 1.3 begründet wurde, dass legislative Deliberation aus ihren Verfahrensvoraussetzungen heraus ein gewisses Abstraktionsniveau nicht unterschreiten kann. Viele Situationen oder Probleme, die sich bei der Anwendung von Regelungen oder durch die Entwicklung von Zusammenhängen ergeben, können daher nicht antizipiert werden. Um die Verfahren nicht mit der ständigen Revision oder Weiterentwicklung von Gesetzestexten zu überfordern und so die positive Ausübung von Freiheit durch legislative „Überbelastung“ stark einzuschränken, kommt in allen Rechtsbereichen der Rechtsprechung notwendigerweise die Aufgabe zu, in der Auslegung des geltenden Rechts dieses mit Blick auf nicht explizit genannte Situationen und Probleme fortzuschreiben. Eine solche Fortschreibung, d.h. die supplementäre Legislation durch Gerichte muss aber die Ausnahme unter den Tätigkeiten von rechtsprechenden Instanzen sein und sie darf sich auf keinen Fall der Willkür einzelner Richter verdanken. Sie muss vielmehr diskursiv rechtfertig- und nachvollziehbar sein, sich in das gesamte geltende Recht kohärent einschreiben lassen und in direkten Gesetzgebungsverfahren revidierbar sein – nur so ist sie mit dem Modell funktionaler Gewaltenteilung vereinbar. Die Funktion der Judikative liegt darin, die Rechtmäßigkeit des Handelns von Individuen oder Institutionen zu überprüfen und eventuell Sanktionen zu erlassen, die das Recht für den Fall seiner Verletzung vorsieht. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe,

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über die Einheitlichkeit des Rechts zu wachen und d.h. widersprüchliche Regulierungen zu kennzeichnen und zu thematisieren sowie im Sinn der Hierarchie im geltenden Recht darzulegen, was unter welchen Voraussetzungen zur Anwendung kommen kann und was nicht. Darin liegt eine Art „judicial review“ begründet, d.h. die Möglichkeit, Gesetze und Regelungen, die im legislativen Verfahren zustande gekommen sind, aufgrund von Verfahrensfehlern oder von (erwartbaren) Verletzungen der Teilhabebedingungen an den Verfahren zu problematisieren und eventuell sogar als ungültig zu deklarieren. Wichtig ist dabei, dass die „judicial review“ nur im Sinn des Konstitutionalismus verstanden wird, der mit Blick auf die Sicherung der Autorität des Rechts als Bedingung für die Ausübung und Sicherung von Freiheit eingeführt wurde, und dass in ihr nicht weitere, z.B. moralische oder religiöse Rechtsquellen bemüht werden, die sich nicht in der republikanischen Freiheitsperspektive rechtfertigen lassen (vgl. zur Geschichte republikanischer „judicial review“ Kramer 2004). Diese Ausführungen zur Funktion der Judikative verdeutlichen schon, dass Gerichte nur dann das Handeln von exekutiven Einrichtungen oder legislativen Verfahren nicht willkürlich und nicht freiheitsgefährdend überprüfen oder gar ergänzen können, wenn Richter weder in der Vergangenheit eine Rolle in diesen Verfahren gespielt haben, noch in der Zukunft eine solche spielen werden, sie also weder selbst einen „Schaden“ durch die Überprüfung befürchten müssen, noch einen Vorteil davon haben können. Richter müssen im Rahmen einer Konstellation der Gewalten zum Zweck von „checks and balances“ in verschiedenen Weisen unabhängig sein, wobei dies nicht nur Einschränkungen für andere, sondern auch für sie selbst bedeutet. Abseits der fachlichen Qualifikation, in der (zukünftige) Richter v.a. verstehen lernen, was die Einheitlichkeit des Rechts und des Rechtscodes ausmacht und in welcher Weise der Gesetzgebung im Rechtssystem der Vorrang zukommt, müssen Richterstellen so besetzt werden, dass das Andauern der Besetzung nicht durch die Art des Urteilens bedingt sein kann (was nicht ausschließt, die Besetzung zeitlich zu begrenzen). Daneben muss es Richtern aber auch verwehrt sein, in Zukunft Ämter oder Mandate in der Exekutive oder Legislative an-

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zustreben, da ihnen eine solche Perspektive eventuell andere Bewertungsmaßstäbe als das geltende Recht bzw. den Konstitutionalismus nahe legt.60 Für die Judikative lässt sich also sehr gut zeigen, dass die funktionale Gewaltenteilung und das Modell der „checks and balances“ nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern einander ergänzen können. Bei der Legislative und der Exekutive ist die Lage schwieriger und vieles hängt davon ab, wie die Gefahren bestimmt werden, auf die das „checks and balances“-Gewaltenteilungsmodell reagieren soll: Das wichtigste Beispiel für eine Ordnung von „checks and balances“ bietet die US-amerikanische Verfassung. Hinter ihr steht, wie in den Federalist Papers ersichtlich wird (Hamilton/Madison/Jay 1994: 53-58 [Art. 10]), die Diagnose, dass in der Demokratie v.a. vermieden werden muss, dass es zu einer Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit kommt, also das Parlament „populistisch“ entscheidet und damit eine Regierung die Minderheit zu Gunsten der Mehrheit benachteiligt oder gar beherrscht. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, führt die amerikanische Verfassung das Amt eines Präsidenten ein, der unabhängig vom Parlament über Wahlmänner gewählt wird (und so vermeintlich selbst über ein Mandat des Wahlvolks verfügt), Kompetenzen hat, auf die das Parlament grundsätzlich nicht zugreifen kann (v.a. zum Zweck, die staatlichen Zwangsmittel zu etablieren und zu erhalten), und über Möglichkeiten verfügt, die Gesetzgebung des Parlaments zurückzuweisen (woraus sich ergibt, dass er oft in der Gesetzgebung konsultiert werden muss, um dem Veto vorzubeugen). Insbesondere der letzte Punkt ist äußerst problematisch, da er zu einem gewissen Grad die funktionale Gewalten-

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Aufgrund der großen Bedeutung von Richtern für die Überprüfung der Rechtsetzungsverfahren und der Rechtsanwendung sowie für die Rechtsfortbildung muss es Kontrollen von Richtern geben. Diese sollten sich innerhalb der Judikative selbst (etwa in der Form von Berufungsverfahren, in denen in der höheren Instanz nicht nur der Inhalt eines vorhergehenden Urteils thematisiert, sondern auch das ursprüngliche Rechtsprechungsverfahren als solches untersucht werden kann) und in einem öffentlichen Diskurs über Urteilsweisen finden. Hierbei kommt einer juristisch geschulten Öffentlichkeit zweifelsohne eine wichtige Rolle zu.

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teilung und damit auch die positive Ausübung von Freiheit in der Gesetzgebung unterminiert. Die Notwendigkeit einer supplementären Gesetzgebung in der Judikative resultiert aus den kognitiven und praktischen Begrenzungen der hauptsächlichen Gesetzgebungsverfahren, und diese Ergänzung ist weitgehend unproblematisch, so lange die Judikative nicht selbst direkten Zugriff auf das Wirken exekutiver Einrichtungen hat und die richterliche Rechtsfortschreibung jederzeit in gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren durch andere Regelungen ersetzt werden kann (also so lange die Judikative eine „schwache“ Gewalt in dem Sinn ist, dass ihr Gewicht wesentlich durch eine allgemeine Wertschätzung und Befolgung des Rechts bedingt ist). Die legislative Rolle der Exekutive gefährdet dagegen die Ausübung und Absicherung der Freiheit als Nicht-Beherrschung, da in diesem Fall die Instanz, die Herrschaft ausübt, selbst wenn sie zu irgendeinem Zeitpunkt gewählt wurde, selbst – zumindest zu einem gewissen Grad und wenn nicht zugleich der Legislative die wiederum problematische Kompetenz zugesprochen wird, in das exekutive Handeln einzugreifen – willkürlich darüber entscheiden kann, welche Prinzipien sie ihrem Handeln zu Grunde legt. Die Struktur der „checks and balances“ muss daher sicherstellen, dass die Legislative sich nicht exekutive Kompetenzen anmaßt, es muss aber v.a. und gerade deshalb sichergestellt werden, dass die Exekutive nicht selbst legislativ tätig wird bzw. sich so begreift, dass sie über dem Recht steht. Die Gefahr einer Überschreitung legislativer Kompetenz hin zu exekutivem Handeln besteht dann, wenn es eine ungebrochene Kontinuität zwischen Legislative und Exekutive gibt, d.h. eine Regierung wenig Stabilität hat und sie als ganze bzw. ihre Mitglieder in der Form (quasi-)imperativer Mandate von denjenigen abhängig sind, die in der Legislative bzw. Parteien wirken und dort die Mehrheit stellen. In solchen Situationen kann es geschehen, dass die Regierung nicht das Recht in seiner Allgemeinheit anwendet und umsetzt, wie es von einer Legislative allein beschlossen werden kann, sondern sie ein „Recht“ anwendet, das sich unmittelbar aus dem Willen der Mehrheit bzw. der Teile einer Bevölkerung ergibt, die derzeit die Mehrheit in den legislativen Verfahren stellen. Ein wesentlicher Mechanismus zur Kontrolle, dass diese Trans-

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gression nicht stattfindet, liegt sicherlich in der Rechtsform, denn diese macht es, wie gezeigt, wenn sie strikt eingehalten wird, für eine Legislative schwierig, sich exekutiv zu betätigen. Wenn das legislative Handeln zudem der juristischen Kontrolle unterliegt, die v.a. darauf achtet, ob Gesetze allgemein und mit Blick auf das Rechtsganze kohärent formuliert sind und dass die Exekutive nur auf der Basis solcher Gesetze operiert, ist es für eine Legislative sehr schwer, direkt exekutiv zu handeln. Ein Vetorecht der Exekutive gegenüber gesetzgeberischen Entscheidungen muss sicherlich, wenn es mit dem Republikanismus vereinbar sein oder diesen sogar unterstützen soll, in Analogie zur juristischen „judicial review“ verstanden werden und darauf beschränkt sein, dass der Widerspruch einer neuen Entscheidung zu geltendem Recht oder die Überschreitung legislativer hin auf exekutive Kompetenz moniert wird.61 Es bleiben damit allerdings indirekte Möglichkeiten offen, die Exekutive zu „übernehmen“, die z.B. in der erwähnten personalen Identität von Parlament und Regierung bestehen können. Hiergegen könnte die direkte Wahl der Regierung oder des Regierungschefs als Gegenmittel in Erwägung gezogen werden, aber die direkte Wahl hat, wie viele Fälle zeigen, gewöhnlich zur Folge, dass die Regierungstätigkeit als eigenes Mandat (also als unmittelbar vom „Volk“ autorisiert) neben dem Parlament begriffen wird. Eine Alternative zur direkten Wahl der Regierung bildet z.B. das „konstruktive Misstrauensvotum“, wie es das deutsche Grundgesetz vorsieht, demgemäß das Parlament nur dann eine Regierung absetzen kann, wenn innerhalb einer klar definierten, aber kurzen Frist eine neue Regierung ins Amt gewählt wird. Aufgrund der Schwierigkeiten, das Misstrauensvotum erfolgreich aus-

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Wiederum mit Blick auf jüngere politische Entwicklungen ist bei einer parallelen Rolle von Exekutive und Judikative in der „judicial review“ als Gefahr auszumachen, dass sich Exekutive und Judikative wechselseitig in der Zurückweisung legislativer Entscheidungen bestärken und so gemeinsam legislative Kompetenzen aneignen können. Es ist deshalb bei allen Formen der „judicial review“ zu überlegen, wie sichergestellt werden kann, dass die Ausübung derselben nicht qua Invalidierung rechtlicher Regelungen ungeregelte und d.h. willkürliche Spielräume für die Exekutive bzw. in Fällen dringenden Regelungsbedarfs für die Judikative eröffnet.

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zusprechen, bekommt die Regierung eine gewisse Unabhängigkeit von legislativen Mehrheiten und der Gefahr, dass es zur Vermengung von Gesetzgebung und exekutivem Handeln kommt. Aber selbst wenn die Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“ historisch gesehen ein wesentlicher Faktor für die Einrichtung einzelner moderner Staaten, wie etwa der USA, war, so ist doch gegenwärtig die Gefahr einer Selbstautorisierung – sei es in Rechtsform, qua populistischer Rückversicherung oder über sogenannte Verhandlungssysteme, in denen quasi-rechtsgültige Vereinbarungen mit ökonomischen und sozialen Akteuren diesseits rechtlicher Regelungen getroffen werden – der Exekutive, d.h. die Aneignung legislativer Kompetenzen in der Regierung, größer einzuschätzen. Deshalb ist auch eine Struktur von „checks and balances“ zum Zweck der Verhinderung dieses Übergriffs der Exekutive auf die Gesetzgebung entscheidend dafür, dass Freiheit nicht-willkürlich gewährleistet ist. Zur Kontrolle, dass die Exekutive strikt an das Recht gebunden ist und bleibt, bieten sich zwei Mechanismen an, die miteinander verbunden sein sollten: erstens die Dezentralisierung der Exekutive und zweitens deren Rechtfertigungspflicht (accountability) gegenüber der Legislative und der Öffentlichkeit. Der erste Mechanismus erfordert die explizite Aufnahme dessen, was sich ohnehin in modernen Staaten, wie zuvor argumentiert, ausgebildet hat, nämlich der Differenzierung zwischen verschiedenen Institutionen. Diese Differenzierung muss nun so verstanden und selbst im Rahmen des Konstitutionalismus niedergelegt sein, dass sie nicht nur die kognitiven und praktischen Vorteile von Institutionen zur Geltung bringt, sondern auch zur wechselseitigen Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Handelns der Institutionen beiträgt. Dazu müssen die Entscheidungs- und Handlungswege der Institutionen voneinander getrennt, die eigene Berichtspflicht und -möglichkeit der Institutionen gegenüber der Legislative bzw. judikativen Kontrollinstanzen geschaffen und Personalverbindungen zwischen Institutionen möglichst ausgeschlossen werden. Darüber hinaus sollte die persönliche Haftung für rechtmäßiges Handeln eingeführt werden, so dass diejenigen, die in den Institutionen beschäftigt sind, nicht unter bloßem Verweis auf die innerinstitutio-

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nelle Hierarchie gegen das Recht verstoßen.62 Gleichzeitig müssen die Institutionen so miteinander verbunden sein, dass in Gesetzestexten festgelegt werden kann, welcher Spielraum welcher Institution zukommt, d.h. es muss Formen geben, in denen Institutionen wechselseitig miteinander „kommunizieren“ können und die hinsichtlich ihrer Rechtsgemäßheit überprüfbar sind. Die rechtliche Überprüfbarkeit der Kommunikationen zwischen Institutionen verweist schon auf den zweiten Mechanismus, denn die Überprüfbarkeit setzt voraus, dass Entscheidungen und Handlungsweisen von Institutionen derart transparent sind und dokumentiert werden, dass andere sie nachvollziehen können. Institutionen sollten sich nicht nur selbst und untereinander kontrollieren. Sie müssen vielmehr einer Berichtspflicht unterliegen, die es all denen, die von ihrem Wirken betroffen sind, und v.a. den legislativen Instanzen, die der Ausgangspunkt für das Wirken sein sollten, ermöglicht, im Fall der Abweichung von den rechtlichen Vorgaben bzw. im Fall beherrschender Effekte der Umsetzung solcher Vorgaben zu intervenieren und eine Neuerwägung der rechtlichen Grundlagen oder sogar die Sanktionierung der Institutionen zu initiieren. Institutionen müssen einer Pflicht unterliegen, die in regelmäßigen Abständen (die etwa durch Gesetzestexte vorgegeben werden) Berichte vorsieht, ohne dass diese extra angefordert werden müssen, da häufig so eine grundlegende Transparenz institutionellen Handelns etabliert werden kann und der Anspruch auf einen Bericht nicht ein Verdachtsmoment gegenüber der Institution voraussetzen muss. Jeder, der (in oder mit Hilfe einer Institution) exekutiv tätig ist, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass exekutives Handeln Spielräume eröffnet, von denen z.T. erst im Nachhinein gesagt werden kann, dass sie zu Recht bzw. zu Unrecht bestanden und genutzt wurden. Vor dem Hintergrund der Freiheit als Nicht-Beherrschung ist daher zu fordern, dass niemandem Immunität für sein Handeln zugestanden wird. Zur Durchsetzung der Verantwortlichkeit der Institutionen gegenüber der Legislative und der Öffentlichkeit ist wiederum

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Vgl. zu einer Deutung dieses Vertrauens auf die Hierarchie als eines wesentlichen Faktors für die beherrschende Rolle von Verwaltungen in totalitären Staaten Lefort 1999b.

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zweierlei notwendig: Einerseits muss es Instanzen in den Institutionen geben, die die Berichte verfassen und unabhängig vom „normalen“ Operieren der Institutionen sind. Andererseits vermag dies – zumal aufgrund der räumlichen und persönlichen Nähe – nicht auszuschließen, dass die Berichte dennoch nicht die von ihnen erwartete Transparenz erfüllen. Es muss daher zusätzlich eine externe Instanz geben, etwa in der Form fest etablierter parlamentarischer Kontrollausschüsse, die über Mittel verfügen, Berichte von Institutionen insgesamt, aber auch von jedem einzelnen Mitarbeiter in ihnen zu erzwingen. Wenn die Legislative der einzige Ort ist, an dem all diejenigen, die von der Herrschaftsausübung betroffen sind, ihre Freiheit positiv ausüben können bzw. an dem alle festlegen, welche Formen positiver Ausübung von Freiheit zulässig oder wünschbar sind, dann muss die Legislative über das Recht verfügen, eine Verwaltung in ihrem Handeln zu stoppen, wenn diese gegen geltendes Recht verstößt oder aber geltendes Recht sich mit Blick auf die Umsetzung desselben durch die Exekutive als problematisch erweist. Diese legislative Kontrolle darf dabei nicht zu einer unmittelbaren „Reprogrammierung“ der Institutionen führen, denn hierzu sind ordentliche legislative Verfahren durchzuführen. Parlamentarische Kontrollgremien dürfen also nicht Teil des institutionellen Wirkens werden. An dieser Stelle ist kurz ein Gebiet zu erörtern, das oft mit Blick auf den Vorrang der Legislative vor der Exekutive als Ausnahme betrachtet wird: Viele Verfassungen weisen der Exekutive weitgehende bis exklusive Kompetenz in der „Außenpolitik“, d.h. bei Interaktionen und Abkommen mit anderen Gemeinwesen zu. Dies hat – zumal wenn die Abkommen selbst rechtlichen Charakter haben und internationale Strukturen zu deren Durchsetzung existieren oder durch die Abkommen eingerichtet werden – zur Folge, dass die Entscheidungsmöglichkeiten von Legislativen wesentlich eingeschränkt werden und in bestimmten Gebieten gar nicht mehr bestehen (und sei es nur, weil eine Entscheidung gegen das, was in den Abkommen vereinbart wurde, Kosten aufwirft oder Ansehensverlust mit sich bringt). Mit dieser Diagnose wird deutlich, dass ein solcher Freiraum von Exekutiven dem Republikanismus widerspricht. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der

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unkontrollierte Entscheidungsspielräume von Regierungen für die Sicherheit von Staaten erforderlich waren – und es mag sogar bis heute demonstrierbar sein, dass in Krisensituationen Kompetenzen klar zugeschrieben werden müssen, die im Augenblick von deren Aktualisierung nicht (vollständig) kontrollierbar sind. Aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass die Außenpolitik insgesamt mit ihren weitreichenden Konsequenzen für den politischen Zusammenhang von legislativer Kontrolle oder „Programmierung“ ausgenommen sein sollte. Dabei ist bei der Forderung nach der Kontrolle oder Programmierung zu beachten, dass sie nur in wenigen Ausnahmefällen die Form direkter Beratungen zwischen Legislativen annehmen können. Aber es ist zweifelsohne notwendig, dass Legislativen nicht nur mit Resultaten „diplomatischer Bemühungen“ konfrontiert werden, sondern dass sie im Entstehen von Abkommen mit einbezogen oder in wechselseitigen Verpflichtungen regelmäßig konsultiert werden und diese entscheidend mitbestimmen können. Es wird sich mit Blick auf die Frage nach der Demokratie in der Weltgesellschaft zeigen, dass zudem nur so der besondere Typus der Beherrschung zwischen Gemeinwesen verhindert werden kann. Die verschiedenen, aber kooperativ zu verstehenden Strukturen der funktionalen Gewaltenteilung und der „checks and balances“ verweisen, wie angedeutet wurde, auf die Existenz der Öffentlichkeit als „vierter Gewalt“. Die Öffentlichkeit muss und kann wiederum unterschiedliche Formen annehmen und sie erfordert eine Infrastruktur, die gezielt etablier- und durch das politische Gefüge garantierbar ist, aber sie beruht auch auf Voraussetzungen, die nur indirekt oder bedingt intentional zu entwickeln und sicherzustellen sind. Unter „Öffentlichkeit“ sind diskursive Kontexte zu verstehen, in denen über Fragen, die die gemeinsame Existenz betreffen, so „beraten“ wird, dass viele (und z.T. anonyme) andere dies nachvollziehen können. „Beraten“ steht hier in Anführungszeichen, da die Diskursivität, die in der Öffentlichkeit zur Erscheinung kommt, nicht mit der gesetzgebenden Deliberation verwechselt werden darf. Wie Jürgen Habermas in seiner Studie zum Strukturwandel der Öffentlichkeit gezeigt hat, kann eine Öffentlichkeit z.B. dadurch entstehen, dass Personen ihre vermeint-

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lich privaten Gedanken über „Gott und die Welt“ publizieren und damit indirekt soziale, politische oder kulturelle Standards vermitteln, an denen sich politische Akteure dann messen lassen müssen (Habermas 1990: 107-116). Eine weitere Differenz zwischen der „Beratung“ der Öffentlichkeit und derjenigen in der Gesetzgebung ist, dass die Öffentlichkeit nicht zielgerichtet berät, d.h. die Beiträge zu ihr müssen nicht in einer Entscheidung über die Regulierung von Handlungszusammenhängen enden. Es kann maximal an sie die Erwartung herangetragen werden, dass sie eine diffuse Menge von Wahrnehmungen zur „öffentlichen Meinung“ zusammenführt, die allerdings intern durchaus wieder in heterogenen oder einander widerstreitenden Einzelsträngen bestehen kann (Habermas 1992: 435443). Die Öffentlichkeit hat dabei mit ihrer Beratung drei Funktionen: Sie muss erstens einen Raum bieten, in dem Interessen und Projekte vor ihrer expliziten Aufnahme in der legislativen Beratung abgeglichen und auf ihre Attraktivität für die positive Ausübung von Freiheit bzw. mit Blick auf ihr Gefährdungspotential für die Absicherung von Freiheit hin überprüft werden können. Sie soll zweitens dazu dienen, in einem Gesetzgebungsverfahren, das sich gerade vollzieht, Stimmungen und Wahrnehmungen derer, die von den Regelungen betroffen sind, vernehmbar zu machen, also als Resonanzraum für das Verfahren zu dienen, aber auch weitere Informationen und Überlegungen zu den Regelungen zu präsentieren. Drittens ist sie als Beobachterin des Wirkens exekutiver und judikativer Institutionen zu verstehen, d.h. in ihr werden auf der Basis existierender Regelungen, aber auch hinsichtlich konkreter (Auswirkungen von) Umsetzungen der Regelungen Probleme und Erfolge artikuliert (vgl. zur Beobachterrolle der Öffentlichkeit Luhmann 2000: 274-318). Wie die Schwierigkeiten im Entstehen einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit belegen, ist es nicht vorstellbar, dass die Öffentlichkeit selbst als Teil des politischen Gefüges „eingerichtet“ wird. Die Existenz einer Öffentlichkeit setzt einen Sinn derselben (d.h. diejenigen, die sich auf sie beziehen, müssen eine Vorstellung davon haben, was eine Öffentlichkeit ist und was die jeweilige Öffentlichkeit soll), aber auch spezifische kulturelle Kompetenzen

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voraus. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist abhängig von allgemeinen sozialen und historischen Umständen. Allerdings kann eine Öffentlichkeit sich auch nur schwer etablieren und erhalten, wenn sie nicht Teil des politischen Gefüges ist bzw. mit Mitteln ausgestattet ist, sich im Gefüge zur Geltung zu bringen. Um für viele ein Bezugspunkt sein können, muss eine Infrastruktur existieren, die es erlaubt, viele zu erreichen oder von vielen erreicht zu werden. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Öffentlichkeit in der Moderne ihre Bedeutung wesentlich durch die Entwicklung sogenannter Massenmedien bekommen hat. Aus der (Massen-)Medialität der Medien lässt sich nicht selbst ableiten, dass sie eine Öffentlichkeit erzeugen oder als solche bereits die Form garantieren, die dafür erforderlich ist, dass eine Öffentlichkeit besteht. Aber in ihren Kommunikationsformen bieten sie doch in besonderer Weise Möglichkeiten für die öffentliche Beratung der Dinge, die die gemeinsame Existenz betreffen.63 Hieraus ergibt sich als Anforderung an die politische Struktur, dass sie eine Infrastruktur schaffen und erhalten muss, die allen die Entwicklung von Medien des öffentlichen Diskurses und den Zugang zu ihnen, d.h. die Artikulation in Medien, aber auch die Information durch Medien erlauben. Diese Anforderung ist kompliziert, da zu erwarten ist, dass solche Medien sich dann besonders gut entwickeln, wenn möglichst wenig Einfluss auf sie genommen wird, so dass hier nicht analog zu den anderen Institutionen mediale „Institutionen“ als Teil des politischen Gefüges geschaffen werden sollten. Zugleich muss aber verhindert werden, dass es zu Öffentlichkeitsmonopolen durch die Konzentration des Zugriffs auf die Medien in der Hand von wenigen, nicht primär politischen Akteuren kommt, die selbst ökonomische Interessen oder gar politische Aspirationen haben. Eine Variante, eine solche doppelte Einflussnahme zu verhindern, bieten die Modelle öffentlicher Radio- und Fernsehkanäle, die durch die Kombination von professioneller Rekrutierung und gesicherten Sendeanteilen für unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung gekennzeichnet sind

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Vgl. auch die Darstellung der Ambivalenz der Massenmedien für die politische Öffentlichkeit bei Habermas 1987b: 571-575.

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und etwa durch Steuergelder finanziert werden, aber nur bedingt (und d.h. z.B. nicht inhaltlich) rechenschaftspflichtig gegenüber der Legislative sind (vgl. zur Rolle öffentlicher Medien für die Demokratie auch Sunstein 2001b). Die Existenz der Öffentlichkeit ist mit Blick auf die drei genannten Funktionen notwendig und als solche stützt sie in vielen Fällen die Rechtsförmigkeit des (Zusammen)Wirkens des politischen Gefüges und seiner Bestandteile. Es ist aber nicht die Gefahr zu vernachlässigen, dass die Öffentlichkeit in ihrer eigenen Unkontrolliertheit Motivationen und Anlässe generiert, das Recht zu überschreiten bzw. die positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit zu erschweren. Viele Akte politischer Gewalt von staatlichen oder singulären Akteuren waren das Resultat von Agitation in der Öffentlichkeit, so dass sich die Frage stellt, ob und wie sich die Ausrichtung der Öffentlichkeit auf die Rechtsform als Medium der Auseinandersetzung und der Herrschaftsausübung unterstützen lässt. Eine Beantwortung der Frage begibt sich auf das schwierige Terrain des Abwägens zwischen der Pressefreiheit einerseits und der Gewährleistung der Bedingungen für die Teilhabe aller an den Verfahren andererseits, wobei zu letzteren Bedingungen, wie gesagt, nicht nur die Redefreiheit gehört, sondern auch die Befähigung dazu, von anderen in seinen Beiträgen und Anliegen ernst genommen zu werden. Die erniedrigende Berichterstattung über Personen oder ganze Gruppen mag daher nicht in direktem Konflikt mit den Bedingungen für die Teilhabe an gesetzgebenden Verfahren stehen. Sie kann aber Einfluss auf die Formierung von Mehr- und Minderheiten haben und zur Herausbildung struktureller Minderheiten führen, womit sie selbst ein beherrschender Faktor wird. Es ist deshalb nicht per se ausgeschlossen, dass die Ausübung der Pressefreiheit in diesen Hinsichten eingeschränkt werden kann, auch wenn jede Einschränkung genau daraufhin zu überprüfen ist, welche Auswirkungen sie auf die Erfüllung der drei Funktionen der Öffentlichkeit hat.

4.4.3 Verwaltungsrechtliche Kontrolle Die Untersuchung der Implikationen der Rechtsform sowie der Gewaltenteilung hat darauf hingewiesen, dass es für die Gewähr-

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leistung der Freiheit als Nicht-Beherrschung im politischen Gefüge notwendig ist, dass jede Herrschaftsausübung auf dem Recht beruht oder zumindest auf geltendes Recht zurückführbar ist. Das Recht spielt also die Rolle eines anonymen und in seiner Form entzogenen Dritten gegenüber den Institutionen und Instanzen, die Herrschaft ausüben, sowie den von der Ausübung Betroffenen. In der Erörterung der funktionalen Gewaltenteilung wurde schon auf den Sinn einer Verwaltungsgerichtsbarkeit verwiesen, der darin besteht, dass das abstrakte Recht, wie es die Legislative setzt, mit Blick auf konkretes exekutives Handeln fortgeschrieben werden kann. Die Existenz von Verwaltungsrecht bringt derart zum Ausdruck, dass es kein exekutives Handeln gibt, das jenseits oder diesseits des Rechts (und d.h. der Entscheidung in gesetzgebenden Verfahren) liegt, und es schafft die Voraussetzung für eine effiziente Kontrolle der Exekutive in der Legislative. Denn eine verwaltungsrechtliche Überprüfung exekutiven Handelns führt dazu, dass Vorschläge unterbreitet werden, wie geltendes Recht mit Blick auf gegebene Situationen zu verstehen ist (und d.h. eventuell, welche zusätzlichen Prinzipien herangezogen werden müssen, damit das geltende Recht anwendbar ist), und dieser Vorschlag bietet einen guten Ausgangspunkt für weitere legislative Beratungen, so diese als erforderlich erachtet werden. Die Betonung der Relevanz des Verwaltungsrechts bzw. v.a. einer Verwaltungsgerichtsbarkeit dient also (neben der angeführten Entlastung der direkten legislativen Verfahren) vornehmlich zwei Zwecken: Erstens offeriert das Verwaltungsrecht eine „Sprache“, in der die Institutionen ihre eigene Bedingtheit durch das geltende Recht (im Unterschied zu einer Befehlskette von der Regierungsspitze bis hin zum einzelnen Mitarbeiter in einer Institution) verstehen können. Es ist zweifelsohne absolut notwendig, eine klare, häufig personale Weisungsbefugnis in Institutionen und zwischen Institutionen zu haben. Diese Weisungsbefugnis darf aber niemanden über das geltende Recht erheben, sondern muss gerade die Willkür (in) der Institution beseitigen – was nicht geschehen würde, wenn die Willkür eines niederen Beamten durch die Willkür einer höher gestellten Person ersetzt würde. Zweitens präsentiert das Verwaltungsrecht rechtliche Prinzipien, die in hö-

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herem Maß auf Anwendungssituationen bezogen sind als die Gesetzestexte, die in gesetzgebenden Verfahren erlassen werden. Es zeigt damit, dass und wie die Gesetze auf Situationen anwendbar sind (was in der Diskussion der Voraussetzungen, unter denen von Macht zu Herrschaft übergegangen werden kann, als wesentliches Problem identifiziert wurde [vgl. Kapitel 1]) und ermöglicht so zumindest eine „nachholende“ legislative Kontrolle der Herrschaftsausübung. Da dieser doppelte Zweck des Verwaltungsrechts zentral für die Nicht-Willkürlichkeit der Freiheitsverbürgung ist, muss den Richtern, die an der Rechtsprechung in diesem Bereich beteiligt sind, ihre Rolle in besonderer Weise vor Augen stehen. In ihrer Tätigkeit geht es anders als in anderen Bereichen der Rechtsprechung weniger darum, geltendes Recht einfach auf eine gegebene Situation anzuwenden (wozu es auch häufig kommen wird), sondern vielmehr darum, die Rechtsförmigkeit der Herrschaftsausübung schlechthin zu gewährleisten. Gerade für diese Richter muss deshalb gelten, dass sie sich strikt an geltendem Recht orientieren und die Untersuchung der Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns ausschließlich auf das Recht gründen. Nur so können sie sich legitimerweise supplementär als Teil der Legislative verstehen. Verwaltungsrichter, die der Exekutive Handlungsspielräume zugestehen, die sich ihrer Bewertung entziehen, verfehlen ihre Funktion und tragen mittel- und langfristig zur Entrechtlichung bei.

4.5 Legitimität durch einen Republikanismus der Nicht-Beherrschung In diesem Kapitel wurde der „Republikanismus der Nicht-Beherrschung“ so ausführlich diskutiert, da es nur ihm gelingt, die unterschiedlichen Bezugspunkte für die Bestimmung legitimer Herrschaft und Herrschaftsausübung in einer Theorie rechtsstaatlicher Demokratie zu verbinden und zu integrieren, die sich in den vorhergehenden Kapiteln abgezeichnet haben. Auf dem Hintergrund des sozialen Charakters vieler Intentionen und der Differenzierung zwischen zwei Dimensionen der Freiheit konnte unter Rückgriff auf Überlegungen, die Philip Pettit zur Reformulierung von

4.5 Legitimität durch Nicht-Beherrschung

261

Freiheit als Nicht-Beherrschung angestellt hat, gezeigt werden, dass diese Theorie ein überzeugendes Angebot für das Verstehen (der Möglichkeit) legitimer Herrschaft unterbreitet. Die Überzeugungskraft des Modells ruht dabei zu gleichen Teilen auf einer Konzeption von Freiheit, die deren Bedingungen und deren Nutzung umfasst (also Aspekte der Gerechtigkeitstheorien und der Theorien politischer Freiheit aufnehmen kann), und auf einer expliziten Thematisierung der Voraussetzungen, unter denen von Machtverhältnissen zu Herrschaftsstrukturen übergegangen werden kann. V.a. diese zweite Dimension des Republikanismus der Nicht-Beherrschung zeichnet diesen gegenüber den Ansätzen aus, die zuvor erörtert wurden. Unter dem Titel der Nicht-Beherrschung lassen sich nämlich (soziale) Handlungsverhältnisse so verstehen, dass sie Freiheit in ihrer ganzen Breite, d.h. von individuellen Handlungen im engsten Sinn bis hin zu komplexen kollektiven Handlungen, erlauben und ermöglichen. Zugleich wird erklärt, wie die Einrichtungen, die für die Existenz solcher Verhältnisse notwendig sind, nicht selbst eine Gestalt annehmen, die es wenig sinnvoll erscheinen lässt, bei den Handlungen oder dem Gesamtgefüge von Freiheit zu reden. Legitime Handlungsverhältnisse können weder einfach als Ausdruck einer (Herrschaftsausübung zum Zweck der) Gleichverteilung von individuellen Freiheitsräumen verstanden werden, die hinsichtlich ihrer Nutzung nicht weiter qualifiziert werden, noch erlaubt es der Blick auf „richtige“ politische Verfahren, die Gestalt, die die Verhältnisse annehmen, vollständig zu vernachlässigen. Wenn die Handlungsverhältnisse Resultat von Freiheit sein und sie bzw. ihre Ausübung zugleich ermöglichen sollen, dann müssen die politischen Strukturen, wie im letzten Abschnitt ausgeführt, in der Form einer rechtsstaatlichen Demokratie so verfasst sein, dass in ihnen ein klarer Primat legislativer Beratungen und Entscheidungen besteht und dennoch der kognitive und praktische Vorteil von administrativen Instanzen und Institutionen im Verstehen und in der Regulierung von Kontexten genutzt wird bzw. werden kann. Es ist notwendig, dass es ein Gefüge mit diesen beiden Charakteristika gibt, da nur so sicherzustellen ist, dass tatsächlich alle, die von Handlungsverhältnissen betroffen sind, an der Bestimmung derselben beteiligt sein

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

können, in ihnen und durch sie also Freiheit positiv ausgeübt und negativ abgesichert wird. Parallel zu den Vorbehalten gegenüber den Gerechtigkeitstheorien und den Theorien der Volkssouveränität stellt sich aber die Frage, ob es im Republikanismus der Nicht-Beherrschung nicht zu analogen Spannungen zwischen der Theorie und der „Wirklichkeit“ kommt, wie sie für die anderen Theorien ausgemacht wurden. Sind nicht Situationen vorstellbar, in denen der Gebrauch der legislativen Verfahren zu Entscheidungen führt, die selbst beherrschend sind oder beherrschende Effekte haben, und gegen die folglich zur Sicherung der Nicht-Beherrschung vorgegangen werden muss, ohne dass das Vorgehen selbst noch einmal freiheitstheoretisch expliziert werden kann? Und muss folglich nicht die Durchsetzung der Struktur der Nicht-Beherrschung insgesamt paternalistisch verstanden werden, d.h. ist es nicht richtig, sie notfalls auch gegen konkrete Willensartikulationen von Betroffenen durchzusetzen? Gerechtigkeitstheorien und die politizistischen Freiheitstheorien begegnen diesen Spannungen, indem sie einen einzigen normativen Bezugspunkt, wie die gerechte Verteilung von Handlungsräumen oder die Ausübung politischer Freiheit, auszeichnen, diese Bezugspunkte aber unter bestimmten Verhältnissen nicht selbst Auskunft dazu geben können, wie mit der Situation umzugehen ist. So bleibt die Gerechtigkeitstheorie hinsichtlich der Instanzen unterbestimmt, die autorisiert werden, die gerechte Verteilung von Handlungsräumen und -möglichkeiten zu etablieren, womit sie tendenziell „undemokratische“ Akteure legitimiert. Die politizistischen Freiheitstheorien betonen dagegen die kollektive, politische Ausübung von Freiheit als einzigen Modus, in dem kollektiv verbindliche Handlungszusammenhänge legitimerweise etabliert werden dürfen. Dabei müssen sie aber, wenn die Möglichkeit der „Tyrannei der Mehrheit“ ausgeschlossen werden soll, Voraussetzungen hinsichtlich der Gemeinwohlorientierung derer machen, die Freiheit ausüben (entweder mit Bezug auf die Motivationen der Akteure oder in der Bestimmung des Rahmens für die Verfahren), von denen nicht klar wird, ob sie gegen die faktische Freiheitsausübung durchgesetzt werden können und wenn ja, von wem und in welcher Weise.

4.5 Legitimität durch Nicht-Beherrschung

263

Der Republikanismus der Nicht-Beherrschung entzieht sich diesen Spannungen, indem er wichtige Prämissen der anderen Ansätze bestreitet oder nicht teilt: Gerechtigkeitstheorien sehen in politischen Verfahren, Strukturen und Institutionen v.a. und zunächst Mittel zur Durchsetzung normativer Erwartungen, die unabhängig von diesen entwickelt werden. Denn es wird unterstellt, dass die Interessen und Projekte derer, die sich in sozialen Zusammenhängen bewegen, unabhängig von dem, was sie zu sozialen macht, und von den Mitteln zur Durchsetzung zu verstehen sind. Hiergegen wendet der Republikanismus der Nicht-Beherrschung mit den politizistischen Freiheitstheorien ein, dass diese Prämisse begründungsbedürftig ist und schon ein Blick auf Intentionen zeigt, dass viele von ihnen mehr oder minder direkt auf soziale Handlungsverhältnisse und deren Etablierung bezogen sind. Es spricht also nichts dagegen, sondern es ist vielmehr sogar erforderlich, die Sozialität und d.h. Geteiltheit von Handlungskontexten selbst als Gegenstand und Ziel (und nicht nur als Mittel zur Umsetzung) der normativen Kriterien für legitime Herrschaft zu betrachten. Die politizistischen Freiheitstheorien ziehen aus dieser Einsicht aber zu weitreichende Schlüsse, indem sie daraus folgern, dass die Ausübung von Freiheit in der Politik alles ist, was in der normativen Betrachtung legitimer Herrschaft zählt. Im Unterschied dazu hält der Republikanismus der Nicht-Beherrschung daran fest, dass politische Verfahren, Strukturen und Institutionen in wesentlichen Hinsichten Mittel zum Zweck der allgemeinen Durchsetzung von Freiheit sind und bleiben, d.h. diese Mittel-Rolle nicht in der Ausübung politischer Freiheit „aufgehoben“ werden kann. Es ist unmöglich, einen Begriff politischer Freiheit zu formulieren, der zugleich die Freiheit aller und die Freiheit jedes Einzelnen zum Ausdruck bringt. Daher muss dem politischen Gefüge als ganzem auch die Aufgabe zugeschrieben werden zu garantieren, dass die positive Ausübung von Freiheit in der Gesetzgebung mit der negativen Absicherung der Freiheit aller vereinbar ist und bleibt, die von den Verfahrensresultaten betroffen sind – und zwar nicht trotz der Realisierung von Freiheit in den politischen Verfahren, sondern gerade weil nur so Freiheit in den Verfahren für jeden Einzelnen realisiert sein kann.

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Der Republikanismus der Nicht-Beherrschung ist den Spannungen dementsprechend nicht ausgesetzt, da er nicht einen normativen Ausgangspunkt entwickelt, der dann mit Verfahren, Strukturen und Institutionen in Verbindung gebracht werden muss, die zunächst unabhängig vom Ausgangspunkt bestimmt werden. Er präsentiert vielmehr ein rechtstaatliches und demokratisches Gefüge von (a) Personen, die immer schon handeln und an Verfahren teilhaben (können), in denen sie Freiheit positiv ausüben können und die ihre Freiheit negativ absichern, (b) Verfahren und Strukturen, die diese zwei Dimensionen der Freiheit nicht-willkürlich garantieren, und (c) Institutionen und Instanzen, die Entscheidungen der Verfahren umsetzen bzw. die Entscheidungen und deren Umsetzung kontrollieren. Von Freiheit ist überhaupt nur zu reden, wenn die Freiheit aller und eines jeden durch ein solches Gefüge gewährleistet ist. Diesseits eines entsprechenden Gefüges bestehen nur Machtverhältnisse, in denen Optionen kontingenterweise, d.h. abhängig von jeweiligen Ressourcen und Allianzen offen stehen oder nicht, so dass Handelnden, wie zu Beginn in der Differenzierung zwischen Macht und Herrschaft argumentiert wurde, die Bedingungen für die Ausführung und den Erfolg ihrer Handlungen prinzipiell und tendenziell in asymmetrischer Weise (d.h. dadurch, dass einige über mehr oder relevantere Ressourcen verfügen bzw. den Zugriff anderer auf die Ressourcen zu unterbinden vermögen) entzogen sind. Die vorliegende Theorie präsentiert daher nicht allein ein Ideal legitimer Herrschaft, das unter verschiedenen Umständen in unterschiedlichem Grad realisiert sein kann. Sie demonstriert dagegen, dass das Ideal als solches einer Struktur der Wirklichkeit entspricht und es wenig bringt, die Wirklichkeit mit dem Ideal oder umgekehrt zu konfrontieren. Sie bleibt ein Ideal, insofern sie Bedingungen expliziert, die eventuell nicht schon gegeben sind und sich unter den faktischen Verhältnissen vielleicht auch nicht durchsetzen lassen, so dass die Theorie zunächst wesentlich zur Kritik an gegebenen Verhältnissen dient. Trotz ihrer Idealität insistiert sie aber darauf, dass niemand sich allein unter Rückgriff auf sie als Theorie anmaßen darf, legitim Herrschaft auszuüben. Legitime Herrschaft ist nur in einem Gesamtgefüge möglich, in das alle mit ihren kontin-

4.5 Legitimität durch Nicht-Beherrschung

265

genten Interessen und Projekten und den Einwänden gegen kollektive Entscheidungen, die sich daraus ergeben, einbezogen sind. Daraus folgt anti-paternalistisch, dass sich Nicht-Beherrschung nicht von oben nach unten durchsetzen lässt. Es müssen vielmehr diejenigen, die gegenwärtig beherrscht werden (und gemäß demjenigen, was oben ausgeführt wurde, ist diesseits der Struktur der Nicht-Beherrschung jeder in gewissem Sinn und bestimmten Situationen beherrscht), befähigt werden, sich gegen die Beherrschung zu wehren. Dies teilt der vorliegende Republikanismus mit unterschiedlichsten Ansätzen, die Ausgeschlossenen und Marginalisierten bzw. denen, die an ein normalisierendes Vorbild assimiliert werden sollen, Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen (Hardt/Negri 2002, Fischer-Lescano 2005, Feher 2007). In signifikanter Differenz zu vielen dieser Ansätze betont der Republikanismus der Nicht-Beherrschung aber, dass diese „Gerechtigkeit“ nicht durch die Ermächtigung der Personen und Gruppen erreichbar ist, wenn unter „Ermächtigung“ die Ausstattung mit Ressourcen zur Verbesserung von deren Position in Machtverhältnissen bzw. das Nutzen von Möglichkeiten der „Politisierung“ (d.h. der Entrechtlichung und Ent-Institutionalisierung) verstanden wird. Die Befähigung muss eine Befähigung zum Etablieren und Nutzen geteilter legislativer Verfahren sowie zur Einrichtung, Ausstattung und Kontrolle von Instanzen und Institutionen sein, die die Entscheidungen der legislativen Verfahren umsetzen (vgl. dazu auch den Verweis von Iris Young auf die Unverzichtbarkeit staatlicher Strukturen zur nicht-willkürlichen Berücksichtigung der Ausgeschlossen, selbst wenn einer zivilgesellschaftlichen „Ermächtigung“ eine wesentliche Rolle zugestanden wird [Young 2000: 154-195]). Die gängige Betonung einer notwendigen „Demokratisierung“ von ökonomischen, sozialen, politischen oder kulturellen Kontexten, in denen einige auf Kosten von anderen über wesentliche Vorteile verfügen, muss daher als Forderung verstanden werden, umfassende politische Gefüge nicht-willkürlicher Gewährleistung von Nicht-Beherrschung zu etablieren, wie es in diesem Kapitel entwickelt wurde, und nicht als Abzielen auf eine „Ausweitung der Kampfzone“ (Michel Houellebecq).

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4. Normative Theorien legitimer Herrschaft III

Auf diese Weise sind sicherlich nicht alle demokratie- und rechtstheoretischen Dimensionen legitimer Herrschaft in einer und durch eine rechtsstaatliche Demokratie erschöpfend untersucht. Es handelt sich wohl eher um komplizierte „Baustellen der Demokratie“ (Balibar 2001: 286-319) als um eine abgeschlossene Konzeption der Demokratie, die an beliebige Kontexte herangetragen werden könnte. Weitgehend offen geblieben ist in den vorausgehenden Ausführungen, in welchem Raum die demokratischen und rechtsstaatlichen Bedingungen legitimer Herrschaft sinnvollerweise realisiert werden sollten. Es wurde zwar häufig auf die Entwicklung moderner Staaten Bezug genommen, aber dieser Bezug hatte eher illustrativen als systematischen Charakter. Die Herausforderung, vor der Republikanismus und Demokratietheorie heute stehen, ist die Frage, ob es möglich und wünschenswert ist, demokratische Verfahren, Strukturen und Institutionen, also ein republikanisches rechtsstaatlich, demokratisches Gemeinwesen jenseits oder in den Zwischenräumen der bekannten Staatenwelt zu etablieren. Dies wirft nicht nur Schwierigkeiten mit Blick auf die Anwendbarkeit der Überlegungen zu den Bedingungen legitimer Herrschaft, die zuvor entwickelt wurden, auf diesen Raum auf, sondern es ist auch zu untersuchen, ob und wenn ja, in welcher Art für den Raum jenseits der Einzelstaaten dieselben Bedingungen für die Legitimität von Herrschaft gelten. Eine solche Untersuchung ist nun im zweiten Teil des vorliegenden Buches zu unternehmen.

Teil 2 Herrschaft, Legitimität und Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft

5. Modelle globaler Ordnung und Integration diesseits von legitimer republikanischer Herrschaft Für die Diskussion der unterschiedlichen Ansätze in der Legitimitätstheorie wurde im ersten Teil dieses Buches mit dem Problem, wie von Macht- zu Herrschaftsverhältnissen übergegangen werden kann, ein Ausgangspunkt gewählt, der weitgehend unabhängig von historischen Ausprägungen von Politik und Gesellschaft ist. Damit sollte nicht behauptet werden, dass legitime Herrschaft historischen Kontingenzen und spezifischen Anforderungen von Entwicklungsständen enthoben ist (was sich schon im Verweis auf die besonderen Bedingungen und Formen moderner Herrschaft im ersten Kapitel zeigte). Es konnte aber spätestens unter Rekurs auf die Bestimmung der Freiheit als Nicht-Beherrschung nachgewiesen werden, dass es normative Grundanforderungen an politische Gemeinwesen gibt, die, selbst wenn sie erst in der Moderne in den Vordergrund der Verfahren und Strukturen getreten sind, in ihrer formalen Gestalt in jeder politischen Ordnung realisiert sein müssen, wenn diese Legitimität (im normativen Sinn) für sich beanspruchen will. Denn hierbei handelt es sich um konstitutive Bedingungen für die Legitimität von Herrschaft, d.h. unumgängliche Voraussetzungen dafür, dass Herrschaft überhaupt mit der Bewahrung, Sicherung und Ermöglichung von Freiheit vereinbar ist (was impliziert, dass Freiheit der entscheidende Bezugspunkt für die Legitimität der Ausübung von Herrschaft ist). In der Betrachtung der (normativen) Anforderungen an transoder internationale1 Strukturen ist ein solcher überhistorischer, ge-

–––––––––––––– 1

In diesem Kapitel werden die Adjektive „international“, „transnational“ und „supranational“ zunächst ohne klare Unterscheidungen gebraucht (obwohl normalerweise das Adjektiv angeführt wird, das auch bei einer klaren Unter-

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

nereller Ausgangspunkt wenig sinnvoll, denn schon die Identifikation des „Gegenstandes“ ist nur in einer bestimmten historischen Situation möglich. Das „internationale System“ hat sich erst in den letzten vierhundert bis fünfhundert Jahren entwickelt und dabei eine Gestalt angenommen, von der nicht unterstellt werden kann, dass sie jenseits des faktischen historischen Verlaufs notwendig wäre.2 Während eine allgemeine Theorie legitimer Herrschaft (zumindest im Rahmen der politischen Philosophie) also bei menschlichen Verhältnissen überhaupt ansetzen kann (und eventuell muss, um grundsätzlich und systematisch zu thematisieren, wie Herrschaft konstituiert zu sein hat, um den Zweck zu erfüllen, Verhältnisse bloßer Macht zu überwinden), wäre einer vergleichbaren Theorie für den „internationalen Raum“ vorzuwerfen, dass sie entweder unterkomplex und vereinfachend vorgeht oder aber bloß faktische Zusammenhänge verdinglichend oder essentialistisch generalisiert (und es wird sich bei einigen Kritiken an Argumentationsweisen in den folgenden Abschnitten zeigen, dass dieser Vorwurf in der Tat verschiedene Positionen betrifft). Zudem sehen sich solche Verallgemeinerungen dem Verdacht ausgesetzt, selbst Teil einer Verabsolutierung der Struktur zu sein, die globale Ungerechtigkeit oder Unfreiheit gerade etabliert hat und erhält (Buckel 2007: 261). Eine Untersuchung der normativen Anforderungen, die an diesen Bereich politischen Handelns und politischer Strukturen zu richten sind, steht somit vor einer doppelten Schwierigkeit: Es muss nämlich vor oder zumindest parallel zur Bestimmung der fraglichen Anforderungen expliziert werden, ob sich diese Anforderungen generell in der Perspektive einer Theo-

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scheidung zur Anwendung kommen würde). Grob gesprochen beschreibt das Adjektiv „inter-national“ Verhältnisse und Einrichtungen, die durch Abkommen oder Übereinkünfte verschiedener politischer Gemeinwesen zustande kommen. „Trans-national“ sind Akteure oder Verhältnisse, die die Grenzen der Gemeinwesen überschreiten (und dabei nicht notwendig vom intentionalen Wirken betroffener Gemeinwesen abhängen); und „supra-national“ schließlich sind Einrichtungen, Strukturen oder Akteure, die „oberhalb“ der Gemeinwesen stehen, d.h. die in der Lage sind, auf diese einzuwirken. Damit wird keine Theorie radikaler historischer Kontingenz behauptet. Es ist zweifelsohne möglich, Faktoren anzuführen, die erklären, warum sich genau dieses internationale System entwickelt hat und kein anderes.

5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

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rie legitimer Herrschaft ergeben oder ob sie aus der speziellen Entwicklung resultieren, die das internationale System genommen hat bzw. durch die Eigentümlichkeiten der faktischen Staaten und sonstigen Gemeinwesen und deren Wechselverhältnis vorangetrieben wurde. Eine Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie ist hierbei prima facie nicht hilfreich, da es sein kann, dass es à la limite keine ideale Theorie des internationalen Systems gibt, weil dieses unter idealen Bedingungen nicht bestehen würde (und somit nicht klar ist, inwiefern eine „ideale Theorie“ über das hinausgeht, was im ersten Teil dieses Buches dargelegt wurde).3 Um der doppelten Schwierigkeit adäquat zu begegnen, ohne mit einer unübersichtlichen, gleichzeitigen Betrachtung der unterschiedlichen und heterogenen Dimensionen zu operieren, werden in diesem Kapitel zunächst Theorien inter- oder transnationaler Verhältnisse analysiert, die entweder deren Sinn ausschließlich aus der Perspektive von Staaten (und d.h. aus deren Etablierung und Erhaltung von legitimer Herrschaft) heraus begreifen, das Bestehen der fraglichen Verhältnisse mit Blick auf normative Standards von Gerechtigkeit und/oder Frieden problematisieren und anleiten oder sie als Ausdruck einer Hegemonie zwischen Staaten bzw. zum Zweck der Absicherung einer globalisierter kapitalistischen Ökonomie verstehen. Es werden also Ansätze untersucht, die Argumente dafür vorbringen, dass (zumindest im Rahmen einer normativ interessierten politischen Philosophie) eine Erörterung des inter- oder transnationalen Raumes nicht über die allgemeine Theorie legitimer Herrschaftsausübung hinausgeht bzw. hinausgehen darf oder unter anderen normativen Prämissen operieren muss (und sich daher signifikant von der bislang präsentierten Legitimitätstheorie unterscheidet und d.h. auch Fragen der Ordnung der normativen Ziele in den unterschiedlichen Räumen aufwirft). Die

–––––––––––––– 3

Eine ideale Theorie des internationalen Systems müsste unterstellen, dass die Inter-nationalität, d.h. das Bestehen von Staaten, die miteinander allererst Beziehungen eingehen müssen, auch unter idealen Bedingungen notwendig oder wünschenswert ist. In der idealen Theorie ist aber auch die Verteidigung eines einzigen globalen Staats oder Gemeinwesens nicht ausgeschlossen, womit die Perspektive des „Inter“ qua fehlender Pluralität von Zusammenhängen wegfallen würde.

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

Diskussion der Bedingungen legitimer Herrschaft war (zumindest qua Nicht-Thematisierung [mit der Ausnahme einer kurzen Betrachtung von Außenpolitik]) davon ausgegangen, dass ein politisches Gemeinwesen keinen Eingriffen bzw. Bedrohungen von Außen ausgesetzt ist und auch keine relevanten Interessen mit Blick auf den Handlungsraum jenseits von ihm hat und somit nach der Gestalt des Gefüges zu fragen ist, die mit Blick auf dieses als eines „isolierten“ Gemeinwesens anzustreben ist, d.h. ein Gemeinwesen, das nicht in weiteren Abhängigkeitsverhältnissen steht, die in der Anlage der Strukturen oder der Durchführung der Verfahren zu berücksichtigen wären. Problematisiert man diese Voraussetzung, so ergeben sich daraus zwei mögliche Konsequenzen: Die Voraussetzung kann einerseits selbst zu einem normativen Anspruch erhoben werden, so dass zu untersuchen ist, wie sie unter spezifischen Umsetzungen von legitimer Herrschaft (in diesem Fall in der Form von moderner Einzel- oder gar Nationalstaatlichkeit)4 zu realisieren ist. Diese Perspektive wählen – bei allen signifikanten Differenzen – Theorien, die das „internationale System“ primär unter den Hinsichten von Sicherheit oder Gerechtigkeit analysieren und dabei erörtern, wie gewährleistet sein kann, dass die verschiedenen Staaten einander nicht bedrohen oder zumindest nicht in ihrer Existenz gefährden bzw. aufgrund von Machtdifferenzen ausbeuten oder gravierend benachteiligen. Andererseits können Staaten selbst dahingehend problematisiert werden, dass die Bestimmung der Bedingungen, unter denen sie Aus-

–––––––––––––– 4

„Staatlichkeit“ hat in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten so verschiedene Formen angenommen, dass es problematisch ist, den Staatsbegriff in der abstrakten Darstellung und Diskussion von Herrschaftsverhältnissen ohne Qualifikationen zu verwenden. Da in Diskussionen „internationaler Beziehungen“ die Auszeichnung von Staaten als Akteuren weiterhin gängige Praxis ist bzw. die Untersuchung der Entwicklung von Staatlichkeit in internationalen Konstellationen ein wichtiges Thema, werden in der Folge dennoch die Ausdrücke „Staat“ und „Staatlichkeit“ anstelle allgemeinerer Ausdrücke gebraucht. Dies stellt aber, wie die Ausführungen der Kapitel 6 und 7 belegen werden, keine Einführung des Staates ohne explizite Thematisierung und Differenzierung dar, sondern trägt den Argumentationsweisen der Ansätze Rechnung, die in diesem Kapitel betrachtet werden. Vgl. zu Problemen des Staatsbegriffs mit Blick auf internationale Verhältnisse Brunkhorst 2007.

5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

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druck legitimer Herrschaftsverhältnisse sind, aufgrund der genannten Voraussetzung nicht ausschließt, dass sie untereinander (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) hegemonial agieren bzw. insgesamt durch eine überwölbende hegemoniale Ordnung in ihren Optionen limitiert werden. Eine Theorie transnationaler oder internationaler Verhältnisse müsste daher darlegen, wie mit den hegemonialen Bestrebungen, die von Staaten ausgehen, sich in den Beziehungen zwischen ihnen ergeben oder im Raum jenseits von ihnen verfolgt werden, umzugehen ist bzw. wie sie kanalisiert oder gar in akzeptables Interagieren transformiert werden können. Es ergeben sich vor diesem Hintergrund wesentlich drei Ansätze, die bestreiten, dass die inter- und transnationalen Verhältnisse unter dem Titel legitimer (republikanischer) Herrschaft untersucht werden sollten: erstens Ansätze, die betonen, dass Staaten nach Außen ein Interesse an Sicherheit bzw. an Absicherung ihrer Souveränität haben und daher auf Herrschaftsverhältnisse jenseits von ihnen grundsätzlich zu verzichten ist (5.1), zweitens Ansätze, die in den Verhältnissen zwischen Staaten nochmals die Gerechtigkeit als normativen Bezugspunkt anführen, der eine Alternative zur republikanischen Ausübung und Absicherung von Freiheit bietet (5.2), und drittens schließlich Ansätze, die mit Blick auf die Bedingungen legitimer Herrschaft in den Staaten sowie die Interessen relevanter ökonomischer Akteure bestreiten, dass sich diese Perspektive auf das Verhältnis zwischen ihnen bzw. die überwölbenden hegemonialen Formationen ausdehnen lässt (5.3).

5.1 Der internationale Raum und Sicherheit, Freiheit und (negativer) Frieden Die Argumentation für die Notwendigkeit eines Gefüges von Verfahren und Institutionen in den freiheitstheoretischen Kapiteln des ersten Teiles konnte darauf rekurrieren, dass niemand diesseits von politischen und rechtlichen Strukturen in der Lage ist, Freiheit (so denn in einer solchen Situation überhaupt von ihr die Rede sein kann) mehr als momentan zu realisieren. Freiheit erfordert, dass andere ihre Ausübung respektieren (müssen) oder gar (in der Form von Unterlassungen oder Anschlusshandlungen) kooperie-

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

ren, so dass die Freiheit letztlich eines politischen Gefüges bedarf, das allen Betroffenen gegenüber Geltung beanspruchen kann. Nur so können die Anforderungen, die das Etablieren und Sichern von Freiheit impliziert, dauerhaft und strukturell erfüllt werden. Wie Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden gesehen hat, muss diese Argumentation auf den Bereich jenseits der Republiken ausgedehnt werden. Eine solche Ausdehnung lässt sich aber nicht ohne Weiteres in der Form eines Analogieschlusses entwickeln (Kant 1977b: 208-213). Zwar ist für Kant auch für diesen Bereich eine Art öffentlichen Rechts zwingend notwendig, damit durch das bloße Machtverhältnis zwischen den Republiken nicht deren innere Verfassung (und d.h. deren [Sicherung der] Freiheit) ständig bedroht ist oder aufgrund der „funktionalen“ Erfordernis, äußere Eingriffe abzuwehren, in bestimmten Hinsichten nicht-republikanisch sein kann oder muss. Aber die Analogie dieses Übergangs vom „Privatrecht“ zum „öffentlichen Recht“ im Völkerrecht zu dem Übergang, der die Einrichtung der Republik betrifft, reicht nicht so weit, dass die Republiken wiederum strikt gehalten wären, eine „Weltrepublik“ zu gründen. Gegen diese Verpflichtung spricht die Disanalogie von Individuen und Republiken im privatrechtlichen Zustand: Republiken sind selbst politische Entitäten, die zu einem bestimmten Zweck entstanden sind, nämlich dazu, den öffentlichen Rechtszustand zwischen den Individuen zu sichern. Als solche können sie nicht selbst als „ursprüngliche“ Entitäten begriffen werden, die der Schaffung eines öffentlichen Rechtszustands bedürfen, um ihre Ansprüche wirklich und nicht nur „provisorisch“ geltend zu machen. Ihre Existenz hängt normativ an dem Zweck, den sie für die Individuen erfüllen, so dass sie nur in dem Maß eigenen „Verpflichtungen“ unterliegen können, in dem diese durch die Zweckbestimmung abgedeckt sind.5 Sie dürfen aber nicht so verstanden werden, dass sie Verpflichtun-

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„(...) gleichwohl aber von Staaten, nach dem Völkerrecht, nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, ‚aus diesem Zustande herausgehen zu sollen’ (weil sie, als Staaten, innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben, und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind) (...)“ Kant 1977b: 211.

5.1 Sicherheit, Freiheit und (negativer) Frieden

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gen haben, über die sie ihren Zweck (z.T.) nicht mehr erfüllen können bzw. Kompetenzen erwerben oder zugeschrieben bekommen, die der Zweckerfüllung entgegenstehen. Für Kant führt daher die partielle vernunftrechtliche Analogie zur Forderung nach einem „Völkerbund“, dessen verpflichtender Charakter sich unmittelbar aus dem Übergang der Individuen vom Privatrecht zum öffentlichen Recht ergibt. Die Idee einer Weltrepublik bleibt dagegen ein wünschenswertes, aber nicht notwendiges Ziel, d.h. ein Ziel, das der Ratifizierung der Bürger der Republiken bedarf.6 Kants Argumentation geht weiter als diejenige vieler seiner Vorgänger im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Cheneval 2002: 401-621), da er die Notwendigkeit eines internationalen öffentlichen Rechtszustands begründet und so die Konzeption bloßer vertraglicher oder moralischer Selbstbindungen der Staaten überwindet. Aber er teilt mit seinen Vorgängern die Vorstellung, dass es (zumindest unter der Bedingung, dass sich eine Pluralität von Republiken faktisch herausgebildet hat) einen Primat innerstaatlicher Republikanizität gibt und das Verhältnis der Republiken untereinander strikt aus der Perspektive dessen gedacht werden muss, was in der Republik die Freiheit ihrer Bürger garantiert.7

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7

„Für Staaten, im Verhältnis untereinander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dies aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (...).“ Kant 1977b: 212-213. Zu einer Lesart Kants, die Kants eigene Schlussfolgerung als Widerspruch erachtet und die „Weltrepublik“ als notwendig fordert, vgl. Lutz-Bachmann 1996. Die Lesart von Kant, die bestreitet, dass es bei ihm einen Primat der Konstitution einer Pluralität von Republiken gibt, wird weiter unten diskutiert (Kap. 6.3.2 und 6.3.3). Hier wird zunächst einmal unterstellt, dass es etablierte Republiken gibt und daher nicht (mehr) entschieden werden muss, auf welcher Ebene eine Republik zu gründen ist. Es wird sich später zeigen, dass die Frage,

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

Obwohl es Modelle, wie dasjenige des Abbé de Saint-Pierre gibt, auf das sich Kant schon im Titel seiner Friedensschrift beruft, die auch positive vertragliche und d.h. rechtliche Verpflichtungen zwischen den Staaten identifizieren und sogar die Gründung einer transnationalen Föderation mit eigenen Institutionen fordern,8 laufen die typischen Argumentationen der Zeit aufgrund des Primats innerstaatlicher Republikanizität mit Blick auf den internationalen Raum wesentlich auf negative Ziele oder Garantien hinaus. Für Autoren wie Hugo Grotius oder Émer de Vattel (Grotius 1950: 53-54; Vattel 1959: 209) folgt aus dem Ziel republikanischer Verhältnisse in den Gemeinwesen (wobei unter „republikanischen Verhältnissen“ nicht das verstanden wird, was im Kapitel 4 entwickelt wurde), dass diese sich untereinander in Relationen befinden müssen, die die Verhältnisse durch wechselseitige Anerkennung des Anspruchs auf jeweilige Republikanizität stützen oder zumindest nicht gefährden. Die Stützung bzw. Nicht-Gefährdung darf dabei nicht in Abhängigkeit von revozierbaren Absichtserklärungen stehen, sondern muss selbst rechtlich niedergelegt und eventuell sogar erzwingbar sein (was den Unterschied Kants zur Mehrzahl seiner Vorgänger ausmacht). Dieser negative Ansatz9 hat sich bis in die Gegenwart in zwei Varianten entwickelt, die bestreiten, dass sich die Frage legitimer

8

9

ob existierende Republiken zu Gunsten von republikanischen Verhältnissen auf einer „höheren“ Ebene aufgegeben werden können oder sollen, selbst ein wesentlicher Streitpunkt zwischen den Autoren ist, die mit Blick auf trans- und internationale Verhältnisse an Kant anschließen. Vgl. zur Argumentation und Rolle des Abbé de Saint-Pierre 1922: 86-111 (bzw. für den vollständigen Text Saint-Pierre 1986: 159-214) sowie Asbach 2005. Hierbei ist aber festzuhalten, dass die Überlegungen des Abbé de SaintPierre nicht notwendig für eine Weltrepublik sprechen, sondern v.a. einen „europäischen Bund“ gegen den Islam begründen sollen. Unter dem „negativen Ansatz“ wird hier die Position verstanden, dass innerstaatliche legitime Herrschaftsausübung primär ist und das Verhältnis zu anderen Staaten nur in der Perspektive der Absicherung dieser Ausübung betrachtet wird (d.h. hinsichtlich der Bedingungen, unter denen andere Staaten diese Ausübung nicht [daher „negativ“] behindern oder einschränken). Die aufgezeigte Differenz zwischen Kant und seinen Vorgängern hinsichtlich der rechtlichen Qualität der „internationalen Beziehungen“ ist hierbei zunächst unerheblich, sie spielt aber in der Kritik negativer Ansätze eine wichtige Rolle.

5.1 Sicherheit, Freiheit und (negativer) Frieden

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Herrschaft im Raum jenseits der Republiken10 (nochmals) stellt. Die erste Variante behauptet, dass die Konstitution republikanischer Verhältnisse innerhalb eines Staates ausschließt, dass es legitime Herrschaft jenseits dieser Verhältnisse geben kann und/oder darf. Es muss folglich verhindert werden, dass sich inter- oder transnationale Herrschaftsstrukturen herausbilden (d.h. es kann durchaus sein, dass inter- oder transnationale Strukturen wünschenswert sind, diese dürfen aber keine Form oder Möglichkeit bieten, Herrschaft auszuüben), weil nur so die Sicherheit oder Freiheit (in) der Republik gewahrt werden kann. Die zweite Variante enthält demgegenüber keine grundsätzliche Zurückweisung der Denkbarkeit und Wünschbarkeit inter- oder transnationaler Herrschaftsverhältnisse. Sie ist vielmehr überzeugt, dass alles, was normativ zur Frage der Legitimität gesagt werden kann, im Rahmen der Begründung von Republiken bereits gesagt wurde, so dass sich darüber hinaus keine weiteren normativen Anforderungen mit Blick auf die Etablierung oder Gestaltung von Herrschaftsverhältnissen mehr ergeben.11 Es muss nur sichergestellt sein, dass die republikanischen Verhältnisse innerhalb eines Staates ohne Gefährdung von Außen etabliert und aufrechterhalten werden können bzw. dass alles, was jenseits des Staates etabliert wird, in dessen (demokratischen) Verfahren autorisiert wird.

5.1.1 Wider die Möglichkeit transnationaler Herrschaft Ein Prototyp der ersten Variante findet sich in Thomas Hobbes’ Leviathan: Hinsichtlich der Stabilität und Sicherheit, die der Souve-

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11

Es wird hier zum Zweck der Vereinfachung unterstellt, dass die unterschiedlichen Theorien die Legitimität von Herrschaft innerhalb der Staaten auf republikanische Erwartungen stützen (und nicht auf die Nation, die Diktatur einer Klasse etc.). In vielen „realistischen“ Theorien, von denen in der Folge die Rede sein wird, wird als zusätzlicher Grund für die Skepsis mit Blick auf den internationalen Raum angeführt, dass die jeweils anderen Staaten nicht republikanisch verfasst sind. Diesem Grund wird hier aber kein starker Wert beigemessen, da das Argument nicht von diesem Grund abhängt. Damit ist wie in der ersten Variante nicht gesagt, dass sich grundsätzlich keine weiteren normativen Anforderungen mehr ergeben. Diese sind dann aber nicht mehr unter dem Titel der „legitimen Herrschaft“ zu fassen.

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rän für die Bürger des Leviathan schafft, hält Hobbes fest, dass diese Leistungen nur von einem „Souverän“ zu erwarten sind, der nicht noch einmal einem höheren „Souverän“ unterworfen ist (Hobbes 1966: 94-109).12 Wenn der Übergang von der Macht zwischen den Individuen zur Herrschaft durch den Souverän vollzogen werden soll, muss der Souverän eine Instanz sein, die für die Bürger, d.h. für das Verhältnis zwischen den Individuen, das diese von ihren kontingenten Ressourcen unabhängig macht, unumgänglich ist. Denn ansonsten könnten sich die Bürger, indem sie sich auf die höhere Instanz beziehen oder jene sie protegiert, wieder mit Ressourcen ausstatten, die sie erneut in ein Machtverhältnis zueinander bzw. zum ersten Souverän setzen würden. Allgemeiner (und weniger absolutistisch) gesprochen wird also die These vertreten, dass das Bestehen eines Gefüges, das die Ausübung von Herrschaft (diesseits der Frage der Legitimität derselben betrachtet) erlaubt, nur unter der Bedingung denkbar ist, dass diejenigen, die durch das Gefüge in Relationen zueinander gesetzt werden, die ihre Handlungen ermöglichen, ohne dass ihnen die Voraussetzungen für die Ermöglichung unmittelbar verfügbar sind, nicht auch Bürger13 einer weiteren Herrschaftsstruktur sein können. Der Grund hierfür liegt darin, dass das Gefüge seine Geltung und Rol-

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Wie schon mit Bezug auf Kant angedeutet wurde, gibt es auch im Anschluss an Hobbes eine Diskussion über die Bedeutung der Zurückweisung der „domestic analogy“, d.h. über die Reichweite von Hobbes’ Aussagen zur Undenkbarkeit von Ordnung und Frieden jenseits des Leviathan (Bull 1981; Tuck 1999: 135-139). In dieser Diskussion spielt v.a. die Frage eine Rolle, ob Hobbes nicht den Staat in Analogie zur internationalen Sphäre konzipiert, wenn er die Probleme beschreibt, für die der Leviathan die Lösung darstellen soll. Von dieser Diskussion wird hier abgesehen und allein gefragt, ob sich bei Hobbes ein Argument dafür findet, dass es keine Herrschaftsverhältnisse jenseits des Einzelstaates geben sollte oder darf. Mit dem Ausdruck „Bürger“ ist an dieser Stelle kein Freiheitsargument verbunden, sondern es wird nur mit einer Differenz zwischen „Individuum“ (als dem Menschen in einem Machtverhältnis, d.h. in einem Verhältnis, in dem jeweilige Ressourcen über die Gestalt des Verhältnisses und entsprechende Optionen entscheiden) und „Bürger“ (als dem Menschen in einem Herrschaftsverhältnis, d.h. in einem Verhältnis, in dem die Relation zwischen den Handelnden jeweiligen Optionen vorhergeht, womit die kontingente Ressourcenverteilung unbedeutend ist) operiert.

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le nur beanspruchen kann, wenn es für diejenigen, die davon betroffen sind, alternativlos ist, also das Bewegen „zwischen“ Gefügen nicht dazu führt, dass die Ressourcen von Individuen wieder relevant werden. Für das 17. Jahrhundert ist die Spannung, auf die Hobbes in der Argumentation anspielt, unmittelbar einsichtig: Wenn in einem Staat alle oder einige nicht nur Bürger dieses Staats, sondern zudem Mitglieder einer Religionsgemeinschaft sind, die über den oder jenseits der Staaten steht und selbst mit Mitteln ausgestattet ist, die es erlauben, Zwang auszuüben, dann ergibt sich daraus, dass ein Souverän im Extremfall nicht nur die Ressourcen von Einzelnen oder Gruppen in ihren Auswirkungen limitieren können muss, sondern auch das Bedrohungspotential der Religionsgemeinschaft im Blick behalten muss. Dies schränkt das Wirken des Souveräns (zumindest unter der Bedingung, dass die Religionsgemeinschaften nicht selbst so partikularisiert sind, dass sie nichts anderes als mehr oder minder große Gruppen im Staat sind, wie es exemplarisch für die britischen Kolonien in Nordamerika und die nachfolgende USA galt und gilt) signifikant ein und verändert somit das Verhältnis zwischen den Bürgern. Ein anderer Prototyp findet sich in Spinozas Politischem Traktat, in dem quasi „pluralistisch“ (im Sinn des Pluralismus in der gegenwärtigen Demokratietheorie) die Ausübung von Freiheit an das Bestehen von Möglichkeiten geknüpft wird, Druck auf andere bzw. Institutionen auszuüben (Spinoza 1994: 191-197).14 Die Möglichkeit, Druck auszuüben, erfordert, dass ein politisches Gefüge mit unterschiedlichen Ebenen etabliert wird (bei Spinoza nach dem Vorbild der Niederlande mit den Ebenen von Städten und einem Städtebund), da es nur so zu einer hinreichenden Aggregation kommt, die es erlaubt, Druck auszuüben bzw. abzuwehren. Ein zu großes Gefüge erhält sich dagegen ausschließlich selbst, wird also resistent gegen Druck und dient daher v.a. denen, die Ämter und Positionen in ihm innehaben. Wiederum verallge-

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Spinoza bestreitet in diesem Modell grundsätzlich, dass ein Übergang von Macht zu Herrschaft denkbar und wünschenswert ist. Auf diesen Einwand wurde schon im Kap. 1.1 reagiert, so dass hier das Modell nur so rekonstruiert wird, dass es zumindest prima facie mit den Überlegungen des ersten Teils kompatibel ist.

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meinert wird hier die These artikuliert, dass die „checks and balances“ (als residuales Machtelement in der Herrschaftsstruktur verstanden)15 voraussetzen, dass in der Tat eine Art der „balance“ besteht, die zu wechselseitigen „checks“ führt. Ein großes, überwölbendes politisches Gefüge reduziert entweder die Bedeutung und Möglichkeiten der Entitäten auf unteren Ebenen, die vermeintlich Kontrolle ausüben, oder es bietet selbst so umfassende Institutionen, die untereinander in einem Verhältnis von „checks and balances“ stehen, dass nicht mehr klar ist, ob und wie die gegebene Gewaltenteilung tatsächlich im Dienst republikanischer Herrschaft steht (und d.h. ob sie nicht eher die Institutionen wechselseitig vor der Programmierung und Kontrolle von „unten“ abschottet). Mit den Argumenten von Hobbes und Spinoza verbinden sich also die zwei Vorbehalte gegenüber Herrschaftsverhältnissen jenseits einzelner Staaten, dass diese nur Stabilität bzw. Freiheitsverbürgung erreichen oder leisten können, wenn sie nicht selbst noch einmal Teil eines größeren, überwölbenden Zusammenhangs sind, der ebenfalls dem Zweck der Herrschaftsausübung dient, oder ein alternativer Staat als Bezugspunkt existiert. Bei beiden Vorbehalten handelt es sich zunächst um konzeptionelle, theoretische Erwägungen, die aus der Vorstellung (der Konstitution) des Staates und seiner Aufgaben bzw. dessen resultieren, was er realisieren sollte. Gestützt werden sie durch eher deskriptive Betrachtungen internationaler Organisationen und Strukturen, die nachzeichnen, dass z.B. die jüngere Kritik an der Souveränität von Staaten bzw. die Orientierung an Vorstellungen einer global governance (etwa in der Form von Menschenrechtsregimes, die unabhängig von Einzelstaaten und ihren spezifischen Existenz- oder Erhaltungsbedingungen sind) zur Destabilisierung von politischen Gefügen geführt oder beigetragen haben (Keohane 2002: 71-77; Hippler

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Diese Präzisierung ist notwendig, da das hier angeführte Verständnis der „checks and balances“ nicht dasjenige ist, mit dem im Kap. 4.4.2 operiert wurde. Spinoza sieht vollständig von der internen Verfassung der Entitäten ab, die sich wechselseitig kontrollieren und ausgleichen, und bekommt daher die Faktoren der internen Verfassung, die für die Ausübung der entsprechenden Funktionen entscheidend sind, nicht in den Blick. Dies ist für die Kritik am Ende dieses Unterkapitels relevant.

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2005). Diese Studien, die nicht notwendig selbst die These vertreten, dass die Phänomene problematisch sind, die sie beschreiben, führen vor Augen, dass die Herausbildung von trans- und internationalen Einrichtungen, die Druck und notfalls Zwang auf einzelne Staaten ausüben können, u.U. dazu führt, dass Staaten ihre funktionalen Erwartungen nicht mehr erfüllen können und die Steuer- und Kontrollierbarkeit ihrer Exekutiven gemindert wird, ein „accountability gap“ entsteht (Keohane 2003: 139-142). Die Entwicklung zahlreicher Funktionen moderner Staatlichkeit, angefangen vom Gewaltmonopol, über die Steuerung ökonomischer Prozesse bis hin zu sozialstaatlichen Einrichtungen, setzte die relative Geschlossenheit der Staaten voraus (womit keine „natürliche“, z.B. „nationale“ oder offensichtliche territoriale Geschlossenheit gemeint ist, sondern eher die Möglichkeit, Institutionen in ab-, ein- und ausschließender Weise zu etablieren)16. Denn nur unter dieser Bedingung relativer Geschlossenheit konnten Wehrpflichtarmeen, Institutionen und Steuerungsinstrumente so etabliert werden, dass die Bevölkerung auf einem Territorium sowohl der Extension als auch der Intensität nach umfassend in die Einrichtungen einbeziehbar war (Foucault 2004a). Das Scheitern des Projekts, Staatlichkeit zu etablieren, in einigen Territorien lässt sich oft auch dadurch erklären, dass die Bevölkerungen zu mobil (Neilson/Mitropoulos 2007) oder Institutionen abhängig von anderen Staaten waren, so dass sie den Ab-, Ein- und Ausschluss nicht bzw. nur durch den mehr oder minder direkten Eingriff anderer Staaten im Hintergrund zu leisten vermochten (Spruyt 1994: 153-180; Wade 2005). In diesen Fällen lag also der Nicht-Erfolg des Aufbaus eines politischen Gefüges weniger in Mängeln des Gefüges selbst begründet, als vielmehr in dessen Nicht-Aus-

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Herfried Münkler beschreibt den modernen Staatenbildungsprozess als „Bündelung von Grenzen“ (Münkler 2005: 250-254). Es werden nicht nur Institutionen geschaffen, die bestimmte Funktionen erfüllen, sondern die Institutionen sind auch so aufeinander abgestimmt, dass ihre Funktionen sich auf ein identisches Territorium bzw. eine identische Bevölkerung richten. Dabei ist die „Bündelung von Grenzen“ nicht nur eine kontingente Koinzidenz in den Institutionen, sondern sie ist eine Voraussetzung dafür, dass sie so wirken können, wie es erforderlich ist, damit sie ihre Funktionen erfüllen.

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schließlichkeit. Unter dem Titel der „prekären Staatlichkeit“ haben Untersuchungen jüngst gezeigt, dass sich über die genannten Varianten von „failed statehood“ hinaus neue Formen der „Staatlichkeit“ entwickeln, die nicht als herrschaftserzeugend und -verbürgend begriffen werden können, sondern eher funktionale Steuerungselemente von übergreifenden Organisationen oder Institutionen zum Ausdruck bringen (Oeter 2008). Mit der „Prekarität“ wird dabei auch darauf verwiesen, dass selbst wenn ein funktionaler Zusammenhang mit anderen Staaten besteht, nicht wirklich von einem Übergang von Macht zu Herrschaft ausgegangen werden kann. Die neuen Formen der „Staatlichkeit“ stellen eher signifikante Aggregationen von Ressourcen dar, die somit die Machtverhältnisse verschieben, aber sie nicht ersetzen. Neben diesen Untersuchungen, die deskriptiv Hobbes‘ Thesen, wie sie dargestellt wurden, zu bestätigen scheinen, gibt es weitere Studien, v.a. im Umfeld der empirischen, aber auch der normativ interessierten Demokratieforschung, bzw. politische Stellungnahmen, die einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung inter- oder transnationaler Einrichtungen, Organisationen und Regimes einerseits und der Verschiebung der innerrepublikanischen und demokratischen Gewaltenteilungsstruktur zu Gunsten der Exekutive belegen (also Spinozas Thesen stützen). „Außenpolitik“ ist traditionellerweise eine Angelegenheit von Exekutiven (und, wie zuvor kurz erörtert, nur begrenzt von Legislativen zu „programmieren“ und zu kontrollieren), und die Entwicklungen seit dem Ende des 2. Weltkriegs lassen sich so verstehen, dass durch trans- und internationale Abkommen und Organisationen innerstaatliche Exekutiven Möglichkeiten erhalten haben, Legislativen zu umgehen bzw. sich deren Kompetenzen anzueignen (Narr/ Schubert 1994: 147-209; Sturm/Pehle 2001). Die Exekutiven erzeugen dabei vermittels internationaler Abkommen einen „Sachzwang“, den Legislativen nur mit hohen Kosten für das Gemeinwesen zurückweisen können. Dies hat oft zur Folge, dass es zur Erosion der (Bedeutung der) Verfahren und Strukturen in den Staaten kommt, was objektive und subjektive Konsequenzen für die Legitimität der Herrschaftsausübung hat. Gleichzeitig unterstreicht die Forschung, dass es in diesem Kontext zu einer grund-

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legenden Transformation der „Gesetzgebung“ kommt, da jenseits der Einzelstaaten bislang kaum signifikante Verfahren und Orte zur Erscheinung gekommen sind, die den Ansprüchen genügen könnten, die für die legislativen Verfahren und deren positive und kontrollierende Rollen expliziert wurden (und zumindest in den Staaten, in denen sich demokratische Verhältnisse ansatzweise herausgebildet haben, auch faktisch erwartet werden). Wenn die Etablierung und Aufrechterhaltung von politischen Gefügen in der Tat (prinzipiell oder aufgrund historisch-politischer Umstände) deren „Autonomie“ oder „Souveränität“ erfordert, dann schließt die Existenz legitimer Herrschaftsausübung in den Gefügen aus, dass es ergänzende oder überwölbende Formen der Herrschaft jenseits von ihnen geben kann. Die Strukturen jenseits von ihnen sollten dem Zweck dienen, ihr internes Funktionieren abzusichern bzw. es unnötig oder zumindest weniger dringlich zu machen, Vorsorge hinsichtlich des Außenverhältnisses treffen zu müssen. Eine solche Rolle inter- oder transnationaler Räume kann wiederum zu unterschiedlichen Konzeptionen derselben führen: Die (v.a. politisch) prominenteste Position ist diejenige, die von „realistischen“ oder „neo-realistischen“ Ansätzen vertreten wird.17 Diese Ansätze bestreiten über die genannten Gründe hinausgehend, die gegen Herrschaft jenseits von Einzelstaaten sprechen, dass es überhaupt Gewissheit und Sicherheit jenseits der Staaten geben kann (es also denkbar sein könnte, einen transnationalen oder gar globalen Herrschaftszusammenhang zu etablieren). Internationales Handeln wird von dieser Position dadurch erklärt, dass Einzelstaaten ihre Interessen mehr oder minder aggressiv verfolgen (müssen) und eine entsprechende „Aufrüstungs-“ bzw. „Zurückhaltungspolitik“ betreiben (Mearsheimer 1994), weshalb ein Machtgleichgewicht in der Anarchie zwischen den Staaten als bester zu erreichender Zustand verstanden wird (Waltz 1993; Waltz 2000). Aber die Diagnose muss nicht zu dieser skeptischen Position führen, die z.T. auf einer fragwürdigen Zuschreibung von Unzuverlässigkeit in anderen Staaten aufruht. Für

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Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung und Kritik von Realismus und NeoRealismus in den Internationalen Beziehungen Guzzini 1998.

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den eigenen Staat wird unterstellt, dass dieser prinzipiell zuverlässig sein könnte, während anderen dies abgesprochen wird.18 Es kann im Gegensatz zu dieser Konzeption des staatlichen Außenverhältnisses im Anschluss an die Interpretation Kants, die referiert wurde, gefordert werden, dass Regelungen und Einrichtungen im inter- oder transnationalen Raum so verfasst sein müssen, dass sie auf das Bestehen legitimer Herrschaft in den einzelnen Staaten verweisen (indem dies z.B. in Abkommen etc. explizit aufgenommen wird) und in ihrer Geltung davon abhängig bleiben, dass die staatlichen Legislativen sie ratifizieren (Maus 2002: 244245; Maus 2007). Dieser Auffassung zufolge können durchaus weitreichende internationale Abkommen unterzeichnet und Einrichtungen geschaffen werden, solange diese nicht Instanzen zur Erscheinung bringen, die eigenständig, d.h. jenseits der staatlichen Verfahren und Strukturen Herrschaft ausüben. Da den Staaten grundsätzlich unterstellt wird, dass sie demokratisch verfasst sind, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass z.B. völkerrechtliche Regelungen nicht bindenden Charakter für sie haben sollten. Es ist so unnötig, ihnen eigene Institutionen hinzuzufügen, die in die einzelnen Staaten zum Zweck der Etablierung und Kontrolle der Handlungsverhältnisse intervenieren können.19 Zwischen diesen

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Hinter der unterschiedlichen Zuschreibung steht die weitere hobbessche These, die darin besteht, dass Gewissheit in sozialen und politischen Verhältnissen grundsätzlich nur dadurch erreicht werden kann, dass eine übergeordnete Zwangsinstanz besteht. Aus der Tatsache, dass es keine Zwangsinstanz oberhalb der Staaten geben darf (weil diese das Funktionieren der Staaten gefährden würde), folgt vor dem Hintergrund dieser These, dass es keine Gewissheit jenseits der Staaten geben kann bzw. darf. Zu einer ausführlichen Diskussion der Verbindungen zwischen Hobbes und den realistischen/neo-realistischen Positionen sowie v.a. der Missverständnisse letzterer vgl. Williams 1996. Weiter unten wird ausführlicher untersucht, ob und in welchem Maß sich die Rechtsform zur Regelung sozialer Handlungsverhältnisse sowie zur Kommunikation zwischen Instanzen und Institutionen (jenseits) der Staaten eignet. Schon hier ist aber zu vermerken, dass skeptische, realistische Positionen bestreiten, dass das Völkerrecht Recht im engeren Sinn ist und sein kann (Goldsmith/Posner 2005). Dieser Vorbehalt gegenüber dem Völkerrecht existiert in unterschiedlichen Formen, so dass Auffassungen, die das Bestehen von Völkerrecht überhaupt verneinen, solchen Ansätzen gegenüberstehen, die ihm „Ausdruckscharakter“ zubilligen, der unter weiteren Bedingungen durchaus

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Extremen der skeptischen und der einzelstaatlich-republikanischen Position lassen sich zahlreiche weitere Auffassungen ausmachen, in denen jeweils zunächst festgehalten wird, dass Herrschaftsverhältnisse nur innerhalb von Staaten zu verorten sind, bevor dann Ziele für den internationalen Raum bzw. das Bewegen der (Vertreter der) Staaten in diesem Raum formuliert werden. Der Primat innerstaatlicher Herrschaft hat dabei zur Folge, dass die Ziele im internationalen Raum sich aus der binnenstaatlichen Perspektive ergeben müssen oder zumindest dieser nicht entgegenstehen dürfen. Eine der Konsequenzen daraus ist, dass jegliches Ziel in der Binnenperspektive versteh- und formulierbar sein muss und nicht als Rahmenbedingung vorgegebenen oder vorgebenden Charakter haben darf. Selbst wenn also, wie es oft geschieht, ein so gehaltvolles normatives Ziel, wie dasjenige des Friedens zwischen den Staaten ins Spiel gebracht wird, darf darunter in der Argumentation der Ansätze, die hier behandelt werden, kein Ziel verstanden werden, das als übergeordneter und externer Standard das Handeln der Staaten begrenzen würde. Es ist vielmehr so zu begreifen, dass unter dem Titel des Friedens Verhältnisse zwischen den Staaten beschrieben werden, in denen wechselseitig anerkannt ist, dass jeder Staat ein Anrecht auf eigene Herrschaftsverhältnisse hat – womit sich dieser Friedensbegriff als Implikation der Begründung von jeweiligen (legitimen) Herrschaftsverhältnissen ergibt. Frieden ist so ein negativer (oder formaler) Bezugspunkt, da er nicht primär eine Verpflichtung gegenüber anderen beschreibt, sondern einen Anspruch, den jeder legitime Herrschaftszusammenhang berechtigterweise an andere Zusammenhänge erhebt und der aufgrund seiner Universalität (und der – letztlich egoistischen – Unterstellung der „goldenen Regel“) von allen berücksichtigt werden sollte. Ist damit schon zu Beginn der Erörterung der Bedingungen, unter denen legitime Herrschaftsausübung jenseits von Staaten möglich ist, zu konstatieren, dass diese Erörterung ein falsches Thema gewählt hat? Ist die Untersuchung des ersten Teils in eischwache Lenkungsfunktionen ausüben kann, indem die Nicht-Befolgung des Völkerrechts Kosten erzeugt. Vgl. zu dieser Position Guzman 2002.

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nem Kapitel zur „Außenpolitik“ von Einzelstaaten (eventuell unter idealen [d.h. insgesamt republikanischen] und nicht-idealen [d.h. nur in einigen Staaten republikanischen] Voraussetzungen) fortzuführen? Hobbes und in seiner Nachfolge die Verteidiger der Position bis in die Gegenwart hinein machen eine Annahme, die sich letztlich weder konzeptuell noch empirisch begründen lässt, weshalb die Untersuchung auch nicht schon an dieser Stelle enden muss. Seiner Auffassung zufolge hängt nämlich jegliche Geltung einer Rechtsstruktur (hier im Anschluss an das Kapitel 4.4 verstanden als Regelung und Strukturierung sozialer Handlungsverhältnisse, die gesetzt wird, dabei aber Grenzen der Verfügbarkeit [zumindest für diejenigen, deren Handeln derart reguliert und strukturiert wird] unterworfen ist) von der Existenz mindestens einer Instanz ab, die sich nicht erschöpfend durch die Rechtsstruktur selbst erklären lässt, sondern diese notwendig übersteigt. In der berühmten Formulierung von Carl Schmitts Abhandlung über die Politische Theologie ist dieser Auffassung zufolge „souverän (...), wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1996: 13). Damit wird gesagt, dass das Recht als solches für diese Instanz kein Ermöglichungsgrund sein kann, sondern ihr Bestehen diesseits und jenseits des Rechts im Gegenteil selbst die Voraussetzung dafür ist, dass das Recht die sozialen Handlungsverhältnisse zu regulieren und steuern vermag. Daher darf es keine Verfahren und Strukturen, die die Ausübung von Herrschaft erlauben, jenseits der Staaten geben, denn sonst wäre die Instanz an das Recht dieses „internationalen Gefüges“ gebunden (und eventuell dessen Zwangsausübung unterworfen). Diese Annahme ist aber schon zu Hobbes’ Lebzeiten bestritten worden (etwa von Locke) und sie hat bis heute nicht mehr an Plausibilität gewonnen. Wenn die Etablierung von Verfahren und Strukturen, die die Ausübung von Herrschaft erlauben, nur so denkbar wäre, dass zugleich ein maximales Machtverhältnis zwischen einem Souverän und seinen „Untertanen“ erzeugt werden müsste (durch die radikale Umverteilung von Ressourcen oder des Zugangs zu ihnen), dann gäbe es prima facie keinen Grund, warum die Ausübung von „Herrschaft“ überhaupt erstrebenswert sein und gelingen sollte. Denn ein solches Machtverhältnis würde nicht nur einer Person bzw. einer Instanz

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immense Möglichkeiten zur Willkür und damit zur Beherrschung geben, sondern es bliebe auch immer so prekär und von Kontingenzen abhängig, dass letztlich von Herrschaft in der Weise, wie sie im Kapitel 1 eingeführt wurde, nicht die Rede sein könnte.20 Das Argument für das maximale Machtverhältnis ruht auf einer falschen Schlussfolgerung aus der richtigen Einsicht auf, dass dem Recht nicht selbst metaphysisch eine eigene Existenzweise zugeschrieben werden kann. Denn aus dieser Einsicht folgt nicht, dass eine Instanz ausgezeichnet werden muss, die der (ontologische) Träger des Rechts oder seiner Geltung ist (und daher souverän ist bzw. nicht selbst dem Recht unterworfen sein kann). Wie die Ausführungen zum Zusammenhang von Republikanismus und Rechtsstaatlichkeit gezeigt haben, lässt sich bei aller Notwendigkeit von Institutionen und Instanzen (die nicht erschöpfend durch das Recht beschrieben werden können und daher auch gegebenenfalls für ihre Überschreitungen bzw. nicht hinreichende Umsetzung des Rechts kritisiert und zur Verantwortung gezogen werden können müssen) das Recht doch so begreifen, dass es den Einrichtungen als Ermöglichungsgrund entzogen ist und zwar aufgrund der gewaltenteiligen Konstellation, in der sie sich befinden und für die das Recht der organisierende Faktor ist. Damit fällt aber der wesentliche Grund weg, warum ein übergeordneter Rechts- oder Herrschaftszusammenhang es verunmöglichen sollte, dass die Bedingungen der Ausübung von Herrschaft in einem Staat etabliert werden. Denn hinsichtlich der (empirischen) Möglichkeit, Herrschaft in und durch eine gewaltenteilige Struktur auszuüben, ist es unerheblich, welchen Ursprung das Recht hat, das der Struktur zu Grunde liegt und zu einem gewissen Grad entzogen ist, bzw. wie weit die gewaltenteilige Struktur reicht.

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Wichtig in der weberianischen Herrschaftsdefinition, mit der dieses Buch arbeitet, ist ja gerade, dass Herrschaft eine Struktur darstellt, die Einzelakteuren, Instanzen oder Institutionen Optionen eröffnet, diese Struktur nicht selbst noch einmal mit einem Akteur etc. identifiziert werden darf und die Optionen nur im Rahmen einer solchen Struktur denkbar sind. Die besonderen Kompetenzen der Herrschaft Ausübenden sind daher (weitgehend) unabhängig von den spezifischen Ressourcen, über die die Akteure etc. tatsächlich verfügen.

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Diese Zurückweisung der These, dass die Existenz eines übergeordneten Rechts- oder Herrschaftszusammenhangs die faktische Ausübung von Herrschaft unterminieren würde, betrifft v.a. die Beschreibung der Bedingungen, unter denen Instanzen und Institutionen, die Herrschaft ausüben, empirisch erwartbar sind oder nicht. Sie erlaubt es damit noch nicht, auch die These zu widerlegen, die behauptet, dass durch einen übergeordneten Herrschaftszusammenhang die Machtverhältnisse innerhalb von Staaten so verschoben werden, dass die Bedingungen für legitime Herrschaftsausübung gravierend gefährdet werden. Mit dieser These wird, wie der Verweis auf entsprechende Studien schon unterstrich und im Unterschied zu „realistischen Vorbehalten“, die oft mehr ein normatives Programm als adäquate Darstellungen bieten, auf ein reales Problem aufmerksam gemacht: Die Voraussetzungen und Grenzen internationaler Organisationen und Verhandlungssysteme (wie sie uns bekannt sind) führen dazu, dass Staaten ihre Teilhabemöglichkeiten an wenige Akteure delegieren müssen. Historisch wurde diese Rolle, auch aufgrund der Dominanz der zuvor genannten „realistischen“ Positionen und deren Zuschreibung der Aufgabe, ein Gewaltmonopol zu schafften und aufrecht zu erhalten, an die Exekutive, nahezu ausschließlich von Exekutiven wahrgenommen. Dies eröffnet spätestens im Zeitalter der Globalisierung und d.h. intensivierter internationaler Interaktionskontexte und -bedürftigkeiten Handlungsspielräume für einige, die im Rahmen der rechtsstaatlich-demokratischen Verhältnisse, wie sie bislang dargelegt wurden, nicht hinreichend steuer- und kontrollierbar sind (vgl. zu dieser Argumentation Maus 1999, mit anderen Konsequenzen auch Habermas 2007: 426-447). Staaten, deren Gestalten und Optionen (aufgrund von ökonomischen, sozialen, sicherheitspolitischen etc. Interessen und Abhängigkeiten) wesentlich durch zwischenstaatliche Abkommen bedingt sind, lassen sich nicht mehr ohne Weiteres nach dem innerstaatlichen Modell der Generierung von Handlungsprinzipien in legislativen Verfahren begreifen. In diesen Verfahren können höchstens Aufträge an Delegationen erteilt und Resultate internationaler Verhandlungen ratifiziert werden – in den internationalen Verhandlungen selbst muss darauf vertraut werden, dass die Delegationen in der

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Tat im Sinn des legislativen Auftrags verhandeln, denn aufgrund der Beteiligung von Parteien, die nicht einem einzigen Staat angehören, sind Verhandlungsresultate noch weniger revidierbar als innerhalb von Staaten (d.h. einzelstaatliche Legislativen haben nur sehr eingeschränkten Zugriff auf das Interesse anderer Legislativen oder Staaten, erneut in Verhandlungen einzutreten). Warum sollte diese Problembeschreibung nicht dafür sprechen, dass ein umfassenderer demokratisch-rechtsstaatlicher Herrschaftszusammenhang zu schaffen ist, sondern gerade die Unzulässigkeit von Herrschaftsausübung jenseits der Einzelstaaten begründen? Zur Rechtfertigung von letzterer Schlussfolgerung werden zwei Argumente angeführt: Das erste Argument ist praktischer Natur und es besagt, dass es unter den gegebenen Verhältnissen unwahrscheinlich ist, dass eine übergreifende demokratisch-rechtsstaatliche Struktur entwickelt wird. Daher ist die Gefahr, die ein Einlassen auf einen übergreifenden Herrschaftszusammenhang für die Legitimität der Herrschaftsausübung bedeutet, zu der es kommt oder kommen kann, zu groß, als dass sie in Kauf genommen werden sollte. Das zweite Argument ist dagegen systematischer Natur, denn es bestreitet – wie etwa in der Aufnahme der Argumentation Spinozas gesehen –, dass die Bedingungen für Legitimität in „zu großen“ politischen Gefügen überhaupt erfüllt werden können, da in ihnen keine hinreichende Struktur von „checks and balances“ etablierbar ist. So das zweite Argument, wie in den Argumentationen für die „überwältigende Mächtigkeit“ des Souveräns, ein Argument für die Notwendigkeit einer bestimmten Verteilung von Ressourcen ist, ist es aufgrund des Verkennens der Möglichkeiten, die das Recht und die Rechtsförmigkeit von Gewaltenteilung bieten, bzw. des Unterschieds zwischen Herrschaft und Macht ebenfalls zurückzuweisen. Interessanter wird das Argument in demokratietheoretischen Varianten, in denen festgehalten wird, dass die Möglichkeiten, sich an Verfahren zu beteiligen und dort Einfluss zu nehmen, mit der Größe eines politischen Zusammenhangs abnehmen (vgl. zur pluralistischen Variante des Arguments Dahl 1999). Eine solche Annahme wird auch in diesem Buch in den nächsten zwei Kapiteln gegen Ansätze einer Weltrepublik verteidigt, sie bedarf aber zahlreicher Präzi-

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sierungen, um überzeugend zu werden – und sie lässt sich grundsätzlich nicht gegen die Existenz oder gar Notwendigkeit übergeordneter und umfassender Herrschaftsausübung wenden. Denn unter den Bedingungen des demokratisch-rechtsstaatlichen Modells legitimer Herrschaft, wie es im ersten Teil entwickelt wurde, gibt es viele Aspekte, bei denen die Möglichkeit der Einflussnahme auf legislative Prozesse und/oder die Bestimmung von Exekutiven gerade vom Bestehen eines stabilen großen bzw. größeren Zusammenhangs abhängen. Auf den ersten Blick mag es etwa so aussehen, als sei der Einfluss in einer Deliberation dann größer, wenn weniger Personen beteiligt sind, aber dieser Eindruck setzt schon voraus, dass ein Setting besteht, in dem die Verfahrensprinzipien der Deliberation sowie die Befähigung zur Teilhabe abgesichert sind. Berücksichtigt man auch die Bedingungen für eine solche Absicherung in der Betrachtung, dann ist sofort viel fragwürdiger, ob der Einfluss wirklich mit der Größe eines Zusammenhangs abnimmt und nicht dagegen wesentlich (auch) von Strukturen und Institutionalisierungen abhängt, die nur ab bestimmten Größen zu erwarten sind. Ähnliche Überlegungen ließen sich auch für die Artikulation von Interessen und Projekten sowie für die Umsetzung derselben in Gemeinwesen anstellen. Das zweite Argument bezieht sich daher auf eine Intuition, die mit weiteren Präzisierungen (eventuell) plausibilisiert werden kann, solange es aber mit einem simplen Gewichtungsmodell von Ressourcen und Einfluss operiert, vermag es nicht zu überzeugen. Es ergibt sich also auch hier kein grundsätzliches Argument, warum Herrschaftsausübung aufgrund der Bedingungen der Konstitution von (legitimer) Herrschaft auf Einzelstaaten beschränkt sein muss. Es bleibt folglich allein der praktische Grund, der angeführt wurde und sicherlich nicht einfach in philosophischer Perspektive als systematisch irrelevant charakterisiert werden sollte. Er macht darauf aufmerksam, dass über die genannten Aufgaben hinaus auch untersucht werden muss, unter welchen Voraussetzungen welcher erreichte Zustand von Herrschaftsverhältnissen aufgegeben werden darf oder sollte. Dies ist aber kein grundsätzlicher Einwand gegen die Existenz von Herrschaftsverhältnissen jenseits der Einzelstaaten, so dass nichts gegen die Möglichkeit spricht,

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Verfahren, Strukturen und Formen legitimer Herrschaftsausübung jenseits von Staaten zu konzipieren.

5.1.2 Wider die Wünschbarkeit transnationaler Herrschaft Obwohl somit nicht bestreitbar ist, dass die Ausübung von Herrschaft jenseits der Staaten denkbar wäre und legitim sein könnte, ist derart noch kein Grund gefunden, warum eine solche Herrschaftsausübung auch in der Tat sinnvoll oder gar notwendig sein sollte. Positionen, die die Auffassung vertreten, dass es keinen solchen Grund gibt, argumentieren, dass in der Explikation der Bedingungen für die Legitimität der Herrschaftsausübung, die im ersten Teil des Buches präsentiert wurden, alles gesagt ist, was zur legitimen Herrschaft zu sagen war. Sie gestehen dabei zu, dass es zwei Hinsichten gibt, in denen es so aussehen könnte, als bedürfte es der Ausübung von Herrschaft jenseits der Staaten, behaupten dann aber, dass dieser Eindruck verschwindet, wenn man die Problemfelder genauer betrachtet: Das erste solche Feld besteht in Handlungsverhältnissen, in denen Personen von Herrschaftsausübung betroffen sind, ohne an den Verfahren beteiligt (gewesen) zu sein, die zu der Ausübung geführt haben. Gegen die These, dass dies zur Notwendigkeit einer Struktur jenseits der Staaten führt, die den Personen die Möglichkeit sichert, sich in den Verfahren und Strukturen des fraglichen Staates zur Geltung zu bringen, wird argumentiert, dass die Theorie, wie sie bislang entwickelt wurde, schon erfordert, dass die Personen befähigt werden (müssen), sich in den Verfahren und Strukturen zur Geltung zu bringen. Der Zusammenhang wäre keine Republik, wenn in ihm Personen durch Entscheidungen und Maßnahmen anderer Personen oder von Institutionen beherrscht würden und d.h. keine Möglichkeit hätten, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Es ist folglich, so das Argument, systematisch unnötig (d.h. in praktisch-politischer Perspektive könnte es in manchen Situationen durchaus sinnvoll sein, externen Druck auszuüben), zu diesem Zweck zusätzliche Institutionen und Strukturen ins Spiel zu bringen. Das zweite Problemfeld ist das der Sicherung des negativen Friedens, denn es könnte so aussehen, als bräuchten die Staaten übergeordnete Einrichtungen, die überwachen, dass sie nicht in

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die Etablierung und Sicherung von legitimer Herrschaftsausübung innerhalb je anderer Staaten eingreifen. Auch in dieser Hinsicht halten die Positionen, die den Sinn und Nutzen von Herrschaftsausübung jenseits der Einzelstaaten bestreiten, fest, dass das Gebot negativen Friedens, wie schon zuvor gezeigt, Teil des Selbstverständnisses der Republiken ist, so dass es in den staatlichen Rechtssystemen und Verfassungen niedergelegt sein kann und muss und daher in den Rechtssystemen auch verbindlich durchgesetzt werden kann.21 Die Aufgabenbeschreibung der Judikative müsste folglich lediglich derart präzisiert werden, dass sie nicht nur überprüft, dass alle befähigt sind, sich in den gesetzgebenden Verfahren zur Geltung zu bringen, und die Institutionen und Instanzen im Rahmen geltenden Rechts agieren, sondern zudem darauf achtet, dass die Entscheidungen in den Verfahren bzw. das Wirken der Institutionen keine Externalitäten erzeugt, die das Bestehen legitimer Herrschaft in anderen Staaten (negativ) tangiert. Selbst wenn also zugestanden wird, dass es Situationen oder Konsequenzen legitimer Herrschaft in Staaten gibt, die Probleme für Individuen, die (bislang) keine Mitglieder des Staates sind, oder für andere Staaten als ganze darstellen, so könnte es so aussehen, als ließe sich argumentieren, dass diese Probleme noch im Rahmen einer Theorie legitimer Herrschaft innerhalb eines Staates lösbar sind. Gegen diese Argumentation sprechen aber mindestens drei gewichtige Gründe: Erstens ist die Verlagerung der Sicherung des negativen Friedens in die Einzelstaaten nicht überzeugend. Wie zuvor argumentiert wurde, hängt die Legitimität einer Herrschaftsstruktur entscheidend davon ab, dass sie nicht-willkürlich in der Weise eingerichtet ist, in der sie besteht und operiert. Eine Verankerung der Nicht-Interventionsverpflichtung nach außen allein in den Staaten, die an der Intervention gehindert werden sol-

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Historisch hat diese Position Samuel Pufendorf vertreten: Unter der Annahme, dass es unwahrscheinlich ist, dass sich Institutionen und Rechtsinstanzen jenseits der Einzelstaaten herausbilden, hat Pufendorf unterstrichen, dass solche Einrichtungen nicht notwendig sind, wenn die Rechtsinstanzen innerhalb der Staaten den Egoismus nach Außen nicht tolerieren, sondern stattdessen die binnenstaatlichen Akteure verpflichten, die Souveränität anderer Staaten zu achten. Vgl. Pufendorf 2001: 932, 939 sowie Goyard-Fabre 1994: 211-220.

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len, erwartet von Staaten, die möglicherweise von Interventionen betroffen sind, dass sie auf die Selbstbindung der anderen vertrauen, ohne dass ihnen Mittel zur Verfügung ständen, die die anderen verpflichten könnten, die Verpflichtung einzuhalten.22 Folgt man der Logik der Argumentation im ersten Teil, dann müssten die Staaten mindestens in einem wechselseitigen Verhältnis stehen, bei dem die Verletzung des Interventionsverbots zu einer Sanktionierung durch die anderen Staaten führen würde. Eine solche Konstellation würde aber nur dann der Forderung nach NichtWillkürlichkeit entsprechen, wenn die einzelnen Staaten nicht noch einmal eigene Erwägungen anstellen könnten, ob sie eine gebotene Sanktionierung auch in der Tat ausführen wollen oder nicht – und genau dies ist unwahrscheinlich, wenn die beteiligen Staaten letztlich nichts dadurch „gewinnen“, dass sie sich an der Sanktionierung einer Partei beteiligen, die eine weitere Partei schädigt. Schon das Prinzip negativen Friedens erfordert also eine übergeordnete Entität (und sei es nur in der Form von Rechtsinstitutionen, die zumindest explizit machen, dass das Prinzip der wechselseitigen Nicht-Intervention, das alle verbindet, verletzt wurde oder wird).

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Eine Replik der Position, die argumentiert, dass die innerstaatliche Bestimmung legitimer Herrschaft hinreicht, könnte so aussehen, dass den von „Externalitäten“ Betroffenen ein Klage- oder Überprüfungsrecht eingeräumt würde. Wie die Realisierung eines solchen Klagerechts in der WTO zeigt, wirft dieses aber viele Schwierigkeiten auf: So ist unklar, welche Verpflichtungen der beklagte Staat gegenüber denen hat, die die Klage führen wollen (d.h. es bleibt zu bestimmen, wem die Verpflichtung zukommt, zur Klageführung zu befähigen). Dann ist es schwierig zu sehen, wie in Fällen entschieden werden soll, in denen das Unterlassen einer Wirkungsweise den beklagten Staat vor gravierende Schwierigkeiten stellt (d.h. es muss z.B. expliziert werden, wie mit einer Situation umzugehen ist, in der ein sozio-ökonomisch weniger entwickelter Staat sich durch eine Niedrigsteuer-Politik selbst attraktiv machen will, zugleich aber Steuerflucht und Arbeitslosigkeit in einem anderen, eventuell besser entwickelten Staat befördert, mit einer Situation also, in der sich konkurrierende Ansprüche mit Blick auf die Erhaltung und Entwicklung des Staates gegenüberstehen). Und schließlich bleibt offen, wie mit der Heterogenität von Klägern und Beklagten umgegangen werden sollte (d.h. es muss dargelegt werden, ob „Staaten“ wie Individuen behandelt werden sollten oder umgekehrt etc. [vgl. dazu auch die Ausführungen zur „Betroffenheit“ im Folgenden]).

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

Zweitens leiten die systematischen Schwierigkeiten, die für das Modell negativen Friedens in den letzten Dekaden aufgezeigt wurden (Czempiel 1996; Senghaas 1998; Rogers/Ramsbotham 1999), aber zu einem noch wesentlicheren Punkt über: Alle Modelle, die Herrschaftsausübung auf den staatlichen Binnenbereich beschränken wollen, arbeiten mit der Vorstellung von abgeschlossenen Staaten, die spätestens in den letzten fünfzig Jahren obsolet geworden ist. Unter Bedingungen ökonomischer, sozialer, sicherheitspolitischer, ökologischer und sogar kultureller Interdependenz lässt sich die Annahme kaum aufrecht erhalten, dass Staaten nur ein negatives Interesse (im Sinn der Nichtintervention) hinsichtlich der Interaktion mit anderen Staaten haben,. Staaten interagieren – gewollt oder ungewollt – auf vielfache Weise positiv und negativ mit anderen Staaten, und in diesen Interaktionen besteht an verschiedensten Stellen die Möglichkeit, dass ein Staat einen anderen oder mehrere beherrscht bzw. signifikant in deren Operationsweisen und Erhaltungsbedingungen eingreift. Knüpft man an die obige Feststellung an, dass eine Herrschaftsausübung, die über die Einzelstaaten hinausgeht, unnötig ist, weil jeder Staat intern ein Prinzip immer weiterer Inklusion realisiert, dann ist nicht nur die Herrschaftsausübung jenseits der Staaten unnötig, sondern die gesamte Unterscheidung zwischen Staaten und einem Raum jenseits von ihnen wird überflüssig. Spätestens unter Bedingungen der Globalisierung gibt es nur noch einen einzigen politischen Zusammenhang, da potentiell jeder von allem betroffen ist und daher auch prinzipiell jeder in alle Entscheidungsverfahren einbezogen sein oder werden können muss. Soll also der negative Frieden als Ziel weiterhin ausgezeichnet werden, dann muss dieser neu bestimmt werden, d.h. es muss gezeigt werden, warum die Abwesenheit der Formen von Gewalt, die von ihm bezeichnet werden, auch vor dem Hintergrund der Interdependenz der Staaten in den verschiedenen Hinsichten bzw. der Notwendigkeit eines einzigen Zusammenhangs ein relevanter Bezugspunkt bleiben kann. Drittens schließlich muss aber eine solche „empirische“ Argumentation über eine neue Qualität der wechselseitigen „Betroffenheit“ gar nicht bemüht werden, denn der Universalismus der freiheitstheoretischen Argumentation verhindert schon, dass es zu ei-

5.1 Sicherheit, Freiheit und (negativer) Frieden

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ner Abschließung oder „Totalisierung“ der Staaten kommen darf. Die Existenz in einem jeweiligen Staat ist kontingent und muss daher selbst von den Bürgern revidiert werden können. Es muss Möglichkeiten geben, den gegenwärtigen Zuschnitt der Staaten zu überwinden und neue Staaten oder andere Zusammenhänge zu bilden, seien sie auf höherer oder niedrigerer Ebene oder einfach nur anders territorial oder funktional zugeschnitten.23 Auch wenn ein jeweiliges strukturelles und prozedurales Setting die legitime Ausübung von Herrschaft erst erlaubt, darf dies nicht als „realhistorisches Apriori“ verstanden werden, das sich nicht revidieren oder modifizieren lässt. Zur Etablierung und Sicherung von Freiheit durch die Ausübung von Herrschaft gehören die Rechte, Staaten verlassen zu dürfen und sich an anderen Staaten bzw. alternativen Zusammenhängen zu beteiligen. Auch hieraus ergeben sich Ansprüche an Staaten, die weit über diejenigen auf negativen Frieden zwischen ihnen hinausgehen. Wenn also die Argumentation für die Vollständigkeit der Legitimitätstheorie innerhalb des Staates für irgendetwas spricht, dann nicht für die Unnötigkeit von Strukturen legitimer Herrschaft jenseits der Einzelstaaten. Unter Bedingungen der Globalisierung sowie des Universalismus der Freiheitstheorie, die der Bestimmung legitimer Herrschaftsausübung auch gemäß der genannten Auffassung zu Grunde liegt, spricht die Argumentation eher für die Einrichtung eines Weltstaates, in den alle Individuen einbezogen sind und der alle zur Teilhabe an den Verfahren befähigt. Die Unnötigkeit von Strukturen legitimer Herrschaft jenseits der Staaten ist also als Inexistenz eines solchen „Jenseits“ zu begreifen, da es nur einen einzigen Staat gibt. Die Überzeugungskraft dieser „weltstaatlichen“ Perspektive wird im Kapitel 6 diskutiert. Zuvor sind noch zwei weitere Ansätze zu betrachten, die zwar nicht bestreiten, dass Herrschaftsausübung jenseits der Einzelstaaten stattfindet oder notwendig ist, aber behaupten, dass diese Herrschaft nicht unter denselben Kriterien betrachtet und bestimmt werden kann wie diejenige innerhalb der Staaten.

–––––––––––––– 23

Vgl. dazu die Darstellung der Bedeutung des Universalismus des modernen Legitimitätsverständnisses für moralisches „Lernen“ bzw. die Einbeziehung bislang Ausgeschlossener innerhalb von Staaten bei Honneth 1992: 189-190.

296

5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

5.2 Internationale Gerechtigkeit und (positiver) Frieden Die Untersuchung der Ansätze, die behaupten, dass Herrschaftsausübung jenseits der Staaten nicht wünschenswert oder nicht notwendig ist, hat erwiesen, dass sich diese Behauptung nicht aufrechterhalten lässt. Es gibt keine Argumente, die grundsätzlich dagegen sprechen, dass die Ausübung von Herrschaft jenseits von Staaten mit derjenigen in ihnen unvereinbar ist, und es ist empirisch und freiheitstheoretisch unmöglich, eine Pluralität von Staaten zu konzipieren, die voneinander abgegrenzt und rein negativ aufeinander bezogen sind. Herrschaftsausübung jenseits von Staaten ist also möglich und notwendig. Diese Einsicht wirft aber die Frage auf, ob die normativen Grundlagen dieser Herrschaftsausübung dieselben sein sollten wie diejenigen, die für die Herrschaft innerhalb von Staaten herausgearbeitet wurden. Ist nicht vielmehr zu sehen, dass die Probleme oder Zwecke, auf die Herrschaft jenseits von Staaten zielt, derart von denjenigen innerhalb von ihnen verschieden ist, dass auch die Grundlagen verschieden sein müssen? Diese These, mit der eine freiheitstheoretisch-republikanische Grundlegung der Theorie legitimer trans- oder internationaler Herrschaft zurückgewiesen wird, vertreten v.a. Ansätze, in denen internationale oder globale Gerechtigkeit als entscheidender Bezugspunkt für Legitimität ausgezeichnet wird. Durchaus im Ausgang von der Existenz einzelner Staaten, in denen Herrschaft legitim ausgeübt wird, und im Anschluss an die Kritik der Vorstellung negativen Friedens identifizieren die fraglichen Ansätze die Ungleichheit der Lebens- und Handlungsbedingungen in den Staaten bzw. die Verteilung der Kosten und Vorteile staatlicher Entscheidungen und Handlungsweisen als zentrales Problem der globalen Verhältnisse.24 Die Theorie negativen Friedens operiert, wie gesehen, mit den Annahmen einer prinzipiellen „Gleichwertigkeit“ un-

–––––––––––––– 24

Unberücksichtigt in der folgenden Erörterung der Theorien globaler Gerechtigkeit bleiben handlungsorientierte Gerechtigkeitstheorien, die den Umgang mit Katastrophen (etwa Hungersnöten) in den Mittelpunkt stellen. Hier wiederholen sich die Probleme, die schon grundsätzlich gegen den Gebrauch handlungsorientierter Gerechtigkeitstheorien zum Zweck der Entwicklung einer Theorie legitimer Herrschaft sprachen (vgl. Kap. 2.2).

5.2 Internationale Gerechtigkeit und (positiver) Frieden

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terschiedlicher Staaten und einem weitgehenden Absehen von Effekten der „Innenpolitik“ auf die „Außenwelt“, das daraus folgt, so dass die Gestalt und „Innenpolitik“ der Staaten für die Relationen zwischen ihnen irrelevant ist. Gegen diese Beschreibung der Relationen zwischen den Staaten bzw. den Mitgliedern unterschiedlicher Staaten wurde schon darauf hingewiesen, dass es heute kaum möglich ist, einen Staat zu identifizieren, der nicht „positiv“ (im Sinne eines Interesses an Leistungen derselben) auf andere Staaten bezogen bzw. sogar abhängig von ihnen ist, während auch die Individuen in vielen Fällen mit Mitgliedern anderer Staaten in Verbindung stehen (Beitz 1999: 143-144; Young 2006: 105107). Theorien positiven Friedens arbeiten vor diesem Hintergrund heraus, dass Konfliktursachen oft nicht in arbiträren Interventionsinteressen begründet liegen, sondern vielmehr in faktischen oder wahrgenommenen gravierenden Ungleichheiten bzw. unterschiedlichen Entwicklungsständen in den Staaten (Morris 2006: 163-165), und dass auch der jeweilige Aufbau stabiler legitimer Herrschaft von akzeptablen sozio-ökonomischen Verhältnissen bzw. entsprechenden Ausstattungen mit Ressourcen abhängt. Wenn es also in der Tat normativ wünschenswert ist, dass die Bedingungen legitimer Herrschaft (d.h. die Ermöglichung, dass Freiheit positiv ausgeübt und negativ abgesichert wird) in den Staaten etabliert und erhalten werden, dann müssen sie sich in einem Verhältnis zueinander befinden, in dem sichergestellt ist, dass jeder Staat (zumindest in fundamentalen Hinsichten) die gleichen Möglichkeiten hat oder bietet, Ziele, Interessen und Projekte zu realisieren. Damit sind nicht nur die strukturellen und prozeduralen Voraussetzungen zu einer solchen Realisierung gemeint, sondern auch „substantiellere“ bzw. „materielle“ Gleichheit (Beitz 1999: 122-123; Brown 2002: 160-186). Das Bestehen von Strukturen trans- oder internationaler Herrschaft soll also – parallel zur im Kapitel 2.3 eingeführten Grundstruktur-orientierten Gerechtigkeitstheorie – die Funktion erfüllen zu garantieren, dass jeder die gleichen Möglichkeiten und Voraussetzungen hat, in (mindestens einem von) unterschiedlichen Staaten seine Freiheit auszuüben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dies nicht zu einer global einheitlichen Verteilung von Gütern und Lasten führen soll (da zuzu-

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

gestehen ist, dass die Ausübung von Freiheit in den Einzelstaaten zu differenten Strukturen und Verteilungen führen kann).25 Einige der Theorien internationaler oder globaler Gerechtigkeit verteidigen einen grundsätzlichen Vorrang der Gerechtigkeit vor der Freiheit, wie es zuvor für die allgemeine Gerechtigkeitstheorie schon nachgezeichnet wurde. Da die Schwierigkeiten dieser Vorgehensweise ebenfalls bereits diskutiert wurden, sollen diese Theorien hier nur insofern berücksichtigt werden, als sie nicht eine Theorie legitimer Herrschaft schlechthin präsentieren, sondern auf der Basis der Annahme operieren, dass einzelne Republiken schon existieren (vgl. Höffe 2002: 296-314). Internationale oder globale Herrschaftsstrukturen treten in dieser Perspektive nicht an die Stelle staatlicher Strukturen, sondern setzen diese in ein Verhältnis zueinander, in dem jedem Staat bzw. deren Bürgern gleiche Möglichkeiten mit Blick auf Externalitäten bzw. den Zugriff auf den Raum gewährt werden, den die Staaten teilen. Dies erfordert zunächst, dass expliziert wird, welche „Güter“ und „Lasten“ im internationalen Raum verteilt werden sollen. Dann ergibt sich die Frage, wie die Verteilung durchgesetzt und kontrolliert werden kann und soll. Und schließlich muss – wiederum in Parallele zu den allgemeinen Gerechtigkeitstheorien – erläutert werden, ob die gerechte Verteilung an einem Ausgangspunkt oder beständig bestehen muss und was dies für die Operationsweisen der Einrichtungen bedeutet, die die Verteilung umsetzen. Die „Güter“ und „Lasten“, deren Verteilung im internationalen Raum von Interesse ist, können aus verschiedenen Gründen

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Rawls selbst hat seit der Theorie der Gerechtigkeit die Vorstellung zurückgewiesen, die gerechte Grundstruktur ließe sich global ausdehnen (Rawls 1975: 24). Seinen Vorschlag, wie eine „gerechte“ Struktur des internationalen Raums aussehen könnte, hat er in Das Recht der Völker vorgelegt. Wie schon der Titel dieser Schrift nahe legt, sind im internationalen Raum nicht die Individuen die Subjekte (aber auch nicht die Staaten), sondern die „Völker“, die sich jeweils auf der Grundlage mehr oder minder gerechter Prinzipien eine Verfassung gegeben haben (Rawls 2002: 26-32). Im „Recht der Völker“ geht es so um die Regelung der Koexistenz unterschiedlicher, politisch verfasster Völker (Rawls 2002: 40-48). Dabei verzichtet die Regelung der Koexistenz weitgehend auf übergreifende Institutionen und setzt v.a. auf die Internalisierung der Beachtung des „Rechts der Völker“ innerhalb der Staaten (Rawls 2002: 153-156).

5.2 Internationale Gerechtigkeit und (positiver) Frieden

299

nicht mit denen identisch sein, die in der allgemeinen Gerechtigkeitstheorie angeführt wurden. Dieser Identität steht entgegen, dass es sich nicht um eine allgemeine Gerechtigkeitstheorie mit den Individuen per se als Bezugspunkt handelt (sondern die Individuen immer [auch] schon als Bürger bestimmter Staaten betrachtet werden) und die Staaten, wenn sie die Ausübung und Sicherung von Freiheit verbürgen sollen, Möglichkeiten haben müssen, selbst Güter und Lasten für Verteilungen vorzusehen oder nicht vorzusehen bzw. Verteilungsweisen festzulegen. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich die Güter und Lasten, um die es in den fraglichen Ansätzen geht, in drei Kategorien einteilen: erstens kollektive Ressourcen, deren Gebrauch oder (weitere) Existenz global für alle relevant ist (z.B. natürliche Ressourcen, wie Wasser, Luft, Rohstoffe, und kulturelle Errungenschaften, aber auch basale Menschenrechte, die überall gleichermaßen gewährt sein müssen); zweitens globale Folgen von grundsätzlich universell wünschenswerten oder gar normativ erforderlichen (etwa zum Zweck, zur Teilhabe an politischen Verfahren und Strukturen zu befähigen) ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen (z.B. Umweltverschmutzung, Gefahren durch neue Technologien etc.);26 drittens Ämter und Mandate in den Einrichtungen, die die Verteilung der Ressourcen und Lasten durchsetzen und überwachen. Die dritte Kategorie impliziert schon, dass die Durchsetzung und Kontrolle der Verteilung in der Form einer Herrschaftsstruktur (d.h. in einer Weise, die unabhängig von den Motivationen und Interessen hinreichend „mächtiger“ Akteure ist) voraussetzt, dass es Institutionen gibt, die in der Lage sind, die Vertei-

–––––––––––––– 26

Die „Globalität“ der Ressourcen und Lasten, die als erste und zweite Kategorie angeführt wurden, wird in der Globalisierungsforschung häufig problematisiert, indem darauf verwiesen wird, dass die Globalität verdeckt, dass Lasten und Bedürfnisse „regional“ sehr unterschiedlich sein können. Die „Regionalität“ bezeichnet dabei immer noch einen inter- oder transnationalen Raum, aber eben keinen global einheitlichen Raum mehr. In den Gerechtigkeitstheorien ist die Globalitätsannahme wesentlich, da über sie die Individuen als Argumentationsgrundlage wieder eingeführt werden können und von deren Bürgerstatus in den Staaten in der Begründung der „subsidiären Weltrepublik“ abgesehen werden kann. Vgl. etwa die Idee des „zweifachen Weltgesellschaftsvertrags“ in Höffe 2002: 308-314.

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

lung notfalls auch gegen die betroffenen Staaten oder relevante Akteure durchzusetzen.27 Eine solche Erwartung an Institutionen klingt, so nicht zuvor dramatische Beschränkungen für die Einzelstaaten (bzw. deren Größe) gefordert und begründet wurden, zunächst äußerst unrealistisch. Sie dürfen folglich nicht als „freistehende“ Einrichtungen betrachtet werden, sondern sie müssen in der Form einer Vorordnung (hinsichtlich der einschlägigen Themen- und Aufgabengebiete) der globalen Institutionen vor die staatlichen Institutionen mit letzteren verbunden sein. Dies wirft unmittelbar erneut die Probleme auf, die im vorherigen Unterkapitel schon erwähnt wurden, wie nämlich verhindert werden kann, dass eine solche Eingliederung der staatlichen Institutionen in eine globale Gewaltenteilung zu einem beherrschenden Wirken dieser Einrichtungen führt (da sie zumindest z.T. nicht mehr durch eine Legislative kontrolliert und programmiert werden). Einer solchen Entwicklung kann nur vorgebeugt werden, wenn die globalen Institutionen einen klaren und kaum interpretationsfähigen Auftrag bekommen, der ihnen keinen eigenen legislativen Spielraum lässt bzw. von ihnen keine Abwägung zwischen konkurrierenden Zielen oder Vorgaben erwartet. Ihr Wirken und der Einfluss, den sie auf die staatlichen Institutionen nehmen (können), wäre solcherart in der Weise eines globalen Konstitutionalismus verstehbar (womit deutlich über das hinausgegangen würde, was auch die Ansätze zugestehen wollten, die im vorhergehenden Unterkapitel diskutiert wurden), d.h. als eine Ermöglichungsbedingung für staatliches Handeln, die selbst für niemanden in den Staaten und jenseits von ihnen direkt disponibel ist. Die Möglichkeit, solche klaren und kaum interpretationsfähigen Aufträge zu erteilen, hängt wesentlich davon ab, welche Güter und Lasten ausgezeichnet werden und an welchen Kriterien sich deren Verteilung orientieren soll. Güter und Lasten, deren Vertei-

–––––––––––––– 27

Thomas Pogge zeigt sich überzeugt, dass solche Institutionen bereits bestehen und derzeit dazu genutzt werden zu verhindern, dass gerechtere Strukturen etabliert werden und gravierende Armut bekämpft wird (vgl. Pogge 2002a: 112-116). Hieraus ergibt sich indirekt ein weiteres Argument für globale Institutionen, nämlich dass diese notwendig sind, um bestehenden inter- oder transnationalen Einrichtungen und Organisationen entgegenzuwirken.

5.2 Internationale Gerechtigkeit und (positiver) Frieden

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lung eventuell gravierende Eingriffe in verschiedenen Staaten erforderlich macht, treffen zweifelsohne auf größere Begründungsund Akzeptabilitätsschwierigkeiten, als solche, die in der Form eines Nullsummenspiels allen zum Vorteil gereichen. Zugleich kann es aber sein, dass gerade die erste Gruppe von Gütern und Lasten (d.h. diejenigen, die gravierende Eingriffe benötigen) einschlägig ist, wogegen die zweite ohnehin in der Konstellation von Staaten (zumindest unter Bedingungen hochgradiger Interdependenz) realisiert wird. Parallel zu diesen Schwierigkeiten eröffnet der Bezug auf einen (fiktiven) Ausgangspunkt gleicher Möglichkeiten und Ressourcen eine größere Deutungsoffenheit als die Bestimmung einer überzeitlich gültigen Verteilung der Güter und Lasten. Die zweite Art der Verteilung erfordert aber wiederum ein viel umfassenderes und andauerndes Eingreifen in das Wirken und die Entwicklung der unterschiedlichen Staaten, da deren je eigene Leistungen in gewissem Maß irrelevant für die erforderliche Verteilung sind (womit vielleicht Anreize für die positive Ausübung von Freiheit in den Staaten verloren gehen). Diese Dilemmata haben einige Autoren dazu geführt, die zweite Art der Verteilung (d.h. einen überzeitlichen Anspruch auf bestimmte Güter und Rechte) zu präferieren und zugleich die Güter und Lasten minimal anzusetzen, die verteilt werden sollen. So hält etwa Thomas Pogge fest, dass „the preeminent requirement on all coercive institutional schemes is that they afford each human being secure access to minimally adequate shares of basic freedoms and participation, of food, drink, clothing, shelter, education, and health care“ (Pogge 2002a: 51). Mit dieser Bestimmung eines „minimalen Kerns“ an Anforderungen, die global gelten (sollen), wird aber genau die Intuition verfehlt, die den Rekurs auf die Gerechtigkeit anfänglich motivierte: Die Gerechtigkeit wurde ins Spiel gebracht, weil konstatiert wurde, dass das Wirken unterschiedlicher Staaten bzw. das Handeln in ihnen Konsequenzen hat, die entweder direkt oder indirekt Ungleichheiten zwischen ihnen bzw. ihren Bürgern bewirken. Um den Primat der Ausübung und Sicherung von Freiheit in den Staaten nicht in Frage zu stellen, sollten sie nicht noch einmal in einen demokratisch-rechtsstaatlichen Gesamtzusammenhang integriert werden, sondern vielmehr die Ungleichheiten zwischen ihnen aus-

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

geglichen werden. Auch wenn, wie Pogge zu Recht bemerkt, der minimale Kern über existierende Umverteilungen zwischen Staaten deutlich hinausgeht, so adressiert ein solcher Ansatz doch nicht das eigentliche Problem, dass nämlich die Ungleichheit zu einem signifikanten Teil durch das (vermeintlich legitime) Wirken von Staaten erzeugt wird. Nimmt man dies ernst, dann muss entweder die Minimalität zugunsten einer strukturellen Bedeutung des Kerns von Ansprüchen aufgegeben werden (d.h. Staaten müssen grundsätzlich daran gehindert werden, Projekte und Ziele zu verfolgen, die die Gewährleistung der „adequate shares“ gefährden, es muss also doch noch einmal eine globale „gerechte Grundstruktur“ begründet werden), womit aber die Ausübung der Freiheit in den Staaten signifikant und strukturell eingeschränkt würde, oder aber die Minimalität wird im Sinn von positiven Leistungen begriffen, was wiederum die Rede von „shares“ unplausibel macht und erwarten lässt, dass eine genauere Bestimmung des „menschenrechtlich Notwendigen“ vorgelegt wird. Darüber hinaus werden in der zweiten Variante die globalen „Lasten“ kaum noch thematisiert, die bei dem gegebenen ökonomischen Entwicklungsstand möglicherweise unvermeidbar sind. Die zweite Verständnisvariante bringt eine Art „Ausfallbürgschaft“ zum Ausdruck, womit kaum adäquat auf die Einsichten der Friedens- und Konfliktforschung reagiert werden kann, die zu Beginn genannt wurden. Die Existenz von basalen Garantien trägt nur wenig dazu bei, beherrschende Akte und Effekte anderer (Staaten) akzeptabel zu machen, selbst wenn die „materialen“ Auswirkungen (scheinbar) nicht gravierend sind (Young 2000: 255-265). Es bleibt also nur die erste Verständnisoption. Mit der Präsentation eines strukturellen Kriteriums für legitime Herrschaft im interoder transnationalen Raum steht die Theorie globaler Gerechtigkeit aber wieder vor großen Schwierigkeiten, die schon in der Kritik der allgemeinen Gerechtigkeitstheorie angeführt wurden: Sie muss nämlich einerseits in der Lage sein, die Unbestreitbarkeit der (Verteilung der) signifikanten Güter und Lasten zu begründen, während sie andererseits angeben können muss, wie sie mit Kontroversen über diese Güter und Lasten bzw. deren Verteilung umzugehen gedenkt. Die Institutionensettings, die Autoren wie Ot-

5.2 Internationale Gerechtigkeit und (positiver) Frieden

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fried Höffe anführen und die Aufgaben übernehmen sollen, die vom Menschenrechtsschutz über ein globales Strafrecht bis hin zur globalen Steuerung ökonomischer Märkte und natürlicher Ressourcen reichen (Höffe 2002: 352-421; Höffe 1999), beziehen sich auf Problemfelder, bei denen unterdessen niemand mehr bestreiten dürfte, dass sie inter- oder transnationaler Lösungsansätze bedürfen. Die Abstraktheit der Ausführungen Höffes verdeckt aber, wie umstritten jeder Versuch ist, den Institutionen und ihren Programmen eine konkrete Gestalt zu verleihen.28 Zahlreiche Autoren, die durchaus auf der Grundlage universalistischer Prämissen argumentieren, haben darauf hingewiesen, dass jede Auszeichnung von Gütern bzw. Bestimmung von Institutionen im Licht politischer Erfahrungen und Strukturen geschieht und auf spezifische Bedürfnisse29 reagiert. Bei aller globalen wechselseitigen Abhängigkeit und trotz der Existenz von Tendenzen, die zur globalen Angleichung von Lebensformen, Konsumverhalten etc. führen, ist nicht ohne Weiteres von der Universalität der Erfahrungen, Strukturen und Bedürfnisse auszugehen.30 Sollen diese Schwierigkeiten konstruktiv aufgenommen werden, dann bewegt sich auch die Theorie globaler Gerechtigkeit hin zum Modell einer rechtsstaatlich-demokratischen Weltrepublik (vgl. zur Notwendigkeit dieses Schritts aus der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive auch Forst 2002b, Forst 2007a); vollzieht sie diesen Schritt nicht, dann endet sie entweder in einer paternalistischen Argumentationsfigur oder sie unterschätzt, wie schwerwiegend die Kontroversen und Konflikte sind, mit denen umgegangen werden muss. Diese Kontroversen und Konflikte lassen sich nicht als vermeintlich defaitistischer Relativismus einfach zurückweisen, sie zeigen vielmehr die reale Komplexität inter- oder transnationaler Regelungen unter Bedingungen einer Vielzahl empirischer Faktoren

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Zur Diskussion der Überlegungen Höffes mit Blick auf die Strukturierung der Welt in unterschiedliche Arten politischer Zusammenhänge vgl. Kap. 6.3.3. Zur besonderen Rolle der Bedürfnisse für (globale) politische Konflikte vgl. Nussbaum 2006: 92-95. Vgl. zu solchen Argumentationen u.a. Tomlinson 2007; zur Kritik an diesen Vorbehalten und zur Verteidigung eines „starken“ Universalismus siehe Brown 2002: 187-211.

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(und Einschätzungen) sowie mehr oder minder legitimer Interessen und Projekte an. Wie schon mit Blick auf die allgemeine Gerechtigkeitstheorie demonstriert wurde, wiederholt sich also auch im Fall der globalen Gerechtigkeit, dass die Theorien zurecht darauf hinweisen, dass Handlungsbedingungen nur dann legitimerweise etabliert und aufrecht erhalten werden können, wenn die Handlungsmöglichkeiten in einer für alle akzeptablen Weise verteilt sind. Der Versuch, allgemein gültige Güter und Bedingungen für solche Möglichkeiten und für Institutionen anzugeben, die berechtigt sind, sie umzusetzen, scheitert aber daran, dass solcherart keine normativ überzeugende Antwort auf (reale) Dissense und Konflikte mit z.T. berechtigten Einwänden gegeben werden kann. Dieses Scheitern wird besonders offensichtlich, wenn die Notwendigkeit der Berücksichtigung der internen Erhaltungs- und Funktionsbedingungen von Staaten ernst genommen wird: So können die faktischen Differenzen, zu denen die historische Entwicklung (etwa im Kolonialismus und Imperialismus) durch beherrschende und Beherrschung perpetuierende Akte einiger (Staaten) geführt hat, weder einfach unter Verweis auf eine Gleichverteilung (von Chancen, Gütern und Lasten etc.), die normativ wünschenswert ist, noch in der Form einer quasi-naturrechtlichen Niederlegung fundamentaler Menschenrechte zum Verschwinden gebracht werden. Zugleich ist auch ein bloßes Abwägen jeweiliger Differenzen zwischen Begünstigten und weniger Begünstigten in und zwischen den Staaten wenig sinnvoll, da dies tendenziell dazu führt, dass kein Ausgleich zwischen Staaten mehr stattfindet. Die Kriterien für eine „akzeptable“ Verteilung von Möglichkeiten und Positionen müssen also komplexer und v.a. in verschiedenen Hinsichten reflexiv angelegt sein, so dass es unverzichtbar ist, Institutionen zu schaffen, die nicht nur allgemeine Standards „mechanisch“ anwenden, sondern über deren Bedeutung in gegebenen Handlungssituationen autoritativ entscheiden können.31

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In diesem Abschnitt wurden die Theorien globaler Gerechtigkeit, die in verschiedensten, z.T. äußerst komplexen Fassungen existieren, sehr verkürzt und allgemein diskutiert. Dies trug der Absicht dieses Abschnitts Rechnung, ein zentrales Argument der Theorien zu erörtern, nämlich die Notwendigkeit ei-

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 305

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie und die Schwierigkeiten von (legitimer) Herrschaft unter Bedingungen globalisierter Ökonomie Mit den Problemen, denen die Theorien globaler Gerechtigkeit begegnen, ist also auch das Unternehmen gescheitert zu rechtfertigen, dass zwar Herrschaftsverhältnisse jenseits von Staaten notwendig sind, diese aber mit der Gerechtigkeit oder Gleichheit eines anderen normativen Bezugspunktes bedürfen als die Ausübung von Herrschaft innerhalb von Staaten. Die Gerechtigkeitstheorien verweisen zwar zu Recht auf die Relevanz, die die gravierenden Differenzen zwischen Staaten haben (und die sich zudem z.T. durch das Wirken einzelner Staaten auf Kosten oder zu Lasten von anderen ergeben), es gelingt ihr aber nicht, aus diesen „ungerechten Differenzen“ (bzw. deren Ausgleich oder Aufhebung) eine Theorie legitimer inter- oder transnationaler Herrschaft zu entwickeln. Es wiederholen sich im Gegenteil fundamentale Begründungsprobleme der Institutionen und ihres Operierens, die sich schon bei der allgemeinen Gerechtigkeitstheorie gezeigt haben. Zum Abschluss der Untersuchung der Positionen, die bestreiten, dass sich die Bedingungen trans- oder internationaler Herrschaft in Fortführung der rechtsstaatlich-demokratischen Freiheitstheorie formulieren lassen, die im ersten Teil dieses Buches vorgestellt wurde, sind nun Ansätze zu betrachten, die eine Theorie von Hegemonie und Gegen-Hegemonie in unumgänglicher, aber nur eingeschränkt (d.h. z.B. in funktionaler Hinsicht) legitimer transnationaler Herrschaft vorlegen. Bei allen Differenzen beanspruchen sie insgesamt, gerade auf die Probleme zu reagieren, die sich daraus ergeben, dass die spezifischen Funktions- und Erhaltungsbedingungen der Pluralität von Staaten, in denen (eventuell) Freiheit positiv ausgeübt und negativ abgesichert wird, es vernes anderen normativen Bezugspunktes für die internationale Sphäre als die Freiheit zu begründen. Weitere interessante Argumente gerechtigkeitstheoretischer Ansätze werden in den Kapiteln 6 und 7 aufgegriffen, da sie nicht notwendig mit der Gerechtigkeitstheorie verbunden sind, sondern durchaus auch republikanisch-freiheitstheoretisch artikulierbar sind.

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

hindern, dass es zu einer analogen Herausbildung eines globalen politischen Zusammenhangs kommt und stattdessen Ordnungsmomente bei aller Faktizität relativ kontingent (d.h. abhängig von Motivationen und Lagen relevanter Akteure) und vergänglich sind. Dabei ist die „Verhinderung“ im doppelten Sinn der Unfähigkeit, analoge Verhältnisse herauszubilden, und der mehr oder minder aktiven Behinderung zu begreifen, dass solche Verhältnisse entstehen. Anders als die Theorien, die ebenfalls in Betrachtung der Interessen und der Verfassung von Staaten das Bestehen von Herrschaft jenseits von ihnen negieren, wird dabei angenommen, dass die Ausübung von Herrschaft nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Interessen der Staaten bzw. relevanter öknonomischer Akteure notwendig ist und aufgrund dieses ökonomischen Bezugspunktes (spätestens) die internationalen Herrschaftsverhältnisse die Form einer Hegemonie annehmen. Die Hegemonietheorie wurde im Kapitel 3.1 im Kontext der Theorien „radikaler Demokratie“ schon genannt. In ihren gegenwärtigen Formen bezieht sie sich zumeist auf die neo-marxistischen Schriften Antonio Gramscis und nimmt ihren Ausgang daher v.a. bei einer Analyse der Konstitutionsbedingungen von Herrschaft innerhalb von Staaten, d.h. genauer westlicher kapitalistischer Staaten. Mit einer „hegemonialen Formation“ (hegemonic formation [Laclau/Mouffe 1985: 136]) wird eine Struktur beschrieben, in der politische Macht dadurch erzeugt, organisiert und verteilt wird (eine Struktur also, mit und in der Herrschaft ausgeübt bzw. ausübbar wird), dass es im Feld der Zivilgesellschaft32 einigen gelingt, ein Angebot zu unterbreiten, das die Artikulation der Interessen derer erlaubt, die sich in der hegemonialen Formation einbringen (können). Politische Interessen können nicht immer schon per se klar zum Ausdruck gebracht werden, sondern sie bedürfen eines Signifikanten bzw. einer bedeutungs-, relevanz- und einheitsstiftenden Verkettung von Signifikanten oder politischen Interessen, die es ermöglichen, dass sie als Interessen vorgebracht und verstanden werden können (Laclau/Mouffe 1985: 111-114).

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Vgl. zum Begriff der „Zivilgesellschaft“ (società civile) bei Gramsci und seinen Nachfolgern überblicksartig Votsos 2001.

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 307

Hinter dieser Beschreibung der Artikulation (die in der Folge Ferdinand de Saussures im doppelten Sinn der „Äußerung“ und der „Verbindung“ verstanden wird [vgl. Saussure 1985: 155-158]) von Interessen und Absichten steht die These, dass politische Verhältnisse grundsätzlich als antagonistische Relation(en) verstanden werden müssen, als Verhältnisse also, in denen es letztlich um eine Durchsetzung oder Übermacht des „eigenen“ gegenüber dem „anderen“ geht, wobei das, was durchgesetzt werden soll, grundsätzlich nicht mit dem vereinbar ist oder „verrechnet“ werden kann, was verhindert wird (Marchart 2005: 165-182). Über bloße oder essentialistische Macht- und Antagonismustheorien (und d.h. v.a. klassisch marxistische Klassenkampftheorien, die behaupten, dass es nur einen einzigen bipolaren Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat gibt) geht die Hegemonietheorie hinaus, da sie sowohl die Vorstellung bloßer Machtpotentiale oder -interessen, die einander widerstreiten, zurückweist und stattdessen auf die limitierenden und ermöglichenden Aspekte hegemonialer Formationen verweist (Laclau 1990: 115-118), wie sie auch die Pluralität der Antagonismen und die vielfältigen Weisen betont, in denen Individuen in den Antagonismen involviert sind. In und durch Hegemonien wird Zwang und Unterdrückung ausgeübt, d.h. eine hegemoniale Formation hat den Zweck, Widerstände und Abweichungen zu unterbinden bzw. die Akteure im positiven und negativen Sinn zu disziplinieren und zu motivieren. Zugleich eignet sich aber, auch weil sich die Konflikte, die von den Akteuren erfahren werden und zum Ausdruck kommen sollen, nicht ohne Weiteres auf ein und denselben Nenner bringen lassen, nicht jedes Angebot zur Konstitution einer hegemonialen Formation. Zudem hat der notwendige Durchgang durch diese Formation, wenn es zur Artikulation von Interessen etc. und v.a. zur Beherrschung und Disziplinierung anderer kommen soll, zur Konsequenz, dass ein realer, „radikaler“ (im Sinn der Resultatsoffenheit) demokratischer Prozess zu beobachten ist. In diesem Prozess bilden sich hegemoniale Signifikanten, Knotenpunkte oder Verkettungen heraus, die sich behaupten müssen, ohne vollends durch den bestehenden ökonomischen und politischen Rahmen determiniert und determinierbar zu sein, und im besagten Prozess kommt es auch

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zu einer „Universalisierung“ partikularer Positionen und Interessen, da letztere nur in „universalisierter“ Form hegemoniale Wirkungen entfalten können (Laclau 2000). Die jeweiligen Signifikanten oder Verkettungen sind aufgrund der Selektion aus der Vielfalt erfahrener Konflikte und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten notwendig zu einem gewissen Grad kontingent. Diese Kontingenz hat zur Folge, dass Beherrschung und Disziplinierung dadurch ermöglicht wird, dass sich Räume von Autonomie bzw. des Streits um die Bedeutung von Signifikanten/Verkettungen öffnen, in denen Interessen und Tendenzen zur Geltung kommen können, die anderen Logiken als denen der Ökonomie oder der Machtmaximierung folgen. Es handelt sich also insgesamt um einen in verschiedenen Hinsichten ambivalenten Vorgang: die Ausübung von Herrschaft lenkt notwendig von dem ab, was in dieser Ausübung um- und durchgesetzt werden soll, womit sie per se eher begrenzend als ermöglichend ist, zugleich erlaubt die Herausbildung einer Hegemonie auch die (relative) Steuerung und Kontrolle „mächtiger“ Akteure, so dass sie auch Beherrschung verhindert. Mit Blick auf trans- oder internationale Herrschaft ist die Hegemonietheorie, z.T. unter dem Titel von „Critical International Relations“,33 in zwei Hauptvarianten entfaltet und verteidigt worden (vgl. zu Überblicken über die Differenzen zwischen den Varianten bzw. zur Kritik an ihnen Germain/Kenny 1998, Scherrer 1998): Eine erste Variante erklärt die Stabilität und die Konfliktvermeidungs- bzw. -bewältigungsmöglichkeiten internationaler Organisationen und Governance34 über die besonderen Stärken (d.h.

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Diese Bezeichnung ist für die Betrachtung der Frage relevant, ob sich aus der Hegemonietheorie normative Schlüsse ergeben oder nicht: Robert W. Cox stellt den hegemonietheoretischen Ansatz v.a. positivistischen, realistischen Positionen entgegen, die er als „form of problem-solving theory“ begreift, d.h. Theorien, die ausgehend von gegebenen Strukturen zur immanenten Lösung von deren Problemen beitragen wollen (Cox 1996: 91). Die „critical theory of world order“, wie Cox seine Herangehensweise benennt, „allows for a normative choice in favor of a social and political order different from the prevailing order“ (Cox 1996: 90). Zumindest bei einigen Autoren ergibt sich also die normative Perspektive direkt aus dem hegemonietheoretischen Ansatz. Dieser umstrittene Begriff eignet sich besonders, die nicht-staatlichen und z.T. vergänglichen Formen der „Herrschaftsausübung“ zu beschreiben, die im

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 309

die Inhaltslosigkeit) der formalen Aspekte der Hegemonie, d.h. v.a. über die (symbolische Dimension der) Signifikanten, die in diesem Raum zu Ansatzpunkten für hegemoniale Formationen werden (und eventuell allein werden können). Wie Thorsten Bonacker und André Brodocz argumentiert haben, beansprucht diese Hegemonietheorie, mit Blick auf internationale Beziehungen v.a. am Fall (des Erfolgs) der Menschenrechte zeigen zu können, dass und wie es zur Herausbildung eines internationalen Institutionengefüges und zur Kooperation von Einzelstaaten mit den Institutionen und z.T. sogar zur Unterordnung erster unter zweitere gekommen ist. Im Unterschied zu klassischen ideologiekritischen Vorbehalten gegenüber Menschenrechten (mit denen die These geteilt wird, dass Menschenrechte eine letztlich leere Projektionsfläche sind und dazu genutzt werden, ordnungspolitische Ziele zu verfolgen) wird in dieser hegemonietheoretischen Perspektive nicht deren Gehalt und „unabhängige Geltung“ als ideologische Vorspiegelung zum Zweck, faktisch Beherrschung auszuüben, betrachtet. Es wird vielmehr behauptet, dass die Menschenrechte die organisierende Rolle für die „neue Weltordnung“ gerade deshalb spielen konnten und können, weil die Bedeutung der Menschenrechte nie festgelegt wurde und aufgrund der vielfältigen Interpretierbarkeit (der „Deutungsoffenheit“) des Gehalts, des Status und der Reichweite der „Menschenrechte“ auch nicht festlegbar ist (Bonacker/ Brodocz 2001: 191-197). Das internationale System nach dem 2. Weltkrieg hat folglich deshalb wesentliche Konflikte verhindert, weil es um einen „Begriff“ der Menschenrechte herum organisiert war und ist, der gegenüber unterschiedlichen Interpretationen unterdeterminiert ist, es daher verschiedenen Parteien erlaubt (hat), sich auf ihn in verschiedener Weise zu beziehen, und dabei dennoch den Eindruck zu schaffen, dass ein gemeinsames Projekt verfolgt wird. Wie schon für die Theorie radikaler Demokratie gezeigt wurde, wird hier angenommen, dass politische Prozesse nicht durch ihre Resultate, sondern durch ihre SelbstbezügZentrum der Analysen dieser Ansätze stehen. Vgl. zur Einführung des Begriffs Zürn 1998: 166-171. Wie sich in der Kritik an den Ansätzen zeigt, steckt in diesem Begriff aber auch schon das Problem der Unklarheit, welche Akteure ausgezeichnet werden.

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

lichkeit bzw. dadurch, dass sie offen gehalten werden, stabilisierende und integrierende Leistungen erbringen (können) (Bonacker/Brodocz 2001: 198-202). Von solchen „offenen“ Deutungsprozessen ist schon deshalb, weil es im „konstruktivistischen“ Blick der Autoren letztlich keinen irreduziblen Gehalt dieser Rechte gibt, dessen Garantie gemessen werden könnte, nicht zu erwarten, dass in ihnen und durch sie in der Tat „Menschenrechte“ geschützt werden. Sie können aber, so die These, durchaus zu staatlichem Verhalten führen, in dem die Staaten einander in höherem Maß respektieren und in ihren jeweiligen Entscheidungsverfahren berücksichtigen als ohne einen solchen gemeinsamen Bezugspunkt – und zwar gerade weil der Bezugspunkt leer ist und nicht weil er einen „Konsens“ über die Unverletztlichkeit bestimmter Rechte oder Ansprüche darstellt (Bonacker/Brodocz 2001: 203).35 Diese Theorie internationaler Beziehungen und globaler Konfliktbewältigung betont die integrierende Bedeutung eines Dissenses, von der solange auszugehen ist, wie der Dissens nicht explizit zu Tage tritt oder gar einer Lösung zugeführt werden soll. Aufgrund dieser Inexplizitheit wird über den „leeren Signifikanten“ auch Zwang und Disziplinierung ausgeübt, denn er legt den Akteuren über die Grenzen der Interpretierbarkeit Grenzen des Handelns auf und im Feld der „offenen Deutungen“ spielen intellektuelle (d.h. hier oft v.a. völkerrechtliche bzw. [massen-]mediale) Kompetenzen keine unerhebliche Rolle. Zugleich ist der „leere Signifikant“ aber auch nicht so „ermächtigend“, dass durch ihn Staaten oder andere Akteure Optionen abgeben bzw. anderen Staaten oder Organisationen ein Recht zu externer Kontrolle oder gar Intervention zubilligen würden. Normativ gewendet folgt daraus für eine Theorie legitimer transnationaler Herrschaft, dass Verfahren oder Einrichtungen zu etablieren sind, in denen gewährleistet ist, dass einerseits Signifikanten oder Verkettungen zur Geltung kommen (können), die nicht abschließend bestimmt werden (müssen und dürfen) und daher integrierend wirken können,

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Vgl. zu ähnlichen Analysen der Deutungsoffenheit von Menschenrechten, in denen aber klarer ermöglichende und begrenzende Aspekte des Bezugs auf sie herausgearbeitet werden, Vismann 1996 und Lohmann 2002.

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 311

während andererseits die Bedingungen des Zugriffs auf den Signifikanten bzw. dessen Deutung oder Verkettungsleistung so verteilt sein müssen, dass die Hegemonie für alle ausreichend ermöglichend und für einige nicht nur disziplinierend ist.36 Diese erste Variante einer Hegemonietheorie internationaler Beziehungen offeriert eine (im schlechten Sinn) spekulative Deutung der historischen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg, die in keiner Hinsicht zu überzeugen vermag. Erstens gelingt es ihr, wie schon der allgemeineren Theorie radikaler Demokratie, nicht zu erweisen, dass die Integrationskraft der Menschenrechte (wenn denn überhaupt angesichts des Anstiegs von Konflikten, in denen die [Durchsetzung der] Achtung von Menschenrechten selbst ein wesentlicher Konfliktgrund ist [Müller 2008], von einer solchen Integrationskraft auszugehen ist) auf deren Deutungsoffenheit beruht. Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 gab es viele Diskussionen, in denen Gehalt, Status und Reichweite der Menschenrechte erörtert wurden und die für die Wahrnehmung der Legitimität und Illegitimität von Handlungsweisen entscheidend waren (Cassese 2005: 375-398) – und daher auch durchaus als Motor für gewalttätiges Handeln begriffen werden können (und sei es in der Form, dass der UN-Sicherheitsrat Interventionen autorisiert hat oder andere kollektive Akteure, wie etwa die NATO, Menschenrechtsverletzungen als Berechtigung verstehen, die Autorität des Sicherheitsrats zu umgehen). Zweitens bleiben in diesem Ansatz die Akteure deskriptiv und normativ unterbestimmt, d.h. es wird nicht präzisiert, wer in welcher Weise Vor- und/oder Nachteile aufgrund der Offenheit der Menschenrechte hat bzw. was die „Integration durch die Deutungsoffenheit der Menschenrechte“ eigentlich über ein faktisches Machtgleichgewicht hinausgehend leistet (in der Sprache der Hegemo-

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Mit den letzten Ausführungen werden normative Konsequenzen aus der ersten Variante einer hegemonietheoretischen Analyse gezogen, die die Autoren selbst gewöhnlich in der Gestalt deskriptiver Zurückhaltung nicht ziehen. Die Konsequenzen gehen aber über deren Ansätze nicht wirklich hinaus, da im explikativen Gestus ersichtlich wird, dass hinter der Analyse durchaus die These steht, dass hier eine normativ begrüßenswerte Integration durch Dissens stattfindet. Vgl. zur ausführlichen Kritik Niederberger 2006a.

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

nietheorie gesprochen ist nicht erkennbar, welche Äquivalenzen gestiftet werden).37 In Verbindung mit dem ersten Einwand wird diese normative und deskriptive Schwäche des Ansatzes besonders deutlich, wenn etwa gefragt wird, welchen Bezug die vorgebrachten Thesen zur Rechtsprechung in den Staaten haben, in denen es zu rechtsdogmatischen Auslegungen der Menschenrechte mit entsprechenden Verpflichtungen bzw. Begründungspflichten von Legislativen und v.a. Exekutiven kommt.38 Internationale Politik ist kein rein symbolisches Spiel, sondern sie ist rückgebunden an die Handlungsmöglichkeiten und Kontrollen/Verantwortlichkeiten von Legislativen und Exekutiven innerhalb von Staaten.39 Drittens schließlich wird in keiner Weise klar, wie die normativen Konsequenzen, die – zugegebenermaßen über das, was die Autoren explizit sagen, hinausgehend – festgehalten wurden, in einer Struktur und in Verfahren inter- oder transnationaler Herrschaft umzusetzen sein könnten. Nimmt man z.B. die Kontingenzthese bezüglich der Signifikanten ernst, dann können politische Akteure oder Institutionen nur in äußerst eingeschränktem Maß auf die „Offenheit“ von Signifikanten zugreifen und auch die Weise des

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Die Aussage „Gemeinschaft und Gewalt schließen sich aus“ (Bonacker/Brodocz 2001: 202) ist entweder naiv und vereinfachend oder aber sie verharmlost (und verhöhnt) willentlich reale Menschenrechtsverletzungen bzw. den Missbrauch dieses Straftatsbestands zur Rechtfertigung eigener Gewaltanwendung. Hier zeigen sich in der Tat Deutungsdifferenzen. Diese Differenzen haben aber Auswirkungen auf Optionen und Rechtfertigungspflichten, die wiederum auf die internationalen Prozesse zurückwirken. Solche Effekte lassen sich z.B. beobachten, wenn man die Rechtfertigungen der bundesdeutschen und der US-amerikanischen Regierungen im Vorfeld des Krieges der NATO gegen Jugoslawien betrachtet. Während die Bundesregierung den Rekurs auf Menschenrechte vermeidet und stattdessen Gründe aus dem Humanitären Völkerrecht anführt, argumentiert die US-Regierung nur mit (v.a. politischen, d.h. in Selbstbestimmungsrechten bestehenden) Menschenrechten. Vgl. dazu auch die unterschiedlichen Referenzpunkte des öffentlichen Diskurses in Merkel 2000. Eine gute Darstellung der Prozesse, in denen vermeintlich symbolischer Austausch zu realen Verpflichtungen innerhalb von Staaten und zwischen ihnen führt, die durchaus im Widerspruch zu ursprünglichen Interessen und Absichten stehen können, bietet Nicole Deitelhoff in ihren Studien zur Genese des Internationalen Strafgerichtshofs. Vgl. Deitelhoff 2006: 157-279 und Deitelhoff 2007.

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 313

Zugriffs auf die Signifikanten, so sich denn hinreichend „leere Signifikanten“ zufällig gefunden haben, hängt weitgehend von den faktischen Leistungen politischer Akteure ab. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die erste Variante einer Hegemonietheorie weder deskriptiv noch präskriptiv überzeugend ist. Die zweite Variante einer Hegemonietheorie trans- oder internationaler Herrschaft deutet die internationalen Prozesse in der Perspektive der politischen Ökonomie. In ihren Augen hat spätestens die ökonomische Globalisierung40 dazu geführt, dass die Ausübung von Herrschaft innerhalb von Staaten das Wirken relevanter ökonomischer Akteure nicht mehr zu regulieren oder zu kontrollieren vermag. Deren Wirken reicht über die Staaten hinaus, weshalb sie die Differenzen zwischen den Staaten „missbrauchen“ können, oder ökonomische Akteure haben eigene Regulierungsinteressen (etwa bezüglich der Wechselkursstabilität oder der Rechtsgleichheit), die über die Einzelstaaten hinausreichen und daher von diesen als solchen oft nicht erfüllt werden können. Wiederum im Gegensatz zu klassischen marxistischen Ansätzen wird dabei nicht davon ausgegangen, dass sich politische oder rechtliche Strukturen automatisch als „Überbau“ zur Absicherung der Interessen der herrschenden ökonomischen Klasse herausbilden. Strukturen, die hegemonial die Durchsetzung relevanter Interessen erlauben, sind vielmehr das Resultat komplexer und z.T. langwieriger Entwicklungen, in denen es zu „Kompromissen“ kommt und Handlungsspielräume eröffnet werden, die einigen der Ausgangsinteressen durchaus entgegen stehen können (etwa in der Form, dass Nichtregierungsorganisationen ermächtigt oder bestehende Regulierungen in einzelnen Staaten geschwächt wer-

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Die Qualifikation der Globalisierung, die hier berücksichtigt wird, als „ökonomisch“ ist notwendig, da den nun dargestellten Ansätzen bei aller Distanzierung von ökonomistischen Varianten des Marxismus doch vorzuwerfen ist, dass sie die Globalisierung zu exklusiv als ökonomisches Phänomen betrachten und sozio-kulturelle sowie politische und völkerrechtliche Entwicklungen zu schnell als ideologische „Flankierung“ begreifen, die dem Zweck dient, politisches Kapital aus der ökonomischen Globalisierung zu ziehen. Vgl. zu einer solchen Restriktion auf ökonomische Prozesse etwa die Unterscheidung zwischen „globality“ und „globalism“ bei Brodie 2003: 47.

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

den) (Demirović 1997: 218-259; Bakker/Gill 2003b). Zudem sind diese Strukturen abhängig von allgemeinen sozio-kulturellen Voraussetzungen, wozu im Anschluss an die Forschung der AnnalesSchule und v.a. die Arbeiten Fernand Braudels der Begriff der Zivilisation ins Spiel gebracht wird (Cox 2002: 176-188). „Herrschaftsausübung“ ist in dieser Perspektive also notwendig, um den selbstdestruktiven Effekten (unterschiedlicher Teile oder Sphären) ökonomischer Prozesse sowie Faktoren entgegenzuwirken, die eine (im kapitalistischen Sinn) „optimale“ ökonomische Entwicklung verhindern. Solange diese Effekte und Faktoren v.a. im begrenzten Rahmen einzelner Staaten regulier- und kontrollierbar waren, konnten Strukturen und Verfahren der Herrschaftsausübung auf diese Staaten beschränkt werden (und es ergaben sich in diesem Kontext sozialstaatliche Kompromisse, die eine gewisse Demokratisierung der Gesellschaft erlaubten). Sobald die Effekte und Faktoren aber über die Staaten hinausreichen und zudem bestehende Regulierungen und Kontrollen in den Staaten unterminieren, müssen Strukturen und Verfahren inter- oder transnationaler Herrschaftsausübung etabliert werden (bzw. entstehen Tendenzen, die auf eine solche Etablierung hinwirken) (Robinson 2006: 167). In dieser doppelten Beschreibung von Regulierungs- bzw. Kontrollinteressen zeigt sich, dass diese Hegemonietheorien die Herausbildung inter- oder transnationaler Herrschaft nicht notwendig an intentionale Prozesse oder normativ gerechtfertigte Ziele knüpfen.41 Die Notwendigkeit von solcher Herrschaftsausübung ergibt sich vielmehr schon aus den (normativ nicht näher bzw. v.a. mit Blick auf die Profitmaximierung bestimmten) Interessen der ökonomischen Akteure, und ihre Faktizität resultiert aus dem Vermögen der Akteure, Regulierungen selbst zu etablieren. Hinsichtlich der Frage nach der Legitimität inter- oder transnationaler Herrschaftsausübung zeichnet sich so eine grundsätzlich andere Perspektive ab, als sie in den ersten beiden Unterkapiteln vorgefunden wurde. Die unterschiedlichen Theorien „negativen“ und „positiven Friedens“ gingen von einem

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Vgl. zu einer Darstellung der „Brüche“ (fractions) zwischen „Staat“ und „Markt“ einerseits und „produktivem Kapital“ und „Finanzkapital“ andererseits Gill/Law 1993: 99-102.

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 315

Primat der Staaten derart aus, dass es letztlich in deren Belieben steht, inter- oder transnationale Herrschaftsverhältnisse herauszubilden, dass es also einen (faktischen und/oder normativen) Vorrang etablierter Verfahren und Strukturen gibt. Die vorliegenden Hegemonietheorien bestreiten dies in der Art, dass ihrer Auffassung nach die ökonomischen Prozesse der Globalisierung zur Emergenz transnationaler Herrschaftsverhältnisse führen, die in gewissem Maß unabhängig davon sind, ob die etablierten Staaten deren Entstehen aktiv und affirmativ betreiben oder nicht. Diese Emergenzperspektive hat zur Folge, dass die Staatszentriertheit zurückgewiesen wird, die weiterhin die Mehrzahl der Ansätze im Bereich der internationalen Beziehungen kennzeichnet (Robinson 2006: 167-168). Zumindest momentan, so die Diagnose, ist die Herausbildung globaler Herrschaftsverhältnisse in relevanten Hinsichten nicht analog zum Entstehen moderner Staatlichkeit zu verstehen, bei dem die Entwicklungen des „Marktes“ und der „politischen Rahmung“ einander von Anfang an wechselseitig bedingten. Diese Disanalogie selbst auf der basalsten konzeptionellen Ebene hat wiederum eine ganze Reihe weiterer Konsequenzen: Erstens müssen die Handlungsverhältnisse adäquat erfasst werden, die im transnationalen Raum Gegenstand von Regulierung und Kontrolle (zumindest gemäß den Interessen der treibenden Akteure) sind. Hier stehen sich nicht primär Individuen gegenüber, sondern Firmen unterschiedlicher Größe und Reichweite, einzelne Staaten, die wie ökonomische Akteure Wettbewerbspolitik (im Sinn der Absicherung des größtmöglichen Anteils am ökonomischen „Profit“) betreiben, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, global operierende Medien etc. Zweitens lässt sich aufgrund der spezifischen Akteure, die involviert sind, und ihrer Heterogenität die Vorstellung der Ausübung von Hegemonie durch einen Staat oder eine Gruppe derselben (wie sie etwa im Begriff der pax americana zum Ausdruck kommt und wie sie in „realistischen“ Positionen gängig ist) nicht aufrechterhalten (Cox 1993: 264-265). Die bestimmenden Faktoren für die globalen hegemonialen Verhältnisse lassen sich nicht auf die Interessen oder die Politik eines Staates reduzieren (was nicht heißt, dass die Interessen und die Politik v.a. der größten

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5. Modelle globaler Ordnung diesseits der Republik

und ökonomisch bedeutendsten Staaten irrelevant sind). Und drittens schließlich ist von einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Regulierungs- und Kontrollmodi auszugehen, d.h. die emergierenden globalen Herrschaftsverhältnisse eignen sich nicht ohne Weiteres zu einer legitimen Umgestaltung, um die Kriterien zu erfüllen, die im ersten Teil dieses Buches entwickelt wurden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass aufgrund der differenten Modi eine (erneute) „Vermachtung“ von Handlungsverhältnissen zu beobachten ist (womit es letztlich doch signifikante Berührungspunkte zwischen realistischen/neo-realistischen Theorien internationaler Beziehungen und den Hegemonietheorien gibt). In zahlreichen Publikationen der letzten Jahre ist gerade angesichts der letzten Beobachtung, dass die globalen Herrschaftsverhältnisse durch die Perpetuierung von Dynamik und mehr oder minder offener Konfliktualität gekennzeichnet sind, vorgeschlagen worden, als Bezeichnung für den neuen Modus der Herrschaftsausübung auf die Begriffe des Empire oder Imperiums zurückzugreifen (womit auf die Herrschaftsverhältnisse im Römischen Imperium verwiesen werden soll und nicht auf die kolonialen oder imperialistischen Strukturen der Neuzeit, die durch eine klare Distinktion zwischen Zentrum und Peripherie charakterisiert waren) (Beck/Grande 2004: 81-146). Mit dem Begriff des Empire soll eine Form dezentraler Herrschaft erfasst werden, die ihre (vermeintliche) Legitimität nicht durch explizite und für alle sichtbare und zugängliche Strukturen und Verfahren erhält, sondern durch eine Logik des Sachzwangs, d.h. durch die angebliche Notwendigkeit und Angemessenheit bestimmter Reaktionen auf Konflikt- und Krisensituationen (weshalb auch die Beschreibung der Weise, in der der neue Regulierungs- und Kontrollmodus entsteht, als „Emergenz“ richtig ist).42 Herrschaftsausübung wird laut die-

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„Wie Thukydides, Livius und Tacitus lehren (und natürlich Machiavelli, wenn er ihre Schriften kommentiert), formt sich ein Imperium nicht auf der Grundlage von Gewalt, sondern aufgrund der Fähigkeit, den Einsatz von Gewalt als im Dienst des Rechts und des Friedens stehend darzustellen. [...] Das Empire entsteht nicht aus freien Stücken, es wird vielmehr ins Leben gerufen, konstituiert aufgrund seiner Fähigkeit zur Konfliktlösung. Das Empire formiert sich nur dann, sein militärischer Einsatz gilt nur dann als legitim und rechtens,

5.3 Hegemonie, Gegen-Hegemonie in globalisierter Ökonomie 317

sen Analysen gerade nicht durch das Ziehen von ab-, ein- und ausschließenden Grenzen ermöglicht, sondern durch die Unsichtbarkeit der Grenzen und die Probleme, die sich daraus für (potentielle) soziale und politische Akteure oder den Widerstand gegen die Herrschaftsausübung ergeben (Münkler 2005: 253-254). In diesem Modus der Herrschaftsausübung werden also qua Herrschaftsstruktur Machtdifferentiale relevant und ausschlaggebend für Interventionen bzw. Lösungen von Konflikten. Normativ werden aus der hegemonietheoretischen Beschreibung der globalen Herrschaftsausübung als Empire oder „governance without government“ sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. Für alle Stränge der Diskussion ist aber klar, dass das Modell der prozeduralen und gewaltenteiligen Ermöglichung der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit, wie es für Einzelstaaten entwickelt wurde, als Bezugspunkt ausscheidet. Transnationale Herrschaft lässt sich in der Perspektive der hier untersuchten Positionen nicht noch einmal in einer Struktur von legislativen Verfahren und institutioneller Gewaltenteilung legitim gestalten, da eine solche Struktur, selbst wenn sie realisierbar wäre, was die meisten der Ansätze bestreiten, kein Substitut für die erreichten Regulationen und Kontrollen darstellen und somit den funktionalen Erwartungen nicht gerecht würde, die die relevanten (ökonomischen oder Unsicherheit produzierenden)43 Akteure an sie richten. Die normativen Haltungen, die sich alternativ dazu ergeben, bewegen sich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite findet sich eine „skeptisch-realistische“ Position, die etwa Herfried Münkler vertritt und derzufolge die imperiale Realität an-

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wenn es bereits Teil der Kette von internationalen konsensuellen Übereinkünften ist, die auf die Lösung existierender Konflikte zielen.“ Hardt/Negri 2002: 31. Dieser Verweis auf die „Unsicherheit“ soll darauf hinweisen, dass es im Rahmen der Hegemonietheorien eine extensive Debatte über die Rolle des Terrorismus, der Neuen Kriege sowie ökologischer Bedrohungsszenarien gibt. Diese Unsicherheitsfaktoren werden dabei als Teil der „Dynamisierung“ der Sozialverhältnisse insgesamt verstanden, d.h. sie dienen – bei aller bedingten Kontrollierbarkeit – letztlich dem „Zweck“, den neuen Herrschaftsmodus zu plausibilisieren. Vgl. zu einer solchen Interpretation des 11. September 2001 Agamben 2001 und Negri 2001.

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zuerkennen ist, um sie gemäß der verbleibenden Möglichkeiten zu gewünschten normativen Zwecken nutzen zu können. Die Frage, ob transnationale Herrschaft in der Form des Empire etabliert werden soll oder nicht, stellt sich dieser Auffassung zufolge nicht. Es ist nur darüber zu befinden, wer sich wie in den Herrschaftsverhältnissen zur Geltung zu bringen vermag. Es sind daher die Mechanismen imperialer Herrschaft zu verstehen und v.a. mit dem Ziel zu „manipulieren“, das grundlegende Sicherheitsbedürfnis als der (vermeintlich) entscheidenden modernen Leistung von Staaten zu erfüllen (Münkler 2002: 207-243; Münkler 2005: 9-10). Auf der anderen Seite wird mit einer Kombination von Gedanken Spinozas, Gramscis und Deleuzes die Unterbestimmtheit hegemonialer Formationen betont und daraus die Möglichkeit von Gegen-Hegemonien bzw. zumindest von Bewegungen abgeleitet, die Hegemonien zu destabilisieren und zu revidieren vermögen. Wiederum unter Betonung der Unumgänglichkeit der Existenz globaler Herrschaftsverhältnisse eröffnet dies durchaus Perspektiven für die globale Revolutionierung dessen, was in der Herrschaftsausübung durch- und umgesetzt wird und werden kann (solange die Revolution nicht mehr als „Aufhebung“ der „ungerechten“ Verhältnisse, sondern als Perpetuierung der Umwälzung gegebener Bedingungen gedacht wird). Michael Hardt und Toni Negri haben so unter dem Deleuze entlehnten Titel der „Multitude“ einen Akteur ausgezeichnet, der dadurch positive und wünschenswerte Effekte herbeiführt, dass er wesentlich in reiner Negativität verharrt und sich bestehenden Regulations- und Kontrollmechanismen entzieht oder ihnen gar widersteht (Hardt/Negri 2004: 99227). Legitimität reduziert sich also in beiden normativen hegemonietheoretischen Ansätzen auf ein Moment der Manipulier- oder Irritierbarkeit hegemonialer Formationen, auf ein „Wenigerschlecht-Sein“ bzw. eine gewisse Offenheit derselben. Freiheit mag als entferntes Ideal noch einen Sinn haben, in der konkreten Reaktion auf die Emergenz des Empire geht es aber nicht mehr um die Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit. Muss also, wie auch immer die genaue normative Perspektive schließlich aussieht, anerkannt werden, dass die Realität von Herrschaftsverhältnissen jenseits von Staaten es unmöglich macht, dass

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die freiheitstheoretische Argumentation des ersten Teils dieses Buches hinsichtlich der inter- oder transnationalen Verhältnisse fortgeführt wird? Und wird vielleicht die gesamte Argumentation des ersten Teils dadurch fragwürdig, dass die globale Hegemonie derartige Auswirkungen auf Staaten hat, dass diese (z.B. in der Form eines „nationalen Wettbewerbsstaats“ [Hirsch 1995]) mittelund langfristig ihre Gestalt wesentlich verändern müssen, wenn sie weiterhin bestehen wollen oder sollen? Die hegemonietheoretischen Ansätze arbeiten richtigerweise heraus, dass die „konstruktivistische“ Perspektive, die die realistisch-staatszentrierten oder gerechtigkeitstheoretischen Herangehensweisen wählen, die zunächst betrachtet wurden, schon deshalb nicht zu überzeugen vermag, weil unter Bedingungen der Globalisierung und der immensen Bedeutung ökonomischer Prozesse und Akteure für alle Staaten die Option, die trans- und internationalen Handlungsverhältnisse nicht zu regulieren und zu kontrollieren, gar nicht besteht. Kapitalistische Ökonomien bedürfen schon aufgrund ihrer spezifischen Dynamiken und internen Konfliktualität der Regulation und Kontrolle, so dass es zu diesen auch dann kommt, wenn originär politischen Akteuren, wie etwa „Staaten“, Legislativen oder Exekutiven, der Wille fehlt, solche Verhältnisse einzurichten. Diese richtige Einsicht belegt aber noch nicht die weitergehende These, dass durch den (zunächst) ökonomischen Ausgangspunkt der transnationalen Herrschaftsverhältnisse deren Form und Entwicklung so festgelegt ist, dass der Bezug auf die republikanische freiheitstheoretische Bestimmung normativer Grundlagen legitimer Herrschaft aussichtslos wird. Viele Kritiker haben in diesem Sinn den hegemonietheoretischen Ansätzen internationaler Beziehungen vorgeworfen, dass dem Willen und der Kontingenz der Interessen ökonomischer Akteure (im Widerspruch zu zahlreichen [post-]strukturalistischen und post-marxistischen Annahmen, die gemacht werden, d.h. Annahmen, die sich gegen eine Überbetonung von Intentionalismus und Ökonomismus richten) zu viel Bedeutung beigemessen wird. Es gelingt den Autoren letztlich nicht, einen Grund dafür anzugeben, warum sich nicht analog zur modernen Staatlichkeit auch globale Sphären relativer Autonomie herausbilden sollten, die es erlauben, die ökonomischen Hand-

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lungsverhältnisse unter anderen Rücksichten zu regulieren und zu kontrollieren, als diejenigen, die bei den ökonomischen Akteuren selbst im Zentrum stehen (Scherrer 1998). In diesem Kontext ist auch festzuhalten, dass die innerstaatlichen Verhältnisse und die Rolle der Außenbezüge in Staaten zu wenig berücksichtigt werden. Bei aller Berechtigung der Kritik an der Staatszentriertheit ist doch nicht zu vernachlässigen, dass die Staaten weiterhin wesentlich an der Schaffung und den Operationsweisen inter- und transnationaler Organisationen und Einrichtungen beteiligt sind und dass es nur wenige supranationale Institutionen oder Akteure gibt, die nicht in entscheidenden Hinsichten auf das Handeln und die Unterstützung einzelner Staaten setzen. Genausowenig wie innerhalb von Staaten jemals Eliten allein und allein ihrem Willen gemäß politische oder sozio-ökonomische Verhältnisse einrichten konnten, genausowenig ist dies auch im transnationalen Raum möglich. Dies soll nicht besagen, dass daher die transnationalen Verhältnisse schon normativ unbedenklich sind, es weist aber darauf hin, dass die Beiträge einzelner Staaten (und d.h. auch der Entscheidungen, die in den Verfahren zustande kommen, die innerhalb der Staaten etabliert sind) zur Entwicklung dieses Raums mit zu berücksichtigen sind und dass auch die Rede von den „relevanten ökonomischen Akteuren“ einer Präzisierung bedarf. Große multinationale Konzerne sind nicht die einzigen relevanten Akteure und sie bilden auch keine homogene Gruppe mit in allen Hinsichten identischen Interessen bzw. mit einer Omnipotenz, die allen Widerständen zu trotzen vermag. Die „critical theories of world order“ stellen bei allen Problemen, die dazu führen, dass sie letztlich nicht überzeugend sind, in der Reihe der Ansätze, die in diesem Kapitel erörtert wurden, sicherlich die wichtigste und interessanteste Herausforderung für eine freiheitstheoretische Begründung legitimer Herrschaft jenseits von Staaten dar. Sie präsentieren nämlich eine These, die gleichzeitig eine deskriptive und eine normative Dimension hat: Globale Herrschaftsverhältnisse bilden sich faktisch heraus, so die Behauptung, weil es relevante und hinreichend befähigte Akteure mit ökonomischen (also nicht [primär] freiheitsverbürgenden oder -ermöglichenden) Interessen an einer solchen Herausbildung gibt.

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Auch die politischen Kämpfe, zu denen diese Herausbildung von Herrschafts- oder besser: Beherrschungsverhältnissen führt, sind wesentlich auf die sozio-ökonomischen Strukturen und die Bedingungen für die Realisierung unterschiedlicher „vor-politischer“ Lebensformen bezogen. Selbst wenn also, so ließe sich schlussfolgern, eine freiheitstheoretische Grundierung globaler Herrschaft denkbar wäre, so erscheint diese doch als eine Alternative, die – zumindest in der gegenwärtigen Situation – weder deskriptiv noch normativ nahe liegt – womit der Begründungsaufwand für eine freiheitstheoretische Argumentation deutlich erhöht wird: Was wird mit Blick auf die ökonomischen Herrschaftsverhältnisse gewonnen, wenn Verfahren, Strukturen und Einrichtungen geschaffen und erhalten werden, die es global ermöglichen sollen, Freiheit positiv auszuüben und negativ abzusichern? Können solche Verfahren etc. wirklich an die Stelle der Regulationen und Kontrolle treten, die derzeit etabliert werden? Und wie kann eine freiheitstheoretische Erörterung legitimer Herrschaftsverhältnisse jenseits der Staaten vermeiden, in der Form einer Ideologie reale Interessens- und Beherrschungsverhältnisse zu verdecken?

6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten und zwischen ihnen Die Ansätze, die im vorhergehenden Kapitel untersucht wurden, bestreiten, dass die Ausübung legitimer Herrschaft jenseits von Einzelstaaten zulässig oder notwendig ist oder einen republikanisch verstandenen Freiheitsbegriff als normative Grundlage haben sollte oder kann. In der Diskussion der jeweiligen Argumentationen konnte gezeigt werden, dass sich die angeführten Thesen nicht verteidigen lassen. Es ist notwendig, Strukturen legitimer Herrschaft auch jenseits der Staaten zu etablieren, und es spricht zunächst nichts dagegen, dass für diese Strukturen dieselbe freiheitstheoretische Grundlage gelten kann, wie für die innerstaatlichen Strukturen. Wenn hier nicht dieselbe freiheitstheoretische Grundlage zur Anwendung kommen können sollte, dann müsste dies aus der freiheitstheoretischen Argumentation selbst heraus begründet werden, aber es kann ihr nicht von Außen entgegengehalten werden. Trotz dieser Zurückweisung der untersuchten Ansätze hat sich aber eine Reihe von Punkten ergeben, die in der Bestimmung der Bedingungen und Strukturen legitimer Herrschaft jenseits der Staaten zu berücksichtigen sind: So ist erstens noch ungeklärt, wie weit die Analogie zwischen den Einzelstaaten und der trans- bzw. internationalen legitimen Herrschaft reicht, d.h. ob für letztere die Erwartungen auch auf eine rechtsstaatliche Demokratie hinauslaufen und was dies dann wiederum für die Einzelstaaten und deren Weiterbestehen bedeutet. Zweitens wurde ersichtlich, dass sich im zwischenstaatlichen Verhältnis bzw. im Raum jenseits der Staaten Probleme ergeben, die Herausforderungen für die Theorie legitimer Herrschaft darstellen, die im ersten Teil des Buches noch nicht (adäquat) thematisiert wurden. So ist z.B. unklar, wie in Staaten bzw. in Einrichtungen zwischen oder über ihnen mit Auswirkungen staatlichen Handelns auf andere

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

(Staaten) umzugehen ist. Und drittens schließlich bleibt zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen eine Theorie legitimer Herrschaft jenseits der Staaten die besonderen Macht- und Hegemoniephänomene zu adressieren vermag, die sich spätestens unter Bedingungen ökonomischer Globalisierung1 ergeben. Es ist also zu fragen, wie in freiheitstheoretischer Perspektive mit Phänomenen der Beherrschung umzugehen ist, die sich nicht auf Akteure innerhalb von Staaten beschränken, sondern durch Akteure bzw. Strukturen zustande kommen, die Staaten überschreiten oder grundsätzlich jenseits von ihnen lokalisiert sind und dennoch gravierend in die Optionen der Einzelstaaten eingreifen. Die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Krieges sind vielfältig und haben ebenso vielfältige Reaktionen hervorgerufen.2 In der Phase der Blockkonfrontation und Dekolonisierung war – bei allem Etablieren und Bestehen supranationaler Organisationen und zwischenstaatlicher Konfliktszenarien – der Aufbau von Einzelstaatlichkeit, z.T. in der Form von weitreichender Wohlfahrtsstaatlich-

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Die Phänomene, die unter dem Titel „Globalisierung“ zusammengefasst werden, können hier nicht im Detail betrachtet und bewertet werden, selbst wenn der Verweis auf globalisierte Verhältnisse in fast allen Modellen, die im zweiten Teil dieses Buches diskutiert werden, wie schon das vorhergehende Kapitel andeutete, zentral ist und zweifelsohne unterschiedliche Verständnisse von Globalisierung Auswirkungen auf die Zielbestimmung und Ausgestaltung jeweiliger Modelle haben. Um die Unterschiede zwischen den Legitimitätstheorien zu verstehen, ist es aber nur in dem Maß notwendig, die Details von Globalisierungsanalysen zu berücksichtigen, wie aus Beschreibungen von Vorgängen Gründe für die Kritik bzw. die Gebotenheit von Vorschlägen gewonnen werden. Im Allgemeinen reicht es hin, wenn man mit Saskia Sassen davon ausgeht, dass mit „Globalisierung“ sowohl das Bestehen von Handlungstypen, Institutionen und Organisationen, die mehrere Staaten umfassen oder überwölben, als auch die Existenz von Interessen, Handlungsformen bzw. Voraussetzungen für die Realisierung von Interessen und Handlungen beschrieben wird, die nicht durch das politische Gefüge von Einzelstaaten konstituiert sind. Globalisierung erfasst somit gleichermaßen Handlungsverhältnisse, die Staaten per se überschreiten, und Veränderungen in den innerstaatlichen Handlungsverhältnissen (Sassen 2007: 5-6). Zu einem detaillierteren Überblick über die Globalisierungsforschung vgl. Held/McGrew 2000, Held/McGrew 2007. Eine Darstellung relevanter Entwicklungen und theoretischer sowie politischer Reaktionen darauf bieten Lechner/Boli 2003.

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keit oder zumindest einhergehend mit keynesianisch inspirierter nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik zentral (Rosanvallon 1990: 243-268; Wagner 1995: 119-182). Im Übergang von dieser Phase zu den gegenwärtigen Verhältnissen kam es zu einem Bedeutungszuwachs inter- und transnationaler Einrichtungen, Strukturen und Medien, symbolisiert in der Rolle des UN-Sicherheitsrates in den zahlreichen militärischen Konflikten seit der Invasion Iraks in Kuwait 1990, in der Umbenennung der Europäischen Gemeinschaften in die Europäische Union sowie in der omnipräsenten Debatte über das Wirken transnationaler Unternehmen. Diese Veränderungen in den sozio-ökonomischen und politischen Gegebenheiten spiegeln sich auch in einer wachsenden Menge von Vorschlägen, wie Herrschaft jenseits der Staaten gestaltet sein könnte oder müsste, um die positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit zu ermöglichen, wie sie im ersten Teil dieses Buches als normative Grundlage für Legitimität vorgestellt wurde.3 Die Differenzen zwischen den verschiedenen Ansätzen, die in den letzten zwei Dekaden vorgebracht wurden, konzentrieren sich im Wesentlichen auf drei Punkte. Bei diesen Punkten verschränken sich jeweils systematisch-normative und deskriptive Aspekte, und es zeigt sich in ihnen, dass die Herausforderungen, die im Anschluss an das vorhergehende Kapitel konstatiert wurden, durchaus die Kontroversen bestimmen: Erstens gibt es unterschiedliche Auffassungen über den Konnex zwischen den demokratisch-rechtsstaatlichen Ansprüchen, die zuvor formuliert wurden, und der Form der Staatlichkeit, die sich historisch entwickelt hat. Hieraus resultieren die Anschlussfragen, wie weit sich die legitime Herrschaftsausübung jenseits der Staaten an staatliche Strukturen annähern muss und kann bzw. ob und in welchem Maß die neuen Formen transnationaler politisch-institutioneller Ordnung und internationalen oder gar globalen ökonomischen und politischen Handelns, die zur Erscheinung gekommen sind, zulässig sind und sich als Ausgangspunkt eignen. Zweitens divergieren die Interpretationen dessen, was mit Blick auf die Verhältnisse jenseits

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Vgl. exemplarisch für die Vorschläge und Diskussionen, die sich daran angeschlossen haben, die Sammelbände Anderson 2002, Archibugi 2003, Chatterjee 2004, De Greiff/Cronin 2002 und Gibney 2003.

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der Staaten darin impliziert ist, dass legitime Herrschaftsverhältnisse es ermöglichen sollen, dass Freiheit positiv ausgeübt und negativ abgesichert wird bzw. werden kann. In diesen Auseinandersetzungen wird einerseits darüber gestritten, wie das wechselseitige Verhältnis von Ausübung und Absicherung der Freiheit in der Spannung zwischen unterschiedlichen Ebenen der Herrschaftsausübung genau zu verstehen ist, während andererseits debattiert wird, unter welchen Bedingungen von positiver Ausübung von Freiheit zu reden ist bzw. welche Projekte, Interessen etc. im inter- und transnationalen Raum von Relevanz sind. Drittens gibt es starke Variationen in der Bestimmung von Idealität und NichtIdealität (d.h. in der „Idealisierung“ faktischer historischer Entwicklungen bzw. der Zurückweisung vermeintlich „essentialistischer“ Deutungen derselben) und damit zusammenhängend der Verortungen fraglicher Ansätze zwischen diesen Polen. Dabei spielen sowohl unterschiedliche systematisch-argumentative Herangehensweisen (inklusive disziplinär-methodologischer Lokalisierungen zwischen Philosophie, Politik- und Rechtswissenschaft), wie auch voneinander abweichende Beschreibungen historischer Entwicklungen bzw. des erreichten Standes eine wichtige Rolle. Eine ausführliche Erörterung aller Ansätze in ihren deskriptiven, systematisch und methodologisch relevanten Details würde das hier Leistbare deutlich überschreiten. Es sollen deshalb in der Folge drei Ansätze unterschieden und in zugespitzter Weise diskutiert werden, d.h. fokussiert auf die Frage, ob jeweils eine adäquate Interpretation der rechtsstaatlich-demokratischen Grundlagen und deren Ausweitung bzw. Anwendung auf den Raum jenseits der Staaten geboten wird. Gemäß der einschlägigen Kontroversen, die die zuvor genannten zentralen Differenzen zum Ausdruck bringen, werden zunächst Ansätze präsentiert, die überzeugt sind, dass sich im Gegensatz zur Argumentation für den Übergang von Macht zu Herrschaft in den Staaten eine Institutionalisierung der transnationalen Herrschaft erübrigt, dass also auf den Transfer der Rechtsstaatlichkeit in diesen Raum verzichtet werden kann. Stattdessen, so die These, ist davon auszugehen, dass Herrschaftsverhältnisse in der Form eines Marktes (und seiner Selbsterhaltungsbedingungen) oder zivilgesellschaftlicher Selbststeuerung hinrei-

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chen (6.1). Im Anschluss daran, aber dennoch wesentlich darüber hinausgehend vertritt ein zweiter Ansatz die Position, dass die Ausweitung oder Übertragung der Instanzen, die die Rechtlichkeit der Rechtsstaatlichkeit innerstaatlich garantieren, oder eine Kreation bzw. Verstärkung bestehender internationalen Rechtsinstitutionen geboten ist, wenn die Herrschaftsausübung qua Weltmarkt oder globaler Zivilgesellschaft legitim sein soll. Hier wird also die Auffassung vertreten, dass diese Einrichtungen notwendig (und gemeinsam mit dem Markt und der Zivilgesellschaft hinreichend) sind, um legitime transnationale Herrschaft zu etablieren und zu erhalten (6.2). Nachdem mit diesen Ansätzen Positionen eingeführt und untersucht wurden, die beanspruchen, im transnationalen Raum Alternativen zu staatlicher Herrschaftsausübung identifizieren zu können, werden im Anschluss daran Theorien präsentiert, die die Weiterentwicklung des „innerstaatlichen“ Republikanismus zu einem transnationalen oder globalen Republikanismus in unterschiedlich starken und weitreichenden Formen der Staatlichkeit konzipieren. Dabei werden das Modell einer Staatenkonföderation, dasjenige zentraler Weltstaatlichkeit sowie schließlich unterschiedliche Ansätze föderaler Weltstaatlichkeit untersucht (6.3).

6.1 Legitimität durch Dezentralität: Modelle marktförmiger, systemisch-ökonomischer oder zivilgesellschaftlicher Integration Das Ende des Kalten Krieges hing zweifelsohne weniger mit einem politisch-militärischen Sieg des Westens zusammen, als mit ökonomischen Entwicklungen sowie der grundlegenden Transformation der Politik und dem Aufkommen neuer und anderer politischer Akteure, die, wenn auch unterschiedlich stark, im Osten und im Westen gleichermaßen beobachtbar und von Relevanz waren. Angesichts dieser Faktoren ist es nicht überraschend, dass sich die Ausrichtung der politischen Philosophie und Theorie auf den Staat, wie er sich in der Moderne herausgebildet hat, starker Kritik ausgesetzt sieht und dass ökonomischen Strukturen oder Akteuren bzw. der Zivilgesellschaft größere Bedeutung beigemessen

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wird, als es bislang üblich war. Hierbei wird nicht nur die systematisch-begriffliche Verbindung von Staatlichkeit und Demokratie bzw. Freiheitsausübung und -sicherung bestritten, sondern es wird auch darauf hingewiesen, dass der Staat in vielen Fällen die Freiheit gerade nicht garantiert, sondern bedroht hat.4 Der Ausübung von Herrschaft jenseits der Staaten kommt somit von Beginn an eine doppelte Funktion zu: einerseits soll diese Herrschaft es ermöglichen, dass Freiheit im Raum jenseits der Einzelstaaten ausgeübt und abgesichert wird, andererseits soll sie aber die Bedingungen verstärken, die es in den Staaten bzw. in den grundsätzlichen, normativ relevanten Hinsichten ermöglichen, Freiheit auszuüben und abzusichern. Eine Theorie legitimer Herrschaft stellt in dieser Perspektive nicht nur eine Erweiterung der bislang entwickelten Legitimitätstheorie dar, sondern sie wird als notwendige Ergänzung des grundlegenden Begründungsaufwands begriffen. Der freiheitstheoretische Ausgangspunkt der Argumentationen für eine Bestimmung von legitimer Herrschaftsausübung in der Form des „Marktes“ oder der Zivilgesellschaft ist die These, dass das Ziel, es zu ermöglichen, dass Freiheit positiv ausgeübt werden kann, dann am Besten realisiert wird, wenn denjenigen, die die Freiheit ausüben wollen und sollen, dort, wo sie Freiheit am effizientesten bzw. direktesten ausüben können, sie auch wirklich ausüben können. Wie die Ausführungen im ersten Teil gezeigt haben, lässt sich die Freiheit, deren Ausübung ermöglicht und gesichert werden soll, nicht auf politische Freiheit im engeren Sinn, d.h. auf die aktive Teilhabe an politischen Verfahren und Strukturen reduzieren. Die Projekte, Interessen und Ziele, um deren Realisierung es in der Ausübung von Freiheit geht, hängen vielmehr eng mit den allgemeinen (sozio-ökonomischen und kulturellen) Zielen zusammen, die Menschen in ihrem Leben verfolgen. Nimmt man diesen „liberalen“ (weil durchaus auf einen vor- und außerpolitischen Raum des Handelns bezogenen) Kern des nichtpolitizistischen Republikanismus ernst, dann ist das Interesse an den Verfahren und Strukturen – selbst wenn ihnen in der Pers-

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Vgl. mit Blick auf den Zusammenhang von moderner Staatlichkeit und militärischer Gewalt Kaldor 2003: 119-128, zu Grenzen der Demokratie, die der Staat mit sich gebracht hat, vgl. Buckel/Fischer-Lescano 2008.

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pektive der Legitimität der Primat zukommt – abhängig davon, dass entsprechende Projekte etc. verfolgt werden. Der Durchgang durch die Verfahren und Strukturen ist notwendig, da nur so sichergestellt wird, dass gewünschte und erforderliche Koordinationsleistungen garantiert werden können, ohne dass auf diese Weise jemand durch andere Akteure oder Institutionen beherrscht wird. Die Frage, die im Anschluss daran aufgeworfen wird, ist diejenige, ob unter den Titeln des Marktes und der Zivilgesellschaft nicht Äquivalente für die genannte Sicherstellung identifiziert werden können, die deshalb Formen der Staatlichkeit vorzuziehen sind, weil sie es erlauben, die Nachteile zu vermeiden, die sich in den Phänomenen des Militarismus und Nationalismus in der Entstehung der modernen Staaten gezeigt haben (Black 2002, Gellner 2006) und die v.a. bei der Replikation von (Elementen der) Staatlichkeit auf Weltebene zu erwarten wären. Die Argumente für den Markt oder die Zivilgesellschaft als Äquivalent sind aber nicht dieselben, und in den Argumentationen wird auch nicht jeder Aufgriff von Staatlichkeit negiert. Denn sowohl der Markt als auch die Zivilgesellschaft bedürfen einiger Institutionen, die ihr richtiges Funktionieren sicherstellen bzw. erst verstehbar machen, warum der Rekurs auf den Markt oder die Zivilgesellschaft plausibel sein könnte.5 Spätestens seit den Schriften von Ökonomen des 18. Jahrhunderts, wie Adam Smith, wird der Markt als Mechanismus verstanden, der Handlungskoordination erlaubt, ohne dass den Handelnden direkt eine Motivation zur Koordination zugeschrieben werden muss (Polanyi 1978). Auf Märkten können Akteure (vermeintlich) egoistisch handeln, und ihre egoistische, aber erfolgsorientierte Perspektive hat zur Konsequenz, dass sie ihre Handlungsziele mit den Zielen und Interessen anderer abstimmen bzw. sie modifizieren, um Widerstände zu umgehen (O’Neill 1998: 53-63). Märkte können somit prima facie die Bestimmungen eines Herrschaftsverhältnisses erfüllen, da in ihnen die Akteure in Relationen zueinander gesetzt werden, auf deren

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Michael Zürn verweist so darauf, dass Prozesse der Stärkung und Vertiefung internationaler Institutionen wesentliche Gründe für das Aufkommen und die Aktivität transnationaler zivilgesellschaftlicher Akteure darstellen (Zürn 2006: 32-38).

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Konstitution und Erhaltung sie keinen Zugriff haben. Auch wenn es zunächst so aussehen mag, als würden mit dem Begriff des „Marktes“ Relationen, die sich durch Macht und Ressourcendifferentiale ergeben, kurzerhand umbenannt, so insistiert die Verteidigung des Marktes doch oft darauf, dass sich Märkte nicht naturwüchsig ergeben, sondern durchaus von Institutionen abhängen, die sicherstellen, dass die wechselseitigen Interessen von Akteuren aneinander nicht einfach zur Nötigung des einen durch den anderen, also zu Beherrschung führen (Fligstein 2001: 27-66). In der Phase des Keynesianismus nach dem 2. Weltkrieg war bei aller Durchsetzung von „Marktwirtschaften“ das Vertrauen in den Markt als Form minimaler Herrschaftsverhältnisse nicht sehr ausgeprägt. Unter den Annahmen gravierender Disparitäten hinsichtlich der Ausstattung mit Ressourcen und Gütern sowie der Dysfunktionalitäten durch konkurrierende Logiken in unterschiedlichen Teilen der Ökonomie wurde der Bezug auf den Markt (paradoxerweise) zu einem wesentlichen Grund für die Rechtfertigung staatlichen Wirkens. Ein fundamentales Problem, das das Vertrauen auf den Markt untergräbt und das sogar viele seiner Apologeten zugestehen müssen, besteht nämlich darin, dass unter den gegebenen Verhältnissen der Markt aufgrund ungleicher Ressourcenverteilung in der Tat nicht adäquat funktionieren kann. Daraus resultiert die Frage, auf welchem Weg die Umverteilung bzw. Ausstattung vorgenommen werden sollte, die die erforderlichen gleichen Startbedingungen gewährleisten könnte, worauf als Antwort in der Phase des Keynesianismus gewöhnlich der Staat mit seiner Mischung von Wirtschafts- und Sozialpolitik angeführt (und faktisch genutzt) wurde (Cornwall 1993, Peacock 1993). Die Globalisierung der ökonomischen Strukturen hat viele der systematischen Vorbehalte gegenüber dem Markt, die von Befürwortern und Gegnern des Marktes geteilt wurden, obsolet gemacht und zumindest für die Befürworter neues Vertrauen in Herrschaftsausübung in der Form des Marktes gestiftet (Backhouse 2005). Die gewollte oder ungewollte „Liberalisierung“ der globalen Ökonomie hat nämlich zur Folge, dass Koordinationen von Handlungen zum Verfolgen eigener Ziele und Interessen nicht mehr auf Einzelstaaten beschränkt sind, sondern Akteure sich in

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unterschiedlichen Kontexten bewegen können, um dort durch die Abstimmung mit anderen Akteuren ihre Interessen zu realisieren. Daraus ergibt sich, so die Annahme, dass die Disparitäten nicht mehr in gleichem Maß das Funktionieren des Marktes verzerren, wie es innerhalb einzelner Staaten zu konstatieren war, da im globalen Markt durch neue Kommunikationsmöglichkeiten sowie geringe Transport- und Interaktionskosten Interessensaggregationen auf niedrigerem quantitativen Niveau und im gesamten globalen Raum möglich sind. Individuen oder Gruppen, die innerhalb eines Staates bislang kaum in der Lage waren, ihre Interessen gegen andere Interessen oder in Abstimmung mit letzteren durchzusetzen, können nun die Kooperation mit anderen Individuen und Gruppen suchen, die eventuell bisher ähnlich schwach waren oder aber ähnliche Interessen verfolgen.6 Und selbst Kritiker der Liberalisierung des Weltmarktes müssen oft zugestehen, dass diese Entwicklungen es nicht immer einfach machen, Gewinner und Verlierer auszuzeichnen (Sassen 2007: 164-212; Stiglitz 2002: 180-194). Es lässt sich also durchaus argumentieren, dass die marktförmige Gestaltung globaler Verhältnisse (zumindest für einige, die bislang eher zu den Verlierern gehörten) zu einem Gewinn an Möglichkeiten führen kann, „Freiheit“ positiv auszuüben. Aber genügt dies den anspruchsvollen Implikationen des Freiheitsbegriffs, die zuvor entfaltet wurden? Ein nahe liegender Einwand ist, dass eine solche Verteidigung des Marktes nicht darüber hinauskommt zu behaupten, dass sich letztlich eine Ressourcenkonstellation ergeben wird, die aufgrund der Größe des Raumes und der Menge der Marktteilnehmer dazu führt, dass alle – so sie prinzipiell zur Kooperation bereit (und d.h. unter Bedingungen der Globalisierung hinreichend „mobil“ und „flexibel“ [Pühl 2003]) sind – einigermaßen in der Lage sein werden, ihre Interessen und Ziele zu verfolgen. Für niemanden ist aber garantiert, dass er seine In-

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Die Beispiele, die als Beleg hierfür angeführt werden, sind die Diversifizierungstendenzen von Produkten bzw. der ökonomische Erfolg von Produkten, die nicht oder noch nicht in Massenproduktion erzeugt werden (sogenannte Nischenökonomien), sowie der Erfolg von vermeintlich „strukturschwachen“ Gebieten, wie etwa Irlands in der EU oder einiger der südostasiatischen Staaten (Mosley 2007: 110-116; Prior/Sykes 2001).

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teressen und Ziele verfolgen kann, und v.a. kann sich niemand sicher sein, dass die anderen ihn, wenn sie ihre Interessen und Ziele verfolgen, nicht beherrschen werden. Die Marktverteidigung weist diesen Einwand zurück, indem sie darauf hinweist, dass auch ein Weltmarkt zum Erhalten seines marktförmigen Funktionierens einiger Institutionen bedarf, die – allerdings im Unterschied zum demokratischen Rechtsstaat und dessen Generierung von Entscheidungen in legislativen Verfahren (inklusive der Befähigung zur Teilhabe an diesen Verfahren) nur negativ – regulierend und korrigierend in das Marktgeschehen eingreifen. Von einem Markt ist nämlich nur dann zu reden, wenn sich die Aggregationen durch das Interagieren ergeben und nicht schon durch eine Ressourcenund Bedürfnisverteilung vorher festgelegt sind. Die Institutionen müssen also sicherstellen, dass es weder zu Verknappungen von Ressourcen zu dem Zweck kommt, dass die eigenen Ressourcen oder Produkte an Bedeutung gewinnen, noch eine Monopolisierung von Ressourcen oder Produkten stattfindet, die die Interaktionsoptionen von Marktteilnehmern reduziert. Zudem muss der Primat des Marktes darüber etabliert werden, dass die Marktteilnehmer daran gehindert werden, Absprachen über ihr Marktverhalten zu treffen, da sie so sich selbst unzulässige Vorteile auf dem Markt verschaffen können und Absprachen insgesamt dazu führen können, dass der Markt nur auf strategischem Handeln aufruht. Aufgrund dieser Eingriffe in faktische Interessens- und Ressourcenkonstellationen ermöglicht der Markt nicht nur die positive Ausübung von Freiheit, sondern, so die Widerlegung des Einwandes, er sichert auch negativ die Freiheit der Marktteilnehmer. Formal lässt sich somit die Marktverteidigung durchaus so verstehen, dass der Markt die zentralen Anforderungen an legitime Herrschaft erfüllen kann und daher der Weltmarkt bei allen deskriptiv-politischen Vorbehalten gegenüber der Realität von Märkten und v.a. des Weltmarktes, wie er sich gegenwärtig darbietet (die aber auch gegenüber jedem „staatlicheren“ Modell etwa in der Form des Verweises darauf, dass „mächtigere“ Akteure internationale Institutionen zur Absicherung ihrer „nationalen Interessen“ gebrauchen, vorgebracht werden könnten), eine interessante Alternative zu sein scheint. Die formale Analogie reicht aber –

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selbst wenn man von der Kritik an faktischen Märkten bzw. der Rolle des Weltmarktes in der ökonomischen Globalisierung absieht – in verschiedenen Hinsichten nicht hin, um den entwickelten freiheits- und legitimitätstheoretischen Anforderungen gerecht zu werden: Erstens sind die Weisen, in denen im präsentierten Marktmodell die Aggregation von Interessen stattfindet, viel zu unbestimmt, als dass klar werden könnte, ob und wenn ja wie in der Interaktion auf dem Markt Freiheit positiv ausgeübt wird bzw. werden kann. Wie hat man sich die Interaktionen vorzustellen, d.h. vollziehen sie sich primär monetär (womit sie von personalen Interaktionen abgelöst wären) oder gibt es auch andere, direktere Arten der Interaktion (woraus sich die weitere Frage ergeben würde, wer die Bedingungen für solche Interaktionen garantiert, wenn dazu etwa ein Ortswechsel nötig ist oder kognitive Kompetenzen erforderlich sind)? Hieraus ergibt sich zweitens der weitere Einwand, dass das Marktmodell unplausiblerweise eine interpersonale Interaktionsvorstellung zur Explikation der Prozesse zwischen z.T. extrem heterogenen Akteuren gebraucht. Ein transnationales Unternehmen und ein Mensch in Südamerika stimmen ihre Interessen und Optionen nicht wie zwei Eheleute miteinander ab, die sich uneinig darüber sind, ob sie am Abend lieber ins Kino oder ins Theater gehen wollen (um ein Lieblingsbeispiel von Marktverteidigern in der Form der rational choice- oder Spieltheorie anzuführen). Diese Unklarheit mit Blick auf die Akteurskategorien und deren Verhältnis zueinander leitet drittens zu dem Problem über, ob die Eingriffe der Institutionen (in der Logik der Marktargumentation) ausschließlich negativ sein können. Es ist nicht per se klar, wie das Wirken der Einrichtungen aussieht, wenn z.B. einerseits ein transnationales Unternehmen selbst einer größeren Gruppe von Individuen kaum responsiv gegenüberstehen muss, andererseits aber die Größe von Unternehmen gerade eine Voraussetzung dafür ist, dass Regionen und Personen- bzw. Interessengruppen in den „Weltmarkt“ miteinbezogen werden (können), da das entsprechende Unternehmen bereit ist, Arbeitsplätze zu schaffen und es so ermöglicht, dass Steuern erhoben werden oder die fraglichen Personen auf dem Markt als Konsumenten auftreten können. Und auch bei der Frage, wie affirmativ regulierende Institutionen öko-

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nomischen Korporationen gegenüberstehen müssen und in welchem Maß sie alternativen, aber eventuell bisher unrealisierten ökonomischen Vorstellungen Gelegenheiten verschaffen können und dürfen, umgesetzt zu werden, ist die Marktverteidigung uneindeutig. Schließlich ist bei der Entwicklung von Antworten auf diese Fragen auch eine Antwort darauf zu erwarten, wer die Kosten für das Wirken der genannten Institutionen zu tragen hat. Während die ersten drei Einwände v.a. Punkte betreffen, die unklar geblieben sind, gibt es zwei weitere Einwände, die sehr viel gravierender systematisch dagegen sprechen, den Markt analog zu legitimen Herrschaftsverhältnissen zu verstehen: Denn viertens ist nicht zu sehen, wie die letztlich rein numerisch-quantitativen Aggregationen auf dem Markt an die Stelle der Leistungen von deliberativer Gesetzgebung treten können sollten. Wie gezeigt, lassen sich Deliberationen gerade nicht als Aggregationen verstehen, sondern es handelt sich bei ihnen um Verfahren, in denen im Ausgang von individuellen Interessen, Projekten etc. eventuell signifikant davon verschiedene Projekte und Entscheidungen beschlossen werden (können), die als kollektive Ziele verfolgt werden (sollen). Wie Jon Elster in der Gegenüberstellung von Markt und Forum nachgewiesen hat, eignet sich das Marktmodell grundsätzlich nicht als Vorbild für die Komplexität und argumentative Autonomie deliberativer Prozesse – weshalb sich politisch-demokratische Abstimmungen trotz eines aggregativen Moments nicht auf marktförmige Koordination reduzieren lassen (Elster 1997). Fünftens schließlich sind aufgrund der spezifischen Koordinationen, die Märkte erlauben, komplexe Koordinationen kollektiver Zusammenhänge höchstens als zufälliges Resultat zu erwarten; es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass solche Koordinationen intentional angestrebt würden oder werden könnten.7 Schon

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Vgl. dazu auch die Problematisierung multilateraler Abkommen aus der Perspektive der rational choice-Rechtstheorie bei Goldsmith/Posner 2005: 86-88. Die Autoren argumentieren, dass sich komplexe Koordinationen (d.h. Koordinationen des Handlungen mehrerer und z.T. heterogener Akteure) nur dann ergeben, wenn die Parteien „paarweise“ Vorteile davon haben, es also in jeder Interaktion zweier Akteuren zu einer Interessenskonvergenz kommt. Die ver-

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„einfache“ Institutionen, wie z.B. Schulen, lassen sich kaum durch das Verfolgen individueller Interessen erklären, da die Zeitspannen, in denen sich Schulen überhaupt nur denken und konstruieren lassen, sowie die Verteilungen von Kosten, Lasten und Vorteilen nicht auf individuelle Interessen (selbst wenn sie nicht ausschließlich oder primär egoistisch verstanden werden) reduzierbar sind. Gleiches gilt für die globalen Institutionen, die den Markt regulieren und kontrollieren sollen, d.h. deren Existenz ist marktförmig kaum zu erklären, so dass hier von einem strukturellen Begründungs- oder gar „Legitimitätsdefizit“ auszugehen ist, was nach sich ziehen würde, dass die Ressourcenausstattung für die Einrichtungen beständig prekär wäre. Insgesamt betracht wird also deutlich, dass sich der Markt bei aller formalen Analogie nicht als Alternative zum demokratischen Rechtsstaat eignet. Um diesen Kritiken zu entgehen, aber dennoch die Ausgangsidee hinter den Marktverteidigungen zu retten, dass die nichtstaatsförmige Gewährleistung der Ausübung und Absicherung von Freiheit Freiheitsgewinne verspricht, ersetzen die Theorien einer globalen Zivilgesellschaft den formalen Mechanismus des Marktes durch einen umfassenderen und materialeren Gesellschaftsbegriff. Wie schon zuvor erwähnt, hat der Begriff der Zivilgesellschaft in unterschiedlichen Ansätzen unterschiedliche Bedeutungen. In den Ansätzen, die nun betrachtet werden, wird Zivilgesellschaft v.a. im Unterschied zum Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ eingeführt, wie er für die hegel-marxistische Gesellschaftstheorie und deren Gegenüberstellung von Staat (als Ausdruck der Versöhnung oder befriedenden Hegemonie) und Gesellschaft (als Ausdruck des irreduziblen Konfliktes zwischen sozialen Kräften) kennzeichnend ist. Hiervon wird zwar die Vorstellung der Konfliktualität und Heterogenität unterschiedlicher sozialer Akteure beibehalten, es wird aber zugleich darauf hingewiesen, dass sich aus und in dieser Konfliktualität selbst Handlungsräume und Akteure ergeben, die darauf abzielen, Konflikte zu bewältigen und zu lösen, was ihnen auch (zumindest lokal) oft gelingt (Rödel meintliche Komplexität wäre daher, wenn sie überhaupt beobachtbar ist, faktisch nur die Koinzidenz einer Reihe einfacher Interessensaggregationen.

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1990b: 14-17). Gesellschaftliches Interagieren darf daher nicht ökonomistisch verkürzt als quasi-mechanisches „Aufeinanderprallen“ und Gruppieren oder Aggregieren von Interessen, Präferenzen und Ressourcen interpretiert werden. Bei diesem Interagieren befinden sich die Akteure vielmehr immer auch in einem symbolisch-diskursiven Raum, in dem „symbolisches Kapital“ (verstanden als Ressource in Interaktionen, die Verbindlichkeiten zwischen Akteuren erzeugt, aber nicht auf materiale Ressourcen und Fähigkeiten bzw. Nachfrage nach denselben zurückführbar ist) sowie Handlungspositionen geschaffen und verteilt werden. Akteure können das symbolische Kapital in der Konstellation von Ressourcen und Bedürfnissen nutzen, um die Bedeutung dieser Konstellation für jeweilige Optionen und d.h. deren Abhängigkeit von den faktischen Ressourcen und Bedürfninssen zu reduzieren. Wichtige Elemente einer derart konzipierten Zivilgesellschaft sind folglich: erstens eine Öffentlichkeit, in der anarchisch jede Kritik und Einschätzung von Akteuren und deren Handlungsweisen vorgebracht werden kann und daher die Tatsache, dass eine solche Kritik etc. vorgebracht werden kann, nicht dadurch bedingt ist, dass der Kritiker in der Konstellation von Ressourcen und Bedürfnissen unabhängig vom Gegenstand der Kritik ist; zweitens gesellschaftlich verankerte politische Organisationen, wie Parteien, Verbände, Bürgerinitiativen etc.; sowie drittens „Tugenden“, die Akteure dazu motivieren, über ihre Partikularinteressen hinauszublicken und altruistisch oder gemeinwohlorientiert zu wirken. Der Rekurs auf die Zivilgesellschaft folgt dabei zwei Linien, die den Doppelcharakter ihrer Elemente bestimmen und mit denen den beiden systematischen Kritiken am Marktmodell begegnet wird: Auf der einen Seite wird die „gesellschaftliche“ Interaktion (zumindest z.T. nach dem Vorbild deliberativer Interaktion) verstanden, indem sie (auch) in einem symbolischen Raum stattfindet und Akteuren qua Tugendhaftigkeit nicht nur im Einzelfall und kontingenterweise moralische Motive unterstellt werden, sondern die (grundsätzliche Fähigkeit zur) Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Auf der anderen Seite sedimentieren sich Diskursivität und Tugendhaftigkeit in Institutionen, die von den gesellschaftlichen Akteuren getragen werden und so nicht von einem staatlichen,

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z.B. steuerbasierten Finanzierungsmodell abhängig sind, aber zugleich eine gewisse Autonomie gegenüber den materiellen Trägern entwickeln, weshalb sie sich überhaupt dazu eignen, als Teil des Übergangs von Macht zu Herrschaft verstanden zu werden. Diese beiden Seiten der Zivilgesellschaft, in der sich die symbolische und die institutionelle Autonomie wechselseitig verstärken, zeigen sich sowohl in der „Öffentlichkeit“ wie auch in den genannten „politischen Akteuren“: In der Perspektive der Ansätze, die hier untersucht werden, hängt die Existenz einer Öffentlichkeit materiell daran, dass kritische oder affirmative Stellungnahmen abgegeben werden, Distributionsmedien und -wege für diese Stellungnahmen geschaffen und erhalten werden sowie Leser bzw. Zuschauer sich den Stellungnahmen aussetzen und auf sie in ihrem Handeln reagieren. Der „öffentliche Diskurs“ bildet aber nicht nur die partikularen Auffassungen seiner „Konsumenten“ ab, sondern er bezieht sich auch auf sich selbst und zwingt diejenigen, die an ihm teilhaben, zu Darbietungsformen von Argumenten, Kritiken etc., die vor dem Hintergrund von Argumenten etc., die bislang vorgebracht wurden, nachvollziehbar sind oder mit guter Begründung davon abweichen (vgl. zum „zivilgesellschaftlichen“ Begriff von Öffentlichkeit Young 2000: 168-180). Die „politischen Akteure“ bewegen sich im Rahmen eines ähnlichen „double bind“, d.h. auch sie sind in gewissem Maß „delegiert“, also materiell und inhaltlich abhängig von denjenigen, deren Interessen und Auffassungen sie (vermeintlich) repräsentieren. Zugleich sind sie aber einer Praxis politischen Interagierens verpflichtet, die einerseits Verbindungen zwischen den Akteuren schafft und andererseits Formen der Interaktion und des Austrags von Konflikten vorgibt. In dieser Perspektive ist also im Fall der Öffentlichkeit und mit Blick auf die Akteure davon auszugehen, dass sie Deliberationen realisieren und/oder in sie eingebettet sind. Da diese deliberative Qualität der Zivilgesellschaft nicht von Außen an sie herangetragen wird, sondern sich unmittelbar aus ihrer Existenz ergibt, wird im Unterschied zur Aggregationsperspektive, aber eventuell auch zum „rechtsstaatlichen Prozeduralismus“ nicht nur der Beitrag von Teilnehmern zu Deliberationen und die Revidierbarkeit dieses Beitrags betont, sondern auch die Kompetenz und Motivation der

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Teilnehmer zur Selbstorganisation ins Spiel gebracht, womit das Bestehen von Tugendhaftigkeit qua Gelegenheit zur Entwicklung und Ausübung derselben zumindest teilweise erklärbar wird. Die Attraktivität des Zivilgesellschaftsansatzes für die Bestimmung von Herrschaftsverhältnissen jenseits der Staaten verdankt sich, wie schon im Fall des Marktes zu beobachten war, sowohl „innerstaatlicher“ Veränderung, wie auch einer Wahrnehmung und Wertschätzung der Akteure, die einen wesentlichen Widerstandsfaktor in der Globalisierung und einen entscheidenden Aspekt der „Rekonfiguration politischer Macht“ bilden (Held/McGrew 2002: 9-24). Das bereits angeführte Ende des Kalten Krieges hing wesentlich damit zusammen, dass es innerhalb der „realsozialistischen“ Staaten Osteuropas zu einem bis dahin ungekannten Grad der Selbstorganisation gesellschaftlicher und d.h. v.a. kirchlicher und gewerkschaftlicher Gruppen kam, die aufgrund ihrer primär gesellschaftlichen Verankerung nicht einfach als Bildung einer „politischen Opposition“ zu bekämpfen waren, zugleich aber wesentliche Aspekte der osteuropäischen Staaten kritisierten bzw. diese Aspekte sogar unterliefen (vgl. zu dieser Deutung der Entwicklung in den 80er Jahren Arato 2000: 43-80). Unter der Annahme, dass in Osteuropa nicht nur Probleme des „real existierenden Sozialismus“ zum Ausdruck kamen, sondern normative Defizite von Staatlichkeit schlechthin (was die parallele Herausbildung anti-etatistischer Parteien und Organisationen in Westeuropa, wie etwa der Grünen, belegt), boten die zivilgesellschaftlichen Akteure einen interessanten Ansatzpunkt für eine allgemeine Konzeption, in der Herrschaft in gesellschaftlicher Selbststeuerung aufgeht, wobei es letztere qua Autonomisierung relevanter Teile der Zivilgesellschaft vermeidet, einfach Beherrschung von einigen durch andere zu sein. Dass die Frage der Möglichkeit der Beherrschung durch zivilgesellschaftliche Akteure zunächst nicht in den Blick kam (und z.T. bis heute nicht als Problem erkannt wird), hing wesentlich mit der Wahrnehmung der Globalisierung zusammen, die sich in den 90er Jahren oft nahtlos (und d.h. in der Form einer Idealisierung von Bezugspunkten) an die Rolle der Bürgerrechtsbewegung in den „sanften Revolutionen“ Osteuropas anschloss. Hinsichtlich der Globalisierung setzte sich bei vielen

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der Eindruck durch, dass aufgrund des Primats der Ökonomie und des irrationalen und „regressiven“ Verhaltens vieler Nationalstaaten (was v.a. in den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien sichtbar wurde) Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) bzw. globale Öffentlichkeiten als eigentlich kontrollierende und ausgleichende Faktoren in den globalen Herrschafts- bzw. Beherrschungsverhältnissen zu begreifen seien. „Alte Staatlichkeit“ und „neue Ökonomie“ gehen in dieser Perspektive eine unheilige Allianz ein, die es nicht erwarten lässt, dass die Übertragung von Staatlichkeit in den internationalen Raum, selbst wenn es zu ihr kommen würde, den beherrschenden Tendenzen der Ökonomie oder der (Einzel-)Staatlichkeit entgegenwirken würde. Wenn also, so die Schlussfolgerung, legitime Herrschaftsverhältnisse (auf der Basis der Ausübung und Sicherung von Freiheit) angestrebt werden sollten, dann könne dies nur erreicht werden, indem die globale Zivilgesellschaft, nun als Netzwerk nationaler und internationaler NGOs, oppositioneller Bewegungen und Parteien sowie nationaler und internationaler Öffentlichkeiten verstanden, als Gegengewicht etabliert, garantiert und stabilisiert wird. Aufgrund der spezifisch diskursiv-symbolischen Dimension der Zivilgesellschaft ist dies keine Konstellation von Ressourcen auf Seiten jeweiliger Akteure (etwa transnationale Unternehmen vs. Attac oder Greenpeace), sondern es kommt vielmehr zu einer grundlegenden Transformation des gesamten internationalen Settings. Wirtschaftsunternehmen können nicht einfach ihre finanziellen oder gar Gewaltressourcen einsetzen, um zivilgesellschaftlichen Widerständen zu begegnen, und zivilgesellschaftliche Akteure müssen nicht notwendig über materielle Ressourcen verfügen, um Widerstand ausüben zu können (Holzer 2006). Letztere Akteure sind vielmehr besonders erfolgreich, wenn sie Unternehmen nötigen, sich auf Diskurse einzulassen,8 was wiederum aufgrund der Gefahr, bloßer Rhetorik überführt zu werden, für Unternehmen zur Konsequenz hat, so zumindest die Überlegung der Zivilgesell-

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Eine eindrucksvolle Studie zu den Auswirkungen des zivilgesellschaftlichen Drucks auf Wirtschaftsunternehmen haben Boltanski/Thévenot 2007 vorgelegt. Sie zeigen, wie Züge des philosophischen Gerechtigkeitsdiskurses in die Selbstverständigungen zwischen Managern eingegangen sind.

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schaftstheorie, dass es zu faktischen Modifikationen in der Produktion etc. kommt, wobei u.a. Beispiele von Kampagnen gegen die Produktion in sogenannten „Sweat-Shops“ angeführt werden. Systematisch gesehen präsentieren die Theorien einer globalen Zivilgesellschaft also eine Bestimmung legitimer internationaler Herrschaftsverhältnisse, die dadurch Herrschaftsverhältnisse sind, dass sie aufgrund der Ressourcen und Optionen sowie der gleichzeitigen Autonomisierung der zivilgesellschaftlichen Akteure in den letztlich entscheidenden Hinsichten (d.h. z.B. dass ihre Ressourcen und Optionen gewöhnlich nicht aus „objektiven Ressourcen“ resultieren) in einer symbolischen Struktur bestehen (womit sie insgesamt nicht auf die Ressourcen der beteiligten Parteien reduziert werden können, sondern zu einer Relativierung der Bedeutung dieser Ressourcen führen), und die dadurch legitim werden, dass die symbolische Struktur in der Form öffentlicher deliberativer Diskursivität produziert und revidiert wird. Obwohl die Zivilgesellschaft daher zunächst durch „faktische“ Akteure und deren widerständiges Wirken konstituiert wird, erzeugt dieses Wirken einen symbolischen Raum, dessen Gebrauch und Funktionsweise nicht mehr (direkt) von den genannten Akteuren abhängig ist. Die Existenz der Zivilgesellschaft verpflichtet derart alle Akteure, indem Räume und Optionen eröffnet werden und qua prinzipieller Teilhabe aller an der Deliberation in der globalen Öffentlichkeit bzw. den globalen Öffentlichkeiten, wenn die Heterogenität der Kontexte betont werden soll, festgelegt wird, unter welchen Bedingungen und in welchen Weisen sie genutzt werden können. Ausgehend vom selben Primat der positiven Ausübung von Freiheit in lebensweltlichen Kontexten wie die Markttheorien vermögen die Zivilgesellschaftstheorien zu erläutern, dass und wie marktförmige Abstimmungen in einen Raum eingebettet sein können, in dem nicht bloß die Aggregation kontingenter Interessen stattfindet, sondern auch weitere (z.B. normative Gesichtspunkte) zur Anwendung kommen, und in dem auch die Genese komplexer Projekte und Institutionen nachvollziehbar wird. Zudem wird in der Vorstellung einer globalen Zivilgesellschaft besser als in dem Setzen auf faktische globale Ressourcenverteilungen, die zu Diversität führen, verständlich, wie es trotz eines Primats des

6.1 Legitimität durch Dezentralität

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Marktes zu einer gewissen Neutralisierung des Gewichts kommen kann, das faktische Ressourcendifferenzen haben. Damit wird sowohl erklärbar, warum globale Herrschaftsverhältnisse nicht zu einer Homogenisierung von Kontexten führen müssen, als auch wechselseitige Einflussnahmen unter Bedingungen gravierend disparater „materieller“ etc. Ressourcen nachvollziehbar werden. Und schließlich kann die Zivilgesellschaftstheorie auf faktische Prozesse hinweisen, in denen es zur Herausbildung der angestrebten legitimen Herrschaftsverhältnisse kommt, d.h. sie vermag der zuvor genannten Problematik zu entgehen, dass eine abstrakte Legitimitätstheorie aufgrund der Unklarheit der Schritte, die zu ihrer Realisierung führen könnten, eventuell dem Zweck dient, illegitime Verhältnisse zu stabilisieren (Sassen 2007: 190-212). Der letzte Punkt ist zweifelsohne ein großer Vorteil zivilgesellschaftlicher Ansätze: Sie eignen sich, faktisches Widerstandspotential gegen illegitime Verhältnisse und Handlungsweisen zu identifizieren. Aber hierin liegt auch bereits die größte Schwäche, denn der Verweis auf die Zivilgesellschaft überwindet nicht das systematische Problem der Marktansätze, dass in diesen die positive Ausübung von Freiheit von kontingenten Ressourcen und Optionen abhängt. Die Existenz einer globalen Zivilgesellschaft mag eine wichtige Voraussetzung dafür sein, dass beherrschendes Wirken ökonomischer oder staatlicher Akteure skandalisiert und darüber verhindert oder zumindest abgemildert wird, es wird aber nicht erklärt, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen diese Zurückweisung von Beherrschung dazu übergeht, die positive Ausübung von Freiheit zu ermöglichen. Lassen sich zivilgesellschaftliche Deliberationen so verstehen, dass in ihnen nicht nur Grenzen des Wirkens festgelegt werden, sondern vielmehr bestimmt wird, was wo, von wem und wie produziert und vertrieben werden soll? Und selbst wenn eine solche „positive“ Dimension zivilgesellschaftlicher Deliberationen konzipierbar ist, wirft dies sofort weitere Fragen auf, wie etwa diejenige, wie sich innerzivilgesellschaftliche Dissense über Projekte und Ziele (autoritativ und nicht-beherrschend) lösen lassen. Es könnte so aussehen, als ob in solchen Konflikten die „Anarchie“ der Ausübung kommunikativer Vernunft in der Zivilgesellschaft zur Folge hat, dass sich zu-

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

mindest in den Konflikten das Marktmodell in der Zivilgesellschaft wiederholt. Einige Autoren verweisen zur Behebung dieses Problems darauf, dass der Ausdruck der „Zivilgesellschaft“ in einigen Verwendungen fälschlich nahe legt, dass das Wirken der „klassischen“ Staaten irrelevant würde. Sie behaupten dagegen, dass sie durchaus als Bestandteile der globalen Zivilgesellschaft begriffen werden sollten, indem es z.B. zu Allianzen zwischen NGOs und Staaten kommt, die sich dem Druck transnationaler Unternehmen, anderer Staaten oder internationaler Organisationen ausgesetzt sehen. So zeichnet sich eine revidierte Vorstellung der globalen Zivilgesellschaft ab, die nicht an die Stelle legitimer Herrschaft tritt, sondern vielmehr eine komplementäre Struktur zu einem globalen Gefüge von Republiken bilden würde, wobei sie in dem doppelten Sinn der korrigierenden Ergänzung nach Innen und der Absicherung von Legitimität jenseits der Staaten komplementär wäre. Ein solches Verständnis der Zivilgesellschaft verortet die positive Ausübung von Freiheit wesentlich in den Einzelstaaten und sieht die Aufgabe transnationaler Herrschaft v.a. in der negativen Absicherung von Freiheit. Aber auch diese Revision des Begriffs der globalen Zivilgesellschaft vermag nicht wirklich zu überzeugen, da die positive Ausübung von Freiheit sich ja, wie transnationale Unternehmen zeigen, gerade nicht auf Einzelstaaten beschränken lässt. Einzelne Staaten wie auch viele ihrer Mitglieder verfolgen Interessen und Projekte, die auf das Wirken bzw. Nicht-Wirken anderer Staaten und Individuen etc. bezogen sind und eine rein negative Wirkung der Zivilgesellschaft mit Blick auf diese Interessen und Projekte hätte zur Folge, dass ihr Verfolgen grundsätzlich illegitim bzw. im Fall der Nicht-Intervention der Zivilgesellschaft abhängig von kontingenterweise bestehenden Fähigkeiten und/ oder Ressourcen wäre. Aber auch auf der Seite der negativen Absicherung von Freiheit durch die globale Zivilgesellschaft überzeugen die Theorien nicht. Wie zahlreiche Fälle zivilgesellschaftlicher Interventionen in vermeintlich guter ökologischer oder sozialer Absicht in den letzten Jahren belegen, lässt sich nicht ausschließen, dass Widerstände motiviert und mobilisiert werden, bei denen zumindest ex post zu

6.1 Legitimität durch Dezentralität

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konstatieren ist, dass sie in deliberativen Verfahren letztlich nicht begründbar (gewesen) wären. Der zivilgesellschaftlich etablierte Raum deliberativer Diskursivität mag zwar zu einem gewissen Grad autonom sein, er genügt aber nicht den Inklusionsbedingungen, die zuvor für innerstaatliche Verfahren gefordert wurden. Es obliegt zivilgesellschaftlichen Einrichtungen letztlich selbst festzulegen, wer und was gehört wird und wer oder was nicht. Es gibt keine Möglichkeit, gegen eine vermeintlich negative Absicherung von Freiheit Einspruch einzulegen, die faktisch zu einer beherrschenden Verhinderung der positiven Ausübung von Freiheit oder der Gewährleistung überhaupt von Freiheit bei anderen führt. Wie schon für die Öffentlichkeit innerhalb von Staaten festgehalten wurde, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die „Anarchie“ einer globalen Zivilgesellschaft notwendig ist, um Einwände gegen illegitimes Wirken im oder ausgehend vom transnationalen Raum zu thematisieren und auf die Agenda von Einrichtungen zu setzen, die in der Lage sind, diesem Wirken entgegenzusteuern. Keine Institution (und v.a. keine internationale Institution) kann effizient arbeiten, wenn sie ohne weitere Qualifikation jedem Einwand gegen ein Wirken nachgeht, das in ihrem Aufgabenbereich stattfindet. Die Privilegierung von Anliegen, die die Aufmerksamkeit zivilgesellschaftlicher Akteure gefunden haben und eventuell von diesen sogar präziser artikuliert wurden, als es Betroffene hätten darstellen können, ist sicherlich ein probates Selektionskriterium. Insofern müssen Verhältnisse legitimer transnationaler Herrschaft zweifelsohne die Absicherung und Unterstützung von Strukturen der globalen Zivilgesellschaft umfassen. Diese Zivilgesellschaft vermag aber in ihrer notwendigen „Anarchie“ kein Substitut für die rechtsstaatlichen Verhältnisse und ihre Garantie zu bilden, die Berücksichtigung eigener Interessen, Projekte und Auffassungen erzwingen zu können, wie sie für legitime Herrschaftsausübung innerhalb der Staaten gefordert wurden (vgl. zu dieser Ambivalenz und Kritik zivilgesellschaftlicher Kontestation auch Bohman 2001: 17-18). Es muss vielmehr Möglichkeiten geben, die eigenen Interessen etc. auch ohne bzw. gegen zivilgesellschaftliche Akteure zur Geltung zu bringen, und die zuletzt genannten Akteure müssen aufgrund der beherrschenden Effekte, die sie in ihrem

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

Wirken durchaus entfalten können, kontrollierbar oder zumindest zur Rechenschaft gezogen werden können.

6.2 Legitimität durch die Autonomie des (Völker- oder internationalen) Rechts Bleibt man in der Logik der Argumentation, die in der Marktverteidigung als Ausgangspunkt nachgezeichnet wurde, dann legt das Scheitern des Versuchs, transnationale Herrschaft auf den Markt oder die Zivilgesellschaft zu reduzieren, es nahe, die Selbststeuerung um die Formalität und Institutionalisierbarkeit des Rechts zu ergänzen. Die Einführung des Rechts als einer wesentlichen Bestimmung der Form und des Rahmens transnationaler Handlungsverhältnisse verspricht, die Autonomie in der Gestaltung dieser Verhältnisse zu stärken, die schon bei der Betonung der deliberativen Diskursivität in den Zivilgesellschaftsansätzen im Zentrum stand. Zugleich erlaubt es die institutionelle Absicherung der Verbindlichkeit des Rechts, dass die Akteure nicht nur im Standardfall, sondern auch in Krisen und Konflikten an das geltende Recht gebunden werden bzw. Streitpunkte qua Externalisierung der entscheidenden Faktoren oder der Streitschlichtung unabhängig von kontingenten Ressourcenverteilungen geklärt werden können. Theorien der Legitimität transnationaler Herrschaft, die das Recht als entscheidenden Faktor für den Übergang von Macht- zu Herrschaftsverhältnissen und als Bedingung und Garant für die Legitimität dieser Verhältnisse begreifen, existieren wiederum in zahlreichen Formen. In der Diskussion haben sich aber v.a. zwei Positionen als einflussreich und systematisch relevant erwiesen (auch weil sie einander in der klassischen Opposition von Privatrecht und öffentlichem Recht diametral entgegengesetzte Schwerpunkte setzen): erstens eine Position, die auf die Rechtsform als solche und eine korrespondierende Praxis der Verrechtlichung von (v.a. ökonomischen) Interaktionen durch die beteiligten Akteure selbst vertraut und folglich keine analogen Rechtsentwicklungen und -institutionen zu den Staaten und deren Vorordnung des öffentlichen Rechts vor das Privatrecht fordert (also wesentlich auf

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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die Rolle und Entwicklung des internationalen Privatrechts setzt), und demgegenüber zweitens eine Position, die eine Konstitutionalisierung des Völker- oder internationalen Rechts als notwendig erachtet, wenn das Recht in seinen Geltungsoptionen global etabliert und zugleich der potentielle Beitrag des Rechts zur Beherrschung bzw. zu einer bloßen Verfestigung eines Status quo ausgeschlossen werden soll (also primär eine Angleichung des internationalen Rechts an die Strukturierung von Rechtsebenen parallel zum innerstaatlichen öffentlichen Recht fordert). Bei all ihrer Gegensätzlichkeit operieren beide Positionen mit einer Beschränkung des „Rechts“, das jenseits der Einzelstaaten relevant sein soll, auf Rechtsdokumente und Institutionen der Rechtsauslegung und Anwendung. Der Akt oder die Verfahren expliziter Rechtsetzung werden in beiden Ansätzen weitgehend vernachlässigt, bzw. es wird gezielt von ihnen abgesehen, um die Attraktivität der Rechtsform auch dann zu begründen, wenn explizite Rechtsetzung in hegemonialer Absicht oder in asymmetrischen Verhandlungssituationen geschieht (wie es für nahezu alle existierenden völkerrechtlichen Dokumente zu konstatieren ist). Aufgrund dieser Zuspitzung der beiden Ansätze, deren Analyse nun folgt, werden im Kapitel 6.3 Teile bzw. Aspekte der Überlegungen unter einem anderen Blickwinkel erneut aufgegriffen. Die erste Position konstatiert im Anschluss an die Beschreibung der Probleme des Zivilgesellschaftsmodells, dass dessen Schwierigkeiten behoben werden können, wenn erkannt wird, dass soziale und d.h. v.a. (aber nicht nur) ökonomische Interaktionen jenseits von Staaten nicht nur z.T. diskursiv eingebettet sind (und daher Grenzen der Rechtfertigbarkeit unterworfen sind), sondern oft rechtsförmig vollzogen oder gestaltet werden. Neben der Autonomisierung einer diskursiven Ebene ist so auch zu beobachten, dass trans- und internationale Akteure zur Absicherung und Verstetigung ihrer Beziehungen und wechselseitigen Ansprüche Verträge schließen und dass qua Rechtsform in diesen Verträgen eine weitere Dimension der Bestimmung der sozialen Handlungsverhältnisse geschaffen wird, die nicht durch die Ressourcen und Bedürfnisse sowie die jeweilige Konstellation der Vertragspartner determiniert ist. Innerhalb vieler Staaten ist eine solche Ir-

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

reduktibilität des Vertrags auf die Konstellation der Vertragspartner dadurch gegeben, dass es zu einer „Konstitutionalisierung“ und Kodifizierung des Vertragsrechts und weiterer Teile des Privatrechts gekommen ist. Im Unterschied dazu sieht es zunächst so aus, als würden die Vertragspartner jenseits der Staaten über weitgehende Freiheit in der Vertragsgestaltung und im Vertragsinhalt verfügen, was zu der Einschätzung führen kann, dass hier in der Ausübung von Macht jeweilige Ressourcen und Bedürfnisse über den Vertrag und seine Bedeutung entscheiden. Unter den Titeln einer „lex mercatoria“9 oder eines neuen „Welthandelsrechts“ setzt der Ansatz, der die Bedeutung internationalen Privatrechts für legitime Herrschaft jenseits von Staaten betont, dem entgegen, dass in der unvermeidlichen „Fragmentierung des Weltrechts“ (Fischer-Lescano/Teubner 2007: 37-40) die Emergenz einer Rechtsauslegung und Rechtspraxis zu beobachten ist, die zumindest in Fällen vermeintlichen oder tatsächlichen Vertragsbruchs und von Verfahren, die im Anschluss daran vor Schieds- oder anderen nationalen und internationalen Gerichten geführt werden, den Wortlaut von Verträgen unter Rekurs auf allgemeinere Normen und Gewohnheiten, eventuell in der Gestalt des Codes „Recht/Unrecht“ bzw. „Legal/Illegal“ relativiert (Teubner 1996: 272). Autoren, wie Gunther Teubner, zeichnen nach, dass in solchen Schiedssprüchen und Urteilen ein autonomes System von Prinzipien und Grenzen des Zulässigen zum Ausdruck kommt und sogar quasi grundrechtliche Normen zur Geltung gebracht werden. Ein wesentlicher Faktor für diese Emergenz einer autonomen lex mercatoria ist dabei, dass die Schiedsgutachter oder Richter weder sich in ihrem Selbstverständnis als abhängig von den Streitparteien begreifen, noch eine solche Abhängigkeit von den Parteien unterstellt wird (Teubner 1996: 274-279). Den Akteuren ist vielmehr, so die Behauptung, qua Rechtsförmigkeit ihrer Interaktionen und Relationen klar, dass sie nicht selbst in allen Hinsichten über die Gestalt und den Inhalt derselben verfügen können. Gleichzeitig sind diejenigen, die Recht sprechen, in ein Netzwerk eingebunden, das Referenzpunkte und Verantwortlichkeiten erinnert oder schafft,

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Vgl. zur Geschichte des Begriffs und zu seinen Problemen Zumbansen 2003.

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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die es den Richtern erlauben bzw. sie sogar nötigen, Verträge bzw. Vertragsbrüche in einem quasi-konstitutionellen Rechtszusammenhang zu untersuchen (Fischer-Lescano/Teubner 2007: 51-53; Mertens 1997: 39-40; Slaughter 2004: 85-99). Der Ansatz berührt sich mit Überlegungen, die bereits im Kontext der Hegemonietheorien vorgestellt wurden. Es wird argumentiert, dass ökonomische Akteure nicht einfach mechanisch interagieren, sondern dass sie zumindest aus einem Interesse an Stabilität und Kalkulierbarkeit heraus selbst die Generierung von Normen und kontrollierbaren Handlungsverhältnissen betreiben (müssen).10 Im Gegensatz zu den Hegemonietheorien und unter Abgrenzung von der nicht-normativen Selbstdarstellung der Systemtheorie, deren Begriff der Weltgesellschaft (eingeführt in Luhmann 1975) bei vielen der hier verhandelten Autoren im Hintergrund steht, wird aber festgehalten, dass sich die Normen, Prinzipien und Grenzen, die die lex mercatoria bilden, durchaus freiheitstheoretisch rekonstruieren lassen und somit gezeigt werden kann, dass das neue Welthandelsrecht, wenn es den behaupteten Grad an Autonomie tatsächlich hat, legitim (im Sinn der Ermöglichung und Sicherung von Freiheit) Herrschaft ausübt. Die freiheitstheoretische Rekonstruktion der Normen etc. wird dadurch geleistet, dass die schon erwähnte Annäherung der Normen an (negative) Grundrechte nachgezeichnet wird. Es ergibt sich in dieser Untersuchung interessanterweise, dass der Bezug auf solche quasigrundrechtlichen Normen auch dann stattfindet, wenn der Vertragsgegenstand in keinem offensichtlichen Verhältnis zu diesen Normen bzw. einer möglichen Normenverletzung steht (zur Bedeutung, aber auch Prekarität der Menschenrechte in der lex mercatoria vgl. Bianchi 1997; zu Menschenrechten in Streitschlichtungen zwischen transnationalen Firmen siehe Scott/Wai 2004.). Dies wird von den Vertretern des vorliegenden Ansatzes als weiterer Beleg für die Autonomie der lex mercatoria begriffen. Diese Argumentation für die legitime Ausübung transnationaler Herrschaft durch das Welthandelsrecht ist dann am überzeu-

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Zu einem Argument dafür, warum die Stabilität und Kalkulierbarkeit durch Recht gegenwärtig notwendig die Form einer Fragmentierung bzw. „Selbstchaotisierung“ des Rechts annimmt, vgl. Willke 2007: 149-150.

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gendsten, wenn sie mit einer Zivilgesellschaftstheorie verbunden wird und im Rahmen dieser Verbindung gezeigt wird, wie zivilgesellschaftliche Akteure aufgrund der Möglichkeit und Wirklichkeit einer „judicial review“ von Verträgen und ihrer Durchsetzung andere soziale und ökonomische Akteure effizient zu Rechtfertigungen bzw. Modifikationen in Produktions- und Distributionsweisen zwingen können.11 Die Rechtsförmigkeit der Auseinandersetzungen verhindert dabei zugleich, dass „diskursive Macht“ von zivilgesellschaftlichen Akteuren missbraucht wird, und sie erlaubt es auch weniger etablierten Teilen der Zivilgesellschaft, eigene Anliegen auf die Agenda zu setzen bzw. Widerstand gegen beherrschendes Wirken anderer Akteure zu leisten. Auf diese Weise wird wichtigen Einwänden gegen die Thesen zur negativen Sicherung von Freiheit im Raum jenseits der Staaten, wie sie die Zivilgesellschaftstheorie artikuliert, gut entgegengetreten. Zugleich bleibt das basale Probleme bestehen, dass sich aufgrund des Ausgangs von der Überlegung stellt, dass die positive Ausübung von Freiheit dann am besten gewährleistet wird, wenn Akteure direkt in ihren sozio-ökonomischen Lebensverhältnissen die Möglichkeit zu dieser Ausübung haben, die Gesellschaft sich also ohne den „Umweg“ über politische Verfahren und Strukturen selbst steuert. Selbst wenn in den Urteilen der Schiedsgerichte die Freiheit hinreichend negativ gesichert werden könnte, ist nicht zu sehen, welchen Beitrag solche Einspruchsmöglichkeiten dazu leisten oder leisten können, dass Akteure befähigt werden, Freiheit positiv auszuüben.12 Erstens bleibt zu wenig thematisiert, welche

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Eine interessante Kombination von Zivilgesellschaftstheorie und lex mercatoriaAnsatz vertritt Fischer-Lescano 2005. Zu deren Schwierigkeiten siehe Niederberger 2007b. Die hier entwickelte Kritik an lex mercatoria-Ansätzen wird komplizierter, wenn sie nicht einfach als Verteidiger gesellschaftlicher Selbststeuerung verstanden werden, sondern ihre Analyse innerstaatlicher „Konstitutionalisierungen“ des Privatrechts berücksichtigt wird. Diese Analyse zeigt nämlich, dass die Einbettung des Privatrechts in öffentliches Recht nicht notwendig zu einer Kontrolle und Gestaltung privatrechtlicher Möglichkeiten durch alle Betroffenen führt, also zu einer demokratischen Genese privatrechtlicher Handlungsverhältnisse. In zahlreichen Fällen wurde diese Einbettung gerade dazu genutzt, Einsprüche gegen Vertragsformen oder -inhalte mit dem Ordnungsvermögen des Staates

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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Kosten bzw. welches soziale, ökonomische, politische oder auch individuelle Risiko ein Vertragsbruch nach sich zieht und unter welchen Bedingungen, die Kosten bzw. das Risiko überhaupt in Kauf genommen werden oder nicht. Wenn die Garantie von Freiheit wesentlich über Urteilssprüche bezüglich der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Verträgen oder Vertragsformen realisiert wird, dann muss genauer erklärt werden, dass und warum Akteure diesen Weg, ihre Freiheit zu gewährleisten, (auch wirklich) wählen und unter allen Umständen wählen können. Der Verweis auf Fälle, in denen qua Schiedsgerichtsbarkeit etc. Grundrechte o.Ä. gesichert wurden, gibt als solcher keinerlei Auskunft über die „Repräsentativität“ der Fälle, was eine wesentliche Voraussetzung dafür wäre, dass sich eine Theorie legitimer Herrschaftsausübung qua lex mercatoria begründen ließe. Andreas Fischer-Lescano macht daher richtig darauf aufmerksam, dass zu untersuchen bleibt, wie in diesem Modell die Integration derer gesichert sein kann, die aufgrund der sozio-ökonomischen Verhältnisse in die „Funktionssysteme“ nicht nur kontingenterweise nicht eingeschlossen sind, sondern strukturell ausgeschlossen bleiben und so auch nie einen Vertragsschluss angeboten bekommen (Fischer-Lescano 2005: 141145). Und selbst wenn sich zweitens eventuell ein minimaler Befähigungsanspruch daraus ableiten lässt, dass jemand, der einen Vertrag schließt oder vielleicht zu schließen beabsichtigt, die Fähigkeit haben muss, den Vertrag zu verstehen und vertraglich zugesicherte Leistungen notfalls einzuklagen, so wird dieser Befähigungsanspruch im Rahmen eines Gerichtssystems und angesichts der Professionalität der juristisch und ökonomisch Beteiligten wahrscheinlich eher advokatorisch erfüllt, als dass er direkt zu Befähigungen derer führen würde, die individuell davon betroffen sind. Die Bindung des lex mercatoria-Ansatzes an den Primat der Ökonomie ist – wie Kritiker zu Recht festhalten – mehr „dem Zustand abzuweisen. Vor dem Hintergrund dieser Analyse mag es politisch Sinn machen, die größeren Einflussmöglichkeiten (v.a. der Zivilgesellschaft) auf die Rechtsauslegung und -entwicklung in der lex mercatoria herauszuheben. Legitimitätstheoretisch verändert sich an der Kritik aber nichts Wesentliches, da im Republikanismus der Nicht-Beherrschung der beherrschende Gebrauch des Rechts grundsätzlich als illegitim gekennzeichnet wird.

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der Überwältigung geschuldet, in dem (...) sich [die Autoren, A.N.] befinden, seit sie mit ihren Wissenschaften, Begriffen und Methoden in das Zeitalter des grenzüberschreitenden Informations-, Kapital-, Güter- und Dienstleistungsflusses, in die Welt des ‚Rechts offener Staaten’ etc. eingetreten sind“ (Zumbansen 2003: 641), und weniger einer systematischen legitimitätstheoretischen Bestimmung der Möglichkeiten des Privatrechts (was Autoren wie Teubner auch zugestehen). Sowohl Fragen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie (wer verfügt warum über welche Optionen), als auch solche einer Gerechtigkeits- oder normativen Demokratietheorie (wer kann sich wie unabhängig von gutwilligen Motivationen anderer zur Geltung bringen) bleiben unbeantwortet. Diese systematische Verkürzung gegenüber anderen Legitimitäts- und Herrschaftstheorien bzw. gegenüber staatstheoretischen Untersuchungen des öffentlichen Rechts wird zusätzlich deutlich, wenn man sich fragt, ob es plausibel ist anzunehmen, dass sich alle relevanten Aspekte und Formen des Handelns jenseits von Staaten in Verträgen bzw. über Grundprinzipien des Vertragsoder Privatrechts, das für Vertragsabschlüsse einschlägig ist, erfassen und regeln lassen. Wie schon in früheren Kapiteln grundsätzlich gegen kontraktualistische Argumentationen eingewandt wurde, lassen sich soziale Handlungsverhältnisse selbst geltungstheoretisch nicht auf die Interaktionen zwischen zwei Parteien reduzieren, die zudem oft als Individuen begriffen werden. Diesem Einwand begegnet der lex mercatoria-Ansatz mit dem Verweis auf die Heterogenität der Vertragsparteien im neuen Welthandelsrechts, woraus sich, so die These, in diesem Recht selbst unmittelbar die Notwendigkeit ergibt, Differenzen zwischen Parteien anzuerkennen und daraus Schlüsse für deren Vertragsfähigkeit bzw. die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten und Pflichten zu ziehen. Dieser Verweis macht in der Tat auf interessante Veränderungen im Vertragsbegriff aufmerksam, er wirft damit aber primär die weitergehende Frage auf, wie sichergestellt ist, dass die Differenzen bzw. Schwierigkeiten in der Zuschreibung von Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen nicht durch die Vertragsform bzw. die privatrechtliche Gerichtsbarkeit verzerrt und inadäquat zur Darstellung und damit auch zur „Lösung“ kommen.

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Es überrascht daher nicht, dass die zweite Position mit einer Kritik an der Fragmentierung des global oder international geltenden Rechts beginnt und bestreitet, dass ein fragmentiertes Recht die Steuerungs- und Kontrollfunktionen, aber v.a. die Legitimitätserwartungen erfüllen kann, die an es gerichtet werden. Die Offenheit des Rechts gegenüber Skandalisierungen und Politisierungen bedeutet in dieser Perspektive – bei allen begrüßenswerten Effekten im Einzelfall – eine strukturelle Schwächung des Rechts und keine Garantie, es zur Abwehr von Beherrschung nutzen zu können. Es wird ein wirklich autonomes und d.h. öffentliches Recht gefordert, das als Grundlage und Rahmen transnationalen Handelns das Interagieren der Akteure bestimmt und nicht nur faktische Grenzen und Normenbezüge zum Ausdruck bringt, die ex post zu konstatieren sind (vgl. zu dieser Gegenüberstellung von privat- und öffentlichrechtlicher Grundlage Möllers 2004). Gegen die Pluralisierung und Fragmentierung globaler privatrechtlicher Vereinbarungen sowie die Proliferation neuer bi- oder multilateraler Abkommen, deren Verhältnis untereinander und zu bestehendem Völkerrecht oft unklar bleibt und daher erst in Rechtsprechungsakten konkret und quasi dezisionistisch bestimmt wird, werden Tendenzen im existierenden Völkerrecht und v.a. in der Völkerrechtstheorie, die selbst eine sekundäre Völkerrechtsquelle ist, herausgestrichen, die den Vertragscharakter des Völkerrechts gerade überschreiten und zu seiner Konstitutionalisierung führen.13 Diese Entwicklung zu einem globalen Konstitutionalismus ist den Autoren gemäß, die diesen diagnostizieren, durch zwei wesentliche Transformationen gekennzeichnet: Erstens verändert sich der Geltungsanspruch zumindest einiger völkerrechtli-

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Teubner reklamiert auch für das lex mercatoria-Modell die Ausdrücke des „Konstitutionalismus“ und der „Konstitutionalisierung“ und leitet dies daraus ab, dass „[b]y necessity, every process of juridification simultaneously contains latent constitutional norms“ (Teubner 2004a: 15). Durch die Qualifikation als „Societal Constitutionalism“ wird aber zugleich klar gemacht, dass die notwendige Emergenz einer Normenhierarchie sowie von Strukturen der „judicial review“ (die die zwei von insgesamt vier Elementen des teubnerschen Konstitutionalismus ausmachen, die für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind) implizit bleiben und daher keinen direkten Bezugspunkt für Akteure bzw. deren Einklagen von Ansprüchen oder Berücksichtigung bilden können.

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cher Dokumente bzw. gewohnheitsrechtlich konstatierter Prinzipien, indem diese als ius cogens beschrieben14 bzw. Verpflichtungen, die daraus resultieren, als erga omnes-Verpflichtungen15 bezeichnet werden. Damit sind die Prinzipien und Verpflichtungen nicht mehr abhängig von der Ratifizierung bzw. vertraglichen Einwilligung in eine Verpflichtung durch die Staaten, sondern sie gelten (zumindest dem Anspruch und der Rechtsprechungspraxis nach) global als Grundlage für die Ausübung von Herrschaft und d.h. v.a. für die Rechtsetzung und Rechtsprechung in den Staaten (vgl. zum Bedeutungszuwachs von ius cogens und erga omnes-Verpflichtungen, aber auch zum zurückhaltenden Gebrauch derselben in der internationalen Rechtsprechung Cassese 2005: 198-212). In diesen Kontext gehört auch die Entwicklung eines internationalen Strafrechts, in dem bestimmte Arten von Verbrechen als derart gravierend bzw. global relevant ausgezeichnet werden, dass das Verfolgen bzw. die Kriminalisierung entsprechender Straftatbestände eine Aufgabe ist, die es im Notfall erlaubt oder sogar erforderlich macht, in die Rechtsstruktur und die Gewaltenteilung von Staaten einzugreifen (vgl. zum Zusammenhang von ius cogens und erga omnes-Verpflichtungen mit der Entwicklung einer „universal jurisdiction“, in der nationale Gerichte über Verbrechen in anderen Staaten urteilen, Bassiouni 2004). Zweitens kommt es zu einer Hierarchisierung von Rechtsgütern und -prinzipien derart, dass das international geltende Recht insgesamt parallel zum innerstaatlichen öffentlichen Recht strukturiert wird. Beiden veränderten Charakteristika des Völkerrechts korrespondiert ein Bedeutungszuwachs und eine numerische Zunahme internationaler bzw. nationaler gerichtlicher Einrichtungen, die auf der Basis des Völker-

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Unter ius cogens werden Rechtsprinzipien und Rechtsgüter verstanden, die so zwingend sind, dass sie weder qua Vertrag, noch qua Gewohnheitsrecht abgeschafft bzw. außer Geltung gesetzt werden können. Erga omnes-Verpflichtungen oder -Wirkungen sind Verpflichtungen zu Handlungen oder der Unterlassung von Handlungen, die allen zukommen, unabhängig davon, ob sie die Verpflichtungen explizit eingegangen sind oder nicht bzw. durch Urteile, die sie direkt als Prozesspartei betreffen, dazu verpflichtet wurden oder nicht.

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rechts urteilen, sowie die Herausbildung eines globalen rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskurses. Die Betonung der Leistungen, die vom internationalen Recht zu erwarten sind, wenn es sich parallel zur Strukturierung des innerstaatlichen öffentlichen Rechts reorganisiert, impliziert nicht, dass es gleichzeitig zur Herausbildung eines Weltstaates oder einer gewaltenteiligen Struktur von rechtsetzenden, exekutiven und rechtsprechenden Einrichtungen kommt (Habermas 2004: 133142). Mit dem Begriff der Konstitutionalisierung, der bereits seit dem Beginn der achtziger Jahre mit Blick auf die genannten Tendenzen gebraucht wird (Stein 1981), werden primär strukturelle Analogien in der Ordnung des geltenden Rechts aufgezeigt und nur sekundär inhaltliche bzw. institutionelle Konvergenzen mit (der Rolle von) innerstaatlichem öffentlichen Recht bezeichnet.16 Wie im Kapitel 4.4 für den Rechtsstaat dargelegt wurde, setzt die Rolle des Rechts als Kommunikationsmedium zwischen Akteuren, zwischen Institutionen und zwischen Institutionen und Akteuren sowie die Funktion zu ermöglichen, dass das Wirken von Akteuren und Institutionen kontrolliert wird, voraus, dass das Recht entweder an sich hierarchisch geordnet ist oder aber Prinzipien bzw. die Auszeichnung von Instanzen enthält, die es im Fall der Kollisionen zwischen Rechtssätzen oder Rechtsgütern erlauben, nachvollziehbare und autoritative Entscheidungen über den Vorrang zu treffen. Dahinter steckt die Überlegung, dass nur dann sichergestellt werden kann, dass das Recht nicht selbst zum Zweck der Beherrschung gebrauchbar ist, wenn vor aller inhaltlichen Bestimmung des Rechts (die, und dies ist ein Problem in den vorliegenden Ansätzen, ebenfalls nicht-beherrschend vollzogen werden muss) der Zugriff auf Rechtssätze etc. nicht willkürlich ist. Soll al-

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Hierbei ist allerdings festzuhalten, dass für viele Autoren, die für einen globalen Konstitutionalismus argumentieren, zur Abgrenzung von den lex mercatoriaAnsätzen v.a. die Existenz einer globalen „öffentlichen“ Autorität relevant ist. Da die Existenz einer solchen Autorität aber einerseits nicht notwendig mit dem Konstitutionalismus verknüpft ist und andererseits eigene rechtliche Anforderungen (im Sinn des früher diskutierten „Verwaltungsrechts“) nach sich zieht, um zu verhindern, dass diese Autorität beherrschend wirkt, wird diese Verbindung erst im Kap. 6.3 eingeführt.

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so das Völkerrecht den legitimen Grund für die Etablierung, Gestaltung und Kontrolle transnationaler Handlungsverhältnisse abgeben, dann müssen die Prinzipien, auf deren Basis Herrschaft ausgeübt wird, derart festgelegt und geordnet sein, dass sie in Handlungssituationen denjenigen entzogen sind, die Herrschaft ausüben bzw. von dieser Ausübung betroffen sind. Qua Entzogenheit ist selbst bei einer Dispersion der Herrschaftsausübung auf eine Pluralität von Instanzen, wie sie in dem Anspruch der Argumentationen, die bisher für transnationale Verhältnisse betrachtet wurden, auf Verzicht auf staatliche Strukturierung notwendig ist, ausgeschlossen, dass die Durch- und Umsetzung der Prinzipien beherrschend wird bzw. als solche wahrgenommen wird. Andererseits stellt sie eine Grundlage bereit, auf der basierend Ansprüche an und Einwände gegen das Wirken von Akteuren und Institutionen artikuliert und vorgebracht werden können. Im Unterschied zum innerstaatlichen Recht gilt das Völkerrecht wenigstens zunächst nicht für alle sozialen Handlungsverhältnisse schlechthin, sondern nur für diejenigen, die von den Staaten selbst (noch) nicht oder nicht mehr abgedeckt sind. Innerhalb von Staaten besteht der Konstitutionalismus, wie zuvor gezeigt, wesentlich aus drei Elementen, die, um legitime Herrschaft zu ermöglichen, selbst den Verfahren, Akteuren und Institutionen entzogen sein müssen: Erstens wird die positive Ausübung sowie die negative Absicherung von Freiheit im politischen Gefüge in der Form einer expliziten Niederlegung von Grundrechten oder grundsätzlichen Befähigungsansprüchen, von Zugangs- und Teilhabebedingungen an Verfahren und Strukturen sowie von Instanzen und Institutionen festgeschrieben, die zur Ausübung und Absicherung von Freiheit mit den genannten Elementen der Befähigung und der Teilhabe erforderlich sind. Zweitens wird die Rechtsform als geteiltes Medium der Kommunikation und wechselseitigen Kontrollierbarkeit ausgezeichnet sowie eine Gewaltenteilung eingerichtet, die damit korrespondiert. Und drittens schließlich werden die Rechtsgüter und Rechtsprinzipien zu dem Zweck hierarchisiert und strukturiert, die Willkür im Rechtsbezug der unterschiedlichen Instanzen und Institutionen möglichst stark zu minimieren. Die Beschränkung des Bezugsbereiches beim Völ-

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kerrecht hat zur Folge, dass die Konstitutionalisierung oder ein Konstitutionalismus hier nicht in gleicher Weise und in gleichem Maß in den drei Elementen zum Ausdruck kommen. Sie konzentrieren sich vielmehr v.a. auf das dritte Element (d.h. die Hierarchisierung von Rechtsprinzipien und Rechtsgütern), wogegen es mit Blick auf das erste und zweite Element nur bedingte Entsprechungen gibt, was von Anfang an die Frage aufwirft, ob ein solcher „Konstitutionalismus“ wirklich ein Äquivalent zum republikanischen Konstitutionalismus sein kann, wie er im Kapitel 4 entfaltet wurde. Die Ansätze, die im konstitutionalisierten internationalen öffentlichen Recht die Grundlage für legitime Herrschaft jenseits der Staaten sehen, interessieren sich zuerst rechtsdogmatisch für die Ordnung des bestehenden Rechts und dafür – unter den Bedingungen einer primär ökonomischen Globalisierung und einer Rückkehr des Unilateralismus in den internationalen Beziehungen – zu verhindern, dass das Recht durch die Pluralisierung und Fragmentierung der Rechtsquellen unterminiert wird und seinen Rechtscharakter verliert. Es wird also angenommen, dass die Geltung des Völkerrechts primär dadurch gesichert wird, dass es als kohärentes Recht erscheint und aufgrund seiner Kohärenz von Akteuren nicht beliebig gebraucht oder gar manipuliert werden kann, selbst wenn es kein politisches oder judikatives Gefüge gibt, das im Fall des Rechtsverstoßes oder einer (partiellen, z.B. durch einzelne Parteien in ihrem Wechselverhältnis) Rechtssetzung, die dem bestehenden, global geltenden Recht zuwiderläuft, intervenieren würde oder könnte. Die Ordnung des Rechts und d.h. auch die notwendigen Kohärenzprinzipien, die es erlauben, dem Vorbehalt entgegenzutreten, dass das Völkerrecht nie Recht, sondern immer politische Absichtserklärung mit begrenzter Bindungswirkung war,17 werden dabei nicht von Außen an dieses herange-

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Eine der präzisesten Formulierungen des „Bindungswirkungsdilemmas“, vor dem Verteidigungen des Völkerrechts unter Bedingungen von dessen (zu den Einzelstaaten) supplementärer Geltung stehen, geben Jack Goldsmith und Eric Posner: „[I]nternational law finds itself in a dilemma. On the one hand, if international law takes the state as the primary obligation-bearing agent, then it can have no direct moral force for the individuals or groups who control the state. There could be, by definition, state obligations under international law,

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tragen, sondern in drei herausragenden Quellen identifiziert, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Stellung des Völkerrechts fundamental verändert und es damit allererst ermöglicht haben, einen globalen Konstitutionalismus in den Blick zu nehmen: Die bei weitem wichtigste Quelle in dieser Perspektive ist die UNCharta, die 1945 von den fünfzig Gründungsmitgliedern zur Etablierung der UNO unterzeichnet wurde. Die UN-Charta hat eine besondere Stellung, da sie rechtlich betrachtet, mit ihren Kapiteln I, VI und VII ein Monopol der Ausübung von Gewalt im zwischenstaatlichen Raum beim Sicherheitsrat schafft. So verabschiedet sie das souveräne „Recht“ von Staaten zur Kriegsführung und setzt an dessen Stelle eine kollektive Konfliktbewältigung bzw. Sicherheitsstruktur. Als völkerrechtliches Dokument unterwirft die Charta also die Handlungsspielräume der einzelnen Staaten bzw. anderer Akteure, deren Wirken den Weltfrieden zu gefährden vermag, (zumindest mit Blick auf friedensgefährdende Maßnahmen) einer Rechtsordnung, in deren Befolgung legitimes Handeln allein möglich ist.18 Die zweite einschlägige Quelle ist die Allgemeine Menschenrechtserklärung aus dem Jahr 1948 (zu der zahlreiche weitere Menschenrechtsdokumente hinzukommen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention [1950] oder der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte [1966]). Durch diese

18

but these obligations would have no influence over the behavior of states except when citizens [...] happen to identify closely with the state or have independent grounds for supporting international law. On the other hand, if international law takes the individual or nonstate group as the primary moral agent, then it can claim the agent’s loyalty but it must give up its claim to regulate the relationships between states.“ Goldsmith/Posner 2005: 188. Es ist wichtig, in der Betrachtung der Ansätze des globalen Konstitutionalismus festzuhalten, dass diese die UN-Charta weniger aufgrund ihres Banns der zwischenstaatlichen Gewalt (d.h. aufgrund ihres Operierens als kollektive Sicherheitsstruktur) als herausragendes Dokument begreifen. Entscheidend ist vielmehr, dass eine supranationale Autorität qua Rechtstext etabliert wird, die einen Mechanismus für die Rechtfertigung staatlichen Handelns vorschreibt bzw. diesem Handeln Grenzen auferlegt, der bzw. die den einzelnen Staaten entzogen ist bzw. sind. Diesseits und jenseits aller Bewertungen konkreter Resolutionen oder der Inaktivität des Sicherheitsrates bzw. der Effizienz und Realität seiner Maßnahmen wird er so als formal-rechtliche Autorität eingesetzt, die den Charakter globalen Interagierens insgesamt transformiert.

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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Menschenrechtserklärungen sind einerseits Individuen und andere soziale Einheiten zu Subjekten des Völkerrechts geworden, während andererseits Aufgaben und Grenzen staatlichen Handelns global- oder kontinental-rechtlich niedergelegt wurden. Die dritte wesentliche Quelle ist schließlich das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge aus dem Jahr 1969, denn in ihm wird festgelegt, dass nationales Recht nicht als Grund zur Nichtbefolgung völkerrechtlicher Verpflichtungen angeführt werden kann und internationale Verträge in Teilen oder ganz ungültig sind, wenn sie gegen ius cogens verstoßen oder unter Zwang zustande gekommen sind. Zusammengenommen erzeugen diese Rechtsquellen eine globale rule of law, in der dem Völkerrecht der Vorrang vor dem Recht der Einzelstaaten zukommt, das Völkerrecht nicht nur Staaten, sondern auch Individuen und andere soziale Einheiten adressiert, und es die Handlungsspielräume von den Individuen bis hin zu den Staaten oder kontinentalen Organisationen festlegt. Insofern diese systematische Vorordnung des Völkerrechts vor jedes weitere Recht als Ermöglichungsgrund für die legitime Gestaltung von Handlungsspielräumen und für die Ausführung von Handlungen im Raum jenseits der Staaten (bzw. jenseits dessen, was die Staaten zu gewährleisten vermögen) verstanden wird, ist es plausibel, von einem globalen Konstitutionalismus zu reden. Denn in dieser Perspektive mag das Völkerrecht zwar faktisch durch den Abschluss von Verträgen oder Abkommen zwischen Staaten entstanden sein, der Geltung nach ist den vertragschließenden Parteien die Grundlage ihrer Übereinkunft entzogen. Im Unterschied zu den lex mercatoria-Ansätzen muss daher der globale Konstitutionalismus auch nicht darauf vertrauen, dass in der Rechtsprechung Verträge oder Elemente derselben als unwirksam erklärt werden, die Verstöße gegen allgemeine rechtliche oder normative Prinzipien darstellen. Solche Verträge bzw. Vertragsbestandteile verstoßen vielmehr, indem sie die Rechtsgrundlagen tangieren, die legitimes Agieren und Interagieren erst ermöglichen, per se gegen das geltende Recht und sind damit immer schon ungültig. Im Zusammenhang mit der früher entwickelten Zivilgesellschaftstheorie sowie unter der zusätzlichen Annahme, dass über den Gehalt und die Anwendung des Völkerrechts in juridischen

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

Instanzen autoritativ entschieden werden kann, ergibt sich so eine Theorie legitimer transnationaler Herrschaft, in der diese von den sozialen, ökonomischen und kulturellen Akteuren selbst ausgeübt wird, allerdings jederzeit von jedem Betroffenen gerichtlicher Kontrolle unterworfen werden kann, auch wenn kein besonderes Vertragsverhältnis besteht bzw. die Klage Führenden keine mächtigen zivilgesellschaftlichen Akteure für ihr Anliegen gewinnen können. Als wesentlicher Vorteil gegenüber dem lex mercatoria-Ansatz lässt sich dabei die Formalisierung der Grundlagen der Herrschaft sowie die strukturelle und prinzipielle Unabhängigkeit der Rechtsprechung von den ressourcenstarken ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren festhalten. Einen wesentlichen Hintergrund dieser Betonung der Bedeutung, die ein globaler Konstitutionalismus für legitime Herrschaftsausübung jenseits der Staaten hat, bildet die Entwicklung (in) der Europäischen Union und die Tatsache, das von nahezu allen europäischen Juristen und v.a. in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes die bestehenden Vertragswerke als wenigstens partielles funktionales Äquivalent zu einer einzelstaatlichen Verfassung betrachtet werden (Häberle 1997: 33-73). Es gibt bei allen Differenzen in den Verfassungsverständnissen eine einheitliche Hierarchie europarechtlicher und einzelstaatlicher Regulationen bzw. zumindest ein geteiltes Verständnis der Weisen, in denen Normenkollisionen geklärt werden. Das Fundament dieser Hierarchie oder des Kollisionsrechts besteht sowohl aus Grundrechten, die sich direkt aus europäischen Rechtsdokumenten und aus parallelen Verfassungsrechtsverständnissen ergeben, wie auch aus Zuschreibungen von legislativen, exekutiven und judikativen Kompetenzen. Der wichtigste Faktor bei dieser Beschreibung des europäischen Konstitutionalismus ist aber, dass dieser quasi-verfassungsmäßigen Ordnung des Rechts, das auf dem Territorium der Europäischen Union gilt, das Selbstverständnis der meisten rechtswissenschaftlichen, -praktischen und -politischen Diskurse in den einzelnen Staaten und jenseits von ihnen entspricht. Selbst unter Abwesenheit von (eindeutigen) institutionellen Äquivalenten zum politischen Gefüge der Staaten können so Strukturen und Praktiken einer europaweiten Herrschaftsausübung etabliert wer-

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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den, die jederzeit von den europäischen Bürgern und anderen relevanten Interessengruppen kontrolliert werden können. Dabei beinhaltet die Möglichkeit zur Ausübung dieser Kontrolle auch, dass Strukturen und Verfahren etabliert werden, durch die die Bürger befähigt werden, ihre Interessen und Anliegen zur Geltung zu bringen. Wie bereits im Kapitel 1 konstatiert wurde, ist dieses Bild des europäischen Integrationsprozesses auf problematische Weise idealisierend. Es hebt zwar interessante Tendenzen hervor, bleibt dabei aber sehr formal und sagt daher wenig oder zu wenig zur inhaltlichen Seite der formal analogen Entwicklungen. Joseph Weiler kritisiert so mit Blick auf die Frage nach den Voraussetzungen für legitime transnationale Herrschaftsausübung diese Darstellung dafür, dass sie zwar eine (quasi-)verfassungsmäßige Rechtsordnung für Europa auszumachen vermag, damit aber noch in keiner Weise die Erwartung an den Konstitutionalismus erfüllt, die zuvor entwickelt wurde (Weiler 1999: 298). Der Konstitutionalismus, der im Kontext des Republikanismus der Nicht-Beherrschung eingeführt wurde, stellt primär eine Beschreibung der Bedingungen dar, die den politischen Akteuren entzogen sein müssen, damit die positive Ausübung von Freiheit nicht-beherrschend geschieht. In diesem Konstitutionalismus spielt die Existenz einer expliziten und für alle sichtbaren Verfassung sicherlich eine wichtige Rolle. Die bloße Existenz einer Verfassung als solcher ist allerdings keine Gewähr dafür, dass es sich bei ihr tatsächlich um ein erstes Element des geforderten Konstitutionalismus handelt. Das republikanische Verständnis des Konstitutionalismus eignet sich vielmehr durchaus zur Kritik an Verfassungen, die Rechte, Strukturen und Verfahren festschreiben, die ungerechtfertigterweise oder sogar gegen den Anspruch auf Nicht-Beherrschung den politischen Verfahren entzogen sind. Die Herausbildung formal (quasi-)verfassungsmäßiger Rechtsstrukturen jenseits der Staaten ist vor diesem Hintergrund kein hinreichender Grund, um sie schon als Bestandteil von Verhältnissen legitimer Herrschaft zu begreifen. Der Ansatz, das Völkerrecht als Grundlage legitimer Herrschaft auszuzeichnen, kann diesen Vorbehalt z.T. dadurch entkräften, dass er im Gegensatz zur europarechtlichen Diskussion

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

und deren spezifischem Bezugsobjekt, der Europäischen Union, herausstreicht, dass in seiner Perspektive das konstitutionalisierte Völkerrecht eingebettet in die zuvor untersuchten Transformationen der positiven Ausübung von Freiheit betrachtet wird. Die Anforderungen an den Konstitutionalismus dürfen daher nicht mehr so gefasst werden, wie sie im Rahmen des Republikanismus der Nicht-Beherrschung innerhalb der Staaten artikuliert wurden, d.h. die positive Ausübung von Freiheit kann nicht durch den Konstitutionalismus und das politische Gefüge, das sich durch ihn ergibt, konstituiert werden. Viele der Bedingungen für die positive Ausübung von Freiheit, die in der Tat innerhalb von Staaten erst geschaffen werden mussten, sind unter Voraussetzungen der Globalisierung immer schon gegeben bzw. lassen sich durch ein politisches Gefüge nicht (mehr) sinnvoll schaffen. Die Kombination von Markt und Zivilgesellschaft bringt eine Pluralität von Kontexten der Selbstbestimmung und des Verfolgens von Projekten zur Erscheinung, die die Optionen, Freiheit positiv auszuüben, derart potenziert, dass die erneute Rückbindung dieser Optionen an explizite und formalisierte Verfahren eine zu gravierende Beschneidung der Optionen wäre. Was folglich – auch nach den Kritiken an den präsentierten Markt- und Zivilgesellschaftsmodellen – von einem konstitutionalisierten Völkerrecht zu erwarten ist, ist ausschließlich die negative Sicherung von Freiheit, d.h. die Garantie der Möglichkeit, beherrschendes Verhalten anderer zurückzuweisen. Und dies – so die These – ist genau dann gewährleistet, wenn das Völkerrecht mit entsprechenden rechtsprechenden Instanzen verbindlicher Bezugspunkt für alle ist und alle Akteure qua Konstitutionalisierung des Völkerrechts mit Befähigungsansprüchen (in der Form unantastbarer Grundrechte und positiver Leistungen, die genutzt werden können) ausgestattet werden, die es ihnen erlauben, Beherrschungsphänomene juristisch zu thematisieren und so abzuwehren. Die Argumentation für einen globalen Konstitutionalismus vermag aber nur dann den zuvor wiederholt vorgebrachten Einwänden dagegen entgegenzutreten, dass eine kontingente Verteilung der Ressourcen hinreicht, die zur positiven Ausübung von Freiheit benötigt werden, wenn sie die zusätzliche Annahme

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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macht, dass der geltungstheoretische Vorrang des Rechts sowie die Autonomie des Rechtsdiskurses und der Rechtsanwendung als solche eine Gestaltung der Handlungsmöglichkeiten zur Folge haben, die die beste erreichbare Gewährleistung der Möglichkeit darstellt, Freiheit positiv auszuüben. Dies ist nicht so unplausibel, wie man zunächst denken könnte, denn je nachdem, wie weit oder eng „Nicht-Beherrschung“ als juristischer Einspruchsgrund gefasst wird, ist aufgrund der Autonomie der Rechtsgeltung sowie des Rechtsprechungsprozesses davon auszugehen, dass Akteure zu dem Zweck, rechtlich bewirkte Einschränkungen bzw. überhaupt juristische Prozesse zu vermeiden, auf möglichst umfassende Inklusion bzw. Berücksichtigung von Betroffenen abzielen werden. Nur so ist nachvollziehbar, dass selbst republikanische Autoren wie Pettit mit Blick auf transnationale Kontexte v.a. auf ein Einspruchsrecht setzen (Pettit 2004). Letztlich vermag diese zusätzliche Annahme aber nicht zu überzeugen, denn sie ruht allein auf einer psychologischen Deutung des Handelns der Akteure auf und kann damit nicht als nicht-willkürliche Gewährleistung der Bedingungen zur positiven Ausübung von Freiheit verstanden werden. Hinzu kommt, dass die Distanzierung von der Perspektive eines europäischen Konstitutionalismus insgesamt nicht hinreicht, um den Vorbehalt eines problematischen Formalismus auszuräumen. Zwar sind die genannten Entwicklungen im Völkerrecht zweifelsohne begrüßens- und unterstützenswerte Tendenzen, die sich in verschiedenen theoretischen Perspektiven als Fortschritt rekonstruieren lassen. Solange aber nicht im Detail und in einer Auszeichnung von Zielen gezeigt wird, dass und warum zumindest die basalen Prinzipien des konstitutionalisierten Völkerrechts Beherrschung grundsätzlich verhindern und nicht doch in gewissen Konstellationen zu beherrschenden Verhältnissen beitragen können, ist der Ansatz zumindest in der systematischen philosophischen Betrachtung nicht hinreichend begründet. Die Tatsache, dass es unter den gegebenen Verhältnissen einen Vorteil darstellt, wenn ein basaler Menschenrechtsschutz etabliert ist sowie ein Vorrang des Völkerrechts vor unilateraler Politik einzelner Weltmächte besteht, ist – wie schon in der Kritik an den Theorien globaler Gerechtigkeit deutlich wurde – kein Grund, warum es sich

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

dabei prinzipiell um einen notwendigen und eventuell sogar hinreichenden Schritt zur Gewährleistung von Nicht-Beherrschung handeln sollte.19 Es darf nicht qua Formalisierung das Verständnis von wünschenswerten Handlungen bzw. Optionen, wie es sich im derzeit dominierenden (Neo-)Liberalismus herausgebildet hat, zu einem ahistorischen Verständnis von Handlungsräumen hypostasiert werden, die absolut erstrebenswert sind. Das heißt v.a., dass die Frage der Rechtsetzung nicht einfach vernachlässigt werden darf. Es muss ersichtlich werden, wie es zu den Prinzipien und Regelungen kommt, die das geltende Völkerrecht ausmachen, und ob und wie die Vorgaben modifiziert werden können. Dies impliziert auch, dass es Möglichkeiten geben muss, das Völkerrecht selbst in seinen grundlegendsten Bestandteilen daraufhin zu überprüfen, ob es nicht (doch) Ausdruck von Beherrschung bzw. der Perpetuierung von Verhältnissen ist, die durch beherrschende Akte zustande gekommen sind. Eine solche Überprüfung kann nicht durch dieselben judikativen Instanzen geschehen, deren NichtWillkürlichkeit gerade dadurch gewährleistet sein soll, dass sie keinen Zugriff auf die Geltungsgründe des Völkerrechts haben. Sowohl die Vorbehalte gegenüber der kontingenten Ressourcenverteilung wie auch diejenigen gegenüber dem Formalismus einer rule of law auf der Grundlage des existierenden Völkerrechts verweisen auf die Notwendigkeit von Einrichtungen, die die nichtbeherrschende positive Ausübung von Freiheit im doppelten Sinn des Verfolgens von (kollektiven) Projekten unabhängig von Ressourcenverteilungen und der Rechtsetzung und Revidierung von

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Dieser Vorbehalt trifft v.a. kantianische Ansätze, die den republikanischen Kern der kantischen Rechtsphilosophie „vergessen“ und zur Abwehr der „Vermachtung“ der internationalen Politik auf die Rechtlichkeit des Rechts setzen. Dieser Punkt ist unter den aktuellen Bedingungen nachvollziehbar, er offenbart aber seine Schwäche, sobald mit Blick auf Genozide oder andere gravierende Menschenrechtsverletzungen die Rückfrage auftaucht, ob wirklich auf die faktischen Vereinten Nationen bzw. die Motivationen und Interessen der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat vertraut werden soll. Hier wird dann oft der Formalismus beiseite geschoben und im Vorgriff auf eine normativ adäquatere rule of law eine Überschreitung geltenden Rechts zumindest für zulässig erklärt. Vgl. dazu etwa die Argumentation von Jürgen Habermas zum Krieg der NATO gegen Jugoslawien in Habermas 2000.

6.2 Legitimität durch die Autonomie internationalen Rechts

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geltendem Recht ermöglichen. Solche Einrichtungen lassen sich eventuell nur dann realisieren, wenn sich ein umfassenderer staatlicher oder quasi-staatlicher Zusammenhang im globalen Maßstab herausbildet. Ob sich durch die Replikation von Staatlichkeit auf Weltebene wirklich ein globaler Republikanismus der Nicht-Beherrschung realisieren lässt, soll nun untersucht werden.

6.3 Legitimität durch demokratische bzw. republikanische Global- oder Weltstaatlichkeit Mit dem Verweis auf „öffentliche Autoritäten“ im inter- oder transnationalen Raum wird die Differenz globaler Instanzen der Herrschaftsausübung zu den innerstaatlichen Verhältnissen immer geringer. Dies zeigt sich v.a. darin, dass sich internationale Organisationen und Institutionen nur dann als Grundlage legitimer Herrschaftsausübung eignen, wenn sie nicht selbst neue beherrschende Faktoren bilden. Dem Recht kann daher, sobald ein globales Gefüge von Einrichtungen anvisiert wird, die auf die Voraussetzungen für positive Ausübung von Freiheit sowie auf die Generierungsbedingungen internationalen Rechts abzielen, nicht nur die Funktion eines Raums zukommen, in dem Handlungsverhältnisse relativ autonom strukturiert werden. Es muss vielmehr auch das Wirken der Institutionen selbst einer Kontrolle bzw. Kontrollierbarkeit unterwerfen.20 Das Herausstellen der Notwendigkeit von Einrichtungen, die – über die negative Absicherung von Freiheit hinaus, die zu einem gewissen Grad durchaus von den zuvor untersuchten Ansätzen konzipierbar war – global gewährleisten sollen, dass Akteure zur positiven Ausübung von Freiheit befähigt sind und ihre Freiheit durch legitimes Völkerrecht negativ abgesichert wird, führt zu einer Analogisierung des globalen Raums mit den einzelnen Staaten (vgl. zur Notwendigkeit dieser Analogisierung Held 1995: 136-140). Diese Analogisierung hat sofort die zusätzliche Frage zu Folge, was dies für die Staaten und ihr Verhält-

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Vgl. dazu die Betonung der „Demokratisierung“ internationaler Institutionen und Organisationen bei Smith 2000: 24-26 oder die Beschreibung der transnationalen „accountability gap“ bei Keohane 2003: 139-142.

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

nis zueinander bedeutet, so sie schon existieren oder zuvor begründet wurde, dass sie als einzelne Staaten erforderlich sind. Im Rahmen der politischen Philosophie internationaler Beziehungen bzw. kosmopolitaner Demokratie werden wesentlich drei Ansätze diskutiert, in denen jeweils Analogien und Disanalogien zwischen globaler und innerstaatlicher Herrschaftsausübung entwickelt werden, um vor diesem Hintergrund Anforderungen an einen (neuen) globalen „Staat“ zu begründen und den bestehenden oder zu schaffenden Einzelstaaten eine Rolle in der globalen Ordnung zuzuweisen oder abzusprechen. Es handelt sich hierbei erstens um Modelle der Konföderation, zweitens um solche von mehr oder minder zentralistischer Weltstaatlichkeit sowie drittens um Ansätze eines globalen Föderalismus. Dabei ist vor dem Eintritt in die Betrachtung der Modelle festzuhalten, dass es unterschiedliche Weisen gibt, die drei Formen einer globalen politischen Ordnung zu differenzieren. Im Gegensatz zu Darstellungen der Konföderation als eines „institutionell unbefestigten, moralischen Schwebezustand[s] reiner Verabredung“ zwischen souveränen Staaten (Kersting 1998: 537), der dementsprechend den beiden anderen Formen grundsätzlich entgegensteht, da diese Elemente der Rechtsstaatlichkeit vorsehen, werden im Folgenden konföderale, zentralstaatliche und föderale Ordnung jeweils als globale Rechts- und Institutionenordnung (im Sinne einer rule of law) begriffen und die Differenzierung entlang der Frage des jeweiligen Gesetzgebers des global geltenden Rechts bzw. der Bestimmung der Exekutiven vorgenommen. Dabei bilden in der Konföderation die Staaten die Quelle der Gesetzgebung und den Ausgangspunkt für die Besetzung von Exekutiven, in einem Weltstaat die Individuen und in einer föderalen Struktur die Staaten und die Individuen.

6.3.1 Modelle einer globalen Konföderation Wie in der Argumentation für legitime globale Herrschaft über öffentliches Völkerrecht ersichtlich geworden ist, vertritt zumindest ein wichtiger Teil des Völkerrechtsdiskurses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Auffassung, dass sich einerseits eine globale Rechtsordnung herausgebildet hat, die eine globale rule of law

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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sowie den Primat des internationalen Rechts vor dem nationalen Recht umfasst, und andererseits v.a. mit der UNO Institutionen etabliert wurden, die grundsätzlich über Instrumente verfügen, um die rule of law durchzusetzen.21 Wenn man über die rein rechtsdogmatische oder geltungstheoretische Interpretation dieser Entwicklungen hinausgehen will, wie sie im vorhergehenden Abschnitt betrachtet wurde, dann lassen sie sich in der schwächsten Lesart so verstehen, dass die existierenden Einzelzusammenhänge nach dem 2. Weltkrieg eine Konföderation gebildet haben. Diese Konföderation hebt sich zunächst dadurch von bloß inter-nationalen, d.h. zwischenstaatlichen vertragsbasierten Verhältnissen ab, dass die Staaten sich in eine Struktur begeben, die die Rechtsförmigkeit ihrer Interaktionen garantiert und kontrolliert. Die Interaktionen sind somit nicht mehr (nur) durch die Interessen und Ressourcen der einander gegenüberstehenden Parteien bestimmt.22 Zugleich wird kein neues Gesamtgefüge mit eigener legislativer oder exekutiver Kompetenz auf der Basis genereller Teilhabemöglichkeiten global aller Individuen geschaffen (was als Legitimitätsbedingung für die Einzelstaaten konstatiert wurde), da sich die Aufgaben der globalen Institutionen (verkörpert v.a. in der UNO und ihren Organen) auf die Regulierung der Verhältnisse zwischen Staaten beschränken.23 Davon weicht auch die explizite rechtliche Niederle-

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Einen hervorragenden Überblick über die Ansätze, die v.a. das Verhältnis von Völkerrechtsentwicklung und Veränderungen im Funktionieren und in der Wahrnehmung von internationalen Institutionen und Organisationen betonen, bietet der Sammelband Macdonald/Johnston 2005. Vgl. dazu den Satz in der Präambel der UN-Charta: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, [...] Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, [...]“ (zitiert nach Tomuschat 2005: 1.1). D.h. die Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat exekutiv, aber faktisch auch legislativ tätig ist (Akram/Shah 2005, Marschik 2005), muss nicht als Überschreitung des konföderalen Charakters der globalen Ordnung verstanden werden, solange er sich im Rahmen seiner Aufgaben bewegt und gezeigt werden kann, dass zur Erfüllung dieser Aufgaben exekutive Maßnahmen und Gesetzgebung erforderlich sind. Es wird aber zu Recht darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund die Politisierung des Sicherheitsrates ein gravierendes Problem darstellt, und zwar weniger, weil sie zu parteiischem Handeln führt,

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

gung von Menschenrechten (v.a. der Intention im Entstehen der Dokumente nach) nicht ab, denn damit wird nicht eine globale Exekutive mit dem Ziel programmiert, in der Form regulatorischer Staatlichkeit direkt den Schutz und die Gewährleistung der Menschenrechte zu bewirken. Es werden vielmehr Anforderungen an Einzelstaaten artikuliert, deren Nichterfüllung die UN und sekundär auch die Staaten wechselseitig dazu berechtigt (im rechtlichen und nicht im moralischen Sinn), andere rechtliche und vertragliche Verpflichtungen gegenüber dem Staat, der die Menschenrechte missachtet, auszusetzen oder sie gar direkt zu verletzen (etwa in der Form von militärischen oder nicht-militärischen Interventionen, die das Prinzip der Wahrung der Unabhängigkeit der Staaten24 verletzen). Eine globale Konföderation besteht also primär darin, dass die Staaten sich in rechtsförmigen Verhältnissen befinden, die durch globale Institutionen garantiert werden, und die Staaten somit in ihren Optionen in relevanten Hinsichten nicht von kontingenten Ressourcenverteilungen oder Bedrohungspotentialen abhängig sind. Allerdings kann diese Konföderation von Staaten sekundär durchaus implizieren, dass in ihrem Konsens oder als Implikation der globalen rule of law und ihrer Erhaltung (was eine Bestimmung der Instanzen notwendig macht, die diese Implikationen in Rechtsprinzipien zu explizieren vermögen) funktionale und/oder normative Anforderungen an die Staaten in der Form von Bedingungen für die Rechtlichkeit der Verhältnisse erhoben werden. Die Disanalogie zu den Verhältnissen innerhalb der Staaten besteht daher darin, dass nicht vorgesehen ist, dass die globalen Einrichtungen direkt die Handlungsverhältnisse zwischen Individuen gewährleisten und kontrollieren. Diese

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sondern weil sie zur Folge hat, dass die Bindung zwischen exekutiven Maßnahmen sowie Gesetzgebung einerseits und dem konföderalen Charakter der „Globalverfassung“ andererseits geschwächt wird, die das Wirken des Sicherheitsrates überhaupt erst autorisiert. Dieses Prinzip enthält v.a. der Artikel 2.4 der UN-Charta: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ (zitiert nach Tomuschat 2005: 1.3).

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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Aufgabe kommt ausschließlich den einzelnen Staaten zu, was mit Blick auf die Menschenrechte v.a. bedeutet, dass die globalen Institutionen nur die Menschenrechtsverletzungen thematisieren können, die direkt durch die Staaten geschehen oder von diesen willentlich nicht unterbunden werden. Menschenrechtsverletzungen, die durch Grenzen der Regulationsvermögen auf der Ebene der Staaten möglich werden oder dadurch geradezu geschehen,25 sind nicht Gegenstand der Interventionen und Regulationen des konföderalen globalen Gefüges. Dies heißt nicht, dass sie nicht im Rahmen trans- oder internationaler Vereinbarungen bzw. eigener Organisationen thematisiert und behoben werden können und eventuell sogar müssen, wenn sich herausstellt, dass diese Menschenrechtsverletzungen die Existenz oder Funktion des globalen konföderalen Gefüges bedrohen. Entsprechende Vereinbarungen und Organisationen sind dann aber wiederum strikt von der Übereinkunft der betroffenen Staaten abhängig. Mit Blick auf die Schwierigkeiten der Ansätze, die zuvor analysiert wurden, die positive Ausübung von Freiheit bzw. deren Gewährleistungsbedingungen hinreichend zu thematisieren, unterbreitet das konföderale Modell das Angebot, die Möglichkeit dieser Ausübung dadurch abzusichern, dass Staaten sich selbst noch einmal in rechtsförmigen Relationen zueinander befinden und die globalen Einrichtungen sowie die Staaten wechselseitig darüber wachen, dass innerhalb der Staaten die Voraussetzungen für die positive Ausübung von Freiheit gewährt sind und bleiben. So geht das Modell deutlich über die „westfälischen“ Ansätze hinaus, die im Kapitel 5 vorgestellt wurden und die globalen Strukturen auf solche der wechselseitigen Abgrenzung zum Zweck der Sicherung

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Viele „Verletzungen“ sozialer Menschenrechte fallen in die letzte Gruppe: So hat gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zwar jeder „das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet“ (Art. 25.1 [zitiert nach Tomuschat 2005: 11.4]), wenn aber Staaten keine hinreichenden Steuereinnahmen haben oder nicht über Institutionen verfügen, die Leistungen, wie medizinische Behandlung, ermöglichen, dann handelt es sich dabei völkerrechtlich gesehen nicht um Menschenrechtsverletzungen.

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jeweiliger republikanischer Verhältnisse beschränken wollten.26 Es werden nicht nur globale Institutionen gerechtfertigt, die klarerweise mit Ressourcen ausgestattet werden müssen, um die rechtsförmigen Verhältnisse zwischen den Staaten zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Vermittels der Kontrolle über die Bedingungen der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit innerhalb der Staaten werden auch Voraussetzungen geschaffen, über die Staaten ungezwungen miteinander kooperieren können und z.T. müssen bzw. die wechselseitigen Auswirkungen jeweiliger positiver Ausübungen von Freiheit thematisierbar sind. Im Gegensatz zur bloßen Festschreibung des status quo positiver Ausübung von Freiheit innerhalb von Staaten, die v.a. nichts zu den beherrschenden Effekten dieser Ausübung in anderen Staaten zu sagen vermag, wird somit die Reflexivität der Formen und Inhalte dieser positiven Ausübung (im Sinn der Betrachtung von Effekten der Ausübung nach innen und außen) von den Akteuren und Staaten geradezu gefordert, ohne dabei allerdings die positive Ausübung selbst auf eine andere, im globalen Maßstab „höhere“ Ebene zu heben. Die Rechtlichkeit der globalen Ordnung und die Auszeichnung von Prinzipien, deren Einhaltung und Durchsetzung für das Bestehen und die Legitimität der Ordnung notwendig ist, erlaubt es, unter Verweis auf Verletzungen dieser Prinzipien das Handeln einzelner Staaten zu problematisieren und so die internationalen Einrichtungen notfalls dazu zu motivieren, steuernd und kontrollierend einzugreifen. Transnational beherrschende Handlungen oder Effekte lassen sich folglich als Bedrohungen des „Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ (UN-Charta Art. 39) verstehen, weshalb die Herrschaftsausübung zum Zweck der Verhinderung solcher Handlungen oder Effekte zugleich die Freiheit negativ sichert und die Bedingungen für legitime positive Ausübung von Freiheit garantiert (Galtung 2000). Vor dem Hintergrund der Ansätze, die zuvor diskutiert wurden und die die neuen Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, die die Globalisierung bietet, als Ausgangspunkt wählten, hängt

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Vgl. dazu auch die Zurückweisung der bloßen Alternative von „westfälischer Anarchie“ und kosmopolitaner Demokratie bei Zolo 1997: 94-127.

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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die Überzeugungskraft des konföderalen Modells wesentlich davon ab, ob es ihm gelingt zu explizieren, dass sich alle wünschenswerten und denkbaren Formen positiver Ausübung von Freiheit in einem System von Staaten realisieren lassen, in dem Freiheit legitim nur innerhalb von ihnen positiv ausübbar ist. Zweifelsohne bietet das konföderale Modell eine noch robustere negative Absicherung von Freiheit als es in dem Völkerrechtsansatz denkbar war, aber wie bei allen Verstärkungen negativer Absicherung stellt sich die Frage, ob die größere Robustheit nicht dadurch erreicht wird, dass letztlich die Realisierung des anvisierten Ziels, nämlich die positive Ausübung von Freiheit, unmöglich wird. Es liegt der Einwand nahe, dass das konföderale Modell die positive Ausübung von Freiheit unplausiblerweise auf die Interessen und Projekte beschränken muss, die innerhalb eines Staates und von diesem umsetzbar sind und daher Kooperation allein von den Mitgliedern des Staates erwarten, während mit Blick auf andere Staaten maximal Koordination, d.h. wechselseitige Rücksichtnahme, zu erreichen ist. Eine solche Beschränkung könne prinzipiell zahlreiche transnationale Interessen und Projekte nicht berücksichtigen oder müsse diese per se als illegitim deklarieren, so der Einwand. Es wäre also nicht wirklich ein Gewinn gegenüber den markt-, zivilgesellschafts- und völkerrechtsorientierten Ansätzen zu verzeichnen, denn die Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit kämen nur derart in den Blick, dass alle Weisen der positiven Ausübung, die nicht schon im ersten Teil dieses Buches als möglich beschrieben wurden, für unzulässig erklärt werden (vgl. zu diesem Einwand Held/McGrew 2002: 16-24). In dieser Allgemeinheit kann das konföderale Modell den Einwand zurückweisen, denn wie angedeutet wurde, spricht in ihm nichts dagegen, dass die Staaten miteinander Projekte und Interessen kooperativ verfolgen – ausgeschlossen wird nur die Möglichkeit, dass das Verfolgen dieser Projekte und Interessen dadurch legitim werden könnte, dass in einer transnationalen (und d.h. von den Legislativen der Staaten unabhängigen) Legislative (bzw. einem transnationalen Markt, einer ebensolchen Zivilgesellschaft oder qua Richterrecht) eine Entscheidung herbeigeführt wird, die dieses Verfolgen ermöglicht oder gar notwendig macht. Das berechtigte Verfolgen

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kooperativer Projekte hängt in der konföderalen Perspektive daran, dass in den Legislativen der beteiligten Staaten Entscheidungen herbeigeführt werden, die die Kooperation über die Grenzen der Staaten hinaus erlauben und/oder direkt anstreben. Dabei beanspruchen Vertreter des konföderalen Modells, dass dies nicht nur ein Zugeständnis an weitergehende Forderungen nach der Realisierbarkeit transnationaler positiver Ausübung von Freiheit ist, die kontingenterweise erhoben werden. Die Distribution der positiven Ausübung von Freiheit auf unterschiedliche und voneinander in den legislativen Verfahren abgegrenzte Staaten, die intern demokratisch-rechtsstaatlich verfasst sind, ist für sie (zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt) die einzig mögliche Absicherung der faktischen Bindung transnationaler Herrschaftsausübung an geteilte Verfahren und Strukturen der positiven Ausübung von Freiheit (Preuß 2002: 107-109). Die Konzentration auf die positive Ausübung von Freiheit in den Staaten soll also nicht aufgrund von einer bestimmten Vorstellung der positiven Ausübung von Freiheit oder eines kommunitaristischen Interaktionsmodells den Ort beschränken, an dem Freiheit positiv ausübbar ist. Sie soll v.a. gewährleisten, dass die Prinzipien, die im transnationalen Raum der Herrschaftsausübung zu Grunde liegen, sowie die Institutionen, die die Herrschaft ausüben, programmier-, steuer- und kontrollierbar sind und bleiben. Mit der Auszeichnung des legislativen Primats der einzelnen Staaten wird folglich zu gleichen Teilen die Sicherung und Erhaltung von Bedingungen positiver Ausübung von Freiheit und das Bestehen eines Gefüges verbunden, in dem ein quasi-gewaltenteiliges Verhältnis v.a. zwischen Legislation und exekutivem Handeln besteht. Die Verteidiger des Modells müssen also eventuell einräumen, dass bestimmte Typen transnationaler positiver Ausübung von Freiheit bei ihnen prinzipiell unzulässig sind. Als Begründung für diese Unzulässigkeit können sie aber anführen, dass die Ermöglichung, diese Typen zu verfolgen, zur Konsequenz hätte, dass die Bedingungen legitimer positiver Ausübung von Freiheit (etwa aufgrund der ökonomischen Disparitäten, die derart zugelassen werden, oder aufgrund der Größe der dazu notwendigen Institutionen) insgesamt unter-

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miniert würden (vgl. zu einer solchen Argumentation etwa Altvater 1999: 45-51). Die Schwierigkeit dieser Zurückweisung des Einwandes liegt darin, dass kein direktes Argument dafür präsentiert wird, warum sich ein gewaltenteiliges politisches Gefüge inklusive eines Vorrangs der Legislative nicht jenseits der Staaten etablieren lassen sollte. Es gibt zwar kommunitaristische oder hegelianische Ansätze, die insgesamt sozialphilosophisch die Auffassung vertreten, dass die Konstitution von Personalität oder gar Individualität (Frost 1996: 137-159) nur in begrenzten und/oder staatsförmig organisierten Gemeinschaften denkbar ist. Diese Ansätze sind aber im Unterschied zu kommunitaristischen Argumentationen, die die Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit an das Bestehen je besonderer Staaten knüpfen,27 nur schwer in eine republikanische und d.h. freiheitstheoretische Argumentation mit dem Ziel, nicht-beherrschende Handlungsverhältnisse zu entwickeln, integrierbar.28 Bei ihnen handelt es sich eher um Alternativen zu gerechtigkeitstheoretischen Legitimitätstheorien bzw. eine radikale Kritik derselben unter Betonung der Notwendigkeit (zumindest von Grundzügen) einer Konzeption des guten Lebens bzw. gelingender Intersubjektivität für die umfassende Bestimmung legitimer Herrschaft und d.h. für eine Bestimmung, die die Reproduktion psycho-sozialer Handlungskompetenzen und Bindungen berücksichtigt. Die Probleme moralphilosophischer Begründungen legitimer Herrschaft wurden aber schon mehrfach thematisiert, so dass von solchen Ansätzen zumindest keine ad hoc überzeugenden Gründe für die Notwendigkeit einer Pluralität von Staaten zu erwarten sind.29 Wie bereits früher zugestanden, mag es politisch

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Vgl. dazu die kurze Diskussion von David Miller im Kap. 7.1.2. Dies zeigt sich etwa in der zwischen Klugheitsargumenten und kommunitaristischer Sozialphilosophie oszillierenden Argumentation Michael Walzers, warum das konföderale Modell „das politische Gebilde ist, das die alltägliche Verwirklichung von Gerechtigkeit am meisten erleichtert, und zwar unter Bedingungen, die der Sache der Gerechtigkeit insgesamt am wenigsten gefährlich sind“ (Walzer 2003: 29). Um zu überzeugenden Gründen zu kommen, müsste gezeigt werden, dass die Generierung und Reproduktion der genannten Kompetenzen notwendig auf

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klug sein, die Gefahren einer Überführung bestehender Staaten in einen Weltstaat (aufgrund der Aufgabe bestehender Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben und Institutionen an diese Ausübung zu binden) als zu groß einzuschätzen und daher das Projekt einer demokratischen Weltrepublik nicht als Ziel anzugeben – aber dieser Klugheitsgrund ist kein systematisches Argument.30 Es lässt sich sogar sagen, dass angesichts der Handlungen mit transnationalen Dimensionen bzw. beherrschenden Effekten, die tatsächlich unter Bedingungen der Globalisierung verfolgt werden, die ausschließliche Konzentration auf Optionen, die in positiver Ausübung von Freiheit in den einzelnen Staaten autorisiert werden, selbst ein neues innerstaatliches Beherrschungspotential zur Erscheinung bringt. Denn es müssen ja beständig die Herrschaftsverhältnisse gesichert werden, die es überhaupt vermögen, eine demokratische Gesetzgebung als Grund für die Bestimmung der sozialen Handlungsrelationen zur Geltung zu bringen. Die (neue) Dimension dieser „Durchsetzung von Herrschaftsverhältnissen überhaupt“ gegen Akteure, die sich bestehenden Mustern der Herrschaftsausübung zu entziehen versuchen, belegen so unterschiedliche Phänomene, wie die Attacken von Bauern gegen Transportunternehmer, die vermeintlich soziale und ökonomische Standards unterlaufen, und die Interventionen in andere Staaten, um dort residierende „Terroristen“ oder „Separatisten“ zu attackieren, die transnational operieren. In all diesen Fällen lässt sich argumentieren, dass die Handlungen notwendig sind, um sicherzustellen, dass das politische Gefüge überhaupt dem Herrschaftsanspruch gerecht werden kann, der an es erhoben wird. Es erscheint ein Grenzbereich von staatlichen Handlungen, die notwendig sind, um die Republikanizität der Staaten aufrecht zu erhalten, die aber gleichzeitig beherrschende Effekte auf andere Staaten und Individuen und zumindest indirekt auch innerhalb der Staaten haben. Im konföderalen Modell ist nicht klar, wie mit diesen Hand-

30

die politische Form etwa eines Nationalstaates verweist. So weit gehen jedoch die meisten der Ansätze nicht, auf die hier Bezug genommen wird. Vgl. dazu auch erneut die extensive Diskussion zu Kants Begründung, warum er nicht die Weltrepublik als Ziel seiner Überlegungen zum Rechtszustand zwischen den Republiken auszeichnet u.a. bei Höffe 2004 oder Kohler 2002.

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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lungen umzugehen ist, und es wird auch keine Ebene bzw. Instanz ausgezeichnet, die in der Lage sein könnte, den Grenzbereich in legitimer Weise zu regulieren oder zu kontrollieren. Diese interne Unterbestimmtheit des konföderalen Modells ist systematisch fraglos eine der zentralen Herausforderungen für alle Modelle, die im Folgenden diskutiert werden. Denn mit Blick auf das, was im Kapitel 1 zum Übergang von Macht zu Herrschaft ausgeführt wurde, ist zu konstatieren, dass sich die Probleme, die dort angedeutet wurden, im globalen Raum derart verschärfen, dass es tendenziell zu einer Spannung zwischen den Bedingungen für die Aufrechterhaltung von Herrschaft überhaupt (im Gegensatz zur Macht) und denjenigen für die Legitimität der Herrschaft kommt. Für die einzelnen Staaten konnte aufgrund der gewaltenteiligen Struktur und ihrer unterstellten Ausschließlichkeit in gewissem Maß die Identität der beiden Bedingungen angenommen werden. Im Kontext der Globalisierung und d.h. der zahlreichen Möglichkeiten, Ressourcendifferenzen dazu zu nutzen, andere zu Handlungen zu nötigen oder zu motivieren (die gegen Recht verstoßen und bislang nicht rechtlich reguliert sind), ist sehr viel weniger evident, dass ein Setting von Verfahren und Institutionen denkbar sein könnte, das konstitutiv für den Raum des sozialen Handelns ist, das also aufgrund der Existenz der Verfahren und Institutionen per se auch der ausschließliche Grund für soziale Handlungsmöglichkeiten ist oder sein könnte. Die Vorstellung regulatorischer Staatlichkeit bzw. der Fortführung derselben jenseits der Einzelstaaten ist von zahlreichen Studien mit einigen Fragezeichen versehen worden, so dass jede Form legitimer transnationaler Herrschaft zweifelsohne hinreichend reflexiv angelegt sein muss, um dieser Fragwürdigkeit überkommener institutioneller Operationsweisen und Selbstverständnisse Rechnung zu tragen. Dazu gehört sicherlich auch, dass v.a. den globalen zivilgesellschaftlichen Akteuren Möglichkeiten zur Artikulation von Problemen mit transnationaler Herrschaft eingeräumt werden – gerade solche Möglichkeiten sind im konföderalen Modell aber nur sehr schwer zu konzipieren. Zu dieser Unterbestimmtheit des konföderalen Modells mit Blick auf Handlungstypen, die faktisch unter den gegenwärtigen

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

Bedingungen in ihrer Existenz und in ihrer Problematizität nicht geleugnet werden können, kommt hinzu, dass dieses Modell bei aller Berechtigung transnationaler Kooperation doch mit einer unplausiblen Einschränkung zulässiger Interessen und Projekte operiert. Wie in den zuvor diskutierten Ansätzen zu Recht betont wurde, lassen sich wesentliche Handlungsinteressen, die Akteure in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verfolgen, nicht mehr auf einzelne Staaten beschränken. Solche Interessen zielen vielmehr in vielen Fällen auf Kooperationen und Interaktionen mit Akteuren in anderen Staaten, wobei die Tatsache der primären Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Staaten häufig keine entscheidende Rolle spielt. Viele der Interessen und Projekte mögen z.T. auch aufgrund ihrer Tendenz, die Bedeutung bestehender Staaten zu reduzieren, praktisch-politisch kritisierbar sein, dies darf aber nicht als grundsätzlicher, d.h. in der Legitimitätstheorie gegründeter Einwand verstanden werden. Zudem ist nicht zu unterschätzen, dass in vielen der Interessen und Projekte bzw. den Handlungen, die daraus resultieren, ein großes Potential für positive Ausübungen von Freiheit und die Produktion und Reproduktion von Fähigkeiten und Ressourcen liegt, die eine Theorie legitimer Herrschaft in Zeiten globalisierter ökonomischer, sozialer, sicherheitspolitischer, kultureller etc. Verhältnisse ernst nehmen sollte. Diese Vorbehalte gegenüber dem konföderalen Modell sprechen dafür, dass es weder hinsichtlich der negativen Absicherung von Freiheit noch mit Blick auf die Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit ein überzeugendes Angebot darstellt. Die Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, sind zu eng begrenzt, und die Anforderungen an die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen überhaupt bleiben unterbestimmt. Auf beide Schwächen reagieren Legitimitätstheorien, die einen republikanischen Weltstaat ins Spiel bringen und in ihm die einzige Form ausmachen, in der Herrschaft global legitim ausgeübt werden kann.

6.3.2 Zentralstaatliche Modelle des Weltstaats Im Gegensatz zum Ausgang der Argumentationen des Marktbzw. Zivilgesellschaftsmodells bei faktischen Interessen und Pro-

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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jekten, die spätestens in der Globalisierung zur Erscheinung gekommen sind und die einzelnen Staaten überschreiten, ruht die Begründung für den Weltstaat auf der These auf, dass die Grundlagen der Legitimitätstheorie per se dazu nötigen, einen globalen und integralen Staat zu gründen. Das Weltstaatsmodell beantwortet somit die Frage, die zu Beginn des zweiten Teils dieses Buchs aufgeworfen wurde, nach dem Status der Untersuchung von Bedingungen legitimer Herrschaft im globalen Raum so, dass diese Untersuchung nicht nur eine Erweiterung der Legitimitätstheorie durch die Darlegung der Bedeutung für ein weiteres Anwendungsgebiet ist. Es ist vielmehr zu sehen, dass die Legitimitätstheorie erst mit der globalen Konzeption der Bedingungen legitimer Herrschaft zum Abschluss gebracht werden kann, in dem Sinn, dass in dieser Perspektive die einzelnen Teile der Theorie bzw. ihre „Anwendungsgebiete“ adäquat in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Es wird also die Auffassung vertreten, dass die Notwendigkeit, eine globale politische Ordnung zu entwickeln, sich nicht erst durch neue Handlungsmöglichkeiten und Beherrschungspotentiale bzw. korrespondierende Regulationsschwächen existierender Staaten ergibt. Der methodologische Individualismus, dessen Geltung für alle modernen Legitimitätstheorien unterstellt wird, kann schon auf der idealen Ebene, so die These, zu keinem systematischen Argument führen, warum sich die Bedingungen legitimer Herrschaft auf einen einzelnen, partikularen Staat beschränken (lassen) sollten. Wenn, so die Argumentation, global alle Individuen bzw. deren Interesse an der positiven Ausübung von Freiheit31 der letzte (bzw. erste) Geltungsgrund für legitime Herrschaftsausübung sind, und Individuen nur aufgrund historischer Kontingenzen in unterschiedlichen Staaten (partielle) Bedingungen für die legitime positive Ausübung von Freiheit etabliert ha-

–––––––––––––– 31

Wie schon im Kap. 5.2 angemerkt wurde, finden sich Argumentationen für den Weltstaat v.a. in gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen, in denen eher Fragen von Chancen- und Ressourcengleichheit im Vordergrund stehen und weniger die Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit. Dennoch findet sich auch dieser Blickwinkel bei den Autoren, so dass sich ihre Überlegungen durchaus zur Rekonstruktion in republikanischer Perspektive eignen. Vgl. dazu etwa die Liste der Staats- bzw. Demokratiefunktionen bei Horn 2002: 157-158.

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

ben, dann ist die Tatsache, dass sich durch die Pluralität von Staaten oder deren Operationsweisen beherrschende Effekte auf Individuen ergeben können, nicht durch die Notwendigkeit von deren Pluralität zu rechtfertigen oder erst einmal als Ausdruck fehlender Bereitschaft der Menschen hinzunehmen, die nicht zu hinterfragen ist.32 Es gibt keine intrinsische Beziehung zwischen der positiven Ausübung von Freiheit und der kontingenten Pluralität von Staaten und d.h. die Tatsache, dass einzelne Staaten grundsätzlich nicht ausschließen können, dass ihre Bürger durch Akteure anderer Staaten bzw. durch andere Staaten selbst beherrscht werden, spricht dafür, dass ein Staat gefunden werden muss, der die kontingente Unterscheidung zwischen Bereichen, in denen Herrschaft nicht-beherrschend ausgeübt wird, und solchen, in denen sie beherrschend ausgeübt wird, aufhebt. Daraus ergibt sich als Schlussfolgerung, dass die Ausübung von Herrschaft erst dann vollends legitim sein kann, wenn sie im Rahmen eines Weltstaats programmiert, vollzogen und kontrolliert wird, der in strikter Analogie zu den Bedingungen konzipiert ist, die zuvor für die Einzelstaaten herausgearbeitet wurden. Ein solcher Weltstaat muss folglich aus einem globalen Gefüge von Verfahren und Institutionen bestehen, in denen alle Weltbürger befähigt sind, qua Teilhabe an legislativen Verfahren zu entscheiden, welche positive Ausübung von Freiheit möglich sein soll und welche Aufgaben den globalen Institutionen zukommen.33

–––––––––––––– 32

33

Vgl. zur Argumentation für die Hinnahme der fehlenden Motivation zur Bildung eines Weltstaats, die die Kontingenz staatlicher Gebilde und ihrer Ermöglichung wechselseitigen Zwangs als Grund für die Unhinterfragbarkeit der Motivationslage angibt, Nagel 2005: 143. „Das internationale System von Einzelstaaten weist einen grundlegenden, nicht durch einzelstaatliche Demokratisierung sowie einen sekundären Weltstaat zu überwindenden Geburtsfehler auf: Niemand hat die Weltbevölkerung je gefragt, welche Weltordnung sie für wünschenswert hält. Es ist daher nicht einzusehen, warum irgendwelche der augenblicklich auftretenden Akteure als die angemessenen Repräsentanten der Weltbevölkerung gelten sollten, solange sie von dieser dazu nicht ausdrücklich legitimiert worden sind oder doch zumindest als hypothetisch legitimierbar gelten können. (...) Betrachtet man die politische Organisationsform der Welt aus diesem Blickwinkel, so kann von deren moralisch angemessenem Zustand immer nur dann die Rede sein, wenn

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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Das Weltstaatsmodell antwortet also auf die Herausforderung, die in der Kritik am konföderalen Modell artikuliert wurde, derart, dass sich die Typen zulässiger Handlungen nicht daran bemessen lassen können, was existierende Formen der Staatlichkeit zu regulieren oder zu kontrollieren vermögen. Die vermeintlich legitime Herrschaft innerhalb der Staaten steht nicht der illegitimen Herrschaft jenseits von ihnen gegenüber, so dass bei der Frage nach dem Erhalt bestehender Verfahren und Institutionen oder neuen Kreationen derselben Gewinne und Verluste an Legitimität abzuwägen wären. Beide Formen der Herrschaft sind gleichermaßen illegitim, solange es keine Verfahren und Institutionen gibt, in denen und durch die die Wünschbarkeit und Notwendigkeit der Differenzierung von Verfahren und Institutionen autorisiert wird und v.a. überhaupt autorisiert werden kann. Die Verweigerung gegenüber einem Weltstaat, auch wenn sie vermeintlich zur Verteidigung eines erreichten Standes von Demokratisierung und Kontrollierbarkeit von Verfahren und Institutionen in einem Staat vorgebracht wird, muss diesem Ansatz zufolge grundsätzlich als Verteidigung illegitimer Handlungsspielräume gegenüber anderen verstanden werden, die von dem Handeln eventuell betroffen sind und denen insbesondere das Recht abgesprochen wird, gleichermaßen Bestimmungsgrund für die „Weltordnung“ sein zu können, in der der fragliche Staat sich einem Weltstaat verweigert. Die Argumentation bewegt sich dabei auf zwei Ebenen: Auf der ersten Ebene wird bestritten, dass sich ein philosophischer oder geltungstheoretischer Grund ausmachen lässt, der bereits in der Legitimitätstheorie zu einer Unterscheidung zwischen der Gewährleistung von Freiheit bzw. Legitimität innerhalb einer Pluralität von Staaten und derjenigen jenseits dieser Staaten oder zwischen ihnen führt. Auf der zweiten Ebene wird ein eigenes globales Legitimitätsmodell angeboten, das die Bedingungen für legitime Herrschaft, wie sie für die Einzelstaaten bestimmt wurden, auf die gesamte Welt ausdehnt. Da das globale Legitimitätsmodell zu explizieren beansprucht, wie Legitimität überhaupt zu verstehen sichergestellt ist, daß dieser aus einem Legitimationsverfahren seitens der gesamten Weltbevölkerung hervorgegangen ist oder doch einem hypothetischen Legitimationstest gewachsen wäre.“ Horn 2002: 158-159.

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

ist, und die Kritik am System von Einzelstaaten die Motivation für den Vorschlag eines Weltstaats bildet, sind beide Ebenen in der Argumentation eng miteinander verknüpft. Aber sie überlappen sich nicht vollkommen, so dass zu untersuchen bleibt, ob sie wirklich notwendig aufeinander verweisen oder ob nicht aus richtigen Überlegungen falsche Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Argumentation auf der ersten Ebene ist zunächst – zumindest aus philosophischer Perspektive – sehr plausibel: Wenn die Legitimitätstheorie nach konstitutiven Bedingungen für legitime Herrschaft fragt, dann kann sie nicht einfach historische Erscheinungsformen von Herrschaftsausübung formalisieren oder als unumgänglich auszeichnen. Diese Vorsicht sollte, wie schon zu Beginn des Kapitels 5 festgehalten wurde, v.a. dann zur Anwendung kommen, wenn die Legitimitätstheorie in einigen ihrer Elemente durchaus auf konkrete historische Entwicklungen von Staatlichkeit Bezug nimmt, wie es zweifelsohne im ersten Teil dieses Buches v.a. mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit geschehen ist. Ein solcher Bezug darf daher nicht heißen, dass den faktischen Instantiierungen dessen, was in der Theorie aufgegriffen wird, durch diesen Aufgriff Notwendigkeit zugeschrieben wird. Die Tatsache, dass real existierende Staaten Verfahren und Institutionen umfassen, die denen gleichen, die die republikanische Legitimitätstheorie fordert, gibt somit keine Auskunft über deren Legitimität, solange die Notwendigkeit genau dieser Staaten bzw. Verfahren und Institutionen nicht explizit begründet wurde oder zumindest ausgeschlossen werden kann, dass sie gegen andere Anforderungen oder Prämissen der Legitimitätstheorie verstoßen. In beiden Hinsichten bestreiten die Vertreter des Weltstaatsmodells, dass dies für das gegebene System distinkter Einzelstaaten möglich ist: Der Notwendigkeit steht schon der historische Wandel des Systems und seiner Elemente entgegen, während ein entscheidender Widerspruch zu einer anderen Prämisse der Legitimitätstheorie darin besteht, dass sie universalistisch angelegt ist und deshalb fordert, dass von Legitimität erst dann zu reden ist, wenn global jeder nicht-beherrschend Freiheit positiv ausüben kann, inklusive der negativen Absicherung der Freiheit, die die Nicht-Beherrschung umfasst. Die zuvor erörterten Modelle vom Markt bis zur Konfö-

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deration, verstanden als Vorstellungen, dass es nicht zu einem Widerspruch zwischen dem Universalismus der Nicht-Beherrschung und der Gewährleistung von Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit innerhalb von Staaten bzw. durch den Weltmarkt oder eine globale Zivilgesellschaft kommt, vermögen nicht zu überzeugen, wie auch die Kritik in den vorhergehenden Abschnitten erwiesen hat. Denn sie müssen unterstellen, dass die faktischen Differenzen in den Ressourcen und Fähigkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit, die zumindest z.T. darauf zurückgehen, dass die Akteure die Ressourcen und Fähigkeiten in historisch kontingenten Staaten erworben haben, von den Akteuren als solche als unproblematisch erachtet werden. Damit wird der Universalismus aber derart verkürzt interpretiert, dass der Vorrang von demokratischen Verfahren, in denen grundsätzlich darüber befunden wird und werden kann, was zulässig sein soll oder nicht bzw. v.a. was in Kooperation verfolgt werden (können) soll, kaum noch zur Geltung kommt. Dabei war es gerade das universelle Interesse an kooperativen Handlungen, die von Einzelnen häufig nicht zu leisten sind, weil sie z.B. nicht auf bestehende Ressourcen und Fähigkeiten der Akteure reduzierbar sind, und daher das Errichten von Institutionen mit ihren Möglichkeiten der Ressourcenallokation und -nutzung erfordern, das überhaupt zur Notwendigkeit von Verfahren und Strukturen der Herrschaftsausübung geführt hat. Es ist also richtig, dass eine Legitimitätstheorie erst dann vollständig ist, wenn sie den Anspruch auf nicht-beherrschende soziale Handlungsverhältnisse für global jeden zu denken und zu konzipieren vermag. Und es ist auch richtig, dass dies heißt, dass selbst die perfekte Realisierung von Nicht-Beherrschung in einem Staat nicht ausschließt, dass gerade die Existenz dieses Staates ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die globalen Verhältnisse für viele beherrschend sind. Dies ist v.a. dann zu konstatieren, wenn der Staat unter Referenz auf die Ausübung „nationaler Selbstbestimmung“ bzw. in der Verfolgung seiner ökonomischen Interessen jegliche Rechtfertigungspflicht gegenüber anderen Individuen und Staaten bestreitet. Aber folgt aus dieser richtigen Beschreibung des Anspruchs und des universalistischen Charakters der Legitimitätstheorie sowie der Kritik an der

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Enthistorisierung und Entproblematisierung des Systems einer Pluralität von Einzelstaaten schon die Notwendigkeit, einen Weltstaat nach dem Modell der Einzelstaaten zu errichten? Die Argumentation auf dieser zweiten Ebene der Verteidigung des Weltstaats ruht wesentlich auf der Annahme des methodologischen und normativen Individualismus sowie einer zumindest normativen Entdifferenzierung der unterschiedlichen Staaten bzw. der Ebenen von Staatlichkeit auf. Im Anschluss v.a. an Rawls’ Begründungsfiktion des Urzustands (Rawls 1975: 34-39) geht die Mehrzahl der Weltstaatsansätze davon aus, dass der Grundzug einer Legitimitätstheorie darin besteht, dass „das Individuum“ mehr oder minder abstrakt-universell in seinen Interessen und Vermögen beschrieben wird, um dann auf dieser Basis zu bestimmen, wie eine politische Ordnung aussehen muss, die allen Individuen gerecht wird. Im Unterschied zu Rawls wird dabei dessen empirische Prämisse zurückgewiesen, dass dieses Begründungsmodell nur in bestehenden und praktisch unumgänglichen Kooperationsverhältnissen zur Anwendung kommen kann oder sollte. Dagegen wird festgehalten, dass das Bestehen, Revidieren oder Fortführen von Kooperationsverhältnissen angesichts der gravierenden faktischen Differenzen zwischen den Individuen je nach Zugehörigkeit zu diesen oder jenen Verhältnissen bzw. der möglichen Mobilität der Individuen selbst aus der Perspektive des normativen Individualismus rekonstruierbar sein oder kritisiert werden muss (Beitz 2001: 110-119). In dieser Allgemeinheit beschrieben ist der Begründungsansatz nicht auf die Gerechtigkeitstheorie beschränkt, aus der er erwachsen ist, sondern kann sicherlich ebenfalls als Rekonstruktion der Vorgehensweise verstanden werden, wie sie im Kapitel 4 des vorliegenden Buches gewählt wurde. Insofern sieht es in der Tat so aus, als sei auch die Argumentation des Kapitels 4, richtig begriffen, immer schon eine Argumentation für den Weltstaat gewesen. Schließlich ist an keiner Stelle ein Argument eingeführt worden, warum irgendjemand aus der Republik der Nicht-Beherrschung ausgeschlossen werden sollte bzw. warum sich eine Mannigfaltigkeit von solchen Republiken ergeben sollte.

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Diese Schlussfolgerung kommt aber verfrüht und sie ruht auf einer Deutung des Staates auf, der die Ausführungen zum Republikanismus der Nicht-Beherrschung entgegenstehen und die letztlich weder im Rahmen der Gerechtigkeitstheorie, noch in freiheitstheoretischer Perspektive plausibel ist: Die Verteidiger des Weltstaats operieren nämlich mit der gleichzeitigen Ausdehnung von Staatlichkeit und einer „Entstaatlichung“ der Staatlichkeit. In ihren Augen ist ein globales Gefüge von Verfahren und Institutionen notwendig, da nur so der Anspruch global aller Individuen auf die Ermöglichung und Absicherung von Freiheit adäquat in den Herrschaftsverhältnissen aufgegriffen werden kann. Insofern muss die Staatlichkeit global ausgedehnt werden, d.h. es muss ein globales Gefüge geben, das in der Lage ist, die Handlungsverhältnisse zu etablieren, zu steuern und zu kontrollieren. Mit Blick darauf betonen die Autoren, dass dazu die Globalisierung des Gewaltmonopols des Staates notwendig ist und keine Handlungssphäre der weltstaatlichen Regulierung per se entzogen sein darf (Horn 2002: 162). Dies ist konsequent, da nur unter diesen Voraussetzungen von einem vollständigen Übergang von Macht zu Herrschaft auszugehen ist. Die Ausdehnung der Staatlichkeit reagiert also auf den früher entwickelten Punkt, dass sich zwei Herrschaftszusammenhänge durchaus in einer Machtrelation zueinander befinden können und folglich nur ein übergreifender Herrschaftszusammenhang garantieren kann, dass global alle sozialen Handlungsverhältnisse steuer- und kontrollierbar sind. Diese Ausdehnung der Staatlichkeit sieht sich sofort dem Einwand ausgesetzt, dass so ein unkontrollierbarer und letztlich tyrannischer Leviathan ins Leben gerufen wird, der aufgrund der Machtressourcen, die in ihm zum Zweck und zur Absicherung der Herrschaftsausübung versammelt sein müssen, jeden Übergang zu legitimer Herrschaft obsolet macht (vgl. zu diesem Einwand Höffe 2002: 315-334). Der Weltstaatsansatz weist diesen Einwand zurück, indem nahe gelegt wird, den fraglichen Staat als „neutrale, übergreifende Institution zu betrachten, welche die Interessen seiner Bürger gleichberechtigt gelten läßt, Interessenkonflikte fair austrägt und Regelverstöße unter Strafandrohung stellt sowie ahndet“ (Horn 2002: 161-162). Der Staat, der im Weltstaat zu realisieren

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ist, ist folglich ein Staat, der nicht paternalistisch oder tyrannisch Verhältnisse willkürlich etabliert und aufrechterhält (und gar nicht zu etablieren und aufrechtzuerhalten vermag), sondern er soll in all seinen Operationen und Wirkungen direkt oder indirekt auf die Interessen seiner Bürger zurückführbar sein. Er ist also ausschließlich freiheitsermöglichend und freiheitsverbürgend und nur zu diesem Zweck auch freiheitseinschränkend tätig. Der „rechtsstaatlich-demokratische Staat“ ist kein Oxymoron, wie das Kapitel 4 gezeigt hat. Aber die Nicht-Widersprüchlichkeit ergibt sich nicht schon daraus, dass zwei nicht notwendig widersprüchliche normative Forderungen (d.h. die demokratische Rechtsstaatlichkeit und die Fähigkeit zur faktischen Herrschaftsausübung) an diesen Staat erhoben werden. Angesichts der totalitären Formen moderner Staatlichkeit und angesichts der doppelten Dimension der Nicht-Beherrschung (nicht-beherrschende Verhältnisse zwischen Akteuren und nicht-beherrschendes Wirken der Institutionen, die die ersten Verhältnisse garantieren) sind Ausführungen zu erwarten, die explizieren, wie in einem Weltstaat sichergestellt sein könnte, dass er tatsächlich notwendig (d.h. nicht-willkürlich) und exklusiv an die „Interessen seiner Bürger“ gebunden ist. Hierbei müssten Überlegungen zu globaler Rechtsstaatlichkeit angestellt werden, von denen, wie die vorhergehenden Abschnitte gezeigt haben, wiederum nicht zwingend anzunehmen ist, dass sie zum Scheitern verurteilt sind. Es gibt Anzeichen, die dafür sprechen, dass sich in der Tat Elemente von Rechtsstaatlichkeit im globalen Rechtsdiskurs und in globalen Organisationen und Institutionen herausgebildet haben. Den Vertretern von Weltstaatsansätzen ist aber bislang hinsichtlich dieser Erwartungen der Vorwurf zu machen, dass ihre Behauptung, es könne ohne weitere Begründung von der „Neutralität des Staates“ ausgegangen werden, ein Problembewusstsein vermissen lässt. Aber selbst wenn es gelingen würde, eine präzise Vorstellung des globalen Rechtsstaats in der Form eines nicht auf Ebenen differenzierten Gefüges von Verfahren und Strukturen zu entwickeln, müsste dem Weltstaatsmodell entgegengehalten werden, dass es die Verbindung der Interessen der Individuen mit dem Staat verkürzt darstellt oder gar verkennt. Darin wirkt sich der ge-

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rechtigkeitstheoretische Kontext der Weltstaatsbegründung und deren Konzentration auf gleiche Ressourcenverteilungen negativ aus. Individuen haben zahlreiche Interessen und viele dieser Interessen beziehen sich auf kooperatives oder koordiniertes Handeln mit anderen bzw. auf Projekte oder Ziele, die nur mit Hilfe von Institutionen zu erreichen sind. Diese Interessen sind nicht alle in gleichem Maß und zugleich realisierbar, und es gibt zahllose Interessen, die, selbst wenn sie nicht der Fortführung und Erhaltung der Verfahren und Strukturen entgegenstehen, also nicht einfach auf Beherrschung abzielen, aus guten Gründen überhaupt nie realisiert werden sollten. Insofern ein Staat die Aufgabe hat, Verfahren und Institutionen bereitzustellen, in denen qua Befähigung aller zur Teilhabe an ihnen entschieden werden kann, welche Interessen und Projekte legitim und mit Unterstützung von Institutionen wie realisierbar sind und welche nicht, kann die erforderliche Staatlichkeit nicht einfach als „neutrale“ Aggregation und Abstimmung existierender Interessen verstanden werden. Die Einrichtung des entsprechenden Staates ist vielmehr konstitutiv dafür, dass Interessen und Projekte verfolgt werden können, die die Fähigkeiten und Ressourcen einzelner Akteure deutlich und strukturell überschreiten, aber sie legt auch Kosten in der Form des Zwangs zu Kooperation und Koordination oder von Verboten bzw. Einschränkungen bestimmter Handlungsweisen auf. Das staatliche Wirken lässt sich nicht auf ein präexistierendes Set von Interessen und Projekten reduzieren, und es ist auch nicht davon auszugehen, dass alle ihre Interessen in gleichem Maß in den zulässigen Handlungsweisen bzw. den Projekten und Zielen wiederfinden, die direkt qua Handeln der Institutionen befördert werden. In der Perspektive des Republikanismus der Nicht-Beherrschung muss jegliche „staatliche Herrschaft“ notwendig exklusiv an die Interessen aller Betroffenen geknüpft sein, aus der Perspektive jedes einzelnen Betroffenen heißt dies aber nur für die Mehrheit, dass sie ihre Interessen positiv im Wirken des Staates wiederfindet, während für die Minderheit zumindest im Einzelfall nur negativ garantiert wird, dass das Wirken des Staates bzw. die positive Ausübung von Freiheit durch die Mehrheit ihre zukünftige Teilhabe an dieser positiven Ausübung nicht unterminiert. Von der

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„Neutralität“ des Staates zu reden, verdeckt die Differenzen des staatlichen Operierens für die Mehrheit und die Minderheit. Diese ungleiche Verteilung von Vorteilen und Lasten der Entscheidungen in den legislativen Verfahren und der Programmierung exekutiven Handelns, die sich daraus ergibt, ist kein Ausdruck nicht-idealer Republikanizität. Sie resultiert vielmehr, wie im Kapitel 4 ausführlich dargelegt wurde, direkt aus dem universellen Interesse an der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit sowie der faktischen Unmöglichkeit, alle Formen und Typen der positiven Ausübung von Freiheit, die der negativen Absicherung von Freiheit nicht zuwiderlaufen, gleichermaßen und zugleich zuzulassen oder gar institutionell zu fördern (wobei noch nichts zur Frage gesagt ist, ob eine solche gleiche Zulässigkeit eigentlich wünschenswert wäre). Vor diesem Hintergrund kann in der freiheitstheoretischen Perspektive nicht einfach angenommen werden, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen – zumindest im globalen Maßstab – relativ begrenzten Staaten und einem Weltstaat hinsichtlich der Ermöglichung und Beförderung der positiven Ausübung von Freiheit gibt. In gesetzgebenden Verfahren geht es nur in wenigen Fällen darum, objektiv oder moralisch richtige Maßstäbe oder Grundsätze zu finden oder aufzustellen. Viel häufiger handelt es sich um die Ermöglichung und Steuerung von sozialen Handlungsverhältnissen auf der Basis von Interessen und Präferenzen, die in legislativer Deliberation auf ihre Vereinbarkeit mit den republikanischen Grundlagen des politischen Gefüges überprüft und auch weiteren mehr oder minder generellen Tests ihrer Begründbarkeit unterworfen wurden, aber dennoch keine allgemeine Geltung beanspruchen können und wollen. Diese eingeschränkte Allgemeinheit oder mit Blick auf die Bedingungen der negativen Absicherung von Freiheit zulässige positive Ausübung von Freiheit hat zur Konsequenz, dass zu untersuchen ist, warum Akteure auch dann die Kosten und Lasten kooperativer oder koordinierter Handlungen tragen sollten (und d.h. warum es legitim sein sollte, das Tragen dieser Kosten und Lasten notfalls zu erzwingen), wenn ihre Interessen und Projekte in der Gesetzgebung und Programmierung von Institutionen nicht positiv berücksichtigt wurden. Wie gezeigt, ist zwar davon auszu-

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gehen, dass es ein basales globales und allgemeines Interesse an der Existenz von rechtsförmigen Verhältnissen überhaupt gibt. Dies deckt aber nicht die Bereitschaft ab, zu kooperativen und koordinierten Handlungen mit möglicherweise hohen Kosten und Lasten (worunter von Ressourcenabgaben, etwa in der Form von Steuern, über aktive Leistungen, wie z.B. soziale Tätigkeiten, bis hin zum Verzicht auf das Verfolgen bestimmter Projekte und Interessen sehr Unterschiedliches zu verstehen ist) beizutragen. Von einer solchen Bereitschaft ist – unter idealen Bedingungen34 – nur unter der Voraussetzung auszugehen, dass die betroffenen Akteure nicht strukturell eine Minderheit bilden, deren Interessen nie positiv berücksichtigt wird. Sie müssen realistisch annehmen können, dass die gegenwärtige Entscheidung das Resultat eines Gesetzgebungsprozesses war, in dem ihr Beitrag und ihre Vorschläge nicht per se im positiven Sinn irrelevant waren (d.h. das Verfahren als solches wäre illegitim, wenn ihr Beitrag auch im negativen Sinn unberücksichtigt geblieben bzw. ihre Teilhabemöglichkeit nicht garantiert gewesen wäre), sondern sie einfach in diesem Fall in der kollektiven Meinungsbildung und Entscheidung keine Mehrheit finden oder bilden konnten. Dies kann sogar heißen, dass sich eine andauernde Kooperationspraxis mit Elementen der Solidarität über die jeweilige Zugehörigkeit zu Mehrheiten und Minderheiten hinaus ausbilden muss. Das Interesse an positiver Ausübung von Freiheit impliziert aber in der Perspektive des Republikanismus der Nicht-Beherrschung noch mehr. Es bedeutet nicht nur, dass die Zugehörigkeit zu einer strukturellen Minderheit ein Phänomen der Beherrschung ist. Darüber hinaus müssen Möglichkeiten zu positiver Ausübung von Freiheit dort geschaffen werden können, wo sie nicht-beherrschend ausübbar ist. Denn der Grund für die Notwendigkeit der

–––––––––––––– 34

Da nicht davon auszugehen ist, dass allen kollektiv verbindlichen Handlungen und Projekten qua Bezug auf den Gemeinwohlbegriff doch noch in irgendeiner Weise moralischer Wert zugeschrieben werden kann, erklärt selbst die Einführung von „Bürgertugenden“ (civic virtues) nicht, dass unter idealen Bedingungen die Bereitschaft, die Kosten und Lasten zu tragen, keiner weiteren Begründung bedürfte. Als nicht-ideale Bedingungen werden adaptive Präferenzen oder autoritäre Charaktere ausgeschlossen.

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Herrschaft überhaupt ist ja, wie mehrfach erinnert, genau das Interesse an der positiven Ausübung von Freiheit.35 Nehmen wir an, eine Gruppe von Individuen schließt sich zusammen, um vermittels von Verfahren, die gewährleisten, dass alle an der Bestimmung der Prinzipien teilhaben können, die ihren sozialen Handlungsverhältnissen zu Grunde liegen, und Institutionen, die die faktische Geltung der Prinzipien durchzusetzen vermögen, Projekte und Handlungen kooperativ und in Koordination miteinander zu verfolgen. Und nehmen wir weiterhin an, dass diese Projekte und Handlungen nicht willkürlich in die Handlungsräume von Dritten eingreifen, die nicht an den Verfahren beteiligt sind, so muss die Auflösung dieses „Staates“ und die Integration seiner Mitglieder in einen „umfassenderen“ Staat, selbst wenn sie in auch in diesem zur Teilhabe an der politischen Struktur befähigt werden, als beherrschender Akt betrachtet werden. Denn solange nicht klar ist, dass entweder die staatlichen Handlungen oder die Existenz des Staates als solche beherrschende Effekte innerhalb oder jenseits des Staates haben, gibt es keinen Grund, warum Freiheit in einem umfassenderen staatlichen Zusammenhang positiv ausgeübt werden sollte. Über das, was in positiver Ausübung von Freiheit realisiert werden sollte, gibt es Dissens, und es gibt zweifelsohne auch unterschiedliche Auffassungen über zu wählende Reichweiten von Handlungen, Projekten und Institutionen, aber diese Differenzen bieten nicht per se einen Grund dafür, dass ein umfassender Staat erforderlich ist, in dem in Verfahren qua Teilhabe aller eine Entscheidung dazu gefällt werden kann oder gar muss. Es ist in diesen Fällen eher davon auszugehen, dass in einem Streit qua Verschiebung der Ebene, auf der er entschieden wird, eine andere Mehrheit gefunden werden soll. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das für den Republikanismus der Nicht-Beherrschung einschlägig ist: Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie ein Bildungssystem aussehen und welche Ziele es verfolgen sollte, und es gibt auch faktisch unterschiedliche Bildungssysteme mit verschiedenen

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Vgl. dazu die Diskussion der Schwierigkeiten gestufter oder zunehmend inklusiver Volkssouveränitätsmodelle im Kap. 3.2.

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Reichweiten, Curricula etc. In der Perspektive des Republikanismus sind bei der Auseinandersetzung um die Gestalt des Bildungswesens zwei Aspekte zu unterscheiden: einerseits die Rolle von Bildung in der Befähigung zur Teilhabe an politischen Verfahren und Strukturen und andererseits Vorstellungen hinsichtlich der ökonomischen, sozialen oder kulturellen Bedeutung von Bildung und Wissen bzw. hinsichtlich der Weisen, in denen Bildung und Wissen vermittelt und erworben werden. Der erste Aspekt betrifft die Bedingungen für die negative Absicherung und positive Ausübung von Freiheit gleichermaßen und ist deshalb zu Recht zentral. Ein Anspruch auf die Befähigung zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen ist ein universeller und nicht willkürlich zu gewährleistender Anspruch, so dass kein Staat ihn in positiver Ausübung von Freiheit einschränken oder insgesamt für nichtig erklären können darf. Aus der universellen Geltung dieses Anspruchs folgt aber keine universelle Form der Gewährleistung dieses Anspruchs, denn er lässt sich auf unterschiedliche Weisen gewährleisten und zudem kann Bildung nicht auf diese Gewährleistung reduziert werden. Würde nun aufgrund der Tatsache, dass der Befähigungsanspruch global nicht überall oder nicht überall gleich erfüllt wird, die Berechtigung und Notwendigkeit abgeleitet, ein globales Bildungssystem vermittels globaler Verfahren und Institutionen zu etablieren, so würde dies – selbst bei idealster Gestaltung der Verfahren – zur Folge haben, dass zahlreiche existierende und den Anspruch gewährleistende lokale, nationale oder regionale Bildungssysteme grundlegend revidiert würden, z.T. gegen jeweilige Mehrheiten im Raum der bislang bestehenden Bildungssysteme. Wenn solche globalen Verfahren und Strukturen einmal bestehen, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass alle oder eine signifikante Mehrheit derer, die an den Verfahren beteiligt sind, grundsätzlich die Linie verfolgen (sollten), dass eine möglichst lokale Gestaltung von Bildungssystemen (dem Versuch) der Durchsetzung der eigenen Präferenzen und Vorstellungen vorzuziehen ist – dies wäre geradezu ein Widerspruch zum Ziel der Verfahren herauszufinden, welche Entscheidung sich nach Einbringen und Revision von Interessen, Einschätzungen, Überzeugungen etc. als mehrheitsfähig herausstellt (eine antizipierte Mehrheitsfähigkeit als Heran-

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gehensweise wäre entweder paternalistisch oder es würden nie Interessen und Auffassungen zum Ausdruck gebracht). Und selbst wenn sich konkurrierende Modelle gegenüberstehen und keines per se eine Mehrheit hinter sich vereinigen würden, wäre damit immer noch nicht gesagt, dass in der deliberativen Revision der Modelle weiterhin viele Alternativen nicht positiv berücksichtigt werden. Die Resultate der Verfahren und Strukturen wären beherrschend für die entsprechenden Mehrheiten, denn sie würden willkürlich daran gehindert, Freiheit nicht-beherrschend positiv auszuüben, da sie gezwungen würden, die Zulässigkeit ihrer Handlungen bzw. das Verfolgen ihrer Projekte von Verfahren und Strukturen abhängig zu machen, in denen sie strukturell in der Minderheit sind. Sie könnten sich mit ihrem Anliegen nur positiv zur Geltung bringen, wenn die anderen motiviert wären, sie positiv zu berücksichtigen.36 Wenn die Konklusion in der Erörterung des vorhergehenden Beispiels richtig ist, dann muss eine Legitimitätstheorie, die die Annahmen des Republikanismus der Nicht-Beherrschung teilt, die Aufhebung existierender (oder intendierter/potentieller)37 Staaten in einem höheren bzw. umfassenderen politischen Zusammenhang konditionieren. Eine solche Aufhebung ist sicherlich möglich, u.U. sogar geboten, sobald ein Staat nach Innen oder nach Außen beherrschend operiert oder es nicht zu verhindern vermag, dass einige seiner Bürger dies tun. In diesem Fall legt der Universalismus des Anspruchs auf Nicht-Beherrschung es nahe, einen umfassenderen Zusammenhang zu etablieren bzw. die beherrschenden Phänomene in einem bestehenden umfassenderen Zusammenhang zu thematisieren und so eventuell qua Modifikation

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Eine solche positive Berücksichtigung lässt sich weder als Verfahrensprinzip, noch im Rahmen des Konstitutionalismus festschreiben, da damit der offene Charakter der Verfahren hin zur Festschreibung gleicher Anteile am Resultat verändert würde. Die Argumentation an dieser Stelle konzentriert sich auf den „Wert“ existierender Staaten, da von den Weltstaatsmodellen bestritten wird, dass sich ein solcher Wert begründen lässt. Später ist darüber hinaus zu untersuchen, wie im Republikanismus der Nicht-Beherrschung mit Sezessionen umzugehen ist und ob es eine Verpflichtung von Staaten gibt, die Bildung neuer, eventuell auf niedrigerer Ebene verorteter politischer Zusammenhänge zu unterstützen.

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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der Prinzipien oder der Operationen von Akteuren oder Institutionen zu beheben oder zu legitimieren. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, dann ist für eine Aufhebung mindestens eine – nicht-beherrschend zustande gekommene (d.h. z.B. nicht qua Sanktionsandrohung herbeigeführte) – Mehrheitsentscheidung in dem Staat erforderlich, der in einen umfassenderen Zusammenhang integriert wird. Solange ein Staat bzw. ein Staat in der fraglichen Hinsicht nicht-beherrschend operiert, kann nur er über die Aufhebung entscheiden und nicht eine noch so umfangreiche Mehrheit in dem umfassenderen Zusammenhang. Dies führt zu einem republikanischen Subsidiaritätsprinzip folgender Art:38 Es ist zulässig, dass Freiheit auf der niedrigstmöglichen Ebene positiv ausgeübt wird bzw. Bedingungen zur dieser Ausübung auf der Ebene etabliert werden, die (1) die Lösung eines existierenden Problems oder die Realisierung eines geplanten Projekts erlaubt und (2) den Einbezug der relevanten Interessen all derjenigen ermöglicht, die nach gegenwärtig verfügbarem Wissen davon in der Form eines willkürlichen Eingriffs in ihre Handlungsräume betroffen sein könnten. Dieses Subsidiaritätsprinzip steht nicht per se der Bildung eines Weltstaats entgegen, es hält aber fest, dass die Notwendigkeit eines solchen Staates mit Blick auf die Bedingungen und Möglichkeiten der positiven Ausübung von Freiheit einer wesentlich größeren Begründungsbedürftigkeit unterliegt, als es die Vertreter des Weltstaatsmodells zugestehen wollen. Das unmittelbare Resultat der Einführung des Subsidiaritätsprinzips ist daher auch nicht die Zurückweisung von Weltstaatlichkeit schlechthin, sondern vielmehr die Konzeptualisierung derselben in der Form eines horizontalen und vertikalen Modells gestufter Ebenen und Einheiten, auf denen in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Reichweite Freiheit nicht-beherrschend positiv ausgeübt wird oder werden kann. Die Tatsache, dass das republikanische Subsidiaritätsprinzip selbst ein global geltendes Prinzip ist, das das Verhältnis der unterschiedlichen Staaten und

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Das „republikanische“ Subsidiaritätsprinzip ist von einem funktionalen oder effizienzorientierten Prinzip der Subsidiarität zu unterscheiden, wie es z.B. in den EU-Verträgen niedergelegt ist (Niederberger 2006b: 92). Vgl. zu verwandten Argumentationen für ein republikanisches Subsidiaritätsprinzip Føllesdal 1998 und Føllesdal 2000.

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

Ebenen zueinander bestimmt, zeigt schon, dass es eines globalen politischen Zusammenhangs bedarf, der die nicht-beherrschende Geltung dieses Prinzips garantiert. Interessanterweise führt somit die Kritik am Weltstaatsmodell, wie Vertreter desselben mit Blick auf einige Fassungen des Subsidiaritätsprinzips gezeigt haben (Gosepath 2002b: 84-85), gerade zur Begründung der Notwendigkeit von Weltstaatlichkeit – diese darf allerdings nicht mehr nach dem Modell von Zentralstaaten verstanden werden, sondern empfiehlt eher einen Bezug auf föderale Staatlichkeit. Und in dem revidierten Modell von Weltstaatlichkeit muss der Kontingenz faktischer Zusammenhänge, in denen Freiheit positiv ausübbar ist, ein größerer Stellenwert eingeräumt werden, als dies zunächst zugestanden wurde. Es gibt nur wenige Autoren, die ernsthaft das Modell eines zentralistischen, d.h. nicht vertikal differenzierten Weltstaats vertreten. Dies liegt wesentlich an den Schwierigkeiten, einen solchen Staat als Rechtsstaat denken zu können, sowie an den begrenzten und z.T. beherrschenden Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit in einem solchen Staat. Die Betrachtung dieser Position ist dennoch notwendig, da sie im Unterschied zu den Modellen, die zuvor erörtert wurden, explizit die Frage zu beantworten beansprucht, wie in der Perspektive der politischen Philosophie mit historisch zumindest z.T. kontingenten Staaten umzugehen ist. Auch wenn die Gründe für die Notwendigkeit eines zentralistischen Weltstaats zurückgewiesen wurden, so ist der Argumentation doch in der Hinsicht zuzustimmen, dass der Universalismus des Interesses an nicht-beherrschender positiver Ausübung und negativer Absicherung von Freiheit zur Folge hat, dass die Legitimitätstheorie erst vollständig ist, wenn sie die universelle Realisierung dieses Interesses in einer globalen Theorie legitimer Herrschaft zu konzipieren vermag. Es kann nicht ohne Weiteres von einer empirischen Distribution der Bedingungen zur Realisierung dieses Interesses auf verschiedene Ebenen ausgegangen werden, sondern es muss expliziert werden, warum und unter welchen Voraussetzungen eine solche Distribution mit den universellen, d.h. für jedes Individuum und jeden sozialen Kontext geltenden Bedingungen nicht-beherrschender Herrschaftsausübung verein-

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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bar ist oder sich geradezu aus ihnen ergibt. Erst auf dieser Basis lässt sich eine Aussage dazu treffen, wie legitim eine gegebene Strukturierung des globalen Raums in eine Pluralität von Ebenen und/oder Staaten ist bzw. welche Strukturierung zur Realisierung von Nicht-Beherrschung erforderlich ist. Der Verweis auf die erkämpfte „Demokratisierung“ in einem Staat, die nicht zu Gunsten einer ungewissen Weltrepublik aufgegeben werden sollte, ist plausibel, wenn er so verstanden wird, dass er die Realisierung von Bedingungen herausstellt, die es erlauben, Freiheit in diesem Staat nicht-beherrschend positiv auszuüben. Er ist unplausibel, wenn damit nahe gelegt werden soll, dass zwischen der legitimen Herrschaft innerhalb des Staates und ebensolcher jenseits von ihm abzuwägen ist. In einer Pluralität von Staaten vermag kein einzelner es, allein vollständige Legitimität für sich zu beanspruchen, sondern von dieser ist erst auszugehen, wenn die Staaten untereinander in Verhältnissen der Nicht-Beherrschung stehen (zu denen nun auch das republikanische Prinzip der Subsidiarität zu zählen ist), die systematisch betrachtet die Voraussetzung dafür sind, dass die Staaten in ihrer Partikularität legitimerweise bestehen können. Föderalistische Modelle von Weltstaatlichkeit unterbreiten einen Vorschlag, wie globale Verhältnisse nicht-beherrschender Herrschaftsausübung zu verstehen sind, die das republikanische Prinzip der Subsidiarität umsetzen.

6.3.3 Föderale Modelle von Weltstaatlichkeit Die Untersuchung der Modelle, die legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten ohne Elemente von Staatlichkeit identifizieren zu können meinen, hat gezeigt, dass diese Modelle die Legitimität der Herrschaft nur negativ denken können. Sie sind, in unterschiedlich erfolgreichem Maß, dazu in der Lage nachzuweisen, dass der Markt, die Zivilgesellschaft oder global geltendes Recht (unter weiteren Prämissen) hinreichen, um beherrschende Übergriffe von Akteuren und/oder Institutionen abzuwehren. Hinsichtlich der Bedingungen für die positive Ausübung von Freiheit müssen sie auf entgegenkommende Gegebenheiten vertrauen, auf die summarisch unter dem Titel der „Globalisierung“ Bezug genommen wurde. Die Etablierung von Staatlichkeit, d.h. von

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rechtsstaatlich organisierten und abgesicherten Verfahren und Strukturen im globalen Maßstab, verstärkt die Abwehrmöglichkeiten von beherrschendem Handeln oder Wirken. Aber auch den beiden Modellen einer konföderalen Ordnung oder von Weltstaatlichkeit ist es nicht gelungen, den Republikanismus der Nicht-Beherrschung überzeugend so weiterzuentwickeln, dass die Bedeutung des Ziels expliziert würde, die nicht-beherrschende positive Ausübung von Freiheit global zu ermöglichen. Bei allen fundamentalen Differenzen argumentieren letztlich beide Modelle von Staatlichkeit für die unplausible Reduktion der Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, auf das, was innerhalb der Einzelstaaten, bzw. dasjenige, was im Weltstaat qua Verfahren und Strukturen autorisiert werden kann. Während die ersten Modelle also zu stark auf die empirischen Verhältnisse vertrauen, werden diese bei den beiden Staatlichkeitsansätzen zu schnell auf die klassischen Formen politischen Handelns eingeschränkt. Die Ansätze zu föderaler Weltstaatlichkeit stehen im Zentrum der normativen Diskussion der internationalen Beziehungen und der Globalisierung seit gut zwei Jahrzehnten, was sich v.a. in der herausragenden Stellung von David Helds Buch Democracy and the Global Order für diese Diskussion zeigt. Sie beanspruchen, die beiden zuvor diagnostizierten Fehler zu vermeiden, indem das Modell eines Weltstaats entwickelt wird, der einerseits global Herrschaftsverhältnisse und damit auch die Bedingungen dafür garantiert, dass die positive Ausübung von Freiheit universell möglich wird, während er andererseits durch die gleichzeitige horizontale und vertikale Differenzierung den Unterschieden von Kontexten der positiven Ausübung von Freiheit und dem spezifischen Beherrschungspotential eines Weltstaats Rechnung trägt. Gemeinsamer Ausgangspunkt der unterschiedlichen föderalen Modelle ist die Überzeugung, die im Abschnitt zuvor ausführlich begründet wurde, dass die Legitimitätstheorie erst vollständig ist, wenn sie zu erklären vermag, unter welchen Bedingungen die universellen republikanischen Prinzipien auch tatsächlich universell, d.h. für den gesamten Globus gelten. Aus dieser Überzeugung wird die Notwendigkeit eines integralen globalen politischen Zusammenhangs abgeleitet, dem grundsätzlich kein Bereich sozialen Handelns ent-

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zogen sein darf und der selbst nach Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verfasst sein muss. Eine Kombination zwischen pluraler Einzelstaatlichkeit einerseits und nicht-staatlicher Herrschaftsausübung in der Form des Marktes, der Zivilgesellschaft oder reiner Rechtlichkeit andererseits wird aufgrund fehlender Verfahren der Gesetzgebung (und d.h. fehlender Befähigung zur Teilhabe daran) und fehlender Kanäle expliziter und transparenter Programmierung der Instanzen, die Herrschaft ausüben, abgelehnt. Markt oder Zivilgesellschaft können eine Rolle im föderalen Gefüge zugewiesen bekommen, sie dürfen aber keine distinkten Strukturen mit eigenen Funktions- und Erhaltungsbedingungen sein (Held 1995: 181-182). Unterschiede zwischen verschiedenen föderalen Modellen in der Bestimmung der föderierten Entitäten, der föderalen Ebene und ihrer Aufgaben, der Relationen von Föderierten und Föderation bzw. des Vorrangverhältnisses zwischen den Ebenen, der Abstimmung und Weisungsbefugnisse zwischen ihnen etc. ergeben sich auf der gemeinsamen Grundlage dadurch, dass je andere primäre Problemzonen oder Ziele für den globalen politischen Zusammenhang identifiziert werden. Das erste Modell eines supplementären Föderalismus bleibt dabei nahe an der Vorstellung der Konföderation und geht davon aus, dass die Staaten bislang prima facie ihren internen Legitimitätsansprüchen gerecht werden. Der föderalen Struktur sind daher hinsichtlich dessen, was innerstaatlich leistbar ist, keine Zuständigkeiten über die Bewahrung und Sicherung der Leistungsfähigkeit der Staaten bzw. die Vereinbarkeit von deren Operieren mit dem Operieren aller anderen Staaten hinaus zuzuschreiben. Wenn ein Gebiet Gegenstand der Gesetzgebung bzw. exekutiven Handelns auf der globalen Ebene werden soll, muss den Staaten gegenüber nachgewiesen werden, warum dies notwendig ist (Höffe 2002: 308-314). Föderalismus wird in diesem Modell folglich in diesen Bereichen, die explizit zu bestimmen bleiben, was selbst nicht unkompliziert ist, als Festschreibung (etwa in einem globalen Konstitutionalismus) eines Vorrangs der Einzelstaaten verstanden, der nur in expliziter Delegation von Kompetenzen von den Staaten zu einer höheren Ebene ausgesetzt werden kann. Dieser Vorrang hat wesentliche Konsequenzen für

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

die Vorschläge, wie die Verfahren und Strukturen auf der föderalen Ebene auszusehen haben und wie die Einzelstaaten oder global alle „Weltbürger“ an den Verfahren beteiligt werden müssen, die die globalen Institutionen programmieren und kontrollieren. Aufgrund des Vorrangs der Staaten in den genannten Bereichen ist eine eigene Gesetzgebung qua Teilhabe aller Bürger an den Verfahren möglichst zu vermeiden. Daneben ist aber klar, dass es Gebiete, Probleme und Projekte gibt, die auf der staatlichen Ebene nicht gelöst werden können und von denen auch nicht anzunehmen ist, dass sie in zwischenstaatlicher Kooperation oder Koordination bewältigt werden können oder sollten. Im Unterschied zum konföderalen Modell wird gemäß der Logik, die zur Gründung der Einzelstaaten geführt hat, auch für diese Bereiche der „minimale Weltstaat“ verantwortlich gemacht und ein eigenes, nun direkt von den Weltbürgern getragenes Gefüge von legislativen Verfahren, exekutiven Institutionen und einer globalen Gerichtsbarkeit gefordert. Otfried Höffe, der einer der wichtigen Vertreter dieses Modells ist, formuliert derart insgesamt vier Bereiche, für die die Verfahren und Einrichtungen auf der föderalen Ebene zuständig sind. Die ersten beiden Bereiche betreffen die Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen bzw. der Bedingungen der NichtBeherrschung in den Staaten, haben also wesentlich die Funktion, Freiheit negativ abzusichern, während der dritte und vierte Bereich originäre Aufgaben der föderalen Ebene angeben: Der erste Bereich föderaler Zuständigkeit ist die Sicherung des zwischenstaatlichen Friedens qua Gewährleistung rechtlicher Verhältnisse und Verfahren, was auch die Verfolgung von Straftaten umfasst, die aufgrund des staatenüberschreitenden Charakters der Taten bzw. der Operationen der Täter nicht in Einzelstaaten geahndet werden können (Höffe 2002: 352-375). Der zweite Bereich ist derjenige der Garantie, dass in den Staaten nicht-beherrschende Verhältnisse gewährleistet sind und erhalten bleiben.39 Der dritte Be-

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Ein gravierendes Defizit der Diskussionen über die Form der Weltstaatlichkeit ist die weitgehende Abwesenheit einer expliziten und ausgearbeiteten republikanischen Legitimitätstheorie in der Mehrzahl der Ansätze und die Präferenz für gerechtigkeitstheoretische Argumentationen. Dies zeigt sich darin, dass als

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reich ist derjenige der ökonomischen, sozialen und kulturellen Handlungen, auf die zuvor unter dem Titel der „Globalisierung“ schon Bezug genommen wurde, die einzelne Staaten transzendieren oder Auswirkungen haben, die potentiell global alle betreffen, wie etwa Umweltzerstörung oder ökonomische Monopolbildung (Höffe 2002: 399-421). Systematisch an dieser Stelle am Interessantesten ist der vierte Zuständigkeitsbereich der föderalen Ebene, denn hier wird ihr die Aufgabe zugeschrieben, bei Sezessionsbewegungen über deren Zulässigkeit zu entscheiden (Höffe 2002: 390-393). Dieser Bereich ist deshalb so interessant, weil über ihn in der Tat ein fundamentaler Gegensatz zum konföderalen Modell zum Ausdruck kommt: Indem die föderale Ebene die Instanz ist, die über die berechtigte Existenz eines Staates bzw. die berechtigte Gründung eines neuen Staates befinden kann, hat sie letztlich absoluten Vorrang in der Konstitution des globalen Gesamtgefüges. In einem föderalen Weltstaat kann kein Staat allein entscheiden (wobei „entscheiden“ im Sinn sowohl einer politischen Entscheidung als auch eines objektiven Etablierens von Verhältnissen zu verstehen ist), dass seine Existenz legitim ist. Diese Legitimität hängt irreduzibel daran, dass die föderale Struktur den Einzelstaat als solchen „vorsieht“ (womit noch nichts dazu gesagt ist, auf welcher Basis die föderale Struktur etwas „vorsieht“ oder ein solches „Vorsehen“ verweigern kann bzw. muss). Es ist wenig überraschend, dass die Vertreter des supplementären Föderalismus bei allem Zugeständnis dieser Funktion der föderalen Ebene die Berechtigung zur Sezession eng und klar definieren und die Begründungslast für die Zulässigkeit einer Sezession klar auf Seiten derer verorten wollen, die die Auflösung eines bestehenden und die Gründung eines neuen Staates anstreben. Die Zuständigkeit der Maßstab für die Legitimität innerstaatlicher Verhältnis nahezu immer der Menschenrechtsschutz gewählt wird (etwa Höffe 2002: 393-398). Auf der Basis dessen, was im Kap. 4 zur Bedeutung von „Grundrechten“ gesagt wurde, ist der Maßstab aber komplexer zu wählen, da die Gewährleistung von Menschenrechten nicht hinreicht für nicht-beherrschende Herrschaft. Zu alternativen globalen Kriterien für die Legitimität innerstaatlicher Verhältnisse und der negativen und positiven Aufgaben anderer Staaten bzw. der „föderalen Ebene“ vgl. die Ausführungen an verschiedenen Stellen im Kap. 5.

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föderalen Ebene für diese Frage darf nicht so verstanden werden, dass in den globalen Verfahren und Strukturen beliebige Revisionen (des Systems) der Staaten vorgenommen werden dürften. Der supplementäre Föderalismus vermag seine Ambivalenz nicht zu verleugnen: Er gesteht zu, dass der Universalismus der legitimitätstheoretischen Grundprinzipien und die faktische Emergenz von Handlungstypen, die Staaten überschreiten und z.T. sogar in ihrer Existenz in Frage stellen oder bedrohen, das Etablieren eines globalen Zusammenhangs unumgänglich machen, dem über die Absicherung des Staatensystems auch eigene gesetzgeberische und daran anschließende exekutive Kompetenzen zukommen müssen. Zugleich ist auch die Auffassung unübersehbar, dass die Einzelstaaten der Ort sind, an dem „eigentlich“ soziales Handeln stattfindet und stattfinden sollte (was in der Referenz auf das kommunitaristisch gedachte „Recht auf Differenz“ ersichtlich wird [Höffe 2002: 120-125; Merle 2002]), so dass die Idee einer rein negativen Integration der Staaten im globalen Zusammenhang, wie sie das konföderale Modell vorschlägt, als regulatives Ideal im Spiel gehalten wird. Den Gegenpart zu diesem „nostalgischen“ oder „trauernden“ Föderalismus bildet zweitens der Föderalismus qua Delegation, der von Autoren, wie dem zu Beginn genannten David Held, vertreten wird. Er geht von einem konstitutiven Vorrang der föderalen Ebene vor den Teilen der Föderation aus und rekonstruiert daher Kompetenzen einzelner Staaten so, dass sie von der zentralen Ebene an sie delegiert wurden. In diesem Modell werden die gemeinsamen Ausgangspunkte für alle föderalen Ansätze so verstanden, dass die Konstitution eines Weltstaats und d.h. eines globalen Gefüges von Verfahren und Strukturen die irreduzible Vorbedingung für die Legitimität jeglichen sozialen Handelns ist – und dazu gehört auch die Herausbildung von partikularen Staaten, in denen sich Individuen in einigen Hinsichten ohne willkürliche Eingriffe von außen selbst bestimmen. Das Bestehen eines föderalen Gefüges darf also, selbst wenn dies dem faktischen Weg zu dem Gefüge entspricht (vgl. zur Differenz von Genesis und Geltung Held 1996: 232), nicht so verstanden werden, dass Staaten zusammengeschlossen werden und diesem Zusammenschluss dann zusätzli-

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che Kompetenzen und Aufgaben zugeschrieben werden, sondern die föderale Strukturierung des globalen Gefüges muss auf der globalen Ebene einsehbar sein und auf globale oder universelle Anforderungen an das globale Gefüge zurückgehen (Held 1995: 233-234). Die spezifischen Aufgaben der föderalen Ebene sowie der föderierten Einheiten mögen dabei gar nicht so anders festgelegt werden, als es beim subsidiären Föderalismus geschieht; der Status der Bestimmung der Bereiche ist aber sehr verschieden und deren Ordnung wird gewissermaßen umgekehrt. Die globale Ebene ist prima facie für alle Bereiche und Gegenstände des sozialen Handelns zuständig, und es muss unter Rekurs auf die Zuschreibung von Selbstbestimmungsfähigkeit und in einer Reflexion auf die Bedingungen der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit in den unterschiedlichen Bereichen ersichtlich werden, warum eine Delegation der Entscheidungs- und Steuerungskompetenz an Subeinheiten geboten ist. Konnte eine solche Erfordernis begründet werden, dann kommen der föderalen Ebene in der Folge die Aufgaben zu, zu überwachen, dass innerhalb der föderierten Staaten Herrschaft nicht-beherrschend ausgeübt wird und die unterschiedlichen Staaten so zugeschnitten sind bzw. operieren, dass sie nicht in Konflikt miteinander geraten. Ein solches Verständnis des föderalen Weltstaats, das die Strukturierung des Gesamtgefüges von oben nach unten vornimmt, kann (zumindest der Konstitution nach) den Subeinheiten in der Festlegung der Kompetenzbereiche keine Mitsprache einräumen, da dies der Delegation der Kompetenz widersprechen würde. Die Verfahren und Strukturen auf der Weltebene müssen vielmehr so gestaltet sein, dass global alle als „Weltbürger“ an ihnen teilhaben können und befähigt werden, ihre Interessen, Auffassungen und Projekte in ihnen zur Geltung zu bringen. Das republikanische Subsidiaritätsprinzip wird als „tests of extensiveness, intensity and comparative efficiency“ (Held 1995: 236) reformuliert und kommt in den globalen Verfahren und Strukturen in zweifacher Weise zur Anwendung: einerseits (etwa als Verfassungsziel) als Aufgabe in den Verfahren und für die Institutionen, Verfahren auf niedrigeren Ebenen zuzulassen und eventuell sogar aktiv zu kreiieren, in denen sich Individuen zu Assoziationen zu-

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sammenschließen und selbstbestimmen; andererseits als Standard für die Überprüfung, ob eine Entscheidung bzw. daraus resultierende Maßnahmen dem Anspruch auf Nicht-Beherrschung genügen. In dieser zweiten Hinsicht sind die Teilnehmer an Verfahren also genötigt zu begründen, dass und warum eine zu treffende Entscheidung nicht dem Ziel zuwider läuft, die positive Ausübung von Freiheit auf der niedrigstmöglichen Ebene zu erlauben und so den Interessen, Auffassungen und Projekten der Einzelnen größtmögliches Gewicht beizumessen. Beide Weisen, in denen das Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung kommt, haben nicht zur Konsequenz, dass irgendeine Subeinheit eine irrevozierbare Existenzberechtigung zugesprochen bekommt oder im Lauf der Zeit erwirbt. Es ist vielmehr durchaus möglich, dass neue Interpretationen des Verfassungsziels bzw. neue Beschreibungen oder Festlegungen der Gegenstände politischer Entscheidung auch eine neue Strukturierung des Gesamtgefüges erforderlich machen. Die Geltung des Subsidiaritätsprinzips bedeutet also im Föderalismus qua Delegation nicht, dass zwei heterogene und distinkte Akteure in der Legitimierung von Herrschaft in unterschiedlichen Bereichen angenommen werden müssen. Die „Rechte“ der Subeinheiten müssen als Rechte oder berechtigte Ansprüche der Individuen, die in ihnen organisiert sind, verstanden werden und dementsprechend als Ansprüche gegenüber allen anderen Individuen geltend gemacht werden können, im doppelten Sinn der Möglichkeit, solche Ansprüche erheben und begründen zu können. Die signifikante Differenz zwischen dem supplementären Föderalismus und dem Föderalismus qua Delegation zeigt sich auch in der verschiedenen Bezugnahme auf die kantische Schrift Zum ewigen Frieden, die für Vertreter beider Modelle eine wesentliche Referenz darstellt: Die Vertreter des supplementären Föderalismus verstehen die Schrift (und Kants Rechtsphilosophie insgesamt) als Explikation einer sukzessiven Transformation von Verhältnissen bloß provisorischer Rechtlichkeit zu solchen peremtorischer Rechtlichkeit. Im Gang der Transformation werden republikanische Rechtsverhältnisse zunächst auf der Ebene einer Pluralität einzelner Republiken geschaffen, bevor es zur Transformation

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des Raums jenseits der Republiken kommt (Höffe 2004: 113-114). Die erreichte Struktur öffentlichen Rechts in den Republiken kann in diesem weiteren Transformationsschritt nicht einfach aufgehoben werden (Höffe 2001: 197-203; Lutz-Bachmann 1999: 213214), so dass eine Situation entsteht, in der es, wie auch in bekannten innerstaatlichen föderalen Gefügen, zu einer tendenziellen Konkurrenz zwischen den Einzelstaaten und der föderalen Ebene um Zuständigkeiten kommt. Vertreter des Föderalismus qua Delegation beginnen ihre Rekonstruktion Kants dagegen mit dem Artikel zum Weltbürgerrecht und sehen in diesem Recht den Kern eines „kosmopolitischen demokratischen Rechts“ (Held 1996: 229), das nur adäquat entfaltet wird, wenn der normative Gehalt des Staatsrechts und des inter-nationalen Rechts von ihm aus neu gedacht wird. Das kantische Weltbürgerrecht, von vielen als Vorform universell geltender negativer Menschenrechte begriffen (Cheneval 2002: 610-621), wird somit als Bürgerrecht verstanden, das die Etablierung einer kosmopolitanen Demokratie erfordert, um realisiert zu werden. Die Berechtigung von Subeinheiten lässt sich nur von (den Bedingungen) dieser Realisierung des Weltbürgerrechts her konzipieren. Beide föderalistischen Modelle klingen so, als sei entweder die Globalität oder die Subsidiarität ein Zugeständnis, das zu machen ist, auch wenn es gravierende Vorbehalte gegen die Ansprüche und Realisierungsbedingungen dessen gibt, was zugestanden wird. Beide Modelle privilegieren letztlich die Ebene der Einzelstaaten oder die globale Ebene und bestimmen von dieser her die Grenzen und Reichweite der je anderen Ebene. Damit sehen sie sich aber dem Vorwurf komplementärer Verkürzungen ausgesetzt, denn der supplementäre Föderalismus verharrt bei einer derivativen Vorstellung dessen, was im globalen Zusammenhang über die Staaten hinaus geleistet werden muss, während der Föderalismus qua Delegation das Prinzip der Subsidiarität auf die Rolle eines leitenden Ideals unter anderen reduziert, dessen Geltung folglich immer im Licht der anderen Ideale und anderer Erwägungen betrachtet werden muss. In diesen Verkürzungen spiegeln sich Debatten über partikularistische Sonderinteressen oder zentralistische Kompetenzaneignungen, wie sie aus allen föderalen Systemen be-

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kannt sind – und es würde nicht überraschen, wenn die Vertreter der jeweiligen Modelle wesentliche Motive für ihre Positionen aus genau solchen Debatten bezogen haben. Die Orientierung an diesen Debatten ist politisch nachvollziehbar, sie wird aber zu einer Schwäche, da der Rahmen der Debatten kein adäquates Verständnis davon zu vermitteln vermag, welche Phänomene von positiver Ausübung von Freiheit bzw. von Beherrschung im globalen Zusammenhang zu betrachten sind. So fruchtbar die Lehren aus existierenden föderalen Gemeinwesen und ihren Dynamiken sind, so grundlegend sind doch auch die Differenzen in den Abgrenzungs-, Interaktions- und Integrationsbedürfnissen von bestehenden und denkbaren Einzelstaaten im Vergleich zu den Verhältnissen zwischen „Bundesstaaten“ etwa in Deutschland, der Schweiz oder selbst den USA. Eine alternative Form des Föderalismus ist daher drittens ein komplementärer Föderalismus, der für die klare Distinktheit der Aufgaben und Ziele der föderierten Einheiten und der globalen Ebene argumentiert und daher nicht primär die Konkurrenz der beiden Ebenen vor Augen hat, sondern vielmehr ein komplementäres Verhältnis derselben. Die Beschreibung der ersten drei Aufgabenbereiche der globalen Ebene und der staatlichen Ebene unterscheidet sich – zumal in abstrakter Form – wiederum in diesem Modell nicht signifikant von derjenigen in den anderen föderalen Modellen. Staaten haben die Aufgabe all die sozialen Verhältnisse einzurichten und zu erhalten, die ohne beherrschende Effekte auf Dritte etabliert und kontrolliert werden können und nicht notwendigerweise zu Handlungen führen, die für Dritte beherrschend sind,40 und

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Hiermit werden zwei Kriterien expliziert, die aus der Außenperspektive die Legitimität eines Staates zur Folge haben, aber zugleich nicht von einer Relation zu anderen Staaten oder einem globalen Zusammenhang abhängen (dies ist wichtig für die nachfolgende Bestimmung der Kontrolle durch den globalen Zusammenhang, der sich die Staaten unterwerfen müssen, bzw. den Spielraum, den der globale Zusammenhang in der Transformation des Gefüges von Einzelstaaten hat): Erstens muss es möglich sein, soziale Handlungsverhältnisse überhaupt qua Herrschaft zu errichten und zu kontrollieren, ohne dabei in die Spielräume Dritter willkürlich einzugreifen. Dieses Kriterium wäre dann nicht erfüllt, wenn z.B. ein Staat nur darüber die Abhängigkeit der Verfügung über Wasser von kontingenten Ressourcenverteilungen durch einen politisch

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müssen daher über die Verfahren und Strukturen verfügen, die legitime Herrschaftsausübung verbürgen. Der übergeordnete föderale Zusammenhang (und es wird sich in der Folge zeigen, dass es sogar mehrere Ebenen solcher übergeordneter Zusammenhänge geben kann) hat mit Blick auf diese Aufgabe der Einzelstaaten die, ebenfalls schon mehrfach genannte, doppelte Funktion, zu verhindern, dass Staaten einander beherrschen oder intern die Bedingungen für Nicht-Beherrschung nicht erfüllen. Für die Handlungsverhältnisse, die innerhalb von Staaten nicht nicht-beherrschend etabliert und kontrolliert werden können, ist die globale Ebene oder eine Ebene von regionalen Zusammenhängen zuständig. Im Unterschied zu den föderalen Modellen, die bislang betrachtet wurden, wird die Zuständigkeit für die Gegenstandsbereiche aber weder von historisch-kontingenten Ansprüchen bestehender Staaten noch von letztlich ebenso kontingenten Entscheidungen eines Weltparlaments abhängig gemacht. Es wird vielmehr die Liste der Gegenstandsbereiche mit den Verfahrens- und Strukturbedingungen für die größtmögliche nicht-beherrschende positive Ausübung von Freiheit und den funktionalen Anforderungen an Herrschaftsausübung in Einzelstaaten abgeglichen und daraus ein gestuftes Gefüge unterschiedlicher Ebenen abgeleitet, auf denen die jeweilige Zuständigkeit zu verorten ist.41 Diese Verortung,

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gesteuerten Prozess der Wasserverteilung ersetzen könnte, indem aus angrenzenden Staaten Ressourcen entwendet bzw. bislang geteilte Ressourcen zur Alleinverfügung reklamiert werden. Zweitens darf das Wirken von Institutionen in den jeweilig qua Herrschaftsausübung etablierten und kontrollierten Verhältnissen nicht Akteure dazu verpflichten oder gar nötigen, in die Spielräume Dritter willkürlich einzugreifen. So lässt sich ein „Amt für Industriespionage“ sicherlich ohne beherrschende Effekte auf Dritte einrichten (womit das erste Kriterium erfüllt wäre), aber die Tätigkeit, die dann qua Prinzipien, die der Einrichtung des Amts zu Grunde liegen, von den Mitarbeitern erwartet würde, hätte zweifelsohne beherrschende Auswirkungen auf Dritte. Das Element der Notwendigkeit im zweiten Kriterium ist wichtig, da ein Staat nicht schon dadurch illegitim werden kann, dass er beherrschende Wirkungen gegenüber Dritten nicht auszuschließen vermag. Vgl. zu dieser Vorgehensweise auch die These von Stefan Gosepath, dass das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip der „Sachgerechtigkeit“ bzw. als Maßstab für die „Notwendigkeit und Effektivität“ einer jeweiligen Ebene verstanden werden sollte (Gosepath 2002: 84).

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die mehr Ebenen als bloß zwei vorsehen kann, ist als Teil der Verfassung des Gefüges zu begreifen und darf daher keiner Ebene (direkt) zur Disposition stehen. Für Revisionen der Zuordnungen müssen eigene Verfahren jenseits der Zusammenhänge auf allen Ebenen und d.h. auch jenseits der globalen Ebene, insofern sie selbst eine Ebene der Herrschaftsausübung in sozialen Handlungsverhältnissen ist, entwickelt werden. Die Frage nach der Instanz, die über die Kompetenz-Kompetenz verfügt, die in den beiden anderen Modellen im Zentrum steht, wird somit in die Bestimmung der Konstitution des globalen Gefüges verschoben. Diese Lösung zieht einen richtigen Schluss, indem sie konstatiert, dass das globale Gefüge als solches nur dann nicht-beherrschend gestaltet ist, wenn niemand – weder der Gang der Geschichte, noch ein Weltparlament – willkürlich über die Aufteilung von Räumen entscheiden kann, in denen Freiheit positiv ausgeübt wird. Der Gang der Geschichte bestand aus zahllosen beherrschenden Akten, so dass nicht einzusehen ist, warum das Bestehen unterschiedlicher Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, die sich daraus ergeben haben, per se erhaltens- und schützenswert sein sollte. Die Entscheidung darüber einem Weltparlament zuzuschreiben, stößt aber auf dieselben Vorbehalte, die zuvor gegen das Modell eines zentralistischen Weltstaats vorgebracht wurden, d.h. selbst wenn die Teilnehmer das Subsidiaritätsprinzip als regulatives Ideal vor Augen hätten, bliebe die Entscheidung über die Strukturierung des Gesamtgefüges aufgrund der Unausschließbarkeit struktureller Minderheiten willkürlich. Auch der Vorschlag des komplementären Föderalismus überzeugt jedoch trotz des richtigen Schlusses nicht, denn seine Zuordnung von Bereichen und das Konstatieren korrespondierender Bestandsgarantien für Staaten ist zwar qua Festlegung in einer Verfassung auf der Basis funktionaler Erwägungen nicht willkürlich. Aber diese Nicht-Willkürlichkeit kann nur dann so verstanden werden, dass in ihr auch die „relevanten Interessen“ der Betroffenen berücksichtigt wurden (um das zweite Kriterium von Pettit in Erinnerung zu rufen), wenn gezeigt werden kann, dass die funktionale Aufteilung dem Interesse an positiver Ausübung und negativer Absicherung von Freiheit entspricht und die funktionale Aufteilung bzw. das Ver-

6.3 Legitimität durch Global- oder Weltstaatlichkeit

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fahren, in dem das Zuordnungsschema entwickelt wird, tatsächlich zwingend ist. Effizienz ist nicht alles, wie schon in Zurückweisung des Subsidiaritätsverständnisses in den EU-Verträgen vermerkt wurde. Dennoch lässt sich ein grobes Schema von Zuordnungen sicherlich in einer „funktionalen Betrachtung“ gewinnen, deren Berechtigung transzendental angenommen werden kann: Wenn die Akteure ein Interesse an der größtmöglichen positiven Ausübung von Freiheit haben, dann müssen sie auch ein Interesse daran haben, dass sie die Freiheit wirklich ausüben können etc. Eine solche abstrakt-funktionale Betrachtung führt aber nicht zu einer klaren Liste von Bereichen und korrespondierenden Ebenen (was selbst die EU eingesteht, wenn sie aus dem Subsidiaritätsprinzip wesentlich eine Rechtfertigungspflicht bei einzelnen Regelungen folgert), da eine solche Liste nur unter Berücksichtigung faktischer Gegebenheiten, Prognosen, Erfahrungen u.Ä. zusammenzustellen ist, die selbst Gegenstand von Kontroversen und konkurrierenden Beschreibungen und Einschätzungen sind. So betrachtet ist der Gewinn des komplementären Föderalismus gegenüber den anderen föderalen Modell gering. Die unterschiedlichen föderalen Modelle bieten wesentliche Beiträge zum Verständnis einer universellen republikanischen Legitimitätstheorie und zur Stellung des Prinzips der Subsidiarität in ihr – dies wurde in diesem Abschnitt nicht stark herausgestellt, da der Ansatz einer transnationalen Demokratie, der im folgenden Kapitel entwickelt wird, viele dieser Beiträge aufgreifen wird. Als föderale Modelle gelingt es ihnen aber nicht, ein plausibles Angebot zu unterbreiten, wie die Stufung des globalen Gefüges verstanden werden sollte. Sie nehmen entweder zu automatisch faktische Gegebenheiten auf, sie entproblematisieren globale Verfahren und Institutionen oder sie operieren mit einer zu rigiden und kontroversen Konstitutionalisierung der Aufteilung von Zuständigkeiten. Im Wechselspiel dieser Schwächen unterstreichen sie allerdings zugleich zwei Erwartungen an das globale Gefüge: Wenn erstens das Subsidiaritätsprinzip Teil der Bedingungen für nicht-beherrschende Verhältnisse ist, dann darf die Differenzierung des globalen Gefüges nicht willkürlich sein und muss daher den betroffenen Akteuren unabhängig von kontingenten Motivationen anderer

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6. Legitime Herrschaft jenseits der Einzelstaaten

Akteure oder von Institutionen gewährt werden. Wenn zweitens anzunehmen ist, dass Interessen und Projekte, wie auch Betroffenheiten von Entscheidungen und Maßnahmen nicht sistiert werden können, sondern in Zeit und Raum variieren und internen Dynamiken unterliegen, dann kann das Subsidiaritätsprinzip nicht zu einer mehr oder minder unwandelbaren Aufteilung von Zuständigkeiten führen. Neue Beherrschungspotentiale müssen thematisierbar und behebbar sein und d.h. es muss Verfahren und Strukturen geben, in denen die Gestalt des globalen Gefüges revidiert und kontrolliert werden kann. Nach den Versuchen, eine Theorie legitimer trans- oder internationaler Herrschaftsausübung diesseits der Erwartungen an republikanische Verfahren und Strukturen zu entwickeln, zeigt sich also, dass auch die Modelle einer Ausdehnung oder Universalisierung des republikanischen Ansatzes in der Form von Weltstaatlichkeit letztlich keine hinreichende Legitimitätstheorie präsentieren. Dies liegt v.a. daran, dass es zu keinem adäquaten Verständnis der republikanischen Grundprinzipien und Strukturen im globalen Raum kommt und die Notwendigkeit eines reflexiven politischen Gefüges zu wenig beachtet wird. Es wird daher im letzten Kapitel dieses Buches unter dem Titel der „transnationalen Demokratie“ ein Ansatz unterbreitet, der diese Schwächen zu überwinden vermag.

7. Transnationale Demokratie und legitime Herrschaft Das vorhergehende Kapitel hat gezeigt, dass eine Theorie transnationaler legitimer Herrschaft weder auf ein gewaltenteiliges, „rechtsstaatlich“ verfasstes und organisiertes Gefüge von Verfahren und Institutionen verzichten, noch das Modell, wie es im ersten Teil dieses Buches entwickelt wurde, einfach global ausdehnen oder replizieren kann. Wenn die Bedingung der Nicht-Willkürlichkeit der Strukturen und Verfahren nicht aufgegeben werden soll, die garantieren, dass die Herrschaftsausübung im doppelten Sinn der Ermöglichung bzw. Garantie, dass Freiheit positiv ausgeübt werden kann und negativ abgesichert ist, nicht-beherrschend ist, dann müssen auch die sozialen Handlungsverhältnisse jenseits der Staaten so gestaltet und kontrolliert werden, dass jeder, der von ihnen betroffen ist, in den zwei Dimensionen frei ist. Unter Bedingungen der Globalisierung mag sich die Zahl verfügbarer Optionen für viele Menschen und Gruppen vermehrt haben. Eine solche Vermehrung allein erklärt aber noch nicht, dass und in welchem Maß es zulässig sein sollte, sie zu nutzen, bzw. wie mit Verteilungen von Ressourcen, Fähigkeiten und Optionen umzugehen ist, die entweder auf (frühere) beherrschende Akte und Strukturen zurückzuführen sind oder unter aktuellen Bedingungen die Befähigung unterminieren, an Verfahren und Strukturen teilzuhaben, die zu positiver Ausübung von Freiheit führen, oder ebensolche Verfahren und Strukturen einzurichten. Die Tatsache, dass die sozio-ökonomische Entwicklung wie auch die Emergenz zahlloser zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich nicht mehr ohne Weiteres in dem hegelianisch-marxistischen Schema „partikulare Gesellschaft versus universelle Politik“ kategorisieren lassen, neue Formen und Möglichkeiten individuellen und kollektiven Handelns und Selbstorganisierens hervorgebracht haben, ist aber auch nicht

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7. Transnationale Demokratie

zu unterschätzen. Das heißt, dass bei jeder Rechtfertigung von Verfahren und Strukturen, die in der Lage sind, diese Formen und Möglichkeiten zu beschränken, oder sie geradezu unmittelbar abschaffen, etwa um Bedingungen für lokale Herrschaftsausübung aufrecht zu erhalten, zu begründen ist, warum dadurch nicht das primäre Ziel verfehlt wird, die weitestmögliche positive Ausübung von Freiheit zu garantieren, durch die niemand beherrscht wird, die also mit der negativen Absicherung von Freiheit zumindest vereinbar ist. Die Erinnerung an dieses Ziel impliziert drei Punkte, die von Ansätzen zu wenig berücksichtigt werden, die argumentieren, dass eine Theorie transnationaler Herrschaft von den Voraussetzungen für die positive Ausübung von Freiheit absehen kann: Erstens muss die Möglichkeit zur positiven Ausübung von Freiheit von kontingenten Ressourcenverteilungen weitgehend abgelöst werden, da sonst der Anspruch auf Kooperation anderer Handelnder bzw. Koordination mit deren Handlungen nicht sinnvoll erhoben werden kann (Kapitel 4.2). Zweitens darf die positive Ausübung von Freiheit durch einige nicht zur Konsequenz haben, dass die zukünftige Teilhabe anderer an der Bestimmung dessen, was in dieser Ausübung von Freiheit angezielt werden soll bzw. realisiert werden darf, eingeschränkt oder verunmöglicht wird (Kapitel 4.4). Drittens schließlich dürfen positive Ausübung und negative Absicherung von Freiheit nicht gegeneinander aufgewogen werden. Es darf weder der „größte Nutzen der größten Menge“ in der positiven Ausübung von Freiheit der negativen Absicherung der Freiheit aller Betroffenen vorgezogen werden, noch darf die negative Absicherung so verstanden werden, dass darüber ein bestimmtes (etwa liberal-individualistisches) Modell sozialen Handelns zur unüberschreitbaren Grundform sozialen Handelns überhaupt wird. Wie schon in Aufnahme von Habermas’ Theorem der „Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie“ (Habermas 1992: 135) festgehalten wurde, bedingen sich die positive Ausübung und die negative Absicherung von Freiheit wechselseitig, so dass beide nicht unabhängig voneinander in einem politischen Gefüge etabliert werden können. Werden die drei genannten Implikationen des primären Ziels politischer Verfahren und Strukturen berücksichtigt, dann vermag

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die Vorgehensweise, die Bedingungen auszuklammern, die es Handelnden erlauben, Freiheit positiv auszuüben, wie sie in Markt-, Zivilgesellschafts- und Völkerrechtsansätzen gewählt wird, selbst wenn auf diese Weise einige Potentiale der Globalisierung in die Legitimitätstheorie integriert werden, prinzipiell nicht zu überzeugen. Soll transnationale Herrschaft legitim sein, dann muss die Gestaltung der Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, genauso wie deren negative Absicherung Teil der Herrschaftsverhältnisse sein. Das Ziel „weitestmöglicher positiver Ausübung von Freiheit“ ist aber, wie die Argumentation für das republikanische Subsidiaritätsprinzip im Kapitel 6.3.2 und die inadäquate Aufnahme dieses Prinzips in föderalen Weltstaatskonzeptionen erwiesen hat, auch der Grund, warum sich die globalen Verhältnisse nicht nach dem Modell des Staates, wie er im ersten Teil des Buches entworfen wurde, im Weltmaßstab denken lassen. Die Untersuchung der unterschiedlichen Ansätze zur Weltstaatlichkeit hat gezeigt, dass diese zwar die Voraussetzungen für die positive Ausübung von Freiheit bzw. die Teilhabe an derselben thematisieren und Vorschläge unterbreiten, wie diese Voraussetzungen in globalen Verfahren sowie rechtlichen und gewaltenteiligen Strukturen aufgegriffen werden können. Dabei konnte allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass entweder die Räume, in denen Freiheit positiv ausgeübt wird, zu definitiv und rigide festgeschrieben werden, um die Interessen an wesentlichen Typen transnationalen Handelns und Interagierens bzw. die Probleme adäquat zu berücksichtigen, die sich mittel- und langfristig aus der Zulassung der Typen ergeben, oder aber dass durch die globalen Ermöglichungsbedingungen die positive Ausübung von Freiheit letztlich selbst beherrschend wird, indem globale Mehrheits-/Minderheitsverhältnisse strukturell perpetuiert werden. Wenn der Republikanismus der Nicht-Beherrschung, wie im ersten Teil dargelegt, die paternalistischen Tendenzen der Gerechtigkeitstheorien und die politizistische Engführung des Freiheitsbegriffs zurückweist, dann müssen unterschiedliche Formen, in denen Freiheit positiv ausgeübt wird, in unterschiedlichen Ordnungen und auf unterschiedlichen Ebe-

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7. Transnationale Demokratie

nen zulässig sein und sogar aktiv befördert werden, solange diese Ausübungen nicht selbst beherrschend werden.1 Um den nichtbeherrschenden Charakter von Kontexten positiver Freiheitsausübung jedoch sicherzustellen, muss das gesamte Gefüge politischer Ordnungen hinreichend reflexiv konstruiert sein, da es nur in einer reflexiven Form auf neue oder veränderte Beherrschungsphänomene und -szenarien reagieren kann (wobei sowohl die positive Ausübung von Freiheit, wie auch deren Einschränkung beherrschend sein kann). Diese „Dialektik“ von Ansätzen, die die positive Ausübung von Freiheit zu wenig thematisieren, und solchen, die sie zu eng festlegen, führt zu dem Modell einer transnationalen rechtsstaatlichen Demokratie oder kürzer einer transnationalen Demokratie.2 In der transnationalen Demokratie wird die Pluralität der Formen und Ebenen, in denen und durch die Freiheit nicht-beherrschend positiv ausgeübt werden kann, dadurch ermöglicht, erhalten und kontrolliert, dass das Verhältnis von Staaten und sonstigen Zusammenhängen zueinander nochmals nach dem Kriterium der NichtBeherrschung gestaltet wird und zugleich globale Institutionen und Instanzen mit den Staaten etc. eine einzige globale Ordnung bilden. Diese Ordnung kontrolliert die Staaten etc. daraufhin, dass und wie sie Akteure befähigen, in ihnen und durch sie Freiheit positiv auszuüben, und befähigt selbst Akteure dazu, Staaten etc. zu verlassen oder zu über- bzw. zu unterschreiten, wenn dies das Ziel rechtfertigt, Freiheit positiv und nicht-beherrschend auszuüben. Im Gegensatz zu bzw. in Weiterentwicklung von existierenden Modellen kosmopolitaner oder transnationaler Demokratie, an die mit dem Folgenden in vielen Hinsichten angeschlossen wird, wird der Ansatz, der hier begründet wird, von der Überzeugung getragen, dass sowohl die Überlegungen des Kapitels 4 zum Verhältnis von positiver Ausübung und negativer Absicherung von Freiheit, wie auch diejenigen zu erforderlichen Verfahren und Institutionen

–––––––––––––– 1

2

Dieses Argument ähnelt der Forderung Mark Warrens, dass die Organisation des Staates der normativen Erwartung an ihn folgen sollte und nicht die Erwartung der Weise der Organisation (Warren 2004: 207). Vgl. zum Verhältnis von Demokratie und Republikanismus in einer „transnationalen Demokratie“ auch Bohman 2001: 12-15 und Bohman 2007: 45-55.

7. Transnationale Demokratie

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sowie deren Verhältnis zueinander hinsichtlich der globalen Struktur einer ausführlichen neuen Interpretation bedürfen. D.h. es ist zu untersuchen, wie die freiheitstheoretischen Argumente und Prinzipien zu präzisieren oder zu modifizieren sind, um darauf basierend die prozeduralen und institutionellen Realisierungsbedingungen legitimer weltweiter Herrschaft bestimmen zu können. Im Folgenden wird in diesem Sinn zunächst gefragt, in welchem Verhältnis das Interesse an positiver Ausübung und negativer Absicherung von Freiheit zu unterschiedlichen Ebenen und Arten politischer Zusammenhänge steht. Dabei wird dargelegt, dass und warum die nicht-beherrschende positive Ausübung von Freiheit sowie die Bedingungen für die negative Absicherung von Freiheit ein Gefüge verschiedener Arten von Ordnungen auf unterschiedlichen Ebenen erfordern und die Ordungen wechselseitig noch einmal in nicht-beherrschenden Relationen zueinander stehen müssen (1.). Im Anschluss daran wird die transnationale Demokratie als globales quasi-rechtsstaatliches Netzwerk eingeführt, in dem den Netzwerkelementen, wie die Staaten etc. dann gefasst werden, andere Aufgaben und Funktionen zukommen als den Einrichtungen, die die Netzwerkstruktur als solche verbürgen (2.). Zuletzt werden die Überlegungen und Argumentationen dieses Buches zusammengeführt, und es wird expliziert, inwiefern die Theorie transnationaler Demokratie eine Theorie legitimer Herrschaft schlechthin ist, eine Theorie also, die sich der Unterscheidung zwischen allgemeiner Legitimitätstheorie und der Anwendung der Theorie auf das Gebiet internationaler Beziehungen oder globalisierter Handlungsverhältnisse entzieht (3.).

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie: Zwischen Subsidiarität und Inklusion Die Einleitung zu diesem Kapitel hat bereits den Ausgangspunkt der republikanischen Legitimitätstheorie in Erinnerung gerufen, den der erste Teil dieses Buches begründet hat und der darin besteht, dass Herrschaftsverhältnisse deshalb notwendig sind, weil nur sie die positive Ausübung von Freiheit, deren Möglichkeit in jedem Handeln vorausgesetzt wird, das auf die Umsetzung von

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7. Transnationale Demokratie

Interessen und Projekten zielt, erlauben, die (weitgehend) unabhängig von gegebenen Ressourcenverteilungen und d.h. Machtverhältnissen ist und nicht selbst ein neues Machtverhältnis darstellt. Das Verfolgen von Interessen, Projekten und sonstigen Zielen setzt oft die Kooperation anderer bzw. zumindest die Koordination mit ihnen voraus, so dass Handelnde die Kooperationen und Koordinationen zur Realisierung ihrer eigenen Ziele anstreben müssen und zugleich wissen, dass sie selbst Teil der Handlungspläne anderer sein können. Das Durchsetzen und eventuell sogar Erzwingen von Kooperationen und Koordinationen ist nur dann nicht-beherrschend, wenn alle Betroffenen gemeinsam darüber entschieden haben oder darüber hätten entscheiden können, dass sie (prinzipiell oder unter spezifischen Bedingungen) zulässig sind. Dabei lässt sich das „Entscheiden“ weder als bloße Aggregation der Interessen aller, noch als Durchsetzung eines übergeordneten moralischen oder funktionalen Gesichtspunktes verstehen. Beide Aspekte sind aber relevant, so dass Verfahren und Bedingungen hinsichtlich der Teilhabe an diesen Verfahren ausgezeichnet werden, die gewährleisten sollen, dass es möglich ist, zu Entscheidungen über prinzipiell zulässige oder erzwingbare Handlungen zu kommen, ohne dass jemand dabei Gefahr läuft, bloß aufgrund einer aggregierenden „Interessenspolitik“ oder eines vermeintlich moralischen Paternalismus seine Anliegen nicht zur Geltung bringen zu können. Dabei handelt es sich um ein universalistisches Modell, d.h. die Befähigung, Inklusion und Berücksichtigung potentiell Betroffener ist nicht auf eine präkonstituierte Gemeinschaft beschränkt, sondern sie ergeben sich als Ermöglichungsbedingung für die Etablierung und Steuerung von sozialem Handeln qua Herrschaft überhaupt, so dass die Verfahren und Strukturen eine besondere Ordnung erst konstituieren und nicht nur regulieren. Aber selbst wenn ein Betroffener davon ausgehen kann, dass die Ordnung so verfasst ist, dass er grundsätzlich befähigt ist, sein Anliegen im Verfahren zur Geltung bringen, wird es aufgrund der Anwendung eines Mehrheitsprinzips immer wieder zu Situationen kommen, in denen in der letztlich zulässigen positiven Ausübung von Freiheit bzw. einem programmierten Wirken von Institutio-

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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nen sein Anliegen nicht aufgegriffen oder befördert bzw. sogar für unzulässig erklärt wird. Die Anwendung eines Mehrheitsprinzips ist notwendig, da ansonsten soziales Handeln nur selten legitim qua Herrschaft etabliert und kontrolliert werden könnte. Um zu verstehen, warum Handelnde auch in Situationen, in denen ihre positive Ausübung von Freiheit nicht befördert wird, gute Gründe haben, die Entscheidung mit den Verpflichtungen zu akzeptieren, die damit einhergehen, wurden zuvor folgende drei weiteren Voraussetzungen genannt: Es darf erstens keine strukturellen Minderheiten geben, sondern jeder muss davon ausgehen können, dass er aufgrund des deliberativen und nicht aggregativen Charakters der legislativen Beratung im vergangenen Verfahren grundsätzlich Teil der Mehrheit hätte sein können, wenn er hinreichend überzeugende Gründe für sein Anliegen gefunden hätte, und dies folglich auch zukünftig gilt. Epistemische Legitimitätstheorien versuchen zu begründen, dass der deliberative Charakter der Gesetzgebung allein ein hinreichender Grund für die Legitimität einer Herrschaftsausübung ist, die darauf basiert. Diese Begründung vermag allerdings nicht zu überzeugen, da sie weder das Problem einer Mehrheit, die sich irrt, adäquat lösen kann, noch ein akzeptables Modell für Entscheidungen abzugeben vermag, die nicht oder nicht primär unter „Richtigkeitserwartungen“ getroffen werden, sondern Präferenzen in der Realisierung von Interessen und Projekten abstimmen. Im Rahmen des Republikanismus der NichtBeherrschung wurde daher zweitens festgehalten, dass die politische Ordnung diejenigen, die an ihr beteiligt sind, mit basalen Gütern und Fähigkeiten ausstatten muss, die absoluten Wert haben und unter Abwesenheit des Gefüges nicht zu erwarten wären. Die negative Absicherung der Freiheit und d.h. die Befähigung zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen ist somit zwar einerseits und primär die Kehrseite der positiven Ausübung der Freiheit. Denn über sie wird garantiert, dass alle befähigt werden und bleiben, sich und ihre Anliegen in den Verfahren und Strukturen überhaupt zur Geltung zu bringen, und die positive Ausübung von Freiheit in den Verfahren und durch deren Entscheidungen bzw. das Bestehen und Wirken der Verfahren und Strukturen die Fähigkeit nicht unterminiert, zukünftig an ihnen teilzuhaben. Zu-

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gleich wird aber andererseits die Bereitschaft, Mehrheitsentscheidungen „mit zu tragen“, wesentlich erhöht, wenn der Wert der Fähigkeiten, die durch die Existenz des Zusammenhangs und die Einrichtung von befähigenden Institutionen und Praktiken erworben werden, nicht auf die Teilhabe an den Verfahren beschränkt ist, sondern allgemein Optionen und Vermögen erweitert.3 Und drittens schließlich muss eine politische Ordnung insgesamt einen relativ andauernden Kooperationszusammenhang etablieren. Dies liegt schon deshalb nahe, weil sonst kaum Einrichtungen und Praktiken etabliert werden können, die zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen befähigen. Der Einbezug zukünftiger Verfahren und d.h. die Fortdauer der Kooperation ist aber auch aus dem Grund erforderlich, dass es berechtigterweise wenig Bereitschaft gibt, bei punktuellen Abstimmungen von Interessen und Projekten in einer Minderheit zu sein, die v.a. oder ausschließlich Kosten und Lasten zu tragen hat. Die Kontinuität der Kooperation ermöglicht dagegen die Aufteilung von Vor- und Nachteilen über einen längeren Zeitraum oder verschiedene Gebiete sozialen Handelns, womit mehr Spielräume für Projekte bestehen, die im Einzelfall nicht von allen für sinnvoll und erstrebenswert erachtet werden bzw. in unterschiedlichem Maß in Spielräume eingreifen. Der Republikanismus der Nicht-Beherrschung beschränkt die Legitimität einer Ordnung und ihrer Herrschaftsausübung, die z.T. auf Mehrheitsentscheidungen aufruht, also nicht auf Verfahren, die in Einzelfällen durchlaufen werden, und Institutionen, die aus den Entscheidungen der Verfahren hervorgehen und an sie gebunden sind. Er erwartet darüber hinaus, dass die Ordnung auch in dem weiteren Sinn Sozialverhältnisse konstituiert, dass ihre Bürger vermittelt durch sie auf vielfältige Weise und in vielfältigen Situationen kooperieren werden und können, so dass der Nachteil von Mehrheitsentscheidungen durch den Vorteil des Bestehens der Ordnung aufgewogen wird. Auch bei solchen Ordnungen kann es aber vorkommen, dass Entscheidungen bzw. Handlungen, die dadurch zugelassen werden, Personen betreffen,

–––––––––––––– 3

Vgl. dazu die Kritik von Forst an der politisch-prozeduralen Engführung des Modells der „Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie“ bei Habermas in Forst 2007b: 769-771.

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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die nicht schon Bürger sind und dementsprechend nicht befähigt waren, ihre Anliegen in den Verfahren und Strukturen zur Geltung zu bringen. Die Antwort auf Betroffenheit jenseits des Kreises der Bürger ist bisher diejenige gewesen, dass die Betroffenen in die Ordnung (und d.h. auch ihre weitere Konstitution sozialer Handlungsverhältnisse) einbezogen bzw. die oder einige Leistungen, Sicherheiten und Befähigungsansprüche der Ordnung auf sie ausgedehnt werden. Diese Antwort ist ein wichtiger Ausgangspunkt für Bestimmungen, wie mit Nicht-Bürgern umzugehen ist, die sich gewöhnlich als Einzelpersonen (und d.h. nicht als Gruppe, die einen Quasi-Zusammenhang im Sinn der Konstitution legitimer Herrschaft nach Innen ausmacht) im Rahmen eines Staates etc. mehr oder minder dauerhaft bewegen, wie Asylsuchende und Immigranten sowie vielleicht Touristen. Denn wenn die Personen nicht in den Hinsichten, in denen sie von der positiven Ausübung (und eventuell auch negativen Absicherung) von Freiheit in einem Staat betroffen sind (und „Betroffenheit“ heißt bei Asylsuchenden und Migranten etwas Verschiedenes), an der Entscheidungsfindung in den Verfahren beteiligt werden, dann werden sie durch diese Ausübung (und Absicherung)4 von Freiheit beherrscht (Benhabib 2004: 49-69; Honig 2007: 3-8). Andere greifen willkürlich in ihre Optionen ein, und sie verfügen über keine Möglichkeit, ihre Interessen und Anliegen unabhängig von der kontingenten Bereitschaft derjenigen, die beherrschend agieren, zur Geltung zu bringen. Dies wirft wichtige Fragen danach auf, ob Staaten Nicht-Bürgern den Zugang zu ihnen verwehren, wie sie deren Aufenthalt im Rahmen des Staates „gestalten“ und einschränken bzw. welche Handlungen Staaten vollziehen dürfen oder gar müssen, um ihre Bürger zu schützen, die sich in anderen

–––––––––––––– 4

Der Fall der Beherrschung von Asylsuchenden, Migranten oder Touristen durch die negative Absicherung der Freiheit von Bürgern eines Staates war historisch z.B. dann gegeben, wenn in Kriegssituationen ganze Bevölkerungsgruppen in Internierungslagern eingesperrt wurden. Ein anderer wichtiger Fall sind die Diskussionen oder Entscheidungen in den USA über unterschiedliche Prozessrechte von vermeintlichen „enemy combatants“, die keine Bürger sind, und denjenigen Rechten, die Bürgern zugestanden werden.

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7. Transnationale Demokratie

Staaten aufhalten.5 Bevor diese Fragen erörtert werden können, ist aber zu sehen, dass die Betrachtung inter- oder transnationaler Handlungsverhältnisse die genannten Gruppen zunächst gar nicht (ausschließlich oder vornehmlich bzw. systematisch) im Zentrum hat – auch wenn ihre Bedeutung in Zeiten globaler Verkehrsinfrastruktur, massenhafter ökonomischer Migration, von Millionen von „Bürgerkriegsflüchtlingen“ und der Bedrohung durch transnational operierende Terrorgruppen wesentlich zugenommen hat. Die zunächst gegebene Antwort bezüglich der Handlungen, die gegenüber Dritten beherrschende Effekte haben, ist also diejenige zunehmender Inklusion und d.h. der Ausdehnung des Staates bzw. die Bildung gemeinsamer Organisationen, in deren Verfahren und Strukturen nicht-beherrschend entschieden werden kann, welche Handlungen zulässig sind und welche nicht. Dieses Inklusions- und Ausdehnungsmodell wirkt attraktiv, da es die Mitglieder eines Staates verpflichtet, andere, die von der Herrschaftsausübung betroffen sind, zu befähigen, sich an den Verfahren zu beteiligen, und folglich auch, sie an der Gestaltung der Möglichkeiten teilhaben zu lassen, Freiheit positiv auszuüben. Diese Konsequenzen wären v.a. hinsichtlich der Behebung gravierender Ressourcendifferenzen wünschenswert, auf die Theorien globaler Gerechtigkeit verweisen. Das Problem ist aber, dass das Inklusionsund Ausdehnungsmodell tendenziell zur Herausbildung eines Weltstaats führt (warum die Gerechtigkeitstheorien es auch favorisieren), da zunächst nicht expliziert wird, unter welchen Bedingungen einigen nach der Inklusion die Teilhabe an den Verfahren und Strukturen wieder verwehrt werden kann oder einige das Recht haben, eine separate politische Ordnung zu etablieren, also die Anliegen anderer nicht zu berücksichtigen. Solche „Separationen“ oder „Sezessionen“ scheinen hinsichtlich ihrer Legitimitätsbedingungen von Entscheidungen in den Verfahren abzuhängen, also der Zustimmung einer Mehrheit aller im gemeinsamen Staat zu bedürfen, so dass das republikanische Subsidiaritätsprinzip auf den Status eines regulativen Ideals für Deliberationen in den Ver-

–––––––––––––– 5

Zu Überlegungen zu den Rechten von Touristen, Asylsuchenden und Migranten sowie korrespondierenden Pflichten von Staaten und zur Frage nach einem allgemeinen Recht auf Migration vgl. Niederberger/Schink 2009.

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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fahren reduziert wird. Dies ist aber zu schwach gemessen am Geltungsanspruch des Subsidiaritätsprinzips, der zuvor herausgearbeitet wurde und besagt, dass es ein Recht zur positiven Ausübung von Freiheit auf der niedrigstmöglichen Ebene gibt, die den Einbezug der relevanten Interessen aller Betroffenen erlaubt. Die genannte Inklusionsnotwendigkeit resultiert aus der spezifischen Form der Beherrschung (bzw. Ungerechtigkeit), die damit ausgeschlossen werden soll, weshalb auch die Nennung der drei primär betroffenen Gruppen nicht zufällig war. Der erste Teil dieses Buches war durch den Fokus auf den Einzelstaat und dessen Legitimitätsbedingungen gekennzeichnet, zu denen die genannte Inklusion gehört. Wird der Fokus um die Betrachtung der Verhältnisse zwischen Staaten bzw. derjenigen jenseits von ihnen erweitert, dann kommen weitere Formen beherrschender Effekte in den Blick, deren nicht-willkürliche Behebbarkeit auf der Basis des universalistischen Prinzips der Nicht-Beherrschung6 und seiner Präzisierung durch das republikanische Subsidiaritätsprinzip zu denken ist (7.1.1). Zudem ergeben sich aus der Erweiterung des Fokus die grundlegenden Fragen, warum es überhaupt zu einer Pluralität von Staaten kommt und wie ähnlich bzw. vergleichbar die Staaten oder sonstigen Zusammenhänge sind (7.1.2). Da sich aus der Beantwortung dieser Fragen die Vorstellung einer Heterarchie asymmetrischer Formen politischer Ordnungen ergibt, ist zuletzt zu untersuchen, wie in einer solchen Heterarchie die Ordnungen ihre Erhaltungs- und Funktionsbedingungen sichern können und wie in ihr die Behebung der beherrschenden Effekte zu verstehen ist, die zuvor unterschiedenen wurden (7.1.3). Dabei ist schließlich auch eine Auskunft dazu zu erwarten, warum die Heterarchie, nicht gegebene Differenzen an Ressourcen zur positiven Ausübung von Freiheit verfestigt, also gerade dem Ziel entgegensteht, dass die positive Ausübung von Freiheit unabhängig von kontingenten Ressourcenverteilungen wird (7.1.4).

–––––––––––––– 6

Die Erinnerung an den „universalistischen“ Charakter des Prinzips der NichtBeherrschung ist notwendig, da die Fokuserweiterung so verstanden werden muss, dass das gesamte globale Setting hinsichtlich des Interesses der Individuen schlechthin an der positiven Ausübung von Freiheit betrachtet wird, die mit der negativen Absicherung von Freiheit einhergeht.

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7. Transnationale Demokratie

7.1.1 Drei Grundformen beherrschender Effekte zwischen Zusammenhängen Geht man zunächst einmal vom Faktum einer Pluralität von Staaten (im Unterschied zur Vorstellung eines Staates und seines „Außen“) aus,7 so sind drei Grundformen beherrschender Effekte bei Dritten zu unterscheiden, die jeweils gemäß dem Prinzip der Nicht-Beherrschung die Berücksichtigung der Dritten erfordern, aber nicht die gleiche Art der Berücksichtigung: Erstens ist die Form anzuführen, den die zuvor genannten Gruppen von Migranten, Asylsuchenden und Touristen exemplifizieren. Bei ihr sind und werden Dritte, die sich bereits freiwillig oder unfreiwillig, aber auf jeden Fall aus Gründen, die auf Interessen von ihnen zurückführbar sind,8 in gemeinsamen sozialen Handlungsverhältnissen mit den Bürgern eines Staates befinden, qua Steuerung und Kontrolle der Verhältnisse direkt in Kooperationen oder Koordinationen mit vorgesehen, ohne selbst an den Verfahren und Strukturen teilzuhaben bzw. teilhaben zu können, die der Herrschaftsausübung zu Grunde liegen. Diese Dritten werden gegebenenfalls mit Zwang zur Kooperation oder Koordination verpflichtet, so sie sich dem Zwang nicht aufgrund eigener oder mobilisierbarer Ressourcen entziehen oder widersetzen können. In diesen Fällen kann die Beherrschung nur dadurch aufgehoben werden, dass die Dritten in den Staat mit einbezogen werden. Um allerdings auszuschließen, dass die Inklusion nur eine faktische Beherrschung verdeckt, müssen dabei, wenn die Entscheidungen nicht insgesamt auf Konsense umgestellt werden sollen, zur Ermöglichung von Mehrheitsent-

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8

Dieses Faktum bildet in der folgenden Argumentation derart im Hintergrund, dass eine Situation besteht, in der Individuen ihre Interessen berechtigterweise aufgrund des bereits begründeten Subsidiaritätsprinzips in unterschiedlichen Staaten realisieren, ohne dass damit schon die Notwendigkeit von deren Pluralität erwiesen wäre. Eine der Fragen hinter der Differenzierung der drei Grundformen beherrschender Effekte ist folglich, ob die Berechtigung der Pluralität, die das Subsidiaritätsprinzip begründet, überhaupt mit den Bedingungen für die Erfüllung des Prinzips der Nicht-Beherrschung vereinbar ist. Diese Ergänzung ist notwendig, da für den ersten Typ von Beherrschung charakteristisch ist, dass das Bewegen in gemeinsamen Verhältnissen entweder auf Konsens oder auf Unumgänglichkeit zurückführbar sein muss.

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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scheidungen die zusätzlichen Voraussetzungen, von denen früher die Rede war, auch für diejenigen gelten, die (neu) einbezogen werden. Zweitens kann es aber auch dadurch zu beherrschenden Effekten auf Dritte kommen, dass die Folgen, die die Umsetzung von Interessen und Projekten hat, bzw. die Reichweiten von Koordinationen und Kooperationen absichtlich oder unabsichtlich in den Verfahren, die sie herbeigeführt oder zugelassen haben, nicht hinreichend bedacht wurden. In diesen Fällen muss die Tatsache, dass es zu beherrschenden Effekten kommt, als Grund für die Illegitimität entsprechenden Handelns gelten. Aber es ist nicht offensichtlich, dass die Effekte dadurch behoben werden sollten, dass die Betroffenen in den Staat oder Zusammenhang einbezogen werden, von dem die Beherrschung ausgeht. Unter der Voraussetzung, dass die Kooperation oder Koordination in der Tat nicht intendiert ist, spricht auf der einen Seite nichts dagegen, die Bedingungen für die Umsetzung der Interessen und Projekte so zu modifizieren, dass die beherrschenden Effekte sich nicht mehr einstellen. Dies bedeutet, dass diejenigen, die von Beherrschung betroffen sind, keinen Anspruch auf Inklusion erheben können. Auf der anderen Seite ist ebenfalls nicht einzusehen, warum das bloße Faktum einer nicht intendierten beherrschenden Wirkung ein hinreichender Grund für die Bildung eines gemeinsamen Zusammenhangs (im Sinn der Ermöglichung der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit) sein sollte. Dies heißt, dass auch kein Anspruch derjenigen, die die Urheber des beherrschenden Effektes waren, besteht, die Betroffenen einbeziehen zu dürfen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich als Resultat der beherrschenden Effekte ein Konsens einstellt, dass die Kooperationen oder Koordinationen notwendig sind und bei Betreiben durch einen Einzelstaat nicht ohne beherrschende Effekte möglich sein werden, so dass eine neue übergreifende Ordnung gebildet wird. Drittens schließlich sind beherrschende Effekte dadurch denkbar, dass Dritte, die sich bislang – zumindest ihrer Wahrnehmung nach – nicht mit den Bürgern eines Staates in gemeinsamen Handlungsverhältnissen befinden, in Kooperationen und Koordinatio-

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7. Transnationale Demokratie

nen mit vorgesehen werden, und dementsprechend, wiederum so sie nicht über entgegenstehende Ressourcen verfügen, möglicherweise zu Kooperation und Koordination gezwungen werden. Auch hier ist zunächst davon auszugehen, dass das Wirken aufgrund der beherrschenden Effekte illegitim ist. Viel schwieriger ist die Frage, welche Möglichkeiten und/oder Verpflichtungen die beteiligten Parteien in der Folge haben. Die Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass es denkbar ist, dass mit der erzwungenen Kooperation auf beherrschende Effekte etwa der ersten oder zweiten Art reagiert wird, d.h. die Notwendigkeit der Kooperation gerade dadurch begründet wird, dass dies der einzige Weg sei, beherrschende Effekte durch gemeinsame Verfahren und Strukturen auszuschließen, die Nicht-Beherrschung garantieren. Die letzte „Begründung“ kann nicht einfach von der Seite dekretierbar sein, die die Kooperation oder Koordination auferlegt, da dies nicht das willkürliche Auferlegen bzw. Erzwingen eines gemeinsamen Zusammenhangs auszuschließen erlauben würde, also einen direkten Widerspruch zum republikanischen Subsidiaritätsprinzip zur Folge hätte. Die Begründung kann aber auch nicht einfach von der anderen Seite zurückgewiesen werden, da dies wiederum diejenigen, die von anderen Beherrschungseffekten, etwa der ersten oder zweiten Art, betroffen sind, von der Willkür desjenigen abhängig macht, der in diesen Fällen Urheber der Effekte ist. Die Schwierigkeit lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Angenommen ein Staat ermöglicht oder duldet den Betrieb von betrügerischen Scheinfirmen auf seinem Territorium, da auf diese Weise ökonomische Projekte und Interessen einiger Bürger, also deren Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, befördert werden. Mindestens eine dieser Firmen verkauft Anteile an einem vermeintlichen Immobilienfonds an Bürger eines anderen Landes. Nach einiger Zeit wird der Betrug offensichtlich, und die Betroffenen fordern ihr Geld zurück. Da es kein Abkommen zwischen beiden Staaten hinsichtlich der Strafverfolgung bzw. Kompensation bei betrügerischen Vertragsabschlüssen o.Ä. gibt, also keine Koordination zwischen den Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, existiert, sind die Personen auf den guten Willen des ersten Staates angewiesen, die Firma zur Rückzahlung zu zwingen. Nach

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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einem Zögern des ersten Staates, dies zu tun, erlässt der zweite Staat, möglicherweise unterstützt durch weitere Staaten, Regelungen für das Anbieten und den Erwerb von Anteilen an Immobilienfonds und erklärt, dass aufgrund der Vorkommnisse und mit Blick auf die Notwendigkeit, zwischenstaatliche ökonomische Interaktionen grundsätzlich zu koordinieren, diese Regelungen auch für das erste Land gelten und mit vereinten Kräften notfalls auch durchgesetzt werden, z.B. indem der erste Staat als solches für Kompensationen haften muss. Dieser Akt ist beherrschend, da in die Spielräume des Staates und seiner Bürger sowohl qua Regelung der Handlungsmöglichkeiten als auch durch die Kompensationspflicht willkürlich eingegriffen wird und sie nicht an den Verfahren und Strukturen teilhaben konnten bzw. können, die den Eingriff hervorbringen. Andererseits lässt sich aber auch sagen, dass die Tatsache, dass die Scheinfirmen (auch) ermöglicht wurden, um mit Bürgern anderer Staaten zu interagieren, hinreichender Grund für die Annahme ist, dass ein gemeinsamer sozialer Handlungskontext angestrebt wurde und folglich eine gemeinsame Ordnung zu etablieren ist, um diesen Kontext legitim einrichten, kontrollieren und steuern zu können. Besteht dementsprechend weiterhin das Recht des ersten Staates auf eigene und distinkte Staatlichkeit, also das Recht den gemeinsamen Zusammenhang zu verweigern (womit die beherrschenden Effekte in der Ermöglichung des Betrugs sowie in der Auferlegung gemeinsamer Prinzipien in Analogie zur zweiten Form betrachtet würden), oder muss die Auferlegung der gemeinsamen Regelungen, die grundsätzlich nötig sind, dadurch legitimiert werden, dass die Bürger des ersten Staates in die Ordnung mit einbezogen werden, die die Regelungen erlässt und durchsetzt (womit beide beherrschende Effekte in Analogie zur ersten Form gestellt würden und aufgrund ihrer Wechselseitigkeit die Notwendigkeit einer gemeinsamen Ordnung begründen)? Wie bereits angedeutet wurde, kann die Antwort nicht von einer der beiden Seiten allein gegeben werden, sondern es muss ein selbst nicht-beherrschendes Verfahren bestehen, in dem der Disput geklärt werden kann. Dies gilt grundsätzlich für alle drei Arten beherrschender Effekte, denn sie können nur dann nicht-beherr-

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schend und d.h. hier v.a. nicht-willkürlich behoben werden, wenn den Betroffenen Verfahren und Strukturen zur Verfügung stehen, in denen sie die Effekte thematisieren und notwendige Modifikationen an Staaten, Entscheidungen oder Handlungsweisen herbeiführen können. Aufgrund des spezifischen Charakters von beherrschenden Effekten auf Dritte dürfen diese Verfahren und Strukturen nicht noch einmal nach dem Modell eines Einzelstaates konzipiert werden, wie es zu Beginn dieses Abschnitts in Erinnerung gerufen wurde. Denn eine solche Aufhebung des Staates in einem Weltstaat würde auf alle Effekte nach dem Vorbild des erforderlichen Umgangs mit dem ersten Effekt reagieren, mit der Begründung, dass nur so sichergestellt werden könne, dass immer schon global jeder nicht-willkürlich in der Lage sei, seine Anliegen in Verfahren und Strukturen geltend zu machen. Ein Weltstaat würde in der Tat das Verhältnis des beherrschenden Staates bzw. seiner Bürger zu den Dritten, die beherrschenden Effekten ausgesetzt sind, von einem Macht- zu einem Herrschaftsverhältnis transformieren.9 Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es sich um ein legitimes Herrschaftsverhältnis handeln würde, denn die zweite und dritte Form beherrschender Effekte weisen darauf hin, dass Beherrschung gerade darin bestehen kann, willkürlich zur Teilhabe an einer gemeinsamen Ordnung gezwungen zu werden (Bohman 2007: 26-28). Es ist also zu bestimmen, unter welchen Bedingungen die Ausdehnung eines Staates bzw. Gründung eines übergreifenden Zusammenhangs und welche Form der Ausdehnung bzw. Gründung nicht-willkürlich und d.h. möglich oder notwendig ist. Die dritte Form beherrschender Effekte bekommt derart eine herausragende Stellung, denn im Umgang mit ihr werden die genannten Bedingungen nicht nur angewandt, sondern selbst thematisch. Bei der ersten Form ist aufgrund der gemeinsamen Handlungsverhältnisse klar, dass die Ausdehnung nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Damit die Einbeziehung von Betroffenen nicht von der Willkür des einbeziehenden Staates abhängt, sondern ein Anspruch ist, der den Betroffenen verbürgt ist, muss es

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Dies gilt allerdings nur unter der Prämisse, dass es notwendig Personen als ganze sind, die am Staat teilhaben. Diese Vorstellung wird im Kapitel 7.1.2 unter Rekurs auf die Heterarchie asymmetrischer Ordnungen zurückgewiesen.

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eine Instanz geben, die über den Anspruch zu entscheiden und ihn durchzusetzen vermag. Sie muss entscheiden können, ob im gegebenen Fall eine Situation vorliegt, in der jemandem, der sich gemeinsam mit anderen in Handlungsverhältnissen bewegt, die Teilhabe an der Bestimmung der Prinzipien und Strukturen vorenthalten wird, die die Verhältnisse qua Herrschaftsausübung gestalten, und sie muss je nach Entscheidung die Einbeziehung notfalls erzwingen. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob es sich bei den Akteuren, die von Beherrschung betroffen sind, um Asylsuchende bzw. Migranten oder um aus sonstigen Gründen von der Teilhabe Ausgeschlossene handelt (wie Frauen, Mitglieder bestimmter religiöser Gruppen, Arme etc.). Die externe Instanz ist grundsätzlich notwendig,10 um sicherzustellen, dass die Verfahren und Strukturen in einem Staat bzw. innerhalb der explizit angezielten Reichweite der Herrschaftsausübung nicht-beherrschend sind, weshalb bei ihren Interventionen die Ausdehnung der Ordnung nicht-willkürlich ist, da sie sich unmittelbar aus der Geltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung in der Ordnung selbst ergibt. Bei der Reaktion auf die zweite Form beherrschender Effekte ist die Ausdehnung bzw. der Zusammenschluss von Zusammenhängen nicht notwendig und nur im Konsens möglich. Auch hier muss es eine externe Instanz geben, die feststellen kann, ob beherrschende Effekte vorliegen, und bei Vorliegen verbindlich erwirken kann und muss, dass sie unterbleiben. Die Interventionsberechtigung ergibt sich wiederum nicht-willkürlich aus der Geltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung, aus dem nun unter Hinzuziehung des Subsidiaritätsprinzips auch folgt, dass die Intervention nicht das Ziel der Ausdehnung einer der Ordnungen oder des Zusammenschlusses der beiden verfolgen darf, selbst wenn die intervenierende Instanz davon überzeugt ist, dass es gute Gründe für die Ausdehnung bzw. den Zusammenschluss gibt. Ein

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Womit noch nicht gesagt ist, ob sie auch hinreichend ist, denn bislang ist noch nichts dazu gesagt worden, welche Instanz Akteure befähigen sollte oder muss, beherrschende Effekte zu erkennen, zu artikulieren und der im Text entwickelten Instanz zur Entscheidung vorzulegen. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 7.2.3 zur Rolle, die die Netzwerkstruktur für die Befähigung spielen kann und muss.

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solches Ziel würde die Intervention selbst beherrschend machen und darf darum der Instanz nicht zur Disposition stehen, denn sonst würde es von ihrer Willkür abhängen, ob sie von der Möglichkeit Gebrauch macht oder nicht. Bis zu diesem Punkt ähnelt die transnationale Demokratie den Modellen konföderaler Weltstaatlichkeit (Kap. 6.3.1), denn in diesen Ansätzen werden jenseits der Einzelstaaten v.a. Einrichtungen etabliert, die sicherstellen, dass einerseits Staaten die Ansprüche auf die Befähigung zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen gewährleisten (was gewöhnlich unter Bezug auf den existierenden völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz expliziert wird) und andererseits Staaten nicht willkürlich in ihre Spielräume eingreifen. Wie die konföderalen Ansätze legt es auch das Modell transnationaler Demokratie nahe, dass die Instanzen, die jenseits der Staaten zu diesem Zweck eingerichtet werden, im Unterschied zu innerstaatlichen Verfahren und Strukturen gerichtsförmig verfasst sein sollten. D.h. ihnen darf die Grundlage für die Entscheidung, ob beherrschende Effekte bestehen, nicht oder zumindest nicht direkt verfügbar sein, was z.B. ausschließt, dass sie selbst gesetzgeberisch oder in der Form eines exekutiven Erlasses festlegen könnten, was unter den Effekten zu verstehen ist und was nicht. Indirekte Gesetzgebung lässt sich nicht ausschließen (was auch nicht wünschenswert wäre), da die Instanzen im Einzelfall begründen müssten, warum die Effekte vorliegen oder nicht, womit sie, so sie nicht äußerst selten aktiviert würden, fraglos im Sinn der Rechtsfortbildung tätig wären. Weiter unten wird sich zeigen, wie solche Instanzen genauer aussehen könnten und wie sie sich in die globalen Verfahren und Strukturen einfügen.11 Die nicht-willkürliche Behebbarkeit von beherrschenden Effekten der dritten Form führt zunächst ebenfalls zu einer Instanz, die das Vorliegen des Effekts zu konstatieren und notfalls zu dessen Unterbindung in den „beklagten“ Staat oder Zusammenhang zu intervenieren vermag. Diese Intervention ist aber im Sinn einer „einstweiligen Verfügung“ zu verstehen, die Zeit und Raum für

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Vgl. zur Begründung für das Gerichtsmodell ausführlicher Niederberger 2008b.

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die Klärung des strittigen Punktes schafft, ob die Etablierung oder Steuerung gemeinsamer Verhältnisse qua Herrschaftsausübung notwendig ist. Die Klärung selbst muss sich in drei Stufen vollziehen: Auf dem Hintergrund des Prinzips der Subsidiarität ist prima facie davon auszugehen, dass in einem Staat die Ermöglichung der positiven Ausübung von Freiheit bei gleichzeitiger negativer Sicherung derselben für alle Betroffenen durch Verfahren und Strukturen vorliegt. Es sollte also eine Art Unschuldsvermutung für den Staat gelten, der gegen beherrschende Effekte Klage führt, d.h. für den Zusammenhang, der in eine Kooperation oder Koordination qua Herrschaftsausübung einbezogen wurde.12 Der Staat oder Zusammenhang,13 der der Auffassung ist, dass der klageführende Staat etc. vor der Handlung mit beherrschenden Effekten selbst in seinen Entscheidungen bzw. den Projekten, deren Verfolgung die Entscheidungen ermöglicht haben, gemeinsame Verhältnisse bzw. die Wünschbarkeit derselben unterstellt hat, muss daher auf der ersten Stufe den Beweis führen, dass diese Auffassung den Tatsachen entspricht. Lässt sich dieser Beweis nicht führen, dann war die Ausdehnung der Herrschaftsausübung illegitim und das Verfahren ist beendet. Gelingt es dagegen zu zeigen, dass die Entscheidungen auf gemeinsame Handlungsverhältnisse verwiesen, dann muss auf der zweiten Ebene darüber hinaus demonstriert werden, dass dieser Verweis notwendig Bestandteil der

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Hierbei kann es sich nicht um die Entproblematisierung konkreter Staaten drehen, die durch Menschenrechtsverletzungen oder hegemoniales Auftreten charakterisiert sind, und nicht einmal um die Entproblematisierung von Staatlichkeit als solcher. Die „Unschuldsvermutung“ betrifft die Beweislast in dem oben dargestellten Verfahren und sie ergibt sich daraus, dass das Subsidiaritätsprinzip ad absurdum geführt würde, wenn Staaten grundsätzlich die Verpflichtung hätten, für alle Eventualitäten vorweg zu begründen, dass ihre Handlungen und Wirkungen nicht-beherrschend sein werden. „Der Staat oder Zusammenhang“ ist hier ein Platzhalter für diejenigen, die die Etablierung einer gemeinsamen Ordnung bzw. eine Ausdehnung der Herrschaftsausübung auf weitere Handlungsverhältnisse anstreben. Dabei muss es sich nicht um einen Staat als ganzen handeln, sondern es können durchaus, wie weiter unten deutlich wird, Personen aus unterschiedlichen Staaten oder sogar Akteure gemeint sein, die weder personal noch „staatsförmig“ zu verstehen sind, wie NGOs oder Firmen.

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Entscheidung war, er also erkannt hätte werden können oder müssen bzw. zumindest ex post anzuerkennen ist. Scheitert diese Darlegung, dann ist das Verfahren ebenfalls beendet und es muss dem klageführenden Staat etc. die Option offenstehen, die Entscheidungen so zu revidieren, dass die beherrschenden Effekte ausbleiben. Im zuvor präsentierten Beispiel ließe sich der geforderte Beweis aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl auf der ersten wie auf der zweiten Stufe führen. Denn die Ermöglichung oder gar Förderung von Firmen, die über den Staat hinaus operieren können, ist sicherlich so zu verstehen, dass ein gemeinsamer Raum ökonomischer Interaktionen unterstellt wird. Und wenn darüber hinaus gezeigt werden kann (was im Fall von betrügerischen Scheinfirmen nicht allzu schwer sein dürfte), dass die Ermöglichung und Förderung der Firmen insbesondere auf deren Gewinnmöglichkeiten im gemeinsamen Raum abzielte, dann wäre auch der Beweis auf der zweiten Stufe geführt. Aus dem Gelingen des Beweises auf den beiden Stufen folgt aber immer noch nicht, dass der beklagte Staat das Recht hat, eine gemeinsame Ordnung eventuell vermittels der Intervention einer transnationalen Instanz in den klageführenden Staat zu etablieren. Ein solches Recht ist nur dann gegeben, wenn weiterhin nachgewiesen werden kann, dass der klageführende Staat selbst qua Herrschaftsausübung versucht hat, die gemeinsamen Verhältnisse zu steuern und zu kontrollieren, denn in diesem Fall sind die Bedingungen für die Aufhebung der ersten Form beherrschender Effekte gegeben und der klageführende Staat muss verpflichtet werden, alle Betroffenen in die Verfahren und Strukturen mit einzubeziehen (was der Bildung einer gemeinsamen Ordnung gleichkommt). Wenn der klageführende Staat es aber nur einzelnen Akteuren ermöglicht hat, die Abwesenheit gemeinsamer Herrschaftsausübung auszunutzen, und sich auch weiterhin gegen die Beteiligung an dieser Ausübung entscheidet (also die Ausnützbarkeit der Abwesenheit von Herrschaftsverhältnissen perpetuieren will), dann hat dies primär zur Konsequenz, dass Akteuren, wie Einzelpersonen, Firmen etc., die diesen Staat zum Zweck des Entzugs aus den Herrschaftsverhältnissen nutzen können, aus jenen ausgeschlossen werden dürfen, ohne dass dies selbst als Beherrschung zu verstehen wäre.

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Die Darlegung der Weisen, wie der dritten Form beherrschender Effekte zu begegnen ist, mag den Eindruck unnötiger Komplexität erwecken. Dieser Eindruck trügt aber, da es sich bei der dritten Form beherrschender Effekte um eines der kompliziertesten Probleme für Bedingungen legitimer Herrschaft unter Bedingungen der Globalisierung handelt, was daher einer differenzierten Erörterung bedarf. Denn bei aller vermeintlichen Deregulierung von Märkten etc. ist die Globalisierung, wie u.a. die Ausführungen zu den Hegemonietheorien (Kap. 5.3) deutlich gemacht haben, v.a. dadurch gekennzeichnet, dass auf Druck von ökonomischen Akteuren, auf Betreiben von „mächtigen“ oder „ohnmächtigen“ Staaten, aber auch aus kulturpolitischen oder philanthropischen Zielen heraus gemeinsame Handlungsverhältnisse qua Herrschaftsausübung etabliert und auf der Basis von z.B. ökonomischen bzw. hegemonialen Maximen gesteuert und kontrolliert werden. Häufig gibt es, selbst wenn die Herrschaftsausübung nicht auf republikanischen und schon gar nicht auf demokratischen Verfahren und Strukturen aufruht, gute Gründe dafür, gemeinsame Verhältnisse zu etablieren, etwa weil erwartbar ist, dass deren geteilte Bestimmung letztlich zur immer umfassenderen wechselseitigen Befähigung der Mitglieder der übergreifenden Ordnung führt, also größere soziale Gerechtigkeit hervorbringt.14 Aber das Schaffen umfassenderer Zusammenhänge stößt auch immer wieder auf Widerstände, in denen auf den Verlust von Möglichkeiten verwiesen wird, Freiheit gemäß den eigenen Vorstellungen positiv ausüben zu können. Viele dieser Konflikte lassen sich nicht auf die beiden ersten Formen beherrschender Effekte reduzieren. Es lässt sich bei ihnen weder zeigen, dass sich die Zurückweisung einer gemeinsamen Ordnung dem Ziel verdankt, intern beherrschende Verhältnisse (d.h. etwa Diskriminierungen von bestimmten Gruppen, nicht-republikanische Verfahren und Strukturen von Herrschaft oder eine zweifelhafte „nationale Selbstbestimmung“) aufrecht zu erhalten, noch ist die Etablierung einer gemeinsamen Ordnung einfach als willkürlicher Eingriff in die

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Vgl. dazu die Aufnahme von John Deweys Vorstellung eines „democratic circle“ bei Bohman 2007: 114-120.

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Handlungsräume betroffener Akteure oder Staaten zu begreifen. In einem ersten Schritt war es daher notwendig, die Begründungslast für das Etablieren gemeinsamer übergreifender Ordnungen darzulegen und zu explizieren, welche Berechtigungen sich auf den unterschiedlichen Stufen der Begründung ergeben. Dabei zeigt sich, dass die Bedingungen für die Umsetzung des Prinzips der Nicht-Beherrschung nicht nur nicht im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip stehen, sondern dass die Explikation der Bedingungen im Licht des Prinzips die wichtige Differenzierung zwischen der Ebene von Staaten etc. und derjenigen von Instanzen zur Konsequenz hat, die die Geltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung in und zwischen den Staaten etc. bzw. jenseits von ihnen garantieren.

7.1.2 Eine Heterarchie asymmetrischer Zusammenhänge Die bisherigen Ausführungen haben zur Bestimmung von drei Grundformen beherrschender Effekte bei Dritten geführt, deren Differenzen erst deutlich werden konnten, nachdem der Fokus auf den Einzelstaat, wie er im ersten Teil dieses Buches gewählt wurde, so erweitert wurde, dass auch die zwischenstaatlichen Verhältnisse in den Blick kommen. Diese Bestimmung hat erwiesen, dass die Gewährleistung von nicht-beherrschenden Verfahren und Strukturen oder gesamten Ordnungen durchaus mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist, so dass das Bestehen einer Pluralität von Staaten nicht per se, d.h. freiheits- und legitimitätstheoretisch ausgeschlossen ist. Diese Einsicht wirft die Fragen auf, warum oder unter welchen Bedingungen es zur Herausbildung einer Pluralität von Staaten kommt und was diese Herausbildung über die Verteilung von Fähigkeiten und Ressourcen zur positiven Ausübung von Freiheit aussagt. Hinter diesen Fragen steckt die Überlegung, dass wenn die Konstitution einer Pluralität von Staaten von den Interessen an der positiven Ausübung von Freiheit abhängt, deren Realisierbarkeit sich Handelnde von einer Ordnung versprechen, mehr zum Verhältnis von diesen Interessen und den Staaten etc. gesagt werden muss, als bisher geschehen ist – und zwar sowohl hinsichtlich der Inhalte von Interessen, als auch hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen Interessen konvergie-

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ren. Könnte nämlich einerseits mit Blick auf die Inhalte davon ausgegangen werden, dass alle Handelnden beständig oder vornehmlich globale Ziele verfolgen (bzw. sie solche Ziele verfolgen würden, wenn es einen Weltstaat gäbe), würde die Diskussion der Bedingungen, unter denen eine Pluralität von Staaten etc. bestehen kann und sollte, genauso überflüssig, wie sie für die Ansätze verzichtbar ist, die Handelnden vornehmlich das Interesse an der negativen Absicherung von Freiheit zuschreiben. Und würde sich andererseits zeigen, dass die Pluralität von Staaten v.a. deshalb zustande kommt, weil einige anderen den Zugriff auf ihre Ressourcen vorenthalten wollen (das gemeinsame Interesse an Bedingungen für die positive Ausübung von Freiheit also ein Interesse ist, möglichst wenig mit anderen kooperieren zu müssen, die nicht schon über dieselben „Befähigungen“ zur positiven Ausübung von Freiheit verfügen), dann wäre die Pluralität eventuell nicht grundsätzlich mit dem Prinzip der Nicht-Beherrschung unvereinbar, sie könnte aber zu Verhältnissen führen, unter denen sich die Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit doch so gravierend zwischen Staaten unterscheiden, dass nicht sinnvoll zu behaupten wäre, dass die Bedingungen für die positive Ausübung von Freiheit von kontingenten Gegebenheiten abgelöst wären. Eine interessante Bestimmung des Verhältnisses von Interessen und Staat bietet der „universalistische Kommunitarismus“ David Millers. Miller beginnt sozialontologisch mit der These, dass die Interessen, die Individuen haben, und staatliche Verfahren und Institutionen nicht in einem äußerlichen Verhältnis zueinander stehen. Das Bestehen des Staates und die andauernde Praxis des Interagierens in den Verfahren und Strukturen wie in den sozialen Handlungsverhältnissen, die qua Herrschaft etabliert und kontrolliert werden, ist konstitutiv für die meisten Interessen und Projekte, die Individuen verfolgen (Miller 2001: 70-73). Miller formuliert so eine Vorstellung von Staaten, die in entscheidenden Hinsichten für die gesamte soziale Welt derjenigen konstitutiv sind, die sich in ihnen bewegen – eine Vorstellung, die zu Beginn dieses Abschnitts ähnlich auch für den Republikanismus der Nicht-Beherrschung formuliert wurde. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen verändert sukzessive Inklusion zwar den Staat. Sie kann aber auf-

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grund der konstitutiven Rolle des Staates für die Interessen und Projekte systematisch – so der Staat demokratischen Anforderungen entspricht (Miller 2001: 73-80) – nicht zu einer Spannung zwischen Interessen und Projekten einerseits und der Größe oder Zusammensetzung des Staates andererseits führen. Denn eine solche Spannung würde voraussetzen, dass Interessen und Projekte doch unabhängig vom Staat entwickelt werden und daher in ihm in Konflikt mit anderen Interessen stehen könnten. Innerstaatliche Exklusions- oder Separationsforderungen sind dementsprechend ein Beherrschungsphänomen und daher grundsätzlich zurückzuweisen. Diese Konsequenz droht in Widerspruch zum Ziel der Argumentation Millers zu geraten, das darin besteht, den „Wert nationaler Selbstbestimmung“ herauszuarbeiten, also gerade die Berechtigung von Exklusion und die Notwendigkeit einer Pluralität von Staaten nachzuweisen. Dabei kann der Wert aufgrund des universalistischen Charakters der Argumentation nicht in einer substantiellen Wesensbestimmung unterschiedlicher Nationen gründen. Um zu erweisen, dass die Argumentation nicht genau das Gegenteil dessen besagt, was sie intendiert, führt Miller zwei zusätzliche Argumente ein: Das erste Argument besteht im Verweis auf das Faktum einer Pluralität von Staaten, für die die sozialontologische Beschreibung gilt. Dieses Argument ist aber nicht überzeugend, da nicht klar ist, warum die Pluralität nicht unter Verweis auf die sukzessive Inklusion von Personen bzw. den historischen Wandel für prinzipiell überwindbar gehalten werden sollte (vgl. auch Miller 2008). Das zweite Argument artikuliert daher unter Aufnahme des Begriffs der Nation Funktionsvoraussetzungen für Staaten, die sich daraus ergeben, dass die Bewahrung der Identität eines Staates erforderlich ist, wenn es nicht zu Widerstand gegen ihn kommen soll (Miller 1995: 20; ausführlicher zum notwendigen Konnex von Staat und Nation in der Form eines „liberalen Nationalismus“ [Tamir 1993] auch Moore 2001: 74-101). Unter der Annahme dieser Funktionsvoraussetzungen muss unterstellt werden, dass die Interessen und Projekte, die im Staat generiert werden, bestimmte psychologische oder symbolische Erwartungen erfüllen können müssen, die nicht schon durch die Ge-

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nese in den staatlichen Verfahren und Strukturen garantiert sind bzw. durch die „Überdehnung“ des Staates geradezu notwendig verfehlt werden. Die millersche Argumentation ist interessant für die republikanische Begründung der Notwendigkeit einer Pluralität von Staaten, da er die staatlichen Verfahren und Strukturen universalistisch einführt und v.a. als konstitutiv für die Persönlichkeiten der Bürger des Staates begreift. So werden die Staaten nicht in Abhängigkeit von geteilten Eigenschaften oder tatsächlichen, z.B. egoistischen Interessen der Bürger gesetzt, weshalb auch der Verweis auf die faktische Pluralität wenig erklärt. Mit seinem zweiten Argument stellt Miller eine Korrelation zwischen Verfahren und Strukturen einerseits und Persönlichkeiten andererseits heraus, was es ihm erlaubt, funktionale Anforderungen an Verfahren und Strukturen zu identifizieren, die deren Bestehen vorhergehen, ohne dass sie auf Wesens- oder faktische Interessensdifferenzen zwischen den Menschen zurückgeführt werden müssten. So der Republikanismus der Nicht-Beherrschung an diese Vorgehensweise anschließen würde, hätte dies zur Folge, dass zur Begründung der Notwendigkeit einer Pluralität von Staaten etc. invariante Ermöglichungsbedingungen für das Zusammenkommen unterschiedlicher Interessen an der positiven Ausübung von Freiheit herausgearbeitet werden müssten. Abgesehen von den Schwierigkeiten von Millers Begriffen der Identität und der Persönlichkeit ist seine Argumentation allerdings von einer systematisch zentralen Annahme getragen, die – zumindest unter Bedingungen der Globalisierung – begründungsbedürftig ist, um überzeugend zu sein. Denn er unterstellt, dass es eine Korrelation zwischen der Persönlichkeit und einem einzigen Staat gibt, so dass die Pluralität auf einer Ebene von mehr oder minder voneinander abgegrenzten Staaten besteht.15 Die Begründung dieser Annahme erfordert zu belegen, dass in der Tat alle Interessen von Akteuren in irgendeiner Weise auf denselben Staat bezogen sind. Miller glaubt, dies dadurch zu leisten, dass er zeigt, dass alle Interessen ihren Ursprung in einem Staat

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Diese Annahme findet sich nicht nur bei Miller, sondern bei allen Ansätzen, die die globale politische Ordnung als ein System von Staaten betrachten.

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haben und daher dessen Bestehen die notwendige Bedingung dafür ist, diese Interessen zu verfolgen, zumindest derart, dass die Interessen nicht entstanden wären, hätte es den Staat nicht gegeben. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen lässt sich eine Begründung dieser Art aber nicht mehr durchführen, da sie die Dynamik von Interessen unterschätzt sowie den staatstranszendierenden Charakter wenigstens einiger Interessen letztlich aus der Betrachtung ausschließt. Trotz der unbestrittenen konstitutiven Leistungen von Staaten machen sie nicht allein das Ganze des Lebens ihrer Bürger und d.h. auch nicht der Genese- und Entwicklungsbedingungen von deren Interessen und Projekten aus. Folglich sind die Staaten auch nicht voneinander qua Aufteilung der Menge aller Individuen auf einer einzigen Ebene abgegrenzt. Aufgrund der Teilhabe derselben Individuen an unterschiedlichen Staaten bzw. Ordnungen überlappen und überlagern sich letztere vielmehr, so dass die Beschreibung der Grundformen beherrschender Effekte bzw. der Verfahren und Instanzen zu ihrer Behebung auf solche Verhältnisse zwischen Staaten anzuwenden ist. Diese Heterarchie16 von Bezugszusammenhängen wird deutlich sichtbar, wenn man die Handlungen, die derzeit den Kern sozialen Handelns ausmachen,17 mit Blick auf jeweilige Realisierungszu-

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Der Begriff der Heterarchie ähnelt dem der Polyarchie, der bereits in der Präsentation von Dahls pluralistischer Demokratietheorie genannt wurde und von Cohen/Sabel 1997 auf die Beschreibung internationaler Strukturen übertragen wurde. Der Begriff der Heterarchie ist demjenigen der Polyarchie allerdings vorzuziehen, da er nicht nur die Pluralität von Ordnungen zum Ausdruck bringt, sondern darüber hinaus deren Verteilung auf unterschiedliche Ebenen unterstreicht, die nicht mehr in eine klare Hierarchie integriert sind. In der Rechtstheorie operiert v.a. Ladeur mit dem Begriff der Heterarchie (Ladeur 1999), wobei diese aber im Gegensatz zur vorliegenden Darstellung dazu gebraucht wird, den Vorrang des Privatrechts vor dem öffentlichen Recht herauszustellen. Zu einer politiktheoretischen Darstellung der Besonderheiten einer Heterarchie vgl. Neyer 2003: 689-690. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass es weitere Handlungstypen gibt, die hier nicht erfasst werden. Hierzu gehören u.a. Intimbeziehungen, die als soziale Handlungen für die Konstitution von Persönlichkeiten und die Sinnstiftung in Lebensvollzügen äußerst bedeutsam sind. Sie können und sollten aber nur indirekt Gegenstand von Herrschaftsausübung werden. Vgl. dazu die Kritik des

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sammenhänge typologisiert. Dabei ist vorweg festzuhalten, dass eine Typologie, die Handlungen danach klassifiziert, auf welchen Zusammenhang sie verweisen, in dem sie legitimerweise realisiert werden könnten, nicht die z.T. kontingenten Umstände faktischer Interessen verabsolutiert. Sie trägt vielmehr der Einsicht Rechnung, dass Intentionen in den meisten Fällen, wie im Kapitel 4.1 nachgewiesen, auf Kooperationen oder Koordinationen mit anderen verweisen und qua republikanischer Wendung dieses Verweises die Existenz einer politischen Ordnung voraussetzen, die andere legitimerweise zur Kooperation oder Koordination verpflichten kann. Derart lassen sich nicht nur die republikanischen Anforderungen an Ordnungen entwickeln, sondern die Voraussetzung der Existenz derselben hat auch Konsequenzen für die Entwicklung von Intentionen und zwar nicht nur qua faktischer Einbettung oder Sozialisation der Handelnden in bestimmten Staaten, wie von Miller geschildert. Denn Intentionen und Ziele können diesem Modell zufolge nie derart „utopisch“ sein, dass Handelnde keine Vorstellung von dem Ort bzw. Zusammenhang haben, an oder in dem die Handlung realisierbar wäre, d.h. an oder in dem sie über die Mittel verfügen bzw. diese Mittel qua Herrschaft bereitgestellt werden könnten, die Handlung durchzuführen. Die Zurückweisung des Utopischen bedeutet dabei nicht, bestehenden Staaten überhistorische Notwendigkeit zuzusprechen. Die Ordnungen können durchaus Idealbilder oder Projektionen möglicher Zusammenhänge sein – und für einige Typen von Handlungen, die mit der Globalisierung verbunden sind, ist, indem sie bestehende Staaten in Frage stellen, gerade eine solche Projektion anderer Arten von Ordnung zu konstatieren, womit sie zweifelsohne z.T. selbst zur Konstitution der Ordnungen führen oder beitragen. Es ist folglich aufgrund der inneren Verbindung von Interessen und Realisierungszusammenhängen wenig sinnvoll, die Typen sozialer Handlungen, die den Anlass zur Herrschaftsausübung bieten, unabhängig von dieser Verbindung zu betrachten, selbst wenn dies bedeutet, dass der Kontingenz von Interessen zu einem hegelschen Ansatzes zur Institutionalisierung von Familienverhältnissen bei Honneth 2001: 102-127.

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bestimmten historischen Zeitpunkt ein gewisser Wert zugeschrieben wird. Die globale Untersuchung der Handlungen, Interessen und Projekte, für die die Möglichkeiten, die Bedingungen und die Zulässigkeit der positiven Ausübung von Freiheit relevant sind, führt zu fünf Handlungstypen.18 Die ersten beiden Typen reartikulieren dabei die klassischen Annahmen der Forschung zu moderner Staatlichkeit und internationalen Beziehungen und sind somit prinzipiell im Feld von Staaten und ihren Beziehungen zueinander zu verorten, während die weiteren drei Typen auf Handlungen und Funktionen von Institutionen und Ordnungen bezogen sind, die die Inner- und Zwischenstaatlichkeit übersteigen und daher Ordnungen z.T. ins Leben rufen, z.T. als Zielvorgabe präsentieren, die nicht mehr in der Form von Staatlichkeit verstanden werden können und sollten: Der erste Typ erfasst die Handlungen bzw. Interessen, die es rechtfertigen, dass zahlreiche Autoren unterdessen die These vom „Verschwinden des Staates“ zurückweisen. Denn hierbei handelt es sich um Handlungen, die auf eine Ordnung bezogen sind, die mindestens die zwei Voraussetzungen erfüllt, dass sie kontinuierlich besteht und in signifikanten Hinsichten für das Entstehen der Interessen und Projekte konstitutiv war – und sei es nur als Sprachzusammenhang. Zu diesem Typ gehören so unterschiedliche Interessen und Projekte, wie die Einflussnahme auf Waren, Güter und Dienstleistungen, die für den täglichen Lebensvollzug produziert und erworben werden können, die Einrichtung von sozialen Räumen, der Zugang zu kulturellen Produkten in einer Sprache oder in Ausdrucksformen, die man „verstehen“ kann,

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Hierbei sei erneut daran erinnert, dass im Kapitel 4.2 dargelegt wurde, dass Interessen an der negativen Absicherung von Freiheit nur sinnvoll zu verstehen sind, wenn sie als Interessen an der Bedingung der Möglichkeit von positiver Ausübung von Freiheit rekonstruiert werden. D.h. z.B. für die nachfolgende Typologie, dass das „Interesse“ an einer globalen Friedensordnung oder der Einschränkung der Spielräume ökonomischer oder anderer zivilgesellschaftlicher Akteure in diese Typologie vermittels des „positiven“ Interesses an der Gestaltung der sozialen Handlungsverhältnisse im Rahmen eines Staates oder desjenigen an kooperativen Projekten zwischen Ordnungen etc. eingeht.

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aber auch das Mitwirken an der Ausgestaltung der Einrichtungen und Praktiken, die die Befähigungen verschaffen, die benötigt werden, um überhaupt an politischen Verfahren und Strukturen teilhaben zu können. Insbesondere durch das zuletzt genannte Mitwirken zielen diese Interessen oder Handlungen oft auch darauf ab, die Einrichtungen und Praktiken, die primär zur Teilhabe befähigen, so weiterzuentwickeln, dass die verliehenen Fähigkeiten absoluten Wert bekommen. Dies gilt z.B. sicherlich für alle Interessen an der Gestaltung und Entwicklung von Bildungs-, Ausbildungs- oder Forschungseinrichtungen, sobald diese mehr als ein Minimum an Bildungsangebot und Wissenstransfer bereitstellen. Der Bezugszusammenhang der genannten Interessen lässt sich zu Recht als Staat beschreiben, da eine weitreichende oder umfassende Gestaltung, Steuerung und Kontrolle des sozialen Lebens angestrebt wird und dies nur möglich ist, wenn einerseits Einrichtungen und Strukturen geschaffen werden, die zu der Gestaltung etc. in der Lage sind, und andererseits die Ordnung eine Ausdehnung in Zeit und Raum hat, die die gleichmäßige Verteilung von Vor- und Nachteilen erlaubt. Die Größe eines Zusammenhangs, der als Staat in diesem Sinn funktionieren kann,19 hängt von vielen Faktoren ab, z.B. von den Vorstellungen, die die Akteure hinsichtlich der Gestaltung von Einrichtungen haben, von den Ressourcen, über die ein Staat verfügen kann, oder davon, ob es gelingt, in hinreichend vielen Bereichen, in denen die Regelung und Steuerung qua Herrschaft von einigen oder allen angestrebt wird, zu Mehrheitsentscheidungen (ohne strukturelle Minderheiten) zu kommen. Staaten kommt, so sie intern gemäß dem Prinzip der Nicht-Beherrschung verfasst sind und ihr Bestehen ohne beherrschende Externalisierungen von Kosten sichern können, relatives Eigengewicht zu, da es hinsichtlich ihres Vermögens, Individuen zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen zu befähigen und d.h. auch wesentliche Grundlagen für die Entwicklung, die Artikulation und das Einbringen von Interessen und Projekten zu legen, keine Alternative gibt. Dies liegt wesentlich daran,

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Hier werden zunächst nur die internen Konstitutionsbedingungen genannt. Im Abschnitt c. werden die Ordnungen auf ihre Regulationen untereinander auf der Basis des Prinzips der Nicht-Beherrschung untersucht.

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dass (bislang) nur in der dichten Sozial- und Interaktionsstruktur des Staates die Ressourcenallokation und nicht-beherrschende Organisation von Einrichtungen und Praktiken denkbar ist, die zu komplexen Befähigungen erforderlich sind.20 Eine Intervention in Staaten, die deren Funktionieren in dieser Befähigungshinsicht betrifft, muss daher immer eine Substitution für die staatlichen Einrichtungen und Praktiken vorsehen.21 Der zweite Typ umfasst Formen des kooperativen oder koordinierten Handelns zwischen Ordnungen, worunter zumeist Staaten verstanden werden, aber in jüngerer Zeit kommt es auch zu Kooperationen zwischen Staaten und nicht-staatlichen Zusammenhängen, z.B. in sogenannten „private-public partnerships“ oder sicherheitspolitischen Strukturen, die von Staaten, Sicherheitsbündnissen und der UNO gebildet werden (Bauer/Lachmayer 2007: 1072-1073). Solche kooperativen Handlungen oder Verhältnisse bestehen dann, wenn geteilte Infra- oder Sicherheitsstrukturen geschaffen werden, Projekte betrieben werden, die die Mittel überschreiten, über die ein Staat oder sonstiger Zusammenhang allein verfügt, aber auch wenn durch Abkommen Einrichtungen geschaffen werden, die Möglichkeiten zur Steuerflucht oder zum Entkommen vor Strafverfolgung nehmen. Die Ordnung, auf die

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Dieses Argument ist also nicht per se staatsaffirmativ, es artikuliert aber, dass zumindest einige existierende Staaten relevant sind, was aufgrund der zentralen Bedeutung der Befähigung zur Teilhabe für die Legitimität von Herrschaft nicht einfach unter Verweis auf die prinzipielle Möglichkeit negiert werden kann, befähigende Einrichtungen und Praktiken anderswo zu verorten. Vgl. zu diesem negativen, weil skeptischen Argument Nussbaum 2006: 311-315. Es ist ergänzend zu erläutern, dass der Staatsbegriff, der hier verwendet wird, den Staat nicht mit dem „europäischen Wohlfahrtsstaat“ identifiziert. Auch wenn es keinen Staat geben kann, der vollkommen auf Institutionen verzichtet, die soziale Handlungsverhältnisse gestalten, steuern und kontrollieren, so muss die Gestaltung doch nicht so aussehen, dass etwa Optionen durch Institutionen eng umschrieben werden. Wie zahlreiche Studien zur neoliberalen „Deregulation“ zeigen, hat diese Entwicklung nicht zum „Rückzug“ oder „Abbau“ des Staates geführt. Vielmehr lassen sich nahezu alle deregulatorischen Maßnahmen durchaus als staatliche Regulationen (nämlich als qua Herrschaft durchgesetzte Verbote von Regulationen) verstehen, und einige der Maßnahmen haben die Rolle des Staates für Handlungsverhältnisse sogar verstärkt (Mosley 2007: 110-116).

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diese Handlungen bezogen sind oder die zum ihrem Zweck hervorgebracht wird, ist eine solche von Ordnungen. Es werden also Verfahren und/oder Strukturen gefordert, die für einen bestimmten, oft singulären Bereich und z.T. sogar nur bestimmte Aspekte sozialer Handlungen geteilte Herrschaftsausübung ermöglichen und durchzusetzen vermögen. Da die entsprechenden Ordnungen so begriffen werden, dass sie in Abhängigkeit von kooperierenden Zusammenhängen stehen, beziehen sie ihr Durchsetzungsvermögen in aller Regel aus der Delegation von exekutiven Kompetenzen an sie (d.h. die rechtlichen Grundlagen ihres Wirkens entstehen geltungstheoretisch betrachtet aus distinkten Gesetzgebungen in den beteiligten Ordnungen), womit sie Bestandteil der Gewaltenteilung in den beteiligten Ordnungen werden. Da es sich um Koordinationen und Kooperationen von Zusammenhängen handelt, müssen die Teilnehmer an den Verfahren, die das Wirken der Institutionen der Ordnung legitimieren, die Zusammenhänge bzw. deren in Legislativen autorisierte Vertreter sein, und es ist für Entscheidungen ein Konsens zu finden. Die beteiligten Zusammenhänge können dabei weitgehend selbst festlegen, ob sie die Zustimmung auch intern dem Konsensprinzip oder zumindest einem qualifizierten Mehrheitsprinzip unterwerfen wollen, was insbesondere dann nahe liegt oder sogar erforderlich ist, wenn signifikante Gebiete der Herrschaftsausübung dauerhaft an den Ordnung von Ordnungen delegiert werden. Per se unzulässig ist die Delegation von exekutiver Kompetenz an eine Ordnung von Ordnungen, wenn diese eine Ordnung etabliert, die selbst keine nicht-beherrschenden Verfahren zur Revision und Modifikation vorsieht und derart der Kontrolle (z.B. durch die Legislativen und Judikativen beteiligter Ordnungen) entzogen ist.22 Die Ordnung, auf die die Handlungen des zweiten Typs bezogen sind, ist sicherlich keine Ordnung, wenn die Legislativen der beteiligten Zusammenhänge sie jederzeit wieder auflösen können. Dann ist es besser, von kooperativer oder koordinierter Gesetzgebung zwischen Zusammenhängen zu reden, die sich auf die Programmierung einer Einrich-

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Dies ist bei der Privatisierung oder transnationalen Etablierung von Instanzen zu beobachten, die für die Normierung von Dienstleistungen, Gütern und Waren oder aber den Betrieb öffentlicher Infrastruktur zuständig sind.

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tung richtet, die als Bestandteil des gewaltenteiligen Gefüges der beteiligten Ordnungen betrachtet werden kann. Aber eine Ordnung von Ordnungen wird dann beherrschend, wenn sie einen Status bekommt, der ihre Beendigung oder Modifikation nochmals von einem Konsens unter den Zusammenhängen abhängig macht. In diesem Fall wäre der Zusammenhang, der die Delegation der Herrschaft zurücknehmen will, von der Willkür der anderen Zusammenhänge abhängig. Den dritten Typ instantiieren Handlungen und Interessen, die globale oder zumindest kontinentale Ziele und Projekte verfolgen, d.h. hier kommen Handlungen in den Blick, die nicht sinnvoll und erfolgreich in einem Staat oder in der Kooperation bzw. Koordination von mehreren Staaten durchgeführt werden können. Im Unterschied zum zweiten Typ setzen Handlungen dieses Typs voraus, dass nicht die Zustimmung einzelner Staaten für die Durchführung des Projektes entscheidend sein darf, sondern dass es globale bzw. kontinentale Verfahren und Strukturen geben muss, an denen global jeder teilhat oder teilhaben kann. Denn nur so können globale/kontinentale Handlungsverhältnisse durch legitime Herrschaft etabliert und kontrolliert werden, die zu dem Zweck notwendig sind, das Ziel zu erreichen. In politisch-praktischen Kontexten mag es oft vorteilhaft sein, Handlungen des dritten Typs als solche des zweiten Typs zu verfolgen, geltungstheoretisch zielen die fraglichen Handlungen aber auf einen einzigen Raum, in dem es qua legitimer Herrschaft möglich ist, entsprechende Projekte oder Ziele unabhängig von kontingenten Bereitschaften oder Hindernissen zu verfolgen.23 Beispiele für Handlungen oder Interessen, die zu diesem Typ gehören, finden sich wiederum in unterschiedlichen Bereichen, wie etwa bei Bestrebungen,

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In einigen Teilen der Literatur zu globalen politischen Strukturen, die im Kapitel 6.3 diskutiert wurde, wird der komplementäre Fehler begangen, die Berechtigung der „klassischen“ inter-nationalen Perspektive grundsätzlich zu bestreiten und folglich alle Projekte, die über einen Staat hinausgreifen, per se so zu verstehen, dass sie auf einen global einheitlichen Raum verweisen. Diese Angleichung verbietet sich, da so die Möglichkeit einer globalen „Arbeitsteilung“ bzw. von Kooperation oder Koordination aus unterschiedlichen Gründen deskriptiv unangemessen und unnötig negiert wird.

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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natürliche Ressourcen zu schützen oder zu regenerieren, bei der Durchsetzung global geltender sozialer oder ökonomischer Standards sowie beim Verbot bestimmter Arten von Waffen. Eine wichtige Frage, die auf die Aufgabendifferenzierung zwischen „Netzwerkelementen“ und „Netzwerkstruktur“ vorausweist, die im Kapitel 7.2.1 entwickelt wird, ist diejenige, ob „aussichtsreiche“ globale Projekte grundsätzlich nur negativer Art sein können, so dass es falsch wäre, auch hier von positiver Ausübung von Freiheit zu reden. Es würde dann nahe liegen, die Ziele im Kontext globaler Bedingungen der negativen Absicherung von Freiheit bzw. der Befähigung zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen zu verorten. Die Entscheidung dieser Frage ist im Einzelfall äußerst relevant. Denn die Singularität der Ziele bzw. Gegenstandsbereiche, die durch die Herrschaft einer globalen oder kontinentalen Ordnung ermöglicht oder erreicht bzw. reguliert und kontrolliert werden sollen, macht die Begründbarkeit der Geltung eines niedrigschwelligen Mehrheitsprinzips und eventuell sogar eines Mehrheitsprinzips überhaupt unwahrscheinlich. Dies bedeutet aber, dass die Verteilung der „Beweislast“ ein wichtiger Punkt ist: Wenn Ziele Interessen an der positiven Ausübung von Freiheit sind, dann muss die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit oder gar aller Betroffenen erreicht werden, damit die Ziele nicht-beherrschend verfolgt werden können. Sind die Ziele dagegen generelle und globale Bedingungen der Möglichkeit für die legitime positive Ausübung bzw. negative Absicherung von Freiheit, dann kann ihrem Verfolgen, wenn überhaupt, nur mit qualifizierter Mehrheit oder im Konsens entgegengetreten werden. Ist also z.B. das Projekt, globale Institutionen zu schaffen, die die Artenvielfalt erhalten, dem Interesse geschuldet, Naturerfahrungen zu ermöglichen oder Forschung zu seltenen Tierarten betreiben zu können, dann lässt sich dieses Projekt nur dann nicht-beherrschend verfolgen, wenn sich Verfahren finden, in denen nicht-willkürlich über das Projekt und die Verteilung korrespondierender Lasten entschieden werden kann. Ergibt sich das Projekt dagegen aus der Einsicht in die Notwendigkeit intakter Ökosysteme für die Reproduktion von Ressourcen, die für einige oder die Menschheit als ganze unverzichtbar sind, dann ist das Etablie-

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ren globaler Einrichtungen, die das Projekt notfalls auch mit Interventionen in andere Ordnungen betreiben, nicht notwendig beherrschend, selbst wenn Kosten und Lasten ungleich verteilt werden. Hinter einigen der gerechtigkeitstheoretischen Weltstaatsansätze steckt der Versuch, die Beweislast für die Grundstruktur des gesamten Globus nach den jeweils favorisierten Gerechtigkeitsprinzipien dadurch zu reduzieren, dass die globale Ordnung staatsanalog begriffen wird und daher die Anwendung eines niedrigschwelligen Mehrheitsprinzips erlaubt oder zu Befähigungsansprüchen führt, die den Gerechtigkeitsforderungen gleichkommen. Durch die Unterscheidung zwischen zwei distinkten Arten globaler „Projekte“ wird dieser Versuch unnötig, sie hat aber zugleich zur Folge, dass Verfahren gefunden werden müssen, die bei einem Anliegen zu entscheiden erlauben, um welche Art es sich handelt und unter welchen Bedingungen es beherrschend ist bzw. nicht-beherrschend verfolgt werden kann. Als vierter Typ lassen sich Handlungen und Interessen identifizieren, die auf Kooperationen oder Koordinationen in einzelnen Hinsichten oder Gebieten zwischen Individuen abzielen, die sich mit signifikanten Teilen ihrer sonstigen Handlungen und Interessen in verschiedenen anderen Ordnungen, wie z.B. Staaten bewegen.24 Zur Realisierung kommt dieser Typ u.a. beim Erzeugen und Operieren von transnationalen Konzernen, bei der Gründung transnationaler Berufs- oder Interessenverbände bzw. Gewerkschaften, bei den Handlungen transnational agierender NGOs sowie bei einigen Gebrauchsweisen der sogenannten neuen Medien. Bei den Konzernen etc. werden Betroffene freiwillig Teilhaber (d.h. hier ist die englische „Fassung“ der Betroffenheit als shareholding vollkommen adäquat), weil sie sich von dieser Teilhabe bzw. der Existenz der Zusammenhänge verbesserte Möglichkeiten versprechen, ihre Freiheit positiv auszuüben – und sei es derart, dass sie durch das Riskieren ihrer Ressourcen am Profit des Kon-

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Ein abgeleiteter Fall, der hier vernachlässigt wird, sind Ordnungen, die sich aus der Kooperation von Individuen und Ordnungen dieses vierten Typs bzw. von solchen Ordnungen untereinander ergeben. Diese „zusammengesetzten Ordnungen“ sind je nach Struktur entweder nach dem Fall der Ordnungen des zweiten Typs oder analog zu solchen des vierten Typs zu behandeln.

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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zerns beteiligt sein wollen. Da die Beteiligung gewöhnlich bedeutet, dass in dem Bereich des sozialen Handelns, den der Zusammenhang abdeckt, die eigenen Optionen von der Gestalt und dem Wirken des Zusammenhangs abhängig werden, müssen auch diese intern nach dem Prinzip der Nicht-Beherrschung verfasst sein. Aber selbst wenn Personen viel „Zeit“ in diesen Zusammenhängen verbringen, werden sie nur selten den Anspruch erheben, dass sie den Zweck haben sollten, ihre soziale Lebenswelt umfassend zu gestalten, also zu Staaten im oben entwickelten Sinn zu werden. Es mag überraschen, dass hier der Vorschlag unterbreitet wird, transnationale Konzerne, NGOs, transnationale Berufsverbände etc. als „Zusammenhänge“ zu betrachten und sie damit mit Staaten zu parallelisieren, während bislang nur wenig dazu gesagt wurde, ob es z.B. eine Ordnung geben muss, die globale Wirtschaftspolitik betreibt,25 wie es häufig in Kritik an transnationalen Konzernen gefordert wird. Die Betrachtung der genannten Verbände als Zusammenhänge dürfte allerdings nicht überraschen, wenn die bisherige Logik der Argumentation ernst genommen wird. Denn bei ihnen geht es um Ordnungen, die von Akteuren geschaffen werden, um Handlungsverhältnisse zwischen ihnen so einzurichten und zu steuern, dass Kooperationen und Koordinationen zwischen ihnen möglich werden, ohne dass jemand von der Willkür der je anderen abhängig wird.26 Jemand, der Aktien eines

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Mit dieser Formulierung wird eine Schwierigkeit vieler der Forderungen nach „globaler Wirtschaftspolitik“ umgangen, die darin besteht, dass die geforderte Ordnung mit der angezielten Wirtschaftspolitik identifiziert wird (Stiglitz 2002: 222-241). Dies ist problematisch, weil es ohne weitere Begründung suggeriert, dass die Wirtschaftspolitik nicht in Verfahren beschlossen werden müsste, sondern so evident ist, dass sie quasi dekretiert und in institutionelle Form gegossen werden könnte (also Teil der globalen Verfassung sein müsste). Der Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen der positiven Ausübung und der negativen Absicherung der Freiheit legt es dagegen nahe, einzelne oder komplexe ordnungspolitische Maßnahmen von einer „globalen Wirtschaftsverfassung“ zu unterscheiden und so verschiedenen Verfahren und Institutionen distinkte Aufgaben zuzuweisen. Dies hat für die „ordnungspolitischen Maßnahmen“ zur Folge, dass sie in Verfahren ihre Mehrheits- oder gar Konsensfähigkeit beweisen können müssen. Vgl. dazu auch die rechtstheoretische Explikation der „Unternehmensverfassung“ bei Ladeur 1992: 186-190.

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transnationalen Konzerns erwirbt, erwartet, dass nicht andere Aktienbesitzer oder aber das Konzernmanagement willkürlich ohne Berücksichtigung seiner relevanten Interessen über das Operieren des Konzerns zu entscheiden vermögen. Ähnliches gilt für transnationale Gewerkschaften, die zu dem Zweck gegründet werden, dass über das Auftreten der Arbeiterschaft gegenüber den Arbeitgebern gemeinsam entschieden wird, so dass kein Teil der Arbeiterschaft von der Willkür anderer Teile abhängig wird. Geht man zudem von der Geltung des republikanischen Prinzips der Subsidiarität aus, so spricht prima facie nichts dagegen, dass Individuen sich zum Zweck der Kooperation und Koordination ihrer positiven Ausübung von Freiheit zusammenschließen. D.h. es spricht solange nichts dagegen, solange gewährleistet ist, dass die Ordnung weder nach innen, noch nach außen beherrschende Effekte zeitigt. Es muss folglich Verfahren und Strukturen geben, die die Ordnung auf das Prinzip der Nicht-Beherrschung in den zwei Dimensionen verpflichten können, sobald diese aber bestehen – und es wird zu bestimmen sein, unter welchen Voraussetzungen diese Bedingung erfüllt ist, was auf etwas wie eine globale Wirtschaftsordnung oder Wirtschaftsverfassung hinausläuft –, haben die Individuen das Recht, sich zu dem genannten Zweck zusammenzuschließen. Die Berücksichtigung dieser Konzerne etc. ist notwendig, da nur so angemessen auf deren Bedeutungsanstieg in den letzten Dekaden reagiert wird. Dieser Bedeutungsanstieg spiegelte sich im Kapitel 6 darin wider, dass es zahlreiche Ansätze gibt, die vor dem Hintergrund der Konzerne etc. die Konstitution der Bedingungen, die es erlauben, Freiheit positiv auszuüben, nicht mehr nach dem historischen Modell des Staates verstehen wollen. Der Anspruch, dass in Konzernen, Verbänden etc. Herrschaft nicht-beherrschend ausgeübt wird, darf allerdings nicht so missverstanden werden, dass es sich bei ihnen um staatsanaloge bzw. den Staat substituierende Ordnungen handelt (wie es z.B. bei Ladeurs Begriff einer „Society of Organizations“ klingt [Ladeur 1997: 190-193]). Dies verdeutlichen zwei grundsätzliche Differenzen zu den Zusammenhängen, auf die der erste Typ Bezug genommen hat: Erstens hängt der nicht-beherrschende Charakter der Konzerne etc. bis

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

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auf wenige Ausnahmen auch davon ab, dass externe Verfahren und Strukturen bestehen, die die negative Absicherung von Freiheit sowie die Befähigung zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen des Zusammenhangs verbürgen. Diese Zusammenhänge sind also, gerade was die Befähigung sowie die nicht-beherrschende Durchsetzbarkeit von Teilhabeansprüchen angeht, prinzipiell „unselbständig“, wogegen Staaten durch die Gewaltenteilung in beiden Hinsichten über interne Kontroll-, Durchsetzungs- und Befähigungsinstanzen verfügen.27 Zweitens kommen diese Zusammenhänge nur beim Vorliegen relativ spezifischer Interessen zustande, die schon im Vorhinein konvergieren oder es erwartbar machen, dass sie sich im Sinn einer win-win-Situation ergänzen. Bei den internen Verfahren ist daher auf dem Hintergrund der geteilten Interessen im Gegensatz zu den Ordnungen, auf die der zweite und dritte Typ Bezug genommen haben, auch weniger klar, dass ein Konsensprinzip zur Anwendung kommen muss. Dies hängt vom konkreten Zweck des Zusammenhangs ab, d.h. ein Konzern oder eine NGO, die auf partikulare Situationen schnell reagieren müssen oder wollen, werden die Berücksichtigung der relevanten Interessen ihrer Aktionäre bzw. Mitglieder eher im Sinn der Zielplanung und Rechenschaftspflicht prozeduralisieren, während ein transnationaler Berufsverband bzw. eine ebensolche Gewerkschaft für gemeinsames Wirken relativ hohe und qualifizierte Mehrheiten erfordern werden. Selbst wenn es aber zur legitimen Anwendung eines Mehrheitsprinzips kommt, ist dies nicht wie im Staat durch die Verteilung von Vor- und Nachteilen in Zeit und Raum zu erklären, sondern durch das spezifische Interesse hinter dem Zusammenhang, was dazu führen kann, dass eine differentielle Verteilung von Vorteilen in Kauf genommen wird. Mit dem fünften Typ werden schließlich Handlungen oder Interessen erfasst, die direkt oder indirekt darauf abzielen, globale befähigende Einrichtungen und Praktiken zu gestalten oder solche

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Ähnlich ließe sich auch für „innerstaatliche“ Verbände, Aktiengesellschaften etc. zeigen, dass sie dem Zweck dienen, Bereiche oder Aspekte des sozialen Handelns nicht-beherrschend zu organisieren, und dies in dem Maß zulässig ist, in dem der „staatliche Rahmen“ verbürgen kann, dass die Verbände weder nach innen, noch nach außen beherrschend agieren.

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Einrichtungen zum Zweck nutzen zu können, neue Ordnungen zu generieren. Beispiele für Handlungen oder Interessen, die dieser Typ abdeckt, sind die Einrichtung von transnationalen Fonds oder Stiftungen, das Training von Beamten oder sonstigen Personen eines Zusammenhangs durch Beamte oder Personen anderer Ordnungen sowie das Wirken von Mandatsverwaltungen. Wie schon beim dritten Typ ist auch bei diesem Typ die Linie zwischen dem Interesse an positiver Ausübung und der Aufgabe negativer Absicherung von Freiheit schwer zu ziehen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen gibt es viele, die sich nicht in Ordnungen befinden, die für sie nicht-beherrschend die Möglichkeit bieten, Freiheit positiv auszuüben. Diese Situation ergibt sich z.T. dadurch, dass v.a. Staaten, in denen sie sich befinden, nicht dem Prinzip der Nicht-Beherrschung gemäß eingerichtet sind. Daneben ist zu konstatieren, dass viele Personen sich weder in einem Staat bewegen, der auch nur im Ansatz den Erwartungen an die Kompetenz zur Herrschaftsausübung nahe kommen würde, die im Kontext des ersten Typs entwickelt wurden, noch in einer Ordnung, wie sie im vierten Typ angeführt wurde. Interessen dieser Personen an der positiven Ausübung von Freiheit beziehen sich daher oft nicht primär auf einen (eventuell in der Zukunft zu etablierenden) Staat, sondern vielmehr auf eine Ordnung, die es ihnen erlaubt, einen Staat überhaupt aufzubauen. Dieser Bezug lässt sich wiederum einerseits als Einforderung der nicht-beherrschenden Gewährleistung der Bedingungen verstehen, die Freiheit negativ absichern, andererseits dürften aber in den meisten Fällen schon (Ansätze zu) Vorstellungen bestehen, wie der angestrebte Staat idealerweise aussehen sollte. Es wird so nicht nur eine Befähigung zum Aufbau von Verfahren und Strukturen überhaupt gefordert, sondern eine solche, die es auch erlaubt, die spezifischen Vorstellungen derjenigen aufzugreifen, die Bürger des Staates sein werden. Ein interessantes Beispiel für die Ordnung, auf die in den Handlungen und Interessen des fünften Typs Bezug genommen wird, ist eine Einrichtung wie die Weltbank. Diese Bank hat die Aufgabe sicherzustellen, dass das Etablieren und Erhalten eines nicht-beherrschenden Staats nicht daran scheitert, dass dem Staat

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bzw. denjenigen, die ihn aufbauen wollen, Kredite willkürlich von anderen Staaten oder Kreditinstituten verweigert werden. Das Bestehen einer solchen Bank lässt sich grundsätzlich unter Rekurs auf die globalen Verpflichtungen rechtfertigen, die sich aus dem Prinzip der Nicht-Beherrschung hinsichtlich der Bedingungen für die negative Absicherung von Freiheit zwischen den Staaten ergeben. Gehen wir nun davon aus, dass ein Antrag, der dieser Bank vorgelegt wird, nicht nur das Ziel des Aufbaus eines Staates schlechthin angeben kann, sondern darüber hinaus spezifische Verfahren und Strukturen nennen muss, die damit etabliert werden sollen, dann beziehen sich die Antragsteller dabei auch auf den Beitrag dieser Bank zur Ermöglichung konkreter Formen der positiven Ausübung von Freiheit. So kann etwa Geld dafür beantragt werden, privatwirtschaftliche Initiativen in der Form von Kleinstkrediten zu ermöglichen, es kann aber auch um Geld für den Aufbau einer Universität gehen. Soll die Ordnung, auf die derart zwischen grundsätzlicher Befähigung und positiver Ermöglichung mit den Handlungen und Interessen des fünften Typs Bezug genommen wird, nicht-willkürlich über Anliegen entscheiden können, dann müssen von ihr drei Dinge erwartet werden: Sie muss erstens durch zweistufige oder zweidimensionale Verfahren gesteuert sein, in denen einerseits der Anspruch zum Zweck der Befähigung vorgebracht und gewährt oder zurückgewiesen werden kann und andererseits über die Zulässigkeit des Anspruchs hinsichtlich der spezifischen Auswirkungen entschieden werden kann, die dieser für die positive Ausübung von Freiheit in dem Staat hat, der unterstützt wird. Daraus ergibt sich zweitens, dass in der zweiten Stufe des Verfahrens eine Deliberation aller von dem unterstützten Staat Betroffenen wenigstens simuliert werden muss. Und schließlich muss drittens ausgeschlossen werden, dass die befähigende und ermöglichende Unterstützung selbst beherrschende Effekte bei Dritten nach sich zieht. Aus diesem Grund müssen auf der zweiten Stufe des Verfahrens auch diejenigen Staaten etc. und Personen beteiligt werden, die eventuell extern von der positiven Ausübung von Freiheit in dem unterstützten Staat betroffen sind. Die Ordnungen, auf die der fünfte Typ verweist, haben also aufgrund ihrer Zwei-

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dimensionalität sowohl Aufgaben hinsichtlich der Vermeidung von Beherrschung innerhalb und jenseits eines weiteren Staates etc., als sie auch in die Ermöglichung spezifischer Formen der positiven Ausübung von Freiheit involviert sind. Es ergibt sich also folgende Zuordnung von Handlungstypen, politischen Ordnungen, die die positive Ausübung von Freiheit ermöglichen sollen, und „Betroffenen“ innerhalb der Ordnungen: Handlungstyp

Ordnung/ Zusammenhang

Mitglieder/ „Betroffene“

Gestaltung der eigenen Lebenswelt

Staat

Individuen

Ergänzung/Verbesserung der Gestaltung der eigenen Lebenswelt durch Synergie mit anderen Staaten/Ordnungen

Zwischenstaatliche (staatliche) ZusammenOrganisationen hänge und Institutionen

Projekte mit kontinentaler/ globaler Reichweite

Globale/ Konti- Individuen nentale Organisationen und Institutionen

Optimierung/Intensivierung von Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit

Transnationale Konzerne, Verbände etc.

Nutzen von generellen Befähi- Globale Institutiogungsleistungen zum Aufbau nen von Strukturen, die spezifische Formen der positiven Ausübung von Freiheit erlauben oder befördern

Individuen

(Prospektive) Bürger von Ordnungen, deren Befähigungsleistungen unterstützt werden; Dritte, die von positiver Ausübung von Freiheit möglicherweise beherrschend betroffen sind

Diese Liste führt anschaulich vor Augen, dass es sich um Typen von Handlungen handelt, die, selbst wenn sie einander z.T. bedingen, nicht aufeinander reduziert werden sollten. Verzichtet man auf die Reduktion, dann wird deutlich, dass die Ordnungen, die den Typen korrespondieren, nicht symmetrisch zueinander sind, d.h. auch sie verweisen in einigen Hinsichten aufeinander, lassen sich aber nicht ohne „Bedeutungsverlust“ als Teile je anderer Ordnungen verstehen. Hinzu kommt, dass sie nur partiell Ebenen zuzuordnen sind, wie sie im Zentrum der Weltstaatsdiskussio-

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

445

nen stehen, und diese mangelnde Hierarchie sich nicht durch zusätzliche Annahmen hinzufügen oder erzeugen lässt. Es gibt zweifelsohne Ansätze zu einer Hierarchie, die sich v.a. durch die unterschiedlichen Beiträge der Ordnungen zur Befähigung zur Teilhabe an ihren Verfahren und Strukturen sowie aus ihrer unterschiedlichen „Selbständigkeit“ hinsichtlich erforderlicher materieller und institutioneller Ressourcen ergeben. Dem Staat kommt so deshalb ein Vorrang unter den Ordnungen zu, weil er es in besonderer Weise vermag, Individuen, aber auch andere Akteure in sozialen, kognitiven und kulturellen Hinsichten zu befähigen, Interessen und Projekte zu identifizieren, zu artikulieren und in Verfahren und Strukturen zur Geltung zu bringen.28 Darüber hinaus konnte, wie bereits im Kapitel 1.3 (allerdings auch mit Hinweis auf die damit verbundenen Dysfunktionalitäten) dargelegt wurde, der Staat durch die Trennung von Institutionen, die Ressourcenallokation betreiben, und solchen, die die Freiheit negativ sichern oder Herrschaft in der Form der Unterstützung oder Durchführung von Projekten ausüben, ein komplexes und differenziertes Gefüge von legislativen, exekutiven und judikativen Instanzen und Institutionen entwickeln, von dem viele andere Ordnungen, die sich herausgebildet haben oder als Ideen vorgebracht werden, weiterhin abhängig sind. Dieser Vorrang ist aber aus drei Gründen nur relativ: Es ist erstens nicht ausgeschlossen, dass auch andere Ordnungen wesentliche Einrichtungen und Praktiken entwickeln, die ihre Mitglieder allgemein oder zumindest in der speziellen Ordnung zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen befähigen. Dies kann z.B. auch dadurch geschehen, dass die Teilhabe an Verfahren und Strukturen transformiert und derart sogar einfacher wird, also weniger oder andere Fähigkeiten erfordert. Gleichermaßen kann es

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Als weiterer Grund für den Vorrang könnte die größere Menge von (Arten von) Handlungen und Interessen angeführt werden, die in Staaten ermöglicht und befördert werden können. Als rein quantitatives Argument ist dieser Grund aber nicht überzeugend, da er nichts darüber aussagt, welche Bedeutung die Handlungen und Interessen für die Individuen haben. Es müssten also weitere Gründe etwa in der Form der Identitätsannahmen Millers hinzugefügt werden, was aber Gefahr läuft, paternalistisch den faktischen Handlungen, an denen Akteure Interesse haben, ihre Wahrhaftigkeit abzusprechen.

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durchaus sein, dass andere Ordnungen sich intern differenzieren und dadurch in die Lage versetzen, neue Funktionen zu übernehmen, die dann in Konkurrenz zur Erfüllung derselben Funktionen durch Staaten treten können.29 Zweitens wird die Bedeutung befähigender Einrichtungen und Praktiken oberhalb einer gewissen Schwelle selbst relativ zu spezifischen Interessen, die Handelnde haben. Für einen Philosophen ist die Existenz eines differenzierten und gut ausgestatteten Universitätssystems, wie es wahrscheinlich nur innerhalb von Staaten zu entwickeln und aufrechtzuerhalten ist, von großem Vorteil; für einen Arbeiter in der Automobilindustrie ist eventuell eher die Reduktion des Bedarfs an Steuereinnahmen von Vorteil, etwa weil dies ihm erlaubt, freiwerdende Ressourcen für die Stärkung einer transnationalen Gewerkschaftsbewegung zu verwenden. Drittens schließlich darf die besondere Bedeutung des Staates nicht zur Rechtfertigung von deren beherrschenden Effekten angeführt werden (allerdings möglicherweise als Einwand gegen bestimmte grundsätzlich legitime Formen der Intervention in Staaten). All dies führt vor Augen, dass der Begriff der Heterarchie die Pluralität von Ordnungen, wie sie sich aus den Handlungstypen ergibt, am adäquatesten erfasst. Dieser Begriff bestreitet nicht, wie derjenige der Polyarchie, dass es Momente einer Hierarchie der Ordnungen gibt, weist aber auch auf die strukturelle Instabilität der Hierarchie hin, die zur Folge hat, dass die Beziehungen der Ordnungen zueinander selbst Thema sein (können) müssen. Dieser Punkt leitet zum letzten Teil der Bestimmungen der freiheitstheoretischen Grundlagen der transnationalen Demokratie über, nämlich zur Frage, in welchen Arten die drei Grundformen beherrschender Effekte von Ordnungen auf ihr Außen in der Heterarchie asymmetrischer Ordnungen vorkommen und wie der Umgang mit ihnen aussehen muss.

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Ein interessanter Fall dieser Art ist die Firma Microsoft und die Stiftung, die auf der Basis des Kapitals ihres Gründers Bill Gates gegründet wurde und in Teilen der medizinischen Forschung bzw. der primären Bildungseinrichtungen eine wichtigere Finanzquelle ist als alle staatlichen Finanzquellen. Vgl. zu den grundsätzlichen „Autonomisierungsmöglichkeiten“ von Bildung, Gesundheitswesen, Medien etc. Teubner 2004b: 84.

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7.1.3 Beherrschende Effekte in der Heterarchie asymmetrischer Zusammenhänge Im ersten Teil dieses Abschnitts wurden drei Grundformen beherrschender Effekte zwischen Ordnungen bzw. zwischen Ordnungen und Akteuren außerhalb von ihnen danach unterschieden, welche Instanzen und Mechanismen zur Behebung der Effekte von Nöten sind. Dabei wurde mit einem abstrakt unspezifischen Verständnis von Ordnungen gearbeitet. Der vergangene Abschnitt hat in der Beantwortung der Frage, warum überhaupt eine Pluralität von Zusammenhängen notwendig ist, zur Vorstellung einer Heterarchie asymmetrischer Ordnungen geführt, in der die Ordnungen verschiedene Arten positiver Ausübung von Freiheit zu realisieren erlauben sowie in unterschiedlichem Maß zur negativen Absicherung von Freiheit und zur Befähigung zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen beitragen. Trotz der Konzentration auf die positive Ausübung von Freiheit wurden in der Entwicklung dieser Vorstellung sowohl aufgrund der Heterarchie, wie auch der Asymmetrie schon in der Differenzierung der Ordnungen Beherrschungspotentiale identifiziert. Diese Potentiale sind unter Aufgriff der Unterscheidung zwischen den Grundformen zu systematisieren, um so ein genaueres Verständnis der Aufgaben zu gewinnen, die den transnationalen und globalen Einrichtungen zukommen, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Darüber hinaus steht die Antwort auf die Frage aus, warum oder unter welchen Bedingungen die Heterarchie asymmetrischer Ordnungen nicht signifikante Differenzen zwischen Fähigkeiten und Ressourcen zur positiven Ausübung von Freiheit eher „legitimiert“ als sie von den kontingenten bzw. historisch gewachsenen und z.T. auf Beherrschung zurückgehenden Gegebenheiten abzulösen. Ausgangspunkt für die Bestimmung der Formen beherrschender Effekte war das Prinzip der Nicht-Beherrschung und, in interpretierender Ergänzung, das republikanische Subsidiaritätsprinzip. Auf der Basis dieser Prinzipien ist davon auszugehen, dass die Einführung der Zusammenhänge im letzten Abschnitt über Handlungstypen, bei denen nicht zu unterstellen ist, dass ihre Realisierung notwendig beherrschende Effekte nach sich zieht, ein

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hinreichender Grund ist, um keine der Ordnungen vorweg als unvereinbar mit nicht-beherrschenden Verhältnissen auszuschließen. Alle Arten von Ordnungen können vielmehr zumindest in bestimmten Hinsichten beanspruchen, bei bestehender negativer Absicherung der Freiheit und Befähigung zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen dem Zweck zu dienen, Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit für ihre Mitglieder zu schaffen, zu erhalten oder zu verbessern. Damit ist ihr Bestehen angesichts des primären Ziels legitimer Herrschaft, nicht-beherrschende positive Ausübung von Freiheit zu ermöglichen, prinzipiell wünschenswert. Dies betrifft allerdings nur die abstrakt bestimmten Arten von Ordnungen und sagt noch nichts über Einzelordnungen aus, die aufgrund von beherrschenden Strukturen und Effekten illegitim und folglich auch nicht wünschenswert sein können. Die Heterarchie asymmetrischer Ordnungen ist nicht so vorzustellen, dass sie eine Heterarchie asymmetrischer Arten von Ordnungen ist, was bedeuten würde, dass die Ordnungen innerhalb einer Art mehr oder minder symmetrisch zueinander wären oder gar in nicht-beherrschenden Relationen zueinander stünden. Die Ordnungen per se sind vielmehr asymmetrisch zueinander, so dass hinsichtlich ihrer beherrschenden Effekte nicht zwischen solchen innerhalb einer Art und anderen zwischen den Arten differenziert werden sollte. Staaten haben Beherrschungspotential in allen drei Formen, d.h. sie können Individuen, die sich auf ihrem Territorium bewegen, ohne ihnen Teilhaberechte zu gewähren, zur Kooperation in Handlungsverhältnissen verpflichten, sie können Interessen und Projekte verfolgen, die einschränkende Auswirkungen auf die Spielräume anderer Zusammenhänge haben, und sie können die Herrschaft so ausüben, dass sie andere Zusammenhänge bzw. deren Mitglieder zu gemeinsamen Handlungsverhältnissen verpflichtet. Das Beherrschungspotential der Staaten ergibt sich v.a. aus ihrem Anspruch auf prinzipiell allumfassende Herrschaft auf ihrem Territorium bzw. hinsichtlich ihrer Bürger und deren Interaktionen mit anderen Zusammenhängen oder sonstigen Akteuren. Viele beherrschende Effekte von Staaten sind zu Recht in der Kritik an der Annahme der Souveränität von Staaten herausgearbeitet

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worden (Derrida 1996: 136-137), auch wenn diese Kritik oft zu schnell Staatlichkeit mit Souveränität identifiziert und so übersieht, dass sich Staaten auch ohne Rekurs auf Souveränität bestimmen lassen (wie es im vorliegenden Buch und auch in anderen Teilen der Literatur z.B. zu föderaler Weltstaatlichkeit geschieht [Held 1995: 234; Lutz-Bachmann 1995: 75-76]). Da der unexplizierte Hintergrund für die Entwicklung der Grundformen im ersten Abschnitt das System von Staaten war, erübrigt sich zunächst die weitere Explikation beherrschender Effekte von Staaten an dieser Stelle. Es wird auf die Rolle von Staaten jedoch mit Blick auf eine globale Wirtschaftsverfassung zurückzukommen sein. Zwischenstaatliche Organisationen und Institutionen haben, zumal wenn sie die zuvor dargelegten Bedingungen der Kontrollier-, Modifizier- und Revidierbarkeit erfüllen, ein sehr begrenztes Beherrschungspotential gegenüber den Staaten etc., die sie gründen, weshalb die erste Form von beherrschenden Effekten nur selten zu erwarten ist.30 Denn die fraglichen Staaten oder Ordnungen verbinden gewöhnlich präzise Ziele mit den Organisationen oder Institutionen und zu diesen Zielen gehört normalerweise nicht der Verlust an Regulations- und Kontrollkompetenz. Daher ist oft zu konstatieren, dass die gründenden Staaten selbst und nicht die zwischenstaatlichen Organisationen ihre Inklusionspflicht gegenüber Dritten verletzen, wenn die zwischenstaatlichen Einrichtungen dritte Individuen oder Zusammenhänge auf dem Gebiet ihres Wirkens betreffen. Beherrschende Effekte der zweiten und dritten Form gegenüber anderen Zusammenhängen sind aber zu befürchten, v.a. wenn die Staaten, die die Organisation verkörpern, damit gerade das Ziel verbinden, ihre Regulationskompetenz zu verstärken, oder die vermeintliche Binnenintegration die willkürliche Externalisierung von Kosten verdeckt. Insgesamt unterscheiden sich dabei die Effekte aber nicht wesentlich von denen, die Staaten hervorbringen.

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Beherrschende Effekte von zwischenstaatlichen Organisationen gehen fast immer auf Interessen von einigen in den beteiligten Staaten zurück, den dortigen Verfahren und Strukturen Entscheidungskompetenzen zu entziehen. Vgl. dazu z.B. die Darstellung der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bei Brunn 2002: 70-84.

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Von globalen Organisationen oder Institutionen, die dazu dienen, die positive Ausübung von Freiheit zu ermöglichen,31 sind, wenn sie der Bedingung genügen, dass sie nur auf der Basis des Konsenses global aller bzw. einer ihm nahe kommenden qualifizierten Mehrheit etabliert werden können und im fraglichen Bereich Herrschaft ausüben dürfen, keine wesentlichen beherrschenden Effekte jenseits dieser Ordnungen zu erwarten. D.h. trotz möglicher Einschränkungen in anderen Zusammenhängen werden diese nicht-beherrschend sein, wenn die Organisationen die hohen Erwartungen an den nicht-beherrschenden Charakter ihrer Verfahren und Strukturen erfüllen. Um das Beispiel aus dem vorherigen Abschnitt aufzunehmen: Würde sich in einem globalen Verfahren, etwa in der Form von staatlichen und regionalen Konferenzen, deren Ergebnisse auf Weltkonferenzen zusammengetragen werden, ein geteiltes Artenschutzprojekt ergeben, ist nicht zu sehen, warum Einschränkungen, die die Organisation, die ausschließlich die Vorgaben realisiert, anderen Ordnungen setzen würde, beherrschend sein sollten. Auch wenn dies wie eine zu positive Einschätzung globaler Organisationen oder Institutionen klingt, ist festzuhalten, dass die Einschätzung sich aus der Bestimmung von Bedingungen für die nicht-beherrschende Einrichtung der Organisationen ergibt, die deren Bestehen selten machen. Transnationalen Konzerne sowie international operierende NGOs stehen im Zentrum zahlreicher Globalisierungs- und globalisierungskritischer Diskussionen. Diese Arten von Zusammenhängen werden von vielen dafür verantwortlich gemacht, dass Staaten ihre legitimen Regulations- und Kontrollabsichten nicht mehr zu realisieren vermögen, es global zu einem sozialen „Race to the bottom“ kommt und insgesamt der Primat demokratischer Verfahren unterminiert wird. Vor dem Hintergrund der drei Grundformen rekonstruiert werden drei Formen von Beherrschung diagnostiziert: Erstens ergeben sich beherrschende Effekte, weil Konzerne oder NGOs andere Akteure in gemeinsamen Handlungsverhältnissen zu Kooperationen und Koordinationen unter ihren Bedin-

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Zur Untersuchung des Beherrschungspotentials globaler Instanzen und Institutionen, die die Einhaltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung überwachen, vgl. Kap. 7.2.2.

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gungen zwingen, ohne ihnen Möglichkeiten zu geben, an der Entscheidung über die Bedingungen und deren Durchsetzung teilzuhaben. Diese Effekte zeigen sich exemplarisch, wenn Banken oder Börsen den Zugriff auf Ressourcen so gestalten und steuern, dass andere Zusammenhänge ihre Handlungen daran ausrichten müssen, ohne selbst an den Entscheidungen über die Gestaltung und Steuerung mitwirken zu können. Zweitens ergeben sich „unintendierte“ beherrschende Effekte dadurch, dass Ressourcen auf Kosten von Dritten verschoben bzw. Dritten Folgelasten aufgeladen werden. Solche Effekte sind dadurch zu erklären, dass der begrenzte Fokus von Konzernen oder NGOs zahlreiche „Nebenwirkungen“ bzw. Voraussetzungen systematisch ausblendet, deren Gewährleistung und Reproduktion von anderen erwartet wird. Beispiele bieten neben Umweltverschmutzungen, deren „Behebung“ von der „Natur“ erwartet wird, die Verweigerung, Kosten für die „Reproduktion“ von Arbeitskraft oder sonstigen Ressourcen zu tragen, auf die z.B. von Konzernen zurückgegriffen wird. Drittens sind schließlich beherrschende Effekte derart zu beobachten, dass neue gemeinsame Verhältnisse qua Herrschaftsausübung geschaffen werden. Ein Beispiel dafür sind die Transformationen bzw. der Zusammenbruch funktionierender Märkte, wenn NGOs nach Katastrophen lokal Hilfsmittel zu höheren als den bis dahin üblichen Preisen abnehmen oder höhere Löhne zahlen. In diesen Fällen schaffen NGOs gemeinsame Verhältnisse, die die Bewältigung einer Katastrophe erlauben sollen, auf die dabei gewählten Prinzipien und Maßnahmen haben viele der betroffenen Individuen oder Zusammenhänge aber keinen Einfluss. Führt man sich die genannten beherrschenden Effekte von ökonomischen oder zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen vor Augen, dann wird ersichtlich, dass sie im Unterschied zu den beherrschenden Effekten von Staaten oder zwischenstaatlichen Organisationen gerade dadurch verursacht werden, dass globale Verfahren und Strukturen fehlen, die nicht-beherrschende Verhältnisse innerhalb und zwischen den Zusammenhängen garantieren. Denn im Gegensatz zu den Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen verfügen transnationale Konzerne oder NGOs gewöhnlich nicht über hinreichende Ressourcen, um etwa Staaten

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7. Transnationale Demokratie

auch dann zu Kooperationen oder Koordinationen zu zwingen, wenn diese sich dagegen entscheiden. Die Zwangsmöglichkeiten ergeben sich vielmehr daraus, dass die Konzerne oder NGOs über Ressourcen verfügen bzw. Strukturen anbieten, derer die Staaten etc. bedürfen, um ihr Funktionieren sicherzustellen. So können Banken nur deshalb Einfluss auf die Gestaltung von Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit nehmen, weil Staaten eigene Ressourcen fehlen, um die Möglichkeiten selbst zu finanzieren. Ähnlich können NGOs daher verheerende Effekte auf lokale Ökonomien haben, weil Staaten, die für die Katastrophenbewältigung zuständig wären, dazu nicht in der Lage sind und sich daher gemeinsamen Verhältnissen aussetzen müssen, wenn sie nicht durch die Beherrschung der Individuen, deren Möglichkeit zur positiven Ausübung von Freiheit fundamental bedroht ist, das Wirken der NGOs unterbinden wollen. Es ist folglich davon auszugehen, dass wenn die Abhängigkeit der Staaten von anderen Zusammenhängen hinsichtlich der Bedingungen für die negative Absicherung der Freiheit bzw. die Befähigung zur Teilhabe reduziert oder abgeschafft wird, auch viele der beherrschenden Effekte verschwinden werden. Bei den globalen befähigenden Einrichtungen, die auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit in den Ordnungen haben, ist wiederum v.a. die Gestaltung der internen Verfahren entscheidend dafür, ob es zu beherrschenden Effekten kommen kann oder nicht. Denn das primäre „Opfer“ beherrschender Effekte der ersten oder dritten Form sind die (prospektiven) Bürger des Staates zu dessen Etablierung Ressourcen beigesteuert werden. Ein Vorschlag zur Behebung dieser Effekte wurde bereits unter Verweis auf die Simulation des zu schaffenden Staates in der global befähigenden Ordnung unterbreitet. Daneben kann es auch beherrschende Effekte der zweiten Form bei anderen Zusammenhängen und Akteuren geben, wenn die Effekte der Ermöglichung bestimmter Weisen, Freiheit positiv auszuüben, auf diese Zusammenhänge etc. nicht hinreichend bedacht werden. Diese Effekte sind dann besonders gravierend, wenn durch sie das Vermögen von Staaten gemindert wird, Freiheit negativ zu sichern oder ihre Mitglieder zu befähigen. Beispiele für solche Effekte finden sich in

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

453

Fällen, in denen neue Staaten Ressourcen erhalten, die ihnen die Produktion von Waren erlauben, die bislang v.a. von einem anderen Staat produziert und vertrieben wurden. Dieser Überblick über die Beherrschungspotentiale der verschiedenen Arten von Zusammenhängen, die in der Heterarchie asymmetrischer Ordnungen in Verbindung miteinander stehen, zeigt, dass die beherrschenden Effekte vergleichbar sind, aber in unterschiedlicher Stärke und verschiedenen Varianten auftreten. Es ergibt sich folgende Liste beherrschender Effekte, deren nichtbeherrschende Behebung Aufgabe transnationaler oder globaler Verfahren und Einrichtungen sein muss: Art der Ordnung Beherrschende Effekte

Aufhebung der Effekte

Staat

Einbezug von Individuen und Ordnungen in Kooperationen oder Koordinationen, ohne Teilhaberechte zuzugestehen

Ausdehnung von Teilhaberechten und Befähigungsansprüchen auf betroffene Individuen

Einbezug von Ordnungen in Kooperationen oder Koordinationen auf dem Territorium eines Staates

Dreistufiges Verfahren zur Untersuchung der Gegebenheit gemeinsamer Handlungsverhältnisse und eventuell Schaffung einer gemeinsamen Ordnung

Externalisierung von Kosten Revision der Entscheidunder positiven Ausübung gen bzw. Strukturen, die zur oder negativen Absicherung Externalisierung führen von Freiheit Ausweitung des Bereichs oder Gebiets, das qua Herrschaftsausübung gestaltet und kontrolliert wird

Dreistufiges Verfahren zur Untersuchung der Gegebenheit gemeinsamer Handlungsverhältnisse und eventuell Schaffung einer gemeinsamen Ordnung

Zwischenstaatli- Externalisierung von Kosten che Organisatio- der positiven Ausübung von nen und Institu- Freiheit tionen Ausweitung des Bereichs oder Gebiets, das qua Herrschaftsausübung gestaltet

Revision der Entscheidungen bzw. Strukturen, die zur Externalisierung führen Dreistufiges Verfahren zur Untersuchung der Gegebenheit gemeinsamer Hand-

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7. Transnationale Demokratie und kontrolliert wird

lungsverhältnisse und eventuell Schaffung einer gemeinsamen Ordnung

Transnationale Gestaltung und Steuerung Konzerne/ Inter- von Handlungsverhältnissen nationale NGOs ohne Teilhabemöglichkeiten von Individuen und Ordnungen, die sich ebenfalls und z.T. notwendigerweise in den Handlungsverhältnissen bewegen

Schaffen gemeinsamer Zusammenhänge, in denen über Gestaltung und Steuerung unter Teilhabe aller entschieden werden kann

Produktion von „Nebenwirkungen“ in anderen Zusammenhängen oder fehlende Reproduktion von Ressourcen und Vermögen, die aus anderen Ordnungen abgezogen werden

Revision der Entscheidungen bzw. Strukturen, die zu Nebenwirkungen bzw. fehlender Reproduktion führen

Etablieren gemeinsamer Handlungsverhältnisse qua Herrschaftsausübung ohne betroffenen Individuen oder Ordnungen Teilhaberechte an der Herrschaftsausübung einzuräumen

Dreistufiges Verfahren zur Untersuchung der Gegebenheit bzw. Notwendigkeit gemeinsamer Handlungsverhältnisse und eventuell Schaffung einer gemeinsamen Ordnung

Etablieren von gemeinsamen Handlungsverhältnissen qua neuem Zusammenhang ohne Teilhaberechte von Betroffenen

Simulation der zu schaffenden Ordnung in Verfahren und Strukturen der befähigenden Einrichtung

Globale befähigende Einrichtungen mit Auswirkungen auf positive Ausübung von Freiheit in Bezugszusammenhang

Einschränkungen der Mög- Revision der Entscheidunlichkeiten zur positiven Aus- gen bzw. Strukturen, die zu übung/negativen Absiche- Einschränkungen führen rung von Freiheit in anderen Ordnungen

7.1.4 Transnationale Demokratie und soziale Gerechtigkeit Die bisherigen Ausführungen zur Heterarchie asymmetrischer Ordnungen haben erwiesen, dass das Bestehen einer Pluralität von Zusammenhängen grundsätzlich mit dem Prinzip der Nicht-Be-

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

455

herrschung vereinbar ist und die unterschiedlichen Arten von Ordnungen, die sich als Bezugspunkte signifikanter Typen sozialer Handlungen mit Interessen an der positiven Ausübung von Freiheit ergeben, insbesondere eine Differenzierung von Ebenen und Formen dieser Ausübung erlauben und dementsprechend wünschenswert sind. Mit diesen Ausführungen wurde gezeigt, dass das Modell einer transnationalen Demokratie die Bedingungen für die positive Ausübung von Freiheit von kontingenten Fähigkeits- und Ressourcenverteilungen ablösen kann, ohne auf eine Vorstellung von Weltstaatlichkeit zurückgreifen zu müssen, in der die (Gestaltung der) Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit auf die Verfahren und Strukturen bzw. Ebenen restringiert werden (wird), die in der weltstaatlichen Hierarchie vorgesehen sind. Zuletzt bleibt noch zu demonstrieren, dass die Pluralisierung von Ordnungen, in denen Freiheit positiv ausgeübt werden kann, nicht zur Konsequenz hat, dass sie von einigen dazu instrumentalisiert wird, ihre Ressourcen und Optionen gemeinsamen Verfahren und Strukturen zu entziehen. Es ist also auszuschließen, dass einige die globalen Verfahren und Einrichtungen dazu nutzen (können), Ordnungen zu gründen, die primär dem Ziel dienen, den „Zugriff“ anderer auf ihre privilegierte Ausstattung mit Ressourcen und Fähigkeiten zu verhindern, ohne dass dies in Akten und Maßnahmen geschehen darf, die die Individuen beherrschen (denn eine privilegierte Ausstattung ist nicht per se normativ problematisch). Kann die Theorie transnationaler Demokratie also zurecht für sich beanspruchen, eine Alternative zu Theorien globaler Gerechtigkeit zu sein, oder ist sie dies nur unter Verzicht auf die Betrachtung von Differenzen zwischen Ausstattungen mit Ressourcen und Fähigkeiten? Auf diese Frage bietet das Modell der transnationalen Demokratie Antworten in drei Dimensionen: Erstens kann der Zugriff auf Ressourcen und Fähigkeiten nie vollständig verweigert werden. Denn die Existenz gemeinsamer Handlungsverhältnisse, die qua Herrschaft eingerichtet, gesteuert und kontrolliert werden, und sei es nur zum Zweck der negativen Absicherung von Freiheit bzw. der Verhinderung von beherrschenden Effekten zwischen Zusammenhängen, wie es für die globalen Einrichtungen im Ka-

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7. Transnationale Demokratie

pitel 7.2 entwickelt werden wird, erfordert einerseits die Befähigung aller, die von der Herrschaftsausübung betroffen sind, zur Teilhabe an den Verfahren und Strukturen, vermittels derer sie betrieben wird, und andererseits die nicht-willkürliche Gewährleistung, dass die Einzelordnungen in der Lage sind, die Freiheit negativ zu sichern und ihre Mitglieder zur Teilhabe zu befähigen. Wie die Ausführungen zu den innerstaatlichen Verhältnissen im ersten Teil dieses Buches gezeigt haben, fallen unter die Befähigungsansprüche, die denen zukommen, die legitimer Herrschaft ausgesetzt sind, zahlreiche Leistungen und Ressourcen, die häufig als Teil der gerechten Grundstruktur beschrieben werden. Viele dieser Leistungen und Ressourcen werden sicherlich heute noch nicht bereitgestellt, so dass die Anforderung an nicht-beherrschende Verfahren und Strukturen, auch wenn Befähigungen nicht mit Ressourcen gleichzusetzen sind, signifikante Umverteilungen (und d.h. zumindest bei einigen Gütern den Zugriff auf Ressourcen privilegierter Individuen oder Zusammenhänge) notwendig macht. Darüber hinaus hat die Erläuterung des Grundes für die beherrschenden Effekte von Konzernen, NGOs etc. darauf hingewiesen, dass die beherrschende Effekte in vielen Fällen zu vermeiden sind, wenn Ordnungen nicht-willkürlich darin unterstützt werden, Freiheit negativ abzusichern und ihre Mitglieder zur Teilhabe zu befähigen. Auch diese nicht-willkürliche Unterstützung setzt zweifelsohne eine gewisse Umverteilung bzw. Umverteilbarkeit von Ressourcen voraus, allerdings weniger zwischen Individuen als zwischen Zusammenhängen. Zweitens darf die transnationale Demokratie hinsichtlich der Vermeidung und Behebung von beherrschenden Effekten nicht in dem Sinn „präsentistisch“ verstanden werden, dass sie hier und jetzt zu beheben sind, aber Auswirkungen vergangener beherrschender Effekte unbeachtet bleiben. Genauso wie die Untersuchung aktuell beherrschender Effekte Konsequenzen für die Einrichtung oder Gestaltung von Verfahren und Strukturen hat, die sie in Zukunft verhindern oder unterbinden sollen, so muss die Einsicht in den beherrschenden Charakter von Entscheidungen und Handlungen auch rückwirkend angewandt werden können und, falls nötig, zu Kompensationen bzw. Modifikationen von ge-

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

457

genwärtigen Verfahren und Strukturen führen. Ein aktueller „Rückzug“ in einen Zusammenhang, der einigen zum Bewahren von Ressourcen dient, die in beherrschenden Akten oder ermöglicht durch sie erworben wurden, kann folglich nicht durch ein „Interesse an der positiven Ausübung von Freiheit“ gerechtfertigt werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass ein retroaktiver Anspruch auf die Beteiligung an der Gestaltung und Steuerung gemeinsamer Verhältnisse besteht, was den Zugriff auf Ressourcen einschließt, die in diesen Verhältnissen erworben wurden. Die retroaktive Anwendung der Einsichten bezüglich des beherrschenden Charakters von Handlungen, Verfahren und Strukturen ist aber nicht so einfach, wie es zunächst klingt. Denn gerade bei weit zurückliegenden beherrschenden Akten ist, wie etwa Thomas McCarthys Überlegungen zu Reparationen für ökonomische und soziale Spätfolgen der Sklaverei in den USA zeigen (McCarthy 2004), die Differenzierung zwischen den Aspekten aktueller Gegebenheiten, die sich aus beherrschenden Akten ergeben haben, und denjenigen, die auf andere Ursachen zurückgehen, äußerst kompliziert. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei Untersuchungen, die die globalen Ressourcen- und Strukturdifferenzen auf koloniales, imperialistisches oder hegemoniales Handeln zurückführen wollen, um daraus die Illegitimität gegenwärtiger sozio-ökonomischer Strukturen abzuleiten. Es müssen also globale Einrichtungen bestehen, in denen der Beweis geführt werden kann, dass Ressourcenverteilungen etc. Resultat beherrschender Akte und Effekte sind und daher im Sinn der Nicht-Beherrschung revidiert oder kompensiert werden müssen. Aber die Hoffnung, dass so eine flächendeckende „gerechte“ Redistribution von Ressourcen und Optionen zu erreichen ist, dürfte sich nicht erfüllen, wenn nicht neue beherrschende Akte und Effekte in Kauf genommen werden sollen. In den Kapiteln 2 und 5 wurden moralphilosophische Begründungen gerechter Verteilung von Gütern, Ämtern etc. als hinreichender Grund für die Legitimität von Herrschaft zurückgewiesen, da sie keine überzeugende Antwort für Fälle bieten, in denen die gerechte Verteilung in politischen Verfahren nicht „ratifiziert“ wird. Vor dem Hintergrund dieser Kritik können nicht bestimmte

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7. Transnationale Demokratie

Gerechtigkeitsprinzipien in einer globalen Verfassung der transnationalen Demokratie festgeschrieben werden, da dies demselben Einwand begegnen würde. Es kann aber, und dies ist die dritte Antwort auf die gestellte Frage, festgehalten werden, dass globale Verhältnisse nur dann legitimerweise als Heterarchie asymmetrischer Ordnungen mit ihren unterschiedlichen Formen positiver Ausübung von Freiheit organisiert sind, wenn dies nicht eine strukturelle Verteilung der Möglichkeiten zu dieser Ausübung bedeutet, bei der einige ausschließlich Vorteile durch die Verteilung haben, während andere sich mit dem Minimum an Möglichkeiten begnügen müssen, die sich aus den Befähigungsansprüchen und der negativen Sicherung von Freiheit ergeben. Dies resultiert aus der Analogie zu den Bedingungen für die Zulässigkeit einer differentiellen Verteilung von Vor- und Nachteilen in Einzelstaaten, für die ebenfalls konstatiert wurde, dass positive Ausübungen der Freiheit, die nur einigen zu Gute kommen, nur in dem Maß zulässig sind, wie diese Verteilung von Vor- und Nachteilen keine strukturelle Gegebenheit ist. Ist sie dies, dann ist aufgrund der universalistischen Argumentation davon auszugehen, dass sie für Handelnde unvereinbar mit ihrem Grund- oder Metainteresse ist, Freiheit positiv ausüben zu können. Denn ansonsten müssten Handelnde hinnehmen können, dass ihr Interesse an positiver Ausübung grundsätzlich nicht realisierbar ist. Im Unterschied zu innerstaatlichen Verhältnissen lässt sich diese Anforderung an das globale Gesamtgefüge aber nicht einfach prozeduralisieren oder gar in der Form eines eindeutigen Kontrollauftrags an eine Institution delegieren. Dem steht entgegen, dass sich aufgrund fehlender Verfahren, in denen über die Gestaltung der Handlungsverhältnisse in der Welt überhaupt befunden werden kann, kein Abgleich von Vor- und Nachteilen anhand der Interessen vornehmen lässt, die in einer Entscheidung befördert werden oder nicht. Insgesamt lässt sich der „Wert“ der unterschiedlichen Ordnungen bzw. der Möglichkeiten, die sie bieten, zu einem gewissen Grad nur relativ zu faktischen Interessen verstehen, womit der Abgleich prinzipiellen Schwierigkeiten unterliegt. Dennoch können zumindest zwei Faktoren ausgezeichnet werden, die dazu führen, dass die differentielle Verteilung von

7.1 Freiheit in der transnationalen Demokratie

459

Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit in jeweiligen Ordnungen nicht zu einer Spannung im Gesamtgefüge führt: Einerseits kann, wiederum parallel zu den Einzelstaaten, der absolute Wert der Befähigungen erhöht werden, d.h. ein größeres Maß an Fähigkeiten und Ressourcen für alle durch die Ordnungen oder die globalen Einrichtungen verbürgt werden. Dies könnte z.B. in der Form einer „Wirtschaftsverfassung“ geschehen, die soziale und ökonomische Mindeststandards global festschreibt bzw. bestimmte Vertragsverhältnisse für unzulässig erklärt, die eine Seite gravierend defavorisieren. Eine solche Wirtschaftsverfassung müsste aber als globales Projekt im Sinne der Ordnungen, die dem dritten Typ von Handlungen zugeordnet wurden, vorangetrieben werden, da nur so sichergestellt wird, dass nicht eine potentiell beherrschende „Harmonisierung“ von Ordnungen betrieben wird. Andererseits muss es, bei aller Zurückweisung der Vorstellung eines Weltparlaments, das über den Zuschnitt und die Gestaltung des globalen Gesamtgefüges autoritativ zu entscheiden vermag, doch globale Verfahren und Versammlungen geben, in denen alle Zusammenhänge und alle ihre Mitglieder Schwierigkeiten oder Spannungen in der Heterarchie asymmetrischer Ordnungen, die nicht notwendig unter Beherrschungsverdacht stehen, thematisieren und über sie beraten können. Selbst wenn diesen Verfahren und Versammlungen keine legislative Kompetenz zugeschrieben werden darf, würden sie sicherlich wesentlich dazu beitragen, dass Ordnungen wechselseitige Bedenken und Vorbehalte artikulieren, erkennen und folglich auch darauf reagieren können. Im nächsten Abschnitt wird sich zeigen, dass diese Verfahren und Versammlungen auch die Reflexivität des Gesamtgefüges unterstützen. Die Theorie der transnationalen Demokratie bleibt also eine Freiheitstheorie, aber sie vermag doch zahlreiche gerechtigkeitstheoretische Überlegungen aufzunehmen und republikanisch zu reformulieren. Im Gegensatz zu den Gerechtigkeitstheorien nimmt sie faktischen Verfahren und Strukturen aber nicht die Aufgabe ab, Gerechtigkeit als Ziel auszuzeichnen und das Handeln von Zusammenhängen darauf auszurichten.

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7. Transnationale Demokratie

7.2 Elemente und Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit Die Ausführungen zu den Verfahren und Institutionen, deren Notwendigkeit für die Legitimität von Herrschaft im Kapitel 4 herausgearbeitet wurde, konnten auf viele Bezugspunkte in existierenden Staaten zurückgreifen, die beanspruchen, Republiken oder Demokratien zu sein, und daher z.T. genaue Vorstellungen etwa zur Einrichtung von Verfahren, zur Gestaltung der Verhältnisse zwischen Institutionen oder zu den Möglichkeiten des Verwaltungsrechts entwickeln. Diese Bezugspunkte bestehen für die transnationale Demokratie kaum,32 so dass die Überlegungen zu den prozeduralen, rechtlichen und institutionellen Formen dieser Demokratie nur sehr allgemein und abstrakt sein können. Vor dem Hintergrund der Vorstellung einer Heterarchie asymmetrischer Ordnungen, die berechtigterweise den Anspruch erheben zu bestehen, weil sie die positiven Ausübung von Freiheit ermöglichen, und den Formen denkbarer beherrschender Effekte zwischen Ordnungen müssen die Verfahren, Einrichtungen und Strukturen der transnationalen Demokratie vier Anforderungen erfüllen: Sie müssen erstens die Ordnungen, die primär der positiven Ausübung von Freiheit dienen, von den Instanzen und Institutionen abtrennen, die primär gewährleisten, dass die Verhältnisse in den Ordnungen und zwischen ihnen das Prinzip der NichtBeherrschung erfüllen (7.2.1). Sie müssen zweitens sicherstellen, dass die Instanzen und Institutionen, die die Einhaltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung überwachen und notfalls durchzusetzen vermögen, dies nicht-beherrschend tun (7.2.2). Drittens müssen sie festlegen, welche „positiven“ Aufgaben die zuletzt genannten Instanzen in den Formen von Befähigungen und Interventionen zu erfüllen haben (7.2.3). Und viertens müssen sie in der Lage

–––––––––––––– 32

Dies hat sich auch darin gezeigt, dass die Verweise der Ansätze, die im Kap. 6 erörtert wurden, auf faktische Entwicklungen z.B. im Völkerrecht oft so formuliert sind, dass diese Entwicklungen als Tendenzen hin zur normativ begründeten Struktur interpretierbar sind. Damit wird aber nicht auf die faktischen Entwicklungen selbst Bezug genommen, sondern sie werden im Licht der Begründung rekonstruiert.

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

461

sein, das gesamte globale Gefüge so reflexiv zu gestalten, dass die transnationale Demokratie mit ihren beiden Komponenten nicht insgesamt dysfunktional oder freiheitsbedrohend wird (7.2.4).

7.2.1 Netzwerkstruktur und Netzwerkelemente Die Darlegung der innerstaatlichen Verfahren und Strukturen, die garantieren, dass die positive Ausübung von Freiheit nicht-beherrschend möglich ist, hat zur Unterscheidung zwischen zwei Komponenten geführt. Die erste Komponente besteht aus Verfahren und Strukturen, die es erlauben, über Interessen und Projekte, die die Koordination und Kooperation mehrerer bis aller Akteure erfordern, in Deliberationen gemeinsam zu beraten, nach einem Mehrheits- oder Konsensprinzip zu entscheiden und sie mit oder ohne Hilfe von Institutionen zu realisieren. Die zweite Komponente gewährleistet dagegen, dass die Verfahren korrekt durchgeführt werden, die Freiheit negativ abgesichert ist und bleibt und exekutive und judikative Instanzen an die legislativen Verfahren gebunden sind. Diese zwei Komponenten muss es in jeder Ordnung geben, da sie nur unter dieser Bedingung Legitimität beanspruchen kann. Und sie müssen zumindest der Organisation nach als distinkte Strukturen existieren, weil nur so sichergestellt ist, dass keine der beiden Komponenten auf die andere reduziert wird bzw. Funktionen übernimmt, die willkürliche Entscheidungen über deren Gewichtung oder eine Replikation der zwei Komponenten innerhalb einer der beiden Komponenten erforderlich machen. Parallel zu den unterschiedlichen Weltstaatskonzeptionen ist die Theorie der transnationalen Demokratie überzeugt, dass selbst mit diesen beiden Komponenten die Bedingungen für den nichtbeherrschenden Charakter von Ordnungen in zwei Hinsichten nicht von diesen allein erfüllt werden können. Sie können erstens nicht ausschließen, dass es innerhalb von ihnen zu Konflikten zwischen den beiden Komponenten bzw. deren Funktionen kommt, die zur Konsequenz haben, dass die Ordnung den Anspruch auf Nicht-Beherrschung intern nicht mehr erfüllen kann. Solche Konflikte erscheinen etwa dann, wenn der Eindruck besteht, dass einige die Möglichkeiten zur positiven Ausübung von Freiheit so nutzen können, dass anderen Fähigkeiten zur zukünfti-

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7. Transnationale Demokratie

gen Teilnahme willkürlich genommen werden, oder exekutive Institutionen bzw. judikative Instanzen ihr Wirken von legislativer Programmierung abkoppeln. Sie können aber auch dann zutage treten, wenn die Befürchtung aufkommt, dass zum vermeintlichen Zweck, Freiheit negativ abzusichern, Entscheidungsoptionen in Verfahren willkürlich beschnitten werden. Während Staaten oft komplexe Verfahren und Strukturen entwickelt haben, um auf solche Konflikte reagieren zu können, fehlen anderen Ordnungen, die gemäß der früheren Ausführungen berechtigterweise Teil der Heterarchie sind, gewöhnlich solche Verfahren und Strukturen – oder aber die zwei Komponenten sind, wie im Fall von Konzernen, Verbänden etc., sogar auf unterschiedliche Ordnungen verteilt, womit die Schwierigkeit der Bewältigung von Konflikten innerhalb der Ordnung in diejenige von beherrschenden Effekten zwischen Ordnungen übergeht.33 Damit ist auch schon zweitens darauf aufmerksam gemacht, dass die Ordnungen allein nicht nicht-willkürlich ausschließen können, dass sie beherrschende Effekte auf Dritte haben. Ordnungen können zwar die Geltung des Nicht-Beherrschungsprinzips nach Außen derart „internalisieren“, dass sie sich selbst verpflichten, beherrschende Effekte auf Dritte zu unterlassen, so diese nicht in den Zusammenhang einbeziehbar sind; diese Selbstverpflichtung wäre aber nur dann nicht-willkür-

–––––––––––––– 33

Die Schwierigkeiten, auf die hier Bezug genommen wird, verdeutlichen exemplarisch die Spannungen zwischen staatlicher Gesetzgebung zu den Rechten von Aktienbesitzern, etwa auf Offenlegung von Managergehältern oder Beteiligungsmöglichkeiten an Entscheidungen über Abfindungen, einerseits und den vermeintlichen oder tatsächlichen Bedingungen der positiven Ausübung von Freiheit in und durch die Konzerne andererseits. Mit diesem Verweis soll nicht die staatliche Gesetzgebung bzw. die Sicherung der Rechte von Aktienbesitzern für unzulässig erklärt werden, es sind aber Situationen denkbar, in denen die Ausstattung der Mitglieder eines Zusammenhangs mit Rechten, die negativ gesichert werden, zur Folge hat, dass in dem Zusammenhang die Freiheit nur noch in einem äußerst engen Rahmen positiv ausgeübt werden kann. Eine solche Situation macht gewöhnlich darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang, der für die negative Absicherung von Nicht-Beherrschung zuständig ist, faktisch beansprucht, auch über die positive Ausübung von Freiheit in dem anderen Zusammenhang entscheiden zu dürfen (womit ein Konfliktfall gegeben ist, wie er im Kontext der dritten Grundform von beherrschenden Effekten zwischen Ordnungen als Möglichkeit präsentiert wurde).

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

463

lich für betroffene Dritte, wenn sie immer schon an den Verfahren und Strukturen der ersten Ordnung teilhaben könnten, also immer schon in sie einbezogen wären. Da diese Voraussetzung für Nicht-Willkürlichkeit in Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip steht, bedarf es externer Instanzen, die die Nicht-Willkürlichkeit von Nicht-Beherrschung zwischen Ordnungen bzw. zwischen ihnen und anderen Akteuren verbürgen. Ordnungen können also erst dann vollständige Legitimität beanspruchen, wenn Verfahren und Instanzen bestehen, die die Geltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung auch in den Hinsichten garantieren, in denen sie von den Ordnunge selbst nicht (oder zumindest nicht nicht-willkürlich) gewährleistet werden können. Es ist daher notwendig, die Verfahren und Instanzen so einzurichten, dass sie globale Reichweite haben, also grundsätzlich alle Ordnungen in ihren Binnen- und Außenverhältnissen kontrollieren können und betroffene Individuen oder Zusammenhänge befähigt sind, vermeintlich oder tatsächlich beherrschende Effekte den Verfahren zur Entscheidung vorlegen zu können. Im Unterschied zu zentralistischen sowie einem Großteil föderalistischer Weltstaatsansätze werden diese Verfahren und Instanzen, die notwendig den gesamten Globus abdecken, aber ausschließlich in Analogie zur zweiten innerstaatlichen Komponente begriffen, d.h. sie haben die exklusive Aufgabe, beherrschende Akte und Effekte in und zwischen den Ordnungen zu unterbinden. Selbst wenn sich, wie es bei der dritten Form beherrschender Effekte zwischen Ordnungen als Möglichkeit angenommen wurde, die Notwendigkeit abzeichnet, einen übergeordneten Zusammenhang mit legislativer und exekutiver Kompetenz zu etablieren, darf dieser nicht mit den Verfahren und Strukturen identisch sein, in denen die Effekte thematisiert und notfalls behoben (im Sinn der Aussetzung der Effekte) werden. Dies schließt nicht aus, dass es auch Zusammenhänge globaler Reichweite geben kann, in denen und durch die legitimerweise Freiheit positiv ausgeübt wird, aber diese sind, wie die Ausführungen zu globalen Organisationen und Institutionen im Kapitel 7.1.2 dargelegt haben, als Teil der Heterarchie asymmetrischer Ordnungen zu begreifen – und somit distinkt von den Einrichtungen, die verbürgen, dass die Verhältnisse innerhalb

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7. Transnationale Demokratie

und jenseits der Ordnungen weder Individuen noch andere Ordnungen beherrschen, und d.h. auch dass diese verbürgenden Einrichtungen die globalen Organisationen und Institutionen ebenso kontrollieren müssen wie andere Ordnungen, die beanspruchen, die positive Ausübung von Freiheit zu ermöglichen. Diese Aufgabenteilung zwischen Einzelzusammenhängen, die in den zuvor dargelegten fünf Arten bestehen können und primär dem Zweck dienen, die nicht-beherrschende positive Ausübung von Freiheit zu ermöglichen, und Verfahren und Institutionen, die garantieren, dass Ordnungen intern und zwischen sich nicht-beherrschend sind, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Zusammenhänge überhaupt legitimerwiese in heterarchischen Verhältnissen zueinander stehen können. Denn die Ablösung der zweiten Aufgabe von den Einzelordnungen bzw. von einer globalen Ordnung, die auch die positive Ausübung von Freiheit ermöglicht, erlaubt es, ein erforderliches globales und hinreichend robustes Gefüge von Verfahren und Strukturen zu denken, das nicht im Widerspruch zum republikanischen Prinzip der Subsidiarität steht. Dieses Gefüge bringt zwar selbst qua Vermögen, beherrschende Formen der positiven Ausübung von Freiheit in Ordnungen zu unterbinden, ein spezifisches Beherrschungspotential mit sich, dem begegnet werden muss (vgl. Kapitel 7.2.2), aber es kann nicht dadurch in Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip geraten, dass die Kompetenz zur Gestaltung der Bedingungen, unter denen Freiheit positiv ausgeübt werden kann, auf eine umfassendere Ebene oberhalb von Ordnungen verschoben wird. Die Aufgabenteilung und die jeweilige Verfassung der Zusammenhänge und des globalen Gefüges zur Sicherung von Nicht-Beherrschung lassen sich gut mit Hilfe der Vorstellung eines Netzwerkes34 verdeutlichen, bei dem die Einzelordnungen asymmetri-

–––––––––––––– 34

Dieser Bezug auf das Netzwerkmodell schließt an die extensive Literatur zur Bedeutung und zu den Möglichkeiten von Netzwerken für politische und soziale Ordnungen an, allerdings im Gegensatz zu Teilen dieser Literatur, die die spezifischen Dynamiken und Stabilitätsmomente von Netzwerken herausheben, v.a. mit dem negativen Ziel, die transnationale Demokratie von staatlichen Ordnungsvorstellungen abzuheben. Einen guten allgemeinen Überblick

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

465

sche Elemente des Netzwerkes sind, die durch eine Netzwerkstruktur, wie dann das globale Gefüge zu verstehen ist, zu Teilen des Netzwerkes werden und nicht-beherrschend miteinander verbunden sind (wobei „nicht-beherrschend“ im Sinn der Abwesenheit von Beherrschung und nicht im Sinn der zwei Komponenten innerhalb der Ordnungen zu verstehen ist). Die Vorstellung eines Netzwerkes eignet sich deshalb zur Explikation des Ordnungsmodells der transnationalen Demokratie, weil Netzwerke im Gegensatz zu Staaten keiner strikten Hierarchie von Ebenen und Zuständigkeiten bedürfen und in ihnen der Wandel bzw. das Erscheinen und Verschwinden von Netzwerkelementen ohne gravierende Konsequenzen für die Gesamtheit gedacht werden kann. Denn in einem Netzwerk müssen die Zusammenhänge nicht holistisch so gedacht werden, dass sie auf einer einzigen Ebene direkt der Gesamtheit der Individuen korrespondieren, was bei der Veränderung der „Größe“ eines Zusammenhangs, etwa durch die Revision von Grenzen, prinzipiell Auswirkungen auf alle Zusammenhänge hätte. Der wichtigste Vorteil der Bezugnahme auf den Netzwerkbegriff ist damit, dass sich derart die Funktion des globalen Gefüges so beschreiben lässt, dass sie sich darauf „beschränkt“, die legitime Koexistenz und Stabilität einer Pluralität asymmetrischer Ordnungen zu ermöglichen. Der Bezug auf die Netzwerkvorstellung hat aber auch Grenzen, die sich zeigen, wenn historisch oder im Sinn der Aufteilung von Komponenten auf unterschiedliche Ordnungen nachvollzogen oder abgebildet werden soll, in welchen konkreten genetischen, materiellen, prozeduralen oder institutionellen Abhängigkeitsrelationen die Zusammenhänge oder Netzwerkelemente diesseits von beherrschenden Effekten zueinander stehen. Hier gibt es, wie die Ausführungen in den Kapiteln 7.1.2 und 7.1.3 gezeigt haben, signifikante Differenzen, die für das Verständnis der Ziele, Operationsweisen und Voraussetzungen von Ordnungen fundamental sind und nicht durch die Unterbestimmtheit von Netz-

über politiktheoretische Verwendungen des Netzwerkmodells bietet Rhodes 2006, zur rechtswissenschaftlichen Diskussion siehe Bauer/Lachmayer 2007.

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7. Transnationale Demokratie

werkbeziehungen bzw. den Verzicht auf die Beschreibung unterschiedlicher Ebenen einfach analogisiert werden sollten.35

7.2.2 Eine nicht-beherrschende globale Garantie von Nicht-Beherrschung Die Verdeutlichung der unterschiedlichen Aufgaben, die Einzelordnungen mit ihren Reichweiten einerseits und dem globalen Gefüge andererseits zukommen, mit Hilfe des Netzwerkbegriffs wirft die Frage auf, wie sichergestellt sein kann, dass die Verfahren und Strukturen des globalen Gefüges nicht selbst qua Konstitution, Regulation und Kontrolle der Verhältnisse in und zwischen den Netzwerkelementen beherrschend operieren. Wenn das Gefüge die Struktur des Ganzen ist, dann liegt die Gefahr nahe, dass vermittels der Strukturierung der Verhältnisse zwischen den Ordnungen letztlich auch deren Gestaltungsmöglichkeiten so bestimmt werden, dass dies als willkürlicher Eingriff begriffen werden kann. Die Netzwerkstruktur darf daher nicht so verstanden werden, dass sie im Unterschied zu den Herrschaftsverhältnissen zwischen Ordnungen in einem Machtverhältnis zu deren Gesamtheit steht. Sie muss vielmehr analog zur bzw. in Weiterentwicklung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Ordnungen als rechtsförmige Geltung des Prinzips der Nicht-Beherrschung zwischen36 ihnen begriffen werden, die sich nicht in der Rechtsform erschöpft, sondern auch Instanzen und Institutionen zu ihrer Anwendung und Durchsetzung umfasst.

–––––––––––––– 35

36

So ist es wichtig, transnationale Konzerne danach zu unterscheiden, ob sie in wesentlichen Strukturen z.B. in Staaten eingebettet sind oder als Resultat zwischenstaatlicher Handelsabkommen Gestalt angenommen haben. Ähnlich ist es nicht unerheblich zu wissen, mit welchen „Öffentlichkeiten“ oder Regierungen internationale NGOs zur Generierung von Ressourcen und Unterstützung interagieren. Um die hier behandelten komplizierten Verhältnisse nicht noch komplizierter zu machen, ist hier und im Folgenden die Rede von der Geltung des Prinzips „zwischen“ den Ordnungen. Richtiger müsste es heißen, dass die Netzwerkstruktur auch die rechtsförmige Geltung des Prinzips zwischen den Ordnungen und ihren Mitgliedern bzw. zwischen den beiden Komponenten von Ordnungen verbürgt.

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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Wenn das Prinzip der Nicht-Beherrschung zwischen Ordnungen rechtsförmig gelten soll, dann ist es erforderlich, dies zunächst wiederum in der Gestalt eines Konstitutionalismus zu denken (vgl. Kap. 4.4). D.h. es kann und darf keinen (selbst keine globale) Ordnung geben, der für sich beanspruchen könnte, in positiver Ausübung von Freiheit oder qua Gesetzgebung, also in einem Willensakt ihrer Mitglieder festzulegen, welche Ordnungen es gibt und in welchen Relationen sie zueinander stehen. Die Grundlage für die Legitimität des globalen Gefüges insgesamt ist daher, dass das Prinzip der Nicht-Beherrschung inklusive des Subsidiaritätsprinzips nicht-willkürlich gilt. Diese Grundlage ist und bleibt zwar interpretationsbedürftig, sie darf aber als Grund, von dem die Legitimität des gesamten globalen Gefüges abhängt, nie zur Disposition stehen oder gestellt werden.37 Damit ist aber, wie der Verweis auf die Interpretationsbedürftigkeit der Grundlage unterstreicht, nur ein erstes abstraktes Prinzip angegeben, das etwa in einer „Weltverfassung“ in unterschiedlichen Hinsichten auszulegen und zu präzisieren ist. Hierzu gehören zunächst die Anforderungen, die den nicht-beherrschenden Charakter der Ordnungen als solcher verbürgen, sowie diejenigen, die zwischen ihnen erfüllt sein müssen. Darüber hinaus müssen Instanzen und Institutionen mit jeweiligen Aufgaben und Kompetenzen vorgesehen werden, die die Ordnungen intern und in ihren Verhältnissen untereinander kontrollieren. Wenn mit den Resultaten von Kontrollen automatisch Interventionskompetenzen verbunden sind, was notwendig ist, damit beherrschende Effekte nicht-willkürlich behoben werden, dann ist es wichtig, dass expliziert wird, welche Kontrolle von den globalen Instanzen und Institutionen auf jeden Fall ausgeübt werden muss und welche dagegen davon abhängig ist, dass Akteure, die sich (vermeintlich) beherrschenden Effekten ausgesetzt sehen, die Kontrolle herbeiführen. Da nicht auszuschließen ist, dass es Individuen oder auch Ordnungen gibt, die nicht oder noch nicht befähigt sind, beherr-

–––––––––––––– 37

Vgl. zur Explikation, wie Interpretationsbedürftigkeit und d.h. Offenheit der Grundprinzipien für historischen Wandel und neue Einsichten mit der Unverfügbarkeit der Grundprinzipien in einem globalen Konstitutionalismus verbunden werden können, Allott 2002: 344-346.

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7. Transnationale Demokratie

schende Effekte zu problematisieren und in den fraglichen Instanzen zu thematisieren, bzw. von anderen Individuen oder Ordnungen mehr oder minder aktiv daran gehindert werden, kann das Wirken der Kontrollinstanzen nicht vollständig davon abhängig gemacht werden, dass Klagen vorgebracht werden. Die Instanzen müssen bis zu einer gewissen Schwelle von Fähigkeiten bei Individuen oder dem Bestehen von Verfahren und Strukturen innerhalb von Ordnungen von sich aus überwachen (was dem englischen Ausdruck des monitoring und nicht demjenigen der surveillance korrespondiert), dass es nicht zu beherrschenden Effekten oder gar auf Dauer gestellten Strukturen kommt. Diese Überwachung ist besonders wichtig in Phasen politischer Transformation, wie bei „Demokratisierungen“ oder dem „Staatsaufbau“ (state-building), aber sie sollte routinemäßig und zumindest stichprobenartig auch in oder zwischen Zusammenhängen vollzogen werden, die vermeintlich unproblematisch sind. Über diese „Schwellenkontrolle“ hinaus müssen die Instanzen für jeden zugänglich sein, der den Eindruck hat, beherrschenden Effekten ausgesetzt zu sein, und es gibt eine prima facie Verpflichtung, den Vorwürfen nachzugehen. Die Instanzen, die kontrollieren, dass die Bedingungen für nicht-beherrschende Herrschaft eingehalten werden, und notfalls in beherrschend agierende Ordnungen zu intervenieren vermögen, dürfen hinsichtlich der Ressourcen, die sie zur Erfüllung ihrer Funktionen brauchen, nicht von der Willkür von Ressourceninhabern abhängig sein. Dabei müssen die Instanzen und Institutionen aber weder per se auf der Weltebene angesiedelt sein, noch global im Sinn eines Abdeckens aller beherrschenden Effekte operieren. Nach dem Vorbild der bereits heute bestehenden Kooperation von Menschenrechtskommissionen sowie Kartell- oder Sicherheitsbehörden kann durchaus allen oder einigen Ordnungen die Aufgabe übertragen werden, an der Überwachung mitzuwirken. Dies ist unproblematisch und z.T. sogar notwendig, solange sichergestellt ist, dass diese Mitwirkung nicht als „Abstimmung“ über beherrschende Effekte missverstanden wird und Ordnungen daraus keine Rechtfertigung für eigenes beherrschendes Agieren ableiten, selbst wenn dieses vermeintlich dazu dient, die konsta-

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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tierten Effekte zu beheben.38 Die Mitwirkung ist also als kognitive oder diagnostische Arbeitsteilung beim Erkennen beherrschender Effekte und Strukturen zu verstehen und nicht als Aufspaltung der Kontrollkompetenz, was heißt, dass Entscheidungen über Interventionen, wenn sie nicht-beherrschend sein sollen, ausschließlich auf der Weltebene gefällt werden dürfen.39 Neben dieser vertikalen Verteilung von Kontrollaufgaben ist aufgrund der Differenzen zwischen den beherrschenden Aspekten auch eine danach differenzierte Verteilung von Kontrollaufgaben sinnvoll. So benötigt die Untersuchung staatlicher Bildungs- und Ausbildungsleistungen andere Kenntnisse und Bezugspunkte als die Kontrolle der Interaktionen zwischen transnationalen Konzernen oder NGOs und Staaten. Diese Differenzierung darf wiederum nicht zur Konsequenz haben, dass vermittels von Ressourcenverteilungen zwischen den Kontrollbereichen willkürlich darüber entschieden wird, welchen beherrschenden Effekten Priorität zukommt. Ein wesentlicher Faktor für die Rechtsstaatsanalogie ist, dass es auch zu einer Gewaltenteilung oder Gewaltengliederung zwischen den Instanzen und Institutionen kommt, die kontrollieren und notfalls intervenieren. Im Unterschied zu innerstaatlichen Verhältnissen müssen dabei aber rechtsprechende Strukturen den Ausgangspunkt bilden, d.h. die Instanzen, die entweder Ordnun-

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Damit wird der Konsequentialismus vieler Positionen in der Debatte um den sogenannten „Gerechten Krieg“ zurückgewiesen. Vgl. zu dieser Debatte stellvertretend für relevante Ansätze Buchanan/Keohane 2004, Merker 2001und Walzer 1982. Ein gutes Beispiel für die vertikale Aufteilung von Kontroll- und Exekutivaufgaben ist die Konstruktion des Internationalen Strafgerichtshofes und dessen Bezug auf die Gerichtsbarkeiten der Einzelstaaten. Problematischer ist dagegen die Entwicklung einer „universal jurisdiction“ in den Staaten, wie sie in der Verfolgung von Verbrechen des chilenischen Ex-Präsidenten Augusto Pinochet durch spanische und britische Staatsanwaltschaften und Gerichte zum Ausdruck gekommen ist (Falk 2004). Diese Entwicklung verweist zwar auf die Herausbildung einer globalen rechtlichen Abwehr innerstaatlicher beherrschender Akte, aber diese Form der Strafverfolgung bleibt willkürlich und ist damit selbst beherrschend, solange die Urteile innerhalb von Staaten gefällt werden und Angeklagte keine Möglichkeiten haben, die Berechtigung dieser Strafverfolgung durch Einrichtungen kontrollieren zu lassen, die unabhängig vom jeweiligen Staat sind.

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gen per se kontrollieren, oder aber auf Klagen reagieren, müssen nach dem Vorbild von Gerichten verstanden werden, in denen Richter ohne (direkten) Zugriff auf die rechtlichen Grundlagen zu einem Urteil darüber kommen, ob ein Rechtsverstoß vorliegt oder nicht. Nur unter einem solchen Verständnis kann ausgeschlossen werden, dass sich diese Instanzen selbst legislative Kompetenzen anmaßen oder als ursprünglich exekutive Einrichtungen zur Durchsetzung von Nicht-Beherrschung in allen ihren Dimensionen sehen (was an sich bereits ein Widerspruch ist). Der Verweis auf das Gerichtsvorbild darf allerdings wiederum nicht zu eng gesehen werden, denn er betrifft ausschließlich das Verhältnis der rechtlichen Grundlage zur Tätigkeit der Instanzen. Wenn die Kontrollen stetig stattfinden und z.T. spezifische Untersuchungen erfordern, dann können und müssen auch weitere Vorbilder, wie etwa die Tätigkeit von Staatsanwaltschaften, Untersuchungsausschüssen, UN-Sondergesandten oder Institutionen, die die Qualität von Waren, Gütern oder Dienstleistungen überwachen, etc. zur genaueren Bestimmung der Instanzen herangezogen werden. Um zu gewährleisten, dass die Tätigkeit der Instanzen nicht die Rechtsprechungskompetenz überschreitet, die ihnen qua Konstitutionalismus zukommt, müssen die Instanzen in drei Hinsichten selbst einer Kontrolle unterzogen werden: Es muss erstens in Analogie zur Rolle des staatlichen Verwaltungsrechts die Möglichkeit eines „Metaverfahrens“ geben, in dem überprüft wird, ob die Durchführung der Kontrolle und das Fällen einer Entscheidung rechtsgemäß waren. Es muss zweitens einen globalen Rechtsdiskurs geben, in dem die Fortentwicklung des globalen Konstitutionalismus gerade auf dem Hintergrund einzelner Entscheidungen und ihrer Begründungen kritisch kommentiert und systematisch betrieben wird. Dieser Diskurs darf nicht nur von einer globalen, kosmopolitischen Verwaltungs- und Juristenelite geführt werden, sondern er muss hinreichend offen für Beiträge unterschiedlichster Art sein. Drittens schließlich müssen die Interventionsressourcen bzw. -instanzen von den Kontrollinstanzen klar unterschieden sein. Der letzte Punkt ist von fundamentaler Bedeutung, denn viele Diskussionen der normativ gebotenen Ordnung jenseits der be-

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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kannten Staaten drehen sich, wie in den Kapiteln 5 und 6 deutlich geworden ist, um die Frage, ob ein globales Gewaltmonopol notwendig und/oder möglich ist bzw. wie mit dessen Bedrohungspotential umzugehen ist. Hierzu ist zunächst zu sagen, dass die Bedeutung des Gewaltmonopols für den Aufbau von Staaten oft überschätzt wurde, so dass auch für die transnationale Demokratie gilt, dass die primären Interventionsweisen zur Behebung beherrschender Effekte nicht militärischer oder polizeilicher Natur sein werden. Aber selbst die Konzentration von nicht-militärischen/ polizeilichen Interventions- und Sanktionsoptionen auf der globalen Ebene wirkt zweifelsohne bedrohlich. Aus der Perspektive des Republikanismus der Nicht-Beherrschung reicht diese Bedrohlichkeit aus, um sie als Gefahr für das globale Gefüge zu betrachten. Denn es ist nur schwer zu sehen, wie in globalen Institutionen zugleich einerseits die notwendigen Ressourcen aggregiert sein könnten, die für Interventionen in jede Ordnung notwendig sind, und andererseits das Verfügen über diese Ressourcen kontrollierbar bliebe. Eine solche Konzentration der Ressourcen auf der globalen Ebene ist aber auch nicht notwendig, solange sichergestellt ist, dass die Ressourcen grundsätzlich existieren und im Anschluss an Entscheidungen der kontrollierenden Instanz nicht-willkürlich verfüg- bzw. mobilisierbar sind (Niederberger 2009). Diese beiden Bedingungen werden dann erfüllt, wenn es globale Einrichtungen gibt, deren Aktivierung notwendig an (in den „Metaverfahren“ bestätigte) Entscheidungen der Kontrollinstanzen gebunden ist und die die Aufgabe haben, die Ressourcen und exekutiven Institutionen der Einzelordnungen so zu koordinieren und zu nutzen, dass beherrschende Effekte behoben werden. Dazu müssen die Einrichtungen im Rahmen des Konstitutionalismus in die Exekutiven der Einzelordnungen strukturell integriert werden und d.h. ihnen muss gemäß der Binnenstruktur der Zusammenhänge (in deren Gewaltenteilung) Weisungskompetenz zugeschrieben werden. So werden sie auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Einzelordnungen unterworfen, womit sich hinsichtlich der Frage nach der Berechtigung einer Ressourcenanforderung oder Handlungsaufforderung eine globale übergeordnete Kontrollinstanz weitgehend

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7. Transnationale Demokratie

erübrigt. Geregelt werden muss bei dieser Distribution exekutiver Ressourcen und Maßnahmen über die Einzelordnungen allerdings, dass die Verteilung der Lasten, zu denen die Durchführung von Interventionen führt, nicht-willkürlich ist. Dies erfordert eine weitere „Metainstanz“, die die Nicht-Willkürlichkeit darüber absichert, dass sie entweder Lasten – so denn solche geltend gemacht werden können – aus einem globalen Fonds oder einer Globalsteuer kompensiert oder auf der Basis von Korrelationen der Leistungsfähigkeit einer Ordnung und ihrer spezifischen Ressourcen und Möglichkeiten die Anforderungen auf ein relativ gleiches Maß bei allen Ordnungen beschränkt. Ein letztes Element der Gewaltenteilung auf globaler Ebene sollten signifikante Einschränkungen der Möglichkeit von Personen sein, von der Tätigkeit im Rahmen der kontrollierenden Instanzen bzw. der Institutionen, die Interventionen koordinieren, zu Tätigkeiten innerhalb von Ordnungen zu wechseln, die für deren Anspruch auf Nicht-Beherrschung relevant sind. Die Einschränkung oder das Verbot solcher Wechsel hätte zur Folge, dass Personen zumindest in dieser Hinsicht keinen Anreiz hätten, durch (willkürliches) Nutzen der globalen Einrichtungen einem Zusammenhang Vorteile zu verschaffen. Außerdem hätte es, wie z.T. die Entwicklungen in der Brüsseler EU-Bürokratie belegen, wahrscheinlich die Konsequenz, dass es zur Herausbildung von „globalen Bürokraten“ kommt, was, unter weiteren Rahmenbedingungen, dazu beitragen könnte, dass beherrschende Effekte zunehmend „unparteilich“ diagnostiziert und verfolgt werden.

7.2.3 Globale Instanzen und Befähigung Die globalen Instanzen und Institutionen haben also im Vergleich zu Einrichtungen innerhalb der Ordnungen ein vergleichsweise kleines und primär reaktives Aufgabenfeld. Die Tatsache, dass es sich dabei um globale Einrichtungen handelt, zu deren Nutzung Akteure selbst wieder befähigt sein müssen und die aufgrund ihrer Reichweite signifikante positive und negative Beiträge zu den Zusammenhängen erbringen können, hat zur Folge, dass Ansprüche hinsichtlich dieser Einrichtungen bestehen, die der Konstitutionalismus in der präsentierten Fassung von Grundprinzipien und ei-

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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ner Art Gewaltenteilung nicht schon abdeckt. Es ist daher darüber hinaus eine Form des „Grundrechte“-Teiles des innerstaatlichen Konstitutionalismus für globale Einrichtungen zu entwickeln. Diese Grundrechte sollten sich auf vier Bereiche konzentrieren: Es müssen erstens parallel zu den nicht-beherrschenden Bedingungen bei jeder Einrichtung, die an der Ausübung von Herrschaft beteiligt ist, Rechte auf die Befähigung expliziert werden, die globalen Einrichtungen zu nutzen. Diese Rechte kommen jedem zu, der grundsätzlich von beherrschenden Effekten betroffen sein kann, d.h. sie gelten für global alle Individuen sowie, in anderer Form, für alle Ordnungen. Die Befähigungsansprüche, die den Rechten korrespondieren, bestehen einerseits darin, dass die Verfahren und Strukturen transparent und formal für alle Individuen und Ordnungen, die von beherrschenden Effekten potentiell betroffen sind, zugänglich sein müssen. Dies schließt nicht aus, dass unterschiedliche Stufen von Verfahren und Strukturen etabliert werden, die nicht alle direkt für alle zugänglich sind. Andererseits beziehen sich die Ansprüche auf die kognitiven, artikulatorischen, sozialen und institutionellen Kompetenzen und Ressourcen, die es Individuen und Ordnungen tatsächlich ermöglichen, die Verfahren und Strukturen zu nutzen, bzw. dazu führen, dass grundsätzlich jedem die Übernahme von Funktionsstellen in den globalen Einrichtungen offen steht. Dies sind die Kompetenzen und Ressourcen, die im Kapitel 7.1.4 als erste Dimension der „Gerechtigkeit“ der transnationalen Demokratie expliziert wurden. Es wurde schon dargelegt, dass der relative Wert von Staaten auch darin besteht, dass sie es in besonderer Weise erlauben, Praktiken und Institutionen zu etablieren, die Individuen befähigen, an Verfahren und Strukturen teilzuhaben. Da die Fähigkeiten, die das Nutzen von und die Mitwirkung bei globalen Verfahren und Strukturen erfordern, nicht vollkommen distinkt von den Fähigkeiten sind, die innerhalb der Ordnungen erforderlich sind, können sich die befähigenden Praktiken und Einrichtungen auf der globalen Ebene auf eine „supplementäre Befähigung“ beschränken. Diese supplementäre Befähigung hat zwei Dimensionen: In der ersten Dimension geht es um Ergänzungen, die erst auf der globalen Ebene relevant werden und von Zusammenhängen nicht

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7. Transnationale Demokratie

notwendig geleistet werden. Solche ergänzenden Praktiken und Einrichtungen können unterschiedliche Formen annehmen, wobei die Existenz von direkten Ansprechpartnern kontrollierender Instanzen in allen Ordnungen, die nicht nur Klagen entgegennehmen, sondern auch informierend und trainierend tätig sind, sicherlich die nahe liegendste ist. In der zweiten Dimension müssen Maßstäbe entwickelt werden, was Ordnungen hinsichtlich der Befähigung ihrer Mitglieder zur Teilhabe und Nutzung der Einzelordnung und der globalen Instanzen, aber auch hinsichtlich der Kompetenzen der Vertreter des Zusammenhangs mit Blick auf globale Verfahren und Strukturen leisten, so dass das Ergänzen nicht in allen Ordnungen die gleiche Form annehmen kann und darf. Vielmehr – und dies reformuliert erneut Überlegungen von Gerechtigkeitstheorien im Rahmen der transnationalen Demokratie – müssen v.a. die Zusammenhänge unterstützt werden, die über weniger weit entwickelte befähigende Praktiken und Einrichtungen verfügen als andere, bzw. diejenigen Individuen zur Teilhabe befähigt werden, die eventuell von gar keiner Ordnung befähigt werden. Das Bestehen der Einrichtungen auf globaler Ebene hat somit zur Folge, dass sichergestellt ist, dass global alle befähigt sind und bleiben, grundsätzlich an Verfahren und Strukturen in Ordnungen und an denjenigen auf der globalen Ebene teilzuhaben, was aufgrund des generellen Wertes der Befähigungen auch die allgemeinen Möglichkeiten, Freiheit positiv auszuüben, auf ein viel höheres Niveau hebt, als es gegenwärtig besteht. Die Existenz von Hunger oder radikaler ökonomischer Abhängigkeit sind ohne Zweifel Ausdruck von beherrschenden Verhältnissen, da bei ihnen offensichtlich ist, dass Individuen allerhöchstens formale Möglichkeiten haben, an Verfahren und Strukturen teilzuhaben. Damit kommt in den Blick, dass die globalen Grundrechte zweitens prinzipiell alle Rechte umfassen müssen, die in den Ordnungen erforderlich sind, um an deren Verfahren und Strukturen teilhaben zu können. Dies ergibt sich bereits aus der Kontrolle, dass die Ordnungen nicht-beherrschend verfasst sind, bekommt aber nun die zusätzliche Bedeutung, dass globale Einrichtungen Reaktionen für Situationen vorsehen müssen, in denen Ordnungen nicht nur willkürlich darin versagen, ihre Mitglieder zur Teil-

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habe zu befähigen, sondern sie nicht über Ressourcen oder hinreichende Kompetenzen dazu verfügen. In diesen Situationen lassen sich beherrschende Effekte nicht einfach durch deren Verhinderung beseitigen, sondern das Ziel, die Effekte zu beheben, erfordert „positive“ Beiträge in der Form von Ressourcen- und/oder Kompetenztransfers. Der Standardfall für solche Transfers sollte sicherlich derjenige zwischen Zusammenhängen sein, d.h. es ist weder funktional, noch mit Blick auf die wünschenswerte „Befähigung zur Selbstbefähigung“ sinnvoll, globale Einrichtungen zu schaffen, die direkt die Mitglieder einzelner Ordnungen befähigen. Aber es ist, wie bereits beim allgemeineren Fall der Interventionsressourcen gezeigt wurde, notwendig, dass es globale Einrichtungen gibt, die gewährleisten, dass der Transfer nicht-willkürlich geschieht und d.h. betroffene Individuen einen Anspruch darauf haben, zur Teilhabe befähigt zu werden, und nicht auf das Wohlwollen anderer Individuen oder Zusammenhänge vertrauen müssen. Diese Kategorie von Grundrechten führt zu zwei interessanten Grenzfällen, die zeigen, dass die vorhergehende Beschreibung einer Präzisierung bedarf: Auf den ersten Grenzfall verweist die Frage, ob es ein Recht auf Migration gibt. Von einem negativen Recht auf Migration ist aufgrund der relativ kontingenten Natur der Einzelzusammenhänge auszugehen, die es grundsätzlich keinem von ihnen erlaubt, das Interesse einer Person zurückzuweisen, sich an ihm zu beteiligen.40 Komplizierter ist die Beantwortung der Frage, ob es eine Verpflichtung gibt, Personen zur Migration zu befähigen.41 Es könnte zunächst so aussehen, als würde sich eine solche Verpflichtung parallel zum Subsidiaritätsprinzip aus dem Interesse der Handelnden daran ergeben, Freiheit mög-

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Vgl. zum genauen Argumentationsgang für dieses negative Recht, das auf der Basis des naturrechtlichen Prinzips des ursprünglichen „Gemeinbesitzes der Erde“ begründet wird, Niederberger/Schink 2009. Es wird hierbei von der Frage abgesehen, ob ein solcher Befähigungsanspruch unter unvollkommen nicht-beherrschenden Verhältnissen besteht, d.h. dann, wenn Migration eine Option ist, beherrschender Herrschafts- oder Machtausübung zu entkommen. Einige Überlegungen zur Bedeutung der Theorie transnationaler Demokratie unter solchen unvollkommenen Bedingungen finden sich im Kap. 7.3.

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7. Transnationale Demokratie

lichst umfassend positiv ausüben zu können, d.h. als Anspruch, sich dorthin zu begeben, wo die größten Möglichkeiten zur Realisierung eigener Projekte bestehen. Zusammenhänge können aber, wie wiederholt betont wurde, in den meisten Fällen selbst bei weitgehender Interessenkonvergenz nicht so verstanden werden, dass sie ad hoc-Zusammenschlüsse sind, sondern sie lassen sich nur aufgrund einer gewissen Kontinuität und der grundsätzlichen Interaktionsbereitschaft ihrer Mitglieder als Ordnung begreifen. Vor diesem Hintergrund kann eine allgemeine Verpflichtung, jeden zur Migration zu befähigen, nicht begründet werden, sondern solche Ansprüche müssen auf Einzelfälle beschränkt sein, die sich aufgrund fundamentaler Interessensdifferenzen bei signifikanten Fragen strukturell in einer Minderheit befinden. Der zweite Grenzfall betrifft Ordnungen, die Ansprüche auf Ressourcen zur Befähigung ihrer Mitglieder und d.h. für befähigende Praktiken und Einrichtungen gegenüber den globalen Instanzen oder anderen Ordnungen geltend machen, bei denen aber klar ist, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach, nie selbst die Ressourcen aufbringen können werden. In diesem Fall, für den beispielhaft die Unabhängigkeitsbestrebung des Kosovo steht, stellt sich die Frage, ob es eine Verpflichtung globaler Einrichtungen und anderer Ordnungen gibt, das Bestehen eines Zusammenhangs zu gewährleisten, der selbst grundsätzlich nicht über die Mittel zu seiner Subsistenz bzw. zur Etablierung legitimer Verfahren und Strukturen verfügt. Auch hier liegt es nahe, die Verpflichtung weder grundsätzlich zu behaupten, noch zurückzuweisen, sondern sie zu konditionieren. Eine solche Konditionierung, deren Erfüllung selbst wieder so weit wie möglich nicht-willkürlich überprüft werden muss, kann so aussehen, dass die Verpflichtung zur potentiell dauerhaften Unterstützung eines Zusammenhangs besteht, wenn (i) der Zusammenhang nicht selbst das Resultat einer Kooperation oder Koordination von Ordnungen ist (denn dann haben primär diese Ordnungen Verpflichtungen gegenüber dem fraglichen Zusammenhang) und (ii) entweder dies die einzige oder zumindest eine sehr plausible Weise ist, das Problem einer strukturellen Minderheit zu lösen, oder der Zusammenhang etwas „Wert-

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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volles“ zum globalen Gefüge beiträgt, was nur aufgrund der Existenz dieser Ordnung zu erwarten ist. Dieser zweite Grenzfall leitet schon dazu über, dass es drittens Grundrechte auf Fähigkeiten und Ressourcen geben muss, die den Aufbau einer Ordnung unter der Bedingung ermöglichen, dass Individuen bislang oder derzeit nicht an der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit in einer Ordnung teilhaben können. Diese Rechte auf „state building“ ergeben sich aus der Universalität des Prinzips der Nicht-Beherrschung und der unvollständigen Erfüllung des Prinzips, wenn Individuen nicht die Möglichkeit haben, Interessen und Projekte unabhängig von gegebenen Ressourcen zu verfolgen, die sie dazu nutzen können, andere qua Machtausübung zu Kooperationen oder Koordinationen zu zwingen.42 Diese Grundrechte sind, auch wenn sie nur unter Bedingungen geltend gemacht werden können, die denen des zweiten Grenzfalls ähneln, unter den aktuellen Verhältnissen eine zentrale Kategorie. Sie müssen, wie die zweite Gruppe, vornehmlich durch den Transfer von Kompetenzen und Ressourcen zwischen Ordnungen gewährleistet werden, dürfen aber auch nicht von der Willkür der Ordnungen abhängig gemacht werden – und d.h. auch dass Ordnungen, die Kompetenzen oder Ressourcen transferieren, dies nicht an zukünftige Verfahren und Strukturen bzw. Entscheidungen und Maßnahmen der aufzubauenden Ordnung binden dürfen, wie es heute im Irak und in Afghanistan der Fall ist. Schließlich müssen die Grundrechte viertens festlegen, welche individuellen Ansprüche bei Interventionen gewahrt bleiben müssen oder auf keinen Fall verletzt werden dürfen. Angesichts des atomaren Wettrüstens nach dem 2. Weltkrieg hat Elizabeth Anscombe argumentiert, dass selbst in Reaktion auf die offensichtliche Bedrohung der eigenen Person unbeteiligte Dritte weder absichtlich noch als absehbare Nebenfolge getötet werden dürfen (Anscombe 1981). Diese Argumentation lässt sich mit Blick auf mögliche Interventionen in Ordnungen so generalisieren, dass sie nicht selbst derart beherrschend sein dürfen, dass sie (die) Bedin-

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Hier gibt es eine Nähe zu Arendts „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1986: 462). Vgl. dazu die Untersuchung dieses „Rechts“ bei Bohman 2007: 131-134.

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7. Transnationale Demokratie

gungen für die negative Absicherung von Freiheit bzw. Befähigungen ersatzlos beseitigen. Dies gilt unter allen Umständen für Dritte, denn die Gewährleistung der Bedingungen für einige oder selbst viele lässt sich nicht mit derjenigen für andere oder wenige aufrechnen. Dabei sind Dritte nicht nur Mitglieder anderer Ordnungen als desjenigen, in den eingegriffen wird, sondern Mitglieder einer Ordnung dürfen insgesamt nicht per se für „ihren“ Zusammenhang haftbar gemacht werden. Aber selbst diejenigen, die beherrschend agiert haben oder agieren und dies nicht unterlassen bzw. sich einer Urteilsvollstreckung entziehen, verlieren nicht alle Ansprüche. Maßnahmen ihnen gegenüber dürfen nur wenn es zur Verhinderung beherrschenden Wirkens unumgänglich ist, die negative Freiheit bzw. die Fähigkeiten einer Person zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen angreifen. Diese Grundrechte müssen folglich in der Entscheidung über Interventionen berücksichtigt werden und sie sind ein wichtiger Bezugspunkt für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Interventionen bzw. von spezifischen Anforderungen von Ressourcen und/oder Handlungen.

7.2.4 Stabilität und Wandel in der transnationalen Demokratie Die Existenz globaler Instanzen, die im Rahmen des Konstitutionalismus garantieren und notfalls erzwingen, dass das Prinzip der Nicht-Beherrschung in und zwischen Ordnungen gilt, verwandelt die strukturelle Instabilität einer Heterarchie asymmetrischer Ordnungen in ein stabiles Netzwerk. Diese Stabilisierung ist notwendig, da nur so die Ordnungen nicht-beherrschend koexistieren können. Aber steht sie nicht letztlich dem Ausgangspunkt entgegen, dass eine Heterarchie asymmetrischer Ordnungen deswegen wünschenswert ist, weil sie der „Produktivität“ von Bestrebungen, Freiheit positiv auszuüben, einen Raum gibt, den die Weltstaatsmodelle nicht eröffnen können?43 Es ist also zuletzt zu untersuchen, wie sich die globalen Instanzen bzw. der Konstitutionalismus zum Wandel oder zur Möglichkeit des Wandels auf der Seite der Ordnungen verhalten.

–––––––––––––– 43

Vgl. zur Betonung der Produktivität der Heterarchie Ladeur 2004b: 109-113.

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die transnationale Demokratie den Wandel von Ordnungen bzw. deren besondere Relationen aus zwei Gründen berücksichtigen muss. Der erste Grund wurde im Rahmen der zuvor gestellten Frage angedeutet. Er besteht darin, dass sich die Interessenlagen von Handelnden ändern oder entwickeln können, so dass gegebene Zuschnitte, Aufgaben und Gestaltungen von Zusammenhängen tendenziell zu einem Hindernis für die Realisierung von Interessen werden. Es muss dementsprechend bestimmt werden, wie ein Wandel von Ordnungen nicht-beherrschend möglich ist, der den Veränderungen von Interessen Rechnung trägt, also das allgemeine Ziel größtmöglicher positiver Ausübbarkeit von Freiheit nicht aus dem Blick verliert. Ein zweiter Grund hat sich darüber hinaus aus den Bedingungen dafür ergeben, dass beherrschende Akte und Effekte behoben werden können. Denn bei beherrschenden Effekten der ersten und dritten Form gegenüber Dritten wurde konstatiert, dass diese Effekte häufig nur dann zu beheben sind, wenn der beherrschende Zusammenhang erweitert bzw. eine übergreifende Ordnung zumindest für den umstrittenen Bereich von Handlungsverhältnissen geschaffen wird. Aus diesem Grund dürfen der Konstitutionalismus und die globalen Einrichtungen das Gefüge von Ordnungen nicht so festschreiben, dass letztlich nicht mehr nachvollziehbar ist, wie sie dessen Bestehen und Revision zum Zweck der Behebung beherrschender Effekte ohne Widersprüche zugleich garantieren können. Der erste Grund ist aufgrund der Ausgangsüberlegungen des Republikanismus der Nicht-Beherrschung ein wichtiger Verweis auf die Dynamik historischen Wandels, aber erst der zweite Grund macht darauf aufmerksam, dass die Möglichkeit des Wandels zur Gewährleistung von Nicht-Beherrschung erforderlich ist. Beide Gründe für die Möglichkeit des Wandels verweisen auf eine vermeintliche Spannung, die unter dem Titel eines „paradox of bounded communities“ diskutiert wird. Dieses Paradox ergibt sich nach Seyla Benhabib dann, wenn einerseits angenommen wird, dass Begründungen für die Zulässigkeit der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit in einer Ordnung universalistisch sein müssen (zumindest qua Berücksichtigung je-

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7. Transnationale Demokratie

des Betroffenen), während andererseits behauptet wird, dass die Bedingungen partikularistisch sein können, unter denen Begründungen gegeben werden (Benhabib 2006: 18-19). Sie wirft also die Frage auf, wie eine Ordnung die Bedingungen für universelle Akzeptabilität ihrer Existenz und Gestalt erfüllen kann, wenn sie als beschränkte Ordnung gar nicht alle, die möglicherweise von ihrer Existenz betroffen sind (und sei es nur, weil es sie überhaupt gibt und „Betroffene“ daran eventuell teilhaben wollten), an ihren Verfahren teilhaben lässt.44 Die Ausführungen zum Republikanismus der Nicht-Beherrschung haben gezeigt, dass das Paradox sich aus einem Missverständnis des Universalismus ergibt. Die beiden Prämissen können nämlich in der Tat ohne Widersprüche zugleich erfüllt werden, wenn auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips expliziert wird, dass „universalistische“ Begründung nicht heißen muss, dass global jedem gegenüber eine Ordnung in all ihren Aspekten begründet werden muss. Die Begründung von Verfahren und Strukturen sowie Entscheidungen und Maßnahmen eines Zusammenhangs gegenüber seinen Mitgliedern ist signifikant verschieden von der Begründung, die für seinen nicht-beherrschenden Charakter gegenüber global jedem gegeben werden muss. Dabei gehen die Unterschiede zwischen den Begründungen nicht auf unterschiedliche moralische oder ethische Verpflichtungen gegenüber Mitbürgern und Dritten zurück, wie Benhabib suggeriert, sondern auf die unterschiedlichen Formen der Beherrschung, die innerhalb und jenseits der Ordnung denkbar sind, bzw. die unterschiedlichen Ziele,

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Hinter dem Paradox steckt auch eine Reflexion auf die universalistische Rechtfertigbarkeit von Grenzen. Diese Reflexion ist angetrieben von den Gedanken, dass das Ziehen von Grenzen einer der wichtigsten und problematischsten politischen Akte der Moderne war und universalistische Ansätze häufig Grenzziehungen als wesentlichen Hinderungsgrund für universalistische Verhältnisse verstanden haben. Die vorliegende Theorie transnationaler Demokratie geht dagegen vor dem Hintergrund zumindest der Entwicklungen innerhalb der EU in den letzten beiden Dekaden davon aus, dass Grenzen, wenn sie notwendig oder wünschenswert sind, auch ohne die gravierenden Konsequenzen ziehund revidierbar sind, die zu Kriegen oder anderen Auseinandersetzungen zwischen Staaten oder den Phänomenen gewaltsamen Ausschlusses in der Neuzeit geführt haben.

7.2 Strukturen transnationaler Rechtsstaatlichkeit

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die die Einzelordnungen und deren Gesamtgefüge verfolgen und gemäß der universalistischen Theorie legitimer Herrschaft verfolgen können und sollen. Diese Zurückweisung des Paradoxes hängt, wie gezeigt, davon ab, dass es eine universelle Struktur gibt, die grundsätzlich jeden befähigt, an einer Ordnung und deren Ermöglichung der positiven Ausübung von Freiheit teilzuhaben und Maßnahmen zu initiieren, die beherrschende Effekte oder Strukturen beheben. Es muss folglich als „Schlussstein“ des globalen Konstitutionalismus festgehalten werden, dass das Bestehen einer Pluralität von Ordnungen nie Selbstzweck sein kann, sondern immer mit Blick auf die universalistisch begründeten Bedingungen für nicht-beherrschende Herrschaft rechtfertigbar sein muss. Dies heißt v.a., dass keine Ordnung ihre Erhaltungsbedingungen anführen darf, um beherrschendes Wirken nach innen oder nach außen zu begründen. Wenn ein Wandel bei den Ordnungen notwendig ist, um deren beherrschenden Effekten und Akten entgegenzuwirken, dann kommt diesem Wandel immer Vorrang gegenüber der Bewahrung des status quo zu, auch wenn dies weitere „Stabilisierungskosten“ für das Netzwerk als ganzes aufwirft, unter die etwa auch die Maßnahmen bzw. Ersatzleistungen fallen, die als vierte Kategorie von Grundrechten im Kapitel 7.2.3 festgeschrieben wurden. Daneben ist auch eine Situation denkbar, in der es entweder zur Notwendigkeit kommt, den Erhalt der Pluralität gegen negative Absicherungen von Freiheit oder Befähigungsleistungen abzuwägen, oder die Aufgabenerfüllung der globalen Einrichtungen derart viele Ressourcen erfordert, dass die Spielräume aller oder der überwiegenden Mehrheit für die positive Ausübung von Freiheit gravierend eingeschränkt werden. Auch für diese Situationen gilt, dass wenn die Anstrengungen, die Pluralität und ihren nicht-beherrschenden Charakter zu gewährleisten, in Widerspruch zueinander treten, die Pluralität notfalls zugunsten der formalen und allgemeinen Bedingungen für Nicht-Beherrschung revidiert oder gar reduziert werden muss. Schließlich kann eine Situation bestehen (und dies greift eine Dimension des ersten Grundes für Wandel auf, die das Prinzip der Nicht-Beherrschung nicht schon im globalen Gefüge vor-

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7. Transnationale Demokratie

sieht), in der die Auffassung zum Ausdruck gebracht wird, dass der aktuelle Zustand des Netzwerkes und d.h. dessen Einzelordnungen dysfunktional oder freiheitsverhindernd sind. In diesem Fall würde die universelle Rechtfertigung für das Netzwerk hinsichtlich der formalen, prozeduralen und institutionellen Garantien für Nicht-Beherrschung gelingen und dennoch der Sinn und Zweck dieses Netzwerks bezweifelt. Wenn solche Situationen weder einfach als Artikulation von Interessen an beherrschenden Strukturen verstanden, noch in ihrem Destabilisierungspotential unterschätzt werden sollen, dann muss es ein globales Forum geben, in dem sie aufgefangen werden können. Einem solchen Forum kann keine legislative Kompetenz hinsichtlich der Gestaltung des globalen Gefüges zugeschrieben werden. Aber es muss Formen annehmen, die bei Vorliegen von nicht-beherrschenden Dysfunktionalitäten und Freiheitseinschränkungen die Erzeugung von hinreichender „kommunikativer Macht“ erlauben, um diejenigen von der Notwendigkeit eines Wandelns zu „überzeugen“, die trotz der Dysfunktionalitäten und Einschränkungen an der Pluralität von Ordnungen festhalten. Den globalen Einrichtungen kommt dementsprechend auch die Aufgabe zu, Momente globaler Öffentlichkeit zu unterstützen und die eigenen Tätigkeiten bzw. den Zustand und die Schwächen des Netzwerks im Licht des Prinzips der Nicht-Beherrschung und seiner freiheitstheoretischen Prämissen öffentlich zu reflektieren. Gemeinsam mit den Bedingungen, die Wandel zur Behebung von beherrschenden Effekten und Strukturen herbeiführen, bildet die Existenz einer globalen Öffentlichkeit einen wesentlichen Grund, die Reflexivität des gesamten Netzwerks zu gewährleisten.

7.3 Transnationale Demokratie und republikanische Theorie legitimer Herrschaft Die Ausführungen im ersten Teil dieses Buches haben dargelegt, dass sich eine Theorie legitimer Herrschaft nur auf der Basis freiheitstheoretischer Argumente begründen lässt, da allein solche Argumente Grundlagen bieten, die normativ überzeugen und die spezifischen Herausforderungen von Herrschaftsverhältnissen be-

7.3 Transnationale Demokratie und legitime Herrschaft

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rücksichtigen. Die Explikation und Interpretation der freiheitstheoretischen Grundlagen führt zu einer rechtsstaatlichen Demokratie, deren Kern das Prinzip der Nicht-Beherrschung ist. Diese Demokratie erlaubt die Konzeption von Verfahren und Strukturen, in denen und durch die Freiheit positiv ausgeübt und negativ abgesichert wird und die legitim sind, wenn alle von ihnen Betroffenen zur Teilhabe an ihnen befähigt sind, werden und bleiben. Der zweite Teil dieses Buches hat gezeigt, dass die freiheitstheoretischen Grundlagen auch für eine Theorie legitimer Herrschaft zwischen den rechtsstaatlich-demokratischen Ordnungen oder jenseits von ihnen gelten. Vor dem Hintergrund einer Pluralität von Ordnungen folgt aber ein republikanisches Subsidiaritätsprinzip aus dem Prinzip der Nicht-Beherrschung, was zu signifikanten Unterschieden in den Verfahren und Strukturen innerhalb und jenseits der Ordnungen führt. Unter dem Titel einer transnationalen Demokratie konnte so schließlich die Vorstellung einer Heterarchie asymmetrischer Ordnungen entwickelt werden, die in der Form eines globalen Netzwerks zu einem umfassenden Gefüge legitimer Herrschaft wird. Die Zusammenfassung des Argumentationsganges dieses Buches mag so klingen, als handle es sich bei der Ausarbeitung der Konzeptionen der rechtsstaatlichen Demokratie und der transnationalen Demokratie um die Anwendung allgemeiner legitimitätstheoretischer Grundlagen auf zwei Anwendungsgebiete, nämlich die philosophische Staatstheorie und die Philosophie der internationalen Beziehungen. Ein solcher Eindruck verfehlt allerdings zwei zentrale Einsichten der Argumentation: Erstens lässt sich die Theorie legitimer Herrschaft nicht in eine Theorie der Legitimität und eine Theorie von Herrschaft aufspalten. Die Legitimitätsbedingungen können nur überzeugen, wenn sie auf Verfahren und Strukturen der Herrschaftsausübung intrinsisch bezogen sind und dementsprechend von den Verfahren und Strukturen notwendig und nicht-willkürlich realisiert werden. Ohne diesen engen Konnex bleiben sowohl die Legitimität von Herrschaft wie auch das Verhältnis von Herrschaft zu Legitimität unterbestimmt. Zweitens präsentiert keine der beiden Konzeptionen als solche eine Theorie legitimer Herrschaft. Die Konzeption der rechtsstaatlichen Demo-

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7. Transnationale Demokratie

kratie allein genügt den Anforderungen an das Prinzip der NichtBeherrschung nicht, weil sie dem Universalismus desselben aufgrund der Grenzen hinsichtlich der beherrschenden Effekte von Herrschaftsausübung auf Dritte nicht vollständig gerecht zu werden vermag. Und die Konzeption globaler Einrichtungen, die beherrschende Effekte beheben, Freiheit negativ sichern und global alle zur Teilhabe an Verfahren und Strukturen befähigen, verhält sich nur negativ zu den Bedingungen für die legitime positive Ausübung von Freiheit. Die Theorie legitimer Herrschaft ist also nur vollständig, wenn sie eine Theorie der transnationalen Demokratie ist, die expliziert, dass es eine Pluralität von Einzelordnungen geben sollte, wie diese intern verfasst sein müssen und welches die Aufgaben globaler Einrichtungen sind. Diese drei Bestandteile ergänzen einander und ergeben erst zusammen die Bedingungen, unter denen Herrschaftsausübung notwendig, möglich und legitim ist. Es war daher auch richtig, in diesem letzten Kapitel von transnationaler Demokratie zu reden, obwohl im Unterschied zu vielen weltstaatlichen Ansätzen, mit denen die vorliegende Theorie zweifelsohne verwandt ist, gerade bestritten wird, dass einer globalen Legislative, wenn sie überhaupt zulässig ist, eine zentrale Rolle zukommen sollte. Die globale Ordnung ist eine Rechtsordnung und zwar eine Rechtsordnung, die auf das Interesse aller Handelnder an der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit zurückgeht. Es ist jedoch eine Rechtsordnung, die vom Status her weder von parlamentarischer Deliberation, noch von moralischer Einsicht abhängt, sondern sich vielmehr als transzendentale Bedingung für das legitime Verfolgen der Interessen der Handelnden ergibt. Entgegen der Genese des geltenden Völkerrechts aus bi- und multilateralen intergouvernementalen Abkommen und Verträgen sind die Individuen als solche mit ihren Interessen an der positiven Ausübung und negativen Absicherung von Freiheit als Quelle der Rechtsgeltung zu identifizieren, und es mag politisch nahe liegen, dies durch die Forderung nach einer „parlamentarischen Weltversammlung“ mit Repräsentanten zu unterstreichen, die von global allen Individuen direkt gewählt werden. Systematisch muss dies aber als Kategorienfehler betrachtet werden, da die Rechts-

7.3 Transnationale Demokratie und legitime Herrschaft

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ordnung, die auf der Grundlage des Republikanismus der NichtBeherrschung notwendig ist, als Verfassungsordnung zu verstehen ist, die Verfahren und Strukturen der Gesetzgebung und Herrschaftsausübung zu Grunde liegt, und nicht als Resultat legislativer Entscheidungen, die nur legitim sein können, wenn die Geltung einer Verfassung bereits vorausgesetzt wird. Solchen legislativen Prozessen legt die globale Verfassungsordnung aber gerade aufgrund ihres Beherrschungspotentials signifikante Grenzen bzw. Beweislasten auf. Die Rede von der Demokratie ist dennoch richtig, da die Beschränkung der globalen Einrichtungen auf Kontrollfunktionen und Befähigungsleistungen, die hier begründet wurde, nicht nachzuvollziehen wäre, wenn sie nicht dem Zweck dienen würde, die demokratische Bestimmung von Herrschaft in unterschiedlichen (Arten von) Ordnungen zu ermöglichen. Dabei hat die „Ermöglichung“ die zwei Dimensionen, die Teilhabe global aller an der demokratischen Bestimmung von Herrschaft zu gewährleisten und zu garantieren, dass nicht willkürlich in diese Bestimmung eingegriffen bzw. sie willkürlich verhindert wird. Somit ist davon auszugehen, dass letztlich die Welt insgesamt demokratisch oder „demoi-kratisch“ (Bohman 2007: 12) gestaltet ist, ohne dass dies erfordern würde, dass alle an demselben legislativen Verfahren teilhaben und mit Hilfe derselben Institutionen Freiheit positiv ausüben oder negativ absichern. Was kann der Republikanismus der Nicht-Beherrschung mit seiner Vorstellung einer transnationalen Demokratie zur Einschätzung und Bewertung der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen, die zu Beginn des Buches angeführt wurden, und eventuell sogar zur praktischen Orientierung in ihnen beitragen? Die transnationale Demokratie ist kein reines Ideal, das jeden Bezug auf Gegebenheiten leugnet. Sie ist vielmehr, wie jeder ernstzunehmende Ansatz in der politischen Philosophie, in unterschiedlichen Dimensionen mit dem historischen Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches verbunden und untersucht die Gegebenheiten zu diesem Zeitpunkt in normativer Perspektive. Dies belegen die Verweise auf die Globalisierung, die Bedeutung faktischer Interessen von Handelnden oder auch die Liste der Arten von Ordnungen, die in

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7. Transnationale Demokratie

ein globales Gefüge zu integrieren sind. Die transnationale Demokratie ist aber nicht primär ein Rekonstruktionsangebot, das suggerieren sollte, dass die Entwicklungen schon auf dem richtigen Weg sind und nur noch eines Aktes „selbstbewusster Aneignung“ bedürfen. Dagegen spricht u.a., dass vielen der Forderungen, die im Lauf der Argumentation erhoben wurden, (noch) nichts in den gegebenen Verhältnissen entspricht und auch nicht zu sehen ist, wie bestehende Staaten, Konzerne, internationale Organisationen, globale Einrichtungen etc. dahin ohne einen fundamentalen Wandel kommen könnten. Ein wesentlicher praktischer Wert des vorliegenden Buches besteht darin, dass Felder und Strukturen identifiziert werden, die entscheidender für die Legitimität von Herrschaft sind als andere, und dass einige Fehlorientierungen von politischen und theoretischen Positionen aufgezeigt werden, die sich als Vorkämpfer globaler Gerechtigkeit oder kosmopolitaner Demokratie verstehen. Vor diesem Hintergrund tragen der Republikanismus der NichtBeherrschung und die Konzeption der transnationalen Demokratie zur Klärung der normativen Grundlagen von Politik und historischer oder sozialwissenschaftlicher Forschung bei, die das Interesse an der Demokratie unter Bedingungen der Weltgesellschaft nicht aufgegeben hat und aufgeben will.

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Personenregister Acham, Karl 38 Agamben, Giorgio 126, 317 Akram, Munir 365 Allott, Philip 467 Altvater, Elmar 371 Anderson, Elizabeth S. 96, 144 Anderson, James 325 Ankersmit, Frank R. 37 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 477 Apel, Karl-Otto 147 Arato, Andrew 338 Archibugi, Daniele 325 Arendt, Hannah 98-107, 109, 111, 112, 114-116, 119, 139, 477 Aristoteles 25, 47, 52, 97, 100, 107113 Asbach, Olaf 276 Aubenque, Pierre 47 Backhouse, Roger E. 330 Badhwar, Neera K. 60 Bakker, Isabella 314 Balibar, Étienne 266 Banzhaf, Günter 72 Bassiouni, M. Cherif 352 Bauer, Lukas 343, 465 Bayertz, Kurt 25 Beck, Ulrich 316 Beitz, Charles R. 297, 380 Benhabib, Seyla 40, 102, 413, 479, 480 Benveniste, Émile 17 Berger, Peter L. 17, 208 Berlin, Isaiah 182, 189 Berman, Harold J. 32, 205 Bianchi, Andrea 347

Black, Jeremy 329 Bodin, Jean 123, 124, 153 Bohman, James 85, 145, 175, 198, 214, 343, 408, 420, 425, 477, 485 Boli, John 324 Boltanski, Luc 339 Bonacker, Thorsten 309-311 Bourdieu, Pierre 15, 243 Bowen-Moore, Patricia 100 Bradshaw, Leah 98 Brandt, Richard B. 54 Braudel, Fernand 314 Bröckling, Ulrich 30 Brodie, Janine 313 Brodocz, André 309-311 Brown, Chris 297, 303 Brown, Vivienne 182 Brunkhorst, Hauke 47, 89, 166, 272 Brunn, Gerhard 449 Buchanan, Allen 52, 63-65, 67, 68, 74, 86, 92, 469 Buckel, Sonja 270, 328 Bull, Hedley 278 Carter, Ian 69, 74, 184 Cassese, Antonio 311, 352 Castoriadis, Cornelius 103 Chatterjee, Deen K. 325 Cheneval, Francis 275, 399 Cohen, Joshua 82, 83, 85, 87, 89, 430 Combothecra, Xenocrate Spiridon 145 Constant, Benjamin 212 Cornwall, John 330 Cox, Robert W. 308, 314, 315 Cronin, Ciaran 325 Czempiel, Ernst-Otto 294

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Personenregister

Dahl, Robert A. 17, 289 Dante Alighieri 32 Danto, Arthur C. 176 De Greiff, Pablo 325 Deitelhoff, Nicole 312 Deleuze, Gilles 21, 318 Demirović, Alex 103, 198, 314 DemoPunk 118 Dennert, Jürgen 123 Denninger, Erhard 40 Derrida, Jacques 92, 118, 449 Dewey, John 85, 151, 425 Diogenes von Sinope 206 Dreben, Burton 78 Dreyfus, Hubert L. 116 Dworkin, Ronald 74, 75, 141 Elster, Jon 334 Ely, John Hart 239 Engster, Daniel 124 Estlund, David 89, 90 Falk, Richard 469 Feher, Michael 265 Ferejohn, John 171, 195, 201-203, 206 Fidora, Alexander 128 Finkielkraut, Alain 116 Finley, Moses I. 107 Fischer-Lescano, Andreas 265, 328, 346-349 Flathman, Richard E. 105 Fligstein, Neil 330 Flügel, Oliver 118 Føllesdal, Andreas 389 Forst, Rainer 48, 75, 87, 146, 161, 303, 412 Foucault, Michel 29, 30, 116, 117, 281 Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie & Philosophie 41, 104 Fraser, Nancy 40, 78, 79 French, Peter A. 174 Friedman, Lawrence M. 157 Frost, Mervyn 371

Fung, Archon 244 Fustel de Coulanges, Numa Denis 107 Galtung, Johan 368 Garver, Eugene 110 Gates, William Henry 446 Gauchet, Marcel 115, 116, 142 Gellner, Ernest 329 Gerhardt, Volker 112 Germain, Randall D. 308 Gibney, Matthew J. 325 Giddens, Anthony 15 Gierke, Otto von 153 Gil, Stephen 314 Goldsmith, Jack L. 284, 334, 355, 356 Goodin, Robert E. 72 Gosepath, Stefan 28, 48, 49, 65, 71, 72, 75, 390, 401 Goyard-Fabre, Simone 292 Gramsci, Antonio 106, 306, 318 Grande, Edgar 316 Greven, Michael Th. 38 Grice, Geoffrey R. 54 Grotius, Hugo 276 Günther, Klaus 26, 175 Gutmann, Amy 83, 86 Guzman, Andrew T. 285 Guzzini, Stefano 283 Häberle, Peter 358 Habermas, Jürgen 32, 37, 47, 79-81, 83, 89, 97, 106, 137, 146, 176, 208, 237, 255-257, 288, 353, 362, 406, 412 Hamilton, Alexander 164, 249 Hampton, Jean 128 Hardt, Michael 119, 265, 317, 318 Hay, Peter 245 Hayek, Friedrich August von 74 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 143, 431 Heidegger, Martin 99, 101, 116 Heinßen, Johannes 37

Personenregister Held, David 165, 324, 338, 363, 369, 392, 393, 396, 397, 399, 449 Hetzel, Andreas 104 Hinsch, Wilfried 51, 56 Hippler, Jochen 280 Hirsch, Joachim 319 Hobbes, Thomas 12, 21, 69, 123, 124, 153, 277-280, 282, 284, 286 Höffe, Otfried 47, 48, 97, 298, 299, 303, 372, 381, 393-396, 399 Holmes, Stephen 239 Holzer, Boris 339 Honig, Bonnie 156, 157, 413 Honneth, Axel 47, 76, 295, 431 Horn, Christoph 47, 375, 377, 381 Houellebecq, Michel 265 Jansson, Maija 242 Jay, John 164, 249 Joas, Hans 175 Johnston, Douglas M. 365 Kaldor, Mary 328 Kant, Immanuel 12, 18, 21, 22, 25, 48, 69, 79, 97, 100, 101, 128, 129, 134-140, 143, 144, 151, 157, 159, 162, 172-174, 177, 188, 206-208, 210, 274-276, 278, 284, 372, 398, 399 Kantorowicz, Ernst H. 36, 115 Kelsen, Hans 125, 137 Kenny, Michael 308 Keohane, Robert O. 64, 280, 281, 363, 469 Kersting, Wolfgang 50, 51, 56, 364 Kielmansegg, Peter Graf 33 Kohler, Georg 372 Köhler, Michael 48 Kramer, Larry D. 248 Krasmann, Susanne 30 Krasner, Stephen D. 152 Kraut, Richard 110 Krebs, Angelika 76, 96 Kriegel, Blandine 40, 93 Kritik & Praxis Berlin 118 Kukathas, Chandran 71

521

Kuper, Andrew 59 Kurz, Hanns 138, 153, 155 Lachmayer, Konrad 434, 465 Laclau, Ernesto 104, 306, 307, 308 Ladeur, Karl-Heinz 430, 439, 440, 478 Lafont, Cristina 198 Lange, Stefan 24 Laski, Harold 153 Law, David 314 Lechner, Frank J. 324 Lefort, Claude 41, 115, 116, 155, 253 Lemke, Thomas 30 Livius 316 Locke, John 21, 69, 74, 210, 286 Lohman, Georg 50, 310 Luckmann, Thomas 17, 208 Luhmann, Niklas 17, 27, 33, 154, 256, 347 Lutz-Bachmann, Matthias 47, 48, 138, 275, 399, 449 Lyons, David 54 Lyotard, Jean-Franςois 117 Macdonald, Ronald St. John 365 Machiavelli, Niccolò 171, 316 MacIntyre, Alasdair 53, 109, 112, 113, 114 Madison, James 164, 210, 249 Majone, Giandomenico 168 Manent, Pierre 116 Manin, Bernard 242 Mann, Michael 17 Marchart, Oliver 102-104, 307 Margulies, Joseph 155 Marschik, Axel 365 Marshall, John 238 Martí, José Luis 90 Marti, Urs 117 Marx, Karl 18, 118, 143 Maus, Ingeborg 139, 157, 162, 284, 288 Mayntz, Renate 24 McCarthy, Thomas 457 McGrew, Anthony 324, 338, 369

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Personenregister

Mearsheimer, John J. 283 Meier, Christian 107 Merkel, Reinhard 312 Merker, Barbara 469 Merle, Jean-Christophe 396 Mertens, Hans Joachim 347 Mill, John Stuart 69 Miller, David 56, 75, 87, 371, 427429, 431, 445 Mitropoulos, Angela 281 Möllers, Christoph 156, 243, 351 Montesquieu, Charles de Secondat 210 Moore, Margaret 428 Moravcsik, Andrew 168 Morris, Christopher W. 297 Mosley, Layna 331, 434 Mouffe, Chantal 106, 306 Müller, Anselm Winfried 111 Müller, Harald 311 Münkler, Herfried 281, 317, 318 Nagel, Thomas 69, 376 Narr, Wolf-Dieter 282 Negri, Antonio 21, 119, 265, 317, 318 Neilson, Brett 281 Neyer, Jürgen 430 Nozick, Robert 74 Nussbaum, Martha 76, 77, 96, 217, 218, 303, 434 Ober, Josiah 107 Ockham, Wilhelm von 32 Oeter, Stefan 282 O’Neill, John 329 O’Neill, Onora 50, 54 Orford, Anne 68 Parias, Louis-Henri 39 Peacock, Alan 330 Peffer, Rodney G. 73 Pehle, Heinrich 282 Pettit, Philip 71, 101, 171, 174, 175, 187, 191-195, 199, 201-203, 206, 208, 210, 212, 215-218, 221, 225, 228, 237, 242, 260, 361, 402

Pinochet, Augusto 469 Pitkin, Hanna Fenichel 17 Platon 47, 52, 130 Pocock, J.G.A. 171 Pogge, Thomas 50, 70, 71, 300-302 Polanyi, Karl 329 Posner, Eric A. 284, 334, 355, 356 Preuß, Ulrich K. 370 Prior, Pauline M. 331 Pufendorf, Samuel von 292 Pühl, Katharina 331 Rabinow, Paul 116 Ramsbotham, Oliver 294 Rancière, Jacques 18, 36, 89, 103, 121 Rawls, John 7, 21, 45, 49, 69-71, 73, 74, 78-81, 83, 86, 92, 146, 184, 213, 298, 380 Raz, Joseph 53 Rehfeld, Andrew 242 Reinhard, Wolfgang 40 Rensmann, Lars 98 Rese, Friederike 47, 111 Rhodes, Peter John 107 Rhodes, R. A. W. 465 Richardson, Henry S. 174 Robinson, William I. 314, 315 Rödel, Ulrich 335 Rogers, Paul 294 Rorty, Richard 176 Rosanvallon, Pierre 325 Rousseau, Jean-Jacques 21, 48, 85, 97, 128-134, 136-140, 143, 144, 151, 154, 159, 160, 162, 173, 185, 207, 210 Saage, Richard 162 Saar, Martin 118 Sabel, Charles 430 Saint-Pierre, Charles Irenée Castel Abbé de 276 Sartre, Jean-Paul 99, 116 Sassen, Saskia 324, 331, 341 Saussure, Ferdinand de 307 Scanlon, Thomas M. 77

Personenregister Scarano, Nico 47 Scharpf, Fritz W. 27 Scherrer, Christoph 308, 320 Schink, Philipp 18, 126, 229, 414, 475 Schmitt, Carl 117, 126, 153, 286 Schubert, Alexander 282 Schütz, Alfred 208 Schwan, Alexander 122 Scott, Craig 347 Searle, John R. 26, 176 Sen, Amartya 167, 218 Senghaas, Dieter 294 Setälä, Maija 78 Shah, Syed Haider 365 Shell, G. Richard 15 Sher, George 56, 60 Shklar, Judith N. 57 Shue, Henry 50, 54, 60, 66 Singer, Peter 55, 57, 59, 60 Skinner, Quentin 171, 187 Slaughter, Anne-Marie 347 Smith, Adam 329 Smith, Hazel 363 Spinoza, Baruch de 12, 21, 279, 280, 288, 318 Spruyt, Hendrik 281 Stein, Eric 353 Stiglitz, Joseph 331, 439 Sturm, Roland 282 Sunstein, Cass 210, 239, 258 Sykes, Robert 331 Tacitus 316 Tamir, Yael 428 Teubner, Gunther 346, 347, 350, 351, 446 Thévenot, Laurent 339 Thukydides 316

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Tomlinson, John 303 Tomuschat, Christian 365-367 Tuck, Richard 278 van Gelderen, Martin 171 van Mill, David 90 van Parijs, Philippe 184, 189, 201 Vattel, Émer de 125, 276 Vismann, Cornelia 310 Votsos, Theo 306 Wade, Robert Hunter 281 Wagner, Peter 325 Wai, Robert 347 Waltz, Kenneth N. 283 Walzer, Michael 75, 371, 469 Warren, Mark E. 408 Waschkuhn, Arno 37 Weber, Max 8, 16, 19, 20, 30-34, 115, 125, 199 Weiler, Joseph H. H. 359 Weinert, Matthew S. 123 Wellmer, Albrecht 77, 147 Wettstein, Howard K. 174 Wieland, Georg 47 Willaschek, Marcus 138 Williams, Bernard 50, 113 Williams, Michael C. 284 Willke, Helmut 347 Wittgenstein, Ludwig 26 Wolin, Sheldon S. 84 Young, Iris Marion 80, 145, 265, 297, 302, 337 Young, Mark A. 53 Zakaria, Fareed 68 Zolo, Danilo 368 Zumbansen, Peer 346, 350 Zurn, Christopher F. 239 Zürn, Michael 309, 329