Unter Piraten: Erkundungen in einer neuen politischen Arena [1. Aufl.] 9783839420713

Mit dem Erfolg bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin ist die Piratenpartei in Politik und Öffentlichkeit angekommen.

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Polecaj historie

Unter Piraten: Erkundungen in einer neuen politischen Arena [1. Aufl.]
 9783839420713

Table of contents :
Inhalt
Die Unwahrscheinlichkeit der Piratenpartei. Eine (ermunternde) Einleitung
ENTERN
Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen
Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur
Nerds. Computer. Piraten. Die kulturgeschichtliche Erklärung eines Syllogismus
Leidenschaft. Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen
Orange. Von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe?
ÄNDERN
Plattformneutralität – das politische Denken der Piraten
Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme
Commons und Piraten. Eine programmatische Schatzsuche
Barcamps als kommunikative Treffpunkte der Internetszene
Freibeuter im Netz – eine Netzpolitik ohne geistiges Eigentum?
Piratinnen – Fehlanzeige Gender?
NEUSTART
Beschleunigungsphänomen und demokratisches Experiment. Auf welche Problemlage reagieren die Piraten?
Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten
Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten?
Single Issue – Null Chance? Was verrät der Erfolg der Piratenpartei über die Perspektiven von Ein-Themen-Parteien im politischen System Deutschlands?
Die Piraten am Wahlomat. Programme und inhaltliche Standpunkte einer (relativ) neuen Partei
Den Laptop auch mal zuklappen. Zur Kritik der Distributionsmittel einer politischen Bewegung – eine skeptische Nachbetrachtung
Autorinnen und Autoren

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Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hg.) Unter Piraten

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Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hg.)

Unter Piraten Erkundungen in einer neuen politischen Arena

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-2071-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Christoph Bieber | 9 Die Unwahrscheinlichkeit der Piratenpartei. Eine (ermunternde) Einleitung

E NTERN Leonhard Dobusch und Kirsten Gollatz | 25 Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen Alexander Hensel | 41 Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur Mathias Mertens | 53 Nerds. Computer. Piraten. Die kulturgeschichtliche Erklärung eines Syllogismus Lawrence Lessig | 67 Leidenschaft. Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen Claudio Gallio | 81 Orange. Von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe?

Ä NDERN Michael Seemann | 91 Plattformneutralität – das politische Denken der Piraten Frieder Vogelmann | 101 Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme Daniel Constein und Silke Helfrich | 113 Commons und Piraten. Eine programmatische Schatzsuche Kai-Uwe Hellmann | 127 Barcamps als kommunikative Treffpunkte der Internetszene Dirk von Gehlen | 137 Freibeuter im Netz – eine Netzpolitik ohne geistiges Eigentum? Jasmin Siri und Paula-Irene Villa | 145 Piratinnen – Fehlanzeige Gender?

N EUSTART Jörn Lamla und Hartmut Rosa | 175 Beschleunigungsphänomen und demokratisches Experiment. Auf welche Problemlage reagieren die Piraten? Sigrid Baringhorst und Mundo Yang | 187 Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten Karl-Rudolf Korte | 199 Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten? Stefan Marschall | 211 Single Issue – Null Chance? Was verrät der Erfolg der Piratenpartei über die Perspektiven von Ein-Themen-Parteien im politischen System Deutschlands?

Thorsten Faas und Marc Debus | 223 Die Piraten am Wahlomat. Programme und inhaltliche Standpunkte einer (relativ) neuen Partei Claus Leggewie | 233 Den Laptop auch mal zuklappen. Zur Kritik der Distributionsmittel einer politischen Bewegung – eine skeptische Nachbetrachtung

Autorinnen und Autoren | 241

Die Unwahrscheinlichkeit der Piratenpartei Eine (ermunternde) Einleitung Christoph Bieber

Seit der formalen Gründung am 10. September 2006 sind noch keine sechs Jahre vergangen – inzwischen sitzen Vertreter dieser Gruppierung in zwei Länderparlamenten, 153 »Kommunalpiraten« verteilen sich auf zahlreiche Stadt-, Gemeinde- oder Bezirksvertretungen und in den Meinungsumfragen notiert die Partei bei der virtuellen Sonntagsfrage inzwischen durchgängig oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde. Noch deutlich beschleunigter stellt sich die Entwicklung mit Blick auf den zweiten, eigentlichen »Gründungsprozess« der Piratenpartei im Frühjahr 2009 dar. Mit der Debatte um das »Zugangserschwerungsgesetz« und mit der versuchten Einrichtung sogenannter »Internetsperren« und der Zensursula-Kampagne als Katalysator setzte ein explosionsartiges Mitgliederwachstum ein, die Europa- und Bundestagswahlen lieferten erste Achtungserfolge. Weit wichtiger noch als die Erfolge an der Urne – die mit Werten um zwei Prozent nicht übermäßig eindrucksvoll ausgefallen waren – erscheint jedoch die Organisationsentwicklung »hinter« den Wahlergebnissen und vor allem einer immer hitziger werdenden öffentlichen Debatte. Während im Wahljahr 2009 noch eher ratlos-besorgte oder hämische Fragen dominierten (»Wer sind die Piraten eigentlich und was wollen sie?«), so schlagen die rhetorischen Wellen im Frühjahr 2012 ungleich höher: Nach dem überraschenden Parlamentseinzug im Saarland am 25. März reichen die veröffentlichten Zuschreibungen von »Tyrannei der Masse« bis »Geschenk für den Parlamentarismus«. Die semantische Reifung der Kommentare ist bemerkenswert, sie deutet nämlich an, dass die Piratenpartei inzwischen auch als politisches Phänomen wahrgenommen wird. Zuvor dominierten vor allem nautische Metaphern die mediale Verarbeitung – »Kaperfahrten«, »Beutezüge« etc. – natürlich nutzen aber auch die Piraten eine Verankerung in einer scheinbar politikfernen, mindestens aber ambivalenten Symbolwelt, um sich als Eindringlinge in ein bestehendes System zu markieren. Wichtiger ist: Durch die Mehrdeutigkeit des »Enterns« lässt sich zugleich eine Verbindung zum zweiten wichtigen Verweis-

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system für die Verortung der Partei herstellen – die »Enter«-Taste auf dem Computer wird zum Abschluss verschiedener Eingaben verwendet, die dann einen bestimmten Prozessablauf auslösen. Aus dieser Perspektive liest sich der Weg durch die Länderparlamente eher wie eine Art längerfristig angelegte Befehlseingabe, ein würdiger Abschluss dieser »politischen Programmiertätigkeit« wäre dann der Einzug in den Bundestag (spätestens) im Jahr 2013. Mittels einer weiteren kleinen Verschiebung hat die Piratenpartei auch ihren zentralen Slogan entwickelt: »Klarmachen zum Ändern« wird nicht nur in den diversen Wahlkampagnen verwendet, er überschreibt auch die Partei-Homepage, auf der durch verschiedene Elemente und Signale ebenfalls der dreifache Verweisraum »Seefahrt«, »Computer« und »Politik« aufgespannt wird. Besonders interessant erscheint dabei der Begriff des »Änderns« mit Blick auf den zeitlichen Entstehungskontext: Bereits im hessischen Landtagswahlkampf 2008, dem ersten (mit 6962 Stimmen bzw. 0,3 Prozent wenig erfolgreichen) Auftritt der Piraten auf der politischen Bühne, hieß es »Klarmachen zum Ändern«. Im November des gleichen Jahres führte die beinahe zwei Jahre andauernde »Change«-Kampagne Barack Obama bis in das Weiße Haus, auch hier spielte das Internet eine zentrale Rolle bei der Vermittlung programmatischer Inhalte und der organisatorischen Umsetzung eines »Mitmach-Wahlkampfs« (Bieber 2010). Es wird klar, dass die Piraten Teil einer Bewegung von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie sind, die sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auf den Straßen und im Netz herausbildete. Die Entwicklung der Piratenpartei vollzieht sich in einem kreativen Dialog zwischen der Nutzung neuer Formate der Online-Kommunikation, der Ausbreitung des Internets zum Massen- und Alltagsmedium sowie einem eher diffusen, aber drängender gewordenen Wunsch nach Veränderung. Die Rückbindung politischer Erneuerungsansätze an die Computer- bzw. Internetkultur ist dabei keineswegs eine deutsche Besonderheit, bereits vor der Präsidentschaftswahl 2008 war die einschlägige Textsammlung Rebooting America. Ideas for Redesigning American Democracy for the Internet Age erschienen, die eine Vielzahl von Themen und Autoren versammelt hatte und einen »Neustart der amerikanischen Demokratie« gefordert hatte. Auch hier formierte sich eine technikaffine Gruppe und entwickelte Ideen und Ansätze für eine Modernisierung demokratischer Prozesse und Strukturen, allerdings in Gestalt eines losen Netzwerks von Aktivisten, Entwicklern und Wissenschaftlern, die sich in ihren jeweiligen beruflichen Kontexten mit den gesellschaftlichen Auswirkungen internetbasierter Kommunikation auseinandergesetzt hatten. Abseits der parteipolitisch und vor allem personell gebundenen Aktivität unter dem »Change«-Signet der »Obama for America«-Kampagne war eine Akteurskonstellation entstanden, die noch immer Einfluss auf die Modernisierung der Politik ausübt – allerdings längst nicht mehr nur im Sinne einer wohlwollenden Unterstützung für den Präsidenten, sondern oft mit einem kritischen Impetus, der sich zunehmend

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gegen einen ausbleibenden »Reboot« wendet – der Neustart eines deutlich veränderten politischen Systems ist ausgeblieben. Nach dem weitgehend verpufften »Obama-Effekt« des Jahres 2008 lassen sich weltweit zahlreiche weitere Episoden erzählen, die sich mit dem Begriffspaar Entern/Ändern beschreiben lassen: die WikiLeaks-Enthüllungen oder die Anonymus-Attacken passen in dieses Raster, aber auch das Aufkommen der Tea Party oder die vielgestaltigen Occupy-Proteste. Auch dem »arabischen Frühling« werden ähnliche Tribute zugeschrieben, doch ist es hier ebenso wenig zu echten »Neustarts« politischer Systeme gekommen wie im Feld der beiden vorgenannten Protestbewegungen.

I NHALT UND F ORM ? Insofern ist auch die Piratenpartei zunächst einmal als ein Phänomen des »Aufbruchs« zu verstehen, das etwas Neu- und Andersartiges in die Politik hineinträgt. Von einer tatsächlichen Innovation zu sprechen wäre wohl etwas verfrüht, allerdings erscheint der deutsche Sonderfall tatsächlich mit der »Parteihaftigkeit« der Piraten verbunden. Schließlich haben in vielen Ländern ähnliche Kontexte und Szenarien zur Gründung von Piratenparteien geführt, das Verdienst der »Markteinführung« gebührt dabei der schwedischen Piratpartiet. Doch während dort auf den Höhenflug ein ebenso plötzlicher Absturz erfolgt ist und in vielen anderen Ländern die Piraten im Status der Kleinstparteien verharren, scheint allein in Deutschland ein kontinuierliches Wachstum von Organisationsstruktur und Wählernachfrage und damit ein langsames Einsickern in das Parteiensystem stattzufinden. Dabei erscheint gerade die Organisationsform der Partei als eine unwahrscheinliche Entwicklung – das Konzept der Mitgliederpartei gilt schon seit längerem als krisenbehaftet, sowohl in der Organisationswirklichkeit wie auch in der politikwissenschaftlichen Forschung dominiert seit einigen Jahren die Perspektive auf die verschiedenen Mangelerscheinungen: Mitgliederschwund, Überalterung, schwindende Beteiligungsmöglichkeiten, mangelnde Problemlösungskompetenz, Verfall gesellschaftlicher Anerkennung (Leggewie 2012). Darüber hinaus zeichnet sich die Debatte über die »Wirkungen« des Internets auf die Politik vor allem durch die Vermutung aus, dass Beschleunigung, Unordnung und Übersichtlichkeit des neuartigen Kommunikations- und Kulturraums eher zu einer »Zerfaserung« politischer Beteiligung und der Fragmentierung politischer Öffentlichkeit führt. Anders ausgedrückt: Wenn es so viele Möglichkeiten für eine kurzfristige, bequeme, niederschwellige Online-Beteiligung durch digitale Petitionen oder virtuelle Unterschriftensammlungen gibt, mit Bürgerhaushalten, Mediationsverfahren oder Open-Data-Anwendungen anspruchsvolle Partizipationsexperimente gemacht werden und sogar Formen

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virtuellen Ungehorsams bis hin zu grenzüberschreitenden Interventionen im Stile von Anonymus als etabliert gelten können, warum bürdet sich dann eine stetig wachsende Zahl von Menschen die Last der gesetzlich festgeschriebenen, bürokratisch eingebetteten Parteiarbeit auf? Und doch liegt ein maßgeblicher Grund für den Erfolg der Piraten in Deutschland gerade in der Wahl der Organisationsform – denn ähnlich wie im Fall der Obama-Kandidatur, aber auch bei den US-spezifischen Entwicklungen der Tea Party Patriots oder der Occupy-Bewegung – spielt weniger die Besetzung neuer Themen oder gar das Angebot neuer inhaltlicher Lösungen die herausragende Rolle. Der thematische Fokus auf das Feld der Netzpolitik hat vielleicht in der zweiten Gründungsphase der Partei im Jahr 2009 eine Rolle gespielt – allerdings weniger aus einer intrinsischen Motivation heraus, denn als Reaktion auf einen defizitären Prozess der Politikformulierung mit gefühlt radikalen Folgen für die digitale Lebenswelt. Der Versuch einer Einführung von Internetsperren hat zunächst einmal »nur« zu einer Politisierung geführt, die sich in der unmittelbaren zeitlichen Nähe zwischen Europa- und Bundestagswahl günstig für die Piratenpartei als neuartiger »Power Container« ausgewirkt hat, gerade weil die Bundestagsparteien ein breites Unverständnis sowohl für die inhaltliche Dimension wie auch die gesellschaftspolitische Tragweite des Gesetzesvorschlags an den Tag gelegt hatten. Die Zensursula-Kampagne löste dabei einen ganz ähnlichen Schlüsselreiz aus wie in der Folge die US-amerikanischen Proteste gegen den Stop Online Piracy Act (SOPA) oder die europaweiten Demonstrationen gegen das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA). Durch diesen spezifischen Entstehungskontext steht in Deutschland mit der Piratenpartei nun ein geeigneter »Auffangbehälter« für ein derart motiviertes politisches Vertretungsinteresse bereit, doch mit Blick auf den weiteren Werdegang zeigt sich, dass die These von der Ein-Themen-Partei eine verkürzte oder nur für einen bestimmten Zeitraum gültige Sichtweise bietet. Sehr gut illustrieren lässt sich die relative Unwichtigkeit der Policy-Dimension entlang der Erfolge bei den Landtagswahlen in Berlin und dem Saarland – zwei Schauplätzen, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Auf der einen Seite der internetaffine Hauptstadtraum, in dem sich die bundespolitischen Akteure der »Netzpolitik« und ein großes Piratenlager drängen, auf der anderen ein kleiner Flächenstaat mit geringem Online-Interesse in der Bevölkerung und einem der kleinsten Landesverbände. Darüber hinaus war die Wahl in Berlin als Schlüsselwahl markiert worden, nachdem sich das Superwahljahr 2011 bis zum Herbst als eine längere »Ernüchterungsphase« mit stagnierenden Wahlergebnissen entpuppt hatte. Im Saarland dagegen blieben vom Bruch der Jamaika-Koalition am Dreikönigstag bis zur Neuwahl Ende März nur etwas mehr als zwei Monate für die Entwicklung eines Wahlprogramms, die Nominierung von Kandidaten sowie vor allem die Überwindung der formalen Hürden für die Zulassung zur Wahl. In beiden Fällen aber gelang der Piratenpartei der Sprung

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in die Länderparlamente, und dies mit »viel Luft« über der Fünf-Prozent-Hürde, an der so viele Eintagsparteien gescheitert sind. Insbesondere der Erfolg in Saarbrücken dokumentiert dabei die relative Unwichtigkeit eines scharfen programmatischen Profils – für viele Wähler lag der Schlüssel zur Wahlentscheidung eher in der Wahrnehmung der Piraten als ein Versprechen auf eine neue Form der Teilhabe am politischen Prozess. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich gerade der »Zwang zum Analogen«, der aus dem formalen Rahmen des Parteiengesetzes resultiert, für die Piratenpartei als außerordentlich hilfreich erwiesen hat – die Notwendigkeit zur Sammlung von Unterstützerüberschriften für Wahlvorschläge hat seit 2009 als eine willkommene Ergänzung zur ohnehin starken Online-Präsenz gewirkt. Schon vor dem Beginn des klassischen Straßenwahlkampfs muss sich die Partei mit den herkömmlichen Mitteln der Bürgeransprache auseinandersetzen, um überhaupt formal in den Parteienwettbewerb eingreifen zu können. Dieses Wechselspiel zwischen digitaler und analoger Kommunikation und Organisation lässt sich auch an anderen Stellen beobachten, die vergleichsweise langsam in den Fokus der Öffentlichkeit geraten: Neben dem gerne als »exotisch« bezeichneten, aber gerade strukturell lebenswichtigen Offline-Wahlkampf liefern auch die Mitgliederversammlungen regelmäßig Zeugnisse für eine Beteiligungskultur, die nicht nur digitale, sondern auch analoge »Andersartigkeit« ausdrückt. So war der Offenbacher Bundesparteitag vom Dezember 2012 nicht allein durch die Unmengen aufgeklappter Notebooks (und kleineren Displays) gekennzeichnet, sondern auch durch lange Schlangen an den Saalmikrofonen oder die Verschränkung von Abläufen zwischen digitalem und realem Raum, was eher an ein übergroßes Barcamp als an einen Parteitag erinnerte. Die im Rahmen solcher Zusammenkünfte sichtbare Zugangs- und Ergebnisoffenheit der Kommunikations- und Organisationsprozesse verweist auf das mehrschichtige Innovationspotential, das sich im Entstehungsprozess der Piratenpartei zeigt. Während aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive zunächst die inhaltlichen Aspekte der Netzpolitik als »Politikfeld in Gründung« ein wesentliches Charaktermerkmal der Piratenpartei darzustellen schienen, so verschiebt sich dieser Fokus mit jeder Wahl ein wenig mehr in Richtung der Prozessdimension: Nicht so sehr die inhaltliche Auseinandersetzung mit Fragen digitaler Bürgerrechte, Netzneutralität oder der Modernisierung des Urheberrechts konturieren den Markenkern der Partei, sondern eher Arrangement und Stil der innerparteilichen Meinungs- und Willensbildung, bis hin zur Vermittlung gegenüber den Medien und den Import in das politische Institutionensystem.

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L IQUID D EMOCR ACY An der Schnittfläche von Substanz- und Prozessdimension stehen schließlich die spezifischen Verkörperungen des Innovationsansatzes, der aus der internetbasierten Entwicklungsgeschichte der Piratenpartei resultiert: Es sind die vielfältigen Kommunikationstechniken und Plattformen, die zum kommunikativen Alltag einer klassischen politischen Organisationsstruktur geworden sind. Anders als die etablierten Parteien hat die Piratenpartei dabei nicht das Problem, Techniken und Stile der Online-Kommunikation in eine nur bedingt internetaffine Organisationskultur integrieren zu müssen. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Für viele – wenngleich längst nicht für alle – Parteimitglieder ist die Nutzung des Internets zu einem festen Bestandteil von Alltag und Lebenswelt geworden, vor diesem Hintergrund entwickelt sich gerade die spezifische Kultur der innerparteilichen Kommunikation. Am deutlichsten sichtbar sind die Unterschiede beim Blick auf den Einsatz von Blogs, Chat-Umgebungen, kollektiven Texteditoren oder den technologischen Realisierungen von »Liquid Feedback« als Werkzeug einer innerparteilichen Meinungs- und Willensbildung. Es ist kein Zufall, dass gerade an dieser Stelle seitens der etablierten Parteien erste Lerneffekte zu beobachten sind: individuell durch einzelne Politiker, die neue Kommunikationstechniken entdecken, kollektiv durch einzelne Parteien oder Gremien, die innerhalb konkreter Verfahren mit »Liquid Democracy«-Plattformen experimentieren. Bis auf weiteres dürften jedoch die internen Meinungsbildungsprozesse der Piratenpartei die wesentliche Testumgebung für eine softwarebasierte Unterstützung demokratischer Entscheidungsfindung sein. An dieser Stelle zeigt sich ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des deutschen Phänomens, das eng mit der Form der Partei verbunden ist – gerade weil Parteien die dominierenden Akteure im politischen System der BRD sind, kommt der Qualität der innerparteilichen Demokratie eine große Bedeutung zu. Insofern ist es konsequent, dass der Modernisierungsansatz die Verfahren einer »Liquid Democracy« als technologieorientierte Umsetzung des abstrakten Konzepts der »deliberativen Demokratie« (vgl. Habermas 1992/Macedo 1999/Fishkin 2009) als Kernelement identifiziert und als Kritik an »klassisch-repräsentativen« Verfahren positioniert. Technologische Umsetzungen stellen dabei den themenorientierten Zugang in den Vordergrund und ermöglichen eine offene, sachorientierte Diskussion, in deren Verlauf sich die Teilnehmer argumentierend und gestaltend einbringen können. Zur Disposition steht dabei auch die Einschätzung eigener Expertise im Verhältnis zum jeweils verhandelten Gegenstand: Wer sich selbst für nicht ausreichend informiert (oder voreingenommen) hält, kann prinzipiell das Stimmrecht auf andere Personen übertragen, die über eine höhere Sachkompetenz (oder eine neutrale Position) zu verfügen scheinen. Auf der Prozessebene wirkt diese Integration von Ansätzen eines »Delegate Voting« als

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wichtige Innovation, da hierdurch eine Gegenposition zu den üblichen Strukturbildungen innerhalb von Parteiorganisationen bezogen wird, die auf die pauschale Übertragung von Verantwortung innerhalb eines fixierten und hierarchischen Delegiertensystems zielen: Die Basis bestimmt in einem mehrstufigen Prozess Entscheidungsakteure, die über Bezirksversammlungen, Landes- und Bundesparteitage organisiert sind und an deren Spitze der Vorstand als Parteielite thront. Bei einer flächendeckenden Anwendung des Modells und der Verfahren von »Liquid Democracy« könnte tatsächlich für eine breitere Beteiligung der Parteibasis an Entscheidungsvorgängen gesorgt werden. Allerdings sagt die flexible Einbindung einer größeren Zahl von Teilnehmern noch nichts über die Qualität von Entscheidungen aus – denkbar sind schließlich auch »flüssige Hierarchisierungen«, etwa wenn sich über einen längeren Zeitraum besonders vertrauenswürdige Personen zu »Super-Delegierten« mit besonderem Stimmgewicht entwickeln. In der Zeit bis zur kommenden Bundestagswahl liefert die Piratenpartei mit der Entwicklung programmatischer Positionen, der Klärung von Standpunkten in tagespolitischen Debatten, aber auch mit den Prozessen der Kandidatenselektion eine Vielzahl von Experimenten, die hier erste Hinweise liefern können. Die Herausforderung ist keine geringe: Als »Gegenüber« dieses Modernisierungsprozesses erscheinen jedoch jene von Robert Michels beobachteten »Tendenzen des Gruppenlebens«, die als »ehernes Gesetz der Oligarchie« bezeichnet werden.

D AS A NDERE UND DAS N EUE IN DER P OLITIK Jenseits der Bezugnahmen auf das Politikfeld Netzpolitik als »inhaltlichen Markenkern« einer inzwischen durchlaufenen »Start-Up«-Phase der Piratenpartei und diffusen, jedoch zu kurz greifenden Proteststimmungen angesichts einer latenten Parteien- und Politikerverdrossenheit betonen aktuelle Erklärungsversuche vor allem die »Andersartigkeit« der Gruppierung. So unscharf dieser Begriff auch sein mag, so zutreffend ist er gleich in mehreren Dimensionen: Parteimitglieder (Alter, politische und kommunikative Sozialisation), Wählerschaft (Jung- und Nichtwähler), Zusammenarbeit (Online-Kollaboration, »Liquid Democracy«), Themen und Werte (Transparenz, »Postprivacy«, »Postgender«). Vor allem entlang des häufig herangezogenen Vergleichs mit den Grünen wird die These der Andersartigkeit in einen politischen Kontext eingebettet: Gibt es ähnlich wie in den 1970er und 1980er Jahren eine breite gesellschaftliche Bewegung »hinter« einer politischen Avantgarde? Eine naheliegende Vermutung zielt hier auf das Internet als Kommunikations-, Interaktions- und Kulturraum (vgl. Helmers/Hoffmann/Hofmann 1998), der in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf verschiedenste Weise in den Bereich der Politik hineingewirkt hat. Im Vordergrund standen dabei meist »Oberflächeneffekte«, die in der Folge

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konkreter Anwendungen, Formate und Plattformen von politischen Akteuren adaptiert worden sind: virtuelle Parteienkommunikation, Online-Wahlkampf, Protest im Internet, E-Government und andere Elemente »digitaler Demokratisierung« (vgl. Leggewie/Maar 1998; Bieber 1999; Leggewie/Bieber 2003). Die möglicherweise weitaus wichtigeren Entwicklungen fanden dagegen im Verborgenen statt, gerade weil Computer vielen als »anders« markierten Menschen zunächst Rückzugs- und mit der aufkommenden Vernetzung schließlich Kommunikationsräume geboten haben. Die Rede ist hier von den »Nerds«, die mancherorts bereits als die kommende gesellschaftliche Produktivkraft oder gar Elite bezeichnet werden – eine kulturhistorische Perspektive, die sowohl über den Computer- wie auch den Politikbezug des Begriffs hinausgeht, fördert tatsächlich neue Perspektiven zum Verständnis eines »anderen Zugangs« zu gesellschaftlichen Problemen zutage. Dabei wird deutlich, dass gerade nicht eine spezifische »Computerfixierung« der Grund für ein neu gewecktes politisches Interesse ist, sondern vielmehr ein – für viele, nicht für alle – gemeinsamer sozialer Erfahrungsraum besteht, der als Resonanzboden für politisches Handeln fungiert. Neben den von der bisherigen Norm abweichenden Personal- und Prozessstrukturen hat die Piratenpartei auch einige andere thematische Akzente in die öffentliche Diskussion eingebracht – oder mindestens verstärkt: Es sind die Standpunkte zur Offenheit und Sichtbarkeit politischer Prozesse, die sich vor allem im Schlagwort der »Transparenz« verdichten, aber auch neue Positionen zum Umgang mit persönlichen Informationen und Privatheit sowie das gleich mehrfach aufgeladene Reizthema »Postgender«. Die zahlreichen Verweise auf die Abwesenheit von Lösungen für diese Debatten eignen sich jedoch kaum für eine Kritik – substanzielle Auseinandersetzungen mit derartigen Fragen befinden sich an etablierten Diskursorten (Parlament, Feuilleton, Salon, Talkshow, Stammtisch) erst noch im Anfangsstadium. An dieser Stelle ließe sich aus den als »anders« – und damit vorsichtig negativ – codierten Effekten auch ein eher positiv bewerteter Impuls des »Neuen« konstruieren. 1994 (als die ersten grafischen Benutzeroberflächen das World Wide Web erfahrbar machten) hatte der Autor des Nachwortes zu diesem Band notiert: »Skeptische Vorwärtsemphase ist das Signum der Moderne. Sie will das Überraschende und Niedagewesene und bringt es in einem Maß hervor, daß den Menschen gelegentlich angst und bange wird. […] Was das Neue ist, unterliegt jedoch selbst permanenter Infragestellung und ständiger Innovation« (Leggewie 1994: 4).

Die Qualität des Politischen besteht bereits darin, dass sich Menschen vor dem Hintergrund harter, gewachsener Sachzwänge und Pfadabhängigkeiten against all odds daran machen, gemeinsam etwas Neues zu wollen und einen Anfang

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machen (vgl. Arendt 1963). Die Piratenpartei markiert in dieser Perspektive auf eine ebenso konstruktive wie kontroverse Art und Weise eine Seitwärtsbewegung – digital ist nicht zwingend besser, aber auf jeden Fall anders. Passend mutet an dieser Stelle der Rückgriff auf ein schon etwas älteres Konzept politischer Kreativität an – John Dewey hat sich 1937 mit den Grundvoraussetzungen demokratischer Erneuerung auseinandergesetzt und dabei festgestellt, dass ein Grund für die Stagnation politischer Systeme vor allem das Verlassen auf althergebrachte Automatismen ist: »[A]s if our ancestors had succeeded in setting up a machine that solved the problem of perpetual motion in politics« (Dewey 1976: 225). Genau an dieser Stelle scheint aber das Entern/Ändern der Piraten anzusetzen – mit der Infragestellung gängiger Routinen des politischen Systems und dem Verweis auf eine mindestens theoretisch realisierbare Utopie digital motivierter Andersartigkeit. Angesichts des politischen Biedermeier der bundesrepublikanischen Gegenwart mag es kaum verwundern, dass zentrale gesellschaftspolitische Fragen der Digitalisierung gerade weit abseits der Piratenpartei diskutiert werden: das »gemeinschaftliche Alleinsein«, das die Psychologin Sherry Turkle in ihrer Studie Alone Together als Grundgefühl einer Generation von Heranwachsenden skizziert, lässt sich durchaus als Basisbefindlichkeit der Piraten verstehen (vgl. Turkle 2011). Douglas Rushkoff hat in seinem Manifest Program or be Programmed zehn Leitsätze formuliert, die einer »Bürgerrechtspartei der Informationsgesellschaft« gut zu Gesicht stünden. Die Humangeografen Rob Kitchin und Martin Dodge entwickeln in ihrer Untersuchung Code/Space ein Modell, mit dessen Hilfe sich die Bedeutung formalisierter Handlungsanweisungen aus der Umwelt der Software-Entwicklung in den Bereich der Politik übertragen lässt: »Software needs to be understood as an actant in the world – it augments, supplements, mediates, and regulates our lives and opens up new possibilities – but not in a deterministic way« (Kitchin/Dodge 2011: 44). Die hier notierte Ergebnisoffenheit liefert das weitaus passendere Bild für die aktuelle Zustandsbeschreibung einer Partei, die zumeist als beliebig und chaotisch porträtiert wird. Insofern erscheint der Werdegang der neuen Partei zwar als unerwartbar, aber eben nicht unrealistisch: Es ist der Unwahrscheinlichkeitsdrive der Piraten (vgl. Adams 1981).

U NTER P IR ATEN — Ü BER DAS B UCH Die Herausgeber dieses Bandes haben sich mit der Frage befasst, ob es für ein Urteil über Bilanzen und Potentiale der Piraten nicht zu früh ist. Angesichts einer bereits längeren Inkubationsphase »digitaler Demokratie«, die in den 1990er Jahren begann und mit den Social Media einen (ambivalenten) Schub erhielt, erscheint es uns eher so, dass jetzt eine Phase zu Ende geht, nach der

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die politischen Systeme mächtigeren Erschütterungen ausgesetzt sein werden. Deswegen legen wir die folgenden Beiträge jetzt vor, weil sie zum einen Politisches aus Politischem erklären, zum anderen, weil sie Innovationsprozesse im Bereich der politischen Kultur analysieren, die seit längerem anhalten und den »Short-Termism« des von Wahlen, Talkshows und Umfragen bedrängten Politikbetriebs übersteigen. Um die ganz unterschiedlichen Impulse aufzuzeigen und den auf vielfältige Weise ineinandergreifenden Entwicklungen ansatzweise gerecht zu werden, gliedert sich der vorliegende Band in drei Abschnitte: Entern – Ändern – Neustart. Dabei wird zugleich der Ablauf einer unscharfen Übergangssequenz nachgezeichnet, die gleichermaßen von Dynamik und Ergebnisoffenheit gekennzeichnet ist. Die in den jeweiligen Abschnitten versammelten Beiträge sind dennoch heterogen – die Gründe dafür liegen in der Vielzahl der wissenschaftlichen Disziplinen und den je spezifischen Ansatzpunkten für die einzelnen Beiträge. Dennoch ergänzen sich die vorliegenden Texte sowohl innerhalb der drei Abschnitte als auch quer zu dieser virtuellen Einhegung. Im Abschnitt Entern sind Beiträge zusammengefasst, die Bewegungsimpulse aufgreifen und das Motiv des Eindringens in die politische Sphäre in den Mittelpunkt stellen. Dabei wird ein breites Spektrum aufgefächert, neben soziologischen, kultur- und politikwissenschaftlichen Perspektiven finden sich auch aktuelle Eindrücke zu verwandten Phänomenen aus den USA sowie ein farbiger Einwurf aus der Welt des Marketing. Den Auftakt machen dabei Leonard Dobusch und Kirsten Gollatz, die eine Bestandsaufnahme der Entstehungsprozesse von Piratenparteien im internationalen Kontext vorlegen. Auf dieser Grundlage formulieren sie ihre zentrale These: Der Erfolg der Piraten ist nur unter Berücksichtigung der transnationalen Dimension verstehbar, die auf das Zusammenwirken grenzüberschreitender und lokaler Praktiken national rückgebundener Akteure zurückgeht. Mit den spezifisch deutschen Umgebungsvariablen beschäftigt sich dagegen Alexander Hensel, der den Zusammenhang zwischen Partei, Kultur und Gesellschaft aus der Perspektive der Milieuforschung erschließt. Er skizziert dabei zunächst die Konturen eines Milieus der Internetkultur und attestiert den Piraten dann eine intakte Bindung daran – dadurch verfügen sie über funktionsfähige gesellschaftliche Seismografen für neue Fragen, Probleme und Stimmungen. Matthias Mertens entfernt sich in seiner kulturhistorischen Annäherung zunächst einmal von den Piraten und untersucht stattdessen die Wurzeln des Begriffs des »Nerds«. Aus der Verankerung in der US-amerikanischen Jugend- und Populärkultur zieht er eine überraschende Verbindungslinie zu den Piraten – denn für Nerds sind mitnichten Computer und Internet das essentielle Thema, sondern der uneingeschränkte Zugang zu Sozialstrukturen. Einen aktuellen Bericht von zwei Großbaustellen der Demokratie in Amerika liefert der Beitrag von Lawrence Lessig, der seine Erfahrungen mit Anhängern der Tea Party und Aktivisten der Occupy-Bewe-

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gung schildert. Im Zentrum steht in diesem Auszug aus seinem gerade erst erschienenen Essay One Way Forward die Leidenschaft, mit der Bürger von ganz unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums den Weg zu einer aktiven politischen Einflussnahme suchen – und ihn gerade in der Verbindung mit der Nutzung neuer Technologien zu finden scheinen. Den Schlusspunkt des ersten Abschnitts markiert eine Reflexion über die Farbe Orange als visueller Akzent in ganz unterschiedlichen politischen Kontexten. Claudio Gallio beschreibt den Werdegang eines Kindes der 1970er Jahre, das sich in vielen gesellschaftlichen, politischen und kommerziellen Umfeldern behaupten musste. Die Piratenpartei könnte dazu beitragen, dass sich das ehemalige »Gelbrot« von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe verwandelt. Der zweite Abschnitt mit dem Titel Ändern greift Impulse auf, die dazu geeignet scheinen, sowohl programmatische Konturen wie auch das Koordinatensystem eines gerade entstehenden Wertehorizonts abzubilden. Beinahe automatisch gerät dabei auch die Verfasstheit der Piratenpartei als sich selbst gerade erst kennenlernende Gruppe in den Blick. Michael Seemann entwickelt mit dem Begriff der »Plattformneutralität« dabei ein Leitmotiv für das politische Denken der Piraten. Auch abseits des Internets geht es darum, jene wichtigen Infrastrukturen zu identifizieren, die gesellschaftlichen Austausch ermöglichen und die ihren diskriminierungsfreien Zugang und Betrieb gewährleisten. Erste Beispiele für eine Übersetzung in politische Ziele liefern demzufolge das Bedingungslose Grundeinkommen, die Trennung von Kirche und Staat oder auch der vielfach diskutierte fahrscheinlose öffentliche Nahverkehr. Mit der in der öffentlichen Diskussion ebenfalls der Piratenpartei zugeschriebenen Thematik der Transparenz setzt sich Frieder Vogelmann auseinander. Den Schwerpunkt legt er jedoch nicht auf die Formulierung konkreter Forderungen nach mehr Sichtbarkeit im Politikbetrieb, vielmehr stehen die internen Logiken und Zwänge im Vordergrund, die mit dem Transparenzbegriff als strategisch ausgerichtete Vorstellung des Politischen einhergehen. Auf »programmatische Schatzsuche« gehen Silke Helfrich und Daniel Constein, die Möglichkeiten zur Übertragung des Prinzips des »Commoning« in das politische Koordinatensystem der Piraten ausloten. Ansatzpunkt für die Argumentation sind jene Ressourcen, die niemandem allein gehören, da sie nicht individuell produziert worden sind (Wasser, Land oder genetischer Code). Mit einer ganz anderen, aber doch verwandten Form von Gemeinschaft beschäftigt sich Kai-Uwe Hellmann, der den Veranstaltungstyp der Barcamps beleuchtet. Diese weitgehend selbstorganisierten »kommunikativen Treffpunkte« leisten einen Beitrag zur Stabilisierung einer noch jungen Szene und stellen wichtige Verbindungen zwischen digitaler und analoger Kommunikation und Organisation her. Dirk von Gehlen setzt sich kritisch mit dem Gründungsthema der Piratenpartei(en) auseinander und fragt nach konkreten Akzenten im Bereich der Modernisierung des Urheberrechts. Als wichtiger Bestandteil der netzpolitischen Debatte werden Fragen zu

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Copyright, digitaler Kopie oder Leistungsschutzrecht bisweilen als »digitaler Umweltschutz« skizziert. Das macht sie nach wie vor bedeutsam, trotz einer sinkenden Bedeutung für die Entwicklung programmatischer Eckpunkte der deutschen Piraten. Das längst nicht nur für die Piraten wichtige Thema von Geschlechterdifferenzen und Geschlechterpolitik stellen Paula-Irene Villa und Jasmin Siri ins Zentrum ihres Beitrags. Mit einem materialreichen Blick in das Programm und vor allem in die Netzpraxen in und um die Partei zeigen sie, dass – entgegen vielfacher Annahmen in der politischen Beobachtung – tatsächlich Debatten um das Thema Geschlecht geführt werden. Dabei entsteht ein vieldimensionales Bild der Piraten, die weder ein männerbündischer Club noch eine Ein-Punkt-Partei realitätsentfremdeter Nerds sind – aber eben auch keine selige »Postgender-Utopia«. Der Abschnitt Neustart fragt nach den Wirkungen von Impulsen und Änderungsansätzen für Parteienlandschaft und politisches System. Dabei geht es weniger um die Beschreibung konkreter Effekte auf oder das Vorausahnen möglicher Umformungen von Akteuren und Institutionen. Vielmehr wird herausgearbeitet, innerhalb welcher sozialwissenschaftlicher Perspektiven und Debatten wahrscheinliche Schnittflächen und Anschlussstellen bestehen. Jörn Lamla und Hartmut Rosa und fragen dabei zunächst, auf welche gesellschaftliche Problemlage die Piraten als Beschleunigungsphänomen und Experiment reagieren. In ihrer Untersuchung von Prozess- und Substanzproblemen moderner Gesellschaften stellen sie auch einen Bezug zur Entstehung der Grünen her – als verbindendes Element wird dabei die Bedrohung eines Autonomiepotentials beschrieben, das einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund ausmacht. Den Eingriffen in die analoge Lebenspraxis der 1970er und 1980er Jahre (von der natürlichen Umwelt bis hin zur kulturellen Selbstbestimmung) stehen nun staatliche Regulierungsversuche in die aus den Potentialen digitaler Medien entstandenen Kommunikationsräume und Lebenswelten gegenüber. Der Parteibildungsprozess steht auch im Beitrag von Sigrid Baringhorst und Mundo Yang im Vordergrund, allerdings mit einem starken Akzent auf die digitalen Protestkulturen im Internet. Die radikalen Ansätze, die sich in den Aktivitäten von Anonymus oder WikiLeaks zeigen, schließen neben den konkreten Aktionsformen auch ein alternatives Repräsentationsverständnis ein. Die Piraten betätigen sich dabei bislang als eine Art Transformator, dem es gelingt, Organisationsstrukturen und Ästhetik netzbasierten Protests in parteipolitische Alltagspraktiken zu übertragen. Dass die inhaltlichen wie organisatorischen Modernisierungsimpulse der Piraten den etablierten Parteien nicht verborgen geblieben sind, beschreibt Karl-Rudolf Korte am Beispiel des »Altmaier-Effekts«. Anhand des Erweckungserlebnisses des parlamentarischen Geschäftsführers der Unionsfraktion im Bundestag skizziert er einen dreifachen Horizont des Lernens für politische Parteien. Unterschieden werden eher »handwerkliche« Lernprozesse von kom-

Die Unwahrscheinlichkeit der Piratenpartei

plexeren Formen, die Ziele und handlungsleitende Annahmen adressieren. Auf der dritten Stufe steht das Problemlösungslernen selbst. Auch die Piraten sind in dieser mehrdimensionalen Lernkonstellation längst nicht optimal aufgestellt. Stefan Marschall überprüft anhand der bisherigen Erfolge der Piratenpartei die Perspektiven von Ein-Themen-Parteien im politischen System Deutschlands. Sowohl gesamtgesellschaftliche Entwicklungen (Heterogenisierung) wie auch konkrete Tendenzen im Wahlverhalten (Sachfrageorientierung) deuten dabei auf eine vielversprechende Zukunft von Ein-Themen-Parteien hin. Die Piraten profitieren dabei durch ihre Performanz als eine kampagnen- und organisationsfähige Partei, und auch das mit ihnen verknüpfte Issue der Netzpolitik wird dadurch verstärkt. Eine Annäherung an die programmatischen Positionen der Piraten nehmen schließlich Thorsten Faas und Marc Debus vor, die dafür den »Wahl-O-Mat« der Bundeszentrale für politische Bildung nicht aus der Wähler-, sondern aus der Parteienperspektive genutzt haben. Die Grundlage dieses digitalen politischen Bildungswerkzeugs sind 38 Standpunkte, die ein inhaltliches Profil der Parteien ergeben. Aus der Errechnung eines »Übereinstimmungsindex« zwischen den Parteipositionen wird eine Verortung der Piraten im Parteienwettbewerb vorgenommen – diese erfolgt dabei recht deutlich im linken Spektrum der Parteienlandschaft mit überraschend klaren Abständen zum »gefühlten« Hauptkonkurrenten FDP. Für eine abschließende Einrahmung der Beiträge des Bandes sorgt die skeptische Nachbemerkung von Claus Leggewie, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob die Piraten mit dem politischen Produktionsmittel Internet dieses als Distributionsmittel nicht falsch einschätzen. Mit Blick auf die spezifischen Erfahrungen anderer Protestbewegungen mit den Machtstrukturen medialer Öffentlichkeit könnte daraus die Unterschätzung eines Hauptgegners resultieren: der Produzenten und Eigentümer digitaler Medien-Infrastruktur wie Apple, Google oder Facebook. Ob es dabei mittel- oder langfristig zu einer Entwertung digitaler Deliberationsprozesse im Strudel von »Gefällt mir«-Klicks kommt, ist allerdings ebenso offen wie die Performance der Piratenpartei in den kommenden Wahlen.

L ITER ATUR Adams, Douglas (1981): Per Anhalter durch die Galaxis. München. Arendt, Hannah (1963): Über die Revolution. München. Bieber, Christoph (1999): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. Bieber, Christoph (2010): politik digital. Online zum Wähler. Salzhemmendorf.

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Christoph Bieber

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E NTERN

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen Leonhard Dobusch und Kirsten Gollatz

E INLEITUNG Die mediale Berichterstattung über die Piratenpartei ist seit deren Gründung inspiriert durch lokale Erfolgsmeldungen: Gründung und Einzug ins EU-Parlament in Schweden, erste Achtungserfolge mit über zwei Prozent bei der Bundestagswahl 2009 in Deutschland und jüngst der Wahlerfolg der Berliner Piratenpartei. Ironischerweise war diese mediale Aufmerksamkeit allerdings von Beginn an international. Nicht nur die Gründung, auch der Einzug der Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus schafften es beispielsweise in die Printausgabe der renommierten New York Times.1 Die zentrale These dieses Beitrags ist denn auch, dass der Erfolg der Piratenpartei nur unter Berücksichtigung der transnationalen Dimension verstehbar wird. Transnationalität meint dabei das Zusammenwirken von grenzüberschreitenden und lokalen Praktiken von Akteuren, die gleichzeitig in lokalen Kontexten und weltweiten Netzwerken verankert sind (Djelic/Quack 2003; Quack 2009). Im Kontext der Piratenpartei ist dabei eine doppelte Transnationalität zu beobachten. Einerseits hat sich die Idee der Piratenpartei binnen weniger Jahre global verbreitet und zur Gründung von mittlerweile 64 nationalen Piratengruppierungen (18 davon offiziell als Partei registriert, Stand: Januar 2012) geführt, die an jeweils unterschiedliche, lokale Gegebenheiten anknüpfen bzw. sich an diese anpassen. Andererseits war diese Vielzahl an kurzfristigen Parteigründungen nur deshalb möglich, weil zentrale Ideen und Konzepte (»Frames«) der Piratenpartei bereits zuvor im Rahmen transnationaler sozialer Bewegungen im Bereich von Immaterialgüterrechten Verbreitung gefunden hatten (Dobusch/Quack 2012). Im vorliegenden Beitrag untersuchen wir diese These auf folgende Weise: Im folgenden zweiten Abschnitt skizzieren wir den Kontext transnational-sozia1 | Siehe online unter: http://www.nytimes.com/2011/09/20/world/europe/in-berlinpirates-win-8-9-percent-of-vote-in-regional-races.html [31.01.2012].

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Leonhard Dobusch und Kirsten Gollatz

ler Bewegungen rund um Fragen von Urheberrecht und geistigem Eigentum, in dem die Piratenpartei als ebenfalls transnationale Bewegung entstanden ist. Abschnitt drei versucht dann anhand eines Vergleichs von Piratenparteien in ausgewählten Ländern deren jeweilige lokale Verankerung und damit auch Unterschiedlichkeit zu illustrieren, bevor in Abschnitt vier das Beispiel der deutschen Piratenpartei im Spannungsfeld aus lokaler Besonderheit und globaler Bezüglichkeit behandelt wird. Im abschließenden fünften Abschnitt skizzieren wir daran anknüpfend mögliche Bereiche für weitergehende Forschung zum transnationalen Charakter des Phänomens Piratenpartei.

D ER TR ANSNATIONALE E NTSTEHUNGSKONTE X T DER P IR ATENPARTEIBE WEGUNG Auch wenn die Piratenpartei in den Medien häufig als politisches Projekt der Internetgeneration interpretiert wird,2 reichen die Wurzeln dieses Phänomens in die Zeit vor der Existenz des World Wide Webs zurück. Denn die Dominanz von Softwareentwicklern und Programmierern in Piratenparteien auf der ganzen Welt nur auf deren Internetaffinität zurückzuführen, greift zu kurz. Vielmehr ist es das in dieser Gruppe besonders verbreitete Verständnis – auch: der politischen Dimension – von Konzepten wie Hackerkultur und -ethik (Thomas 2003) sowie von Freier und Open Source Software (FOSS, vgl. Elliott/Scacchi 2008; Kelty 2008), das diese Berufsgruppen zu den bevorzugten Rekrutierungsfeldern von Piratenparteien macht. Gleichzeitig sind Hackerkultur und FOSS keineswegs lokale, sondern tendenziell transnationale Phänomene, getragen von virtuellen Gemeinschaften (Communitys). Die FOSS-Bewegung wiederum war die erste einer Reihe von sozialen Bewegungen, die ihren Zielen und Praktiken ein alternatives Verständnis von Urheberrecht zugrunde legen. Den Anfang machte in den 1980er Jahren mit Richard Stallman ein Programmierer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) aus Protest gegen die Entscheidung des US-Telekommunikationskonzerns AT&T, das Computerbetriebssystem UNIX urheberrechtlich zu schützen. Entwickelt worden war UNIX nämlich zu einem großen Teil durch Beiträge von Wissenschaftlern, die untereinander wie selbstverständlich den Quellcode austauschten (Wayner 2002; Weber 2004). Um eine derartige »Privatisierung« gemeinschaftlich entwickelter Software in Zukunft zu verhindern, gründete Stallman die Nichtregierungsorganisation 2 | Vgl. z.B. die Berichterstattung über den Wahlerfolg in Berlin im SWR (http://www. swr.de/contra/-/id=7612/nid=7612/did=8621556/15azoxi/index.html [31.01.2012]) oder der Welt (http://www.welt.de/politik/wahl/berlin-wahl/article13612376/RotRot-geht-die-Generation-Internet-kommt.html [31.01.2012]).

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

(NGO) »Free Software Foundation« und entwickelte mit anderen eine alternative Urheberrechtslizenz für Software-Quellcodes namens GNU General Public License (GPL, vgl. Stallman 1985).3 Zentrale »institutionelle Innovation« (Osterloh/Rota 2004) der GPL ist die sogenannte Copyleft-Klausel, die die Verwendung, Weitergabe und Veränderung des Quellcodes erlaubt, solange diese Änderungen ebenfalls unter der gleichen Lizenz zur Verfügung gestellt werden. Den Durchbruch nicht nur für die Idee von FOSS, sondern auch für die Übertragung dieses Konzepts auf andere Urheberrechtsbereiche wie die Lizenzierung von Audio-, Video- oder Textdokumenten ermöglichte allerdings erst das Internet. Während Stallman in den 1980er Jahren noch Disketten per Post durch ganz Amerika an beteiligte Programmierer schickte (Stallman 1999), erlaubten neue Internettechnologien nicht nur eine enorme Skalierung offener Softwareentwicklungsprozesse (Weber 2004), sondern auch neue Formen von »commons-based peer production« (Benkler 2006) jenseits des Softwarebereichs. Letztere greifen dafür in der Regel auf Creative-Commons-Lizenzen zurück, die von einer gleichnamigen, 2001 in den USA gegründeten NGO entwickelt werden. Hervorgegangen ist Creative Commons aus einem Netzwerk kritischer Urheberrechtsjuristen um den Rechtsprofessor Lawrence Lessig, von denen die Mehrzahl wiederum bereits über Erfahrungen mit FOSS-Lizenzen verfügt hatte (Dobusch/Quack 2010). Dieses bereits existierende Netzwerk urheberrechtskritischer Juristen ermöglichte es Creative Commons, binnen weniger Jahre in über 50 Jurisdiktionen rechtlich angepasste Lizenzversionen zu erstellen und ein transnationales Netzwerk mit über 100 Partnerorganisationen zu knüpfen. Mittlerweile haben sich eine Reihe von Initiativen und Bewegungen ausdifferenziert, die auf Basis eines derart alternativen Urheberrechtsverständnisses operieren. Wikipedia, selbst »Produkt« einer solchen Bewegung mit Vereinen in über 40 Ländern (Dobusch/Müller-Seitz 2012), nennt Access to Knowledge, AntiCopyright, Cultural Environmentalism, Free Culture und Free Software Movement als Beispiele für soziale Bewegungen im Bereich »Intellectual Property Activism«. Innerhalb dieser keineswegs trennscharf abgrenzbaren Bewegungen finden sich wiederum eine Vielzahl von Konzepten und Initiativen, die bestimmte Felder adressieren und von unterschiedlichen Akteuren getragen werden. Exemplarisch seien hier Open Access für den Bereich wissenschaftlichen Wissens, Open Educational Ressources für den Bereich von Lehr- und Lernunterlagen sowie Open Government Data für den Bereich staatlicher Datenbestände genannt (für einen Überblick vgl. Dobusch/Quack 2012). Diese urheberrechtsbezogenen, sozialen Bewegungen waren sämtlich bereits vor der Gründung der ersten Piratenpartei in Schweden im Jahr 2006 in einer Vielzahl von Ländern aktiv.

3 | GNU steht als rekursives Akronym für »GNU’s Not Unix« und verweist auf das Vorhaben Stallmans, einen Unix-Klon auf Basis quelloffener Software zu programmieren.

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Leonhard Dobusch und Kirsten Gollatz

Das urheberrechtskritische Element der Piratenpartei, das sich nicht zuletzt in der Selbstbezeichnung mit dem vormals pejorativ konnotierten Begriff der »Piraten« manifestiert,4 war deshalb für eine Reihe unterschiedlicher Akteursgruppen unmittelbar nach deren Gründung anschlussfähig. Die rasche internationale Diffusion der Idee von Piratenparteien seit der schwedischen Erstgründung ist deshalb nicht nur auf das Internet als Technologie, sondern auf den Umstand zurückzuführen, dass in den meisten Ländern bereits verschiedene Akteursgruppen mit ähnlich urheberrechtskritischer Ausrichtung den Boden für diese Gründungswelle bereitet hatten. Dennoch sind die Piraten kein globales, sondern ein transnationales Phänomen. Denn welche inhaltliche Ausrichtung und welchen Erfolg sie hinsichtlich Aufmerksamkeit, Mobilisierung und Wahlergebnissen letztlich realisieren können, hängt zu einem größeren Teil von der lokalen Anbindung und Realisierung des Piratenmotivs als von dessen global vergleichbarer Attraktivität ab. Zur Illustration dieser lokalen »Operationalisierung« eines globalen Narrativs vergleicht der folgende Abschnitt Piratenparteien in verschiedenen nationalen Kontexten.

P IR ATENPARTEIEN Z WISCHEN LOK AL UND GLOBAL Die Datengrundlage für den Vergleich von Piratenparteien in verschiedenen Ländern liefert, neben online verfügbaren Informationen der jeweiligen Parteien, eine Online-Befragung sämtlicher mit Stand Januar 2012 im Verzeichnis der Pirate Party International (PPI)5 angeführten Piratenparteien auf nationaler Ebene (vgl. auch Tabelle A1 im Anhang). Von den insgesamt 64 identifizierten Piratenparteien waren zum Zeitpunkt der Befragung 18 (28 Prozent) offiziell als Partei registriert.6 Da nicht von allen gelisteten Piratenparteien die Kontaktdaten ausfindig gemacht werden konnten, reduzierte sich die Grundgesamtheit der Befragung auf 56 nationale Piratenparteien. Insgesamt haben wir auf unsere Anfrage via E-Mail eine Rückmeldung von 28 (50 Prozent) der angefragten Piratenparteien erhalten. 4 | Die Annahme und Umdefinition einer bis dahin negativen Bezeichnung durch Dritte, wie sie von den Piratenparteien erfolgreich praktiziert wird, ist durchaus charakteristisch für soziale Bewegungen in Minderheitenkontexten. Vgl. in diesem Zusammenhang die Besetzung und Re-Definition des Begriffs »queer« im Rahmen der »Queer Theory« (Jagose 1996; vgl. auch http://governancexborders.com/2010/03/19/too-sexy-forbeing-an-insult-framing-piracy/ [31.01.2012]). 5 | Vgl. http://www.pp-international.net [31.01.2012], zusätzlich wurde die Piratenpartei von Kroatien aufgenommen. 6 | Spanien und die autonome Region Katalonien wurden einzeln ausgewiesen, ebenso die Piratenpartei der USA (Registrierte Parteien gibt es mit Stand Januar 2012 in Massachusetts, Florida, Oklahoma, New York und Oregon).

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

Im Bereich der Gruppe der offiziell registrierten Piratenparteien haben wir neben wiederholten E-Mail-Anfragen überall dort, wo eine Kontaktperson eruierbar und die Umfrage nicht bereits online ausgefüllt worden war, die Befragung telefonisch durchgeführt. Im Ergebnis haben wir auf diese Weise eine Rückmeldung von 14 (78 Prozent) aller offiziell registrierten Piratenparteien erhalten (vgl. Tabelle 1). Die Auswertung konzentriert sich im Folgenden auf diese Fälle. Tabelle 1: Struktur der Datenbasis und Ausschöpfungsquote Parteien

Grundgesamtheit

Rückmeldung

Ausschöpfungsquote

registrierte Parteien

18

18

14

78 %

aktive Gruppen

30

30

12

40 %

in Formierung einer Gruppe

6

3

1

33 %

inaktive Gruppen

10

5

1

20 %

Summe

64

56

28

50 %

Status

Die Operationalisierung des nationalen Kontextes von Piratenparteien erfolgte in drei Dimensionen: der thematischen Verankerung im Lokalen, der (inter-) organisationalen Verankerung und im Zusammenhang mit der Teilnahme an Wahlen. Auf diese Weise sollte erhoben werden, inwiefern die Piratenparteien an lokale Gegebenheiten anknüpfen, sich an einen jeweils unterschiedlichen lokalen Kontext anpassen und auf entsprechende Gegebenheiten reagieren.

1. Thematische Verankerung Die gleichzeitige Einbettung in ein weltweites und ein spezifisch lokales Netzwerk führt zurück zu den Konzepten, die die Piratenparteien aufgriffen und als eigene Themen verfolgen. Die Frage nach den Motiven für eine Gründung und den Start der Aktivitäten liefert ein konsistentes Bild. Trotz offener Fragestellung finden sich in den Antworten der 14 befragten registrierten Parteien nur Bezüge auf vier Kategorien von Motiven: 1. Verfolgung der Themen der Piratenpartei-Bewegung im eigenen Land (8) 2. Transformation politischer Strukturen zu mehr Transparenz und Beteiligung (8) 3. Anknüpfen an die Aufmerksamkeit und Erfolge vor allem der schwedischen Piratenpartei (7) 4. Konkrete politische Anknüpfungspunkte im Land (6)

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Diese einheitliche Motivationslage spiegelt den transnationalen Rahmen wider, in welchem es zu der bereits angesprochenen Welle von Parteigründungen kam. Auf Basis dieser Gründungsmotive erweist sich das Spektrum an von den Piratenparteien in politischen Kampagnen adressierten Themen als stärker ausdifferenziert und kontextbezogen.7 Tabelle 2: Häufigkeit der Nennung politischer Kampagnenthemen (offene Frage) Thema

Nennungen

Länder

Geistige Eigentumsund Urheberrechte

9

B, CDN, CZ, DK, F, FIN, L, UK, USA

Transparenz

8

B, CAT/E, CH, D, F, FIN, L, UK

Freiheits- und Bürgerrechte

8

CH, CZ, D, DK, F, FIN, UK, USA

Demokratie und Partizipation

6

B, CAT/E, D, L, UK, USA

Privatheit und Überwachung

6

B, F, FIN, S, UK, USA

Freier Zugang

4

CAT/E, F, S, USA

Open Data

3

F, L, UK

Reform des Wahlsystems

3

CDN, UK, USA

Kultur des Teilens

2

S, F

Bildung und Wissenschaft

2

B, UK

Innovation

2

B, CDN

Whistleblowing

2

CZ, UK

Vorratsdatenspeicherung

1

A

Grundeinkommen

1

B

Suchtmittelgesetz

1

A

Digital Economy Act

1

UK

Reform der kanadischen Telecommunication Commission

1

Laizismus

1

CDN CH

n=14; Mehrfachnennungen möglich

7 | Für einen differenzierten Überblick vgl. http://falkvinge.net/2011/11/26/thepirate-wheel-revisited-as-broad-ideology/ [10.02.2012].

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

Neben den zentralen Themenbereichen der Piratenbewegung, wie den Immaterialgüterrechten, der Transparenz und Partizipation im politischen System oder den Freiheits- und Bürgerrechten, beziehen sich politische Kampagnen konkret auf lokale Anlässe. Wie stark gerade von den jeweiligen Piratenparteien als bedeutsam erlebte Kampagnen an konkrete lokale Gegebenheiten anknüpfen, zeigen die Rückmeldungen auf die Frage nach der näheren Beschreibung einer zentralen Kampagne (vgl. Tabelle 3 für eine Reihe von Beispielen). Tabelle 3: Beispiele für zentrale Kampagnen mit lokalem Bezug (offene Frage) Land

Luxemburg

Katalonien, Spanien

UK

Österreich

Tschechien I

Tschechien II

Name

Kontext und Ziele

Aktivitäten

Depuwatch

Abstimmungsverhalten von Abgeordneten transparenter machen

Aggregation und Veröffentlichung von Abstimmungen auf Website

Yo Avalo

Bekämpfung einer Veränderung des Wahlrechts zu Ungunsten kleinerer Parteien

Website, Öffentlichkeitsarbeit

Axe the Act

Revision des britischen Digital Economy Act

Aufruf, an Abgeordnete zu schreiben, Petition, Medien

Stoppt die Vorratsdatenspeicherung!

Verhinderung der österreichischen Umsetzung der EUDirektive zur Vorratsdatenspeicherung

Website, Öffentlichkeitsarbeit

Linking is not a crime!

Protest gegen Vorgehen der tschechischen Anti-Piraterie-Union

Webseiten mit Verlinkungen zum Download von Filmen

Ticket Barrier Trial

Protest gegen mögliche Überwachung durch neues Metro-TicketSystem in Prag

Demonstration an den Drehkreuzen in Prager Metro

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Es lässt sich feststellen, dass die Kampagnen auf einen bestimmten, fast durchgehend lokalen Anlass bezogen sind. So protestierten die Piraten in Tschechien mit der Aktion »Linking is not a crime« gegen die Anklage eines 16-Jährigen, der durch Verlinkungen auf einer Website zu urheberrechtlich geschützten Filmen einen Schaden von etwa 5 Millionen Euro verursacht haben soll. Die Piratenpartei startete daraufhin zwei eigene Internetseiten,8 die ein Vielfaches an Links aufweisen. Konkret wendet sich die Aktion gegen einen lokalen Akteur, die tschechische Anti-Piraterie-Union. Andere Kampagnen knüpfen an Strukturen im nationalen politischen System an, wie etwa das Projekt »Depuwatch«9 , welches mehr Transparenz über das Abstimmungsverhalten der luxemburgischen Parlamentarier schaffen will, oder die »Yo-Avalo«-Kampagne10 der katalanischen Piratenpartei, die sich gegen eine Verschärfung des Wahlrechts zu Ungunsten von kleinen Parteien wendet. Letztlich sind Aktivitäten der Piratenparteien zum Teil lokal auf bestimmte Orte begrenzt, wie das Beispiel der tschechischen Piratenpartei zur Aufklärung über ein neues Fahrkartenkontrollsystem in der Prager U-Bahn zeigt. An all diesen Fällen werden die transnational geteilten Themen der sozialen Bewegung mit den jeweils unterschiedlichen Gegebenheiten im Land verbunden. Es sind insbesondere die Themen Transparenz politischer Strukturen sowie Freiheits- und Bürgerrechte, die das Potential, wenn nicht gar die zwingende Erfordernis haben, sie für die nationale Situation aufzuarbeiten.

2. Lokale Gliederungen und Netzwerke Die Bedeutung lokaler Verankerung und Anbindung für die Piratenparteien zeigt sich aber nicht nur thematisch, sondern auch organisatorisch. Nahezu alle registrierten Piratenparteien (13 von 14) gaben an, Parteistrukturen auf lokaler oder regionaler Ebene aufgebaut zu haben. Zusammen mit niedrigeren Hürden für den Einzug in lokale Vertretungskörper schlägt sich diese Lokalisierungsstrategie auch in tendenziell besseren Wahlergebnissen auf lokaler Ebene nieder (vgl. Abbildung 1 und 2).

8 | Online unter: http://www.piratskefilmy.cz/und http://tipnafilm.cz/ [12.02.2012]. 9 | Online unter: http://www.debuwatch.com/ [12.02.2012]. 10 | Online unter: http://www.yoavalo.org/ [12.02.2012].

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

Abbildung 1: Durchschnittliches Wahlergebnis der registrierten Piratenparteien in Prozent nach Ebene (2006 bis 2011) 5

4,00 4

3,27 3

2,10 2

1 0,69

0 EU

national

regional

lokal

Quellen: http://www.kommunalpiraten.de/; http://wiki.pp-international.net/Main_Page [10.02.2012]

Abbildung 2: Anzahl gewählter Abgeordneter nach Ebene (2006 bis 2011) 156 150

100

50

18 2

0

EU

national

0 regional

Quellen: http://www.kommunalpiraten.de/; http://wiki.pp-international.net/Main_Page [10.02.2012]

lokal

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Neben dem Aufbau lokaler Parteigliederungen bedienen sich die befragten Piratenparteien meist auch eines lokalen Netzwerks aus organisatorischen Unterstützern und Kooperationspartnern. Danach befragt, benannten die registrierten Parteien mit großer Mehrheit lokale NGOs, darunter Länderableger transnational tätiger Organisationen, wie z.B. Wikimedia oder die Electronic Frontier Foundation, und lokale Aktivistengruppen oder Think Tanks als ihre Kooperationspartner (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: Zusammenarbeit im lokalen Netzwerk (offene Frage) 6

NGOs/ NPOs

5 4

Politische Parteien

1

Aktivistengruppen, Think Tanks

4

Registrierte Parteien (n=14)

2

Professionals, Einzelpersonen

Nicht registrierte Parteien (n=14)

3 3

Andere Piratenparteien

2 0

Keine bzw. keine Antwort

2 6 0

1

2

3

4

5

6

Eine zweite wichtige Gruppe für Kooperationen bei Kampagnen sind andere politische Parteien, insbesondere deren Jugendverbände. Im Vergleich mit nicht registrierten Parteien zeigt sich, dass diese insgesamt über ein weniger ausdifferenziertes Netzwerk verfügen – mit Ausnahme sehr aktiver Gruppen wie z.B. der Piratenpartei in Neuseeland. Der Anschluss der Piratenparteien an ein bereits existierendes lokales Netzwerk wird durch den persönlichen Hintergrund der Parteiorganisatoren gestützt. Nach Auskunft der registrierten Parteien waren die Hauptverantwortlichen mehrheitlich in eben jenen Gruppen bereits zuvor aktiv, die heute als Kooperationspartner dienen, und beschäftigten sich dort bereits mit verwandten oder gleichen inhaltlichen Fragestellungen wie im Kontext der Piratenparteien.

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

TR ANSNATIONALE D IMENSION DES E RFOLGS DER DEUTSCHEN P IR ATENPARTEI Für den Fall der deutschen Piratenpartei gilt nun, was wir für Piratenparteien in anderen Ländern gezeigt haben: Ihre jüngsten Mobilisierungs- und Wahlerfolge resultieren aus dem Zusammenführen transnational entstandener Themen und Frames mit lokalen Besonderheiten. In historischer Hinsicht knüpft die deutsche Piratenpartei insbesondere an die in Deutschland besonders ausgeprägte Bürgerrechtsbewegung im Bereich Privatsphäre und informationeller Selbstbestimmung an. Deren Ausgangspunkt liegt in den Protesten zur Volkszählung 1983 und 1987 (Bergmann 2009) und resultierte nicht nur in der Schaffung eines diesbezüglichen Grundrechts via höchstrichterlicher Rechtsfortbildung, sondern hatte auch starken Einfluss auf die Ausgestaltung europäischer Regulierung in diesem Feld (Newmann 2008). Hinzu kommt, dass die Aufarbeitung der Überwachungspraktiken des Ministeriums für Staatssicherheit im Zuge der deutschen Wiedervereinigung bis zum heutigen Tag Aufmerksamkeit auf die Bedrohungspotentiale staatlicher Überwachungsinfrastruktur lenkt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Akzentverschiebung der deutschen Piratenpartei weg von dem namensgebenden Themenfeld der Immaterialgüterrechte hin zu Transparenz sowie dem Schutz der Privatsphäre und Bürgerrechte erklärbar. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Ablehnung von Überwachungstechnologien im Kontext der Piratenpartei mit tendenziell technikoptimistischen Themenfeldern wie softwareunterstützter Entscheidungsfindung (»Liquid Democracy«) und technologischer Herstellung von Transparenz (»Open Data«) zusammengedacht wird. Abbildung 4: Das im Umfeld des CCC verwendete »Pesthörnchen«-Logo mit Bezug zur Piratenmetapher

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Auch in organisatorischer Hinsicht lassen sich die Piratenpartei-Erfolge nur im Zusammenhang mit bereits bestehenden und länger etablierten Netzwerken, vor allem rund um den seit 1981 bestehenden Chaos Computer Club (CCC) verstehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass eines der vom CCC verwendeten Logos – das sogenannte »Pesthörnchen« (vgl. Abbildung 4) – bereits seit den 1990er Jahren mit der Piratenmetapher spielt und diese positiv wendet. Die ähnliche thematische Ausrichtung von CCC und Piratenpartei führte dabei auch zu vielfachen personellen Überschneidungen bzw. dienen die über 2000 Mitglieder des CCC als Rekrutierungsfeld für potentielle Piratenparteimitglieder und -aktivisten.

F A ZIT UND A USBLICK Ein Blick auf die transnationale Dimension und Vorgeschichte des Phänomens Piratenpartei dokumentiert, dass deren Mobilisierungserfolge aus der Verbindung transnationaler Konzepte und Frames mit Anlässen, politischen Strukturen und organisationalen Ressourcen auf lokaler Ebene resultieren. Mehr noch zeigt sich daran, dass es sich bei den Piratenparteien nicht um ein »Einzelphänomen« handelt, das mit der »Biertrinkerpartei und ähnlichen Gruppen zu vergleichen« ist.11 Vielmehr sind die Piraten Ergebnis und Treiber einer transnationalen Bewegung, die im Kontext von Internet und Immaterialgüterrechten entstanden ist und sich mittlerweile mehr und mehr ausdifferenziert. Für weiterführende Forschung im Bereich der transnationalen Dynamik der Piratenbewegung scheinen zwei Strategien besonders vielversprechend. Einerseits könnten vergleichende Länderfallstudien das Verständnis des Zusammenspiels aus lokalen Besonderheiten und länderübergreifenden Gemeinsamkeiten schärfen helfen. Andererseits würde ein Fokus auf grenzüberschreitende Praktiken erlauben, die transnationale Dimension direkt zu untersuchen.

11 | So die Einschätzung von Oscar W. Gabriel gegenüber der Nachrichtenagentur ddp aus Anlass des Wahlergebnisses der Piratenpartei bei der Bundestagswahl 2009, vgl. http://www.pr-inside.com/de/politologe-piratenpartei-vor-uuml-bergehendes-ph-a-r 1501012.htm [12.02.2012].

Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

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Leonhard Dobusch und Kirsten Gollatz

A NHANG Tabelle A1: Übersicht zu den Piratenparteien weltweit

Länder

Name der Partei

Belgien

Pirate Party Belgium

Bulgarien

Piratska Partia/ ǤȜȤȔȦȥȞȔǤȔȤȦȜȓ

Dänemark

Piratpartiet

Deutschland

Piratenpartei Deutschland

Finnland

Piraattipuolue

Frankreich

Parti Pirate

Großbritannien

Pirate Party UK

Italien

Partito Pirata Italiano

Kanada

Pirate Party of Canada/ Parti Pirate du Canada

Katalonien/ Spanien

Pirates de Catalunya

Luxemburg

Piratepartei Lëtzebuerg

Niederlande

Piratenpartij Nederland

Österreich

Piratenpartei Österreichs

Schweden

Piratpartiet

Schweiz

Piratenpartei Schweiz

Spanien

Partido Pirata

Tschechien

Česká pirátská strana

USA

United States Pirate Party

Argentinien

Partido Pirata Argentino

Australien

Pirate Party Australia

Status Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Offiziell registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert

Kontaktiert

Rückmeldung

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Piraten zwischen transnationaler Bewegung und lokalem Phänomen

Länder

Bosnien und Herzegowina

Name der Partei Piratska Partija Bosna i Hercegovina/ ǤȜȤȔȦȥȞȔǤȔȤȦȜȆȔǖȢȥȡȔȜ ǪșȤȪșȗȢȖȜȡȔ

Status

Aktiv, nicht registriert

Brasilien

Partido Pirata do Brasil

Chile

Partido Pirata de Chile

El Salvador

Partido Pirata de El Salvador

Griechenland

ƑфƫƫƠƗƤƨƯƠƲцƬƌƪƪнƣƮư

Guatemala

Partido Pirata Guatemala

Kasachstan

πȔțȔρȥȦȔȡπȔȤȔρȬȯȟȔȤ ǤȔȤȦȜȓȥȯ

Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert

Kroatien

Pirate Party Croatia/ Piratska Partija Hrvatske

Aktiv, nicht registriert

Lettland

Pirātu Partija

Litauen

Piratu Partija

Marokko

Pirate Party of Morocco

Mexiko

Partido Pirata Mexicano

Neuseeland

Pirate Party of New Zealand

Panama

Partido Pirata Panama

Peru

Peruvian Pirate Party

Portugal

Partido Pirata Português

Rumänien

Partidul Piraţilor din România

Russland

ǤȜȤȔȦȥȞȔȓȣȔȤȦȜȓǥȢȥȥȜȜ

Serbien

Piratska Partija Srbije

Slowakei

Slovenská pirátska strana

Slowenien

Piratska stranka Slovenije

Tunesien

Pirate Party of Tunisia

Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert

Kontaktiert

Rückmeldung

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Leonhard Dobusch und Kirsten Gollatz

Kontaktiert

Rückmeldung

Aktiv, nicht registriert

1

1

Aktiv, nicht registriert

1

Länder

Name der Partei

Status

Türkei

Korsan Partisi

Ukraine

Pirate Party of Ukraine/ ǤǻȤȔȦȥȰȞȔǤȔȤȦǻȓǨȞȤȔȁȡȜ

Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert Aktiv, nicht registriert

Ungarn

Kalózpárt

Uruguay

Partido Pirata en Uruguay

Weißrussland

ǤȔȤȦȜȓȣȜȤȔȦȢȖǖșȟȔȤȧȥȜ

Zypern

Pirate Party Cyprus

China

China Pirates/ᷕ⚥䙿䇰ℂ

in Formierung

Irland

Pirate Party Ireland/ Páirtí Foghlaithe na hÉireann

in Formierung

Kolumbien

Partido Pirata Colombiano

in Formierung

Norwegen

Piratpartiet Norge

in Formierung

Pirate Party of South Korea

in Formierung

Republik Korea Venezuela

Partido Pirata de Venezuela

Bolivien

Partido Pirata Boliviano

Costa Rica

Pirate Party Costa Rica

Ecuador

Partido Pirata de Ecuador

Estland

Eesti Piraadipartei

Israel

Pirate Party of Israel

Nepal

Pirate Party Nepal

Philippinen

Pirate Party Philippines

Polen

Partia Piratów

Südafrika

Pirate Party South Africa

Taiwan

Pirate Party Taiwan/ Tâi-oân Hái-chhaɵt Tóng

Gesamt

in Formierung Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert Inaktiv, nicht registriert

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1

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1

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1

1

1

Inaktiv, nicht registriert 64

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Eigene Recherchen auf Basis von http://www.pp-international.net/ und http:// en.wikipedia.org/wiki/Pirate_Party

Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur Alexander Hensel »Letztlich wollen wir dahin, dass es so ist, wie in Star Trek – das ist unsere Utopie.«

Mit diesen Worten brachte ein Mitglied der Piraten die politischen Zielvorstellungen seiner Partei in pointiert ironischer Weise auf den Punkt.1 Zwar fiel dieser Satz in bereits gelöster Laune an der Theke eines Bierwagens in der ersten Nacht des Bundesparteitags der Piraten im Mai 2010. Dennoch ist er bemerkenswert. Zum einen, weil hier ebenso spontan wie selbstverständlich ein Zusammenhang geknüpft wird zwischen den politischen Zielen einer Partei und dem Szenario eines Ensembles von TV-Serien, in denen es kurz gesagt um die ferne Utopie einer postmateriellen Wissenschaftsgesellschaft geht. Zum anderen, weil diese Referenz durchaus verständlich erscheint. Schließlich ist das sogenannte Star-Trek-Universum seit Ende der 1980er Jahre fester Bestandteil der Populärkultur. Mit diesem Beispiel sei auf Folgendes hingewiesen: Unter den oberflächlich erkennbaren Charakteristika und Eigentümlichkeiten der Piratenpartei verbirgt sich ein breites kulturelles Panorama, das einigen Aufschluss über die Partei selbst und ihre bislang kontinuierlich steigende gesellschaftliche Resonanz geben kann. Eben dieser Zusammenhang zwischen Partei, Kultur und Gesellschaft soll im Folgenden aus der Perspektive der Milieuforschung erschlossen werden.

1 | Der vorliegende Text basiert auf Recherchen für eine Magisterarbeit über die Entwicklung der Piratenpartei. Die nicht belegten Aussagen und Informationen beruhen auf Hintergrundgesprächen, die mit Parteimitgliedern auf verschiedenen Veranstaltungen geführt wurden.

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Alexander Hensel

K INDER DES DIGITALEN W ANDELS In der wissenschaftlichen Diskussion über die Entstehung und Entwicklung der Piratenpartei wurden deren tieferliegenden Wurzeln selten umfassend nachvollzogen. So wird die Gründung der deutschen Piratenpartei im September 2006 vor allem im Entstehungszusammenhang der schwedischen Piratpartiet gedeutet (vgl. Zolleis et al. 2010: 8f.). Nur wenige Autoren hingegen ordnen ihre Entstehung in den größeren Entwicklungshintergrund mehrerer politischer Bewegungen ein (vgl. Dobusch/Quack 2009 sowie Dobusch/Gollatz in diesem Band). Hieran anschließend soll die Piratenpartei an dieser Stelle als politischer Ausdruck eines neuen Milieus gedeutet werden, dessen gemeinsamer Nenner in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Potentialen einer Wissens- und Informationsgesellschaft liegt. Allgemeiner gesprochen handelt es sich dabei um eben diejenige gesellschaftliche Gruppe, die vom digitalen Wandel in voller Breitseite erfasst worden ist und deren alltägliches Leben von der Emergenz des Internets und dessen Kultur in besonderer Weise geprägt wird. Unter einem sozialen Milieu wird aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine Gruppe von Menschen verstanden, die sich in Lebensweise und Lebensauffassung ähneln und von außen besehen subkulturelle Einheiten innerhalb der Gesellschaft bilden (vgl. Geißler 2008: 110). Entscheidend für die Entstehung eines Milieus ist dabei die Entwicklung einer bewussten Wahrnehmung von gemeinsamen Lebenslagen, Erfahrungen, Interessen und Wertvorstellungen sowie eine daraus erwachsende kollektive Identität (vgl. Gabriel 2011: 13f.). Ein solcher Vorgang lässt sich seit einigen Jahren prägnant beobachten. So findet sich – analog zur Entdeckungsphase des Alternativen Milieus der 1980er Jahre (vgl. Rucht 2010: 72f.) – eine für die Wahrnehmung des Milieus des digitalen Wandels konstitutive öffentliche Debatte, in der zuvor voneinander unabhängig wirkende Elemente miteinander verbunden werden. Dabei spiegeln die Debatten über das Lebensgefühl einer digitalen Bohème (Friebe/Lobo 2009), die Eigenheiten der Digital Natives (Gasser/Palfrey 2008) oder die kollektiven Erfahrungen der Generation C64 (Stöcker 2011) einerseits die immer deutlicher werdende allgemeine Wahrnehmung einer neuen gesellschaftlichen Einheit. Andererseits liefern sie Begriffe und Narrationen für die Selbstwahrnehmung einer gesellschaftlichen Gruppe, deren Angehörige sich zusehends unverstanden fühlen und in einem zum Kulturkampf stilisierten Konflikt mit dem politischen System wähnen (vgl. Stöcker 2011: 255ff.; Rieger 2012). Für die Entstehung einer kollektiven Identität eines sozialen Milieus ist zudem eine geteilte Kultur von hoher Bedeutung. Diese schafft einen Raum, in dem Angehörige eines Milieus miteinander kommunizieren und interagieren, soziale Beziehungen knüpfen und sich als Gleichgesinnte begreifen (vgl. Reichardt/Siegfried 2010: 10ff. Hradil 2006: 3). Eine solche, gemeinsam geteilte Kultur ist für das Milieu des digitalen Wandels eindeutig erkennbar. Anknüp-

Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur

fend an Manuel Castells kann diese als Internetkultur beschrieben werden. Hierunter versteht er die »Kultur der Schöpfer« des Internets und deren »verhaltensbestimmende Wert- und Glaubensvorstellungen« (Castells 2005: 47ff.). Die Kultur des Internets basiert nach Castells dabei auf vier kulturellen Strängen: Erstens auf Werten und Prinzipien der techno-meritokratischen Kultur der Wissenschaft, die besonders das Prinzip des freien Zugangs zu Informationen und Wissen sowie die Anerkennung unter Gleichen betone. Hinzu kommt zweitens die Hackerkultur, als deren zentrale Momente Castells die Freiheit technischer Entwicklung, ungehinderte Kooperation, Reziprozität und Informalität nennt. Deren wichtigste Ausdrucksformen verortet er in den Aktivitäten der Open-Source-Bewegung sowie einigen politischen Hacker-Subkulturen. Als dritte Quelle der Internetkultur führt er die Kultur alternativer virtueller Gemeinschaften heran. Diese habe vor allem die horizontale und freie Kommunikation als übergreifenden Wert des Internets wie auch das Prinzip der selbstgesteuerten Vernetzung etabliert. Viertens nennt Castells die Kultur der Internetunternehmer, die vor allem zur massenhaften Verbreitung der Internetkultur beigetragen habe. Diese vierschichtige Struktur ist nach Castells zu einer allgemeinen Kultur des Internets verschmolzen, deren Kern im technokratischen Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt durch Technologie liege und deren Ergebnis die im Netz weit verbreitete »Ideologie der Freiheit« sei (Castells 2005: 47ff.).

K ONTUREN EINES M ILIEUS DER I NTERNE TKULTUR Tatsächlich wird eine derartige, am Wert der Freiheit und den Prinzipien der Offenheit, Transparenz, freien und egalitären Kommunikation und kreativen Kollaboration orientierte Internetkultur in den letzten Jahren immer sichtbarer. Deren Ausdrucksformen sind online wie offline zwar vielfältig und unübersichtlich, dennoch lassen sich anhand einzelner Beispiele die Konturen eines Milieus der Internetkultur nachzeichnen, das man sich grob in Form einer Zwiebel vorstellen kann: Deren Kern bildet ein Ensemble von Organisationen, Bewegungen und herausragenden Akteuren, die als öffentlich sichtbare Avantgarde netzpolitische Entwicklungen kritisch begleitet und versucht, diese aktiv mitzugestalten (vgl. Bieber 2010: 66f.). Hierzu kann auf der einen Seite die in der Tradition der deutschen Bürgerrechts- und Hackerbewegungen stehende Strömung für digitale Bürgerrechte, Datenschutz und digitale Demokratie gezählt werden. Diese wird getragen durch medial sichtbare politische Organisationen, wie beispielsweise den Chaos Computer Club, die Digitale Gesellschaft, den Foebud oder AK-Vorratsdatenspeicherung, einige prominente Netzaktivisten sowie durch themenorientierte politische Bündnisse und Kampagnen. Auf der anderen Seite ist in diesem Kernbereich eine Bewegung für die Entwicklung

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Alexander Hensel

offener und gemeinschaftlicher Formen der Wissens- und Kulturproduktion zu finden. Diese wird getragen von Wissenschaftlern, Künstlern, Programmierern und anderen Aktivisten und findet ihren sichtbarsten Ausdruck im Projekt der Online-Enzyklopädie Wikipedia, aber auch im Phänomen der Netlabels (vgl. Stalder 2006: 301ff.) und einer Reihe von Organisationen, die sich seit den 1990er Jahren einer Reform des geltenden Urheberrechts und der Entwicklung des Konzepts einer Wissensallmende widmen (vgl. Dobusch/Quack 2011). Jenseits dieses Kernbereichs lassen sich weitere Strukturen eines Milieus der Internetkultur festmachen. So findet sich – quasi als zweite Haut der Zwiebel – im und um das Netz seit einigen Jahren ein ebenso breiter wie ausdifferenzierter Mainstream, der sich intensiv mit den gesellschaftlichen Implikationen des digitalen Wandels auseinandersetzt (vgl. Bieber 2010: 66f.). Die Infrastruktur dieser semiperipheren Milieuschichten wird getragen von netzpolitisch und digitalkulturell interessierten Teilnehmern der Blogosphäre, digitalen sozialen Netzwerken oder anderen kollaborativen Zusammenhängen des Web 2.0 (vgl. Bruns 2009). Offline offenbart sie sich beispielsweise in der steigenden Zahl von Konferenzen zu Fragen des digitalen Wandels, die von Stiftungen, Vereinen und der sogenannten Barcamp-Bewegung veranstaltet werden (vgl. Hellmann 2007 sowie Hellmann in diesem Band). Während Kern und Semiperipherie trotz ihrer inneren Vielfalt quantitativ als relativ begrenzt vorzustellen sind, scheinen in den letzten Jahren die äußeren Schichten des Milieus stark zu wachsen. So wurde bereits vor einigen Jahren festgestellt, dass Nutzer des Web  2.0 eine starke Affinität für die aus der Internetkultur bekannten Freiheits- und Gleichheitsideale aufweisen (vgl. Bräuer et al. 2008: 198ff.). Auf deren fortschreitende Ausbreitung weisen die Ergebnisse einer jüngst vom Sinus-Institut durchgeführten Studie hin (vgl. DIVSI 2012). Hierin wird u.a. eine in Deutschland etwa 10,3 Millionen Menschen umfassende Gruppe von »Digital Souveränen« identifiziert, deren Angehörige aus gehobenen, postmodernen Milieus stammen, das Internet als integralen Bestandteil ihres Lebens begreifen, den freiheitlichen Charakter des Mediums besonders schätzen und sich oftmals einer »gesellschaftlichen Bewegung [...] für mehr Freiheit, Teilhabe und Demokratie« zuordnen (DIVSI 2012: 16f.). Betrachtet man die Ausdrucksformen der Internetkultur insgesamt, handelt es sich keineswegs um ein unverbundenes Nebeneinanderher abgeschlossener Subkulturen. Vielmehr findet sich, angelehnt an die Milieudefinition von Dieter Rucht (2010), ein »Konglomerat von Menschen, Gruppen und Orten, Institutionen und Infrastrukturen« der Internetkultur, »die durch physische und symbolische Präsenz« sowohl online wie offline einen »bestimmten sozialen Raum markieren, der sich durch eine stark binnenzentrierte Kommunikation und insbesondere durch direkte Interaktion reproduziert« (Rucht 2010: 65).

Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur

D IE P IR ATEN ALS M ILIEUPARTEI Was aber bedeutet die hier entworfene Skizze eines sozialen Milieus der Internetkultur für die Piratenpartei? Zuvorderst eröffnet sie eine Perspektive, in welcher sich die Piraten weniger als Ein-Themen-Partei (vgl. Blumberg 2010: 27f. sowie den Beitrag von Marschall in diesem Band), sondern als parteipolitischer Ausdruck weiter greifender Entwicklungen darstellen. Betrachtet man die Piraten als Bewegungs- und Milieupartei, wird viel klarer, worin die für eine Parteineugründung zweifelsohne erheblichen Ressourcen und Energien wurzeln konnten. Für diese Lesart sprechen nicht nur die Selbstverortung der Piraten als Teil einer internationalen Bewegung für die Freiheit von Wissen und Kultur, die Bewahrung der Privatsphäre und die Transparenz politischer Prozesse (vgl. Piratenpartei 2006). Dafür sprechen auch die Selbstbeschreibung des ersten Parteivorstandes (vgl. Gehlen 2006) sowie die bis heute sichtbare personelle Verknüpfung zwischen den Piraten und Milieuorganisationen wie dem Chaos Computer Club oder dem AK Vorratsdatenspeicherung. Betrachtet man die Piraten aus diesem Blickwinkel, erschließen sich zudem ihre ungewöhnlichen Charakteristika als »Internetpartei« (vgl. Lewitzki 2010: 6ff.) in ihrer tieferen, eben kulturellen Bedeutung: Während die politische Agenda und Kultur, die Organisationsform und die Ideologie der Piraten für viele Beobachter im Vergleich mit etablierten Parteien lange Zeit bestenfalls unverständlich wirkten, erscheinen diese mit Blick auf ihr Milieu hochgradig konsequent. Denn: Mit ihrer auf Fragen des digitalen Wandels fokussierten Agenda (vgl. Zolleis 2010: 14) nehmen die Piraten nicht irgendein parteipolitisch unbesetztes Thema auf. Vielmehr vertreten sie die zentralen, durch materielle Interessen und emotionale Erfahrungen fundierten Anliegen ihres Milieus (vgl. Lobo 2012). Gleiches gilt sowohl für ihre von außen besehen oft konfus anmutenden Formen der politischen Kommunikation (vgl. Lewitzki 2010: 10f.) als auch für ihre Organisationstheorie und -praxis als interaktive Mitmachpartei (vgl. Bieber 2010: 40f.). Beides spiegelt nicht nur die lebensweltliche Praxis, sondern auch tiefsitzende normative Leitsätze des Milieus der Internetkultur. Und selbst die von politischen Beobachtern oftmals mit einigem Kopfschütteln bedachte individualistische Freiheitsorientierung vieler Piraten (vgl. Lühmann 2011) ist weniger als dumpfes Revival neoliberaler Ideologie zu verstehen. Vielmehr scheinen sich hier, aufbauend auf netzkulturelle Erfahrungen, »neue Formen der gesellschaftlichen Solidarität« zu artikulieren, die unter den Stichworten Wissensallmende und Digital Commons verhandelt werden (vgl. Stalder 2010 sowie den Beitrag von Helfrich und Constein in diesem Band). Entscheidend ist all dies, weil die meisten Charakteristika der Piratenpartei damit nicht nur als profane Imitationen der Muster und Gewohnheiten digitaler Kommunikation, sondern vielmehr als parteipolitische Interpretation der Wert- und Glaubenssätze der Internetkultur zu verstehen sind. Eben dies markiert zugleich

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Alexander Hensel

den entscheidenden Unterschied zwischen den Piraten und den Bemühungen der etablierten Parteien in diesem Bereich (vgl. Hensel 2012).

D AS M ILIEU ALS FRUCHTBARER W URZELGRUND Eine solch intakte Milieubindung hat entscheidende Vorteile. Sie eröffnet Parteien einen gesellschaftlichen Resonanzraum sowie ein wertvolles Reservoir für gruppenbildende Mechanismen, die über profane Interessensähnlichkeiten weit hinausgehen: Hier finden sich Alltagsrituale, Symbole und Begriffe, Kleidungsstile und eine eigensinnige Sprache, die Mitglieder und Sympathisanten aneinander binden und der Partei selbst Authentizität, Sinn und Deutungskraft verleihen (vgl. Walter 1999: 43ff.). So können die Mitglieder und Abgeordneten der Piraten die Interessen ihres Milieus nicht nur in treffender, sondern vor allem in authentischer Weise formulieren. Erst durch diese Kombination avancieren sie zum quasi natürlichen politischen Repräsentanten ihres Milieus. Hierfür spielt ein kulturell kompatibler Politikstil ebenso eine Rolle wie die Nutzung bekannter Chiffren und Symbole. Der hierauf aufbauende, für Milieus typische Effekt der Wiedererkennung von Gleichgesinnten (vgl. Hradil 2006: 3) schafft dabei eine wichtige Grundlage für politische Nähe und Vertrauen. Zugleich vereinfachen die bereits aus dem Milieu stammenden sozialen Beziehungsnetzwerke sowie ein Set von bekannten Ausdrucksformen der Internetkultur die Bildung einer kollektiven Identität der Gesamtpartei. Dazu zählen im Fall der Piraten z.B. bestimmte äußere Merkmale, die auch unter Hackern und Computerspielern verbreitet sind: ein oft in schwarz gehaltener Kleidungsstil, T-Shirts mit ebenso kryptisch wie verwegen anmutenden Motiven, die unter Männern verbreitete Präferenz für lange Haare oder Bartfrisuren; aber auch bestimmte Accessoires, wie mit Aufklebern symbolisch angeeignete Laptops oder das Modegetränk Club Mate. Auch finden sich ein spezifischer Jargon, der von Ausdrücken aus der Computer- und Internetkultur durchzogen ist, und eine daran anknüpfende Form der ironischen Kommunikation.2 Die auf diese Weise im Parteialltag reproduzierte Milieukultur kann dabei als Mittel der Konfliktbewältigung fungieren, indem einem Aufruf zur Geschlossenheit mittels bedeutungsstarker kultureller Verweise besonderer Nachdruck verliehen werden kann. Hinzu kommt ein weiterer Vorteil der Milieuverwurzelung der Piraten: Da sie mittels verschiedener Infrastrukturen mit ihrem Milieu kommunizieren, interagieren und sozial verwoben sind, scheinen die Piraten über intakte ge2 | Diese Beschreibungen basieren auf teilnehmenden Beobachtungen, die der Autor auf den Bundesparteitagen der Piratenpartei in Bingen und Offenbach durchgeführt hat.

Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur

sellschaftliche Seismografen für neu aufkommende Fragestellungen, virulente Stimmungen und Probleme zu verfügen (vgl. Walter 2008: 54f.). Dies umfasst nicht nur die Identifikation von neuen Themen, sondern auch die Übernahme intellektueller Expertise. Dies lässt sich beispielsweise an der lauter werdenden Debatte unter Netzaktivisten und Parteimitgliedern über die Abkehr von strikten Prinzipien eines konsequenten Datenschutzes erkennen, die unter dem Stichwort Post-Privacy geführt wird (vgl. Paetau 2011: 13). Das Milieu der Internetkultur fungiert dabei jedoch nicht nur als Innovator, sondern zugleich als politisches Korrektiv. Dies zeigte sich jüngst beispielsweise im Aufruf des bekannten Bloggers Felix von Leitner, welcher die Piraten zu stärkerem Engagement für die Belange der Netzbewegungen ermahnte (vgl. Weddeling 2012).

H ER AUSFORDERUNGEN FÜR EINE MODERNE M ILIEUPARTEI Gleichzeitig stellt die Verwurzelung in einem derart modernen Milieu die Piraten vor Herausforderungen. So weisen das Internetmilieu und die Piratenpartei kaum Momente einer organisatorischen und lebensweltlichen Einkapselung auf, wie sie für traditionelle Milieuzusammenhänge kennzeichnend waren (vgl. Detterbeck 2011: 37f.). Diese ließen ihren Angehörigen aufgrund ihres umfassenden Charakters, ihrer Verankerung in Wohnquartieren, auf Arbeitsplätzen, in Vereinen und anderen für das soziale Leben elementaren Einrichtungen kaum eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Teilnahme am Milieuleben (vgl. Lösche et al. 1999: 15ff.). Hiervon unterscheidet sich das hochmoderne Milieu der Internetkultur mit seiner weitgehend offenen und informellen Infrastruktur natürlich grundlegend. Gerade die Teilnahmen an virtueller Interaktion und Kommunikation mit dem Milieu über das Internet lässt sich im lebensweltlichen Alltag viel eher frei wählen und umgehen. Für die Piraten bedeutet dies, dass sie zwar von der hohen Inklusivität einer offenen und informellen Infrastruktur profitieren können, jedoch zugleich die Gefahren von Unverbindlichkeit und Flüchtigkeit bewältigen müssen und kaum über Mechanismen der Steuerung oder gar Disziplinierung ihres Milieus verfügen. Auch ist die politische Affinität des Milieus für die Piratenpartei natürlich nicht in Stein gemeißelt. Denn im Milieu der Internetkultur finden sich politische Organisationsformen, die thematisch deutlich fokussierter sind, flexibler und strategisch versierter agieren können, als die Piratenpartei. Diese ist nicht nur grundsätzlich an die Auflagen des Parteiengesetzes (vgl. Niedermayer 2010: 845f.) gebunden, sondern weist aufgrund ihrer basisdemokratisch orientierten Organisationsform auch ein latentes strategisches Defizit auf (vgl. Zolleis et al. 2010: 22). Hierdurch könnte die Piraten im weiteren Verlauf ihres Etablierungsund Wachstumsprozesses gerade für das an flexible Politikformen gewöhnte Kernklientel weniger attraktiv werden.

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Zudem könnte die Verwurzelung im Milieu der Internetkultur durch neuere Entwicklungstendenzen aufseiten der Partei destabilisiert werden. Ein solcher Prozess deutet sich beispielsweise im Zuge der fortschreitenden kommunalen Etablierung der Piraten an, wo die Partei derzeit über mehr als 150 Mandate verfügt (vgl. Piratenwiki 2012 sowie http://www.kommunalpiraten.de). Orientiert an den Aufgaben ihrer Mandatsträger scheinen sich lokale Parteibasen zunehmend mit lokalpolitischen und weniger mit netzpolitischen Fragestellungen zu beschäftigen. Hierdurch werden die Piraten vor Ort zwar attraktiver für neue Wählerschichten und öffnen sich für Mitglieder, die mit Internetkultur weniger zu tun haben. Gleichzeitig wächst damit jedoch die Gefahr einer thematischen Zerfaserung und eines kulturellen Profilverlustes. Ein ähnliches Phänomen zeichnet sich auf regionaler Ebene ab. So scheinen einige Landesverbände der Piraten, die innerparteilich zusehends als entscheidende »Machtakteure« agieren (Bieber 2012: 32), voneinander abweichende Profile und Eigenkulturen zu entwickeln. Diese weisen, wie beispielsweise die eher sozialliberal und auch regionalspezifisch ausgerichtete Programmatik des Landesverbands Berlin zeigt, zum Teil deutlich über die beschriebene Kernkultur des Milieus hinaus (vgl. Anker 2011). Dies könnte die programmatische Weiterentwicklung und Einigung der Piratenpartei auf Bundesebene zusehends erschweren und gerade mit Blick auf die kommende Bundestagswahl zur Herausforderung werden. Denkt man die beschriebene Perspektive etwas weiter, könnte die Piratenpartei in durchaus absehbarer Zeit eine Entwicklung einschlagen, die aus der Historie anderer Parteien wohlbekannt ist: Je stärker die politische Etablierung der jungen Partei voranschreitet, desto größer wird der Druck zur Anpassung an die Bedürfnisse neuer Wählerschichten und die Imperative des politischen Systems. Daran orientiert könnten sich vermehrt parteipolitische Eigenkulturen entwickeln, die mit den aus dem Milieu der Internetkultur stammenden Eigenschaften brechen und einen schleichenden Entfremdungsprozess zwischen Partei und Herkunftsmilieu einleiten. Eben dies könnte rückblickend den Beginn einer Entzauberung der Piratenpartei als ebenso ungewöhnlicher wie attraktiver Außenseiter im Parteienwettbewerb markieren.

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Das Milieu der Piraten: Die Erben der Internetkultur

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Nerds. Computer. Piraten Die kulturgeschichtliche Erklärung eines Syllogismus Mathias Mertens

D AS DEUTSCHE K LISCHEE »Ob die ›Piraten‹ Nerds sind oder nicht«, konstatiert Frank Schirrmacher im September 2009, sei »eine der am heißesten diskutierten Fragen der politischen Blogs im Internet« (Schirrmacher 2009). Ohne Angabe, welche der Blogs denn nun gemeint seien, welche anderen Fragen am heißesten diskutiert werden und auf welche aktive oder passive Weise er zu diesem Wissen über die Themen der Blogosphäre gelangt war, versucht sich Schirrmacher zu diesem Zeitpunkt erneut in der Kunst, mit der er seinen journalistischen Status begründet hatte: dem Agenda-Setting. Denn weil »etwas fehlt […] in allen Artikeln meiner Kollegen der letzten Jahre«, weil »wir […] es entweder alle übersehen oder nicht ernst genommen [haben], auch deshalb, weil Coolheitsgesichtspunkte einer Pop-Ökonomie dagegen sprachen« (ebd.), will Schirrmacher nun journalistischer Vorreiter einer Sichtbarmachung dieses Typus Mensch sein. Die Zeitläufte, so seine Einschätzung, machen es erforderlich: »Jetzt, da sich aus ihrem innersten Kern eine neue und wahrscheinlich bald auch immer un-nerdigere, weil moderne politische Bewegung formiert, kann man nicht anders, als voller Respekt und ohne Ironie ihren Siegeszug zu rühmen« (ebd.). Die Frage nach der Nerdness der Piraten, die andere noch unentschieden diskutieren müssen, hat sich für Frank Schirrmacher eindeutig geklärt. Jetzt geht es nur darum, den anderen Kollegen und der interessierten Öffentlichkeit zu erklären, was Nerds denn eigentlich sind. »Der klassische Nerd trägt Kopfhörer, während er sich tief über seine Computertastatur beugt und gedankenlos mit der linken Hand nach einem kalten Stück Pizza greift. […] Nerds sind meist männliche junge Leute, die schon im Alter von vier Jahren damit beginnen, Spielzeugautos, Radios und Computer zu zerlegen und ganz anderes wieder zusammenzubauen. […] Nerds verehren Daniel Düsentrieb, Jules Verne und später Neal Stephenson. Meist fallen sie schon frühzeitig durch einen unbändigen Basteltrieb

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auf. Früher konnte man sie in der Schule leicht erkennen: Sie hatten Diplomatenkoffer mit Nummernschloss, dessen Code sie täglich änderten, trugen Pferdeschwanz und schwarze T-Shirts mit ›Ultima Online‹-Logo. Der Typus ist seltener geworden, aber […] nicht ganz ausgestorben. Ausgehend vom neuen Google-Stil sind Nerds heute von der Pizza-und-Cola-Phase in das ›Healthy food‹-Biotop gewechselt und deshalb anders als die großen Nerd-Pioniere wie Jaron Lanier und Nathan Myhrvold, nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen« (Schirrmacher 2009).

Schon bei der oberflächlichen Lektüre dieser Beschreibungen fällt auf, dass es sich um eine Anballung von Stereotypen handeln muss, denn zu stark sind individuelle äußerliche Details zu Verallgemeinerungen überzeichnet. In dieser Summe von stereotypen Exotika schlägt es dann um in eine quasiethnologische und pararassistische Sicht auf eine andersartige Spezies, die in Bezug auf die eigene Kultur mindestens als fremd, wenn nicht gar als bedrohlich erscheinen muss. Denn was hier verhandelt wird ist Immunologie, die Identifizierbarkeit fremder Körper und die Verträglichkeit mit dem eigenen Stoffwechsel. Was früheren Jahrhunderten und Jahrzehnten Christen, Juden, Freimaurer, Kommunisten, Islamisten waren, denen man ebenso physiognomisch beizukommen versuchte, sind den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts nun die Nerds, die beginnen, sich politisch zu formieren. Und so lautet die Agenda, die Frank Schirrmacher setzen will: »Die Nerds, die die Sprites auf ihrem C-64-Homecomputer programmierten, während ihre Mitschüler in Clubs oder auf Demos waren, haben buchstäblich die Welt programmiert, in der wir uns heute bewegen. Wenn wir der modernen Welt ein Gesicht geben wollen, reden wir von Wall-Street-Haien und Managern, aber wir sollten anfangen, über Nerds zu reden« (ebd.).

Auffällig ist der völlig ungebrochene Stil des Artikels, das Fehlen jeglicher Relativierungen, der Ernst, mit dem dieses Bild des Nerds gezeichnet wird; kein Eigenkommentar macht sichtbar, dass es sich um die Überspitzung eines Klischees handelt. Der Nerd in diesem Text ist ein Faktum, keine rhetorische Strategie, und genauso verhält es sich mit der Nerdhaftigkeit der Piraten. Die Selbstverständlichkeit dieser Bezeichnung zeichnet dann nicht nur Schirrmachers Text aus, sondern ist ein weit verbreitetes Phänomen bei der Berichterstattung über die Piratenpartei. Denn entgegen der agendasetzenden Entdeckerprosa von Schirrmacher wird dabei auf ein eingeschliffenes Klischee gesetzt, das in Deutschland vor ca. 30 Jahren durch US-amerikanische Teenagerkomödien importiert1 und dann in unzähligen Artikeln, Rezensionen, Selbstbeschreibungen 1 | Z.B. die Figuren Lewis Skolnick und Gilbert Lowell aus Revenge of the Nerds (Jeff Kanew, 1984), The Geek aus Sixteen Candles (John Hughes, 1984), Gary Wallace und Wyatt Donnelly aus Weird Science (John Hughes, 1985), Louis Tully aus Ghostbusters

Nerds. Computer. Piraten

und Diskussionen zur Bewältigung der damals einsetzenden HeimcomputerRevolution eingesetzt wurde. In dieser deutschen Fassung des Klischees werden Nerds gleichgesetzt mit Jungen und Männern, die a) sich sehr gut mit der Funktionsweise von Computern und der auf ihnen laufenden Anwendungen auskennen und die b) (deshalb) nicht an gewöhnlichen sozialen Aktivitäten teilhaben, sondern sich in Computer- oder anderen Spezialwelten aufhalten. Diese beiden Eigenschaften werden dann zusätzlich noch rationalisiert oder zur Ableitung von weiteren Bestimmungen verwendet, etwa, dass die Nichtteilnahme am gewöhnlichen sozialen Leben pathologisch begründet (Autismus-Theorie)2 oder eine Kompensation für körperliche Unattraktivität sei. Oder umgekehrt argumentiert wird, dass die Beanspruchung durch die Spezialwelten dazu führt, dass soziales Leben und Körperhygiene vernachlässigt werden und dadurch Unattraktivität verschuldet wird oder sogar so etwas wie antrainierter Autismus entstehen könnte.3 Entscheidend ist in jedem Fall die Beschäftigung mit dem Heimcomputer, auf den alles bezogen oder von dem alles abgeleitet wird. Der synonyme Begriff für »Nerd« in Deutschland ist dann auch »Computerfan« bzw. »Computerfreak«, der einige Jahre lang gleichberechtigt verwendet wurde (vgl. z.B. Eckert u.a. 1991), um dann mit dem popkulturell stärkeren Nerd zu verschmelzen. Dass die Mitglieder der Piratenpartei als Nerds und ihr Programm als monothe(Ivan Reitman, 1984) oder George McFly aus Back to the Future (Robert Zemeckis, 1985). 2 | »Diese störrischen kleinen Professoren, die manchmal so komisch zucken und vor sich hinkichern, die mit zehn schon süchtig nach dem Computer sind und sich mit zwanzig nicht für Mode interessieren, weil ihnen dafür die holistische Intuition abgeht, sie entpuppen sich als die eigentlichen Helden unserer von Computern dirigierten Welt. Auch wenn nur wenige der Asp[erger Kranken] über das Potential eines Einstein verfügen, wir brauchen sie, denn Versuche, ›normale‹ Menschen mit Geek-Tugenden zu füttern, haben bislang immer fehlgeschlagen. Wobei sich die Frage aufdrängt, ob die verführerische Omnipräsenz der Computer ihre Wesenszüge fördert und was sie ohne Rechner täten?« (Simon 2002). Vergleiche dazu auch Baron-Cohen u.a. 2001, S. 5-17. 3 | »Eine tatsächliche Subkultur der Nerds und Geeks bewegt sich also auf einem sehr schmalen Grad zwischen Realität und Stereotyp. […] [D]as Stereotyp [hat sich] als Folge der immer größer werdenden Bedeutung von Computern und Technik in unserem Leben herausgebildet […]. Das Bild des oft langhaarigen, blassen, bebrillten Einzelgängers, der nur vor dem Computer sitzt, wird meist durch wenige Schlüsselwörter erkannt und eingeordnet und hat somit einen hohen Wiedererkennungswert. Dabei nimmt der Computer mittlerweile eine Schlüsselrolle ein. Ein Nerd wird, dem Stereotyp zufolge, in erster Linie über die intensive Beschäftigung mit seinem Computer definiert, die jegliche Betätigungen im sozialen Umfeld, beziehungsweise mit der eigenen Körperkultur, unterbindet« (Glöss 2006).

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matisch bezeichnet werden, erklärt sich somit: Die Piraten verstehen sich offensiv als diejenigen, die sich mit Computeranwendungen, insbesondere Internet, auskennen, was sie im Diskurs zwangsläufig zu Nerds macht. Der Syllogismus lautet: »Piraten kennen sich mit Computern aus. Wer sich mit Computern auskennt, ist ein Nerd. Also sind Piraten Nerds.« Bemerkenswert ist allerdings, dass beim Gebrauch dieses Klischees überhaupt nicht auf die inhaltlichen Aspekte des Computerbezugs eingegangen wird, sondern dass sich hauptsächlich an der sozialen Andersartigkeit, der gesellschaftlichen Unkonventionalität und der intellektuellen Ingeniösität der Nerds abgearbeitet wird – wie es der Text von Frank Schirrmacher exemplarisch gezeigt hat. Der Begriff, obwohl spezifisch auf Computerfreaks bezogen, erfüllt dann Funktionen, die sehr viel mehr mit der ursprünglichen Bedeutung von »Nerd« zu tun haben, und die den Computerbezug nur als Symptom und nicht als Ursache erscheinen lassen.

D ER US- AMERIK ANISCHE U RSPRUNG DES B EGRIFFS Obwohl »Nerd« schon 1950 als Phantasiename einer Kreatur in dem Kinderbuch If I Ran the Zoo von Dr. Seuss erscheint (Dr. Seuss 2003: 48f.), kann man erst einen Newsweek-Artikel vom 8. Oktober 1951 als Beleg für die Verbreitung des Begriffs in den USA ansehen: »In Detroit, someone who once would be called a drip or a square is now, regrettably, a nerd, or in a less severe case, a scurve« (Anderegg 2007: 25f.).4 Ob dieser Begriff aus If I Ran the Zoo übernommen worden ist, ist umstritten. In seinem seit 1994 permanent ergänzten Artikel The Origin of the Nerd auf seiner privaten Homepage weist Jim Burrows auf einen Eintrag im American Heritage Dictionary hin, der erklärt, die Fünf- und Sechsjährigen des Jahres 1950 hätten das Wort Nerd bei Dr. Seuss gelesen und es, als sie 1957 Teenager wurden, für die »most comically obnoxious creature of their own class, a ›square‹« (Burrows 2012) verwendet. Mit Verweis auf eine zweite Verwendung in der Herald-Press aus St. Joseph in Michigan, am 23. Juni 1952,5 4 | »Drip« lässt sich mit »Null« übersetzen, »Square« mit »Langweiler« und »Scurve« mit »Schmutzfink«. Der Begriff »Geek«, der häufig mit »Nerd« synonym verwendet wird, ist erst in den 1970er Jahren für computeraffine Menschen adoptiert worden. Ursprünglich eine Bezeichnung für Sideshow-Performer in amerikanischen Zirkussen, die Hühnern den Kopf abbissen oder sich Nägel durch die Zunge trieben, wurde der Begriff in den 1960er Jahren von Hippies zur Selbstbezeichnung als am Rand der Gesellschaft lebenden Individuen übernommen. Die ersten Programmierer, die in den boomenden Firmen im Silicon Valley arbeiteten, waren als Hippies sozialisiert und brachten diese Bezeichnung mit. 5 | »I have another reference from page 14 of the St. Joseph, Michigan, Herald-Press on 23 June 1952: ›TO ›CLUE YA‹ TO BE ›GEORGE‹ AND NOT A ›NERD‹ OR ›SCURVE‹ […].

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stellt er die Dr.-Seuss-Erklärung für den Begriff infrage: »It seems a little hard to believe that in just one year, a Nerd can go from being an unkempt grouchy looking fellow to a scurve or a square« (Burrows 2012). Wenn es auch für Jim Burrows schwer zu glauben ist und es etymologisch unmöglich zu beweisen ist, es mit Sicherheit auszuschließen ist ebenso unmöglich. Zumal es historische Umstände gibt, die erklären, wie der Begriff sich hätte so schnell ausbreiten können und warum es die dringende Notwendigkeit für seine Benutzung gab: die radikale quantitative Veränderung des amerikanischen Schulsystems. 1920 absolvierten 231.000 amerikanische Kinder die High-School-Klassen 9 bis 12. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg diese Zahl dramatisch an und erreichte bis Ende der 1970er Jahre die Zahl 2,5 Millionen, um seitdem relativ gleichmäßig auf diesem Niveau zu stagnieren (U.S. Department of Education 2009). Verantwortlich dafür war der sogenannte »Baby Boom«, ein rapider Anstieg der Geburtenzahl, der die Zahl an Schülern in öffentlichen Schulen förmlich explodieren ließ.6 Das war nicht nur ein infrastrukturelles Problem, indem flächendeckend mehr und größere Schulen gebaut werden mussten, sondern vor allem ein sozialpolitisches, weil sich die Zusammensetzung der Klassen erheblich veränderte. Es verschärfte sich ein Konflikt, der sich seit dem Beginn von schulreformerischen Bestrebungen in den Vereinigten Staaten abgezeichnet hatte und bei dem es im Wesentlichen darum ging, »wie und wann junge Menschen in den industriellen Arbeitsmarkt einsteigen sollten« (Hartman 2008: 9): sehr früh und unter völliger Aufsicht von Eltern und anderen Autoritätspersonen oder später, nachdem sie umfassender gebildet, selbständiger und freigeistiger geworden waren. Die nationale Aufgabe, sich im Kalten Krieg der Sowjetunion technisch und erfinderisch als überlegen beweisen zu müssen, machte es zwar unstrittig, dass so viele junge Menschen wie möglich so umfassend gebildet wie möglich sein mussten, unterschwellig schwelten allerdings weiter die Ressentiments der verschiedenen Bevölkerungsschichten, die plötzlich in der High School so intensiv miteinander auskommen mussten. Die heterogene amerikanische Gesellschaft der weißen protestantischen Pilgerväter, der schwarzen Sklaven und der europäischen Wirtschaftsflüchtlinge war schließlich auch in der High School angekommen und ließ sich dort nicht mehr durch exklusive Nachbarschaften, parallele Wirtschaftsstrukturen und kulturelle Spezialisierung regeln. Die High School machte aus den vielen verschiedenen Kindern

If the patois throws you, you’re definitely not in the know, because anyone who is not a nerd (drip) knows that […]. Once more, ›nerd‹ is tied to ›drip‹ and ›scurve‹, and from a city not far from Detroit, 8 months after the first sighting« (Burrows 2012). 6 | Andrew Hartman spricht vom »mid-century race to accomodate a mushrooming student population« (Hartman 2008: 2).

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plötzlich eine Gemeinschaft in einer Klasse, und so entstand für die Schüler die Notwendigkeit, schulspezifische soziale Differenzierung einzuführen. Anders gesagt: Weil nun in den Schulklassen sehr viel mehr Schüler aus verschiedensten Bevölkerungsschichten zusammenkamen, wurden bestimmte Typen Mensch überhaupt erst sozial sichtbar. Nerds hatte es wohl immer schon gegeben, die Sozialstrukturen, in denen sie sich befanden, ließen sie allerdings nicht auffallen, weil sie verstreut ihrem nerdigen Geschäft nachgehen konnten und nur in ganz engen lokalen Zusammenhängen als Einzelne wahrgenommen wurden. Mit dem schlagartigen Wandel der High School von einem Sonderbereich hin zu einer Gesamtrepräsentation der Gesellschaft änderte sich das. Jetzt teilten alle Mitglieder dieser Gesellschaft dieselben sozialen Erfahrungen, jetzt kannte jeder einen dieser Typen, für die man einen guten Begriff haben musste, um sich über diese Erfahrungen austauschen zu können. Und dass dieser Wandel der High School infolge des direkt nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Baby Booms so explosionsartig vonstattenging, macht es nicht unwahrscheinlich, dass ein passender Begriff sich auch so schnell verbreiten konnte.7

D IE 50 ER -J AHRE -R E TROWELLE IN DEN USA Dass der Nerd-Begriff die Erfindung einer bestimmten Gruppe ist, der Schulkinder der 1950er Jahre, zeigte sich in aller Deutlichkeit, als aus dem diskursiven Begriff, der in High Schools und Colleges zirkulierte, ein visueller Stereotyp wurde. Mit Beginn der 1970er Jahre setzte in den USA eine 50er-Jahre-Retrowelle ein, die mit Musicals wie Grease, Filmen wie American Graffiti und Fernsehserien wie Happy Days ihren Ausdruck fand, die sich an Zuschauer richteten, die in ihren Twens oder zumindest späten Teens waren. Insbesondere die in Deutschland nahezu unbekannte, weil eminent auf die Sozialisationserfahrungen von US-Amerikanern zielende Serie Happy Days sorgte für eine popkulturelle Verankerung des einstigen Schülerbegriffs »Nerd«. Die mit allen Attributen des »Greasers« – Blue Jeans, T-Shirt, Lederjacke, Ducktail, Stiefel – ausgestattete Figur Fonzie entwickelte im Laufe der Staffeln aufgrund des immensen Zuschauerzuspruchs eine ausgefeilte und karikierbare Routine des Abqualifizierens seiner Mitmenschen als Nerds, während er sein

7 | Wie auch der Baby Boom selbst so signifikant war, dass er von Landon Y. Jones in seinem Buch Great Expectations als Etikett für die Generation der zwischen 1945 und 1965 Geborenen geprägt werden und sofort umfassende Verbreitung finden konnte (Jones 1980).

Nerds. Computer. Piraten

eigenes Verhalten als »cool« ausstellte.8 Nerd-Sein und Cool-Sein waren dabei fast ausschließlich auf die Beziehung von Jungen zu Mädchen bezogen, andere Aspekte wie Kleidung waren nur innerhalb dieses Fokus interessant. »Nerd«, so definierte es Happy Days mustergültig für das US-amerikanische Massenpublikum, ist »Nicht-Cool«, also »nicht sexuell interessant«. Dezidierte Nerd-Figuren ließen sich nicht ausmachen, im Gegenteil konnte jeder von Fonzie als Nerd identifizert werden, so wie jeder auch wieder cool werden konnte, wenn er sich richtig verhielt. Das übergreifende Thema der Serie, Adoleszenz bzw. sexuelle Reifung, fand in der Nerd-Verhandlung seinen stärksten Ausdruck. Nerds, so definierte es Happy Days wortwörtlich in Dialogen, sind 13-jährige Jungs, die zwar schon erwachsen und sexuell aktiv sein wollen, sich aber immer noch von ihren Eltern leiten lassen und kein eigenständiges Auftreten entwickelt haben. Die jungen Baby-Boomer-Eltern, die Happy Days und andere 50er-RetroProdukte goutierten, lachten dabei über sich selbst als Kinder und imaginierten sich dabei als erfolgreich von Nerds zu cool gewordenen Mitgliedern der Gesellschaft. Ihren Kindern, die mit zuschauten, musste diese Verhandlung von Sozialisationserfahrungen entgehen. Insbesondere die Ikonizität des Greasers Fonzie, dessen Kleidung für die 1950er Jahre dezidiert rebellisch war,9 weil Jeans und T-Shirt Arbeiterkleidung waren und in bürgerlichen Zusammenhängen wie Schule nichts zu suchen hatten, der nun Mitte der 1970er Jahre allerdings als völlig normal gekleidet erscheinen musste, während die mit Tuchhose, Hemd, Lederschuhen und Hornbrillen für die 1950er Jahre völlig gewöhnlich gekleideten High-School-Schüler der Serie seltsam anmuten mussten.

D AS B ILD DES N ERDS Als sich Anfang der 1980er Jahre die amerikanische Filmindustrie beinahe vollständig auf diese Generation der Kinder der Baby Boomer10 als Zielgruppe 8 | In Staffel 1 fällt zweimal das Wort »Nerd«, ab Staffel 2 wird die Serie live vor Studiopublikum aufgezeichnet, nun wird bereits achtmal das Wort verwendet, immer mit spürbarer Reaktion des Publikums, sodass ab Staffel 3 25 Mal »Nerd« in den Dialogen auftaucht und eine ganze Folge, They Call It Potsie Love, vom Nerd und seinem wörtlichen Gegenteil, dem Dren, handelt. 9 | Das Image des so gekleideten Rebellen wurde in den 1950er Jahren durch die von James Dean und Marlon Brando verkörperten Figuren in Filmen wie Rebel Without a Cause oder The Wild One transportiert, von denen Fonzie auch passend Fotos in seinem Zimmer hängen hat. 10 | Die man nach Douglas Couplands gleichnamigem Roman von 1991 »Generation X« nennen könnte, wobei sich im Zuge dieser Etikettierung eine Inflation von Generationsbezeichnungen ergeben hat, die eine prägnante Erfassung dieser Generation erschwert.

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einstellte und eine Fülle von Teenagerkomödien produzierte, die im zeitgenössischen suburbanen High-School-Milieu angesiedelt waren und sich vorrangig um die Suche nach ersten Sexualpartnern drehten, wurde auf dieses Missverständnis zurückgegriffen. Das Medium Film ist darauf angewiesen, visuelle Ausdrücke für Persönlichkeitsstrukturen und Konflikte zu finden. Für das Drama der Adoleszenz in der High School wurden, ähnlich wie im antiken Theater oder in der Commedia dell’Arte, eindeutig identifizierbare Figuren benötigt, um durch ein Wiedererkennen der grundsätzlichen Dramaturgie den Fokus auf die unterhaltsamen Variationen dieser Form zu lenken. Der sexuell unreife Teenager, der sich noch an seinen Eltern und anderen Autoritätspersonen wie Lehrern orientierte, war nötig, damit in Abgrenzung dazu eine Identifikation mit den Figuren stattfinden konnte, die dieser Entwicklungsstufe entwuchsen und zu sexuell selbstbestimmten Erwachsenen wurden. Um diese Gegenfigur erkennbar zu machen, wurde das 50er-Jahre-Bild eines Jugendlichen gewählt, der sich erstens visuell komplett von der Jeans-T-Shirt-Turnschuh-Normalität unterschied und der zweitens mit dieser Optik auch eine Orientierung an der Elterngeneration implizierte, die zwar alle zu Rebellen geworden waren, von denen es aber genügend zirkulierende Bilder als Kinder in eben dieser Aufmachung gab. Der Nerd, der von der Baby-Boomer-Generation rein inhaltlich als streberhafter und unreifer Außenseiter definiert worden war, fand erst jetzt in den 1980er Jahren zu seiner stereotypen Visualität. Stereotyp ist diese äußerliche Erscheinung von Hornbrille, Pottschnitt, Tuchhose, Hosenträger und Hemd, in dessen Brusttasche einsatzbereit Kugelschreiber in vor Tintenauslauf schützenden PVC-Hüllen stecken. Alle anderen Attribute sind variabel, insofern, als sie nicht spezifisch sein müssen, sondern nur Interessen darstellen sollen, die die Nerds als asozial, weil nicht auf die Suche nach Sexualpartnern fixiert, kenntlich machen. Im paradigmatischen Film Revenge of the Nerds findet man dann auch eine Fülle von uncoolen Beschäftigungen der Nerds, von denen die Beschäftigung mit dem Computer nur eine ist, die auch nicht besonders gegenüber den anderen hervorgehoben ist. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Beschäftigung mit dem Computer und die konkreten Handlungen, die man dabei macht, sehr schlecht visuell darstellen und somit kaum erzählen lassen. Geige spielen, Rollenspielsitzungen, StarTrek-Kostümierung, mathematische Formeln entwerfen, an Arcadeautomaten spielen, Raketen bauen oder Comics lesen sind sehr viel besser darstellbar, weshalb sie auch häufiger in Filmen zur Kenntlichmachung der Außenseiterwelt des Nerds eingesetzt worden sind als das Tippen auf einem Computerkey-

Was, paradoxerweise, genau das widerspiegelt, was Douglas Coupland mit dem X in seiner Bezeichnung zum Ausdruck bringen wollte (Coupland 1991). Der Versuch, die Jahrgänge nach dem Pillenknick »Baby Bust Generation« zu nennen, war nicht erfolgreich.

Nerds. Computer. Piraten

board.11 Wichtiger war immer die körperliche Erscheinung des Nerds, die ihn unattraktiv macht und die es legitimiert, dass man ihn aus der Gemeinschaft ausschließt; was es auf Dauer auch möglich machte, das Stereotyp weniger ikonisch zu gestalten und andere Ausgestaltungen von Unattraktivität zu produzieren, die dann den jeweiligen Zeitgeist widerspiegelten, sei es nun 1980erJahre-Kleidung in den 1990ern oder 1990er-Band-Shirts und lange Haare in den 2000er Jahren. Die Hauptfigur in Napoleon Dynamite (Jared Hess, 2004) beispielsweise hat kein einziges der ikonischen Attribute, mit Computern beschäftigt er sich auch nicht, wird allerdings eindeutig als Nerd klassifiziert, weil man sich vor ihm ekelt.

C OMPUTER ALS K OMPENSAT, NICHT ALS U RSACHE Dennoch wurden dieses Bild und der dazugehörige Begriff, die seit Mitte der 1980er Jahre ins kommunikative Gedächtnis der US-amerikanisch geprägten Welt eingespeist wurden, vor allem mit Computernutzern assoziiert, besonders in Deutschland. Dafür gibt es zwei Gründe, die wechselseitig aufeinander einwirken. Erstens wurde die Beschäftigung mit dem Computer innerhalb kürzester Zeit für eine große Gruppe von Jugendlichen und einige Erwachsene zur bevorzugten Freizeitbeschäftigung. Das schnelle und erfolgreiche Anwachsen dieser Gruppe musste sofort sozialhygienisch aufgefangen werden. Eine Minderheit muss und kann dann ausgegrenzt werden, wenn sie einerseits groß genug ist, dass sie als Alternative zu den mehrheitlichen Interessen und Beschäftigungen erscheint, wenn sie andererseits aber klein genug ist, dass man sich mehrheitlich gegen sie definieren und sie eindämmen kann, wenn also ein Kulturkampf vorliegt. Das Außenseiter-Etikett mit seinen asozialen und ekelhaften Zügen bot sich sofort an, um Heimcomputerbeschäftigung und Heimcomputernutzer zu stigmatisieren und damit den Erfolg dieser Gruppe einzudämmen. Dieser Ausgrenzungsdiskurs findet sich bis heute auch in avancierten Diskussionen, wenn von »Flucht in virtuelle Welten« oder »Parallelgesellschaften im Internet«, von »Realitätsverlust« oder von »Online-Sucht« gesprochen wird. Immer werden

11 | Die erfolgreiche Nerd-Sitcom The Big Bang Theory lebt genau davon, alle darstellbaren Spezialinteressen auszustellen und auszuschlachten, was unrealistisch wäre, würde man es unter zeitökonomischen Gesichtspunkten bewerten (die Figuren der Serie können das alles gar nicht können und praktizieren), was aber völlig plausibel ist, wenn man es rhetorisch begreift (so etwas machen Nerds). Auch hier ist die Beschäftigung mit dem Computer nur marginal und zumeist zur Unterstützung anderer, besser darstellbarer Aktivitäten eingesetzt.

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zwei Lager gebildet, von denen eines die Normalität, das andere die Abnormität darstellt. Zweitens ist die Beschäftigung mit dem Computer eine ideale Kompensationswelt für Außenseiter. Denn er bietet eine Welt, die ohne Zugangsbeschränkungen daherkommt und auf die man einwirken und die man sogar selbst gestalten kann. Das eigene Auftreten und die eigene Erscheinung sind also komplett kontrollierbar. Für Menschen, die ausgegrenzt werden, weil sie sich noch zu sehr an Autoritätsfiguren orientieren, ist die unhintergehbare Regelstruktur von Computerprogrammen ungemein attraktiv. Nicht der Computer hat Nerds hervorgebracht, aber er hat so viele Nerds angezogen, dass man sie als Typus überhaupt erkennen konnte und in metonymischer Verwechslung den Computer als die Ursache verstand. Bevor es Computer gab, suchten sie sich andere passende Strukturen: Briefmarkensammlungen etwa oder Modelleisenbahnen oder altgriechische Lyrik. Und dass ihre Kleidung, Körperhygiene und ihr Sozialverhalten nicht den allgemeinen Standards entspricht, hat nichts mit fehlender Zeit und Selbstvergessenheit zu tun, sondern damit, dass die anderen Standards nicht als Standards begreifen, sondern als das, was gerade so üblich ist, als Konventionen. Ein System, aus dem der Nerd aktiv ausgeschlossen wird oder mit dem er von vornherein nichts anfangen kann, genau das ist sein Makel oder seine Besonderheit, je nachdem, wie man darauf schaut. Und deshalb beschäftigt er sich damit nicht mehr, wenn er eine Kompensationswelt gefunden hat. Nicht der Nerd wird ausgegrenzt, er grenzt sich selbst aus, weil er sich nur innerhalb der Zauberkreise von Spielen aufhält und nichts mit dem Unkontrollierbaren außerhalb anfangen darf, will oder kann.12 Wenn sie sich nur in Bezug auf Regeln begreifen können, dann ist damit nicht blinder Gehorsam gemeint. Der subkulturelle und subversive Geruch, der Nerds manchmal umweht, kommt daher, dass sie sich nur funktionierenden und sinnvollen Regeln unterwerfen wollen. Regeln, deren einziger Sinn darin besteht, dass sie befolgt werden müssen, sind für sie keine Regeln, weil sich aus ihnen kein Spiel ergibt: keine unendliche Entwicklung von Formen, über die man permanent Kontrolle ausüben kann. Wenn Benjamin Nugent davon 12 | »So if intelligence in itself is not a factor in popularity, why are smart kids so consistently unpopular? The answer, I think, is that they don’t really want to be popular. If someone had told me that at the time, I would have laughed at him. Being unpopular in school makes kids miserable, some of them so miserable that they commit suicide. Telling me that I didn’t want to be popular would have seemed like telling someone dying of thirst in a desert that he didn’t want a glass of water. Of course I wanted to be popular. But in fact I didn’t, not enough. There was something else I wanted more: to be smart. Not simply to do well in school, though that counted for something, but to design beautiful rockets, or to write well, or to understand how to program computers. In general, to make great things« (Graham 2003).

Nerds. Computer. Piraten

spricht, dass die anderen die Nerds oft mit dem Attribut »maschinenhaft« (Nugent 2007) versehen, dann drückt sich darin genau dieser Wesenszug aus: der heilige Ernst, mit dem alles betrieben wird, was auf diese Weise betrieben werden kann. Bis hin zum Humor. Der Computer nun ist das perfekte Spiel, egal, welches Programm auf ihm läuft. Man kann gar nicht anders, als zu spielen, wenn man mit ihm umgehen möchte. Der Prozessor versteht nur bestimmte Befehle, und um zwischen ihm und dem Menschen vor ihm zu vermitteln, müssen diese Befehle in immer neue Algorithmen eingepasst werden, um immer wieder neue Formen zu erzeugen. Auch wenn es Computerunverständigen so scheinen mag, haben die Fehlermeldungen, Systemabstürze und Funktionsverweigerungen immer einen nachvollziehbaren und behebbaren Grund. Und haben nichts damit zu tun, dass jemand heute mal keine Lust hat, gerade nicht aufgepasst hat, letzte Nacht schlecht geschlafen hat oder einfach mal anti drauf ist. Es kann Monate und Jahre dauern, bis die Ursache behoben ist, weil das Zusammenspiel der Elemente so komplex ist, aber dass es eine behebbare Ursache gibt, ist eine feststehende Tatsache. Der Computer ist komplett indiskriminierend. Der korrekte Nerd-Computer-Syllogismus lautet dann auch: »Nerds sind sozial Ausgegrenzte. Der Computer ist eine indiskriminierende Welt. Also werden Nerds vom Computer angezogen, weil sie dort nicht ausgegrenzt werden.«

C OMPUTER -P OLITIK Der Diskurs über die Nerdhaftigkeit der Piraten ist insofern falsch, als er die Computeraffinität der Parteimitglieder missversteht als Ursache für ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil und eine bestimmte politische Agenda: die sogenannte Monothematik der Partei, die sie als Advokat des Computers und des Internets erscheinen lässt. Der Diskurs ist dann aber insofern richtig, als er dabei genau die stereotypen Ausgrenzungsmechanismen verwendet, die dem Nerd-Komplex seit seiner Erfindung in vorcomputeriellen Zeiten zugrunde liegen. Die Piratenpartei ist nun allerdings nicht monothematische Partei in dem Sinne, dass sie ausschließlich für Wirtschaftsinteressen, für Einwanderungsfragen oder für Umweltschutz eintreten würde, was erfolgreiche politische Monothemen von deutschen Parteien in der Vergangenheit waren, sondern als eine Bürgerrechtspartei. Der falsche syllogistisch hergestellte Computerbezug überdeckt, dass es nicht um Computer und Internet an sich geht, sondern um uneingeschränkten Zugang zu Sozialstrukturen. Das ist in der Kompensationswelt Computer bereits erfahren worden und deshalb wird diese auch vehement verteidigt, das soll aber auch so ausgeweitet werden, dass eine Reintegration in andere Sozialstrukturen möglich wird. Die viel belächelte und immer wieder hervorgehobene Forderung nach gemeinschaftsfinanziertem öffentlichen Nah-

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verkehr erklärt sich genau so. Wenn man öffentlichen Nahverkehr als ein Wirtschaftsunternehmen begreift, das ein Produkt namens »Einzelbeförderung« herstellt, dann wird diese Forderung lächerlich, weil sie völlig unökonomisch ist. Wenn man dagegen Busse und Bahnen und ihren Betrieb als Zugangsmöglichkeiten zum öffentlichen Leben versteht, so wie es Straßen, Bürgersteige und Radwege auch sind, die ohne Gebühren zur Verfügung gestellt werden, dann wird sie verständlich als Forderung nach uneingeschränkter sozialer Teilhabe. Auch das Prinzip der Transparenz, für das die Piratenpartei eintritt, bezieht sich darauf, dass Verwaltungsvorgänge, politische Entscheidungen, Verteilung von Mitteln, staatliche Ermittlungen, juristische Entscheidungen so einsehbar und nachvollziehbar sein sollen, dass keine eingeweihten Gruppen zu Lasten anderer Nichteingeweihter profitieren können und Hierarchien und Privilegien nur deshalb bestehen. Auch hier soll alles für alle zugänglich sein und prinzipiell für alle die Möglichkeit der Teilhabe bestehen. Die »Zensursula«-Kampagne, mit der die Piratenpartei in Deutschland ihren größten Aufschwung erlebte, konnte genau so missverstanden werden, wie man Computer und Nerds missversteht. Denn die Verteidigung des Rechts auf freien Internetverkehr war eine Verteidigung des Rechts auf freien Zugang, der im Internet im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen erlebt werden kann und nicht auch dort eingeschränkt werden sollte. Dass diese Kampagne hauptsächlich im Internet stattfand, war strukturell folgerichtig, denn nur dort war der Zugang zu Produktionsmitteln, Informationsmaterial, Publikationswegen und öffentlichen Plattformen unbeschränkt. Dass alles mit und in dem Computer stattfand, war auch hier Symptom und nicht Ursache. Und auch der erstaunlich hohe Zuspruch, den die Piratenpartei in relativ kurzer Zeit mit einem unklaren Parteiprogramm und ständig fluktuierendem politischen Personal erfahren hat, lässt sich nur dadurch erklären, dass hier ein übergreifendes Prinzip eine hohe Anschlussfähigkeit besitzt, für verschiedenste gesellschaftliche Gruppen, die für verschiedenste gesellschaftliche Themen stehen. So wie Solidarität, Freiheit oder Nachhaltigkeit zu anderen Zeiten für andere politische Parteien funktioniert hat, um sich zu formieren und zu etablieren, bevor sich dieses übergreifende Ziel in der Vielfältigkeit von politischen Entscheidungen wieder verwischen musste. Dass all diese Formationen auch mit bestimmten räumlich-sozialen Organisationsformen wie Kundgebung, Markt oder Demonstration und mit bestimmten sozialen Ausgrenzungsfiguren wie Kommunist, Kapitalist oder Alternativer einhergingen, also ähnliche Verknüpfungen wie den Piraten-Computer-Nerd-Syllogismus, wird in so einer strukturellen Analyse deutlich. Nerds sind in diesem aktuellen Diskurs dann nicht spezifisch, sondern nur die gegenwärtige hegemoniale Diskredition. Dass es sich bei den Nerds allerdings um die sozial Ausgegrenzten handelt, die nun wegen des Erfolgs ihrer Alternativwelt noch einmal ausgegrenzt werden müssen, ist die Pointe dieses gegenwärtigen Geschehens.

Nerds. Computer. Piraten

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Leidenschaft Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen Lawrence Lessig

An einem sonnigen Februarsamstag im Jahr 2011 betrat ich das Convention Center in Phoenix, Arizona, um an meiner ersten Konferenz der Tea Party Patriots teilzunehmen. Ich bin kein Anhänger der Tea Party und folge nicht demselben Leitbild wie die meisten ihrer Anhänger, doch ihr Erfolg bei den vergangenen Zwischenwahlen von 2010 hatte mich so fasziniert, dass ich mehr über die Macht dieser Bewegung erfahren wollte. (Die Republikaner gewannen damals 63 Sitze im Repräsentantenhaus, sechs Senatssitze sowie 700 Mandate in Bundesstaatsparlamenten und sechs Gouverneursposten.1) Die Bewegung als solche brodelte zwar schon lange, doch gegründet wurde die Tea Party erst am 19. Februar 2009. An diesem Tag hielt der CNBC-Fernsehjournalist Rick Santelli im Börsensaal der Chicago Mercantile Exchange eine flammende Rede, in der er Obamas Hilfsprogramm für Hausbesitzer kritisierte. Er beendete seine Tirade mit dem Aufruf: »Es ist Zeit für eine neue Tea Party!« Die Rede wurde umgehend auf YouTube veröffentlicht und der entsprechende Link über Twitter verbreitet. Tausende reagierten, kommentierten, verbreiteten weiter. Im ganzen Land wurden Graswurzelveranstaltungen organisiert. Keine zwei Monate später, am 15. April 2009 (dem Tag, an dem alle US-Bürger ihre Steuererklärungen abgeben müssen), nahmen in den gesamten USA ganze 1,2 Millionen Menschen an über 850 Veranstaltungen der Tea Party teil. Mark Meckler und Jenny Beth Martin, Mitgründer der Tea Party Patriots, beschreiben den Anfang der Bewegung in ihrem demnächst erscheinenden Buch Tea Party Patriots: The Second American Revolution folgendermaßen: »Die erste amerikanische Revolution mag mit einem Gewehrschuss begonnen haben, doch die 1 | Die Bedeutung der Tea Party bezüglich dieser Stimmgewinne ist umstritten. Skocpol und Williamson liefern jedoch überzeugende Argumente dafür, dass die Tea Party hier eine wichtige Rolle gespielt hat (vgl. Skocpol/Williamson 2012: 158-161).

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zweite amerikanische Revolution begann mit einem Hashtag« (Meckler/Martin 2012: 16). Ob Revolution oder nicht, die Tea Party ist mit Sicherheit eine wichtige neue Kraft in der aktuellen politischen Landschaft der USA. Die Autorinnen Theda Skocpol und Vanessa Williamson schätzen in ihrem neuen Buch The Tea Party and the Remaking of Republican Conservatism, dass etwa 200.000 volljährige Amerikaner in den Mitgliedslisten aktiver lokaler Tea-Party-Ableger geführt werden. Diese große Zahl spiegelt die breite Unterstützung, die die Tea Party landesweit genießt: »Seit Ende 2009 gaben etwa 30 % der volljährigen Amerikaner an, einen allgemein positiven Eindruck der Tea Party zu haben. Berichten zufolge bewegte sich die Unterstützung in der Bevölkerung bis ins Jahr 2011 auf diesem Niveau« (Skocpol/Williamson 2012: 21). Bei den Wahlen im Jahr 2010 gingen beachtliche 40 Prozent der abgegebenen Stimmen auf das Konto der Tea Party. Und diese Erfolgswelle setzte sich auch im darauf folgenden Frühjahr fort, als die Tea Party Patriots, die Tea-Party-Anhänger mit den stärksten Beziehungen zur Graswurzelbewegung, sich in Arizona versammelten (vgl. ebd.: 21f., 108).

P HOENIX , A RIZONA Das Convention Center in Phoenix ist groß. An jenem Samstagmorgen war es in der Haupthalle gerammelt voll. Knapp 1700 Menschen waren aus dem ganzen Land angereist, um an der Versammlung teilzunehmen. Die Anwesenden entsprachen genau dem von Politikwissenschaftlern entwickelten demografischen Profil eines Tea-Party-Anhängers: fast ausschließlich weiß, leicht überwiegend männlich und in den meisten Fällen älter (als ich).2 Doch es gab auch etwas, das sich nicht demografisch quantifizieren lässt: Leidenschaft. Echt, stark und auf breiter Basis. Diese Leidenschaft machte es unmöglich, das Geschehen für etwas ganz Gewöhnliches zu halten. Es war nicht gewöhnlich. Was hier zum Ausdruck kam, waren die Frustration und auch die Hoffnung von Amerikanern, die in Sorge um ihr Land waren, die befürchteten, dass ihrem Land etwas Schreckliches zugestoßen war.

2 | Den meisten Erhebungen zufolge sind 55 bis 60 Prozent der Tea-Party-Anhänger männlich (Skocpol/Williamson 2012: 42). Sie sind »überwiegend weiß […], verheiratet, über 45, konservativer als der Durchschnitt der Bevölkerung sowie tendenziell wohlhabender und besser ausgebildet« (Wikipedia-Eintrag zum »Tea Party Movement«, online unter: http://en.wikipedia.org/wiki/Tea_Party_movement [12.01.2012], übersetzt durch die Herausgeber). 62 Prozent der Tea-Party-Anhänger beschreiben sich selbst als konservative Republikaner (Skocpol/Williamson 2012: 27-28).

Leidenschaft — Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen

Einen großen Teil ihres Erfolgs verdankt die Tea Party ohne Zweifel dem endlosen Geldfluss von Milliardären am rechten Ende des politischen Spektrums. Besonders wichtig ist auch die Unterstützung durch rechtsgerichtete Medienanstalten.3 Doch die Leidenschaft in Phoenix entstammte keiner dieser Quellen. In den Worten von Skocpol und Williamson: »Das Bild der Tea Party als von oben orchestriertes Puppentheater wird dem freiwilligen Engagement der vielen Tausenden nicht gerecht, die mit ihren selbst gemalten Schildern zu Versammlungen reisen und […] sich regelmäßig in ihren selbst gegründeten örtlichen Tea-Party-Gruppen treffen« (2012: 12).

Und auch Glenn Reynolds schreibt: »Dies sind wirkliche Menschen mit echten Jobs. Viele von ihnen haben nie zuvor an einem Protestmarsch teilgenommen. Sie stehen für eine Form von Energie, die es in unserer Politik lange Zeit nicht gegeben hat – und für einen Zustrom neuer Aktivisten« (2009).

Milliardäre und Medien mögen die Bewegung angeheizt haben – vielleicht haben sie ihr auch eine Logik und konkrete Ziele verliehen und versucht, diese durchzusetzen. Doch was ich an diesem Wochenende in Arizona vorgefunden und beobachtet und schließlich bewundert habe, war etwas ganze Eigenes, weit entfernt von Glenn Becks Hirn und unabhängig von den Scheckbüchern der Gebrüder Koch. Eine solche Leidenschaft tritt vielleicht einmal in jeder Generation in Amerika auf. Einer solchen Leidenschaft gebührt die Aufmerksamkeit der Regierung. Die Leidenschaft, deren Zeuge ich wurde, entstammt natürlich dem rechten politischen Spektrum. Sie betraf an diesem Wochenende finanzielle Fragen, nicht gesellschaftliche. Es wurden keine Reden über die Rechte von Homosexuellen oder über Abtreibung geschwungen. Stattdessen galt die Aufmerksamkeit dem Haushalt, dem Defizit und »Strategien«, mit denen man die »Kontrolle« über die Regierung zurückgewinnen wollte. Es gab Dutzende von Teach-ins, bei denen Experten und solche, die sich dafür hielten, vor Kleingruppen vortrugen. Die Themen reichten vom Freihandel (der Vortragende, dem ich zuhörte, war dagegen) bis zur Geschichte der amerikanischen Verfassung (als der Vortragende zugab, den Namen Ayn Rand nicht zu kennen, fürchtete ich einen Aufstand). Die Tausende Teilnehmer der Konferenz wollten lernen, was sie wissen muss3 | »Graswurzelaktivisten, ungebundene, milliardenschwere Hintermänner und ultrakonservative Medienvertreter – diese drei Kräfte zusammen erschufen die Tea Party und verleihen ihr die anhaltende Macht, die Republikanische Partei umherzuschubsen und ihre Richtung zu bestimmen« (Skocpol/Williamson 2012: 13).

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ten, um aktiv zu werden. Denn fast alle teilten die Ansicht, dass die Regierung außer Kontrolle geraten sei und es dramatischer Eingriffe bedürfe, diese Kontrolle wiederzuerlangen. Thema des Tages, nicht nur in Arizona, sondern im ganzen Land, war an jenem Samstag die Schuldenobergrenze. Im Mittelpunkt stand dabei die Ankündigung einiger von der Tea Party unterstützter Kongressabgeordneter, die gegen eine Erhöhung stimmen wollten. Ein paar dieser Abgeordneten waren vor Ort, um ihre Position zu verteidigen (wobei sie kaum mit Widerstand zu rechnen hatten). Einige waren dort, um diese Position zu relativieren oder (nicht sehr erfolgreich) darauf hinzuweisen, dass eine solche Politik des äußersten Risikos weitere Kosten mit sich bringen könnte. Was jedoch auch mir als Liberalem deutlich wurde, war, dass diese Tea-Party-Leute keine Dummköpfe waren. Sie erkannten die Gefahren dieses Flirts mit dem finanzpolitischen Abgrund. Und genau wie Eltern, die ihr drogensüchtiges Kind vor die Tür setzen, oder wie eine Ehefrau, die ihren alkoholkranken Mann verlässt und dabei nur die Kinder, das Auto und genug Kleider mitnimmt, glaubten sie, dass das Risiko gerechtfertigt ist. Sie waren überzeugt, dass es eines gewissen Maßes an Wahnsinn bedürfte, um wieder zu so etwas wie finanzpolitischer Zurechnungsfähigkeit zu kommen. Ich teilte diese Ansicht nicht. Ich dachte (und denke immer noch), dass eine Politik, die sich dermaßen am Rande des Abgrunds bewegt, finanzpolitischem Selbstmord gleichkommt. Aber ich erkannte, dass dies für die Tea-Party-Anhänger eine Taktik darstellte – eine Möglichkeit, die Regierung aus ihrem Wahn wachzurütteln. Sie sahen es so: Uncle Sam war betrunken, darum wollten sie ihm die Wagenschlüssel wegnehmen. Auch wenn dies hieß, dass er zu Fuß nach Hause gehen muss. Mitten in der Nacht, im Dunkeln, bei Minusgraden, ohne Mantel. Vielleicht, so dachten sie, würde er so lernen, die Finger von der Flasche zu lassen. Denn bisher gab es nichts, was ihn dazu gebracht hatte. Aber lassen wir das konkrete Ziel der Tea-Party-Leute in Phoenix vorerst außer Acht. Betrachten wir nicht das, was sie vorhatten. Sehen wir uns stattdessen die Menschen selbst an. Knapp 2000 Bürger waren dort versammelt. Doch anders als die meisten Bürger entsprachen diese hier dem Bild, das die Verfassungsväter vor Augen hatten. Sie waren Freiwillige im Einsatz für ihr Land. Niemand bezahlte sie dafür, dort zu sein und zu arbeiten. Im Gegenteil: Sie hatten ein persönliches Opfer gebracht – ein für manche recht großes persönliches Opfer – um durchs ganze Land nach Phoenix zu reisen und dort zum Wohl ihres Landes zu arbeiten. Und durch diesen Einsatz beschworen sie den einzigen Geist herauf, der in diesem Land je wirklich etwas verändert hat. Einen Geist, der wahre Macht hat, jedenfalls dann, wenn er in unser aller Namen spricht – und ganz unabhängig davon, ob das auch die Regierung einschließt.

Leidenschaft — Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen

Z UCCOT TI PARK , N E W YORK C IT Y Acht Monate nach meinem Wochenende in Phoenix war ich in New York. Mein Buch Republic, Lost war gerade erschienen. Ich war soeben von einer Reise nach Übersee zurückgekehrt und litt noch ziemlich unter Jetlag. In diesem Zustand nahm ich die U-Bahn zum Zuccotti Park, um mir die Leute dort anzusehen, ihnen zuzuhören und schließlich mitzumachen, als sie und die Bewegung, für die sie standen – bekannt unter dem Namen Occupy Wall Street – 15.000 Menschen mobilisierten und auf das Rathaus marschierten. Die Occupy-Bewegung hatte ihren Anfang erst zweieinhalb Wochen zuvor genommen, am 17. September 2011, dem Tag der amerikanischen Verfassung. Zwei Tage darauf erschien auf Facebook der Link zu einem YouTube-Video über die Bewegung, die ursprünglich im Juli von der kanadischen Gruppe Adbusters angeregt wurde. Weitere drei Tage später erreichte der Protest seine kritische Masse. Laut Wikipedia gab es Mitte Oktober 125 verschiedene Facebook-Seiten, die mit der Occupy-Bewegung zu tun hatten. Jeder 500ste weltweit auf Twitter verwendete Hashtag war #OWS, der Hashtag der Bewegung. Am 15. Oktober demonstrierten Zehntausende in weltweit 900 Städten, darunter Auckland, Sydney, Hongkong, Taipei, Tokio, São Paolo, Paris, Madrid, Berlin, Hamburg, Leipzig und viele weitere.4 Der Marsch, bei dem ich Zeuge wurde, fand zehn Tage vor diesen weltweiten Demonstrationen statt. Und natürlich unterschied er sich von meinem Wochenende in Phoenix. Doch die beiden Veranstaltungen hatten auch viele Gemeinsamkeiten. Die Menschen in New York waren anders. Die meisten von ihnen waren jünger als die Tea-Party-Anhänger, obwohl es Demonstranten jeden Alters gab, von Kindern bis zu Senioren. Sie bildeten eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Ethnien, Geschlechtszugehörigkeiten und sexuellen Orientierungen. Und ihre Absicht war noch nicht klar definiert. Doch wie die Bürger in Phoenix waren sehr, sehr viele von ihnen dort, weil sie wütend und besorgt über den Kurs ihres Landes waren. Auch sie waren zutiefst frustriert. Auch sie waren zusammengekommen, um dieser Frustration gemeinsam Ausdruck zu verleihen. Und in Anbetracht ihrer Ansichten hätten sie sich keinen besseren Startpunkt für ihren Marsch aussuchen können als die Wall Street. In den 36 Monaten nach dem Zusammenbruch der Finanzwelt waren diese Amerikaner sehr unzufrieden mit der Art und Weise, wie Probleme angegangen wurden. Der Kollaps der Banken hatte eine landes- und dann weltweite Wirtschaftskrise nach sich gezogen. Die Regierung hatte die Finanzwelt der Wall Street und einige große US-amerikanische Unternehmen mit umfang4 | Vgl. Wikipedia-Eintrag »Occupy Wall Street«: http://en.wikipedia.org/wiki/Occupy_ Wall_Street [12.01.2012].

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reichen Rettungsschirmen unterstützt. Sie erhielten über 700 Milliarden USDollar vom Kongress und über 9 Billionen US-Dollar von der US-Notenbank. Damit verglichen war die Unterstützung, die kleine Unternehmen und die Mittelschicht erhielten, nur ein Almosen. Einen großen Teil des Rettungspakets zahlten sich die Wall-Street-Banker in Form von beachtlichen Boni aus. Es waren die größten Boni, die je von einem Aktienunternehmen in der gesamten Geschichte des Kapitalismus ausgezahlt wurden. Weltweit. Sie hielten an dem Geld fest, das die Regierung ihnen gegeben hatte, und trieben gleichzeitig Hausbesitzer im ganzen Land in die Zwangsvollstreckung. Einfach ausgedrückt: Wir als Nation erlebten eine schwere Wirtschaftskrise. Die Regierung griff massiv ein. Dieser Eingriff half ohne Zweifel der Wirtschaft ganz allgemein, aber er half vor allem einem kleinen Anteil von Amerika. Das eine Prozent, wie es die Occupy-Anhänger in ihrem so treffenden Bild bezeichneten, wurde gerettet. Die 99 Prozent leiden weiter. So betrachtet hatte die Bewegung nicht unrecht. Ob beabsichtigt oder nicht, ob geplant oder zufällig: Die Vorstellung eines Rettungsschirms, der nur den Reichen zugute kommt, hat etwas Verabscheuenswertes. Sie entspricht nicht dem sozialen Gerechtigkeitsprinzip eines John Stuart Mill und nicht einmal dem von Ronald Reagan. Dies war die soziale Gerechtigkeit der Titanic: Unsere Wirtschaft war mit einem Eisberg zusammengestoßen. Den Passagieren der ersten Klasse half die Crew in die vorbereiteten Rettungsboote. Allen anderen erklärte man, sie sollten schwimmen. Diese Erkenntnis hat ihre eigene Art von Leidenschaft entfacht. Der Großteil dieser Leidenschaft entstammt dem linken politischen Spektrum. Ein Teil kommt von Linksaußen, ein weiterer Teil sogar von der anarchistischen Linken (oder Rechten, je nachdem, wo man Anarchisten einordnet). Doch die meisten der Occupy-Aktivisten bezeichnen sich selbst nicht als Demokraten (27,3 Prozent), sondern als Unabhängige (70 Prozent). Ihre Form des Protests unterscheidet sich von jener der Tea-Party-Anhänger. Sie setzen eher auf zivilen Ungehorsam und Massenaktionen. Zwar ist es im Zusammenhang mit Occupy wohl zu mehr kriminellen Aktionen gekommen als bei der Tea Party (allerdings nichts davon so erschreckend wie die Drohungen gegen den Bruder des Kongressabgeordneten Tom Perriello und seine Familie – Drohungen, die spätestens dann ernst wurden, als die Gasleitung zum Haus der Familie beschädigt wurde; vgl. Skocpol/Williamson 2012: 32). Doch die Occupy-Bewegung genießt mehr Rückhalt durch die Öffentlichkeit als die Tea Party. Einer am 15. Dezember 2011 veröffentlichten Untersuchung des Pew Research Center zufolge erklärten 44 Prozent der befragten Amerikaner, dass sie »die Occupy-Wall-Street-Bewegung befürworten«. Inhaltlich ist ihre Zustimmung mit den Positionen der Bewegung überwältigend. Doch die eingesetzten Taktiken werden von der Mehrheit der Befragten abgelehnt (vgl. Pew Research Center 2011: 11).

Leidenschaft — Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen

Doch lassen wir – wie zuvor bei der Tea Party – einmal die konkreten Forderungen der Occupy-Leute beiseite (sofern es überhaupt welche gibt). Lassen wir außer Acht, was sie erreichen wollen. Sehen wir uns die Menschen selbst an. Auch hier waren Tausende von Bürgern. Auch sie entsprachen dem Bild von Bürgern, das die Gründerväter im Sinn hatten. Auch sie waren Freiwillige. Sie waren vielleicht jünger (Durchschnittsalter: 33 Jahre), sie beschäftigten sich weniger mit dem, was ältere Leute tun (Versammlungen abhalten und wählen) und mehr mit dem, was junge Leute tun (demonstrieren, protestieren, Zeltdörfer in Parks errichten). Aber genau wie die Tea-Party-Anhänger hatten auch die Occupy-Bewegten persönliche und in manchen Fällen bedeutende Opfer gebracht, um dort im Park zu übernachten und mit vielen anderen zusammen zu fordern, dass sich etwas bessert in diesem Land. Matt Patterson ist einer dieser Aktivisten. Der 27-jährige gebürtige Kalifornier studierte Politikwissenschaften an der UCLA, zog 2011 nach Washington, bestand die Prüfung für den diplomatischen Dienst und arbeitet heute für ein Gewerbeimmobilien-Unternehmen. Patterson gehörte zu den ersten, die sich Anfang Oktober 2011 den Protesten unter dem Motto »Occupy K Street«5 anschlossen. Jeden Tag nach Feierabend geht er ins Zeltdorf und bleibt dort bis neun oder zehn Uhr abends. Manchmal übernachtet er im Camp. Als ich ihn im Dezember 2011 interviewte, hatte er dort immer noch ein Lager. Patterson wurde vom enttäuschten Obama-Anhänger zum Occupy-Aktivisten. »Die Mechanismen, die wir einsetzen, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, funktionieren nicht«, erklärte er mir. Nachdem er sich der Occupy-Bewegung anschloss, erkannte er, wie viele Menschen »im ganzen Land dieselbe Art von Enttäuschung und Frust spürten«. Occupy K Street ist nicht dasselbe wie Occupy Wall Street.6 Patterson beschreibt es so: »Wir haben einiges von dem aufgegriffen, was die bei Occupy Wall Street gemacht haben, aber wir haben es weiter entwickelt und manches anders gemacht.« So verzichtet Occupy K Street ebenso wie Occupy Wall Street 5 | Anm. d. Übers.: Die K Street in Washington, D.C. ist die Adresse zahlreicher Lobbyfirmen, Think Tanks, Interessenvertretungen und anderer politischer Einflussnehmer. Der Begriff »K Street« steht in US-amerikanischen politischen Debatten zugleich für das räumliche Zentrum und den wachsenden Einfluss des Lobbyismus. 6 | Auf meinen Reisen durch das ganze Land und zu vielen dieser unterschiedlichen Gruppierungen konnte ich beobachten, dass jede von ihnen ihren ganz eigenen Charakter hat. Occupy Seattle war militanter geworden, als ich dort war. Sie lehnten das Angebot des Bürgermeisters ab, Räume im Rathaus zu nutzen, weil sie sich nicht »vereinnahmen« lassen wollten. Am buntesten und vielfältigsten schien Occupy Boston: Dort waren die unterschiedlichsten Leute vertreten, von Drogensüchtigen (die in einer drogenfreien Zone lebten) über Studenten bis hin zu Berufstätigen. Außerdem verfügte Occupy Boston über ein Gesundheitszentrum und eine Bühne mit Mikrofon.

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auf Lautsprechertechnik für Sprecher, obwohl es in Washington, D.C. kein Gesetz gegen den Einsatz von Lautsprechern gibt. Stattdessen setzen die Bewegungen auf das »Volksmikrofon«: Jeder Satz der Sprecher wird vom Publikum wiederholt, sodass jeder gleichzeitig Redner und Zuhörer ist. Anders als Occupy Wall Street veröffentlichte Occupy K Street jedoch keine lange Liste von Forderungen. Stattdessen »haben wir unsere Erklärung«, wie Patterson mir in einem Telefongespräch erklärte. Die Idee ist also, »von den Grundprinzipien auszugehen und mit dem ersten Schritt anzufangen: Geld und Politik […]. Die Finanzwelt der Wall Street ist der Knackpunkt vieler finanzieller und gesellschaftlicher Probleme, mit denen wir zu tun haben.« Und er fügt an: »Wir dachten, es wäre eine gute Ergänzung und der logische nächste Schritt, diese logische Verbindung zur K Street zu knüpfen.« »Ich würde es so formulieren: Warum ist Occupy Wall Street an der Wall Street? Warum sind wir hierher gekommen? Weil dies die Wurzel des Übels ist. Genau hier. Es wird nie gute Energiepolitik geben, gute Umweltpolitik, gute […] Technologie-Gesetze, so was wird aus Washington nie kommen, solange wir das Geld nicht austreiben.«

Doch die Occupy-Anhänger selbst sind kein Argument. Eine Bewegung ist keine Liste von Forderungen. Aktuell gibt es noch nicht einmal ein Plan zum Regierungswechsel. Stattdessen konzentrieren sich die Occupy-Anhänger darauf, eine Demokratie wiederzubeleben. »Der schlafende Riese ist erwacht«, schrieben Meckler und Martin über die Tea Party (2012: 15). Die Occupy-Leute sind noch mit dem Aufwecken beschäftigt – sie tun das, indem sie andere, Außenseiter, an die Macht erinnern, die ihnen nach wie vor bleibt. Hier geht es um eine zehnmillionenfache Erfahrung, um das politische Erweckungserlebnis, nicht nur Mensch zu sein, sondern auch Bürger. Patterson berichtet von einem solchen Moment: »Ich erinnere mich an die wirklich ergreifende Rede eines Obdachlosen. Viele von uns waren da, um ihn versammelt. Es war ziemlich bewegend. Denn hier erzählte jemand, wie ausgestoßen er sich fühlte. Wie die Menschen an ihm vorbeigingen, ohne mit ihm zu sprechen. Wie jeder einfach irgendetwas über ihn und sein Leben annahm. Doch jetzt war er da und redete, war aktiv. In dieser Bewegung hatte er eine Stimme. Dieser Typ, eine der unwichtigsten Stimmen in der Gesellschaft, war da und hatte eine Stimme. Und wir alle, die wir uns irgendwie sprachlos fühlten – hier, in diesem Park, haben wir alle eine Stimme. Und das ist ziemlich cool.«

Diese beiden Geschichten von zwei sehr unterschiedlichen Leidenschaften werden bei Ihnen als Leser zwei sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Erstens sollten sie ein Gefühl der Hoffnung wecken. Zweitens und besonders dann, wenn Sie einer dieser Bewegungen nahestehen, fühlen Sie wahrschein-

Leidenschaft — Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen

lich so etwas wie Ärger oder Enttäuschung über die Art und Weise, wie ich die beiden hier gemeinsam darstelle.

D ER A MATEUR IST ZURÜCK IM S PIEL Beginnen wir mit der Hoffnung: Die Couch-Potato hat sich vom Sofa erhoben. Das ist von zentraler Bedeutung, aber nur Teil eines übergeordneten Trends. In der Vergangenheit habe ich über die sogenannte »Nur-Lese-Kultur« geschrieben. Eine »Nur-Lese-Kultur« ist eine Kultur, in der Menschen passiv Kulturprodukte konsumieren, die anderswo von professionellen Kulturschaffenden hergestellt werden. Diese Konsumenten sind die Couch-Potatos. Die Vierjährigen mit dem iPod (aber nicht die Sechsjährigen). Man stelle sie sich vor: Verloren an eine andere Welt, aber auch verloren für diese Welt. Das Gegenstück zur »Nur-Lese-Kultur« ist die »Lese/Schreibe-Kultur«, in der Amateure ihre eigenen Kulturprodukte oder Kulturversionen schaffen und diese Kreativität mit anderen teilen. Man denke an Remix-Videos auf YouTube, Flickr-Fotos, Wikipedia oder auch die Links und Retweets auf Twitter. Dass diese Produkte von Amateuren geschaffen werden, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie amateurhaft sind. Manche sind es, viele nicht. Aber ob amateurhaft oder nicht, ist nicht die Frage. Amateur steht hier mehr im ursprünglichen Wortsinn: Ein Amateur ist jemand, der etwas liebt, der aus Liebe zum Schaffen schafft, nicht aus Geldinteresse. Diese Art von Amateurtugend ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Wir möchten, dass unsere Kinder Klavierspielen lernen, auch wenn wir nicht denken, dass aus ihnen Konzertpianisten werden. Wir wären stolz, wenn unser Kind der ortsansässige Experte zu einem abgelegenen Thema in irgendeinem klitzekleinen Wikipedia-Bereich würde, auch wenn wir wissen, dass dieses Expertentum kein Geld einbringt. Und wir fänden es sehr betrüblich, wenn eine enge Freundin immer nur professionellen Sex hätte und niemals Amateursex. Das berufliche Leben – das Leben des Gehaltsempfängers, der Arbeiterin, des Arztes, der Anwältin, des Lehrers – ist wichtig. Es stärkt die Persönlichkeit und schafft immensen gesellschaftlichen und persönlichen Wohlstand. Aber ein Leben nur für den Beruf ist nicht wichtig, fördert nicht die Persönlichkeit und schafft letztlich eine gewisse Armut – eine Armut, die ganz sicher individuell, aber auch gesellschaftlicher Art ist. Bis ins 20. Jahrhundert waren alle Kulturen »Lese/Schreibe-Kulturen«. Sie lebten nicht nur von professionellen Kulturschaffenden, die etwas aufführten oder schufen, sondern auch von Amateuren, die diese Werke wiederaufführten und damit erneut schufen. Musik wurde von professionellen Komponisten geschrieben, aber von Amateuren gesungen, gespielt und angepasst. »Als ich noch ein Junge war«, so der Komponist John Philip Sousa in einer Kongress-

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anhörung im Jahre 1906, »saßen an warmen Sommerabenden vor jedem Haus junge Leute zusammen und sangen die aktuellen Hits oder auch alte Lieder.« Doch er befürchtete, dass diese Amateurfreude durch die Technologie – den Plattenspieler oder das Pianola – abgetötet würde: »Heute hört man diese Höllenmaschinen Tag und Nacht plärren.« Was ist die Konsequenz? »Wir werden keine Stimmbänder mehr haben. Unsere Stimmbänder werden im Laufe der Evolution verschwinden, wie auch der Schwanz verschwunden ist, als sich der Affe zum Menschen entwickelte« (vgl. Lessig 2008: 24f.). Sousa hatte sicherlich Recht, jedenfalls in seinen Betrachtungen zur Technologie des 20. Jahrhunderts. Sie hat uns passiver gemacht. Wir hatten mehr Zeit zur Verfügung und bessere Musik, die wir konsumieren konnten. Plattenläden boten eine außerordentliche Vielfalt an Musik, buchstäblich zum Greifen nah. Wir wurden zu besseren Konsumenten und immer seltener zu Produzenten. Kreativität war etwas für die Leute, die sich damit auskannten. Wir hatten ruhig zu sein und zuzuhören. Doch Sousa hätte ganz sicher Unrecht, wenn er dasselbe über die Technologie des 21. Jahrhunderts sagen würde. Die digitale Technologie bietet uns nicht nur mehr Möglichkeiten zum Kulturkonsum. Sie hat auch die Fähigkeit zur Kulturproduktion radikal demokratisiert. Als ich jung war, tauschten die kreativen Leute untereinander Mixtapes. Mein Kind wird Remixes mit seinen Freunden teilen. In fünf Jahren werden sich Eltern Sorgen machen, wenn ihr Kind nur auf »Abspielen« drücken kann. Worauf ich an dieser Stelle hinaus will ist, dass dieselbe Transformation hin zu »Lesen/Schreiben« jetzt auch in der politischen Sphäre stattfindet. Bis zum 20. Jahrhundert – genauer gesagt bis zum Aufstieg des Rundfunks – war Politik immer »Lesen/Schreiben«. Die Stoßkraft demokratischer politischer Ansätze, inspiriert durch Andrew Jackson und zur Vollendung gebracht durch Martin van Buren, richtete sich immer darauf, die Menschen zu mobilisieren und nach draußen zu bewegen: zum Wahlkampf, zu Debatten, zu politischen Auseinandersetzungen. Und um diese Epoche nicht zu stark zu romantisieren: Die Mobilisierung diente natürlich auch dazu, Wählern Protektion zu versprechen oder die erforderlichen Stimmen zu kaufen. Das 20. Jahrhundert setzte auch dieser politischen Lese-/Schreibe-Kultur ein Ende. Wahlkämpfe wurden professionalisiert, ihre Leitung und Kontrolle zentralisiert. Das Publikum sollte still sein und zuhören. Das Schlimmste, was einfache Unterstützer tun konnten, war, ihre eigenen Texte zu schreiben. Wahlkampfmaterial war Sache der Profis. Aufgabe der Amateure war es, ruhig zu sein und wählen zu gehen.

Leidenschaft — Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen

O PEN -S OURCE -P OLITIK ? Doch auch in diesem Bereich belebt das 21. Jahrhundert neu, was das 20. Jahrhundert abgetötet hat. Die Technologie hat den Amateur zurück in die politische Arena gebracht. Sie gibt dem Blogger Gelegenheit, das politische Geschehen zu kommentieren oder zu kritisieren. Sie bietet Bürgern die Möglichkeit, Videos auf YouTube zu laden und dort Kommentare zu hinterlassen, sich über Meetup zu vernetzen oder iReports zu verfassen. Sie hat dem Tweet zu zentraler Bedeutung verholfen. Es gibt neue Möglichkeiten. Neue Kanäle. Nein, halt, vergessen Sie das. Das Konzept des »Kanals« ist obsolet. Es wurde ersetzt durch einen endlosen Strom von Schöpfungen, manche von Profis, andere von Amateuren, alle mit der Absicht, Menschen zu motivieren, ihre Ansichten und ihr Verhalten zu ändern. Alle diese neuen Technologien haben die Amateure wieder ins Spiel gebracht und dabei die Leidenschaften entfacht, die ich hier beschrieben habe. Diese Leidenschaften entsprechen ihrerseits einem Muster sozialer Bewegungen, das allen vertraut ist, die in diesem Zeitalter aufgewachsen sind. Es ist ein Muster, das allen gesellschaftlichen »Überraschungen« der letzten Generation gemein ist. Niemand (oder niemand außerhalb des MIT) hat sich das Internet ausgedacht. Es wurde von einer Bewegung erschaffen, die diesem Muster entspricht. Niemand (oder niemand außerhalb des MIT) hätte vorausgesagt, dass es einmal so etwas wie GNU/Linux geben würde, ein Open-Source-Betriebssystem, das es mit Windows aufnimmt. Niemand hätte so etwas wie Wikipedia überhaupt für möglich gehalten. Es war eine Bewegung nach diesem Muster, die Wikipedia verfasst hat. Niemand hätte vorausgesagt, welche Energie die Tea Party oder die Occupy-Bewegung oder andere, vergleichbare Bewegungen auf der ganzen Welt entwickeln würden. Doch alle passen ins selbe Muster. Was mich bei den Recherchen zu diesem Buch am meisten beeindruckt hat, war die Universalität, mit der die Ideale einer »Open-Source-Kultur« beschworen wurden, um diese Bewegungen zu beschreiben und zu erklären. Und das nicht nur am linken Ende des Spektrums. Die Tea-Party-Patrioten Mark Meckler und Jenny Beth Martin beschreiben die Tea Party schon am Anfang ihres Buchs als »Open-Source-Community«: »In der Welt der Softwareentwicklung zeichnet Open-Source-Communities aus, dass sie Ideen organisch entwickeln und verbessern, ausgehend von Konzepten und Praktiken, die sich bewähren. Open Source lebt von der Innovationskraft, die viele Einzelne beitragen und bedeutet ganz einfach, dass ein System all jenen offen steht, die daran mitarbeiten wollen. Es bietet die schnellstmögliche Optimierungsrate für Ideen. Im Fall der Tea-Party-Bewegung war genau dieses Konzept wesentlich für die Entwicklung einer echten politischen Revolution« (Meckler/Martin 2012: 19f.).

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Der Occupy-Aktivist Matt Patterson verwendete dieselbe Analogie: »Es ist wie bei Open-Source-Software. Es gibt einen Rahmen, aber keine formellen Hierarchien. […] Wer eine gute Idee hat, kann sie vorschlagen, andere unterstützen sie und so wandert sie durch das gesamte System. Wenn die Idee nicht gut ist, dann nicht.«

Ähnlich verhält es sich mit den vielen parallelen Bewegungen rund um die Welt. Sie alle bezeichnen sich als »Open Source«. Die leidenschaftlichste und ausdrucksstärkste Beschreibung einer solchen Bewegung hörte ich in Israel. Die 26-jährige Autorin und Komponistin Stav Shaffir gehörte zu den Führern der Protestbewegung, die im Sommer 2011 Tausende Israelis mobilisierte. Sie ergriff das Wort nach einem Vortrag, den ich dort hielt, und begann ihre Ausführungen mit den Worten: »Wir müssen erkennen, dass alles, was gerade geschieht, nur die praktische Anwendung von Open-Source-Prinzipien ist.« In einem fünfzehnminütigen Beitrag, der mehr Lyrik als Prosa war, knüpfte sie dann eine Verbindung zwischen den israelischen Protesten und der »Open-Source-Kultur«. Dabei beschrieb sie die israelische Kultur als von Konflikten geprägt, von »vielen verschiedenen Konflikten, nicht nur einem Konflikt mit den Palästinensern«. Araber gegen Israelis, strenggläubige Juden gegen weltliche, Immigranten aus dem Osten gegen solche aus dem Westen. »Es gibt fast so viele Konflikte wie Menschen hier«, erklärte Shaffir. Dies war die strategische Ausgangsbasis für die israelische Protestbewegung: Die Organisatoren versuchten zuerst, eine Gemeinsamkeit zu finden, ein Thema, das alle beschäftigte, auch wenn es nicht »das wichtigste Problem Israels« war: »Wir begannen mit dem sehr grundlegenden Thema Wohnungsnot, denn damit konnten wir alle erreichen. Es war kein Thema der Linken oder der Rechten, es betraf nicht nur die Menschen in Tel Aviv und nicht nur eine bestimmte Klasse. Es war ein landesweites Problem. Auf die eine oder andere Art reden wir alle über Wohnungsnot.«

Nachdem diese Grundlage geschaffen war, suchte die Protestbewegung in Iterationsschleifen nach weiteren Themen, bei denen sie Einigkeit ausmachen konnte. »Wir schrieben die erste Programmversion […]. Wir fanden die Gemeinsamkeit. Dann weiteten wir dieses Feld der Gemeinsamkeit immer mehr aus. Dabei gingen wir immer wieder einen Schritt vor und einen zurück. […] Es dauerte keine Woche, und wir konnten sagen, das Volk fordert soziale Gerechtigkeit. Nichts weniger als das.«

Und fast wie ein Echo von Pattersons oben zitierter Aussage fuhr sie fort:

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»Man schreibt die erste Zeile dieses Programmcodes und lässt dann jemand anders etwas hinzufügen. Wenn es funktioniert, wenn das Spiel weiter läuft, kann wieder jemand anders einen weiteren Teil beitragen. Und so kriegt man alle Leute zusammen. Wenn etwas nicht funktioniert […] lässt man es weg. Aber mit den ganzen zusammenpassenden Teilen erhalten wir ein großes Ganzes. So würde ich die Struktur beschreiben.«

Alle dieser Bewegungen haben denselben Aufbau wie GNU/Linux. Alle sind so entworfen, dass sie dieselbe demokratische Quelle speisen. Was Internetmitbegründer David Clark über die Gemeinschaft sagte, der wir das Internet verdanken, trifft auch auf diese Reformer zu: »Das lehnen wir ab: Könige, Präsidenten und Wahlen. Daran glauben wir: informeller Konsens und funktionierender Code« (Borsook 1995: 110).

Wir leben im Zeitalter des Open-Source-Prinzips: bei der Technologie, in der Kultur und nun auch in der Politik. Es zeichnet die gesellschaftlichen Bewegungen aus, die mit Hilfe vernetzter Technologien möglich machen, dass wir Gemeinschaft anders (er)leben. Dies ist der »Reichtum von Netzwerken«, die Yochai Benkler vor fünf Jahren beschrieb (vgl. Benkler 2007). Er wächst und gedeiht überall, und so ist es endlich an der Zeit, dass die Menschen ihn als das erkennen, was er ist: die Macht von heute. Damit komme ich zur zweiten Reaktion, die diese Zusammenstellung hervorrufen wird: Ärger. Wenn Sie zu den Bürgern gehören, die ich hier beschreibe – wenn Sie sich mit anderen Tea-Party-Anhängern auf Versammlungen treffen oder im Zeltlager der Occupy-Aktivisten campieren – ist es gut möglich, dass dieses Kapitel sie aufregt. Falls Sie der Tea Party nahestehen, sind Sie entrüstet, dass ich Ihre Leidenschaft mit der Leidenschaft der Occupy-Leute vergleiche – mit diesen »Amerika hassenden Anarchisten«, wie es eine Schrift der Tea-Party-Patrioten formuliert. Als Occupy-Anhänger fühlen Sie sich beleidigt, weil ich Ihr Engagement mit den »Rassisten« der Tea-Party-Bewegung in Verbindung bringe (denn als solche betrachten viele Occupy-Leute die Tea-Party-Anhänger, meiner Meinung nach zu Unrecht). Vielleicht erkennen Sie an, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Gefühlen dieser beiden Gruppen gibt, zwei Gruppen, die aufstehen und ihre Forderungen im Namen Amerikas stellen. Aber Sie werden nicht damit einverstanden sein, dass diese Ähnlichkeit eine Gleichheit ist. »Sie« sind nicht »wir«. Wir sind nicht sie. Und jeder, der das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Idiot oder Dr. Pangloss.7 7 | Anm. d. Übers.: »Dr. Pangloss« steht hier für einen unverbesserlichen Optimisten. Der Name ist Voltaires satirischer Novelle Candide (1759, dt. Übers. 1776) entliehen, in der Pangloss der überaus positiv gestimmte Lehrer des Titelhelden ist.

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There is nothing right in the Left. There’s nothing left to say to the Right.8

L ITER ATUR Benkler, Yochai (2007): The Wealth of Networks. Yale. Borsook, Paulina (1995): How Anarchy Works. In: Wired 3.10 (Oktober 1995). Lessig, Lawrence (2008): Remix: Making Art and Commerce Thrive in the Hybrid Economy. New York. Meckler, Mark/Martin, Jenny Beth (2012): Tea Party Patriots: The Second American Revolution. New York. Pew Research Center (2011): Frustration with Congress Could Hurt Republican Incumbents. 15.12.2011. Washington, D.C. Reynolds, Glenn H. (2012): Tea Parties: Real Grassroots. In: New York Post vom 13.04.2009, online unter: http://www.nypost.com/p/news/opinion/oped columnists/item_kjS1kZbRyFntcyNhDJFlSK [27.03.2012]. Skocpol, Theda/Williamson, Vanessa (2012):The Tea Party and the Remaking of American Conservatism. New York. Der Text ist ein Auszug aus dem Essay »One Way Forward« von Lawrence Lessig, der im Februar 2012 bei Byliner (San Francisco) erschienen ist. Übersetzung: Julia Ritter.

8 | Anm. d. Übers.: Das Wortspiel der beiden letzten Sätze lässt sich nicht übersetzen. Sinngemäß lauten sie: Es gibt nichts Rechtes in der Linken. Es gibt nichts mehr zu sagen zur Rechten.

Orange Von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe? Claudio Gallio »Die aktive Seite ist hier in ihrer höchsten Energie, und es ist kein Wunder, daß energische, gesunde, rohe Menschen sich besonders an dieser Farbe erfreuen. Man hat die Neigung zu derselben bei wilden Völkern durchaus bemerkt.« Goethe 1810 zur Farbe Gelbrot in seiner Farbenlehre

»Diese Farbe stört! Und zwar im besten Sinne. Sie kapert das Auge – und zieht die vollständige Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich«, so oder ähnlich hallt es seit Jahrzehnten durch deutsche Präsentations- und Konferenzräume, wenn es gilt, den grafischen Einsatz von Orange zu legitimieren. Besonders häufig war und ist diese Argumentation beim favorisierten Stilmittel der Werber zu hören, wenn es darum geht, günstige Angebote hervorzuheben und auf den ersten Blick erkennbar zu machen: den Preisstörer. In Form und Größe kann dieser zwar variieren – die Wahrscheinlichkeit allerdings, dass er orange ausfällt, ist ziemlich hoch. Es sei denn, das gesamte Motiv setzt auf optische Lautstärke und nutzt die Mischfarbe entsprechend großflächig. Dieses konsequente »Color Branding« begegnet einem beispielsweise auf Flughäfen europaweit, wenn man sich der Mietwagenzone nähert. Tatsächlich ist Orange in der Werbe- und Designwelt ein Alleskönner. Im Alleingang und großzügig eingesetzt, gilt es unter Marketingexperten als Köderfarbe für preisbewusste Konsumenten.1 Dezent verwendet (meist als Kontrapunkt zu 1 | Die Frage, warum Orange und Gelb mit billig assoziiert werden, beschäftigt im Netz so manchen (vgl. http://derstandard.at/2580660/Warum-signalisieren-Gelb-undOrange-billig?_lexikaGroup=14). Neben der offensichtlichen Signalwirkung, die im

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gedeckteren Farben), soll die Farbe kapriziös und stilsicher wirken, gerne auch jung und innovativ.2 Im Rahmen ihres Erscheinungsbildes vertrauen folgerichtig globale Unternehmensberatungen ebenso wie gediegene Herrenausstatter oder deutsche Bundesministerien dem spielerischen Charakterzug orangefarbener Sprenkel.3 Die Formel »Orange = jung = kreativ« entstammt bekanntlich den 1970ern, als entsprechend farbige Sitzsäcke, Föns und Plastikgeschirr die westdeutschen Mainstream-Haushalte eroberten, während orangefarbene »Panton Chairs« die Esszimmer der »Design Aficionados« verschönerten. »Orange war eine Generationenfarbe, auch eine Generationenabgrenzungsfarbe«, erklärt Sabine Weißler (Jahrgang 1958) in ihrem trotzig »Mein Orange« betitelten Sammelband, der sich redlich bemüht, farbige Originale und deren Kopien getrennt zu würdigen (Weißler 2006: 13). Was danach geschah? »Nach seiner Blütezeit in den 70er Jahren schien es in den 80ern kaum mehr vorhanden. Doch in den 90ern begann ein Farb-Revival, das sich jetzt auf dem Höhepunkt befindet – und damit kurz vor seinem Ende«, prognostiziert der design report im Jahr 2000 – und liegt damit gründlich falsch (Frenzl 2000). Denn in den 00er Jahren des neuen Millenniums erobert Orange nicht nur das Logo und die Studio-Talk-Atmosphäre des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) sowie dank einer grellen Straßenfeger-Kampagne (BSR) die Herzen aller (Neu-)Berlinerinnen und Berliner – es wird auch politisch, zunächst allerdings, ohne wirklich Partei zu ergreifen. Aus dem modischen und kreativen Orange wird Ende 2004 in der Ukraine die Anti-Establishment-Farbe schlechthin. Und dann scheint es Schlag auf Schlag zu gehen, wie eine Medienschau des Jahres 2005 beweist: »Alles Orange. Eine Modefarbe wird politisch« titelt die Wiener Zeitung im Mai. Im Juli identifiziert Spiegel Online »Orange in der Arena«, im August definiert Die Welt Orange als »Farbe der Stunde«, und im September fragt schließlich der Berliner Kulturhistoriker Thomas Macho in der NZZ: »Orange – das sympathischere Rot?« Sympathiepunkte gab es für die friedliche und plakative Pro-Juschtschenko-Bewegung zweifellos – und zwar weltweit. Die ukrainische Revolutionsfarbe soll angeblich auf ein altes sowjetisches Kinderlied zurückgehen, in dem ein Junge seine Welt ganz orange malt – was wiederum nach einer sympathischen Schnäppchenzeitalter nur eines bedeuten kann, mutmaßen andere, die Farbe sei seit der Plastikrevolution in den 1970er Jahren unwiderruflich mit »billig« verknüpft (vgl. dazu auch Weißler 2006). 2 | Online unter: http://www.pwc.com/ca/en/media/release/2010-10-06-brandmakeover.jhtml: »The new PwC logo – with its bright colours (red, orange, yellow and pink) – symbolizes the firm’s emphasis on its active and people-focused environment.« 3 | Vgl. http://www.pwc.com/; http://www.hugoboss.com/de/de/boss_orange.php; http://www.bmbf.bund.de/; http://www.designtagebuch.de – im Suchfeld »Orange« eintragen und weitere Belege für die kreative Heilkraft der Farbe Orange finden.

Orange: Von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe?

Brand Story klingt.4 Denn das antikonformistische und postideologische Potential der Farbe Orange ist der wirkliche Treiber bei den Protestanten in Kiew. Und dieses Potential ist es auch, das die Farbe im Zeitalter von rinks und lechts für ganz unterschiedliche politische Bewegungen so attraktiv macht.5 Und für PRund Imageberater offensichtlich so empfehlenswert. Das mit der ukrainischen Revolution beinahe zeitgleich neu eingeführte und heiß diskutierte Orange im Corporate Design der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) hat jedoch nichts mit den Protesten in Kiew zu tun – und doch viel mit »Perspektive, Aufbruch und Zuversicht«, wie der damalige Generalsekretär Volker Kauder erläutert (Christ 2005). Orange als Aufbruchssignal unter Christdemokraten – eine interessante Volte, zumal Rotgelb in der katholischen Liturgie nicht vorkommt. Ein Welt-Kommentator erkennt in der Farbwahl gar den ultimativen Abschied von den schwarzen Wurzeln und stellt ernüchtert fest: »Konsequenterweise müsste man jetzt das C aus dem Parteinamen streichen« (Heine 2005). So weit ist es bekanntlich nicht gekommen, und die Prozentbalken der CDU werden auch 2012 an Wahlabenden schwarz gefärbt. Die politische Reise von Orange endet aber nicht in Kiew oder bei der CDU. Im April 2005 lanciert Jörg Haider das orangefarbene Bündnis Zukunft Österreich – ein visueller Frontalangriff auf die etablierte blaue FPÖ. Noch im selben Jahr entschließen sich israelische Siedler, gegen eine Rückgabe des Gazastreifens mit – genau: orangefarbenen Bändern und Schals zu demonstrieren. Kurzum: Bewegungen unterschiedlichster Interessen setzen seit gut einem Jahrzehnt auf die Heilkraft dieser einen Farbe – darunter auch die Freien Wähler in Deutschland, die eine leuchtende Sonne schmückt. Und jetzt also die Piraten – beziehungsweise jener Teil der globalen Bewegung, der sich in deutschen Gewässern auf politischem Beutezug befindet. Denn die Piratpartiet, schwedische Mutter aller Piratenparteien, segelt seit Gründung unter violetter Flagge6 – und hat dazu u.a. auch Finnen, Österreicher und Franzosen angestiftet.7 Die bundesdeutsche Emanzipation hin zu Orange 4 | Tatsächlich wird der Einsatz von Orange in der politischen Kommunikation immer wieder auf das Ergebnis professioneller Image- und Design-Beratung zurückgeführt (vgl. dazu Heine 2005; Christ 2005). 5 | Gänzlich unpolitisch war Orange vor 2005 in Deutschland auch nicht, denn ein politisches Farbphänomen der alten Bundesrepublik wird in der Orange-Rezeption häufig unterschlagen: Der Spiegel erscheint seit seiner ersten Ausgabe 1947 mit orangefarbenem Passepartout auf dem Cover (vgl. dazu http://www.spiegel.de/spiegel/print/ index-1947.html). 6 | Vgl. dazu http://www.piratpartiet.se. 7 | Tatsächlich haben Piratenbewegungen weltweit meist das schwarze Flaggenlogo übernommen, aber farblich unterschiedliche Akzente gesetzt: von Violett über Oran-

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hat Gründe. Böse Zungen behaupten, es sei einfach undenkbar gewesen, dass die technikverliebte Junge-Männer-Partei just die Farben des Feminismus zur Schau tragen sollte. Das stimmt zumindest insofern, als dass neben den politischen Primärfarben Schwarz, Rot, Gelb und Grün in Deutschland Lila tatsächlich stark mit der Frauenbewegung assoziiert wird. Die Gründungsprotokolle der Piraten, die Diskussionen im 2011 eingefrorenen Online-Forum der Partei sowie die Einträge im allen zugänglichen Piratenwiki offenbaren durchaus strategische und programmatische Motive:8 Danach ergäben die Summanden Rot (sozial) und Gelb (liberal) die Wunschsumme Orange. Ein Indiz dafür, dass aus der beliebig einsetzbaren Protestfarbe eine echte politische Farbe werden könnte, unter der – jenseits der tradierten Lager – bislang vernachlässigte politische Positionen kombiniert und neu arrangiert werden. Orange als Distinktionsmittel revoltierender Online-Stände hat sich nach den Wahlerfolgen an Spree und Saar jedenfalls vorerst etabliert. Und das ist keine geringe Leistung, denn die »Politisierung der Farben kann […] nur mit wenigen Worten und symbolischen Bedeutungen operieren«, wie Thomas Macho treffend festhält (Macho 2006). Nachvollziehbar wird das in den violetten TVDiagrammen und -Balken, die dann zum Einsatz kommen, wenn die – eigentlich roten – Ergebnisse der Partei Die Linke veranschaulicht werden sollen, die im Off wiederum als dunkelrot bezeichnet wird. Da haben es die Piraten jetzt schon leichter. Dass dies ohne Beteiligung professioneller PR- und Politikberater gelungen ist, macht die Angelegenheit für viele vermutlich umso sympathischer. Erstaunlich für die computererfahrene – also auch oberflächenaffine – Gründergeneration der Piraten ist die Nonchalance, mit der in Parteikreisen das Thema visuelles Erscheinungsbild diskutiert wird. So gibt es im Piratenwiki als Untergruppe der »AG Öffentlichkeitsarbeit« auch eine »AG Piratenidentität« mit entsprechenden Beiträgen zur visuellen Kommunikation der Bewegung. Auch hier manifestiert sich der klassische Konflikt neuer Protestbewegungen: Professionalisierung vs. Individualität, Führungsanspruch weniger vs. Beteiligungswunsch aller. Immer wieder tritt aber dabei auch ein gesunder Pragmatismus in Erscheinung:

ge und Hellgrün bis zu Schwarz. Folgerichtig bietet die digitale Heimat der Pirate Parties International (PPI), internationale Dachorganisation aller Piraten, den Usern die Möglichkeit, den Look & Feel der Seite je nach Gusto anzupassen: http://www.pp-inter national.net/. 8 | Interessante Einblicke in die Diskussionskultur der Piraten bieten u.a.: https://wiki. piratenpartei.de/Gründungsversammlung; http://forum.piratenpartei.de/; https://wiki. piratenpartei.de/Pirate_Design/Aktuell.

Orange: Von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe?

»Schwarz wird ja schon von der CDU/CSU verwendet, Orange hingegen von den freien Wählern, hab’ ich mir sagen lassen, aber falls wir es vor ihnen auf Bundes-Ebene schaffen würden, parlamentarisch Fuß zu fassen, spräche wohl nichts dagegen, Orange zu nehmen ^^ […] klar, das Orange wird auch zurzeit von der CDU/CSU massig verwendet, aber das ist nur ’ne Modeerscheinung bei denen […] das kommt und geht wieder […]« (von Slash, 12.06.2009, 20:53). »[…] also an sich ist das Orange inzwischen so oft vertreten (Logos, T-Shirts, Webseiten, Flyer, Plakate) dass man IMHO 9 eigentlich nicht drum rum kommt« (von SQAMPY, 13.06.2009, 21:30).

En passant könnte so Orange von einer volatilen und heimatlosen Protestfarbe zur neuen sozial-liberalen Mischfarbe werden, wobei die vor dem ApfelsinenHintergrund wehende schwarze Piratenflagge auch noch den nicht zu verleugnenden konservativen programmatischen Elementen farblich eine Referenz erweisen würde. Damit wäre allerdings Orange als Wegweiser in der Politik ein klassischer Quereinsteiger, denn andere – an erster Stelle Rot – mussten einen längeren und mühsameren Weg gehen, den Bernd Schüler folgendermaßen beschreibt: »Farben dienen zunächst dem Ausdruck und der Bekräftigung bestehender Herrschaft. Sodann unterstützen sie neue politische Bewegungen im Kampf gegen traditionelle Machthaber. Und schließlich dienen sie politischen Gruppierungen als Instrument der Werbung etwa um Wählerstimmen, die zur Ausübung politischer Macht legitimieren« (Schüler 2006).

Vom niederländischen Königshaus abgesehen, das »Oranje« als visuelles Ergebnis der Protestbewegung während der Glaubenskriege des 16. und 17. Jahrhunderts erbte, hat es Orange nie zur Herrschaftsfarbe geschafft. Und erst neuerdings – wie gezeigt – zur Protestfarbe. Das politische Milieu staunt und gibt sich gönnerhaft. Nicht nur die programmatische, sondern auch die visuelle und werbliche Entwicklung der Piraten wird von den bisher Klassenbesten in Sachen Einheit aus Erscheinungsbild und Identität genau beobachtet: »[…] bei den Piraten war in Berlin schon das eine oder andere Plakat dabei, dass man sagen muss: Glückwunsch!«, konzediert Grünen-Chef Cem Özdemir in der Zeit (Özdemir 2010). Dieser Aufmerksamkeit könnte ein Déjà-vu zugrunde liegen: Die vom damaligen Establishment medial vermittelte Geringschätzung der grünen Spontis und Stadtindianer Ende der 1970er Jahre erinnert in manchem an die aktuelle Rezeption der Piraten: »Für die Kommunikation innerhalb des Netzwerks aus Wohngemeinschaf9 | IMHO: Netzjargon für »in my humble opinion« oder »in my honest opinion«.

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ten und Kommunen sorgen Alternativ-Blätter, in denen oft ein nuschelig-kindlicher Ton gepflegt wird«, erklärt der Spiegel 1980 seinen Lesern. Und Peter Glotz, damals Wissenschaftssenator in Berlin, identifizierte im Westteil Berlins »zwei ganz verschiedene Kommunikationssysteme, zwei Kulturen. Es ist so, als ob sich Chinesen mit Japanern verständigen sollten« (o.V. 1980: 22). Ähnliches hört man in Berlin aktuell zum angeblichen Kulturkampf zwischen akronymsüchtigen IT-Nerds und den etablierten Mandatsträgern und Medien der Hauptstadt. Und an Häme fehlt es auch heute nicht: »Klarmachen zum Ändern, wortspielert es da. Hihi. Blickt man auf die inhaltliche Diskussion bei den Piraten, kann man nur staunen, wie ambitionsarm über ›Transparenz‹ und ›Mindestlohn‹ gechattet wird. Die Ideologie des Nicht-Expertentums landet schnell bei nur gefühlten Gerechtigkeiten«,

schimpft Ulf Poschardt in der Welt Online nach den Piraten-Erfolgen im Saarland (Poschardt 2012). Fest steht: Die Zukunft der politischen Farbe Orange ist nun untrennbar mit der Zukunft der Piratenpartei in Deutschland verknüpft: Schaffen es die Piraten, zu einer gesetzten politischen Kraft mit programmatischen Alleinstellungsmerkmalen zu werden, wird aus dem kapriziösen, da wankelmütigen Orange eine politische Primärfarbe. Dann wäre Orange das neue Grün und womöglich die Kennfarbe der »Liquid Democracy« – so wie Grün zur Leitfarbe einer (in Wahrheit stärker visualisierten denn gelebten) »Sustainable Society« wurde. Schaffen es Partei und Signalfarbe nicht, muss Orange den Abstieg in das Sekundärfarbenspektrum des Marketings befürchten – und erneut als optische Frischzellenkur herhalten für Mietautos oder Discountmärkte. Der Karriere der neuen politischen Freibeuter setzt allerdings zumindest der Duden klare Grenzen. Rein grammatikalisch gesehen kann die Republik nämlich nach jedem Urnengang wahlweise röter, schwärzer, gelber oder grüner werden. »Orangener« zu werden, das erlaubt ihr die deutsche Sprache indes nicht. Vielleicht doch ein Fall für PR-Berater.

L ITER ATUR Christ, Sebastian (2005): Orange in der Arena. In: Spiegel Online vom 26.07.2005. Frenzl, Markus (2000): Ich will’s orange. In: design report 10/2000. LeinfeldenEchterdingen. Gage, John (1999): Die Sprache der Farben. Ravensburg. Goethe, Johann Wolfgang von (1810): Farbenlehre. Vollständige Ausgabe der theoretischen Schriften. Stuttgart.

Orange: Von der flüchtigen Protest- zur etablierten Lagerfarbe?

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Ä NDERN

Plattformneutralität — das politische Denken der Piraten 1 Michael Seemann

Der Schock ist noch nicht überwunden. Immer wieder und wieder werden die wenigen prominenten Mitglieder der Piratenpartei vor die Kameras geschleift, interviewt und begleitet. Immer wieder müssen sie Rede und Antwort stehen auf die vielen Fragen, aus denen die Verzweiflung spricht. Wer seid ihr, was wollt ihr? Seid ihr die neue FDP? Seid ihr die neuen Grünen? Was zum Teufel sagt ihr zur Eurorettung? Der Euro ist doch wichtig! Es ist Hilflosigkeit, die sich immer dann in die Stimmen der Journalisten, Politiker und politischen Analysten mischt, wenn sie versuchen das Phänomen Piratenpartei einzuordnen. Und an der Einordnung kommen sie nicht mehr vorbei, seit die junge Partei in der Abgeordnetenhauswahl in Berlin überraschende 8,9 Prozent der Stimmen einfuhr und mit 15 Nominierten – also der kompletten Landesliste – erstmals in ein Landesparlament einzog. Die meisten der landläufigen Erklärungen greifen dabei zu kurz: Die Protestpartei. Die Leute seien unzufrieden, aber wollen nicht rechts wählen. Und die Piraten seien inhaltlich unbestimmt genug, dass man einfach dort sein Kreuz gemacht hat. Nur fiel die Piratenpartei aber eben nicht mit populistischen »Es reicht!«-Parolen auf, sondern hatte einen themenorientierten Wahlkampf betrieben (vgl. zum Verhältnis von Piratenpartei und Protest auch den Beitrag von Baringhorst/Yang in diesem Band). Die Ein-Themen-Partei. Die Piraten seien in der komfortablen Lage, sich auf ein einziges Thema zu konzentrieren: Netzpolitik. Deswegen sei der Erfolg eben nicht nachhaltig, die Piratenpartei sei eben ein »One-trick-Pony«. Doch warum hatten die Piraten dann kaum netzpolitische Themen in ihrem Wahl-

1 | Der Artikel ist eine erweiterte Fassung des Textes Das politische Denken der Piraten, der am 6. Oktober 2011 im Blog des Autors »CTRL + Verlust« erschienen ist. Online unter: http://www.ctrl-verlust.net/das-politische-denken-der-piraten/.

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programm, wohl aber sehr viele berlinspezifische (vgl. dazu den Beitrag von Marschall in diesem Band)? Die neue FDP und/oder die neuen Grünen. Die Altparteien schwächeln. Die FDP schafft es nicht mehr glaubwürdig, für Bürgerrechte zu stehen, die Grünen haben den rebellischen Charme verloren. Die Piratenpartei stößt in diese Lücken. Doch bei genauerer Betrachtung passen weder die Inhalte der Piratenpartei zur FDP noch ihre Haltung zu den Grünen. Sie sind nicht gekommen, um die politischen Überzeugungen ihrer Eltern aufzutragen (vgl. dazu den Beitrag von Hensel in diesem Band). Es war der Online-Wahlkampf. Klar, es muss etwas mit diesem Internet zu tun haben, das können die nämlich gut und sonst gar nichts. Doch der Online-Wahlkampf der Piraten nahm sich verglichen mit den übrigen Parteien geradezu bescheiden aus. Ganz im Gegenteil: Plakate und Straßenwahlkampf waren die Hauptwerkzeuge der Piraten. Zehn Stunden am Tag, fünf Tage in der Woche verbrachte Christopher Lauer auf der Straße, verteilte Flyer, klebte Plakate, diskutierte mit Passanten (vgl. http://www.christopherlauer.de/category/ wahlkampf/). Zurecht weisen z.B. die Grünen darauf hin, dass sie viele kreative Ideen und Kampagnen im Internet hatten (vgl. Jasso 2011). Aber das Missverständnis ist symptomatisch: Während nämlich die etablierten Parteien das Internet vor allem dadurch ernst nehmen, dass sie es als Wahlkampf-Plakatfläche nutzen, wissen die Piraten, dass das Internet keine neuen Parteiwebsites braucht. Viel eher braucht die Offline-Welt neue Konzepte. Und die, glauben die Piraten, haben sie im Internet gefunden.

1. Z ENSURSUL A UND N E T ZNEUTR ALITÄT Wenn man die Liste mit Forderungen im Wahlprogramm der Piraten betrachtet, dann kann es einem so vorkommen, als hätte dort jemand zusammenhanglose Gutmenschenforderungen kombiniert: Legalisierung von Drogen, Fahrscheinloser Nahverkehr, Ausländerwahlrecht, Bedingungsloses Grundeinkommen. Das alles hört sich gut an, ist irgendwie links und irgendwie liberal, aber man gerät schnell ins Stocken, versucht man die Piraten dadurch im Parteienspektrum zu verorten oder abzugrenzen oder auch nur eine wiedererkennbare Haltung zu identifizieren (vgl. zur thematischen Positionierung der Berliner Piratenpartei Faas 2011). Um die Piraten besser zu verstehen, lohnt es, jene Debatten zu verfolgen, die sich in und um das Netz drehen. Aber eben nicht, weil sich die Piraten auf Netzpolitik als Alleinstellungsmerkmal kapriziert hätten, sondern weil sich hier ein gewisses Denken ausdrückt, eine Sichtweise auf die Welt, die die politische DNA der Piraten bildet. Denn diese DNA ist fähig, sich auch außerhalb der

Plattformneutralität – das politische Denken der Piraten

Netzpolitik zu replizieren (vgl. hierzu auch die Beiträge von Henschel, Helfrich und Mertens in diesem Band). Das Internet, so pathetisch muss man es sagen, ist die erste Inkarnation von Meinungsfreiheit, die diesen Namen auch verdient. Die bislang kodifizierte Version in den Gesetzestexten war ein sehr theoretisches Konstrukt, denn nur den wenigsten war es gegeben, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Und obwohl die beiden Werte »Freiheit« und »Gleichheit« so gerne gegeneinander ausgespielt werden, war es im Internet ausgerechnet die Gleichheit, die diese Freiheit ermöglichte. Die Freiheit im Netz erwächst aus der Gleichheit: der Gleichheit des Zugangs und der Gleichheit der Distribution der Informationen. Ein zentraler Diskussionsgegenstand der Netzpolitik ist aus diesem Grund die Netzneutralität.2 Nicht erst, aber vor allem seit das Netz gegen die Regulierungsversuche der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen 2009 auf die Straße ging und eine in Deutschland bis dahin ungekannte Kampagnenfähigkeit demonstrierte, ist ein Bewusstsein darüber erwachsen, wie fragil die Freiheit im Internet ist. Durch die Zensursula-Episode (vgl. Bartels 2009: 55-89) wurde klar, dass die Gleichheit im Internet empfindlich gefährdet ist, sobald es Instanzen gibt, die aus welchen Beweggründen auch immer in die Infrastruktur eingreifen können, um missliebige Informationen zurückzuhalten. Ist die Gleichheit im Netz gefährdet, verschwindet auch die Freiheit. Von der Leyens Initiative setzte dabei an einem besonders empfindlichen Punkt im Internet an: den Internet Service Providern (ISPs). Sie sind so etwas wie das Nadelöhr des Internets. Alle Daten, die an Nutzer gelangen sollen, müssen durch ihre Leitungen. Wer sich hier befindet und bestimmt, was durchgeleitet wird und was nicht, hat eine enorme Machtposition, kann Debatten manipulieren und die öffentliche Meinung verändern. Ausgerechnet dort sollte das BKA mit geheimen Listen die Weiterleitung von Informationen unterbinden. Doch auch jetzt, da das Zensursula-Gesetz verhindert wurde, bleibt die Internetfreiheit fragil. Längst haben auch die ISPs selbst ihre zentrale Stellung im Netz verstanden und versuchen sie zu monetarisieren. Warum nur von den eigenen Kunden Geld kassieren, wenn auch die andere Seite zahlen kann? Google verdient viel Geld mit Anzeigen. Wäre doch schade, wenn denen auf dem Weg zum Kunden etwas passieren würde. Die Idee, unterschiedliche Daten von unterschiedlichen Anbietern unterschiedlich zu behandeln, hat um sich gegriffen bei den ISPs. Spezialverträge mit großen Internetdienstleistern sollen deren »Quality of Service« gewährleisten (vgl. Bleich 2005). Was sich harmlos anhört, ist eine beinahe ebenso große 2 | Als »Netzneutralität« wird die Forderung nach der Gleichbehandlung von Daten unabhängig von ihrer Herkunft und Art im Internet bezeichnet. Siehe auch die Selbstbeschreibung der Kampagne »Pro Netzneutralität«, online unter: http://pro-netzneutrali taet.de/infos.

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Bedrohung für die digitale Meinungsfreiheit wie staatliche Zensurstellen. Denn wenn finanzstarke Anbieter bei der Durchleitung der Daten bevorzugt werden, kommen alternative Stimmen nur noch bedingt zu Wort. Das Netz des freien Daten- und Meinungsaustauschs wäre ein verzerrter Spielplatz der Internetgiganten, die mit viel Ressourcenaufwand ihre Stellung unangreifbar ausbauen können. Zwar kann man auch heute mit viel Geld mehr Serverkapazität kaufen und so ein größeres Publikum bedienen, aber spätestens bei der Durchleitung der Daten zum Endverbraucher arbeiten alle wieder mit denselben Voraussetzungen. Doch die ist nun bedroht. Die neutrale Infrastruktur bräuchte dagegen eine Gleichheit unter den Sprechern, wie sie von Habermas als die Voraussetzung für einen gelungenen Diskurs vorgeschlagen wurde: Die ideale Sprechaktsituation erfordert gleiche Chancen auf Dialoginitiation und -beteiligung und gleiche Chancen der Deutungs- und Argumentationsqualität sowie natürlich Herrschaftsfreiheit. (Wir klammern hier die Bedingung aus, dass in der Kommunikation keine Täuschung der Sprechintentionen vorliegt, weil dieses Kriterium keine Eigenschaft der Infrastruktur sein kann.) Netzneutralität ist deswegen die Forderung, die sich aus dem Netz an Politik und Provider richtet. Netzneutralität bedeutet, dass Daten diskriminierungsfrei von A nach B transportiert werden. Die Infrastruktur sollte herrschaftsfrei organisiert sein, und keine Macht sollte eine Kontrolle darüber ausüben dürfen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich Provider aus Profitinteresse an der Herrschaftsfreiheit vergehen oder der Staat, um bestimmte im Gesetz kodifizierte Werte durchzusetzen.

2. P L AT TFORMNEUTR ALITÄT UND Z UGANG Durch die Netzneutralitätsdebatte ist ein spezielles politisches Bewusstsein entstanden. Es ist das Bewusstsein für die zentrale Stellung der Infrastruktur zur Ermöglichung von Freiheit und Gleichheit. Nur wenn die Infrastruktur allen gleichermaßen zur Verfügung steht, ohne dass jemand fähig wäre, Menschen oder Daten auszubremsen oder auszuschließen, kann so etwas wie Teilhabe entstehen. Die Forderung nach Netzneutralität ist noch mehr als die Forderung nach digitaler Meinungsfreiheit. Es ist darüber hinaus auch die Forderung nach Meinungsermöglichung. Bereits um die Jahrtausendwende hat Jeremy Rifkin in seinem Buch Access hellsichtig darauf hingewiesen, dass der Zugang zu Ressourcen aller Art immer weniger über Eigentum – also den Erwerb und Verkauf von Gütern – organisiert wird, sondern über Modelle des Zugangs. Neben Strom, Mietwohnungen und Wasseranschlüssen sieht er die radikalste Entsprechung dieses Trends durch das Internet vollzogen. Das Internet hat die Zugangsmöglichkeiten zu Wissen

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schlagartig erweitert.3 Aber eben nicht auf einer gesicherten Eigentumsbasis, sondern als gewährten Zugang. Zugang wird, so Rifkin, also die zentrale politische Forderung der Zukunft werden: »Gleichwohl wird das Recht, nicht ausgeschlossen zu werden – das Recht auf Zugang –, in einer Welt, die zunehmend aus elektronisch vermittelten kommerziellen und gesellschaftlichen Netzwerken aufgebaut wird, immer bedeutsamer« (Rifkin 2007: 322). Und an dieser Stelle kommt der Begriff der »Plattformneutralität« ins Spiel. Plattformneutralität ist der Versuch, das, was die Netzneutralität will, so zu formalisieren, dass es konzeptionell auf ähnlich gelagerte politische Problemfelder portierbar wird. Plattformneutralität identifiziert die wichtigen Infrastrukturen, die gesellschaftlichen Austausch ermöglichen, und versucht ihren diskriminierungsfreien Zugang und Betrieb zu gewährleisten. Diskriminierungsfrei bedeutet aber eben nicht nur antirassistisch oder antisexistisch, sondern grundsätzlich die Verhinderung der Selektion von Kommunikation von Dritten aufgrund von welchen Merkmalen auch immer. Es ist die Gewährleistung eines allgemeinen, freien, gleichen, unmittelbaren Zugangs. Plattformneutralität wäre also Herstellung von Herrschaftsfreiheit durch die diskriminierungsfreie Zugänglichmachung von gesellschaftlich relevanten Infrastrukturen.4

3. D AS POLITISCHE D ENKEN DER P IR ATEN Kehren wir zum Berliner Wahlkampf zurück. Wenn man die wichtigsten Forderungen der Piratenpartei genau prüft, dann folgen sie alle derselben Fragestellung: Welche sind die relevanten Infrastrukturen, die Teilhabe ermöglichen, und wie kann es gelingen, sie möglichst neutral zu gestalten? Ein fahrscheinloser öffentlicher Nahverkehr ist die diskriminierungsfreie Beförderung von Personen, jenseits von Einkommensunterschieden und Nutzungshäufigkeit. Die Ressource Bildung soll diskriminierungsfrei jedem zur Verfügung stehen, ebenso definiert die Forderung nach Wahlrecht für Ausländer Demokratie selbst als Infrastruktur und fordert hierfür einen diskriminierungsfreien Zugang. Sogar die Forderung der konsequenteren Trennung von Kirche und Staat kann als Plattformneutralitätsforderung verstanden werden. Warum sollte die Infrastruktur Staat schließlich christliche Datenpakete gegenüber islamischen oder atheistischen bevorzugen dürfen? 3 | Diese Annahme spiegelt sich z.B. auch in der Aussage von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales über die Online-Enzyklopädie: »Imagine a world in which every single person on the planet is given free access to the sum of all human knowledge. That’s what we’re doing« (vgl. http://en.wikiquote.org/wiki/Jimmy_Wales). 4 | Vgl. hierzu auch den entsprechenden Glossar-Eintrag im Blog des Autors unter http://www.ctrl-verlust.net/glossar/plattformneutralitat.

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Und eine weitere Forderung – die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen, die mittlerweile auch auf Bundesebene von der Piratenpartei übernommen wurde – verdient eine etwas genauere Betrachtung. Versteht man nämlich die ökonomische Basis eines Individuums zum Überleben nicht mehr als etwas, das zur Not mit staatlicher Unterstützung bewerkstelligt werden muss, sondern als Vorbedingung einer Möglichkeit von Teilhabe, ist das Bedingungslose Grundeinkommen zwingend. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre eine diskriminierungsfreie ökonomische Plattform, auf der jeder die Unabhängigkeit erhält, um auf Augenhöhe zu kommunizieren. Es ist damit die wichtigste Forderung der Plattformneutralität. Das politische Denken der Piraten lässt sich also als »plattformneutral« charakterisieren. Die Plattformneutralität eignet sich – wie die »Solidarität« für die Sozialdemokratie oder die »Nachhaltigkeit« bei den Grünen – als politische Leitidee. Eine Leitidee in dem Sinne eines generellen Konzeptes, mit dessen Hilfe man zu vielen konkreten, politischen Fragen eine kohärente Haltung entwickeln kann.

4. P L AT TFORMNEUTR ALE A USSICHTEN Wie mächtig und umfassend dieses Konzept in der politischen Realität tatsächlich sein kann, wird sich herausstellen. Es gibt aber einige Trends, die Hinweise darauf geben, dass ein solches Denken für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein könnte. Ich möchte hier nur drei nennen:

4.1 Die weitere Entwicklung des Internets Die Entwicklung im Internet geht rasend schnell voran und wird gesellschaftlich immer relevanter. Abgesehen vom Kampf um generelle Netzneutralität stellen sich aber auch anderswo Fragen der Plattformneutralität. Denn Plattformen gibt es im Internet zu genüge, und auch sie haben eine zunehmend gesellschaftsprägende Dimension – und damit Macht. Es lassen sich hier einige Plattformanbieter nennen, Google, Apple, Microsoft, aber stellvertretend sei an dieser Stelle nur Facebook aufgeführt: Das soziale Netzwerk Facebook ist mittlerweile so groß wie das Internet im Jahr 2004 (vgl. Eler 2011) und es ist zu einem wesentlichen Teil des Internets geworden. Es ist ein Layer5 mit einer speziellen Funktionalität, auf deren Funk5 | Ein Layer bezeichnet hier eine Schicht, die durchaus getrennt von anderen Schichten eine spezifische Aufgabe vollführt und dabei auf die Funktionen und Möglichkeiten der ihr unterliegenden Schichten zurückgreift. Auch das Internet selbst ist in einem solchen Layermodell konzipiert (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/OSI-Modell).

Plattformneutralität – das politische Denken der Piraten

tionen Beziehungsnetzwerke, Geschäftsmodelle und politische Aktivitäten beruhen. Facebook ist mehr als nur ein Unternehmen oder Dienst – ebenso wie das Internet selbst ist es die Infrastruktur, auf der Gesellschaft betrieben wird. Im Netz hat sich Facebook z.B. als zentraler Identitätsprovider etabliert. Viele Dienste, z.B. der Musikdienst Spotify, bieten den Nutzern keine eigenen Accounts auf ihrer Plattform an, sondern lassen die Nutzer per Facebook-Connect anmelden – also direkt mit ihrer Facebook-Registrierung. In Australien entschied 2008 der Supreme Court, dass gerichtliche Benachrichtigungen auch per Facebook-Message als offiziell zugestellt gelten, Ähnliches gilt in Neuseeland (vgl. Towell 2008). Es ist also unstrittig, dass man Facebook (unter anderen) als eine gesellschaftlich relevante Plattform verstehen muss, auf der beinahe ebenso dringend wie mit Blick auf das Internet auf Neutralität gedrängt werden muss (vgl. dazu auch den Beitrag von Leggewie in diesem Band). Schon heute kann ein Ausschluss aus Facebook gravierende soziale Folgen für ein Individuum haben, und zudem stellen wir fest, dass immer mehr politische Diskussionen und Aktionen auf Facebook stattfinden oder organisiert werden. Ebenso wie im Netz gilt: Nur auf einer neutralen Infrastruktur ist echte Meinungsfreiheit möglich.

4.2 Kontrollverlust im Internet Die um sich greifende Erkenntnis, dass sich Daten im Internet zunehmend weniger kontrollieren und einhegen lassen, stellt die Gesellschaft vor gewaltige Herausforderungen. Geschäftsmodelle oder Bürgerrechte, die auf Informationskontrolle basieren (Urheberrecht, Informationelle Selbstbestimmung), erodieren vor unser aller Augen. Während die Inhalteindustrie durch Massenkriminalisierung ihrer Kunden wie wild um sich schlägt, drohen Datenschützer Webseitenbetreibern mit leeren Gesten, um ihre Ohnmacht zu überspielen (vgl. Kruse 2012). Wir brauchen neue Konzepte, wenn wir mit dem Kontrollverlust umzugehen lernen wollen. Plattformneutrale Ansätze zur gesellschaftlichen Umstrukturierung können hier die Lösung sein. Beispiel Datenschutz: Daten dürfen nicht gefährlich sein. Wenn durch Plattformneutralität die soziale Teilhabe und Existenz eines jeden sichergestellt ist, verlieren diskreditierende Informationen einen Großteil ihres Schreckens. In einer Welt, in der mich die Information über meine sexuellen Vorlieben meine Existenz kosten kann, hat der Kontrollverlust eine verheerendere Wirkung. In einer (hypothetisch) plattformneutralen Welt, in der Diskriminierungsmöglichkeiten in allen wesentlichen Aspekten des Lebens eliminiert wurden, kann ich souveräner mit öffentlichen Informationen über mich umgehen. Ähnliches gilt für das Urheberrecht. Vieles deutet darauf hin, dass das Urheberrecht in seiner derzeitigen Form mit dem Internetzeitaler inkompatibel ist (vgl. den Beitrag von von Gehlen in diesem Band). Das Hauptargument für das

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Urheberrecht ist die materielle Absicherung von Kulturschaffenden. Natürlich würde auch ohne Urheberrecht die menschliche Kulturproduktion nicht abrupt stoppen (– denn es gab sie auch schon vorher). Das Problem liegt eher dort, wo nicht genügend Zeit aufgewendet werden kann, um kreativ tätig zu sein. Eine bedingungslose Existenz und der neutrale Zugang zu allen verfügbaren Informationen und Kulturgütern würden hingegen die besten Voraussetzungen zur Schaffung von Kultur bereiten.

4.3 Partizipative Politik Die Politik wandelt sich mit dem Internet ebenso deutlich wie die Gesellschaft selbst. Eines der Stichworte ist »Partizipation«, es ist längst in das Vokabular eines jeden Politikers gewandert. Die Beteiligung des Bürgers an der Entscheidungsfindung in der Politik wird immer weiter Einzug halten und von diesem auch immer offensiver gefordert (vgl. dazu die Beiträge von Korte und Blumtritt in diesem Band). Doch es gibt Bedenken. Wenn wir durch neue Kommunikationswege Partizipationsmöglichkeiten schaffen, wird wieder nur eine nichtrepräsentative Gruppe privilegiert: Menschen mit meist hohem Bildungsgrad, einem überdurchschnittlichen technischen Verständnis, die noch dazu mit viel Zeit und rhetorischem Geschick ausgestattet sind. Die gleichen technischen Möglichkeiten bedingen noch nicht den gleichen Zugang. Wenn wir das politische System mit seinen Beteiligungsinfrastrukturen als Plattform begreifen, müssen wir hier, und vor allem hier, auf Neutralität pochen. Plattformneutralität wird damit immer mehr zu einer zentralen Frage der Demokratie.

5. E INE PL AT TFORMNEUTR ALE W ELT ? In einer politischen Perspektive scheinen die Fragen der Plattformneutralität durchaus zukunftsträchtig zu sein. Natürlich muss der Begriff an dieser Stelle skizzenhaft verbleiben. Es gibt außerdem einige definitorische Probleme oder zumindest Unsicherheiten: Ab wann ist etwas eine Plattform? Ab wann ist sie gesellschaftlich so relevant, dass man sich ihr regulierend nähern muss? Außerdem ist zu fragen, was überhaupt als neutral bezeichnet werden kann. Reicht es aus, allen Leuten Zugang zu geben, oder muss man ihnen auch beibringen, ihn zu nutzen? Was ist mit der Festlegung von Bildungsstandards? Darüber hinaus fällt die politische Einordnung im gewohnten Rechts-linksSchema schwer. Vom »digitalen Neoliberalismus« bis zum »Info-Kommunismus« sind bislang alle Vorwürfe laut geworden. Plattformneutralität ist ein Ansatz, der die maximale Freiheit des Individuums bei gleichzeitiger Teilhabe aller

Plattformneutralität – das politische Denken der Piraten

fordert. Allerdings nur in einer Hinsicht, nämlich mit Blick auf soziale und kulturelle Teilhabe. Eine plattformneutrale Welt wäre noch vor 20 Jahren eine unerreichbare Utopie gewesen. Sie ist auch heute noch eine Utopie, aber sie scheint beinahe in Reichweite. Die Piratenpartei könnte sie glaubwürdig vorantreiben.

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Der Traum der Transparenz Neue alte Betriebssysteme Frieder Vogelmann

»Transparenz ist keine Anordnung, Transparenz muss gelebt werden« (Piratenpartei Berlin 2011: 11). Dieser von einer eigentümlichen Spannung erfüllte Satz, der sich gegen jede Verordnung von Transparenz wendet und gleichwohl ein Müssen behauptet, findet sich im Wahlprogramm der Berliner Piratenpartei. Aber nicht nur dort nimmt Transparenz eine Schlüsselstellung ein, ist sie doch ein Kernthema der jungen Partei. Dass Transparenz wenig diskutiert und viel gefordert wird, verdankt sie zweifellos ihrem gegenwärtigen Status einer fraglosen Norm; zugleich weist es darauf hin, dass sie primär eine Form der Machtausübung ist: Jede Transparenzforderung geht davon aus, dass die Sichtbarkeit ihres anvisierten Objekts das Verhalten desjenigen, von dem Transparenz gefordert wird, verändert – nicht nur, weil er etwas tun muss, um das Objekt der Transparenz sichtbar zu machen, sondern vor allem aufgrund seines Wissens darum, was die Öffentlichkeit fortan sehen kann.1 Jeremy Benthams Glaubensbekenntnis – »I do really take it for an indisputable truth […] – the more strictly we are watched, the better we behave« (Bentham 2001: 277) – steht auch hinter den Transparenzforderungen der Piraten: »Der Verkauf der Berliner Wasserbetriebe, die chaotischen Zustände bei der Berliner S-Bahn und Projekte wie Media-Spree hätten in dieser Form nicht stattfinden können, wenn die Einwohner Berlins von Anfang an vollumfänglich informiert worden wären« (Piratenpartei Berlin 2011: 10).

1 | Damit greife ich auf die Analyse von Transparenzforderungen in Vogelmann (2011: 74-78) zurück, wo diese formal vierstellig dargestellt werden: Ein Urheber (A) fordert vom Subjekt der Transparenz (B), dieses möge das Objekt der Transparenz (X) für eine bestimmte Öffentlichkeit (C) sichtbar machen; die Akteure A, B und C können dabei sowohl Individuen als auch kollektive Akteure oder Institutionen sein, das Objekt der Transparenz X besteht zumeist aus – allen oder einigen – Handlungen von B sowie deren Begründungen.

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Doch weniger die konkreten Transparenzforderungen der Piraten als vielmehr die Notwendigkeit von Transparenz für ihre politische Rationalität soll hier im Zentrum stehen. Die innere Spannung des Satzes, dass Transparenz gelebt werden muss, obwohl sie nicht angeordnet werden darf, ist der Dringlichkeit der Transparenzforderungen geschuldet, die als Zwang sich gegen die Einsicht durchsetzt, Transparenz nicht anordnen zu können. Diese Notwendigkeit versieht die Transparenzforderungen der Piratenpartei mit einem Nachdruck, den sie bei anderen Parteien nicht besitzen – obgleich Transparenz eines der populärsten politischen Schlagworte ist: Ob die Nebeneinkünfte von Abgeordneten offengelegt, die Vorgänge am Finanzmarkt kontrollierbarer oder Verwaltungsvorgänge nachvollziehbarer werden sollen – unbestritten ist, dass Transparenz der richtige Weg ist; Uneinigkeit besteht allenfalls darüber, wie sie hergestellt wird und wie weitreichend sie sein darf. Die Piratenpartei mag radikaler sein als andere, wenn sie den »gläsernen Staat« (Piratenpartei Deutschland 2009: 13) fordert, aber die spezifische Gestalt ihres Traums von Transparenz ist nicht der Intensität ihres Verlangens geschuldet, sondern der besonderen Verankerung der Transparenzforderungen in ihrer »politischen Rationalität«. Damit soll die systematische und strategisch ausgerichtete Vorstellung des Politischen bezeichnet sein, die den Aussagen der Piratenpartei ihre Existenz ermöglicht, das ihr Tun und Denken organisierende Schemata. Wenn man sagen kann, dass die Piratenpartei von vollständiger Transparenz träumt und an der Verwirklichung dieses Traums arbeitet, dann verstehen sich die folgenden Ausführungen als Erkundung dieses Traums; die politische Rationalität ist so gesehen gerade jener Wunsch, der sich im Traum der Transparenz erfüllen würde und ihm daher seine Form verleiht. Sie offenbart sich nirgendwo so deutlich wie in der Metaphorik jener zentralen Aussage von der und über die Piratenpartei, ein neues Betriebssystem für die Politik anzubieten. Die im folgenden Abschnitt aus der Metaphorik rekonstruierte politische Rationalität offenbart den Traum der Transparenz im zweiten Abschnitt einer restlosen Übereinstimmung der Gesellschaft mit ihren Herrschaftsapparaturen: eine aus der Gegenwart geschöpfte und radikal zugespitzte postdemokratische Politikvorstellung.

I. D IE PARTIZIPATIVE TECHNOKR ATIE DER UNSICHTBAREN P ARTEI Niemand aus der Piratenpartei, auch nicht Marina Weisband, hat ein neues Betriebssystem für die Politik verlangt. Dennoch findet sich diese Formulierung mal als Forderung, mal als Angebot der Piratenpartei in zahlreichen Berichten und einigen Schlagzeilen der Zeitungen und Online-Medien, die von der ersten Bundespressekonferenz am 5. Oktober 2011 berichteten (vgl. bspw. Haupt 2011; Korge/Reimann 2011). Die Aussage »kein Programm, sondern ein neues Betriebssystem für die Politik« wird noch am gleichen Tag in unterschiedlichen

Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme

Varianten geboren und verdrängt nach und nach die anderen Sätze, die die Medien der ehemaligen politischen Geschäftsführerin Marina Weisband in den Mund legen. Gibt die Frankfurter Rundschau sie noch fast wortwörtlich2 mit »Wir haben kein fertiges Programm anzubieten, sondern ein Betriebssystem« wieder (vgl. Thieme 2011),3 bringen die Stuttgarter Nachrichten ihre Aussage schon in jene Form, in der sie dann Karriere macht: »Wir wollen ein neues Betriebssystem für die Politik entwickeln« (Grabitz 2011)4 . Insofern ist der Satz ein gemeinschaftlich hergestelltes Produkt von Partei und Öffentlichkeit. Den Verfertigungsprozess der Aussage hervorzuheben, der zufolge die Piratenpartei kein Programm hat, sondern ein neues Betriebssystem für die Politik bietet, soll sie nicht diskreditieren; die Genese der Aussage demonstriert im Gegenteil ihre schlagende Evidenz: Es scheint, als hielten sowohl die Piratenpartei als auch die Öffentlichkeit diese Aussage für eine treffende Beschreibung des neuen politischen Phänomens.5 Erst sie macht die Piraten und ihren unvermuteten Erfolg im politischen Diskurs intelligibel; sie ernst zu nehmen bedeutet daher, sich mit ihrer Metapher und also dem Begriff des Betriebssystems auseinanderzusetzen. Der Blick in ein beliebiges Informatiklehrbuch verrät die zwei Hauptaufgaben eines Betriebssystems: Es soll sowohl die Anwender_innen als auch die Anwendungsprogrammierer_innen davon entlasten, sich mit den Details der Hardware beschäftigen zu müssen, und es verwaltet die auf dem Rechner ablaufenden Softwareprozesse und die zur Verfügung stehenden Betriebsmittel (vgl. bspw. Mandl 2010: 2f. oder das weitverbreitete Lehrbuch von Tanenbaum 2009: 3-7).6 Das Betriebssystem ist also ein Mittler, ein Medium, das zwischen die physikalischen Bestandteile eines Computers und die auf ihnen ausgeführten Programme geschoben wird, denen es eine einheitliche Umgebung anbietet. 2 | Im vollständigen Video der Pressekonferenz (online unter: http://www.n24.de/ mediathek/video_1256171.html [20.12.2011]) sagt Weisband: »Wir wollen die Antworten von den Leuten. Wir wollen sie prinzipiell involvieren. Und in diesem Sinne haben wir eigentlich nicht bloß ein Programm anzubieten, sondern ein Betriebssystem.« 3 | Ähnlich der wenige Tage später explizit gegen die Piratenpartei gerichtete Artikel von Wagner 2011: »Die Piraten wollten den Bürgern kein Programm anbieten, sondern ein Betriebssystem.« 4 | Dort wird der Satz nicht der Geschäftsführerin zugeschrieben, sondern unbestimmt davon gesprochen, dass er »irgendwann im Lauf der Pressekonferenz fällt«. 5 | Dass sich die Mitglieder der Piratenpartei in ihr wiedererkennen, kann man an den Foreneinträgen ablesen, die diesen Slogan nicht nur positiv aufnehmen, sondern auch für ihre Zwecke adaptieren, etwa um ein »Neues Betriebssystem für Erlangen« zu fordern. 6 | Mit Betriebssystem ist hier und im Folgenden der abstrakte Begriff der Informatik gemeint und kein bestimmtes Betriebssystem wie etwa Linux.

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Es macht die Computer aus Sicht von Anwendern, Anwendungsprogrammen und Anwendungsprogrammierer_innen gleicher (wenn auch nicht gleich), indem es standardisierte Prozeduren anbietet, um bestimmte Aufgaben – das Lesen und Schreiben von Dateien, Interaktionen mit dem Benutzer, Zugriff auf Netzwerke oder lokal angeschlossene Geräte wie Drucker – zu erledigen. Ein Betriebssystem ist insofern eine virtuelle Maschine (vgl. Mandl 2010: 3), die Anwender_innen und Anwendungsprogrammierer_innen einen vereinfachten, von den Zufälligkeiten der konkreten Bauteile entkoppelten, gewissermaßen idealeren Computer präsentiert, auf dem die verschiedenen Programme ablaufen können. Schon mit diesen schlichten Erläuterungen lassen sich die Ambition sowie die veränderten Begriffe von Politik und Partei erschließen, die jener aktuellen Evidenz inhärent sind, der zufolge die Piratenpartei kein Programm habe, sondern ein neues Betriebssystem für die Politik biete. Während sich die Ambition aus der Gegensatzkonstruktion ableiten lässt (1), können Politik- und Parteibegriff der Beziehung von Betriebssystem und Politik entnommen werden (2). Zusammen umreißen sie Anspruch und Substanz der politischen Rationalität, die dem Traum der Transparenz seine Form verleiht. (1) Auffällig ist, dass die Aussage zentral durch den Gegensatz zwischen Programm und Betriebssystem beherrscht wird.7 Wenn die Piratenpartei »nicht nur ein Programm anzubieten [hat], sondern ein Betriebssystem« (Weisband), bedeutet das in erster Linie, dass die Piratenpartei mehr anbietet: Anders als andere Parteien, die dem Bürger nur ein Programm vorschlagen, offeriert sie ein ganzes Betriebssystem, also etwas viel Grundsätzlicheres. Die Bürgerin kann – der mit der Homonymie von »Programm« spielenden Metaphorik zufolge – mit Hilfe der Piratenpartei mehr und anderes tun, als es ihr die etablierten Parteien ermöglichen; sie wird gewissermaßen ein Deck tiefer, näher an den Maschinenraum, herangeführt, wo sie selbst Schalthebel umlegen kann. Direkt zu den Maschinen darf sie freilich nicht; das Betriebssystem bleibt für deren Verwaltung zuständig und bietet auch bei Austausch zentraler Bestandteile ein einheitliches Interface.8 Der Gegensatz gewinnt jedoch erst dann seine volle Bedeutung, macht man sich klar, dass ein Betriebssystem die Grundlage für das Ablaufen verschiedener Programme ist. Demnach träte die Piratenpartei nicht in Konkurrenz mit den etablierten »Programmparteien«, sondern würde deren »Laufzeitumgebung« transformieren, gäbe ihnen also ein neu standardisiertes Umfeld, auf dessen 7 | Da auch ein Betriebssystem stets ein Programm ist, wird der Gegensatz nur verständlich, wenn man ihn als Unterschied zwischen Anwendung und Betriebssystem auffasst. 8 | Denn moderne Betriebssysteme »kapseln« die Hardware des Computers (Mandl 2010: 2f.).

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Grundlage sie dann zu arbeiten hätten.9 Dazu passt, dass die Piratenpartei als einzige deutsche Partei ihren Mitgliedern erlaubt, sich zugleich in anderen Parteien als Mitglied zu engagieren. Das neue »Piratensystem« für die Politik würde also zu einer fundamentalen Veränderung der Bedingungen politischer Betätigung sowohl für die Piratenpartei selbst als auch (und besonders) für die anderen Parteien führen, die ihre Programme dann gewissermaßen auf das Piratensystem »portieren« müssten. Der »neue Politikstil«, wie eine gängige, weniger an der technischen Metapher klebende Wendung lautet, schüfe eine neue Ausgangslage für alle politischen Parteien. In dieser Zuspitzung treten bereits einige Grenzen und interne Spannungen der Betriebssystem-Metapher zutage: Einmal ganz abgesehen von der erstaunlichen Größe der sich darin offenbarenden Ambition stößt schon die Erlaubnis der Partei, zugleich Pirat_in und Mitglied einer anderen Partei zu sein, an die faktische Grenze, dass dies von den Satzungen aller anderen Parteien verboten wird. Die Metapher verspricht also etwas, das die Piratenpartei prinzipiell nicht aus eigener Kraft umsetzen kann. Ein interner Bruch zeigt sich auch daran, dass sie bei Wahlen wie jede andere Partei um die Stimmen der Wähler_innen konkurrieren muss, obgleich die Metapher sie diesem Wettkampf enthoben präsentiert. Politische Realität und metaphorisch präsentierte Praxis treten demnach deutlich auseinander. Dennoch sollte man das der Metapher inhärente Ziel nicht einfach als illusorisch, utopisch oder größenwahnsinnig abtun, verrät es doch etwas über die imaginierte politische Rationalität, der sich die Piratenpartei verschrieben hat und die der Öffentlichkeit, insofern sie an der Genese der Metapher beteiligt war, zumindest als Vision plausibel zu sein scheint. (2) Das Politik- und Parteiverständnis und damit die inhaltliche Substanz der politischen Rationalität, die allgemeingültig werden zu lassen Ambition der Piratenpartei ist, erschließt sich, beachtet man die Position der Politik in der gemeinsam geschaffenen Aussage, statt eines Programms ein neues Betriebssystem für die Politik zu bieten. Der Ausdruck »Betriebssystem für« muss normalerweise durch eine Nominalphrase ergänzt werden, die einen Computer oder eine Computerarchitektur bezeichnet: Ein Betriebssystem für einen Rechner, ein Smartphone etc. Was also bedeutet es, ein neues Betriebssystem für »die Politik« zu fordern? 9 | Im offiziellen Wiki der Piratenpartei (http://wiki.piratenpartei.de [04.012012]) existiert auch der als »Strategie-Konzept« kategorisierte Eintrag »Plattformpartei«, in dem mit der Vorstellung gespielt wird, die Piratenpartei könne Kandidaten ganz unterschiedlicher politischer Strömungen (genannt werden Linke und FDP) auf der Grundlage ihres Politikstils zusammenbringen (vgl. den Beitrag von Michael Seemann in diesem Band). Allerdings wird eingeräumt, dass es dafür bei Wahlen möglich sein muss, zu kumulieren und zu panaschieren.

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Erstens ist die Politik damit qua Positionierung dasjenige, was vom Betriebssystem verwaltet und gleicher gemacht wird. Zwar mögen die Benutzer_innen des von den Piraten angebotenen Betriebssystems damit mehr und anderes tun können als mit einem von herkömmlichen Parteien angebotenen Programm, sie beziehen sich aber auf Politik nur auf eine bestimmte, »piratig« standardisierte Weise. Politik ist aus dieser Perspektive die Hardware, eine komplexe Konfiguration physikalischer Elemente, die bei richtiger Ansprache bestimmte Funktionen ausführen kann. Diese Ansprache wird vom Betriebssystem der Piratenpartei geleistet – wie sie jedoch erfolgt, d.h. zu welchen Programmen solche Ansprachen zusammengeschlossen werden, entscheiden die Mitglieder der Partei: Sie können so die Politik bedienen oder sogar programmieren. Das heißt zweitens: Die Piratenpartei selbst »macht« keine Politik, sondern ist lediglich eine standardisierende Plattform, die ihren Benutzern ermöglicht, politische Programme zu erstellen und ablaufen zu lassen. Sowohl Politik- wie Parteibegriff werden in dieser Konstellation neu geprägt: Denn während die Bürger_innen ermächtigt werden, weil sie auf das Piratensystem zurückgreifen können, um ihre Meinungen in ein politisches Programm zu transformieren, entzieht sich die Partei als politischer Akteur. Sie kann nicht mehr als feste Größe auftreten, auf die sich die Mitglieder beziehen, sondern zerfällt, je stärker sie ihre Metapher einlöst, in das individuelle Handeln einzelner Mitglieder – radikal zu Ende gedacht in einer erstaunlichen Äußerung ihrer ehemaligen politischen Geschäftsführerin, Marina Weisband, im Interview mit Friedhelm Greis: »Wir sind ein Experiment. Und wir machen dieses Experiment nicht. Die deutschen Wähler machen dieses Experiment« (dapd vom 02.12.2011; Hervorhebung F.V.). Hier sind es nicht einmal mehr die Parteimitglieder, die das Experiment Piratenpartei veranstalten, sondern gleich alle Bürger_innen.10 So lässt sich die Forderung auch nach innerparteilicher Transparenz in ihrem ganzen Exzess beobachten, der seiner Eigenlogik nach letztlich zu einer »unsichtbaren«, weil vollkommen transparenten, Piratenpartei führen müsste.11 Das ist ganz im Sinne der aus der Betriebssystem-Metapher herausgearbeiteten Ambition, der zufolge die piratige Umgestaltung auf die Bedingungen politischer Betätigung überhaupt und nicht nur der Piratenpartei zielt. Es zeichnet sich die Vorstellung einer »unsichtbaren Partei« ab, die im Idealfall gar nicht mehr selbst in Aktion tritt, sondern zum Medium der politischen Praxis

10 | Allerdings trifft das insofern nicht ganz zu, als das für die Parteiarbeit zentrale LiquidFeedback-System, mit dem die offiziellen Positionen erarbeitet werden, nur für Piraten zugänglich ist (alle anderen dürfen aber mitlesen). 11 | Zum Exzess der Transparenz und ihrem Umschlag in Unsichtbarkeit vgl. Vogelmann 2011: 78-80.

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geworden ist.12 Die hyperkritische Haltung vieler Mitglieder der Piratenpartei gegenüber ihren Funktionären – auf der Landesmitgliederversammlung 2012.1 der Berliner Piratenpartei sprach der ehemalige Landesvorsitzende Gerhard Anger davon, dass »zumindest einige Piraten […] so [tun], als wäre ein neu gewählter Vorstand eine von einer höheren Macht eingesetzte Obrigkeit, die es zu bekämpfen gilt«13 – erklärt sich dann aus der real nie zu vermeidenden Enttäuschung dieser Aspiration. Neben der bis zur Unsichtbarkeit transparent gemachten Partei ist auch der Politikbegriff, der die Metapher eines Betriebssystems für die Politik erst erlaubt, ein besonderer. Politik als Hardware ins Spiel zu bringen, begreift Politik primär als ein Ensemble aus Institutionen, Verfahren und Richtlinien. Politik geht in ihren technologischen Anlagen, ihrem Dispositiv auf, für das diejenigen, die »Politik machen«, die geeigneten Programme schaffen müssen, mit denen die Technologien auf spezifische Weise zusammengeschlossen und auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet werden. Politik als Hardware läuft so auf eine neue Vorstellung von Technokratie hinaus, die anstatt einer Herrschaft von Technikern die Herrschaft durch Technologie in den Vordergrund stellt.14 Wenn 12 | Dieser Punkt kommt auch auf der Diskussionsseite des Eintrags »Liquid Democracy« im Wiki der Piratenpartei zur Sprache, vgl. http://wiki.piratenpartei.de/ Diskussion:Liquid_Democracy [05.01.2012]. 13 | Laut Wortprotokoll der Landesmitgliederversammlung 2012.1, nachzulesen unter: http://wiki.piratenpartei.de/BE:Parteitag/2012.1/2012-02-25-Protokoll-LMVBerlin-2012.1 [08.03.2012]. – Auch die heftigen Diskussionen um fast jede Äußerung des Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz bieten reichhaltiges Anschauungsmaterial, etwa die nach einem Interview in der Passauer Neuen Presse vom 2. Januar 2012, online unter: http://www.pnp.de/nachrichten/heute_in_ihrer_tageszeitung/ politik/308802_Detailkonzepte-wuerden-uns-ueberfordern.html [07.01.2012]. Vgl. dazu die Diskussionen im Forum der Piratenpartei unter: https://news.piratenpar tei.de/showthread.php?tid=98344 oder unter: https://news.piratenpartei.de/show thread.php?tid=98143 [07.01.2012]. 14 | Die »klassische« Technokratie ist personal definiert, mustergültig etwa von Martin Greiffenhagen (1971: 55): »Der Demokratie als Volksherrschaft steht die Technokratie als Sachherrschaft gegenüber. Und da es Menschen sind, die solche Sachherrschaft ausüben, meint Technokratie […] die Herrschaft einer Elite von Fachleuten und Sachverständigen, Technikern also im weitesten Sinne des Wortes.« Während dieser Begriff von Technokratie auf die US-amerikanische Technocracy-Bewegung zurückgeht, die kurzzeitig auch in Deutschland Anhänger fand (vgl. dazu Willeke 1995), nahm die deutsche Technokratiedebatte ihren Ausgang von Schelsky (1961). Dort wurde Technokratie nicht personal als Herrschaft der Techniker begriffen, sondern, wie Claus Offe (1971: 156) pointiert schreibt, als »eine ›nachpluralistische‹ und autoritär-administrative Struktur«, die sich durch Zuständigkeit des Staates für alle gesellschaftlichen Konflikte und den

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Politik als Hardware aus den Techniken zur Herrschaft besteht und die Piratenpartei der so verstandenen Politik ein neues Betriebssystem verpassen will, das für alle Bürger_innen zur Verfügung steht, kann man das in ihrer Metaphorik angelegte Ziel als eine Ausweitung oder Öffnung der Position des Technikers begreifen: Das Piratensystem kapselt als virtuelle Maschine die zugrunde liegende Hardware (Politik) derart, dass jede_r sie bedienen und insofern die Rolle einnehmen kann, die eine traditionelle Vorstellung von Technokratie den technischen Experten vorbehält. Für diese »partizipative Technokratie« ist Transparenz eine funktionale Bedingung, da die Bürger_innen nur dann ihre Rolle als Techniker_innen ausfüllen können, wenn der »Code« der auf der Politik ablaufenden Programme für alle einsehbar ist. Zusammengenommen lässt sich die der gemeinsam geschaffenen Aussage inhärente politische Rationalität als Streben nach einer partizipativen Technokratie begreifen, in der die unsichtbare Partei die um den Zugriff auf die Techniken der Herrschaft konkurrierenden Parteiprogramme verwaltet. Transparenz ist in diesem »Betriebssystem für die Politik« gleich zweifach eine entscheidende Funktionsvoraussetzung: Innerparteiliche Transparenz erlaubt der Piratenpartei, zum unsichtbaren Medium zwischen den politischen Programmen und der Hardware der Politik zu werden und andere Parteien insofern obsolet zu machen, als dann alle Bürger_innen mit Hilfe der standardisierten Infrastruktur zum politischen Akteur werden können. Transparent müssen aber auch die auf dieser Grundlage erstellten politischen Programme der Bürger_innen sein, um die Chance aller anderen zu wahren, selbst aktiv werden zu können. Denn nur die durch lückenlose Einsicht in die Programme und ihre Umsetzung erzeugte Nachvollziehbarkeit ermöglicht die Pluralität solcher politischen Programme. Die Notwendigkeit der Transparenz für die Piratenpartei und damit die Dringlichkeit ihrer Transparenzforderungen lässt sich also auf die Stellung von Transparenz als doppelte Voraussetzung der politischen Rationalität zurückführen. Welche Form gibt nun diese politische Rationalität dem Traum der Transparenz?

II. TR ANSPARENTE P OSTDEMOKR ATIE Erlaubt man sich, ein wenig von den technischen Details der BetriebssystemMetapher zurückzutreten, zielt die von der Piratenpartei imaginierte politische Rationalität auf eine Rekonfiguration der demokratischen Machtausübung; anders als der beliebte Vergleich mit Bündnis 90/Die Grünen nahelegt, ist das »Verlust von Partizipationschancen und demokratischen Teilhaberechten« auszeichnet. Von beiden Technokratiebegriffen ist die partizipative Technokratie der unsichtbaren Partei deutlich unterschieden.

Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme

Herzstück dieser Umgestaltung kein besonderes Thema – kein Programm –, sondern ein neues Verfahren – ein anderes Betriebssystem. Was oben partizipative Technokratie genannt wurde, ist eine radikale Transformation der demokratischen Machtausübung, die nicht einfach Elemente direkter Demokratie stärker in die gegenwärtige Politik einbringt, sondern die für die Demokratie konstitutiv grundlose Spaltung in Regierende und Regierte auf neue Weise in den Bürger_innen verankert und dynamisiert: Folgt man radikaldemokratischen Theorien zumindest darin, dass Demokratie grundlose Herrschaft ist, weil jede_r mit gleichem Recht herrschen kann und so die Teilung zwischen Regierenden und Regierten bei jeder Wahl nicht nur erneut sichtbar gemacht, sondern neu hervorgebracht wird, dann führt die partizipative Technokratie der unsichtbaren Partei zu Individualisierung und Permanenz der demokratischen Spaltung. Weil alle Bürger_innen einen direkteren Zugriff auf die Techniken der Herrschaft erhalten und mit Umsetzungsvorschlägen wie Liquid Democracy das zyklische Spiel der Einteilung in Regierung und Opposition aus dem Parlament in den Demos verlagert wird, vollzieht sich die Teilung nun nicht einfach zwischen den auf Zeit gewählten Repräsentanten in Form von Regierung und ihrer Opposition; vielmehr wird sie zur inneren Spaltung der Bürger_innen, die je nach getroffener Entscheidung mal herrschen und mal beherrscht werden. In diesem Sinne wird die Spaltung in Regierende und Regierte individualisiert und zugleich dynamisiert: Wer in dieser oder jener Frage herrscht, wird mit einer jeweils erneuten Zählung der Stimmen ermittelt und fällt, je häufiger diese Zählung veranstaltet wird, umso exakter mit der öffentlichen Meinung zusammen. Der Traum der Transparenz nimmt der ihn formenden politischen Rationalität wegen die Gestalt einer Demokratie an, deren Herrschaftsausübung zu jeder Zeit mit dem zählbaren Volkswillen übereinstimmt: eine totale Identität der Gesellschaft mit ihren Herrschaft ausübenden Institutionen. Das ist exakt jene Konstellation, die Jacques Rancière als Postdemokratie beschreibt: keine Verfallsform einer vormals intakten Demokratie, deren zwar fortexistierende Institutionen zunehmend von den Kräften durchkommerzialisierter Medien und der Macht der Märkte unterlaufen werden (Crouch 2008), sondern eine vollständige Identifikation der Gesellschaft mit ihren staatlichen Institutionen. Postdemokratie ist für Rancière eine Weise, die Politik – verstanden als Unterbrechung der staatlich-institutionellen (in Rancières Terminologie: der »polizeilichen«) Ordnung – zum Verschwinden zu bringen, weil das Volk als Subjekt dieser Unterbrechung in der Postdemokratie nicht mehr erscheinen kann: »Es ist ganz in einer Struktur des Sichtbaren gefangen, einer Struktur, in der man alles sieht und alles gesehen wird, und in der es daher keinen Ort mehr für das Erscheinen gibt« (Rancière 2007: 112f.). In der totalen Sichtbarkeit bleibt kein Raum für die politische Subjektivierung des Volkes, das in der unaufhörlichen Zählung und Befragung stets präsent ist und dieser Präsenz, dieser Gefangenschaft in der Falle der Transparenz, nicht mehr entkommen

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kann. Was sich im Traum der Transparenz, der von der politischen Rationalität der Piratenpartei seine distinkte Form erhält, enthüllt und was Rancière als Postdemokratie zu erkennen hilft, ist »die Praxis und das Denken einer restlosen Übereinstimmung zwischen den Formen des Staates und dem Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Rancière 2007: 111). Postdemokratie ist damit der Name für die endgültige Verabschiedung der unausweichlich intransparenten, weil das Sichtbarkeitsregime transformierenden Politik zugunsten einer durchsichtigen Verwaltung der Gesellschaft. Die Transparenzforderungen der Piratenpartei erhalten ihre besondere Notwendigkeit also aus einer politischen Rationalität, die sich in ihrer Metapher des Betriebssystems als partizipative Technokratie einer unsichtbaren Partei entpuppt und in ihrer Verwirklichung auf eine entpolitisierte Verwaltung im Namen der öffentlichen Meinung zielt. Die Piratenpartei als Träumerin dieses Traums imaginiert sich in die Rolle der Vermittlerin, die die Bedingungen der restlosen Versöhnung der Bürger_innen mit ihrer Herrschaft produziert. Dass die Forderung eines neuen Betriebssystems für die Politik erst mit Unterstützung der Öffentlichkeit zur Selbstbeschreibung der Piratenpartei werden konnte, die sich das noch im Werden befindliche Phänomen so verständlich gemacht hat, verweist auf ein grassierendes postdemokratisches Politikverständnis dieser Öffentlichkeit selbst. Das macht die Piratenpartei radikal aktuell, weil sie die schon länger bestehenden postdemokratischen Tendenzen der Gegenwart zu einer politischen Rationalität vervollständigt. Neu freilich ist an diesem Betriebssystem transparenter Postdemokratie wenig, und offen bleibt, ob wir diese Gegenwart tatsächlich zu unserer Zukunft machen wollen.

L ITER ATUR Bentham, Jeremy (2001): Writings on the Poor Laws. Hg. von Michael Quinn. Oxford. Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt a.M. Grabitz, Markus (2011): Piraten mischen die Politik auf. In: Stuttgarter Nachrichten vom 06.10.2011, S. 2. Greiffenhagen, Martin (1971): Demokratie und Technokratie. In: Koch, Claus/ Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion. Frankfurt a.M., S. 54-70. Haupt, Johannes (2011): Piratenpartei: ein »neues Betriebssystem« für Deutschlands Politik, online unter: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Pira tenpartei-ein-neues-Betriebssystem-fuer-Deutschlands-Politik-1355060.html [20.12.2011].

Der Traum der Transparenz. Neue alte Betriebssysteme

Korge, Johannes/Reimann, Anna (2011): Die Weiß-noch-nicht-Partei, online unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,789984,00.html [20.12.2011]. Mandl, Peter (2010): Grundkurs Betriebssysteme. Architekturen, Betriebsmittelverwaltung, Synchronisation, Prozesskommunikation. 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Wiesbaden. Offe, Claus (1971): Das politische Dilemma der Technokratie. In: Koch, Klaus/ Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion. Frankfurt a.M., S. 156-171. Piratenpartei Berlin (2011): Wahlprogramm Berlin 2011, online unter: http:// berlin.piratenpartei.de/wp-content/uploads/2011/08/PP-BE-wahlprogrammv1screen.pdf [03.01.2011]. Piratenpartei Deutschland (2009): Klarmachen zum Ändern! Wahlprogramm der Piratenpartei Deutschland zur Bundestagswahl 2009, online unter: http://web.piratenpartei.de/tmp/Wahlprogramm_Bundestagswahl2009. pdf [22.012012]. Rancière, Jacques (2007): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Übersetzt von Richard Steurer. 2. Aufl. Frankfurt a.M. Schelsky, Helmut (1961): Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Köln. Tanenbaum, Andrew S. (2009): Modern Operating Systems. 3. Aufl. Prentice Hall. Thieme, Matthias (2011): Hier spricht das Betriebssystem. In: Frankfurter Rundschau vom 06.10.2011, S. 5. Vogelmann, Frieder (2011): Die Falle der Transparenz. Zur Problematik einer fraglosen Norm. In: Hempel, Leon/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich (Hg.): Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert. Wiesbaden, S. 71-84. Wagner, Marie Katharina (2011): Der Piraten Kern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.10.2011, S. 12. Willeke, Stefan (1995): Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris.

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Commons und Piraten Eine programmatische Schatzsuche Daniel Constein und Silke Helfrich

P IR ATEN IM C OMMONSTHE ATER Februar 2012. Die ewige Stadt präsentiert sich schneeweiß. Im Teatro Valle friert zwar das Publikum, doch das altehrwürdige Haus befindet sich keineswegs in einer Kältestarre. Im Gegenteil, es strotzt vor Kreativität! Das Valle, in fantastischer Lage zwischen Pantheon und Piazza Navona, ist seit acht Monaten von Menschen besetzt, die Theater machen und lieben. Sie reklamieren es als bene comune, als Commons. Ein Theatercommons!? Das ist kein Ort, »zu dem man einfach geht, um sich ein Ticket zu kaufen und die Show anzusehen«, sagt der Theatertechniker und Mitbesetzer Valerio, denn: »Die wirkliche Show findet vor der Show statt.« Im Ideenaustausch, in der gemeinsamen Arbeit, in Workshops und Gesprächen mit Leuten von draußen und drinnen. Eine von drinnen ist Irene. Die Fotografin versteht es, die Dinge ins Bild zu setzen: »Es ist heute sehr wichtig, dass wir lernen zu verstehen, dass alles unser ist. Auch die Probleme!«1 Die wirkliche Show – im Teatro Valle und anderswo – ist gemeinsames Handeln, damit das, was »unser ist«, auch unser bleibt. Wir nennen es Commoning. »There is no commons without commoning« (etwa: Es gibt keine Commons ohne Menschen, die sie machen), hat der US-amerikanische Historiker Peter Linebaugh einmal gesagt und damit einen der wichtigsten Sätze der gegenwärtigen Commonsdebatte geprägt. In diesen romverschneiten Tagen öffnet sich das Valle für Akademikerinnen, Politiker und Aktivistinnen aus ganz Europa. Wie wäre es, so wird gefragt, wenn wir Commonsprinzipien in unseren europäischen Rechtsrahmen einschreiben? Die Theaterbühne füllt sich mit ACTA-Gegnern aus Polen und Bulgarien, Stadtforscherinnen aus Spanien, italienischen Rechtsprofessoren und

1 | Zitiert nach dem Video Occupying the Commons, produziert von Saki Bailey, online unter: http://www.commonssense.it/s1/?page_id=938 [19.02.2012].

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vielen mehr. Eine Europäische Commons Charter2 soll auf den Weg gebracht werden, denn ab April 2012 gibt es in Europa die Möglichkeit, Gesetzesvorschläge durch Bürgerinitiativen einzubringen. In dem Land, in dem es bereits 2011 gelang, 27 Millionen Menschen zur Beteiligung am Bürgerbegehren für »Wasser als Gemeingut!« zu bewegen, wird nun über europaweite politische Bündnisse für die Commons nachgedacht. Auf der Bühne sitzt auch ein Pirat. Er gehört seit der Wahl vom 18. September 2011 der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus an. »Commons«, so sagt Alexander Spies, »mausert sich zum wichtigen Thema der Piratenpartei.« Und sein erster Bezugspunkt ist dabei nicht das Internet, sondern der Volksentscheid über die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe vom 13. Februar desselben Jahres. Im Theaterfoyer erzählt er später, dass er die angehende Kampagne für eine »European Charter of the Commons« so überzeugend fand, dass er sofort zugesagt habe, nach Rom zu kommen. »Interessant«, so die Rückfrage, »warum findet sich dann bei den Piraten kaum Explizites zum Thema?« Die Antwort war verblüffend: »Es ist doch klar, dass Commons für uns ein zentraler Ansatz ist! Vielleicht sollten wir das mal aufschreiben.« Die Idee ist gut! In diesem Beitrag gehen wir ihr nach. Wir setzen die Links zwischen Commonsdebatte und Piratenprogramm beziehungsweise -praxis und wir beschreiben, warum die Piraten das Potential haben, zu einer »Commonspartei« zu werden.3

C OMMONS UND DIE P RINZIPIEN DES C OMMONING . A US DER S ICHT VON N ICHTPIR ATEN Der Begriff »Commons« wird häufig mit »Gemein(schafts)güter« oder »Allmende« ins Deutsche übersetzt und vermittelt sich dadurch nur unzureichend, denn den Gütern haftet das Anfassbare und zu Verwertende an, der Gemeinschaft wiederum (insbesondere im deutschen Sprachraum) die Erinnerung an verordnete Kollektivität und der Allmende der romantisierte Kuhglockenklang

2 | Online unter: http://www.commonssense.it/ [19.02.2012]. 3 | Wir nehmen also bewusst keine umfassende, kritische Analyse der politischen und programmatischen Diskussionen oder gar der gegenwärtigen Verfassung der Piraten vor, sondern zeigen, ob und inwiefern Commons als Lösungsansatz für die Steuerung der Gesellschaft (Governance) in der Ideenwelt der Piraten bereits präsent ist. Dass es auch Vorschläge und Praktiken gibt, die nicht mit Commons vereinbar sind, liegt auf der Hand, ist aber nicht Gegenstand dieses Beitrags. Wir beschreiben ein Potential, das entfaltet werden oder brachliegen kann. Darüber wird allein die politische Praxis der Piraten entscheiden.

Commons und Piraten

auf Schweizer Almwiesen. Keine Übersetzung erfasst die Essenz des Begriffs. Es ist so, als sage man »Algorithmen« und meinte »Freie Software«.4 Das Konzept der Commons dreht sich tatsächlich um so etwas wie »Algorithmen«. Allgemeiner gesprochen um Ressourcen, die niemandem allein gehören, weil wir sie ererbt haben (genetischer Code, Wasser, Land und Biosphäre), weil sie niemand individuell produziert hat (Sprache und Kulturtechniken) oder weil sie der Allgemeinheit geschenkt worden sind (die Seitenbeschreibungssprache HTML oder der erste erfolgreiche Poliomyelitisimpfstoff). Das Wort Commons birgt auch den Träger des Konzepts: Communitys, Gemeinschaften und Netzwerke, die diese Ressourcen gemeinsam nutzen und/oder herstellen. Die konkreten Nutzungsformen können dabei so bunt und vielgestaltig sein wie die Charaktere, die derzeit das Valle bevölkern. Typischerweise unterliegen sie komplexen, selbstbestimmten und an die jeweilige Ressource angepassten Regeln, die niedergeschrieben sein können, aber nicht müssen. Die entscheidende Frage jenseits aller Regeln aber lautet: Was macht »Algorithmen« zur »Freien Software«? Oder eben: Was sind die Prinzipien des Commoning, die sich überall wiederfinden und die das erzeugen, was das Herzstück einer commonsbasierten Gesellschaft ausmacht: 1. keinen Nutzungsberechtigten auszuschließen und 2. gemeinsam zu nutzende Ressourcen weder zu übernutzen noch zu unternutzen sowie 3. Probleme zu lösen und Bedürfnisse zu befriedigen. Das sind die Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der sich die Freiheit des Individuums mit Gemeinsinn verbindet, in der die Entfaltung des Einzelnen Voraussetzung für die Entfaltung der anderen ist und umgekehrt. Eine Gesellschaft, die das Denken in schwarzweißen Dichotomien (Individuum oder 4 | Algorithmen bezeichnen hier die Oberklasse der zur Lösung von Problemen geschriebenen Programmcodezeilen. Das Spezifische an Freier Software ist, dass ihr Programmcode für jeden offen ist, weil sie unter einer Lizenz steht, die es allen erlaubt, sie für jeden Zweck auszuführen, zu untersuchen, zu modifizieren und weiterzuverbreiten (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Software). Obwohl die Berliner Piraten ihre Wahlantrittsrede vor der Bundespressekonferenz von einem Computer der Firma Apple abgelesen haben (die nicht gerade zu den Unterstützern der Idee von Freier Software gehört), gehen wir davon aus, dass die Umsetzung des eigenen politischen Programms zum Thema Freie Software auch parteiintern stattfindet. Das Grundsatzprogramm der Piraten sagt dazu: »Insbesondere […] die gesamte Öffentliche Verwaltung soll schrittweise darauf hinarbeiten ihre gesamte technische Infrastruktur auf Freie Software umzustellen, um so langfristig Kosten für die öffentlichen Haushalte und die Abhängigkeit von einzelnen Herstellern zu reduzieren.«

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Kollektiv, Kultur oder Natur, Mehrheit oder Minderheit, lehrend oder lernend, öffentlich oder privat) hinter sich lässt und die Dinge so analysiert, wie sie sind: in Beziehung. Commons ist ein relationaler Begriff. Er sagt etwas aus über die Beziehungen der Menschen zueinander und zu unseren gemeinsamen Reichtümern. Commons sind also nicht einfach da. Sie werden immer wieder neu gemacht, erhalten und erweitert – in einem ständigen Prozess gemeinsamen Handelns, der so wenig konfliktfrei ist wie das Leben selbst. Die relevante Frage ist also nicht: Was sind Commons? Sondern: Wie gelingt Commoning? Die Prinzipien (von lat. principium = Anfang, Ursprung) des Commoning, um die es hier geht, sind so etwas wie der gemeinsame Nenner aller sozialen und kulturellen Praktiken, die Commons erzeugen, und somit das, worin Commons ihren Ursprung haben. Es sind die fixen Regeln im Gegensatz zu den flexiblen. Jene, die uns »erlauben […], das zu generalisieren, was funktioniert«, wie Franz Nahrada schreibt (2012: 124). Das Verständnis dieser Prinzipien kann die Strukturähnlichkeit zwischen wichtigen Grundsatzpositionen der Piraten und den Commons aufzeigen und so den Kommentar erklären, der in einer Netzdebatte zum politischen Denken der Piraten geäußert wurde: »Die Trias der Piratenpartei ist meines Erachtens: Netz, Allmende, Grundrechte.«5 Die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom, die 2009 als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, hat in ihrem Hauptwerk, Governing the Commons beyond Market and State, sogenannte »Designprinzipien für langlebige Commons« formuliert (vgl. Ostrom 1999). In ihnen ist jahrzehntelange Feldforschung verdichtet. Nach Ostrom sind gemeinschaftliche Entscheidungen durch all jene, die von einer Ressource berührt sind, ebenso unabdingbar für dauerhafte Commons wie das Monitoring durch die Nutzer selbst oder durch ihnen rechenschaftspflichtige Personen, verbunden mit angemessenen Sanktionen und einem Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechts der Nutzer, ihre eigenen Regeln selbst zu bestimmen. Kurz: Es geht um das Recht auf und das Prinzip der Selbstorganisation, das große Versäumnis der klassischen Ökonomie. Der Wunsch und damit die Notwendigkeit, die eigenen Lebensverhältnisse nach möglichst transparenten, flexiblen und vor allem selbstbestimmten Vereinbarungen zu gestalten, ist in allen Kulturen gegenwärtig. Je intensiver politische und ökonomische Strukturen als unübersichtlich, abstrakt und »weit weg von den realen Lebensverhältnissen« wahrgenommen werden, umso deutlicher bricht sich der Wunsch nach Rückgewinnung der Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen Bahn. Selbst organisieren heißt auch selbst entscheiden. In Commons werden Entscheidungen idealerweise im Konsens gefällt. Das Konsensprinzip erfordert nicht, dass bei Abstimmungen alle »Ja« zu sagen haben. Es drückt vielmehr 5 | Nutzername Stefan am 06.10.2011, online unter: http://www.ctrl-verlust.net/daspolitische-denken-der-piraten/ [27.02.2012].

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aus, dass es keine Gegenstimmen geben darf und Menschen bereit sind, ihre Meinung zurück oder in einer neuen Diskussionsrunde auf den Prüfstand zu stellen. Damit verknüpft ist das Prinzip: Eine Person – eine Stimme, was die Relevanz der Bestimmung des Wir (wer gehört dazu, wer nicht?) in der Commonsdebatte verdeutlicht. Ostrom verweist in ihrem ersten Designprinzip auf diesen Aspekt. Dort zeigt sie, dass es für gelingendes Gemeingutmanagement förderlich ist, wenn die Ressourcengrenze ebenso klar definiert ist wie die Gruppe der Nutzungsberechtigten.6 Innerhalb dieser Grenzen gilt: Nicht die Anteile an verfügbarem Kapital entscheiden über die eigene Mitentscheidungsmöglichkeit, sondern einzig die Frage, ob ich auch mitentscheiden möchte. Etwa darüber, was mit den Dingen im gemeinsamen Pool geschieht, gleich ob das die Fische im Teich sind, die Informationen im Netz oder die Dukaten in der Schatztruhe der Piratenpartei. Je nach Eigenschaft der Ressource – es ist ein Unterschied, ob Wasser oder Algorithmen gemeinsam genutzt werden – sind die spezifischen Nutzungs- und Teilhaberegeln verschieden. Für globale Gemeingüter gilt prinzipiell: eine Person – ein Anteil. Egal ob jemand aus Deutschland kommt oder aus Guinea-Bissau, jeder Mensch hat die gleichen Nutzungsrechte an der Atmosphäre. Auch innerhalb lokaler oder regionaler Ressourcensysteme gilt dieses Prinzip. Bei Ressourcen, um die wir in der Nutzung nicht konkurrieren, ist es aus Sicht der Commons hingegen unnötig, den Zugriff zu begrenzen. Grundsätzlich gibt es bezüglich der Nutzungsrechte innerhalb eines Commons (und offenbar auch im politischen Denken der Piraten) einen Grundgedanken: den der Diskriminierungsfreiheit, nach der alle unabhängig vom sozialen Status oder anderen Merkmalen die gleichen Teilhaberechte haben (vgl. dazu auch die Beiträge von Mertens und Seemann in diesem Band). Der österreichische Autor und Commonsexperte Franz Nahrada beschreibt auch passive Kompetenz7 als ein Grundmuster des Commoning, »das reflexiv das Teilen von Wissen mit ›Nichtexperten‹ und Außenstehenden bevorzugt […]. Kein Commons kann ohne weit verbreitetes Wissen über seine Natur […] existieren.« Dieses Grundmuster erklärt zum Teil die enorme Beteiligung am Wasserreferendum in Italien. 27 Millionen Menschen wissen intuitiv, dass der Umgang mit Trinkwasser nicht der gleichen Logik folgen darf wie der Umgang mit Eau de Toilette. Das führt direkt zum nächsten Prinzip, welches sich ins6 | Bei globalen Gemeingütern wie der Atmosphäre oder den globalen Fischbeständen entspricht diese Gruppe der Gesamtheit der Weltgemeinschaft. 7 | Der Begriff »passive Kompetenz« kommt aus der Linguistik und bezeichnet die Fähigkeit, eine Sprache oder sprachliche Äußerungen zu verstehen, ohne (sie) notwendigerweise aktiv sprechen zu können. In unserem Kontext bedeutet passive (oder reflexive) Kompetenz, dass man versteht, was ein Experte tut, ohne notwendigerweise selbst Experte zu sein.

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besondere auf jene Dinge bezieht, die überhaupt erst durch Leistungen der Gemeinschaft entstanden sind. Was öffentlich war oder öffentlich finanziert ist, muss öffentlich bleiben. Das bedeutet, dass es aus Commonsperspektive als illegitim gilt, wenn Einzelne sich aneignen (können), was eine Gemeinschaft erarbeitet, gepflegt oder finanziert hat. Voraussetzung dafür, dass diese Prinzipien gelebt werden können, ist unbedingte Transparenz. Nachvollziehen können was passiert oder wie es die Piraten in ihrem Grundsatzprogramm formulieren – weg vom »Prinzip der Geheimhaltung« und hin zum »Prinzip der Öffentlichkeit« – ist entscheidend für gelingende Politik und gelingendes Commoning gleichermaßen. Entscheidender noch als Fehlerfreundlichkeit. Commoning ist kontinuierliche Bewegung, Versuch und Irrtum und permanentes Lernen aus Erfolgen und Fehlern: um herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Dafür bedarf es der Iteration, d.h. der ständigen Wiederholung zur schrittweisen Entwicklung von programmatischen Aussagen, Verfahrensweisen oder technischen Hilfsmitteln mit Feedbackschleifen in allen Planungs-, Entwicklungs- und Anwendungsschritten. Werden diese (und andere) Prinzipien berücksichtigt, dann ist es wahrscheinlicher, dass Ressourcen weder über- noch unternutzt werden und dass es nach dem Empfinden aller fair zugeht. Die konkreten Regeln – wer hat Zugang, wer darf nutzen, wer kontrolliert? – sind dabei (im Unterschied zu den Prinzipien) so verschieden wie die realen Lebenssituationen. Gleiches gilt für die Kommunikations-, Organisations- und Eigentumsformen. Gemein aber ist allen Commons das Fehlen einer außenstehenden, ordnenden Autorität. Die Idee, Kontrolle zu zentralisieren (gleich, ob durch Staat oder Markt), widerspricht der Logik der Commons.

P IR ATENPOLITIK . A US DER S ICHT DER C OMMONERS Der Blick auf die Praxis Das Handeln der Partei lässt erahnen (wenngleich nicht jederzeit und überall!), dass Commoning vielen Piraten vermutlich so vertraut ist wie den Besetzern des Teatro Valle. Offene Diskussionsforen sowie Schreibwerkzeuge wie das Piratenpad und Wikis sind zentrale Instrumente der Programmformulierung. Sie stehen nicht nur Mitgliedern, sondern allen Internetnutzern zur Verfügung. Eine einfache Registrierung genügt, um Beiträge verfassen und eigene Positionen vertreten zu können. Zwar werden die Entscheidungen am Ende nur von den Parteimitgliedern gefällt, doch die Öffnung nach außen ist signifikant größer als bei anderen Parteien. Auch in der Kommunikation über Twitter und Facebook werden explizit alle zum Mitmachen eingeladen. Die Autorin Nina

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Pauer beschrieb in ihrem Beitrag zu dem Buch Die Piratenpartei ihr Erleben dieser Mitmachmentalität: »Da bemühte sich jemand um unsere Stimme. Da sprach jemand unsere Sprache. […] Weil auch wir politisch etwas zu geben haben« (vgl. Pauer 2011: 167f.). Diese grundsätzliche Offenheit folgt der Überzeugung, dass die Intelligenz der Vielen, die analog zum Tierreich oft als »Schwarmintelligenz« bezeichnet wird, zu den besten Ergebnissen führt und daher niemand daran gehindert werden sollte, sich einzubringen. Ausgrenzung wäre hier – so die in der Piratenpraxis aufscheinende These – nicht nur unnötig, sondern geradezu kontraproduktiv. Weder Infrastrukturen noch (formelle) Hierarchien erschweren die gemeinsame Arbeit am Programm, das quasi als Gemeingut entsteht. Dazu passt, dass die Partei die einzige Deutschlands ist, die eine doppelte Parteimitgliedschaft zulässt. Das mag symbolisch erscheinen, weil die Exklusivität aller anderen Parteien eine tatsächliche Doppelmitgliedschaft verhindert, aber es zeigt, dass das bisher in Parteien als »normal« Geltende sich verschiebt und an andere Verhältnisse angepasst werden muss. Mit der Software Liquid Feedback haben die Piraten 2010 begonnen, auch den innerparteilichen Entscheidungsprozess, also das Sortieren von »angeschwärmtem« Input und das Informgießen von Politik, zu »commonalisieren«. Die Software flexibilisiert die (Programm-)Debatte zeitlich und räumlich und hat zugleich das Potential, sie zu strukturieren. Jeder Piratin und jedem Piraten steht es frei, darüber Anträge, Änderungsvorschläge oder anderes einzureichen. Anschließend reagieren die anderen Mitglieder, indem sie entweder die Ideen unterstützen oder Änderungen vorschlagen oder gleich eine Alternative benennen. Es gibt keine Moderation und über diese Technik bekommt niemand mehr Macht als andere. Liquid Feedback fördert die Einigung nach dem Konsensprinzip sehr konkret, denn es ist mit dieser Software nicht möglich, einen Vorschlag einfach nur abzulehnen und damit zu blockieren. Entweder er wird unterstützt oder es muss ein Gegenvorschlag unterbreitet werden. Das Konsensprinzip ist gewissermaßen in die Software einprogrammiert. Stehen am Ende noch immer Vorschläge konträr zueinander, dann greift das Mehrheitsprinzip, das in anderen Parteien der Standardfall ist. Einen Mangel an Pragmatismus kann man den Piraten also gewiss nicht vorwerfen. Einen Mangel an Utopismus allerdings auch nicht. Mitentwickler der Software wie Andreas Nitsche sprechen begeistert vom immensen Potential der Software: Sie zeige, »dass mit Hilfe neuer technischer Mittel Demokratie heute neu erfunden werden kann«8 . Selbstredend ist die »Neuerfindung von Demokratie« kein ingenieurstechnischer Vorgang, »Technologien [können] nicht autonom und quasi im luftleeren Raum 8 | Pressemitteilung der Berliner Piratenpartei, 03.01.2010, Piratenpartei revolutioniert parteiinternen Diskurs: interaktive Demokratie mit Liquid Feedback.

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soziale Verhältnisse formen«, sie werden von Menschen aktiv und bewusst zu bestimmten Zwecken genutzt. Aber unabweisbar ist, dass Technologien den gesellschaftlichen Verhältnissen ihren Stempel aufprägen und Weichen stellen. Liquid Feedback ermöglicht die Entkopplung der Debatten von bestimmten Orten und Zeiten. Die politische Diskussion wird auf diese Weise unabhängig(er) von realen Zusammenkünften und Bundesparteitagen. So könnte das Instrument helfen, eine der zentralen Forderungen der Commonsdebatte einzulösen: gemeinsames Handeln und Entscheiden als iterativen Prozess – wofür es selbstredend mehr als der geeigneten Technologie bedarf – nicht nur in den Mittelpunkt zu stellen, sondern greifbarer (d.h. nicht unbedingt »energiesparender«) zu machen. Kurz: Liquid Feedback verbessert die Bedingungen für Commoning!9 Damit einher geht die von vielen Piraten getragene Vorstellung von der Zukunft der Demokratie. Der Neuentwurf »Liquid Democracy« siedelt irgendwo zwischen repräsentativer und direkter Demokratie. Liquid Democracy heißt: Jede und jeder bestimmt sein Stimmverhalten bei jeder anstehenden Entscheidung neu und muss sich fragen: Will ich mein Stimmrecht delegieren, da ich einer anderen Person mehr Kompetenz zurechne? Oder möchte ich selbst abstimmen? Eine ständige Bewegung zwischen Delegation und eigener Wahl ersetzt die traditionellen formaldemokratischen Verfahren, in denen Mitsprache meist nur in Form von Stimmzettelkreuzen stattfindet. Damit verflüssigt sich auch das Delegationsverfahren, das in anderen Parteien dominiert – eventuell bis hin zur Auflösungsgrenze von Parteien. Zwar erhebt auch das Delegationsprinzip Anspruch darauf, die Meinung der Gesamtheit abzubilden, doch de facto wird dem Einzelnen das direkte Mitspracherecht bei Entscheidungen genommen. Liquid Democracy rückt die demokratische Entscheidungsfindung und das bisherige Modell der repräsentativen Demokratie ein Stück weiter in Richtung Commoning als iterativen Prozess.

Der Blick ins Programm Was Piratenpolitik aus Commonssicht interessant macht, ist also nicht nur das Wie, sondern auch das Wohin. Zahlreiche piratige Positionen lassen sich so resümieren: Auch wenn nicht Commons draufsteht, sind Commons drin. Beim Thema Forschung ist es noch explizit, hier lautet der Kerngedanke der Piraten, dass über Steuergelder finanzierte Forschung der Öffentlichkeit erhalten 9 | Die Anwendung dieser Software schließt weder eher »traditionelle« Formen der Debatte noch andere Instrumente wie Chats, Wikis, Etherpads oder die Antragsfabrik vor Parteitagen aus. Analog zu Ostroms Plädoyer für die Suche nach den situativ besten Institutionen zur Lösung von Problemen müssen auch piratenintern die jeweils passenden Kommunikations- und Entscheidungsverfahren gefunden werden. Immer wieder neu.

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bleiben muss. In der Realität hingegen werden die Ergebnisse öffentlicher Forschung häufig über exklusive Lizenzverträge für die Privatwirtschaft, über Patentierung und andere Verfahren dem Zugriff der Allgemeinheit entzogen. Die Piratenposition zu dieser Praxis ist eindeutig. Sie fordern, »dass möglichst alle durch öffentliche Stellen erzeugten oder mit Hilfe öffentlicher Förderung entstandenen Inhalte der breiten Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht werden«. Diese Informationsfreiheit »setzt voraus, dass die dort anfallenden Informationen sofort, ungefragt, standardisiert, dauerhaft und frei verfügbar gemacht werden (Open Data). Den Bürgern als mittelbare Auftraggeber ist das Recht einzuräumen, öffentlich finanzierte Inhalte nach Belieben abzurufen, zu verwenden und weiterzugeben (Open Commons). […] Besonders im wissenschaftlichen Bereich muss die Vergabe von Fördermitteln an die freie Veröffentlichung der erlangten Erkenntnisse geknüpft werden (Open Access).« 10

Das ist ein Commonsprinzip in Reinkultur: Was öffentlich war und öffentlich finanziert ist, muss öffentlich bleiben. Was für die Wissensvermehrung gilt, die aus der öffentlichen Sphäre schöpft, findet seine Entsprechung in der Position zur Patentierung des natürlichen und kulturellen Erbes. »Wir lehnen Patente auf Lebewesen und Gene, auf Geschäftsideen und auch auf Software einhellig ab, weil sie unzumutbare und unverantwortliche Konsequenzen haben, […] weil sie gemeine Güter11 ohne Gegenleistung und ohne Not privatisieren und weil sie kein Erfindungspotential im ursprünglichen Sinne besitzen.«

Die Analyse ist zutreffend: Hier ist »künstliche Verknappung« von ansonsten »freien Gütern« am Werk, die die Bausteine des Wissens und des Lebens dem gemeinen Besitz entziehen. Wogegen sich Generationen gewandt haben, die Einhegung oder die sogenannte »Enclosure«12 der Commons, ist heute im Ge10 | Siehe in: Parteiprogramm Piratenpartei: Freier Zugang zu öffentlichen Inhalten, online unter: http://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm [27.02.2012]. 11 | Diese Wortwahl im Piratenprogramm ist übrigens sehr gelungen. Sie aktiviert das »uns gemeine/gemeinsame« und drängt die sprachhistorisch spätere Bedeutung des »niederträchtigen/niedrigen« in den Hintergrund. 12 | Der Begriff (dt. Einzäunung/Einhegung/Einfriedung) bezeichnet in der Sozialgeschichte vor allem die Auflösung der Allmenderechte in Mittelengland, die ihren Höhepunkt zwischen 1760 und 1832 erreichte, der Prozess selbst ist aber viel älter und bezieht sich abstrakter auf die Trennung der Menschen von Ressourcen, die sie bislang gemeinschaftlich genutzt haben – gleich ob das Software oder Saatgut ist. Zur Einhegung der Wissensallmende sei der wegweisende Beitrag von James Boyle aus dem

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wand »intellektueller Eigentumsrechte« auf neuem Terrain unterwegs. Daher tobt nicht nur bei den Piraten, sondern in der ganzen Gesellschaft die Debatte um den Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit, den Rechten der Urheber und den (in der Regel kommerziellen) Interessen der sogenannten Rechteverwerter. Die Piraten, die in dieser Auseinandersetzung die Interessen der Allgemeinheit stärken wollen, begründen ihre Position damit, dass »für die Schaffung eines Werkes in erheblichem Maße auf den öffentlichen Schatz an Schöpfungen zurückgegriffen [wird]. Die Rückführung 13 von Werken in den öffentlichen Raum ist daher nicht nur berechtigt, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit der menschlichen Schöpfungsfähigkeiten von essentieller Wichtigkeit.«

Die Logik ist zwingend. Wer aus den Commons schöpft, muss zu den Commons beitragen! Diese Regel bezieht sich auf den Zugriff von außen auf die Commons der anderen.14 Dieser Analyse implizit Rechnung tragend, rücken die Piraten unter dem Stichwort »Reform des Urheberrechtsschutzes« die Herstellung und Finanzierung von Musik, Software und anderen Werken in Richtung Commoning. Eine

Jahr 2003 empfohlen: The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain, online unter: http://www.law.duke.edu/shell/cite.pl?66+Law+&+Con temp.+Probs.+33+ %28WinterSpring+2003 %29 [27.02.2012]. 13 | Der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen kritisiert diese Formulierung. Er meint, dass »das Programm irrtümlich von ›Rückführung‹ spricht, als ob die privaten Werke schon einmal im öffentlichen Raum waren«. Blogbeitrag »Sorge um die Piratenpartei? Urheberrecht ist nur eine Stellvertreterdebatte« vom 12.11.2011, online unter: http://www.inf.uni-konstanz.de/netethicsblog/?p=470 [27.02.2012]. Der Begriff »Rückführung« ist aber insofern zutreffend, als für die Schaffung jedes Werkes auf die kulturellen Leistungen ganzer Generationen zurückgegriffen wird/werden muss und Kulturtechniken zum Einsatz kommen, die niemandem individuell gehören und deren sich jeder Mensch frei bedienen kann, ähnlich wie für die Herstellung von Industrieprodukten Wasser und Boden verbraucht (aber in der Regel nicht substituiert) werden. 14 | Der Zugriff von außen auf die Commons von anderen ist nicht immer leicht identifizierbar. Im Grunde greifen wir schon darauf zu, wenn wir einen Computer oder einen Flachbildschirm kaufen. Für die Verhältnisse in einem Commons (s.o.) gilt dieses Prinzip nicht. Dort können Geben und Nehmen (z.B. in der Nutzung eines Bewässerungssystems), sie müssen aber nicht gekoppelt sein. So darf z.B. jeder Mensch Freie Software nutzen, auch ohne zum Programmcode beigetragen zu haben. Demgegenüber sollte jeder, der als Commons genutzte natürliche Ressourcensysteme mit dem Schlaraffenland verwechselt, über kurz oder lang Probleme haben. Entscheidend ist die Fähigkeit und Möglichkeit, die Regeln zu verabreden und sich selbst zu organisieren.

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für alle tragbare Lösung ist hier noch nicht in Sicht.15 Doch das Problem wird von den Piraten zurecht stark thematisiert und von dem Informationswissenschaftler und Commonsexperten Rainer Kuhlen ebenso zurecht als »Stellvertreterdebatte« bezeichnet. »Mit dem Urheberrecht werden ja stellvertretend am Beispiel Wissen und Information Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung sehr unterschiedliche Konsequenzen haben könnte. Zum Einen: ob sich Menschen und […] Gesellschaften durch eine weitgehend freie Nutzung materieller und immaterieller Güter auf nachhaltige Weise entwickeln können. Oder zum Anderen, ob sie […] in ihren Möglichkeiten dadurch beschränkt werden, dass sich einige das als private Güter mit Eigentums- und Schutzanspruch aneignen, was im Grunde in der Verfügung aller sein sollte« (Kuhlen a.a.O.).

Die Urheberrechtsdebatte sei, so Kuhlen, beispielhaft dafür, »wie in allen Politik-, Rechts- und Lebensbereichen die Verfügung über das, wovon alle Menschen abhängen, organisiert werden soll« (Kuhlen a.a.O.). Wovon wir alle abhängen, das sind Wasser und Land, Saatgut und Software, Wissen und öffentlicher Raum, saubere Luft und Biodiversität, Beziehungsvielfalt, Kommunikation und vieles mehr. Wie in der Urheberrechtsdebatte hilft es in all diesen Bereichen nicht, an Stellschrauben zu drehen, solange die Grundsätze des Markt-Staat-Duopols (u.a. die Absolutheit privater Eigentumsansprüche auf Gemeinressourcen) unangetastet bleiben. Auch deswegen trat der Streit um die Berliner Wasserverträge bei den Piraten offene Türen ein. Wenn der Staat in Kooperation mit Privatunternehmen versucht, die Bürger unter Ausnutzung eines angeblichen Informationsmonopols um ihre Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten zu bringen, dann lässt sich das nicht ein bisschen korrigieren, sondern nur grundsätzlich verändern. Hier ist bedingungslose Transparenz der machtvollste Hebel, um der verwertungsorientierten Verfügung über Trinkwasser zu begegnen und das Thema mit all seinen Problemen neu aufzurollen. Mit der Transparenz verhält es sich wie mit dem Kommentieren von Codes in der Programmierung von Software: Ist dem zweiten Programmierer nicht klar, welche Entscheidungen den Zeilen des ersten Programmierers vorausgehen, dann lässt dies beide mit weniger Gestaltungsmöglichkeiten zurück. Entsprechend muss den Bürgern klar sein, nach welchen Regeln das politische Betriebssystem organisiert ist und welche Ziele von wem angestrebt werden. Nur dann können sie »auf Augenhöhe« kommunizieren und eigene Zielvorgaben machen. 15 | Relativ vorsichtig ist im Parteiprogramm die Rede von einer »drastische[n] Verkürzung der Dauer von Rechtsansprüchen auf urheberrechtliche Werke«. Es finden an anderer Stelle auch Debatten um Konzepte der Kulturflatrate und um die Pre-/Postfinanzierung statt: http://wiki.piratenpartei.de/Kulturflatrate [27.02.2012].

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Wenn Alexander Spies auf der Bühne des Teatro Valle die enormen Anstrengungen der Berlinerinnen und Berliner zur Offenlegung der Wasserverträge als Beispiel nutzt, dann verweist er auf die Notwendigkeit des freien Zugangs zu Informationen. Aus diesem Streit zogen die Berliner Piraten die Konsequenz, künftig dafür einzustehen, dass nur noch öffentliche (d.h veröffentlichte) Verträge des Landes Berlins rechtlich wirksam werden. Und damit nicht genug: Der Informationszugang für die Bürger müsse außerdem »effizient, komfortabel und mit niedrigen Kosten« ermöglicht werden, es bedürfe offener Formate und Standards (»öffentliche Daten gehören den Berlinern, nicht den Archiven«) und jeder Bürger habe »unabhängig von der Betroffenheit und ohne den Zwang der Begründung das Recht auf Akteneinsicht auf allen Ebenen« (zitiert nach dem Grundsatzprogramm). Die eigenen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, erfordert also mehr als den Ausbau der allseits beschworenen bleischweren »Beteiligungsmaßnahmen«. Das System »Planung« und »Partizipation« (wie aus der Durchsetzung kontroverser Baumaßnahmen bekannt) muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die Bringschuld für einfach gestaltete Partizipations- und vermehrte Selbstorganisationsmöglichkeiten liegt bei der Politik.16 Bei der Öffnung des stillgelegten Tempelhofer Flughafenfeldes z.B. wurde ein kleiner Teil der Fläche »Pioniernutzern« zur Verfügung gestellt. Das dort entstandene »Allmendekontor«17 war Nährboden für unzählige Stadtgärten und andere Begegnungsprojekte. Eine so verstandene Stadtplanung als Gemeinschaftsprojekt aller lässt völlig neue Möglichkeiten erahnen. Und schließlich zeigt auch das Verständnis der Piraten von Infrastrukturen und Plattformen ihre Nähe zu den Commons. Dieses Verständnis ist ganz dem Netzneutralitätsgedanken verpflichtet, nach dem es nicht sein kann, dass etwa die Daten derjenigen schneller weitergeleitet werden, die über mehr Geld oder Einfluss verfügen, die Daten der anderen aber in die Warteschleife kommen. Michael Seemann spannt in der Analyse dieses Kernkonzepts der Piraten einen großen Bogen, um ihre originär-politische Essenz zu fassen: »Es ist also ganz einfach«, schreibt er, »die Piraten verstehen die öffentlichen Institutionen als Plattformen, die Teilhabe ermöglichen. Und auf jede dieser Plattformen fordern sie diskriminierungsfreien Zugang für alle, weil sie im Internet erfahren haben, dass sich nur so Wissen und Ideen – und damit auch Menschen – frei entfalten 16 | Für eine so verstandene »Politik der Hilfe zur Selbstorganisation« am Beispiel eines anderen Konzepts von Umweltpolitik argumentiert auch: Daniel Constein: Für eine commonsbasierte Umweltpolitik der Piraten. Oder: Wie politisch sind Gemeingüter?, online unter: http://commonsblog.wordpress.com/2012/01/29/fur-eine-commons basierte-umweltpolitik-der-piraten/#more-5465 [28.02.2012]. 17 | Online unter: http://www.urbanacker.net/index.php?option=com_content&view =article&id=284:berliner-allmende-kontor-&catid=17:projekte&Itemid=3 [27.02.2012].

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können« (Seemann 2011).18 Er bringt es auf den Punkt der Plattformneutralität. »Clever«, so eine Antwort auf Seemanns Beitrag, »die Plattformneutralität ist der Gerechtigkeitsbegriff der Piraten.«19 Und Steffen Greschner resümiert: »Fahrscheinloser ÖPNV ist die diskriminierungsfreie Beförderung von Personen, […] das bedingungslose Grundeinkommen ist eine diskriminierungsfreie Infrastruktur zur ökonomischen Teilhabe an der Gesellschaft,[…] und auch die Forderung der konsequenteren Trennung von Kirche und Staat ist eine Netzneutralitätsforderung« (Greschner 2011). 20

E IN PIR ATIGES B E TRIEBSSYSTEM ZUM E NTERN DER C OMMONS In einem Beitrag der FAZ-Redakteurin Marie Katharina Wagner klingt es beinahe abwertend, wenn die ehemalige Geschäftsführerin der Piraten, Marina Weißband, zitiert wird: »Die Piraten wollen den Bürgern kein Programm anbieten, sondern ein Betriebssystem« (Wagner 2011: 109). Dabei ist gerade das eine große Chance für die Piraten, denen in schnöder Regelmäßigkeit vorgeworfen wird, sich nicht genügend um Inhalte zu bemühen. Wer die Rolle von Betriebssystemen kennt, wird unschwer erfassen, welch’ ungeheures Potential darin liegt, sich mit Liquid Feedback auf die Basissoftware (die Prinzipien demokratischer Prozesse) zu konzentrieren, statt einzig auf die Erweiterung der intellektuellen Software respektive des Parteiprogramms. Ein Betriebssystem lässt die Nutzerinnen und Nutzer bestimmte Dinge tun, während andere Dinge ausgeschlossen werden. Proprietäre Betriebssysteme, wie MacOS oder Windows, haben das Ausschlussprinzip perfektioniert. Ganz anders das Freie Betriebssystem GNU/ Linux: Jeder Mensch kann im Prinzip nachvollziehen, nach welchen Regeln es operiert. Nur Freie Betriebssysteme ermöglichen die gesellschaftliche Kontrolle über die wichtigsten Produktionsmittel unserer Zeit – Hard- und Software! Piraten wissen das (vgl. hierzu auch den Beitrag von Vogelmann in diesem Band). Die spannende Frage ist nun, welche Prinzipien in das von den Piraten angebotene Betriebssystem des Politikbetriebs eingeschrieben sind. Die Beantwortung dieser Frage markiert eine Scheidelinie. Umweltpolitische Beispiele machen das deutlich. Man kann beständig und mühevoll am Schornstein eines mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerks herumoptimieren, um den Schadstoffausstoß zu verringern. Oder man reduziert den Ausstoß auf Null 18 | Seemann erhielt nach diesem Kristallisationsversuch viel positives Feedback von Piraten und Aspiranten. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Seemann in diesem Band. 19 | Online-Kommentar zu Seemann 2011 durch Nutzer »Senficon«. 20 | Die Aufzählung nennt Forderungen, die alle im Grundsatzprogramm der Piraten erscheinen.

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durch den Einsatz regenerativer Energien. Man kann sich für verkehrspolitische Lösungen einsetzen, die vom Grundgedanken der Förderung des Individualverkehrs ausgehen oder von dessen Reduzierung. Die Ergebnisse werden sehr unterschiedlich sein. »Ganz neue und vorher undenkbare Lösungsansätze«, wie sie das Grundsatzprogramm der Piraten verspricht, sind auch von der Wahl des Betriebssystems determiniert! Die Zukunft wird zeigen, ob die (deutschen) Piraten die Prinzipien des Commoning systematisch in ihrer Politik und in ihrem Tun verankern. Eine differenziertere Auseinandersetzung der Partei und des Parteiumfeldes mit dem »Betriebssystem des Freien Marktes« wird dies allemal erfordern. Schließlich verweisen Commons im Kern auf Lösungen jenseits des Markt-Staat-Duopols. Die Chancen für eine deutlichere Hinwendung der Piraten zu den Commons stehen nicht schlecht. Einerseits ermöglicht die offene Programmdebatte praktisch jederzeit, eine Grundsatzdebatte anzustoßen. Andererseits verführt die anstehende Europawahl 2014 zu dem Gedanken, die Commons zum Kernbegriff eines europäischen Piratenprogramms zu entwickeln. Das wäre eine Innovation des Betriebssystems, die selbst den Theaterleuten im Teatro Valle imponieren würde. Warten wir ab, ob die Piraten den Schatz der Commons heben.

L ITER ATUR Greschner, Steffen (2011): Sind die Piraten auf dem Weg zur »Commonspartei«? In: x Politics vom 24.11.2011, online unter: http://www.xpolitics.de/2011/11/24/ sind-die-piraten-auf-dem-weg-zur-commonspartei/ [28.02.2012]. Nahrada, Franz (2012): Das Commoning von Mustern und die Muster des Commoning. Eine Skizze. In: Helfrich, Silke/Heinrich Böll Stiftung: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld, S. 122-130. Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende. Tübingen. Pauer, Nina (2011): Befreundet euch mit uns! Brief einer jungen Wählerin an die etablierten Parteien. In: Schilbach, Friederike (Hg.): Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern? Berlin, S. 167-171. Seemann, Michael (2011): Das politische Denken der Piraten. In: CTRL+Verlust vom 06.10.2011, online unter: http://www.ctrl-verlust.net/das-politischedenken-der-piraten/ [28.02.2012]. Wagner, Marie K. (2011): Der Piraten Kern. Eine Software ist das wahre Programm der Piraten – aber die Partei will sie nicht nutzen. In: Schilbach, Friederike (Hg.): Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern? Berlin, S. 109-114. Dieser Beitrag ist lizenziert unter einer Creative Commons Lizenz: BY-SA 2.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/

Barcamps als kommunikative Treffpunkte der Internetszene Kai-Uwe Hellmann

Wie bei den Grünen dürfte auch für die Piratenpartei davon auszugehen sein, dass ihnen eine besondere Rekrutierungsbasis zugrunde liegt, wenngleich eine präzise Ermittlung ihrer sozialstrukturellen Verortung noch aussteht (von Gehlen 2007; Bartels 2009; Zolleis et al. 2010; Häusler 2011; Köcher 2011). So nimmt Frank Schirrmacher (2011) an, dass Nerds für die Piratenpartei am wichtigsten sind. Nicht minder unscharf könnte man auch an die »Digital Natives« (Blumberg 2010) denken oder jene, die in den »Creative Industries« tätig sind oder fortlaufend »Start-ups« gründen, wie sie im Zuge der letzten zehn Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen sind: semiprofessionelle und -kommerzielle, immer öfter auch politische oder soziokulturelle Internetprojekte auf Basis von Web-2.0-Technologien, häufig sehr klein anfangend, nur wenige Personen umfassend, überwiegend junge Männer mit Hochschulabschluss, vorrangig in größeren Städten lebend (und zumeist auch klein bleibend, wenn sie überhaupt das erste Jahr heil überstehen). Und wie bei den Grünen, die nicht zuletzt aus den neuen sozialen Bewegungen hervorgegangen sind, lässt sich auch für die Piratenpartei feststellen, dass ihr gewisse bewegungsförmige Internetinitiativen vorauseilen, erinnert sei hier nur an die »Open Source«-Bewegung (Hemetsberger 2008). Was man nun über solche sozialen Netzwerke und Bewegungen sagen kann, ist u.a., dass sie bei aller Unauffälligkeit, ja Unsichtbarkeit, gehört man nicht gerade zu ihnen, offenbar ein wiederkehrendes Bedürfnis nach Zusammenkunft, direkter Begegnung und Austausch entwickeln (Melucci 1989). Interaktion, d.h. Kommunikation unter Anwesenden, stellt einen wichtigen Mechanismus zur Reproduktion und Restabilisierung solcher Netzwerke und Bewegungen dar, ähnlich wie Gerhard Schulze (1992) dies für das Verhältnis von Milieus und Szenen beschrieben hat. Eine Form, in der sich diese, keineswegs bloß politisch motivierte, Rekrutierungsbasis der Piratenpartei, so die These, zusammenfindet und austauscht, sind »Barcamps«. Barcamps stellen eine relativ neue Form von Konferenz dar,

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die im Vergleich mit sonst üblichen Konferenzformaten eher unkonventionelle Regeln aufweist, weshalb Barcamps auch als »Unconferences« bezeichnet werden (http://barcamp.org/w/page/405512/WhatToExpect). Unkonventionell ist z.B., wie die Beiträge organisiert werden: Morgens begrüßen die Veranstalter, allesamt ehrenamtlich tätig, die angereisten Teilnehmer, informieren knapp über sich, die Örtlichkeit und die Organisation eines Barcamps, um das Wort dann sogleich an die Gäste weiterzugeben.1 Jeder, der will, tritt dann vor und gibt kurz bekannt, wer gerade spricht, zu welchem Thema er oder sie im Laufe des Tages etwas vortragen oder erfahren möchte und mit wie viel Teilnehmern für die gerade angekündigte Session ungefähr zu rechnen ist, damit die Raumvergabe möglichst optimal erfolgt. Um Zeit zu sparen, sind in der Regel nur zwei, drei »Tags«, d.h. Stichworte, zugelassen, und zwar zu sich selbst, den eigenen Interessen sowie dem, was auf dem jeweiligen Barcamp als Session angeboten oder nachgefragt wird (Foto 1). Foto 1: Die Vorstellungsrunde beim CommunityCampBerlin 2010

Quelle: Christian Rasch (http://barcampfotos.de/barcamps/Community-Camp-Berlin-2010/dsc0464)

1 | Sollte ein Barcamp zwei Tage dauern, wie meistens, wiederholt sich dieses Ritual tags darauf. Die Sessionplanung wird immer nur für den jeweiligen Tag ad hoc vereinbart, Spontaneität und Aktualität sind entscheidend.

Barcamps als kommunikative Treffpunkte der Internetszene

Anschließend wird das jeweilige Vorhaben auf einer Art Wandzeitung dokumentiert, die im Hauptraum hängt und auf der die Tageszeiten und verfügbaren Räume schon zweidimensional aufgetragen wurden. Mit Beginn der Vorstellungsrunde füllt sich diese Wandzeitung innerhalb weniger Minuten mit unterschiedlichsten Themen, Fragen, Sachverhalten, jeweils auf einem DIN-A4-Blatt kurz und bündig festgehalten, anschließend auf die Wandzeitung geklebt, und je nachdem, wie viele Teilnehmer gerade anwesend sind, dauert es nicht mehr denn eine Stunde, bis die Wand weitestgehend voll ist, d.h. alle freien »Slots« gefüllt sind (Foto 2). Foto 2: Die Wandzeitung des CommunityCampBerlin 2011

Quelle: Andreas Schreiber (http://www.flickr.com/photos/bloggingdagger/6307385058)

Anschließend geht es unverzüglich los, die Menge verstreut sich, die einzelnen Räume werden aufgesucht, das Barcamp beginnt sich warmzulaufen. Wegen dieser Form von Selbstorganisation werden Barcamps auch als »User Generated Conferences« bezeichnet, weil das gesamte Tagesprogramm vorwiegend durch die Teilnehmer und deren Beiträge bestritten wird. Die Teilnahme an einem Barcamp ist kostenlos, ebenso wie die Verpflegung, die öffentliche Nutzung eines obligatorischen WLAN-Netzes sowie sonstiger Infrastruktur und Technik. Wobei die Teilnehmerzahl aufgrund der räumlichen Gegebenheiten in der Regel begrenzt ist und sich zumeist zwischen 50 und 150

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Personen bewegt, je nach Barcamp. Die Räumlichkeiten werden im Übrigen gesponsert, wie auch alle anderen Leistungen durch Sponsoren finanziert werden, die allesamt das Internet für ihre Zwecke nutzen, teilweise nur zusätzlich, teilweise ausschließlich. Wendet man sich damit den Veranstaltern und Teilnehmern zu, besteht zumeist ein leichter Überhang an Männern von Anfang 20 bis Anfang 30, nur wenige sind deutlich jünger oder älter (Foto 3). Das Auftreten ist betont locker, die Kleidung ebenfalls, der Umgang unkompliziert und formlos. Man duzt sich durchweg, die Atmosphäre stellt eine Mischung aus Seminar und Ferienlager dar (http://www.heise.de/tp/artikel/24/24251/1.html). Dies hat nicht zuletzt mit dem Entstehungskontext von Barcamps zu tun. Foto 3: Während einer Session beim CommunityCampBerlin 2011

Quelle: Frank Feldmann

Barcamps als kommunikative Treffpunkte der Internetszene

Entstanden sind Barcamps nämlich 2005 in den USA als Gegenbewegung bzw. Weiterentwicklung der »Foo Camps«, einer fast schon als legendär zu bezeichnenden Veranstaltungsreihe, die seit 2003 stattfindet und an der nur »Friends of (Tim) O’Reilly« (daher »Foo«), einem Open-Source-Pionier aus der San Francisco Bay Area, teilnehmen können, überwiegend Internetvordenker, Erfinder, Programmierer, Nerds, »Wired«-Autoren, sehr elitär gehalten und nur aufgrund einer persönlichen Einladung durch Tim O’Reilly zugänglich.2 Ort der Veranstaltung ist die Farm von Tim O’Reilly im Norden von San Francisco. Ausgehend vom ersten Barcamp in Palo Alto, Kalifornien, im August 2005 hat sich diese populäre Version von »Foo Camps« wie ein Lauffeuer rund um die Welt verbreitet. So fanden 2005 schon 21 dokumentierte3 Barcamps statt, darunter drei außerhalb der USA (Amsterdam, Paris, Toronto). 2006 wurden 169 Barcamps weltweit durchgeführt, davon drei in Deutschland (Berlin, Hamburg, Nürnberg). Für die Jahre 2007 mit 101 und 2008 mit sogar nur 97 Barcamps weltweit brach dieser Trend zwar ungeklärterweise wieder ein – wobei zumindest für die deutschen Barcamps gesagt werden kann, dass die Angaben definitiv unvollständig sind, da allein 2008 mehr als 10 Barcamps in Deutschland durchgeführt wurden. Für das Jahr 2009 sind hingegen 485 Barcamps weltweit angemeldet worden, davon 44 in Deutschland, während im Jahre 2010 die Zahl eingetragener Barcamps weltweit erneut stark absank, nämlich auf 211, von denen immerhin 45 in Deutschland stattfanden. Und auch hierbei wurden nicht alle durchgeführten deutschen Barcamps in der Auflistung aufgeführt. Für 2011 liegt die Anzahl der durchgeführten, teilweise auch nur angekündigten Barcamps weltweit bei 185, u.a. in Ländern wie Argentinien, Aserbaidjan, China, Ecuador, Indien, Kamerun, Kasachstan, Kroatien, Malaysia, Nepal, Neuseeland, Saudi Arabien, Ukraine, während allein in Deutschland 19 Barcamps durchgeführt wurden. Aber auch hier sind die Zahlen nicht zuverlässig. Grund für diese starken Schwankungen ist mangelnde Disziplin bei der zeitnahen und akkuraten Aktualisierung dieser Liste: Nicht jedes durchgeführte Barcamp wurde richtig eingetragen, und möglicherweise wurde nicht jedes angekündigte Barcamp auch tatsächlich durchgeführt. Dabei sind Barcamps immer nur Zwischenstationen, zumeist lokal organisiert, mit vorwiegend regionalem Einzugsgebiet. Nur wenige entfalten eine überregionale, mitunter sogar bundesweite Anziehungskraft, um bei Deutschland zu bleiben. Überdies kann hierzulande, zumindest für einen Teil der Teil2 | Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Foo_Camp; siehe ferner http://www.franztoo.de/ ?p=515 sowie jüngeren Datums http://www.scottberkun.com/blog/2011/what-i-learned -at-foo-camp-11/. 3 | Auf der Website http://www.barcamp.org gibt es eine Art Bekanntmachung über sämtliche weltweit stattfindenden Barcamps. Die Registrierungsgeschichte reicht bis in das Jahr 2005 zurück. Die Registrierung ist jedoch unvollständig.

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nehmer, von einem regelrechten Barcamp-Tourismus gesprochen werden. Schließlich ist die Fluktuation recht hoch.4 Der thematische Fokus liegt zumeist auf der Nutzung neuer Medien, Programmiersprachen, Technologien (Apps, Drupal, Facebook, Google+, PHP, Podcast, Videos, Wikis etc.) für unterschiedlichste Zwecke, bei denen die Kommunikation unter den aktiven Nutzern einer Plattform im Vordergrund steht. Wobei es gerade diese Vernetzungstechnologien sind, die es gestatten, dass Barcamp-Teilnehmer zwischen den Barcamps in Kontakt miteinander bleiben. Und nicht selten geschieht es sogar umgekehrt: Man beobachtet sich wechselseitig übers Internet, wird mit der Zeit neugierig aufeinander, nimmt online Kontakt auf und verabredet sich dann für ein bestimmtes Barcamp, um sich näher kennenzulernen und direkt auszutauschen. Hinzu kommt, dass Barcamps die einzigartige Möglichkeit bieten, sich sehr inklusiv, kreativ, kritisch mit Experten, von denen sich viele der »Open Source«-Philosophie verpflichtet fühlen, also für Transparenz und freie Zugänglichkeit (»Free Access«) eintreten, über neueste Projekte und Ideen aus der Online-Welt auszutauschen. »BarCamp is an ad-hoc unconference born from the desire for people to share and learn in an open environment. It is an intense event with discussions, demos and interaction from attendees« (http://barcamp.org/w/page/405173/TheRulesOf BarCamp). Barcamps fungieren somit als regelmäßige Treffpunkte der Internetszene. Sie repräsentieren eine sehr beliebte, ausschließlich durch diese Szene geprägte Veranstaltungsform, die als Begegnungschance, Diskussionsforum, Ideenmesse und Jobbörse dient und nicht zuletzt zur Bildung und Stabilisierung der kollektiven Identität dieser Szene beiträgt (Hellmann 2007). Die besondere Atmosphäre auf Barcamps wird unterstützt durch acht Regeln, deren Beachtung anfangs noch strikt einzuhalten versucht wurde (http:// barcamp.org/w/page/405173/TheRulesOfBarCamp).5 Diese Regeln lauten:

4 | Was die eigene Erfahrung mit dem seit 2008 jährlich stattfindenden »CommunityCampBerlin« (http://communitycamp.mixxt.de/) betrifft, kommt mindestens ein Drittel der CCB-Teilnehmer neu hinzu und hat oftmals sogar noch keinerlei Erfahrungen mit anderen Barcamps gemacht. 5 | »Versucht wurde«, weil inzwischen sehr deutlich Kritik daran geübt wird, dass diese acht Regeln kaum noch ernsthafte Beachtung finden, vgl. http://www.robertbasic. de/2011/11/entwickelt-sich-das-barcamp-format-weiter/. Dies gilt insbesondere für die Regel 6, in Verbindung mit einer gewissen Vollversorgungsmentalität, die sich über die Jahre ausgebildet hat: Alles ist umsonst, groß tun muss dafür niemand etwas (außer das Orga-Team). Dabei sein ist alles, eigene Sessions anbieten eher die Ausnahme, bei einer sehr hohen No-Show-Rate.

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1. Regel: Sprich über das Barcamp. 2. Regel: Blogge über das Barcamp. 3. Regel: Wenn Du anwesend bist, schreib über das Thema und stelle es in einer Präsentation vor. 4. Regel: Nur drei Worte zur Einführung. 5. Regel: So viele Präsentationen wie möglich, soweit es die Räumlichkeiten erlauben. 6. Regel: Keine geplanten Präsentationen, keine Touristen. 7. Regel: Präsentationen gehen so lange, wie sie müssen oder bis die nächste Präsentation beginnt. 8. Regel: Wenn dies Dein erstes Barcamp ist, MUSST Du präsentieren. (Na gut, Du MUSST nicht unbedingt, aber versuche doch, jemanden zu finden, mit dem Du präsentieren kannst, oder stelle wenigstens ein paar Fragen und sei ein interaktiver Teilnehmer.) Aufgrund der raschen Verbreitung von Barcamps, die einherging mit einer erheblichen Zunahme der Teilnehmerzahlen an diesen zu Beginn noch thematisch nicht fokussierten Barcamps, ist es ab 2008 zu einer immer stärkeren Aufspaltung zwischen dem üblichen Barcamp-Format, das für alle Themen offen ist, mit teilweise mehreren Hundert Teilnehmern,6 und reinen Themencamps gekommen. Um hier nur einen groben Überblick zu geben: Im Jahr 2010 wurden in Deutschland, neben zehn allgemeinen Barcamps (und zwar in Nürnberg, Essen, Norderney, Hannover, Konstanz, Kiel, Bielefeld, München, Braunschweig und Hamburg, chronologisch geordnet), u.a. folgende Themencamps durchgeführt: fundraising2.0CAMP, Tourismuscamp 3, barcampkultur, Piratcamp, ChurchCamp, Startup Camp, Barcamp Kirche 2.0, KommunalCamp, VideoCamp, WorkLife2.0Camp, PhotoCamp, Gov20Camp, EnergyCamp, CommunityCampBerlin, Socialcamp, Creativity and Communication Camp, CollaborationCamp.7 In der folgenden Abbildung sind einige Logos deutscher Themencamps abgebildet.

6 | So versammelten sich 2008 beim Barcamp Berlin 3, dem größten Barcamp, das jemals in Deutschland stattfand, am ersten Tag mehr als 700 Teilnehmer, vgl. http:// www.focus.de/finanzen/karriere/perspek tiven/informationszeitalter/tid-12960/ barcamp-pause-als-programm_aid_357743.html. Für viele war damit eine Grenze des Zumutbaren erreicht. Seitdem umfassen Barcamps kaum mehr denn 200 Teilnehmer, eher weniger, sozusagen auf Normalmaß zusammengeschrumpft. 7 | Vgl. http://barcamp.org/w/page/401344/BarCampPastEvents, wiederum chronologisch geordnet.

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Abbildung 1: Themencamp-Logos aus den letzten Jahren

Um mal bei einem mir selbst gut vertrauten Beispiel zu bleiben: Das seit 2008 jährlich stattfindende »CommunityCampBerlin« beschäftigt sich mit allen Fragen rund um internetbasierte Communitys, unter besonderer Berücksichtigung des »Community Building« und »Community Management«, sofern dafür entsprechende Web-2.0-Technologien zur Anwendung kommen. Vorrangig geht es bei den Sessions um den Austausch von »Community Buildung & Management«-Erfahrungen aus unterschiedlichsten Anwendungsfeldern, ansonsten um neue technische Möglichkeiten, die wiederum das »Community Building« und »Community Management« befördern könnten. Die vorgestellten Initiativen sind teils kommerziell, teils nichtkommerziell ausgerichtet. Während es in der einen Session um das Abschöpfen von Produktideen durch Kundenintegration oder Community-Kennzahlen geht, beschäftigt sich die Session nebenan mit Datenschutzproblemen oder Schwierigkeiten bei der Netiquette-Compliance. Wiederkehrende Diskussionen gibt es zu Fragen der Besucherbindung, der Mitgliederaktivität, unterschiedlicher Identifikationsgrade, wiederkehrender Konflikte, der Abwanderbereitschaft Einzelner, vorhandener Verlustängste, der Kritik an Unternehmen, die sich mit »Community Building« befassen, oder auch der Zensur durch die Plattformbetreiber. Überdies tauchen, nachdem auf dem ersten »CommunityCampBerlin« 2008 der Bundesverband Community Managment e.V. (BVCM) spontan gegründet wurde, mehr und mehr erfahrene »Community Manager« auf, also Praktiker und Experten für die Betreuung sozialer Netzwerke, deren Existenz sich maßgeblich dem Internet verdankt. Was die weitere Zukunft von Barcamps angeht, so kann nicht mehr geleugnet werden, dass sich die Kultur dieser »Unconferences« in eine Art Legitimationskrise hineinmanövriert hat. Die Anfangseuphorie ist vorbei. Zwar kommen immer wieder neue Teilnehmer hinzu. Aber der Aufbruchsgeist ist allmählich verflogen. Der anfängliche Partizipationswille weicht einem zuneh-

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menden Konsumbedürfnis. Sehr scharf hat dies Andrew Keen (2007) bezüglich der allgemeinen Web-2.0-Euphorie kritisiert. Womöglich hat man es hierbei mit einem ganz normalen Prozess der Entzauberung zu tun. Nur stellt sich dann auch für die Piratenpartei, um nochmals auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, die Frage, ob eine solche Form der Institutionalisierung, wie Dieter Rucht, Barbara Blattert und Dieter Rink (1997) sie etwa für die Alternativkultur beschrieben haben, nicht auch bei ihnen eintreten könnte.8 Für die Grünen ist dies schon längst absehbar (Hellmann 2002). Aktuell ist die Piratenpartei zwar noch weit davon entfernt. Zunächst wird es darum gehen, bundesweit in sämtliche Parlamente, Landtage, Rathäuser einzuziehen. Im Zuge dieser Entwicklung wird es aber nicht ausbleiben, dass die Piratenpartei, wie bei der Barcamp-Kultur, Federn lässt, Farbe bekennen muss, allmählich an Faszinationswert einbüßt – sofern es ihr nicht gelingt, und auch dies gilt für die Barcamp-Kultur, für sich eine Koevolution anzustoßen, die Schritt hält mit dem Wandel, dem sie, nicht zuletzt durch sich selbst, fortlaufend ausgesetzt ist.

L ITER ATUR Bartels, Henning (2009): Die Piratenpartei. Entstehung, Forderungen und Perspektiven der Bewegung. Berlin. Blumberg, Fabian (2010): Partei der »digital natives«? Eine Analyse der Genese und Etablierungschancen der Piratenpartei. Berlin. Häusler, Martin (2011): Die Piratenpartei. Freiheit, die wir meinen. Neue Gesichter für die Politik. Berlin/München. Hellmann, Kai-Uwe (2002): Partei ohne Bewegung. Machtgewinn und Basisverlust der Grünen. In: Vorgänge, Nr. 157, S. 30-35.

8 | In Ansätzen ist dies schon am Politcamp (http://politcamp.org) beobachtbar, das seit 2009 durchgeführt wird und für dessen fortlaufende Organisation im August 2011 eigens ein Verein gegründet wurde. Vorgehensweise, Struktur und Ablauf des Politcamps sind dabei Barcamps ähnlich, wie einem Bericht der Jungen Piraten zu entnehmen ist (http://www.junge-piraten.de/2010/03/23/junge-piraten-entern-politcamp/). Mit ca. 1000 Teilnehmern sprengt das Politcamp aber jeden Barcamp-üblichen Rahmen, und die Anzahl von 35 vorgestellten »Speakern« ist ebenfalls ein Barcamp-fremdes Element; es erinnert eher an das Format der re:publica (http://re-publica.de/12/). Nichtsdestotrotz ist damit angezeigt, dass sich die Barcamp-Kultur auch in der politischen Sphäre verbreitet hat, und die Präsenz der Jungen Piraten gab dem Politcamp 2011 offenbar ein besonderes Moment an Authentizität (http://www.indiskretionehrensache. de/2010/03/unter-polit-campern/).

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Hellmann, Kai-Uwe (2007): Die Barcamp Bewegung. Bericht über eine Serie von »Unconferences«. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 20, Heft 4, S. 107-110. Hemetsberger, Andrea (2008): Vom Revolutionär zum Unternehmer – die Free und Open-Source Bewegung im Wandel. In: Lutterbeck, Bernd/Bärwolff, Matthias/Gehring, Ropbert A. (Hg.): Open-Source Jahrbuch 2008. Berlin, S.  141-151, online unter: http://www.opensourcejahrbuch.de/download/ jb2008/dwn. Keen, Andrew (2007): The Cult of the Amateur. New York et al. Köcher, Renate (2011): Die Chancen der Piraten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 291 vom 14.12.2011, S. 5. Melucci, Alberto (1989): Nomads of the Present. Social Movements and Individual Needs in Contemporary Society. Philadelphia. Rucht, Dieter/Blattert, Barbara/Rink, Dieter (1997): Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands. Frankfurt a.M./New York. Schirrmacher, Frank (2011): Die Revolution der Piraten. In: Schilbach, Friedericke (Hg.): Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern? Berlin, S. 133-146. Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M./New York. von Gehlen, Dirk (2007): Die Piratenpartei. Wie Piratenparteien weltweit nicht nur die Inhalte, sondern auch die Form der Politik verändern wollen. In: Geiselberg, Heinrich (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda. Frankfurt a.M., S. 44-50. Zolleis, Udo/Prokopf, Simon/Strauch, Fabian (2010): Die Piratenpartei. Hype oder Herausforderung für die deutsche Parteienlandschaft? München.

Freibeuter im Netz — eine Netzpolitik ohne geistiges Eigentum? Dirk von Gehlen

B EGINNEN WIR MIT J AMES B OYLE . Der schottische Jurist könnte vermutlich Urheberrechte an dem Ansatz geltend machen, die Piraten mit der frühen Umweltbewegung zu vergleichen. Schon in den 1990er Jahren sprach er davon, dass eine Umweltbewegung des Digitalzeitalters nötig sei. Spätestens seit merkwürdig gekleidete Menschen erst in Talkshows und dann im Berliner Abgeordnetenhaus Platz nahmen, taucht das Bild der neuen Grünen auch in Deutschland ständig auf, wenn irgendwo über die Piratenpartei spekuliert wird. Dabei ging es Boyle gar nicht um einen neuen Politikstil oder um ein Aufbrechen verkrusteter Strukturen. All das lieferten und liefern Grüne wie Piraten. Boyle ging es um das Benennen und Besetzen eines neuen Politikfelds, das so bedeutsam und gleichzeitig unbeachtet ist, dass es einerseits namensprägend ist und andererseits aus einem monothematischen Ansatz eine gesellschaftliche Bewegung formt. So wie die Umweltbewegung die Themen Naturzerstörung und Nachhaltigkeit auf die Bühne des Politikbetriebs brachte, solle die Ökobewegung des Informationszeitalters die Fragen des digitalen Umweltschutzes auf abstrakter Ebene stellen, fordert Boyle. Nicht nur der See vor der eigenen Haustür müsse geschützt werden, sondern das gesamte Ökosystem, in dem auch er sich befindet. Dieses übergeordnete System, so erklärt Boyle in The Public Domain1 , ist das Urheberrecht. Dessen Reform ist für den Juristen, der an der Duke Law School in Durham lehrt, für das Digitalzeitalter genauso bedeutend wie der Schutz der natürlichen Ressourcen für die (frühen) Umweltschützer. Eine Urheberrechtsreform erscheint zunächst so utopisch wie das Eintreten für nachhaltiges, umweltverträgliches Leben z.B. im Amerika der 1950er Jahre. Doch 1 | Boyles Überlegungen sind unter dem Titel The Public Domain – Enclosing the Commons of the Mind auf der Website http://www.thepublicdomain.org dokumentier t.

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Boyle fordert genau dieses utopische Handeln, weil ein Nichthandeln oder Beharren auf überkommenden Modellen hier ebenso fatale Folgen für das digitale Ökosystem haben könnte wie die Umweltzerstörung für die Natur. Wenn man Boyles Ansatz vereinfachend zusammenfasst, lautet er: Was den Grünen der Umweltschutz, sollte den Piraten das Urheberrecht sein. Legt man diese Forderung an die deutschen »Freibeuter im Netz« an, ergibt sich daraus ein interessantes Bild der Parteigeschichte in Bezug auf das sogenannte Immaterialgüterrecht: Mit dem Wissen aus dem Frühjahr 2012 lassen sich fünf Abschnitte benennen, die jeweils andere Schwerpunkte in der Frage setzen, wie das Urheberrecht zu reformieren sei, um es dem Digitalzeitalter anzupassen. Ich wähle in der Beschreibung dessen bewusst den Begriff des Immaterialgüterrechts und nicht den des geistigen Eigentums, weil dieser – wie noch zu zeigen sein wird – selber schon Bestandteil eines bestimmten Diskurses zum Thema Urheberrecht ist.

1. I N S CHWEDEN : D ER G RÜNDUNGSMY THOS Als im September 2011 die Berliner Piraten bei der dortigen Abgeordnetenhauswahl für eine Überraschung sorgten, freute man sich nicht nur in Deutschland über diesen Erfolg. Auch Rickard Falkvinge schrieb einen begeisterten Gratulationseintrag an die Berliner Parteifreunde in sein Blog (Falkvinge 2011). Falkvinge hatte fast sechs Jahre zuvor am Neujahrstag 2006 in Stockholm die weltweit erste Piratenpartei ins Leben gerufen. »Zwei Tage später hatte ich bereits knapp 4800 Unterschriften von Leuten zusammen, die ähnlich denken wie ich«, erklärte der 34-jährige Schwede damals. Die Gründung der Partei verstehe er als Reaktion auf die Art und Weise, »wie die junge Generation mit dem Medium Internet umgeht. Eigentlich lädt jeder jeden Tag illegal Musik oder Filme aus dem Internet, ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Davon haben die heutigen Politiker keine Ahnung, es existiert ein großer kultureller Graben innerhalb der Gesellschaft« (vgl. Moorstedt 2006).

Gegen diesen Graben wollten Falkvinges Piraten angehen. Sie wollten die Lebensrealität derjenigen, die mit dem Internet aufgewachsen sind und dort selbstverständlich leben, in die Parlamente bringen: die der Downloader, Filesharer und eben der Piraten. Diese Umdeutung des Begriffs steht zentral für die sich schnell weltweit verbreitende Bewegung. Im Sommer versammelte Parteigründer Falkvinge 600 Gleichgesinnte zu einer Demonstration für die damals größte Tauschbörse The Pirate Bay in Stockholm. Der sogenannte BitTorrent Tracker war kurz zuvor abgeschaltet worden und Falkvinge und die anderen Piraten gingen dagegen auf die Straße. In seiner Rede setzte sich der

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Piraten-Chef sehr bewusst fürs Filesharing und den damit verbundenen freien Fluss von Daten ein und forderte eine Reform des Urheberrechts. »Es ist eine Situation, in der die gesamte Kultur und Information zwischen Millionen verschiedener Menschen fließt. Das ist etwas komplett Neues in der Geschichte der menschlichen Kommunikation.« Falkvinge, der eine schwarze Baseballmütze mit der Aufschrift »Pirat« trugt, erklärte, die junge Generation habe bereits gesehen, »was es heißt, ohne zentrale Kontrolle zu sein. Wir haben bereits die Freiheit geschmeckt, gefühlt und gerochen, ohne zentrales Monopol von Kultur und Wissen zu sein. Wir haben bereits gelernt, zu lesen und zu schreiben. Und wir werden auch nicht vergessen, wie man liest und wie man schreibt, nur weil es in den Augen der Medien von gestern nicht passt.«

Unter dem Applaus der anwesenden Demonstranten schloss er mit den Worten: »Ich heiße Rickard, ich bin ein Pirat« (vgl. von Gehlen 2007).

2. I M N E T Z : D IE FRÜHEN P IR ATEN IN D EUTSCHL AND Falkvinge zog nicht wie geplant im Herbst 2006 ins schwedische Parlament ein. Erfolgreich war seine Parteigründung trotzdem. Überall auf der Welt taten es ihm Piraten gleich und formten ebenfalls Parteien der Downloader und Filesharer. Auch in Deutschland deuten Aktivisten die Zuschreibung des Piraten für Menschen um, »die teilweise ungerechtfertigt in die Illegalität gedrängt wurden. Genau das kommt heute im ›virtuellen‹ Bereich verstärkt vor«, heißt es 2007 auf der Parteiwebsite mit Blick auf die Lobbykampagnen der Film- und Musikindustrie, die von Raubkopierern und Datenpiraten sprechen. »Darum nennen wir uns ebenfalls Piraten. Die Piraten der Piratenpartei wollen sich nicht persönlich bereichern, schon gar nicht auf Kosten anderer«, erklärt die damalige Selbstbeschreibung weiter. »Aber wo es um ›geistige Werte‹ geht, ist das Teilen gar nicht so schwer«, umschreiben sie ihre Forderung nach einer Neugestaltung des Urheberrechts. Die digitale Welt habe Grundlagen verändert, denen ein modernes Urheberrecht Rechnung tragen müsse: »Geteiltes Wissen ist doppeltes Wissen«, argumentieren die Piraten und distanzieren sich von der »Gleichsetzung ›geistiger Wert‹ = ›realer Wert‹, die uns über Sinnbilder wie das des Piraten eingeprägt werden soll« (vgl. von Gehlen 2007). In dieser Formulierung ist der Zweifel der Piraten an dem Begriff des geistigen Eigentums angelegt. Denn auch diese Bezeichnung lebt von der Gleichsetzung geistiger und realer Werte. Juristen wie der Münsteraner Rechtsprofessor Thomas Hoeren sprechen deshalb eher vom Immaterialgüterrecht, wenn sie

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Rechtsbestimmung für das geistige Eigentum meinen.2 Denn anders als bei materiellen Gütern können die immateriellen gleichzeitig an diesem und an einem anderen Ort sein. Die digitale Kopie erlaubt erstmals in der Geschichte das identische Duplikat, bei dem sich Vorlage und Vervielfältigung einzig durch einen anderen Zeitstempel der Datei unterscheiden. Die frühen Piraten sind die erste deutsche Partei, die dem nachhaltig im Programm und vor allem im Namen Rechnung trägt.

3. I N DEN M EDIEN : D IE BESSEREN , ABER UMWELTFERNEN G RÜNEN In der Mediendemokratie dieses Landes kommt dem 21. September 2011 vermutlich eine ähnliche Bedeutung zu wie dem Berliner Wahlsonntag drei Tage zuvor. Am 21. September 2011 bekam die deutsche Fernsehöffentlichkeit erstmals ein Bild davon, wie diese überraschend ins Berliner Landesparlament eingezogene Partei wohl aussieht: Christopher Lauer gab ihr in der Sendung Anne Will ein grimassenreiches Gesicht und ließ Bärbel Höhn – die Grünen-Vertreterin in der Runde – im schlechtesten Sinn des Wortes »etabliert« aussehen. Da der ebenfalls anwesende Peter Altmaier (CDU) die Sendung als digitalen Initiationsritus verstand (und sich fortan auf Twitter betätigt), umgibt die Talkshow im Rückblick eine besondere Aura: Die Piraten waren im TV-Parlament angekommen und bedienten dessen Mechanismen ziemlich gut (Christopher Lauer mit Eloquenz, im ZDF Gerwald Claus-Brunner mit farbigem Overall und Palästinensertuch). Erstaunlich an dieser Debatte: Will, Lanz und die anderen Talkgastgeber fragten brav vermeintlich lustige Seeräuber-Metaphern ab, auf das Thema Urheberrecht kam aber niemand zu sprechen. Aber nicht nur die Piraten selber vermieden ihr zentrales Thema in der Debatte, auch Beobachter sprachen es kaum an. Im Presseclub in der Woche nach der Wahl debattierten vier Journalisten eine Stunde lang über die neue Partei, das Wort Urheberrecht fiel nicht ein Mal.

2 | In der vierten Sitzung der Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« am 5. Juli 2010 in Berlin erklärte Hoeren den Anwesenden: »Bitte, bitte verzichten Sie auf den dummen Begriff des geistigen Eigentums. Der kommt aus der Diskussion etwa 1810 bis 1830 als die Preußen einen Kampfbegriff brauchten, um das Urheberrecht zu pushen und den dummen Politikern irgendwie klarmachen mussten: Wir brauchen das jetzt. Das haben die dann verstanden und haben gesagt: Ach, das ist so was wie Eigentum, also geistiges Eigentum« (zitiert nach der Aufzeichnung der »Arbeitssitzung als öffentliche Anhörung« in der Mediathek des Bundestags).

Freibeuter im Netz – eine Netzpolitik ohne geistiges Eigentum?

Das Erstaunen über die Wendung in Ausrichtung bzw. Wahrnehmung der Partei, die ja immerhin den Piratenmythos im Namen trägt, war Auslöser für einen Text, den ich im Herbst 2011 in der Süddeutschen Zeitung schrieb (von Gehlen 2011). Darin beschrieb ich die neuen Grünen als Umweltschützer, die nicht über die Umwelt reden wollen. Die rhetorische Frage, die diesen Text durchzog – warum heißen die eigentlich Piraten? – beantwortete der Berliner Pirat Christopher Lauer in seinem sehr spontanen Tweet wenig später mit den Worten: »Wir sind in Berlin nicht wegen des Urheberrechts gewählt worden.«

4. A UF DER S TR ASSE : D ER B L ACKOUT -S UPERGAU Wenn die Piraten die neuen Grünen sind und wenn das Urheberrecht der Umweltschutz der neuen Partei ist, dann kann man ohne Übertreibung sagen: Im Januar und Februar 2012 erlebte die Bewegung ein urheberrechtliches Tschernobyl. Der Supergau (und die damit verbundene Politisierung breiter Gesellschaftsschichten) trägt für die digitale Umweltschutzbewegung die Abkürzungen SOPA und ACTA und erwischte die deutschen Piraten eher überraschend. Als am 18. Januar im Rahmen des sogenannten Blackout-SOPA-Days Google und Wikipedia ihre Angebote schwärzten bzw. mit Protestnoten versahen, verschliefen die deutschen Piraten ihre Teilnahme an der weltweiten digitalen Demo um ein paar Stunden (Beitzer 2012). Aus dem Protest entwickelte sich eine Debatte, die ihren vorläufigen Höhepunkt am 11. Februar 2012 fand, als das Thema Urheberrecht zur wichtigsten Meldung in Deutschlands größter Nachrichtensendung aufstieg: Die 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau vom 11. Februar 2012 wurde mit der Meldung von den Protesten gegen das ACTA-Abkommen eröffnet. Mehrere zehntausend Menschen waren bei Minusgraden auf die Straße gegangen, um ihrem Unmut gegen das Zustandekommen und die Ausrichtung des Anti-Piraterie-Abkommens Luft zu machen. »Die klassische Demonstration mit Transparenten auf der Straße ist meist mehr ein befreiender Fußmarsch als dass sie wirklich was verändert«, hatte der damalige Bundesgeschäftsführer der Piraten im Jahr 2007 in einem Interview erklärt. Jan Huwald wollte damals die neuen Politikformen der Piraten in den Vordergrund stellen, für die klassische Demos keine zentrale Rolle spielen müssen (von Gehlen 2006). Fünf Jahre später zeigte sich aber, dass ein solcher Fußmarsch durchaus Wirkung zeigen kann: Die mehreren zehntausend Menschen, die Anfang Februar 2012 deutschlandweit auf die Straße gingen, taten dies für ein modernes Urheberrecht. Und sie brachten den Piraten damit ihr Kernthema zurück – und zwar verbunden mit großem öffentlichen Interesse. Die Tagesschau berichtete in der ersten Meldung, die FAZ rief eine Generation Twitter aus (vgl. Amann/Ankebrand 2012), gegen die keine Politik mehr zu machen sei, und die etablierten politischen Akteure (Mandatsträger, Parla-

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mentarier und Korrespondenten) zeigten sich überrascht über die so zahlreich demonstrierenden Menschen. Einer von ihnen sprach in das Tagesschau-Mikrofon: »Acta bedroht meinen natürlichen Lebensraum. Für mich ist das hier wie Umweltschutz.«3

5. I N DER D EBAT TE : D IE D ISKURSBEREITER So irrig die Annahme ist, das Ziel der Piraten sei die Abschaffung des Urheberrechts, so irrig ist die Annahme, die Piraten (oder jemand anderer) habe bereits eine Lösung für die Herausforderungen, vor die die digitale Kopie Geschäftsmodelle, Kulturproduktion und eben das Urheberrecht stellt. Was dringend nötig ist, um diese Herausforderung annehmen und gestalten zu können, ist eine Debatte über die Kosten, die die Gesellschaft bereit ist aufzubringen: Kosten für die Rechtsdurchsetzung, Kosten, die durch den Akzeptanzverlust des Urheberrechts entstehen. Diese Debatte muss von den Piraten geführt werden. Sie müssen sie – so wie Falkvinge es 2006 wollte – in die Parlamente tragen. Sie müssen den Weg bereiten für eine Auseinandersetzung um ein modernes, taugliches Urheberrecht, das von den Netzbürgern auch akzeptiert wird. Die öffentliche Meinung scheint sich nach dem Blackout-Sopa-Day und den Anti-ACTA-Demos entsprechend verändert zu haben. Aus dem Erstaunen über die vielen demonstrierenden Menschen könnte eine konstruktive Debatte erwachsen – wenn den Piraten gelingt, was Falkvinge damals vorschwebte. Der Schweizer Medientheoretiker Felix Stalder sieht sie da in einer zentralen Rolle: »Es ist jedenfalls schon erstaunlich«, sagte er Anfang März 2012 in einem Interview, »dass sich bisher einzig die Piratenpartei ernsthaft mit Themen wie freie Kommunikation, Schutz der Privatsphäre, offene Daten und Kritik am bestehenden Urheberrecht auseinandergesetzt hat. Die linken Parteien verschlafen hier eine einmalige Chance, indem sie dem Irrglauben erliegen, dass es beim Acta-Protest nur um netzspezifische Themen und Partikularinteressen gehe« (vgl. Jirát 2012).

3 | Zitiert nach der Tagesschau-Sendung vom 11.02.2012 (ab ca. 1:15 Min.). Die Sendung ist in der ARD-Mediathek archiviert unter http://www.ardmediathek.de/ard/ servlet/content/3517136?documentId=9502610.

Freibeuter im Netz – eine Netzpolitik ohne geistiges Eigentum?

6. A USBLICK Ob es den Piraten tatsächlich gelingen kann, den Diskurs in urheberrechtlichen Fragen zu bestimmen, hängt nicht unwesentlich von den Landtagswahlen ab, die im Frühjahr 2012 eher plötzlich auf die junge Partei zukamen. Aus dem Status einer Landtagsfraktion heraus entstünden in Kiel, Saarbrücken, Düsseldorf und Berlin völlig neue Möglichkeiten für die Piraten – und für den Urheberrechtsdiskurs. Mit einem Scheitern bei den Wahlen in Schleswig-Holstein, dem Saarland und in Nordrhein-Westfalen würde mindestens die mediale Aufmerksamkeit abebben, die der Partei derzeit entgegengebracht wird. Ob das auch ein Abebben der Urheberrechtsdebatte nach sich ziehen würde, ist eher unwahrscheinlich. Denn außerparlamentarisch hat sich online – auch durch die Piraten – eine Opposition gebildet, die Sascha Lobo als »Notwehr-Lobby« (Lobo 2012) bezeichnet. Ihr geht es auch um eine Reform des Urheberrechts, Lobos Beitrag gründete sich auf den Protest gegen das umstrittene Leistungsschutzrecht. Diese Notwehr-Lobby wird das Thema Urheberrechtsreform vorantreiben – mit und auch ohne Piraten. Denn wie Felix Stalder es weiter oben beschrieben hat: Das Vorbild der Piraten wird auf die anderen Parteien abfärben. Netzpolitik wird für sie zu einem wichtigen Themenbereich, auch das Urheberrecht. Zudem hat sich durch Vereine wie Digitale Gesellschaft oder D64 eine digitale Bürgerrechtsbewegung gebildet, die im Stillen an den Themen arbeiten wird. An den Piraten wird es liegen, Lautstärke und Aufmerksamkeit für die Debatte zu erzeugen. Die vormals stillen Eckensteher sind zu bedeutsamen Öffentlichkeitsakteuren geworden. Die kommenden Monate werden zeigen, ob sie es auch bleiben.

L ITER ATUR Amann, Melanie/Ankebrand, Hendrik (2012): Aufstand der Generation Internet. In: FAZ vom 11.02.2012, online unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ acta-gegner-demonstrieren-aufstand-der-generation-internet-11646144.html. Beitzer, Hannah (2012): Piraten verpennen den Protest. In: sueddeutsche.de vom 18.01.2012, online unter: http://www.sueddeutsche.de/digital/sopa-und-pipapiraten-verschlafen-den-protest-tollewurst-1.1260880. Falkvinge, Rickard (2011): Pirate Party of Berlin wins. Blogeintrag vom 18.09.2011, online unter: http://falkvinge.net/2011/09/18/pirate-party-of-berlin-wins-entersparliament. Jirát, Jan (2012): Linke Parteien verschlafen eine Chance. Interview mit Felix Stalder. In: Wochenzeitung vom 01.03.2012, online unter: http://www.woz. ch/129/freiheit-im-netz/linke-parteien-verschlafen-eine-chance.

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Dirk von Gehlen

Lobo, Sascha (2012): Die Netzgemeinde, eine Notwehr-Lobby. In: Spiegel Online vom 06.03.2012, online unter: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/ 0,1518,819559,00.html. Moorstedt, Michael (2006): Die Piraten organisieren sich. Interview mit Rickard Falkvinge. In: jetzt.de vom 11.01.2006, online unter http://jetzt.sued deutsche.de/texte/anzeigen/251718. von Gehlen, Dirk (2006): Server hört die Signale. Interview mit Jan Huwald. In: jetzt.de vom 03.09.2006, online unter: http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/334824. von Gehlen, Dirk (2007): Die Piratenpartei. In: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda. Frankfurt. von Gehlen, Dirk (2011): Raubkopierer in die Parlamente. In: Süddeutsche Zeitung vom 08.11.2011, online unter: http://www.sueddeutsche.de/digital/pira tenpartei-vergisst-ihr-gruendungsprinzipien-raubkopierer-in-die-parlamen te-1.1183236.

Piratinnen — Fehlanzeige Gender? Jasmin Siri und Paula-Irene Villa

E INLEITUNG Über die Rolle von Frauen in der Partei der Piraten ist seit ihrem Erscheinen auf der politischen Bühne Deutschlands auffällig viel geschrieben worden. Dies hat sich seit dem spektakulären – weil unerwarteten und überraschend hohen – Sieg bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin im Sommer 2011 deutlich intensiviert. Auf allen medialen Kanälen vollzog sich die Suche nach den Piratinnen – und diese Suche war, wie wir noch zeigen werden, aus verschiedenen Gründen nicht durchgängig wohlwollend. Zahlreiche Beobachter_innen aus Medien und etablierter Politik haben fehlendes Bewusstsein der Piratenpartei für Geschlechterdifferenzen kritisiert oder ihr Sexismus bzw. Machismus vorgeworfen. Besonders entzündet hat sich die Kritik an der Nichterhebung des Geschlechts der Mitglieder beim Eintritt sowie am geringen Frauenanteil. Die Zeitschrift EMMA verwendete bei der Verleihung des »Pascha des Monats« im November 2009 an die Piratenpartei gar den Begriff des »Männerbunds« und meinte damit u.a. die nicht existente Frauenquote und die »falsche« Verwendung des Begriffs »postgender«.1 Viele politische Kommentator_innen unterstellten der Piratenpartei, dass Geschlecht in den Parteidebatten keine Rolle spiele. Diese Annahme lässt sich, trotz einer gewissen, nachweislich vorhandenen Naivität aufseiten der Piraten, bei einem genaueren Blick in das Programm und vor allem in die Netzpraxen in und um die Partei nicht halten. Diesen genaueren Blick werden wir im vorliegenden Beitrag anstellen.2 Dabei stellen wir, ausgehend von der Schnittmenge zwischen politischer, Ge1 | EMMA vom November/Dezember 2009, online unter: http://www.emma.de/ hefte/ ausgaben-2009/novemberdezember-2009/pascha-2009-6/ [17.03.2012]. 2 | Wenngleich einen, der den Standards einer repräsentativen empirischen Untersuchung nicht entspricht. Vielmehr nehmen wir eine tentative, empirisch unterfütterte Analyse von ausge wähltem Material vor: 45 Zeitungsartikel aus dem Zeitraum von April 2009 bis Februar 2011, YouTube-Videos, Radiobeiträge, frei zugängliche Dokumente aus dem Piratenwiki und deren Kommentierungen sowie »private« (also außer-

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schlechter- und Mediensoziologie, zwei miteinander verwobene Fragen. Erstens: Wie hält es die Partei der Piraten mit Geschlechterfragen? Hier deutet sich bereits an, was wir zunächst knapp skizzieren werden und was eine erste Soziologisierung der angesprochenen Suche beinhaltet, nämlich dass Frauen und Geschlecht im Feld des Politischen mitnichten dasselbe sind. Wie sich das eine – Frauen im Sinne einer Genusgruppe – zum anderen – Geschlecht als soziale Differenz inklusive der sich daran entzündenden Fragen nach Gleichheit, Gerechtigkeit, Inklusion oder gar Feminismus – verhält, das kann zwar hier nicht erschöpfend thematisiert werden, doch ist mindestens eine Schärfung der kategorialen Brille notwendig, mit der man sucht. Zweitens fragen wir danach, wie sich der mediale Diskurs strukturiert, der um die Frauen bei den Piraten kreist. Es ist auffällig, wie einhellig bislang die politische Öffentlichkeit inklusive anderer Parteien der Meinung sind: Piratinnen? Fehlanzeige. Diese skeptische Diagnose hat gute Gründe, denn tatsächlich ist die Nichtthematisierung bzw. Verniedlichung von Geschlechterfragen (Stichwort »Gedöns« bei Exkanzler Gerhard Schröder 1998), wie bei der Piratenpartei immer wieder der Fall, empirisch allzu häufig das Feigenblatt zur Verdeckung von vergeschlechtlichten Ungleichheiten und ein geeigneter Griff beim Festhalten am Status quo. Und in der Tat lassen sich im Web 2.0 Einlassungen von (vor allem männlichen) Piraten finden, die die Geschlechterfrage in ihrer Partei für geklärt und/oder belanglos erklären und dabei den Begriff »postgender« in höchst problematischer Weise nutzen. Zum Teil aber vermuten wir hinter der Kritik medialer Beobachter_innen auch Abwehrreflexe, die entlang komplexer Muster von Generationen und Praxisformen des Politischen in Gang gesetzt werden. Zunächst werden wir knapp skizzieren, was sich unter dem Begriff »postgender« begrifflich verstehen lassen könnte, da dieser zum Kristallisationspunkt der Debatte geworden ist. Hier wird es darum gehen, was der allgemeine Rahmen ist, in dem sich die Geschlechterfrage bei den Parteien bewegt. Im zweiten Abschnitt werden wir an Ausschnitten aus Zeitungsartikeln und Kommentaren im Web 2.0 wiederkehrende Muster der Kritik an der Piratenpartei herausarbeiten. Um das Verhältnis der Piratenpartei zu Genderfragen zu erörtern, werden wir dann einen Blick auf das Parteiprogramm und in das Piratenwiki werfen (Abschnitt 3). Anschließend betrachten wir die Selbstbeschreibung und die mediale Darstellung von Piratinnen und Piraten nochmals genauer. Auffällig ist, wie sehr mediale Darstellungen – und bei weitem nicht nur jene der Boulevardmedien – Politiker_innen der Partei geschlechtsstereotyp darstellen. Dies werden wir mittels Medieninhalten und deren Kommentierung halb der Seiten der Piratenpartei verfasste) Blogeinträge von Pirat_innen und deren Beobachter_ in nen aus dem Jahr 2011. Die Material quelle wird jeweils in einer Fußnote angegeben. Soweit möglich, erfolgt ein Verweis auf eine im Internet abruf bare Quelle, um die Interpretation nachvollziehbarer zu gestalten.

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in Blogs nachvollziehen. Hier stellen wir fest, dass die Kritik an der fehlenden Genderkompetenz der Partei einhergeht mit einer, von Bild-Zeitung bis taz bisweilen (gender-)inkompetenten, Berichterstattung über die (tatsächlich) wenigen sichtbaren Frauen der Partei, aber auch über männliche Parteimitglieder (Abschnitt 4). Abschließend werden wir die Frage aufwerfen, ob sich die bisherige Kritik vielleicht nicht vorrangig an der konkreten Position der Partei zu Genderthemen, sondern an einem Unbehagen an der Praxisform Web 2.0 entzündet (Abschnitt 5). Es scheint, als ob der politische Kommentar zu den Piraten stark davon geprägt ist, das Netz als Form und Rahmen des Politischen nicht ernst nehmen zu können – oder zu wollen? Interessanterweise wird dabei die Geschlechterfrage zu einem Kristallisationspunkt eines allgemeineren schwelenden Unbehagens. Doch zugleich muss auch ernst genommen werden, dass sich aus dem Web 2.0 heraus kritische Stimmen artikulieren. Netzaktivist_innen, feministische Medienmacher_innen, kurz: auch Nerdinnen formulieren kritische Forderungen an die Piraten. Im Folgenden geht es uns um eine unaufgeregte Rekonstruktion der Genderdebatte in der und über die Piratenpartei. Es scheint uns, dass hierzu zunächst eine Rekapitulation von Begriffen der Geschlechterforschung bzw. Gendertheorie, die im Diskurs und durch die Pirat_innen und Kommentator_innen auf unterschiedlichen argumentativen Ebenen und unterschiedlich kompetent genutzt werden, hilfreich sein könnte, um der Diskussion einen »Common Ground« zuzuweisen.

1. Z WISCHEN B IO -F R AUEN UND P OSTGENDER : W ORUM KÖNNTE ES GEHEN ? Aus historisch sehr guten Gründen gilt gemeinhin Geschlechtergerechtigkeit als ein wichtiges politisches Gestaltungsziel. Diese setzt daran an, dass, insofern Menschen nach Frauen und Männern unterschieden werden, Männer und Frauen gleichermaßen in allen Sphären des Gesellschaftlichen agieren sollen. Gleichermaßen, wohlgemerkt. Tatsächlich ist seit der Herausbildung der bürgerlichen Moderne und ihren individuellen Autonomie-, sowie gesellschaftlichen Gleichheits- und Freiheitsversprechen kaum etwas derart skandalös wie die eklatante Ungleichheit von Frauen im Vergleich zu Männern in so vielerlei Hinsicht. Diese Ungleichheit ist noch immer derart systematisch und massiv, dass von evolutionären Zufällen oder bald überwundenen Anachronismen seriös nicht die Rede sein kann.3 Das Skandalon bleibt, auch gut 200 Jahre nach der französischen Revolution und den zunächst gescheiterten Bemühungen 3 | Bei Zweifeln vergleiche für viele aktuell den ersten Gleichstellungsbericht der Sachverstän digen kommis sion der Bundesregierung vom 16.06.2011 und den GenderDatenreport für das BMFSFJ 2005.

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einer Olympe de Gouges, Menschenrechte auch für Frauen zu fordern: Wenn doch alle Menschen gleich und frei sind und wenn es doch ausschließlich meritokratisch zugeht, wieso wurden Frauen zunächst formal-rechtlich, später in subtiler Weise allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit von allen für die europäischen Demokratien wesentlichen Sphären ausgeschlossen bzw. in diesen marginalisiert? Wie kann es sein, dass hier und heute nur zwei Prozent der Chefredakteur_innen Frauen sind?4 Wie kommt es, dass im deutschen Durchschnitt nur ca. vierzehn Prozent der bestdotierten Universitätsprofessuren von Frauen besetzt werden, wenn sie doch weit mehr als die Hälfte der Studierenden mit tendenziell besseren Abschlüssen ausmachen?5 Nimmt man diese und eine schier endlose Liste weiterer Belege für die Schlechterstellung von Frauen insbesondere im Erwerbs- und öffentlichen Leben ernst und forscht – wie es die Geschlechterforschung tut – nach den Ursachen der Schlechterstellung, kommt man schnell zur Einsicht: Die Asymmetrie ist wesentlich begründet in der Vergeschlechtlichung von Frauen. Bündig formuliert: Männer gelten als das Allgemeine, das eigentliche Menschliche; Frauen als das Besondere, das Andere, das Geschlechtliche (de Beauvoir 2000). Das heißt, Männer gelten im Rahmen von Organisationen, Professionen, Tätigkeiten, Karrieren, Berufen, Ausbildungen als mehr oder weniger gut, mehr oder weniger geeignet, mehr oder weniger gewillt – Frauen gelten in erster Linie als Frauen. Und erst dann als mehr oder weniger gut, mehr oder weniger geeignet etc. Die deutschen Parteien, die über Jahrzehnte wesentlich von Männern bestimmt wurden, lösten das schlichte Gleichheitsgebot weder in ihrer Gründungsphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in der Wieder- oder Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg ein.6 Oder anders formuliert: Offenbar wurden nur Männer, von wenigen (und damit eben:) Ausnahmen abgesehen, als zur Politik fähig erachtet. Das ist in einer Demokratie, die sich vor allem darauf begründet, dass sie »das Volk« als Souverän setzt, mindestens problematisch. Aus dieser Einsicht heraus und als Echo auf die nachdrücklichen Forderungen der zweiten Frauenbewegung haben inzwischen die meisten Parteien eine Frau-

4 | Vgl. die aktuelle Forderung vieler Journalistinnen nach einer entsprechenden Quote, online unter: http://www.pro-quote.de [18.03.2012]. 5 | Vgl. Center of Excellence Women and Science (CEWS), online unter: http://www. gesis.org/cews/ informations angebote/statistiken/ [18.03.2012]. 6 | Dies gilt für West- und Ostdeutschland auf der Ebene der Zusammensetzung der Mitgliedschaft gleicher ma ßen, wenn auch das Leitbild der SED bzw. der DDR – im Gegensatz zu Westdeutschland – eine aktive Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsleben betrieb. Zur SED vgl. Malycha/Winters 2009: 414. Für eine knappe Darstellung des Forschungsstands zur (auch partei-)politischen Partizipation von Frauen in der deutschen Politik vgl. Fuchs 2010.

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en- oder Geschlechterquote eingeführt.7 Dieses Instrument ist dezidiert nicht dazu gedacht, Frauen jenseits ihrer Leistungen und Potentiale zu fördern. Vielmehr liegt die Pointe der Quote darin, dass sie dazu nötigt, auf die Potentiale und Leistungen von Frauen verstärkt zu achten. Sie soll also verhindern, dass die Geschlechtszugehörigkeit den Blick trübt oder gar blind macht für die Fähigkeiten einer Person. Eine Blindheit, die empirisch nachweislich besteht – und zwar umso stärker besteht, je weniger hierauf hingewiesen wird. Denn die Mechanismen der Diskriminierung, Abwertung und Ausgrenzung von Frauen, etwa in politischen Organisationen, funktionieren inzwischen und aus guten Gründen nicht mehr wie im 19. Jahrhundert vor allem über die explizite Reduktion von Frauen auf ihr Geschlecht und ihren vermeintlichen »Geschlechtscharakter« (Hausen 1976). Solche biologistischen Argumente sind nunmehr kaum öffentlich formulierbar. Doch subkutan, implizit und in überaus subtiler Weise wirken Vorstellungen von der Eigentlichkeit des Weiblichen fort. Dies führt insbesondere in Deutschland etwa zur Vereigentlichung von Frauen als Mütter, als fürsorgliche, dem Privaten zugewandte Wesen, die für die öffentlichste aller Sphären, die Politik, letztlich nicht geeignet seien (u.a. Thiessen/Villa 2008; Vinken 2007). Im politischen Feld hört sich das z.B. so an: »Frauen sind harmonieorientiert und emotionaler und daher nicht für das harte politische Geschäft geeignet. Wenn, wirken sie lieber im Hintergrund.« Solche Vorstellungen sind zum einen wirkmächtige Stereotype, d.h. implizite lebensweltliche Deutungsmuster, die sich jenseits formaler Sätze zu konkreten Entscheidungen materialisieren. Viele empirische Untersuchungen zeigen, dass Frauen in Führungspositionen entweder unterstellt wird, ihre Weiblichkeit zu verlieren oder sich nicht ausreichend durchsetzen zu können. »Männer gelten als stark, aggressiv, rational, aktiv, selbstbewusst und durchsetzungsfähig, Frauen als emotional, warmherzig, mitfühlend, sanft und vorsichtig«, schreibt Holtz-Bacha in ihrer Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Politikerinnen (Holtz-Bacha 2009: 3). Dies führt dazu, dass Frauen seltener für Führungspositionen in Betracht gezogen werden (Holtz-Bacha 2008: 11ff.). Dies wird darüber hinaus gestützt durch vielfache institutionelle Rahmen, die ihrerseits traditionelle und nicht selten biologisch fundierte Normen des Geschlechts enthalten. Handeln Frauen »wie Männer«, werden sie als unweibliche, unnatürliche Konkurrentinnen in männlichen Territorien wahrgenommen; handeln sie aber »wie Frau7 | Die Grünen 1979 bereits bei ihrer Gründung; die SPD 1988; die CDU führte 1996 keine Quote, wohl aber ein »Frauenquorum« ein; die PDS/die Linke formulierte eine Selbstverpflichtung in ihrem Grundsatz pro gramm von 2007; die CSU beschloss 2010 eine Frauenquorum für die oberen Führungs gremien. Die FDP lehnt jegliche Form der Quotierung ab, wiewohl es Anstrengungen von Frauen in der FDP gab, eine Quote durchzusetzen. Wie sich die Quoten- und Quorenregelungen im Einzelnen gestalten, variiert von Partei zu Partei. Vgl. Kürschner 2009: 20.

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en«, scheinen sie zum Machtgebrauch ungeeignet (vgl. Bourdieu 2005: 120). In der Konsequenz haben es in Deutschland gerade Mütter in der Politik besonders schwer, da diesen als »weiblicher Politiker« männliche Qualitäten und als Frau, die geboren hat, »mütterliche« Qualitäten abgefordert bzw. unterstellt werden. Mütter in der Politik machen es – so viele Politikerinnen im Interview – eigentlich immer falsch, weil sie sich stets im Spagat zwischen zwei scheinbar unvereinbaren Rollen befinden (Kürschner/Siri 2010). Darüber hinaus wird in einschlägigen Studien betont, wie im empirischen Sinne »männlich« Karrierewege und Praxen in den etablierten Parteien sind. Nicht aufgrund ihrer »weiblichen Natur«, sondern aufgrund gesellschaftlich vermittelter Sozialisationsprozesse haben es Frauen daher schwerer, in den Parteien Fuß zu fassen und sich in diesen erfolgreich zu engagieren. Die geschlechtsspezifische, durch verschiedene sozialpolitische Regime verfestigte Arbeitsteilung verweist Frauen nach wie vor auf die Reproduktionsarbeit, das »Male bread winner«-Modell als Form der Normalbiografie ist in der BRD weiterhin, trotz seiner ökonomisch und kulturell bedingten Erosion, hegemonial (vgl. EWE 2/2010; Hoecker 2008; Meyer 1997). Und selbst wenn Frauen innerhalb einer Partei gut zurechtkommen: Die mediale Darstellung von Frauen folgt häufig Stereotypen und vergleichende Untersuchungen zeigen, dass über Frauen – wenn sie nicht gerade zur Bundeskanzlerin gewählt worden sind – weit seltener berichtet wird als über Männer in vergleichbaren politischen Positionen (vgl. Holtz-Bacha 2009; Pannti 2007; Kinnebrock/Knieper 2008). Blind für das Geschlecht einer politischen Person – so viel sollten die wenigen Hinweise gezeigt haben – ist das politische System der Bundesrepublik noch lange nicht, auch wenn inzwischen viele Frauen es maßgeblich mitgestalten. »Postgender« ist bekanntermaßen eine Selbstbeschreibung, die die Partei der Piraten nutzt. Wie dies im Einzelnen geschieht, hierauf werden die nachfolgenden Abschnitte eingehen. Geschlechterwissenschaftlich ist der Begriff nicht üblich, jedoch verständlich. Postgender könnte im Anschluss an die Einsicht in die soziale Konstruiertheit der Geschlechterdifferenz eine Haltung andeuten, die sich darum bemüht, jenseits des (sozialen) Geschlechts zu agieren. Tatsächlich gibt es in aktivistischen, politischen Konstellationen feministischer und/oder queerer Couleur die – im Prinzip aufklärerische – Vision einer politischen Praxis, die eben nicht mehr nach Geschlecht (und schon gar nicht nach zwei Geschlechtern) vorsortiert, sondern vom Geschlecht dort absieht, wo es um rationalisierbare Tätigkeiten, Funktionen, Positionen usw. geht. Über im engeren Sinne aktivistische bzw. genuin politische Konstellationen hinaus sind Rechtswissenschaft und Rechtspraxis ein Motor solcher Postgender-Perspektiven, etwa durch Antidiskriminierungsgesetze. Die Chiffre »postgender« kann demnach durchaus als Absichtserklärung verstanden werden, Geschlecht als Nadelöhr der Politik zu überwinden. Darauf basierend und darüber hinaus könnte »postgender« als politische Haltung zudem aufsatteln auf die vielfälti-

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gen Einsichten in die herrschaftsförmige und alles andere als individuell frei verfügbare Konstruktion von Gender, wie sie Legionen von Geschlechterforscher_innen von de Beauvoir bis Butler analysiert haben (vgl. Villa 2009). Der politische Impetus hiervon wäre der Versuch, Gender flexibler, reflexiver und herrschaftskritisch zu (de)konstruieren. Dies impliziert jedoch zwingend die Anerkennung der gesellschaftlichen Hegemonie einer sich diskursiv naturalisierenden (heteronormativen) Zweigeschlechtlichkeit und ihrer weitreichenden Folgen: Gender. Eine so gedachte Postgender-Perspektive könnte die vergeschlechtlichte Wirklichkeit herausfordern und damit einer (partei-)politischen Gestaltung zuführen. Allerdings – und so lesen, wie wir sehen werden, viele Kritiken die Begriffsnutzung der Piraten – könnte die Chiffre »postgender« auch verstanden werden als eine Art Feminismus-Abwehr, wie sie jüngst Angela McRobbie analysiert hat: Sich vom Feminismus loszusagen, ihn abzuwehren und zugleich gewisse Genderkompetenzen zu inszenieren, dies sei eine der wichtigsten Vorbedingungen für die öffentliche Sichtbarkeit und Anerkennbarkeit junger Frauen in der (neoliberalen) Gegenwart (McRobbie 2010). So kann die Selbstbezeichnung als »postgender« durchaus wie ein Beruhigungsmittel gegenüber allzu kritischen, gar feministischen Ansinnen fungieren: »Ich würde es als eine politische Strategie sehen, sich vom Feminismus abzusetzen und zu sagen: Wir kümmern uns um neue Widersprüche und nicht um alte Hüte«, kommentierte die Politologin B. Sauer die Postgender-Chiffre der Piraten im März 2012. Wie dies auf der politischen Bühne funktioniert (oder auch nur bedingt funktioniert), zeigen die Auslassungen von Ministerin K. Schröder im November 2011 sowie die anschließende Debatte. Die Gretchenfrage ist also jene, ob sich hinter der Selbstbezeichnung »postgender« eine politische, argumentativ und empirisch fundierte Gestaltungsabsicht oder eine naive, wirklichkeitsferne und ideologisch verdächtige Illusion verbirgt. Umso wichtiger ist der genaue Blick auf die konkreten Dokumente und Debatten. Um diesen geht es nachfolgend.

2. D IE K RITIK AN DEN P IR ATEN Die Kritik an den Piraten entzündet sich in den meisten Artikeln am Frauenanteil der Partei. Wie viele weibliche Piratinnen es gibt, das ist allerdings nicht klar, da die Partei das biologische Geschlecht beim Eintritt nicht erhebt. Auch in Blogs kommt es nicht selten vor, dass Piraten nicht den Klarnamen, sondern ein geschlechtsneutrales oder gegengeschlechtliches Pseudonym nutzen.8 8 | Was allerdings bekanntermaßen kein Spezifikum der Pirat_innen ist. Vielmehr gehört es zum Wesen der Netzkommunikation, mit Nicknames zu agieren und dabei auch mit dem Geschlecht in unterschiedlichster Weise umzugehen. Der Umgang mit Klarna-

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Ende 2009 verlieh die EMMA der Piratenpartei früh nach deren Auftreten auf der politischen Bühne den Negativpreis »Pascha des Monats« und formulierte diesbezüglich: »Voll die Welle machte bei den Bundestagswahlen 2009 erstmals die Piratenpartei (PP). Das sind die hippen Menschen, die das Internet für einen rechtsfreien Raum halten und sich vom ollen Rechtsstaat da auch nicht reinreden lassen wollen. Die PP holte zwei Prozent aller Stimmen, bei den männlichen Erstwählern gar 13 Prozent! Hallo? Damit haben die jungen Säcke den alten zwar nicht wirklich auf den Schwanz getreten, aber doch in die Eier gepiekt. […] Die Piraten sind, versteht sich, zu 100, pardon 97 Prozent Männer. Dazu befragt antwor tete ein PP-Wähler im Internet: ›Das Gute an den Piraten ist, dass sie sich öffentlichem Druck verweigern, wenn es ihren Grundsätzen widerspricht.‹ Alles klar. Gab es solche Männer bünde nicht schon mal?« (Vgl. Fußnote 1).

Der »Männerüberschuss« der Piraten wird mit männerbündischen Strukturen, die es schon einmal gegeben habe, assoziiert. Der Absatz beginnt außerdem mit der sarkastischen Kritik an »hippen Menschen«, die einen »rechtsfreien Raum« im Internet schaffen wollten und den »ollen Rechtsstaat« nicht ernst nähmen. Ein Artikel bei Spiegel Online unter dem Titel »Jung, dynamisch, frauenfeindlich« (vgl. SPON vom 21. September 2011) formuliert: »Der Männerüberschuss geht schon in Ordnung, finden die Chef-Nerds. Die neue Avantgarde – Ein Machoverein?«

Hier verbindet sich die Frage nach Sexismus in einer politischen Organisation mit dem Bild der Chef-Nerds. Dies ist ein wiederkehrendes Motiv der Kritik. Und in der EMMA formuliert beispielsweise Gabriele Kämper:9 »Eine gewisse Poesie ist dem ja nicht abzusprechen. Junge Männer auf aben teuer lichen Bötchen mit bunten Segeln manövrieren im Abendlicht. Zwischen Oberbaum brücke und Regierungsviertel suchen sie ihre Schatzinsel – im Wunderland von Daten-Transparenz, globaler Vernetzung und Postgender. Wie bei jeder anständigen Bande – von den Boygroups bis zu den Bünden in der Finanz- und Politwelt – machen (fast) nur Männer mit.«

men bzw. Nicknames in der netzbasierten (politischen) Kommunikation ist ein weites und wichtiges Thema für sich, auch und gerade aus geschlechter wissen schaftlicher Perspektive (vgl. Pritsch 2011). 9 | EMMA Winter 2012, online unter: http://www.emma.de/hefte/ausgaben-2012/ winter-2012/piraten-frauen-im-boot-bringen-unglueck/ [18.03.2012]. Alle Hervorhebungen durch die Autorinnen.

Piratinnen – Fehlanzeige Gender?

Die Autorin beschreibt die Politik der Piraten als ein etwas kindisches »Jungsspiel«, eine Suche nach einer Schatzinsel im Postgender-Land. Kemper zitiert einen »Piratenfan im Internet«: »Ich glaube, dass die Piraten nur eine Chance haben, wenn sie unter sich bleiben, Jungs wählen Jungs. Frauen auf dem Boot bringen Unglück, das weiß mann doch …!«

Dann folgt eine Thematisierung der geschlechtlichen Darstellung der männlichen Piraten: »Aber stimmt das auch für die neuen Piraten? Die trinken Club-Mate statt Rum, tragen Notebooks statt Säbel und nie würden sie grölen ›Wir sind die Herren der Welt, die Könige auf dem Meer‹. Sie fühlen sich als die Herren der virtuellen Welt, und dort verbrüdert man sich zart zwitschernd per Twitter-Tweets.«

Der Artikel behandelt die Piraten als eine männlich-kindliche und surreale Veranstaltung. Die Piraten stellten, so die Autorin, »im Crashkurs fest, dass es in dieser Welt jenseits der sieben Worldwidemeere keine Könige gibt, sondern politische Gepflogenheiten und Kulturen, kritische Fragen und Diskussionen. Und sogar, potzblitz, reale Frauen und deren Forderungen nach politischer Teilhabe und gesell schaftlicher Gerechtigkeit. Da reibt sich der Pirat die Augen, wenn er von seinem Dis play aufschaut.«

Wie in vielen Kritiken an der Piratenpartei wird hier polemisch über die Technikaffinität stets als männlich gesetzter Nerds geschrieben. Damit greift Kämper ein stark verbreitetes Klischee des sexuell unattraktiven, ungepflegten und sich in virtuellen Spielwelten herumtreibenden (und angesichts des Mangels an realen Kontakten zu Frauen sicher auch Pornografie konsumierenden) Freaks auf. Und auch ein Artikel der SZ-Journalistin Alexandra Borchardt, die für mehr Weiblichkeit im Web 2.0 plädiert (ebenfalls in der EMMA), greift das Stereotyp des Nerds mehrfach auf: »Gehört die Zukunft den Nerds, also den technikverliebten Eigenbrödlern? Verschlafen Frauen gar die digitale Revolution?«, fragt Borchardt und beantwortet die mangelnde Nachfrage von Mädchen an MINTFächern u.a. mit der geringen Attraktivität von Männern, »die im Computer wohnen«: »Während aber in der Mathematik jeder zweite Studienanfänger weiblich ist, lehnen viele Frauen gerade die Informatik ab. Nicht, weil ihnen die Arbeit keinen Spaß macht, wenn sie diese denn einmal ausprobieren. Sondern weil sie sich scheuen, von Männern umringt zu sein, ›die im Computer wohnen‹, wie dies die Informatik-Professorin Sissi Closs formuliert. Viele Mädchen erleben den Nerd als eher langweiligen, ein bisschen

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kontaktgestörten Typen, der bis spät in die Nacht vor dem Bildschirm sitzt – auch wenn er nicht mehr Gesundheits latschen, sondern piratisch-korrekt Kapuzenpulli trägt. Der Unterschied ist nur: Früher hätte so einer Briefmarken gesammelt oder Züge der Bundesbahn katalogisiert, heute hingegen zieht der eine oder andere in Weltkonzernen die Fäden, neuerdings – siehe Piraten – auch in politischen Parteien. Viele Frauen haben keine Lust auf diese Männerwelt. Auch weil sie spüren, dass sie dort unerwünscht sind. ›Wenn Sie einmal gelesen haben, was es im Internet für Kommentare von Männern gibt, wenn wir um Frauen in bestimmten Informatikfeldern werben, dann ignorieren Sie die das nächste Mal lieber‹, sagt die Soziologin Schwarze. Hinter Postfeminismus verbirgt sich auch Frauenhass.«10

Erstaunlich ist, wie sehr die Kritik am Sexismus mit der Abwertung einer gesellschaftlich als unattraktiv verstandenen Männlichkeit (»so einer« hätte früher Briefmarken gesammelt, Gesundheitslatschen getragen etc.) verbindet. Interessant ist hierbei, dass das Bild des Nerds eine nichtmaskulinistische Männlichkeit darstellt, und dies nicht nur in amerikanischen High-School-Serien, in denen der unattraktive Nerd oft Opfer der Aggression der Football-Spieler oder anderer begehrter Jungmänner wird. Mit R.W. Connell gesprochen, entspräche das Klischee des Nerds einer marginalisierten Männlichkeit (Connell 2006). Hoch interessant und ohne Zweifel einer ausgiebigen Analyse wert ist also das Muster der diffamierenden Beschreibung der männlichen Piraten: Sie ergibt sich aus der Entgegensetzung zur Negativfolie der (echten?) hegemonialen Männer, die grölen, Waffen tragen, Alkohol trinken und alles andere als poetisch oder zart sind. Eine zumindest fragwürdige Konstruktion. Während der Begriff »Nerd« in Social Media und Popkultur inzwischen eine Umwertung erfahren hat und im Hipstertum aufzugehen scheint (90s Nerd – 2020s Hipster; vgl. Greif 2012), changiert das Männerbild der Piraten in der Kritik zwischen beinhartem »Männerbund« (EMMA 2009) und sexuell unattraktivem Nerd. So auch in einer Diskussion in Marina Weisbands Blog über ihre Darstellung in den Medien, auf den wir später zurückkommen werden. Weisband beklagt in ihrem Eintrag, dass die Medien sich weniger für ihre Inhalte als für ihre Weiblichkeit interessierten. Ein Leser formuliert in den Kommentaren: »Seit einiger Zeit verfolge ich deine Äußerungen und Gedanken auf Facebook – weil ich sehr gerne etwas Konkretes zu politische Inhalten hören würde. Bis jetzt war nicht viel Neues dabei. Stattdessen kokettierst du mit rotem Lippenstift, Lanz und Schmidt und wunderst dich darüber, dass dich die Presse in klassischer Manier vorführt und ver-

10 | EMMA Winter 2012, online unter: http://www.emma.de/ressorts/artikel/partei en/her-mit-den-piratinnen/ [18.03.2012]. Hervorhebungen durch die Autorinnen.

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brennt. Und die ganzen Piraten-Jungs, die hier artig Beifall für dich klatschen, ihr kommt mir wie Computer-Nerds vor, die zum ersten Mal ein Mädchen gesehen haben.«11

Sowohl gegenüber Weisband als auch gegenüber den adressierten Männern – viele Menschen hatten Weisband mit freundlichen Kommentaren ein »weiter so« zugesprochen – wird eine sexualisierende Haltung eingenommen. Weisband produziere sich kokett »mit rotem Lippenstift«, die »Piraten-Jungs« seien »artige« (gleichermaßen unmännliche, apportierende) Computer-Nerds, die noch nie ein Mädchen gesehen hätten und deshalb unkritisch jede von Weisbands Äußerungen feierten (vgl. zur Figur des Nerds Mertens in diesem Band). In 2009 und zu Beginn des Jahres 2010 drehten sich Kritiken an der Piratenpartei vor allem um die netzpolitische Haltung hinsichtlich Internetsperren und darum, dass es sich »nur« um ein Single-issue-Movement handle (vgl. hierzu Siri 2009). So formulierte Gideon Böss in der WELT vom 17.09.2009, dass mit der Piratenpartei »zwar massenweise Nerds« sympathisierten, »aber keine Massen. Die Themen Internet- und Datensicherheit haben allein nicht die Anziehungskraft, um eine Partei dauerhaft zu etablieren.« Die Unterscheidung zwischen »virtueller«, echter Welt und »dem Nerd« in »diesem Internet« war Grundlage der meisten Kommentierungen der Piraten. Solche Kommentare sind inzwischen seltener geworden, was nicht zuletzt am Erfolg der Piraten und den Misserfolgen der anderen Parteien in der Netzpolitik liegen mag. So hat beispielsweise die SPD im letzten Jahr erheblich in Social-Media-Kompetenzen investiert. Auch haben Vorratsdatenspeicherung und ACTA erhebliche Proteste bewirkt, sodass es nunmehr unmöglich geworden ist, netzpolitische Anliegen als Hobby realitätsgestörter Freaks abzutun. Nach der Bundestagswahl 2009 setzte – möglicherweise ausgelöst durch den EMMA-Pascha – ein hohes Interesse am Genderthema ein. Dabei fiel auf, dass überaus kritisch mit den Pirat_innen umgegangen und eher lax recherchiert wurde.12 Nur wenige und eher später verfasste Artikel ließen die engagierten Frauen zu Wort kommen. So beispielsweise jener von Svenja Bergt in der taz vom 14.09.2011 über den »Kegelclub«, ein Treffen von genderinteressierten Piratinnen. Doch wird auch dieser 11 | Online unter: http://www.marinaslied.de/?p=675, Kommentar 55 [12.03. 2012]. 12 | So finden sich sehr wenige Artikel, die auf die Programmdiskussionen eingehen. Einfach zu findende Seiten wie beispielsweise die des« »Kegelclubs« (http://kegelklub.net/blog/) wurden oder werden nicht beachtet. In einem Artikel bei SPON vom 21.09.2011 (Berliner Piratenpartei: Jung-dynamisch-frauen feind lich, von Florian Gathmann und Annelie Naumann) scheint das Nichterheben des Geschlechts eine Besonderheit der Berliner Piraten zu sein. Mehrere Frauen der Piratenpartei berichten außerdem in Blogs, wie sie bei Parteitagen durch Presse foto grafen gebeten wurden, aus dem Bild zu gehen, damit man ein »Männer bild« bekomme.

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eher neutral gehaltene Artikel, der Frauen aus der Partei zu Wort kommen lässt, mit dem aufreißerischen Titel »Partei mit Testosteronüberschuss« versehen. Es gibt selbstverständlich auch anders gelagerte, differenziertere Beobachtungen der Partei, ihrem Frauenanteil und der Chiffre »postgender«. So konstatiert die Geschlechterforscherin und Politologin Regina Frey im September 2011,13 dass »Geschlecht als Strukturkategorie in der Partei offensichtlich sehr wirksam sei«, wenn von fünfzehn nur eine weibliche Person auf der Berliner Landesliste erscheine. Doch erkennt sie auch an, dass innerhalb der Piratenpartei eine Debatte über diese Frage geführt werde. Frey steht der Quote bei den Piraten eher skeptisch gegenüber, da die Partei derzeit »nicht so gestrickt sei«. Worauf Frey zurecht warnend hinweist, ist die punktuelle Zusammenarbeit der »AG Männer« in der Piratenpartei mit zum Teil maskulinistischen, antifeministischen bzw. misogynen Gruppierungen.14 Auf diese AG kommen wir im nächsten Abschnitt erneut zu sprechen.

3. D IE G ENDERTHEMATIK IN DER P IR ATENPARTEI : »W IR SIND POSTGENDER « Doch wie sieht nun die programmatische Position der Partei zu Geschlecht und Gender aus? Findet sich die Selbstbeschreibung »postgender« im Sinne von Mc Robbie vor allem als Abwehrargument in Debatten oder auch in programmatischen Forderungen und der konkreten Arbeit in der Partei? Für die folgenden Ausführungen – eigentlich für jede Betrachtung der Piratenpartei – ist es wichtig, sich den Bewegungscharakter der Partei stets vor Augen zu führen. Es handelt sich bei der Piratenpartei eben (noch?) nicht um eine den etablierten deutschen Parteien vergleichbare Organisation mit entsprechender Struktur, sondern noch immer um ein Mischgebilde, ein Hybrid aus Aktivismus, Vernetzung und Parteistruktur. Dies geht einher mit einer möglicherweise bereits sinkenden, aber immer noch hohen Heterogenität der Personen, die sich in der Piratenpartei engagieren, und der Anliegen, die sie in die Arbeit einbringen. So hatte beispielsweise die »AG Männer« in der Piratenpartei mindestens bis zum Frühjahr 2011 eine eindeutig maskulinistische Ausrichtung und versucht, Themen wie die vermeintliche Benachteiligung von Jungen durch Gender-Mainstreaming auf die Agenda der Bundespartei zu setzen. Dieses Anliegen scheiterte und der maskulinistische Hauptaktivist der AG Männer trat ebenfalls im Frühjahr 2011 entsprechend aus der Partei aus. Maskulinistische Anliegen waren also in der jungen Piratenpartei nicht mehr13 | Online unter: http://www.taz.de/!78449/ [18.03.2012]. 14 | Online unter: http://wiki.piratenpartei.de/AG_Männer [18.03.2012]. Zur aktuellen Auseinan der setzung mit den sogenannten Männerrechtlern vgl. Rosenbrock 2012.

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heitsfähig. Doch auch die aus einer queeren bzw. feministischen Perspektive als fortschrittlich und emanzipatorisch zu bewertenden Kommunikationen rund um den »Kegelclub« und diverse queere oder transsexuelle »Eichhörnchen« sind nicht auf die gesamte Piratenpartei übertragbar. Zu diesem Schluss kommt auch eine Studie des Kegelclubs selbst, auf die wir weiter unten zurückkommen werden. Jedoch verfügt die Piratenpartei inzwischen über auf Bundesparteitagen abgestimmte – und damit als bindend zu betrachtende – Positionen und Forderungen zur Geschlechterthematik. Im Parteiprogramm findet sich unter »Geschlechter- und Familienpolitik« als erster Punkt die »Freie Selbstbestimmung von geschlechtlicher und sexueller Identität bzw. Orientierung«.15 »Die Piratenpartei steht für eine Politik, die die freie Selbstbestimmung von gesch lechtlicher und sexueller Identität bzw. Orientierung respektiert und fördert. Fremd bestimmte Zuord nungen zu einem Geschlecht oder zu Geschlechterrollen lehnen wir ab. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Geschlechterrolle, der sexuellen Identität oder Orientierung ist Unrecht. Gesellschaftsstrukturen, die sich aus Geschlechterrollenbildern ergeben, werden dem Individuum nicht gerecht und müssen überwunden werden.«

Hieraus resultieren anschließende Forderungen nach der Ablehnung der Erfassung des Merkmals »Geschlecht« durch Behörden. Zweitens fordern die Piraten, den Zwang zum geschlechtseindeutigen Vornamen abzuschaffen und geschlechtszuordnende Operationen bei Kindern zu unterlassen. Der zweite Punkt des Papiers dreht sich um die Anerkennung von Verfolgung aufgrund der geschlechtlichen oder sexuellen Identität bzw. Orientierung als Asylgrund. »Wenn solche Verfolgung im Herkunftsland offiziell oder inoffiziell von staatlicher oder nichtstaatlicher Seite betrieben wird, muss sie als Asylgrund anerkannt werden. Die Betrof fe nen müssen ihre Geschlechtsidentität oder sexuelle Orien tierung hierfür nicht nach wei sen.«

Unter einem dritten Punkt wird die »freie Selbstbestimmung des Zusammenlebens« gefordert: »Eine bloß historisch gewachsene strukturelle und finanzielle Bevorzugung ausgewählter Modelle lehnen wir ab.« Konkret fordert dieser Abschnitt die Gleichstellung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe und darüber hinaus: »Die eingetragene Partnerschaft ist für alle Formen der Partnerschaft zu öffnen; Konzepte der Erweiterung der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu einer eingetra genen 15 | Alle Ausschnitte online unter: http://www.piratenpartei.de/politik/selbstbestimm tes-leben/geschlechter-und-familienpolitik/ [18.03.2012].

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Lebens gemeinschaft auch von mehr als zwei Personen müssen erarbeitet und verwirklicht werden. Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist – angelehnt an das französische PACS-Modell – als ziviler Solidarpakt zu gestalten. Dieser zivile Pakt soll eine flexiblere Übertragung von Rechten ermöglichen und vereinfachte und kosten güns tigere Auflösungs verfahren sowie die Verlagerung des Vertrags schlusses von der staatlichen auf eine notarielle Ebene erlauben.«

Erst im letzten Punkt wird das Zusammenleben mit Kindern thematisiert. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die politische Gestaltung von Geschlechter- und Familienfragen ein Stück weit entkoppelt werden; ihre im Feld des Politischen hegemoniale Implosion (wo Geschlecht als Thema draufsteht, ist Familie, genauer Mutterschaft drin) wird allein durch die textliche Entzerrung zurückgewiesen. Dabei werden heterosexuelle Ehe und das bürgerliche Normalfamilienmodell als nicht vorrangig schützenswert beschrieben: »Unabhängig vom gewählten Lebensmodell genießen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aufwachsen oder schwache Menschen versorgt werden, einen besonderen Schutz. Unsere Familienpolitik ist dadurch bestimmt, dass solche Lebensgemeinschaften als gleich wertig und als vor dem Gesetz gleich angesehen werden müssen.«

Hier deckt sich die Programmatik der Piratenpartei mit den aktuellsten Perspektiven der Familienforschung, insbesondere mit dem Ansatz des »Doing Familiy« (Jurczyk/Lange/Thiessen 2010), der beschreibt, dass verbindliche Fürsorgebeziehungen den Kern von Familie ausmachen – nicht ihre kategoriale Zuordnung. Der Schwerpunkt der Forderungen liegt auf der Loslösung von bestehenden gesellschaftlichen Erwartungen an die individuelle Lebensführung: »Aus der geschlechtlichen oder sexuellen Identität bzw. Orientierung darf sich weder ein Vorrecht noch eine Verpflichtung zu einer höheren oder geringeren Einbindung in die Kinderversorgung ergeben.«

Die Piraten wollen das Ehegattensplitting abschaffen und entkoppeln das Versorgen schwacher Menschen und Kinder von der Blutsverwandtschaft sowie von naturalisierenden Unterstellungen eines Geschlechts. Außerdem fordert das Programm ausreichende Betreuungsangebote für Kinder und einen Rechtsanspruch auf Betreuung ab Geburt. In einem letzten Punkt formuliert das Programm: »Kinder haben zu dürfen, muss von geschlechtlicher Identität bzw. Orientierung unabhängig sein. Auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften müssen zu sam men Kinder bekommen, adoptieren und aufziehen dürfen.«

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Ein Vergleich mit den Programmen der anderen Parteien in deutschen Länderparlamenten und dem Bundestag macht deutlich: Die programmatischen Forderungen der Piraten gehen wesentlich weiter als die aller anderen Parteien. Weder Grüne noch Linke sind hinsichtlich der Dekonstruktion von Geschlecht und hinsichtlich der Tragweite der Forderungen, die aus einer Denaturalisierungsthese folgen, ähnlich radikal. Die SPD und die CDU sind noch weit davon entfernt, die Idee einer Normalfamilie aufzugeben, auch wenn »alternative Lebensformen« als schützenswert markiert werden und die Idee des GenderMainstreaming sich inzwischen auch in der CDU durchgesetzt hat. Entschiede also die Programmatik über die Frage, ob die Piraten »postgender« sind, könnten wir nun ein vorsichtiges »Ja« anstimmen. Da die empirische Wirklichkeit von Parteien jedoch nicht (nur) in der programmatischen Kommunikation stattfindet, bietet sich nun ein Blick in eine parteieigene Studie an. »Gibt es in der Piratenpartei Sexismus?«, fragte der Kegelclub16 1400 Mitglieder. Die Auswertung sagt: »Sexismus ist ein Problem in der Piratenpartei. Frauen nehmen deutlich mehr sexistische Kommentare in der Piratenpartei wahr als Männer, häufig wird auf solche Kommentare nicht reagiert« (Kegelclub 2012: 3). »6 % der Piraten und über ein Viertel der weiblichen Parteimitglieder wurden in der Partei schon einmal Opfer von Sexismus. Jedes dritte Mal wird ein solcher Vorfall belächelt, weggeschwiegen oder ignoriert« (ebd.: 29).

Die Studie mache außerdem deutlich, dass Männer sich häufiger als Amtsträger beschreiben als Frauen und Männer häufiger Real-life-Treffen, wie Stammtische, besuchten (ebd.: 9ff.). Die Beteiligung an Parteitagen hingegen sei zwar gleich hoch, Frauen jedoch unzufriedener mit der Diskussionskultur (ebd.: 14). Die Gründe für das Engagement werden von Frauen und Männern sehr ähnlich angegeben und auch die Vorstellungen über »den typischen Piraten« wären 16 | Der Kegelclub beschreibt sich selbst wie folgt: »Der Kegelklub ist eine lose, informelle und sich beständig wandelnde Gruppe, die in verschiedenen Zusammensetzungen zu verschiedenen Themen rund um den Komplex ›Geschlechterpolitik in der Piratenpartei‹ aktiv ist. Das geschieht online ebenso wie bei Treffen. […] Die imaginäre Türsteherin des Kegelklubs ist angewiesen, niemanden aufgrund von Chromo somen oder irgendetwas zwischen den Beinen abzuweisen. Sie reagiert allerdings allergisch auf Geschlech ter klischees und uninformierte Ressentiments. Kegelklub mitglieder vertreten nicht immer in allem die gleiche Meinung. Sie eint aber die Überzeugung, dass sich der Einsatz für eine sexismusfreie Gesellschaft, in der jeder Mensch die Identifikationshoheit über die eigene Identität hat und sich gern von Rollenzwängen frei entfalten kann, lohnt und auch notwendig ist – in der Welt, in Deutsch land, in der Piratenpartei und im eigenen Kopf« (vgl. http://kegel klub. net/blog/about/).

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beinahe deckungsgleich: »Bis auf die Affinität zu Technik weicht das Selbstbild der Piratinnen nicht wesentlich stärker vom ›typischen Piraten‹ ab als das der männlichen Piraten« (ebd.: 13). Frauen würden von der Möglichkeit eines Shitstorms oder dem »Kandidatengrillen«17 stärker vom Amt abgeschreckt als Männer und empfinden die Gleichberechtigung in der Partei größer als in der Gesellschaft allgemein, aber geringer als die männlichen Parteimitglieder (ebd.: 22). Männer sähen sich und die Partei demnach auch stärker am PostgenderIdeal als Frauen (ebd.: 25). Die Ergebnisse der Studie sind alles andere als überraschend: Engagierte Frauen scheuen sich vor Ämterübernahme und es gibt – wie in jeder (nicht nur politischen) Organisation, Sexismus und Machosprüche. Immer wieder formulieren so auch Pirat_innen in Blogs oder Interviews einen Bedarf an neuen Instrumenten oder Werbeaktionen für eine breitere Klientel. So beispielsweise Julia Schramm im Interview mit dem Freitag: »Und wir können von den Volksparteien natürlich noch lernen, wie wir eine größere Masse ansprechen. Bisher ist die Piratenpartei ein recht elitärer Haufen, wir haben viele Akade miker, viele gut bezahlte IT-Fachleute, viele Männer, wenig Migranten, wenig Frauen.«18

In einem noch nicht abgestimmten Antrag – bekanntermaßen kann jede_r sich den Stand der Diskussionen der Piratenpartei im Internet besehen – wird die bisherige programmatische Position, nicht zuletzt aufgrund des medialen Diskurses –, noch vertieft.19 Unter dem Titel »Equalismus – Positionen zur Geschlechtergerechtigkeit« wird hier u.a. formuliert: »Die Piratenpartei erkennt Sexismus als ein noch nicht überwundenes Problem unserer Gesellschaft an. Viele Menschen sind durch die an ihr Geschlecht geknüpften Rollenbilder und Erwartungshaltungen in ihrer individuellen Freiheit und ihren Entfaltungsmöglich keiten eingeschränkt. […] Wir streben eine Gesellschaft an, in der Menschen nicht mehr aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechtes, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer selbstgewählten Identität oder anderer Eigenschaften benachteiligt werden oder Rollener war tungen ausgesetzt sind. Jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum, dessen Indivi dualität zu respektieren und zu unterstützen ist. Davon un-

17 | Das Kandidatengrillen beschreibt den Vorgang, dass bei Kandidaturen jede_r Pirat_in jedem Kandidaten für ein Amt, meistens über Saalmikrofone, eine Frage stellen darf. 18 | Online unter: http://www.freitag.de/politik/1151-wir-erleben-gerade-ein-gro-esexperiment [18.03.2012]. 19 | Online unter: http://wiki.piratenpartei.de/Kegelklub/PositionspapierEqualismus [18.03.2012].

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berührt ist die eigene Freiheit, für sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu definieren. Diesen Idealzustand einer ›postgender‹ Gesellschaft streben wir an.«

Die »Postgender-Gesellschaft« wird hier nicht als Status quo, sondern als gesellschaftliche Utopie beschrieben. Im folgenden Absatz ordnet sich die Partei den Emanzipationsbewegungen zu und in die Tradition der Frauenbewegung ein: »Die Piratenpartei sieht sich in einer emanzipatorischen Tradition. Die Frauenbewegung hat vieles zur Emanzipation der Menschen beigetragen, für das wir dankbar sind. Auch begrüßen wir eine emanzipatorische Bewegung seitens der Männer, die andere Männlichkeitsbilder einfordert. Wir wollen diese Emanzipations bestrebungen fortführen und weiterdenken, uns aber nicht von außen vorschreiben lassen, welche Ziele wir übernehmen und welche Instru men te wir bei diesem Prozess verwenden. Zu den wichtigsten Zielen, die wir unterstützen und für deren Verwirk li chung wir uns einsetzen wollen, zählen die Dekonstruktion des sozialen Geschlechtes, die Gleichstellung und echte Chancengleichheit der verschie denen Geschlechter und die Abkehr vom binären Geschlech terdenken.«

Die Abkehr vom »binären Geschlechterdenken« resultiert für die Mehrzahl der Diskutant_innen in Blogs und Foren in einer Ablehnung von Frauenquoten. Und auch das Equalismus-Papier macht klar, dass man sich die »Instrumente« zur Erreichung der Gleichstellung von Geschlechtern nicht vorschreiben lassen wolle. Wie dies zu beurteilen ist, darauf kommen wir in der Schlussbetrachtung zurück.

4. D IE S ELBSTBESCHREIBUNG UND D ARSTELLUNG DER P IR AT_INNEN Nachdem wir einen Blick auf die Programmatik der Piraten geworfen haben, wollen wir nun auf die mediale Performance der Protagonist_innen der Partei und ihre Darstellung durch die etablierten Medien eingehen. Anhand von Beispielen aus der Berichterstattung des letzten Jahres wollen wir darüber nachdenken, weshalb die Kritik am Sexismus der Piraten mit einer genderunsensiblen oder gar – wie wir bereits oben am Beispiel der Abwertung des männlichen Nerds gezeigt haben – sexistischen und stereotypisierenden Berichterstattung einhergeht. In den Fokus der massenmedialen Aufmerksamkeit geriet in den letzten Monaten besonders Marina Weisband, die politische Geschäftsführerin der Piraten. Marina Weisband hat ihre Person sowohl auf Facebook als auch in Interviews und später im TV offen dargestellt, d.h. keinerlei professionelle Persona inszeniert oder, so lässt sich vermuten, professionelle PR-Unterstützung ge-

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nutzt. Alleine schon ihr Alter (Jahrgang 1987) machte sie zur Ausnahmeerscheinung in der politischen Berichterstattung. In einem Interview mit der Berliner Zeitung beschreibt sich Weisband als »Kind des Internets«20. Sie sei nie ganz in Deutschland angekommen, erzählt Weisband, die in der Ukraine aufgewachsen ist, habe sich in der Schule »nie richtig einfügen« können. Dieses Interview gibt Aufschluss über das Selbstverständnis der »Nerds«. In Foren und Chats habe sie Menschen kennen gelernt, mit denen sie bis heute befreundet sei und auch ihren ersten Partner gefunden. Das Internet ist nicht einfach ein Medium, sondern mehr: »Es hat mein Leben drastisch verbessert und das Leben vieler Außenseiter, die ich kannte. Leute, die seltsame Hobbys mochten, zum Beispiel Anime geguckt haben, was damals noch nicht modern war. Solche Leute konnten sich zum ersten Mal in ihrem Leben offen mit Gleichgesinnten austauschen. Diese Erfahrung, die das Internet ermöglicht hat, hat die Rand gruppen der Gesellschaft sehr gestärkt.«

Das Internet wird – nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Narrationen von Parteimitgliedern – als ein Schutz- und Gestaltungsraum für Außenseiter_ innen und Menschen, die nicht in die Welt »draußen« passen, beschrieben (vgl. hierzu auch den Beitrag von Mertens in diesem Band). Dies Motiv ist möglicherweise nicht nur für die Emphase verantwortlich, mit der die Freiheit des Internet verteidigt wird, sondern auch – neben dem starken liberalen Moment in der Programmatik der Piratenpartei – für die Abneigung gegen eine Frauenquote. Nimmt man die Beschreibungen als Außenseiter_innen, eben: Nerds, ernst, die zumindest viele der frühen Mitglieder nutzen, so stehen nicht männliche gegen weibliche Nerds, sondern vielmehr eine Mehrheitsgesellschaft, die die Nerds verlacht (siehe wiederum oben), gegen die Mitglieder der Bewegung, die sich gegenseitig liebevoll behandeln. Und so nimmt es nicht wunder, dass Frauen angesichts der Kritik am männlichen Macho-Nerd empört darauf hinweisen, ebenfalls Nerds oder Nerdinnen zu sein, oder sich von »den Medien« als Frauen angegriffen fühlen, wie folgender »Brief an die Presse« vom 23.09.2011 zeigt: »Wir, die ›Frauen in der Piratenpartei‹ – und unsere Selbstzuschreibungen sind wesentlich komplexer als die Medien das gerne hätten, das geht von ›(weiblicher) Pirat‹, ›männliche Piratin‹, ›Piratin‹ über ›als Frau sozialisierter Mensch‹ und ›Mensch mit zwei x-Chromo somen‹ bis zu ›transsexuelles Eichhörnchen‹ – sind mehr als nur dieses ›FrauSein‹, auf das wir stets reduziert werden. Wir sind auch ganz sicher mehr als nur zwei Brüste, und wir haben keine Absicht, diese auf irgendwelche Kandidaten-Listen oder

20 | Online unter: http://www.berliner-zeitung.de/magazin/piratenpartei-chefin-iminterview-ich-bin-ein-kind-des-internets,10809156,11283988.html [18.03.2012].

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in Kameras zu schie ben, nur weil die Medien das gerne hätten und meinen, dass wir andernfalls ja völlig unter den Tisch fallen würden.« 21

Die Quotendiskussion wird in diesem Zusammenhang als ungerechte und ungerechtfertigte Einmischung erlebt. Die Kommentatorin fühlt sich zu Unrecht vergeschlechtlicht und als Opfer »der Männer« dargestellt. Immer wieder thematisieren die Mitglieder ein Scheitern an den Medien, wenn es um Männer und Frauen geht. So ärgert sich ein Mitglied in folgendem Tweet über einen taz-Bericht, der suggeriert, dass die Spitzenkandidatin der Saar-Piraten, Jasmin Maurer, und Marina Weisband in einsam-zweisamer Frauenpower alleine die nötigen Unterstützer_innenunterschriften für eine Kandidatur gesammelt hätten:

Quelle anonymisiert, letzter Zugriff: 04.04.2012

Afelia (M. Weisband) kommentiert den Bericht ebenfalls in den Social Media. Die Leistung einer Gruppe von Piratinnen werde hier aus falsch verstandener Sympathie nur zwei Frauen zugesprochen. Weisband hat die Berichterstattung über ihre Person zum Anlass genommen, auch in ihrem Blog »Marinas Lied« über ihre Darstellung in den Medien zu reflektieren. »Zwischen meiner Wahl zur politischen Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland am 15. März 2011 und dem 05. Oktober 2011 wollte mich niemand vor seiner Kamera sehen. Mehrfach hat Sebastian Nerz mich als Ersatz für sich für Interviews oder Talkshows angeboten, wenn er keine Zeit hatte. Es war aber immer so, dass man dann lieber ganz auf das Interview verzichtet hat. Warum wollte mich niemand sehen? Einige

21 | Online unter: http://kegelklub.wordpress.com/2011/09/23/liebe-presse/ [17.03. 2012]. Hervorhebungen durch die Autorinnen.

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Journalisten hatten mir gesteckt, dass es daran läge, dass ich eine Frau bin und man lieber ›den typischen Piraten‹ zeigen wolle; und der sei nunmal männlich.«22

Diese Erfahrung – wiewohl subjektiv und nicht überprüfbar – entspricht den stereotypen Nerd-Bildern, die Zeitungen und TV vor allem zu Beginn der Aufmerksamkeit von den Piraten anfertigten. Weisband geht dann darauf ein, wie sehr die Darstellung ihrer Person stereotype Weiblichkeit produziere. »Seien wir ehrlich. Meine Medienpräsenz besteht zu 80 % aus Fotos, Kommentaren über meine Frisur, meine Kleidung, meine Hobbies, meine Art. Hach, wie hübsch und hach, wie erfrischend, heißt es da immer. Ja, ich bin für die Öffentlichkeit gerade eine angenehme Gestalt – jung, engagiert, weiblich. Aber wofür ich engagiert bin, warum ich in meinem Alter eine unentgeltliche 60-Stunden-Woche arbeite, was für eine Idee es ist, hinter der wir stehen, danach fragt man bestenfalls oberflächlich.« »Ich habe einer Reporterin von der taz, die bei mir zuhause war, über eine halbe Stunde lang mein ideales Schulsystem vorgeführt. Ich habe erklärt, warum ein Kurssystem und indivi duelles Lernen immer wichtiger für die Entwicklung wird. In ihrem Artikel kam kein Wort darin vor. Dafür eine frei erfundene Geschichte, wie ich mal einen Bundesparteitag mit einer Episode von ›My little pony‹ unterbrochen hätte.«

Und in der Tat stellen nicht wenige Artikel – auch der Qualitätspresse – auf die Mädchenhaftigkeit und die Weiblichkeit Weisbands ab. Verantwortlich für die Unterbrechung mit der niedlichen Kinderserie My little Pony waren – wenn man einem Bericht im Deutschlandradio glauben darf – hingegen andere. Während die Ponys für Digital Immigrants, die selten »Internet gucken«23 , nicht mehr bedeuten als ein (Mädchen-)Spielzeug der 1980er Jahre (und so einen Hinweis auf die verspielte politische Geschäftsführerin ermöglichen), sind sie im Netz Thema für Meme, Verfremdung und subkulturelle Betätigung.24 Einige Piraten aus Berlin erklären im Interview mit dem Deutschlandfunk, dass es die Möglichkeit gibt, Geschäftsordnungsanträge auf Ponytime zu stellen, wenn Diskussionen zu hitzig werden.25 Ponytime bedeutet, dass eine Folge der Sendung My little Pony die Tagung unterbricht. 22 | Dieser und die folgenden Auszüge finden sich unter: http://www.marinaslied. de/?p=675 [16.03.2011]. 23 | Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=r5COqQkl3Xg. 24 | Vgl. für mehr Informationen http://knowyourmeme.com/memes/subcultures/mylittle-pony-friend ship- is-magic [16.03.2012]. Genauer Link zum Bild: http://www.ogee ku.com/2011/dr-fluttershy -aka-learned-stop-worrying-love-pony/. 25 | Online unter: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/dlfmagazin/1630017/ [18.03. 2012].

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My little Pony/Memedarstellung

Quelle: ogeeku.com »Es hat durchaus inhaltlich mit Dingen zu tun, die wir auch bei den Piraten bearbeiten: Vertrauen, Freundschaft etc. Wo einem vielleicht noch mal klar wird: Okay, der da gerade neben mir sitzt und mit dem ich so eine krasse Differenz hatte oder Meinungsver schiedenheit, ist aber grundlegend eigentlich auf meiner Seite und lass uns doch gucken, wie wir unsere Schnittmengen irgendwie finden und uns auf was einigen können.«

Die Ponys brächten Ruhe und Besonnenheit in den Parteialltag: »Dadurch, dass sie Freundschaft schließen und zusammen denken können, lösen sie ihre Probleme. Und das ist es, was eigentlich das Netz auch ausmacht. Verschie denste Charaktere denken zusammen und lösen sie. Und das ist eigentlich das gleiche – nur abgebildet auf Ponys.«

Es mag zunächst seltsam scheinen, in einem Artikel über Gender bei den Pirat_innen auf kleine Ponys und Fantasiewesen wie glitzernde Einhörner zu sprechen zu kommen. Sachlogisch ist es jedoch aus zwei Gründen. Erstens, um zu verstehen, dass »der Nerd« nicht männlich und schon gar nicht zwingend an und für sich maskulinistisch ist – sich virtuell mit niedlichen Bildern zu umgeben vice versa nicht »weiblich« –, sondern eine mimetische Kultur mit ganz eigenen sozialen Praxen des Umgangs. So ist Freundlichkeit und Kooperativität, bzw. (N)etikette, sehr oft Thema in den Diskussionen zwischen den Pirat_innen und auch oft Grund für Konflikte mit Außenstehenden, die Aufforderungen, »kooperativer«, »freundlicher« oder »offener« zu diskutieren, nicht aufnehmen. Die politische Dimension des Konflikts wird in der Kommunikation der Piraten semantisch weit weniger stark ausgelebt, als es beispielsweise

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auf den Internetseiten der Linksjugend oder der Jungsozialist_innen der Fall ist. Dies mag man als Trivialisierung sachlicher Debatten und als mangelnde Seriösität abtun, man sollte aber die Ernsthaftigkeit des Bemühens um eine andere Debattenkultur nicht verkennen. Dies umso mehr, als auch (und gerade?) junge Männer hier ihre Befindlichkeiten offen thematisieren und damit, wie wir bereits zuvor angedeutet haben, nichthegemoniale Männlichkeitsmuster performieren. Wie nachhaltig dies ist und ob hier mehr als eine ästhetisch gewendete neoliberale Gender-Performance passiert, das bleibt abzuwarten. Zweitens lohnt sich der Blick auf die kleine Geschichte um die kleinen Ponys, um zu verdeutlichen, wie häufig ein Nichtverstehen der so real gewordenen virtuellen Welt für Übersetzungsprobleme sorgt, vor allem in den etablierten Medien. Auch wenn es bei der Beschreibung einer Bewegung nie um die »eine«, »richtige« Beschreibung gehen kann, so lässt sich doch durchgängig eines beobachten: Die Mehrzahl der Kommunikationen von Programmen und Protagonist_innen der Piratenpartei formuliert ein Unbehagen an der Herstellung von binären Differenzen wie rechts/links, Mann/Frau, virtuell/real und vielen mehr. Verdeutlichen lässt sich dies an einer Passage aus einem Artikel des Blogs »Mannheimer Salon« über »Gender und Multitude«: »[…] hier haben wir, in der Gegnerschaft zur Piratenpartei, den unbewußten Schulterschluß zwischen Feministen, Maskulisten und Konservativen. Sie wollen einen einheitlichen sozialen Körper wieder herstellen, nicht Volk oder Klasse, sondern Frau und Mann. Hier wird den Frauen und Männern jeweils ein einheitlicher Willen unterstellt, genau, wie es die Linke mit der Klasse und die Rechte mit dem Volk tut. […] Die Multitude jedoch formt sich eben aus den Interes sen der einzelnen Mitstreiter. Nicht Männer sind die Gegner der Frauen und umgekehrt, sondern Umstände und Mechanismen, die Menschen in ein System der strukturellen Gewalt zwängen. […] Die Piraten wehren sich vehement gegen jede Einzwängung in einen sozialen Körper. Sie wollen nicht Links und nicht Rechts sein, nicht Frau oder Mann, ja allein schon der Versuch, Lager in der Piratenpartei auszumachen (zwischen denen, die das Programm ausweiten wollen, und denen, die dies nicht wollen), befällt sie mit Unbehagen.« 26

Dem Antagonismus von Freund und Gegner wird in vielen Kommunikationen weniger Wert zugemessen als kooperativen und liberalen Theorieansätzen, die den Wert des/der Einzelnen bekräftigen. Hier atmet die Bewegung noch die Ideale von freiem Netz und den Anfängen des Internet. Auch der politische Kampf wird immer wieder interaktiv zu domestizieren versucht – sei es institutionell durch direkt-demokratische Verfahren und Liquid Democracy, sei es im Web 2.0 durch immer wiederkehrende Aufrufe, »freundlich« und »konstruktiv« zu argumentieren, oder sei es durch »Pony-Time« und die Aufforderung 26 | Online unter: http://mannheimer-salon.de/?p=1 [13.03.2012].

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sich auch in der »realen Welt« an die Netikette zu halten. In diesem Sinne sind die Piraten eine »Anti-Differenz-Partei«. Und auch hier lässt sich nicht vorab entscheiden, ob dies utopischer Gestaltungswille ist – oder schlichte Naivität.27 Betrachtet man das öffentliche Auftreten der Pirat_innen in Ämtern, so findet sich in unserer Empirie tendenziell eher ein Bruch mit geschlechtsstereotypen Selbstdarstellungen von Politiker_innen als deren Reproduktion. So tough Marina Weisband ihre TV-Auftritte absolviert, so offen gehen mehrere Piratenmänner darauf ein, wie sehr sie die Härte des politischen Geschäfts belaste. So hatte beispielsweise der Vorsitzende der Berliner Piraten, Gerhard Anger, im Februar 2012 seinen Nichtwiederantritt u.a. mit folgenden Worten begründet: »Ich ertrage diese emotionale Belastung nicht. Ich habe auch keine Lust, mir eine eigene Persönlichkeit zu erschaffen, die dann kalt ist, die dann abweisend ist, die dann eben nicht mehr die Person ist, die ich selber bin.« 28

Angesichts der bisher anhand der Empirie illustrierten Genderthematisierungen und des eher weniger geschlechtsstereotypen Auftretens vieler Männer und Frauen in der Piratenpartei stellt sich uns abschließend die Frage, weshalb sie derart herb für ihren Sexismus kritisiert wird. Dieser Frage wollen wir uns im Ausblick widmen.

5. »D IE J UGEND VON HEUTE «? W IESO DIE S E XISMUSDEBAT TE AUSGERECHNE T ÜBER DIE P IR ATEN GEFÜHRT WIRD Die Beschwörung von Postgender im Jahre 2011 ist für Bewohner_innen des Planeten Erde sicher naiv. Und gleichzeitig ist Naivität eine wichtige Quelle und auch ein Privileg neuer sozialer Bewegungen – und zu diesen zählen wir die Piraten. Dass die Sexismus-Diskussion ausgerechnet an dieser Partei geführt wird, ist zunächst nicht verwunderlich. Denn ganz sicher sollte jede Partei, ob alt oder neu, auf ihre geschlechterpolitischen Positionen hin kritisch beobachtet werden. Hierzu zählt die Zählung von Frauen ebenso wie die differenzierte Analyse bei einem Sachverhalt, der selbst ungeheuer komplex ist. Erstaunlich scheint uns aber doch, mit welcher Vehemenz und zum Teil Engführung die Diagnose einer Männerpartei behauptet wurde und wird. Wieso schaut man z.B. nicht wieder einmal genauer hin, wie (und ob!) die Parteien des linken Spektrums ihre vereinbarten Quoten wirklich einhalten? Aus einer feministi27 | Vgl. hierzu auch die Überlegungen zur Plattformneutralität im Beitrag von Seemann in diesem Band. 28 | Ezerptiert aus RBB-Beitrag, online unter: http://www.youtube.com/watch?v=AM wEtsgqiBA [19.03.2012].

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schen Perspektive hochproblematisch scheint uns zudem die Stereotypisierung von Piratenfrauen als naive Weibchen und der Piratenmänner als verschrobene sexuelle Underperformer. Diese Aggression verweist auf mehr als den Inhalt der Diskussion: Auf ein Nichtverstehen oder Nichtverstehenwollen der Digitalen Welt. Das Stichwort »Generationenkonflikt« trifft es sicher nicht – sind doch die »älteren« in der Netzgemeinde 1960er und 1970er Jahrgänge. Die Kluft scheint sich vielmehr zwischen denen, die »Internet gucken«, und denen, die es alltäglich nutzen, aufzutun. Es gilt also ernst zu nehmen, was Marshall McLuhan in den 1960er Jahren beschrieben hat: dass jedes Medium eine eigene Magie und unterschwellige Energie besitzt, die das transzendiert, was der Inhalt einer Botschaft ist (McLuhan 1994: 40). Dass das Medium die Botschaft ist, bedeutet, dass das Medium durch seine Formung der Kommunikation die soziale Praxis und ihre Akteure dauerhaft verändert. Am Missverstehen und am Selbstverständnis der Piratenpartei wird deutlich, dass mediale Ästhetik eben nicht »nur Ästhetik« ist, sondern auch das Politische sich im Netz anders formt und politische Kommunikation, die »aus dem Netz« emergiert, eine eigene, neue Praxisform ist. In der Konsequenz sind Deutungskämpfe nur verständlich (vgl. Siri/ Melchner/Wolff 2012). Deutlich wurde in der empirischen Annäherung, dass es sich nicht eindimensional verhält: Weder sind die Piraten ein männerbündischer Club, der Geschlechterthemen lapidar abtut, noch sind sie eine Ein-Punkt-Partei realitätsentfremdeter Nerds. Erst recht aber sind sie auch nicht eine selige PostgenderUtopia inmitten einer sich ansonsten mit Geschlechtergerechtigkeit abmühenden Realgesellschaft. Es gibt, dies konnten wir tentativ empirisch zeigen, sowohl dezidiert feministische und/oder queere Stimmen in der Partei, die sich durchaus Gehör verschaffen und deren Positionen zum Teil in die bindende Programmatik der Partei eingeflossen sind. Zugleich regt sich bei vielen Mitgliedern der Piratenpartei offensichtlich ein Widerwille, sich mit Geschlechterfragen überhaupt abzugeben, und es zeigt sich eine gewisse Naivität in dieser Frage. Das mag der zum Teil relativ jungen Mitgliederstruktur geschuldet sein. Denn wie die Geschlechterforschung empirisch zeigt, werden Geschlechterasymmetrien, handfeste Diskriminierungen und das Wirken geschlechtlicher Stereotype im »reflexiv modernisierten« Deutschland (Elisabeth Beck-Gernsheim) der Gegenwart wesentlich später als noch vor Jahrzehnten biografisch erfahrbar – und zwar für Männer und Frauen. So setzen sogenannte Retraditionalisierungsprozesse in Paarbeziehungen nach der Geburt von Kindern ein, Frauen merken erst nach mehreren Karriereschritten, dass männliche Kollegen es weiter bringen, Männer bemerken mit 40, dass sie das eigentlich verhasste Modell ihrer Väter selber leben usw. usf. In einer Diskussion zu einem kritischen Artikel über den Antifeminismus der Piratenpartei schreibt Pirat_in »Mirage« am 23.09.2011:

Piratinnen – Fehlanzeige Gender?

»Der Postgender Ansatz ist ja auch die Loslösung von der erzwungenen Zweigeschlechtlich keit. Geschlechtliche Identitäten sind ja eben nicht Frau-Mann und nichts sonst. Die Frauen quote ist ein Widerspruch zum Dekonstruktivismus und Poststrukturalis mus. Wie soll eine Frauenquote auch funtionieren (sic! Anm. JS/PIV). Wie sollen denn Intersex Personen bei der Quote zählen. Oder was ist Trans*Personen, ab wann zählen die als Frau und wann als Mann? Mit der Forderung einer Frauenquote wird die Genderdebatte zurück ins letzte Jahrtausend kapatultiert (sic! Anm. JS/PIV). Progressive Genderpolitik sieht anders aus.« 29

Und in der Tat: Aus einer poststrukturalistischen Perspektive tut sich zwischen dem Wissen um die Konstruiertheit von Geschlecht und dem Kampf für Geschlechtergerechtigkeit ein nicht behebbares Gefälle auf. Man mag Postgender als Lebensgefühl für naiv halten: Ernst nehmen sollten gerade feministische Akteur_innen aber, dass das Anliegen, andere Instrumente als eine Frauenquote zu entwickeln, durchaus legitim sein kann. Das Bild, dass uns nach intensiver Betrachtung von der Piratenpartei bleibt, ist also widersprüchlich. Entscheidend scheint uns hierbei, dass – entgegen vielfacher Annahmen in der politischen Beobachtung – tatsächlich Debatten um das Thema Geschlecht geführt werden. Wohin sich diese entwickeln, das wird die Zukunft zeigen. Die nahe Zukunft, wie sich angesichts mehrerer Landtagswahlen im Jahr 2012 vermuten lässt. Die Debatte um Geschlecht und Gender bei den Pirat_innen verweist darauf, dass die Suche nach Parteifrauen an und für sich nur ein Schritt von vielen auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit sein kann. Ein wichtiger, zweifelsohne. Denn in einem schlicht quantitativen Sinne kann sich demokratische Politik nur eine solche nennen, die den Souverän in seiner ganzen Vielgestaltigkeit ernst nimmt. Doch kann sich die politische Gestaltung von Geschlechtergerechtigkeit, vor allem aber die genuin politische Auseinandersetzung mit den großen Folgen des »kleinen Unterschieds« (Alice Schwarzer), nicht darauf beschränken. Entscheidend ist daher, wie Parteien Geschlechterfragen überhaupt thematisieren. Weit über ein bloßes Zählargument hinaus ist die Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen im Raum des Politischen eine komplexe und offene Debatte. Wie auch immer die Position hierzu ausfällt, die Debatte kann nur führen, wer anerkennt, dass Geschlecht eine zentrale Rolle spielt. Die Geschlechtszugehörigkeit hat enorme Folgen für alle Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft – postgender sind wir gesellschaftlich definitiv noch längst nicht. Entscheidend scheint uns auch, dies gilt insbesondere für die feministische, genauer gesagt frauenpolitische Öffentlichkeit, dass sich die Suche nach den einschlägigen Debatten nicht auf 29 | Online unter: http://maedchenblog.blogsport.de/2011/09/23/was-du-nichtsehen-willst-ist-trot zdem-da-oder-warum-postgender-im-falle-der-piratenpar teiantifeministisch-ist/ [18.03.2011].

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die traditionellen Formen der Politik beschränken darf. Wesentlich ist vielmehr die Begegnung auf Augenhöhe – und dies kann nur mit hinreichender Expertise in Sachen Netz bzw. Web 2.0 geschehen. Über die Nerds zu spotten ist einfach, als Nerdine mitzumischen jedoch sinnvoller.

L ITER ATUR Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): GenderDaten-Report. Hg. von Waltraud Cornelißen, erstellt durch das Deutsche Jugendinstitut e.V. in Zusammenarbeit mit dem statistischen Bundesamt. Bundesregierung (2011) (unter Mitarbeit der Sachverständigenkommission): Unterrichtung durch die Bundesregierung. Erster Gleichstellungsbericht. Neue Wege – Gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Deutscher Bundestag: Drucksache 17/6240. Berlin. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt a.M. Connell, Robert W. (2010): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. 3. Auflage. Wiesbaden. de Beauvoir, Simone (2000): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek b. Hamburg. EWE (Erwägen – Wissen – Ethik) 21/2010, Heft 3: Geschlecht, Macht und Männlichkeit. Fuchs, Gesine (2010): Politik: Verfasste politische Partizipation von Frauen. In: Kortendiek, Beate/Becker, Ruth (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden, S. 547-554. Funken, Christiane (2004): Female, Male, Neuter, Either: Gibt es ein Geschlecht im Cyberspace? In: Thiedeke, Udo (Hg.): Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken. Wiesbaden, S. 193-213. Greif, Mark (Hg.): Hipster: Eine transatlantische Diskussion. Frankfurt a.M. Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart, S. 363-393. Hoecker, Beate (2009): 50 Jahre Frauen in der Politik: späte Erfolge, aber nicht am Ziel. In: APuZ 24-25/2008, S. 10-18. Holtz-Bacha, Christina (2008): Frauen, Politik, Medien: Ist die Macht nun weiblich? In: dies. (Hg.): Frauen, Politik und Medien. Wiesbaden. Holtz-Bacha, Christina (2009): Politikerinnen-Bilder im internationalen Vergleich. In: APuZ 50/2009, S. 3-8. Jurczyk, Karin/Lange, Andreas/Thiessen, Barbara (Hg.) (2010): Doing Family – Familienalltag heute: Warum Familienleben nicht mehr selbstverständlich ist. Weinheim.

Piratinnen – Fehlanzeige Gender?

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N EUSTART

Beschleunigungsphänomen und demokratisches Experiment Auf welche Problemlage reagieren die Piraten? Jörn Lamla und Hartmut Rosa

1. E INLEITUNG Der kometenhafte Aufstieg der bundesdeutschen Piratenpartei, die, 2006 gegründet, im Jahr 2009 die Zahl ihrer Mitglieder binnen sechs Monaten verzehnfachte und am 11. September 2011 mit spektakulären 8,9  Prozent der Wählerstimmen den Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus feierte sowie anschließend diesen Erfolg im Saarland wiederholte, indiziert ganz offensichtlich eine Verwerfung, eine Sollbruchstelle im politischen Geschehen des Landes. Wenn innerhalb so kurzer Zeit bis zu 10 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Bereitschaft signalisieren, dieser Partei ihre Stimme zu geben, obwohl den allermeisten davon weder deren politisches Programm noch ihr Personal bekannt sind, und wenn diese Bereitschaft so nachhaltig ist, dass sie nun zur flächendeckenden föderalen Strukturbildung und Organisation der Piraten führt, dann lässt sich dies nur als Symptom deuten für einen offenbar breit wahrgenommenen Mangel, für eine Leer- oder Fehlstelle im politischen Prozess, die der Schließung oder Bearbeitung bedarf. Diese Beobachtung wird noch gestützt durch den Umstand, dass ähnliche Parteineubildungen und radikale Umbildungen der Parteienlandschaften auch in vielen anderen westlichen Demokratien (so etwa in Italien, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern etc.) auftreten, deren oft über Jahrzehnte hinweg etablierte und stabilisierte Parteienlandschaft plötzlich in Bewegung gerät. Demokratietheoretisch liegt dieser Deutung die Annahme zugrunde, dass (in ihrer Ausrichtung) neue Parteien sich am ehesten dann erfolgreich und nachhaltig zu etablieren vermögen, wenn das herrschende Paradigma der Bearbeitung politischer Problemstellungen durch das Auftreten von dazu »querliegenden« Anomalien infrage gestellt wird. Solche strukturellen Leer- oder Problemstellen können dabei prinzipiell auf der Prozessebene der Politik ebenso auftreten

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wie auf ihrer Gegenstandsebene: Die Defizite, auf welche die Umgestaltung des Parteienspektrums reagiert, können zum einen prozeduraler oder prozessualer Natur sein, was bedeutet, dass die überlieferten Institutionen und Praktiken der politischen Willensbildung, Entscheidungsfindung und Implementation aufgrund veränderter gesellschaftlicher Bedingungen nicht mehr angemessen funktionieren, dass sie also nicht mehr in der Lage sind, die sozialen Problem- und Bedürfnislagen adäquat zu erfassen und zu bearbeiten. Das Auftreten neuer Parteien oder Akteure signalisiert dann insbesondere eine Entfremdung der Bürger_innen vom politischen Prozess, einen Protest gegen das politische Establishment, das als »nicht-(mehr)-responsiv« gegenüber den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung wahrgenommen wird. Das Defizit kann jedoch, zum anderen, auch auf der Substanzebene liegen, was meint, dass eine ganz spezifische, neue gesellschaftliche Problemlage von den etablierten Parteien und Akteuren und ihrem »Normalbetrieb« nicht gesehen und behandelt wird. Deuten der Name der neuen Partei – die Piraten – und die Tatsache, dass sie in ihrer Organisationsform und ihrem Konzept der »Liquid Democracy« auf eine genuine Prozessinnovation zu zielen scheint, eher auf ein Phänomen des ersten Typs, so verweist ihr bevorzugtes Thema, die rechtliche, politische und kulturelle Neuorganisation der Zivilgesellschaft im digitalen Netz, in der Tat auf eine nachhaltige Verortung der Partei auf der Substanzebene der spätmodernen Gesellschaft: So wie erst die Etablierung der Grünen ökologische Probleme im politischen Problembearbeitungsspektrum der Bundesrepublik zu verankern vermochte, könnte es der Piraten bedürfen, um die durch die neuartigen digitalen Vernetzungsstrukturen entstandenen gesellschaftlichen Problemlagen adäquat politisch zu bearbeiten (vgl. dazu den Beitrag von Marschall in diesem Band). In diesem Aufsatz möchten wir die These vertreten, dass die Formierung der Piraten in der Tat eine Reaktion auf beides ist: Auf ein strukturelles »Prozessproblem« spätmoderner Demokratien und auf ein grundlegendes »Substanzproblem« im Sinne des Auftretens einer neuartigen gesellschaftlichen Problemlage. Wir wollen im Folgenden die beiden Problemdimensionen, auf die nach unserer Auffassung die Piraten antworten, zunächst getrennt darlegen, um dann abschließend die Frage ihrer Verschränkung zu diskutieren.

2. D AS PROZEDUR ALE B E ZUGSPROBLEM : D EMOKR ATIE UNTER B ESCHLEUNIGUNGSDRUCK Die Piraten sind unter Zeitdruck: Während sie noch dabei sind, eine bundesweite Personal- und Organisationsstruktur zu schaffen, die es ihnen erlaubt, das immense Wählerinteresse bei der nächsten Bundestagswahl in politische Mandate zu transferieren, sind sie gezwungen, innerhalb weniger Wochen dasselbe nun auch auf der nordrhein-westfälischen Landesebene zu bewerkstelligen,

Beschleunigungsphänomen und demokratisches Experiment

weil sich ebenso rasch wie überraschend, gleichsam über Nacht, der dortige Landtag aufgelöst hat. Die Piraten erweisen sich dafür allerdings insofern als gut gerüstet, als sie über Twitter, Blogs und Internetforen in Windeseile eine gewaltige Mobilisierungsenergie zu entfachen vermochten. Sowohl ihrer Idee als auch ihrer Organisationsstruktur und -form nach sind die Piraten damit gleichsam Teil jener weltweiten »Facebook-Revolutionen«, deren gemeinsames Merkmal es ist, mit Hilfe digitaler Kommunikation und Vernetzung in kürzester Zeit, ohne zentrale Steuerung und ohne hierarchische Koordination, große Empörungs- und Mobilisierungswellen hervorzurufen und zu bündeln (vgl. dazu den Beitrag von Baringshorst/Yang in diesem Band). Die Piraten lassen sich daher mit guten Gründen als Ausdruck und Element der Beschleunigung und Dynamisierung der politisch-sozialen Welt der Spätmoderne verstehen. Ihr rasend schneller Aufstieg setzt die etablierte und verfestigte Parteienordnung ebenso wie die politische Agenda erheblich in Bewegung. Zugleich lässt sich dieser Aufstieg aber auch als eine Reaktion auf das Beschleunigungsdefizit der Demokratie verstehen. Politische Demokratien etablieren – so sehr sie gegenüber einer feudalen Herrschaftsordnung selbst ein Dynamisierungsmoment darstellen – unvermeidlich zeitintensive Prozessstrukturen, weil die Prozesse der Willensbildung und der Entscheidungsfindung aufwändig sind (vgl. Rosa 2012). Die Formierung und Artikulierung von Positionen und Interessengruppen, die kollektive und öffentliche Deliberation der Argumente, die Findung von Kompromissen und Konsensen und schließlich auch deren rechtsstaatliche Umsetzung sind nicht nur zeitraubend, sondern sie dauern sogar immer länger, je pluralistischer, komplexer und dynamischer die Gesellschaft selbst wird. Daraus ergibt sich eine paradoxale Auseinanderentwicklung der sozio-ökonomischen und politischen Zeithorizonte: Während die Geschwindigkeit wirtschaftlicher und finanzieller Transaktionen, wissenschaftlich-technischer Entwicklungen und kultureller Kommunikations-, Diffusions- und Mobilisierungsprozesse immer höher wird, verlangsamt sich der demokratische Prozess zusehends. Die Folgen lassen sich gesellschaftsweit besichtigen und sind nicht mehr zu übersehen: Die Politik hat ihre Funktion als »Schrittmacher« sozialer Entwicklungen längst eingebüßt, sie tritt fast nur noch als Feuerlöscher und Folgenbearbeiter auf den Plan – was einstmals als »progressive Politik« etikettiert wurde, weil es mittels politischer Gestaltung gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen versprach – nämlich die politische Kontrolle und Steuerung ökonomischer Transaktionen und technischer Entwicklungen – erscheint heute als »Bremsversuch«. Auf die große Finanzkrise 2008 oder die Eurokrise 2011, die ungeheuer weitreichende politische Entscheidungen und Interventionen erforderlich machten, reagierten die politischen Systeme nahezu ausschließlich mit ihren Exekutivorganen: Die Exekutiven sind in der Lage, weit rascher und flexibler zu reagieren als die Parlamente, wenngleich sie ohne Rückendeckung durch

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die Letzteren der demokratischen Legitimation entbehren. Die Folgen solcher »Desynchronisation« zwischen dem etablierten demokratisch-politischen Prozess und der soziokulturellen Entwicklung werden als »Politikverdrossenheit« und als Entfremdung vom politischen System diskutiert: Der demokratische Prozess lässt sich als das zentrale Instrument nicht nur der kollektiven Selbstbestimmung, sondern auch der politischen »Aneignung« der Strukturen des Gemeinwesens verstehen: Eine funktionierende Demokratie erlaubt und ermöglicht es den Bürger_innen, die politisch-soziale Welt als eine »Resonanzsphäre« zu verstehen – sie antwortet und reagiert auf die geteilten Bedürfnisse. Ein hoher Anteil an Wahlenthaltungen ebenso wie der massenhafte Zulauf zu Protestparteien signalisiert in diesem Sinne eine anhaltende Störung in diesem Aneignungsprozess. Dass die Piraten eine wählbare Alternative auch für viele Wählerinnen und Wähler geworden sind, welche deren Personen, Ziele oder Prinzipien gar nicht kennen, legt es deshalb nahe, sie auch als eine strukturelle Reaktion auf das Desynchronisationsproblem oder Beschleunigungsdefizit der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie zu verstehen. Ob die Partei der Piraten indessen auch ein Teil der Lösung der skizzierten Demokratiekrise sein kann, bleibt abzuwarten. Offensichtlich aber ist, dass nicht nur das Erscheinen der Piraten, sondern auch ihre politische Programmatik und ihre Organisationform eine Antwort auf das Zeitproblem versprechen: Die Idee der »Liquid Democracy« beruht ganz wesentlich auf der Vorstellung, dass politische Willensbildung und Entscheidungsfindung sich im und über das Netz schneller, effizienter und zugleich demokratischer organisieren lassen und dass Programme, Prinzipien und politische Entscheidungsvorschläge auf diese Weise flexibler und rascher an sich dynamisch entwickelnde und verändernde Verhältnisse und Bedarfslagen angepasst werden können. Ob sich damit tatsächlich eine Reorganisation von Öffentlichkeit und ein rationaler, gefilterter Repräsentations- und Deliberationsprozess etablieren lassen, die den historisch-kulturell gewachsenen Ansprüchen an demokratische Selbstbestimmung zu genügen vermögen, lässt sich heute noch nicht sagen. Immerhin aber gebührt den Piraten das Verdienst, die erste Partei zu sein, welche nicht nur ein Element spätmoderner Beschleunigung und eine Reaktion auf sie darstellt, sondern zugleich ein Instrument zur experimentellen Lösung oder Überwindung der demokratischen Dynamisierungskrise in Aussicht stellt.

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3. D AS SUBSTANZIELLE B EZUGSPROBLEM : D IE S ICHERUNG DER N E T Z AUTONOMIE Die Ausgangshypothese unseres Beitrags lautet, dass die breite politische Bewegung, die hinter der Partei der Piraten steht, kein flüchtiges Phänomen, keine Masseneuphorie unter Digital Natives darstellt, die schnell gekommen ist und auch schnell wieder vergeht. Vielmehr scheint es unter den Aktiven und Sympathisanten geteilte Erfahrungsbestände und thematische Kristallisationskerne zu geben, die trotz interner Pluralität und öffentlicher Artikulationsschwäche der noch jungen Partei so etwas wie eine grundlegende Vorverständigung sichern. Ein gemeinsamer lebensweltlicher Horizont also kann vorausgesetzt werden, vor dem sich eine bestimmte Wahrnehmung aktueller gesellschaftlicher Problemlagen abzeichnet (vgl. den Beitrag von Hensel in diesem Band). Diese Problemwahrnehmung richtet sich nicht nur auf vereinzelte Anliegen, sondern scheint so etwas wie einen allgemeinen oder strukturellen Bestand aufzuweisen, der es ermöglicht, grundlegende, wiederkehrende, kontextübergreifende Krisendeutungen zu entwickeln.1 Dies legt nahe, dass eine Lücke im System der etablierten politischen Repräsentanten und Assoziationen besteht oder zumindest plausibel behauptet werden kann. Die noch bestehenden Schwierigkeiten, die inhaltliche Bezugsproblematik allgemein und klar zu benennen, die Abwesenheit eines klaren politischen Programms also, sind nicht als Beleg oder Hinweis dafür zu deuten, dass es hier nichts zu entdecken gäbe, dass es in der Politik ohnehin nur darum gehe, unlösbare Probleme zu erfinden (Luhmann), oder leere Signifikanten zu füllen (Laclau). Es kann genauso gut bedeuten, dass die Spezifizierung und Artikulation der Probleme mehr Zeit braucht, insbesondere 1 | In der Theorie politischer Bewegungen ist umstritten, in welchem Maße »Sachprobleme« für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Protest erklärungsrelevant sind (vgl. Lamla 2011; Pettenkofer 2010). Unserer Ansicht nach befindet sich die Partei der Piraten in einer öffentlichen Bewährungskonstellation, in der sie intern und extern glaubhaft begründen können muss, dass in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen Fehlentwicklungen existieren, die einer politischen Korrektur bedürfen. Weder stehen den Piraten zur Fokussierung hierfür einfache Feindbilder zur Verfügung noch reicht die kollektive Efferveszenz einer regelmäßig wiederkehrenden »LAN-Party« aus, um die Mobilisierungsdynamik zureichend zu erklären – obgleich diese sozialen und zeitlichen Aspekte im vorliegenden Fall keineswegs unbedeutend sein müssen. Stellen die Piraten fest, dass zu ihren Wählern und Unterstützern nicht nur Digital Natives, sondern auch Digital Immigrants gehören, die zudem an den parteipolitischen Events gar nicht teilhaben, so werden gehaltvolle situationsübergreifende Problemanalysen für die Bestandssicherung tendenziell wichtiger. Dass die Sachprobleme dabei zum Teil erst nachträglich konstruiert werden, bedeutet in keiner Weise, dass sie kontingent und beliebig verfügbar sind.

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wenn es darum geht, ihre Allgemeingültigkeit und gesellschaftliche Tragweite abzuschätzen. Die Piratenpartei muss erst noch lernen, sie scharf konturiert zur Sprache zu bringen. Und den sie analysierenden Sozialwissenschaften ergeht es in dieser Hinsicht nicht viel anders. Ein historischer Vergleich mit den Grünen bietet sich daher durchaus an. Wie die Grünen und anders als die Partei »Die Linke«, die im Osten auf bestehenden Organisationsstrukturen der PDS und im Westen auf Abspaltungen eines gewerkschaftlich ausgerichteten Parteiflügels der SPD aufbaute, sind die Piraten eine politische Sammlungsbewegung, deren programmatische und organisatorische Strukturbildung noch weitgehend offen ist. Auch an den Grünen wurde zunächst vor allem die Abwesenheit eines klar geschnittenen kollektiven Identitätskerns der Partei herausgestellt, wurden sie in ihrer Entstehung doch als »Artefakt der Fünf-Prozent-Klausel« (Murphy/Roth 1987) bezeichnet und auch nach ihrer Etablierung in der Parteienlandschaft noch als eine »Rahmenpartei« (Raschke 1993: 855-874) vorgestellt, die auf die professionelle Vermittlung der postmodernen Vielfalt ihrer Werthorizonte spezialisiert ist. Eine solche Zuschreibung verdeckt aber, dass es einen gemeinsamen Problemhorizont gab und gibt, an dem sich die Pluralität der bei den Grünen versammelten Deutungsvorschläge abarbeiten und bewähren und den die Partei kollektiv explorieren und sukzessive freilegen musste. So ist im Falle der Grünen die erhöhte Sensibilität für die durch den gesellschaftlichen Wachstumskompromiss bedingte Eingriffstiefe ökonomischer, militärischer, technologischer und paternalistischer Interventionen in autonome Strukturen der Lebenspraxis (von der natürlichen Umwelt bis hin zur kulturellen Selbstbestimmung) eine Art Identitätskern, der durch ein eher breites Spektrum an Vorstellungen und Zielen sozialer Gerechtigkeit ergänzt wird (vgl. Lamla 2002). Für diesen staatlich abgesicherten Wachstumskompromiss standen alle anderen Parteien des etablierten Spektrums von der CSU bis zur SPD. Warum sollte der Fall der Piraten nicht ähnlich liegen? Und wenn das so wäre, worin könnte der gemeinsame Problemhorizont, den es erst noch artikulieren zu lernen gilt, in ihrem Fall genau bestehen? Dieser Frage möchten wir uns hier annähern. Auch im Falle der Piraten, so lautet unsere These, ist es die Bedrohung eines Autonomiepotentials, die den gemeinsamen diffusen Erfahrungshintergrund ausmacht, wobei das Potential in diesem Fall mit den Errungenschaften der digitalen Kommunikationstechnologie eng verbunden ist. Die Pioniere des Netzes haben bereits in frühen Entwicklungsphasen des Internets die neuen Möglichkeiten der Kollaboration genutzt und in diesem Zusammenhang auch ein praktisches Verständnis für die (ungeschriebenen) Regeln der entstehenden neuen Netzkultur ausgebildet. Denn die Stabilisierung von Handlungszusammenhängen, die hier weitgehend ohne Face-to-Face-Kontakt auskommen müssen und teilweise unter Bedingungen der Anonymität, also zwischen einander »Fremden«, bestehen, ist voraussetzungsreich und keineswegs durch norma-

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tive Strukturlosigkeit, also die Abwesenheit von Regeln, gekennzeichnet. Zustände der Anomie sind damit im Internet keineswegs ausgeschlossen, sondern spielen als Problemhintergrund eine wichtige Rolle. Es gibt mithin von Beginn an einen Bedarf an normativer Ausgestaltung des digitalen Kommunikationsraumes, was sich in frühen Phasen u.a. in der Aufstellung von Umgangsregeln – der »Netiquette« – manifestiert hat, aber darüber im Grunde weit hinausgeht. Diese Erfahrung, dass die durch Praktiken des Tauschens von Informations- und anderen Gütern, der freiwilligen Zusammenarbeit, des Spielens, der Selbstexploration und -darstellung, der kreativen Betätigung, der Erfahrung sozialer Anerkennung usw. ermöglichten Autonomiegewinne auf geltende soziale Regeln angewiesen sind, wird nun in dem Maße als Bezugsproblem politisch virulent, wie eine Vielzahl von Interessen und Anliegen sich gleichzeitig auf diese normative Ordnung der digitalen Praktiken richten: Wenn Staaten, Medienkonzerne und andere mächtige Gruppierungen daran gehen, die Regeln nach ihren Interessen und Wertvorstellungen neu zu definieren und rechtlich zu kodifizieren, ruft dies auf der Seite der Nutzer oder »Bewohner« des digitalen Kommunikationsraumes die Befürchtung hervor, dass gewonnene Autonomiespielräume von außen eingeschränkt werden und dauerhaft verloren gehen könnten, sodass die Bildung einer Gegenbewegung mit dem Ziel der wirksamen politischen Artikulation dieser Ansprüche einer autonomen Sozialraumgestaltung durchaus naheliegt. Die Piratenpartei ist nach unserer Deutung organisatorischer Ausdruck dieser politischen Bewegung (vgl. dazu die Beiträge von Helfrich/Constein und Seemann in diesem Band). Will man ihre Anliegen genauer verstehen, ist es unabdingbar, die angedeutete Problemkonstellation noch etwas detaillierter zu entfalten. Das, worum es in dem politischen Konflikt um die normative Ordnung des digitalen Kommunikationsraumes grundlegend geht – und was exemplarische Bedeutung für eine gesellschaftliche Konfliktlage haben könnte, die keineswegs auf die digitalen Medien beschränkt bleiben muss – sind kulturelle Formate der Herstellung von Reziprozität und damit von Vertrauen, von Gemeinsinn, von Friedfertigkeit, von Selbstbindungsfähigkeiten usw. unter den Bedingungen einer hochdynamischen, »globalisierten« und »digitalisierten« Spätmoderne. Es ist gewiss kein Zufall, dass in den Sozialwissenschaften gegenwärtig die Kulturanthropologie und insbesondere die Forschung zu den Zeremonien des Gabentausches große Aufmerksamkeit erfahren. Gemeinsames Thema zahlloser Studien in diesem Bereich sind die Bedingungen der Entstehung, der Stabilisierung und des Wandels kultureller Regeln. Sie erinnern daran und sensibilisieren dafür, dass jenseits von Staat und Markt, die mit den Mitteln der Autorität und des Geldes operieren, noch andere Formate sozialer Ordnungsbildung existieren, die sich einer rituell oder zeremoniell gestützten Versicherung wechselseitiger Anerkennung oder Wertschätzung verdanken. Diese im Gabentausch verdichtet zum Ausdruck kommende Form der kulturell verankerten Reziprozität spielt

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für die normative Ordnung im digitalen Kommunikationsraum eine große Rolle. Das lässt sich auch und gerade an scheinbar banalen Kommunikationsritualen in Online-Foren oder auf den Seiten sozialer Netzwerke beobachten. Denn Vertrauen und Gefühle wechselseitiger Verpflichtung müssen hier, sofern sie nicht durch eine Vorgeschichte oder ein gemeinsames Milieu – etwa das Universitätsmilieu – vorab verankert sind, aktiv dadurch aufgebaut werden, dass Interaktionspartner in Vorleistung gehen, etwas von sich preisgeben und dabei riskieren, in dieser Selbstoffenbarung enttäuscht zu werden, also vom Gegenüber oder von Dritten keine Anerkennung und keinen Schutz für dieses persönliche Engagement zu erhalten. Die in unterschiedlichen Kontexten gemachte, immer wiederkehrende Erfahrung, dass ein solches riskiertes Vertrauen erstaunlich komplexe soziale Handlungszusammenhänge zu stiften vermag, spielt im Kulturraum Internet eine zentrale Rolle. Es wird daher als ein hohes Gut wahrgenommen, das nicht leichtfertig durch andere Ordnungsmechanismen verdrängt, überformt oder gar instrumentalisiert werden darf, sondern geschützt und behütet werden muss. Nun stehen sich die verschiedenen Formate sozialer Ordnungsbildung – nennen wir sie kurz Staat, Markt und Gemeinschaft – heute aber keineswegs alternativ gegenüber. Vielmehr sind für die gesellschaftliche Konstellation, wie sie sich gerade in der jüngeren Entwicklungsgeschichte des Internets manifestiert, vielfältige Überschneidungen, also Intersektionen dieser sozialen Beziehungsmuster, charakteristisch, die sich wahlweise in neuen Konsensformen, mehr oder minder stabilen Kompromissbildungen oder aber offenen Konkurrenzsituationen niederschlagen können. In diesem Sinne hat sich zur Frage der Ausgestaltung der normativen Ordnung des digitalen Kommunikationsraums inzwischen eine politische Arena gebildet, die bisher allerdings nur begrenzt öffentlich sichtbar ist – was sich mit der Formierung der Piratenpartei freilich gerade ändern könnte. Die Konkurrenz sowie die Konsens- und Kompromissbildung zwischen den Ordnungen des Marktes und der Gemeinschaft nehmen im heutigen »kulturellen Kapitalismus« (Lamla 2008, 2010) bisweilen bizarre Formen an. So werden Kulturen der Freiwilligkeit in betriebliche Produktionsstrukturen integriert, rechtlich verbriefte Eigentumstitel massenhaft ignoriert, offene Quellcodes zur vollwertigen ökonomischen Alternative stilisiert, Freundschaften als digitale Werbefläche kapitalisiert, die Preisgabe persönlicher Eigenschaften für umfassendes Kundenprofiling ausgenutzt, die Anbahnung von Liebesbeziehungen zur kommerziellen Dienstleistung degradiert usw. Liefen die kommerziellen und die autonomen kulturellen Nutzungsweisen der digitalen Netztechnologie lange Zeit parallel, so hat insbesondere die Entwicklung zum »Web 2.0« die Schnittflächen zwischen den verschiedenen sozialen und ökonomischen Welten und ihren jeweiligen Reziprozitätsmustern in einem Maße vermehrt, dass politische Aushandlungen über die Geltungsgrenzen normativer Struktur-

Beschleunigungsphänomen und demokratisches Experiment

prinzipien – Marktfreiheit, staatliche Rechtsordnung oder gemeinschaftlich verankerte Reziprozität – unvermeidlich werden. Die Auseinandersetzungen sind bereits in vollem Gange und die Konfliktlinien dabei nicht immer klar zu erkennen. Jedenfalls stützen die staatlichen Regierungen die Kapitalisierung der kulturellen Autonomiepotentiale des Netzes nicht ohne Einschränkung, sondern sehen die Machtzuwächse großer ökonomischer Player zumindest in Europa mit gewissen Sorgen. Die Piraten nehmen nun in diesem Konfliktfeld eine interessante Mittelposition ein, indem sie sich auf der einen Seite an der staatlichen Rechtsetzung als politische Partei, die Abgeordnete in die Organe der Gesetzgebung wählen lässt, direkt beteiligen, wenn auch als Opposition, die sich zunächst darauf konzentriert, die Lösungsansätze der Regierungen als einseitige Parteinahme für Wirtschaftsinteressen oder als autoritären und intransparenten Missbrauch der neuen Medien für Überwachungszwecke öffentlich zu kritisieren und unter Legitimationsdruck zu setzen. Auf der anderen Seite aber gehen sie aus verschiedenen Praktiken und Communitys der Selbstorganisation im Internet hervor, wobei ihnen als politischer Interessenvertretung die Potentiale dieser autonomen Formen der Ordnungsbildung nicht nur klientelistisch am Herzen liegen, sondern auch als Fixpunkte ihrer politischen Bewährung erscheinen. Schon aus dieser Zwischenposition heraus wird verständlich, warum sich die Piraten der Erneuerung der Demokratie – verstanden als Vermittlung und Versöhnung der Prinzipien kultureller Autonomie und staatlicher Rechtsetzung in Fragen der Ausgestaltung normativer Ordnungen – verschreiben müssen. Ob das Konzept der »Liquid Democracy« dafür bereits die geeignete Lösung bietet, bleibt in der hier skizzierten »Substanzdimension« ebenso offen wie in der oben skizzierten Prozessdimension: Über den Ausgang des demokratischen Experiments wird nur der politische Prozess selbst Auskunft zu geben vermögen. Die Piraten müssen dabei die Frage beantworten, ob es ihnen vordringlich um ein prozedurales Demokratiekonzept geht, mit dem sie auf generalisierbare Phänomene der Entfremdung vom politischen Prozess reagieren, oder um substanzielle Neuordnungs- und Aushandlungsprobleme im digitalen Zeitalter – oder aber um beides zusammen, insofern nämlich die Sicherung der Autonomiepotentiale des Netzes prozedurale Innovationen unvermeidlich werden lässt.

4. D EMOKR ATIEE XPERIMENT IN Z EITEN GESELLSCHAF TLICHER B ESCHLEUNIGUNG Die im Zuge der politischen, ökonomischen und digitalen Umwälzungen noch einmal beschleunigte Moderne kann den Piraten zum Verhängnis werden, wenn die neue Partei über die Konzentration auf flüssige, als technologisch gestützte konstitutionelle Generallösungen für alle möglichen politischen Wil-

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Jörn Lamla und Hartmut Rosa

lensbildungs- und Entscheidungsfindungsprobleme verstandene Prozeduren ganz vergisst, durch welche materiale Problemkonstellation sie selbst auf den Plan gerufen wurde. Dem politischen Regelungsbedarf, den die eigendynamischen Entwicklungen und Überschneidungen von soziokulturellen und ökonomischen Strukturprinzipien im digitalen Kommunikations- und Interaktionsraum anzeigen, also der Anforderung, normative Ordnungen in verschiedenen Zonen des Internets zwischen Markt, Staat und Gemeinschaft so neu auszuhandeln und zu verankern, dass sie die Zugewinnmöglichkeiten an kollektiver und individueller Autonomie zu sichern helfen, wird man durch eine Diskussion über die Instrumente einer digitalisierten Demokratie allein nicht gerecht werden. Experimentelle Erweiterungen der Demokratie sind aus Sicht einer pragmatistischen Demokratietheorie (Dewey 1996) durch das Auftreten systematischer Nebenfolgen von Praktiken motiviert, die Netzwerke von (positiv bzw. negativ) Betroffenen und Beteiligten erzeugen und eine öffentliche Suche nach neuen kollektiven Regulierungen – d.h. nach einer staatlichen Innovation – für diese Interdependenzgeflechte in Gang setzen. Das lässt sich u.a. an Versuchen zur Ausweitung von Demokratie nachvollziehen, die der globalen Einhegung sozialer, ökonomischer und/oder ökologischer Nebenfolgen von ungezügelten Marktpraktiken dienen – und sei es auch nur durch neue Verantwortungsappelle an Unternehmen und Konsumenten. Demokratie kann dabei niemals nur als leere Form, sondern muss immer auch als Lebensform gedacht werden, beinhaltet also Prozeduren und Regularien, Partizipationsangebote, Aushandlungsarenen und Repräsentationsbeziehungen, die durch die jeweiligen Sachlagen konkreter Problemkonstellationen und ihre gesellschaftlichen Akteursnetzwerke vermittelt sind, an deren zustimmungsfähiger Neuversammlung (Latour 2010) sie sich letztlich bewähren müssen. Ein solcher Vermittlungszusammenhang ist im Falle der Piratenpartei zwar keineswegs ausgeschlossen, aber noch nicht klar genug zu erkennen. Die größte und wichtigste Herausforderung der Piratenpartei wird es daher zukünftig sein, ihre experimentellen Vorschläge für die Ausweitung von Demokratie im konkreten Problemzusammenhang zu entwickeln. Sie muss aufzeigen, wie sich die »Liquid Democracy« als staatliche Innovation zur Lösung der gesellschaftlichen Neuordnungsprobleme im digitalen Kommunikations- und Interaktionsraum nicht nur anbietet, sondern daran auch tatsächlich als legitimations- und effizienzpolitisch überlegen erweisen kann. Das lässt sich nur an echten Konfliktkonstellationen und nicht durch ein rein formales institutionelles Design klären. Erst wenn ein solcher Test durchlaufen wurde, sollte darüber nachgedacht werden, inwiefern dieses neue Paradigma der Demokratie seine Innovationskraft auch in anderen gesellschaftlichen Problembereichen mobilisieren könnte und sollte. Andernfalls droht die Partei, aufs Neue nur leere politische Versprechen, also Utopien im schlechten Sinne, zu produzieren, bei denen sich am Ende herausstellt, dass die Prozeduren der »Liquid Democracy«,

Beschleunigungsphänomen und demokratisches Experiment

anstatt zu beschleunigen, die Demokratie womöglich durch weitere Anforderungen verlangsamen, von denen am Ende niemand so richtig weiß, warum sie nötig geworden sind. Dass sie technisch möglich geworden sind, dürfte dann vielen als Erklärung nicht mehr genügen.

L ITER ATUR Dewey, John (1996 [1927]): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Bodenheim. Lamla, Jörn (2002): Grüne Politik zwischen Macht und Moral. Frankfurt a.M./ New York. Lamla, Jörn (2008): Markt-Vergemeinschaftung im Internet. Das Fallbeispiel einer Shopping- und Meinungsplattform. In: Hitzler, R./Honer, A./Pfadenhauer, M. (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnographische Erkundungen. Wiesbaden, S. 170-185. Lamla, Jörn (2010): Kultureller Kapitalismus im Web 2.0. Zur Analyse von Segmentations-, Intersektions- und Aushandlungsprozessen in den sozialen Welten des Internets. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung (ZQF), Jg. 11, H.1, S. 11-36. Lamla, Jörn (2011): Ist eine Theorie politischer Bewegungen möglich? In: European Journal of Sociology/Archives Européennes de Sociologie, Volume 52, Issue 03, S. 489-496. Latour, Bruno (2010): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a.M. Murphy, Detlef/Roth, Roland (1987): In viele Richtungen zugleich. DIE GRÜNEN – ein Artefakt der Fünf-Prozent-Klausel? In: Rucht, D./Roth, R. (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M./New York, S. 303-324. Pettenkofer, Andreas (2010): Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen. Frankfurt a.M./New York. Raschke, Joachim (1993): Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Köln. Rosa, Hartmut (2012): Politische Weltbeziehungen unter den Bedingungen sozialer Beschleunigung: Die Krise der Demokratie. In: ders.: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Berlin, S. 357-373.

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Protestkulturen und Parteigründungen — das Beispiel der Piraten Sigrid Baringhorst und Mundo Yang »Wir, die Digitalen Konditoren in der Hedonistischen Internationale haben heute in einer einzigartigen Kooperation mit Anonymous in der #OpCreamStorm Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg getortet.« 1

– So das digitale Bekennerschreiben zum Sahnetortenangriff auf den Exverteidigungsminister in Berlin Friedrichshain am 2. Februar 2012. Gleich daneben ist der Videomitschnitt des Vorfalls per Mausklick abspielbar: Das Gesicht verdeckt mit der bekannten Maske der Anonymous-Aktivisten und bewaffnet mit Kamera und Torte nutzen die hedonistischen Aktivisten die halböffentliche Kaffeehaus-Sphäre für einen Überraschungscoup mit SchwarzwälderkirschtorteGeschmack. Gestört wird auf diese Weise ein informelles Gespräch zwischen dem Auslöser der Copy-Gate-Affäre und dem Referenten der Berliner Piratenpartei Stefan Urbach. Eben dieser wird sich später im Stern von der Aktion distanzieren: »Das mit der Torte hätte nun wirklich nicht sein müssen.«2 Die »Operation Cream Storm« sorgte erst im Internet und kurze Zeit später auch in den klassischen Medien für breite Resonanz. Auf humorvolle Weise wurde damit publik gemacht, dass ausgerechnet jener Ex-Bundesminister, der seinerzeit durch Internetaktivisten mit Hilfe des Guttenplag-Wiki zu Fall gebracht worden war und der sich seinerzeit als Befürworter von Internetzensur profilierte, nun ausgerechnet mit Hilfe der Piratenpartei Ansehen und Legitimität in der Öffentlichkeit wiederzuerlangen suchte.

1 | Online unter: http://hedonist-international.org/?q=de/node/1161. 2 | Online unter: http://www.stern.de/digital/online/anschlag-aus-der-tiefkuehltruheguttenberg-von-netzaktivisten-getortet-1781675.html.

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Ohne das Berliner Spaß-Event überbewerten zu wollen, so wird an dieser Episode doch ein grundlegendes Dilemma erkennbar. Denn offen bleibt die Frage, wo in den Grauzonen zwischen digitaler Protestkultur auf der einen und pragmatischer Parteipolitik auf der anderen Seite sich die Piraten in Zukunft verorten werden. Neue Parteien entstehen, wenn im vorhandenen Parteienspektrum relevante Interessen nicht angemessen repräsentiert sind. Mit der Artikulation und Bündelung bis dahin vernachlässigter Interessen ist oft auch ein politisch-kultureller Wandel verbunden, der über die schlichte Repräsentation neuer Wertorientierungen hinausgeht. Bevor neue Parteien gegründet werden, werden vernachlässigte Issues und Interessen von Protestbewegungen adressiert und von außen an das politische Entscheidungssystem herangetragen. Dies zeigt die Geschichte der Sozialdemokratie wie der Grünen, und ähnlich verhält es sich bei der Entstehung der Piratenpartei. Die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert oder die Neuen Sozialen Bewegungen ab den 1970er Jahren protestierten nicht nur, um vernachlässigten Problemwahrnehmungen, Wertvorstellungen und Bedürfnislagen öffentliches Gehör zu verschaffen. Zugleich ging es ihnen auch um die Herausbildung neuer Lebensstile und Organisationsformen, und eben diese politisch-kulturellen Wandlungsprozesse strukturierten wiederum die organisatorische und ästhetische Gestalt jener Parteien, die aus diesen beiden Protestkulturen hervorgingen. Angemessen lassen sich Parteigründungen daher nur vor dem Hintergrund der ihnen vorausgehenden Protestkulturen und politisch-kulturellen Wandlungsprozesse verstehen. Mit Protestkulturen werden sowohl die politischen Anliegen und Deutungsmuster als auch die Strukturen der Protestorganisationen wie der ästhetischen Formen des Widerstands erfasst. Dabei gehen wir von der These aus, dass der Wandel politischer Protestkulturen mit Veränderungen der Medienkultur und damit mittelbar mit Entwicklungen in der Medientechnik einhergeht. So beruhte die Arbeiterprotestkultur im Umfeld der SPD wie der Gewerkschaften auf der massenhaften Produktion von Plakaten und Flugschriften. Solche printmedialen Erzeugnisse ermöglichten die Entstehung von Arbeiterbildungsvereinen und Büchergilden. Auch entstanden politische Großbürokratien, die zu massenhaften Versammlungen, Protestaktionen und Streiks mobilisierten. Diesen starren Strukturen und tradierten Massenritualen setzten die Neuen Sozialen Bewegungen stark dezentrale und basisnahe Netzwerke von kleineren Organisationen entgegen. Diese neuen Strukturen wurden der gestiegenen Vielfalt politischer Anliegen und Identitäten (Feminismus, Umweltpolitik oder Dritte-Welt-Solidarität) gerecht und die damit einhergehenden neuen politischen Lebensstile wurden vor allem mit Hilfe eines breiten Spektrums alternativer Medien entfaltet. In Abgrenzung zur Übermacht kommerzieller wie staatlicher Massenmedien schufen die Neuen Sozialen Bewegungen eigene mediale Räume zur Entfaltung ihrer spezifischen kulturell-ästhetischen Artikulationsformen.

Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten

Im Zuge der Entwicklung und Verbreitung digitaler Medien entstand dann ab den 1990er Jahren eine neue Protestkultur im Internet. Einige innovative Merkmale – neue Deutungsmuster, Milieuverankerungen wie Organisationsund Partizipationspraktiken – sollen im Folgenden skizziert werden. Abschließend wird die Frage nach dem eingangs angesprochenen Spannungsverhältnis zwischen den Praktiken netzbasierter Protestkulturen und der nunmehr parlamentarisch arbeitenden Partei der Piraten diskutiert.

D AS N E T Z ALS P ROTESTMILIEU MIT EIGENEN P ROTESTISSUES Zweifelsohne prägen jene Generationen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, die digitalen Protestkulturen. Diese Digital Natives bewegen sich mit hoher Selbstverständlichkeit durch die Vielzahl der Begegnungs- und Handlungsräume, die das Internet bietet. In den verschiedenen digitalen Mediascapes, seien es Blogosphäre oder die Welt der sozialen Netzwerke, tummeln sich mittlerweile viele unterschiedliche Arten von Internetaktivisten: Da sind Programmierer, die für Freie Software oder für Open Source eintreten (Dobusch/Huber 2011; Eidenberger/Ortner 2011); Hacker, die ihr Tun auch als ethisch motivierten Protest verstehen (Coleman 2011). Wikipedisten, die an kostenlosen Enzyklopädien arbeiten, um allen Bürgern einen freien und umfassenden Zugang zu Wissen zu ermöglichen (vgl. Stegbauer 2009; Pentzold et al. 2007). Aber jenseits der öffentlichen Wahrnehmung einer Jungmännerkultur basieren Protestkulturen im Internet auch auf feministischen Kollektiven wie Mädchenmannschaft3 oder auf Bloggerinnen wie Julia Seeliger4 oder Kirsten Brodde5 . Quer durch die Gesellschaft hindurch entstehen also zunehmend Protestpotentiale im Internet. Ermöglicht hat dies vor allem die Wende vom Web 1.0 zum Social Web. Waren früher Programmierkenntnisse unverzichtbar, um nicht nur passiv, sondern auch aktiv im Netz zu agieren, hat das Social Web die Leitfigur des proaktiven Medienamateurs ermöglicht. Der »produser« bzw. »Produtzer« (vgl. Bruns 2010) verweist auf eine digitale DIY-Kultur, die als vorpolitische Sphäre auch neue Protestpotentiale hervorgebracht hat. Bei aller Unterschiedlichkeit lassen sich doch einige Gemeinsamkeiten digitaler Protestmilieus identifizieren. Da ist zunächst die starke Orientierung auf den persönlichen Alltag und die individuelle Lebensführung, in der die Teilnahme an Markt und Politik noch selbstverständlich mit persönlichen Belangen verflochten sind. Protestpotentiale ergeben sich hier vor allem, wenn 3 | Vgl. http://maedchenmannschaft.net. 4 | Vgl. http://seeliger.cc/. 5 | Vgl. http://www.kirstenbrodde.de.

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die freie Entfaltung des eigenen Lebensstils gestört wird. Breite Resonanz erregte der vielzitierte Peretti-Vorfall 2001.6 Der Nike-Konzern versprach damals im Rahmen einer Konsumenten einbindenden Marketing-Aktion, auf Wunsch für jeden Kunden ein individuell gestaltetes Paar Turnschuhe herzustellen. Dieses Versprechen blieb uneingelöst, als der MIT-Student Jonah Peretti als NikeKunde ein Paar Sneaker mit dem Schriftzug »sweatshop« orderte, um auf die Arbeits- und Produktionsbedingungen bei der Herstellung der Turnschuhe aufmerksam zu machen. Der Peretti-Fall, der kurze Zeit später weltweit bekannt wurde, zeichnete damit das Muster vor, auf welche Art und Weise im Internet Proteste ins Laufen kommen. Die Kunst besteht darin, die persönliche Rolle, gerade auch als Konsument, mit der aktiven Produktion von Medieninhalten zu verbinden, um auf diese Weise eine breite Internetöffentlichkeit zu erreichen. Nach diesem Produsage-Muster entstehen im Internet regelmäßig punktuelle Aufstände von Medienkonsumenten, und diese scheinen nur schwer kontrollierbar zu sein. Der sogenannte Streisand-Effekt verdeutlicht den Umstand, dass so mancher Kontrollversuch das genaue Gegenteil von dem bewirken kann, was er eigentlich zum Ziel hat. Geprägt wurde dieser Begriff, nachdem die Anwälte der Prominenten Barbara Streisand 2003 den Fotografen Kenneth Adelman und die Website Pictopia.com erfolglos auf 50 Mio $ Schadensersatz verklagten, nachdem diese – nach eigenem Bekunden unbeabsichtigt – ein Foto ihres Hauses ins Internet gestellt hatten.7 Nach Bekanntwerden der Klage zog das bislang kaum beachtete Foto allerdings erst recht breite öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und führte später zur Begriffsprägung »Streisand Effect« durch den Blogger Mike Masnick.8 Nach diesem Muster entstand 2008 auch das Protestmodell Anonymous. Auf Drängen der Church of Scientology löschte YouTube damals einen Videoclip, in dem das prominente Mitglied Tom Cruise für den Beitritt in die Organisation warb. Das für interne Rekrutierungszwecke verwendete Video gelangte nach Ansicht von YouTube illegal ins Internet. Doch der Kontrollversuch geriet zum Boomerang. Nicht nur sorgten kurze Zeit später ins Netz gestellte Kopien des Werbefilms für Hohn und Spott bei einem rasant wachsenden Publikum. Vielmehr inspirierte der Zwischenfall die Gründung von Anonymous. In Anlehnung an den Antihelden in Alan Moores Comicbuch V for Vendetta (Moore 2005) wurde auf dem Chatforum 4chan.org der Protestavatar »A for Anonymous« entwickelt. Masken aus dem Merchandising des Kinofilms zum

6 | Siehe Jonah Peretti in: The Nation vom 22.03.2001, online unter: http://www. thenation.com/article/my-nike-media-adventure. 7 | Vgl. http://www.californiacoastline.org/streisand/lawsuit.html. 8 | Vgl. http://www.techdirt.com am 05.01.2005.

Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten

Alan-Moore-Comic verfolgten seither Scientology mit Hackeraktivitäten und Straßenprotesten.9 Protestmodellen wie Anonymous ist dabei ihr »ideologisch dünner«, punktueller und zeitlich begrenzter Charakter gemein, wie Lance Bennett bereits 2004 vorausahnte (Bennett 2004). Als Protestmilieu der Medienkonsumenten bietet das Internet vor allem Raum für kurzzeitige kampagnenförmige Proteste, die selten in umfassende Ideologien oder Parteiprogramme integriert werden. So protestieren die spanischen Indignados gegen die etablierten Parteien, ob links oder rechts, und wollen damit vor allem auf die prekäre sozio-ökonomische Lage der jungen Generation aufmerksam machen. Auch die immer wieder sporadisch auftretenden Anonymous-Proteste ergeben letztlich kein politisches Profil. Mal greifen Anonymous-Hacker im Zuge der tunesischen Revolution die staatliche Zensurbehörde an (vgl. Ben Mhenni 2011), mal infiltrieren »Anons« Unternehmen oder Behörden, denen Internetzensur vorgeworfen wird. Vielfach beteiligen sich aber technisch kaum versierte junge Internetnutzer, denen es in Anlehnung an die Welt der Computerspiele schlicht um den »epic win« geht, also um einen kurzen, intensiven Moment öffentlichen Ruhms. Internetprotestmilieus sollten dabei nicht defizitär verstanden werden als soziale Bewegungen in spe, denen es noch an einer ausgereiften politischen Ideologie und einer klaren Identität mangelt. Digitale Protestmilieus sind bewusst »hands on« und verzichten auf das Ausdiskutieren politischer Wertgrundsätze. Gerade das macht die Anziehungskraft der Occupy-Mobilisierungen aus, die von dem kanadischen Adbusters-Magazin ins Leben gerufen, aber keinesfalls von diesen politisch-moralisch gesteuert werden.10 Dahinter verbirgt sich letztlich der Glaube an die »Weisheit der Vielen« (Surowiecki 2004). Intelligente digitale Schwärme sind das Denkmodell, das so unterschiedliche Engagementformen wie Guttenplag, Vroniplag, die Programmierung von Open-Source-Software oder die Herausbildung einer auf Creative Commons basierenden Wissenskultur inspirieren. In Anlehnung an Richard Sennetts Konzept des Handwerkers (2008) könnte man sagen, dass das digitale Protestmilieu durch und durch vom Arbeitsethos jener High Pro9 | Genauere Informationen zur Entstehung und Entwicklung von Anonymous sind in den Arbeiten von Gabriella Coleman dokumentiert. Vgl. z.B.: http://mediacommons. futureofthebook.org/tne/pieces/anonymous-lulz-collective-action. 10 | Adbusters sind bekannt für kreatives »Culture Jamming«. Darunter versteht man medienaktivistische Strategien der symbolischen Subversion dominanter Konsum- und Medienkulturen. Vor allem durch Verfremdung von Markensymbolen sollen Zwänge und Widersprüche kapitalistischer Konsumgesellschaften offengelegt werden (vgl. Baringhorst i.E.). Ein Beispiel ist die konsumkritische Idee »Buy Nothing Day«. Indem kollektiv für einen Tag das Shopping ausgesetzt wird, sollen die Auswüchse und Überflüssigkeit des Konsumkapitalismus verdeutlicht werden.

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fessionals durchzogen ist, auf deren Schultern letztlich die neue computergestützte Medienwelt ruht. Im Mittelpunkt stehen also jene, deren handwerkliche Fähigkeiten, als Grafikdesigner_in, Programmierer_in, Hacker_in, Blogger_in, Internetjournalist_in oder YouTube-Popstar in spe, letztlich den Aufschwung des Internet mitbegründet haben. Nicht jene Gesichter angefangen von Guttenberg bis hin zum Bundespräsidenten Wulff, die für personifizierte Exzellenz und charismatische Autorität stehen, sind die Idole dieser Protestkulturen, sondern die vielen freischaffenden kreativen Könner hinter den Kulissen der Internetökonomie. Deren Leistungen schaffen Gemeingüter, die potentiell allen zugutekommen, und mittlerweile sind mehr und mehr kulturschaffende Internetaktive in der Lage, ihren Anspruch auf eine kreative Mashup-Kultur auf hohem intellektuellen Niveau zu rechtfertigen und damit zugleich gegen die traditionelle Vorstellung geistigen Eigentums zu verteidigen (vgl. z.B. Gehlen 2011). Ausgehend von diesem Verständnis einer professionell orientierten Produsage-Kultur lässt sich ansatzweise klären, welches Milieu die Piraten mit ihrem vagen Freiheitsverständnis ansprechen. Kontrolliert, bevormundet oder unterdrückt fühlen sich die Digital Citizens, sofern dieser Kern einer Produsage-Kultur durch staatliche oder wirtschaftliche Eingriffe beschränkt zu werden droht. Damit sind zugleich die wesentlichen Protestissues abgesteckt. Angefangen von Widerständen gegen digitale Vorratsdatenspeicherung und Online-Hausdurchsuchungen bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung von Filesharing: Mittlerweile mobilisiert das digitale Protestmilieu regelmäßig gegen Versuche, die freie Wissenskultur im Internet einzuschränken. Für die Herausbildung der Piratenpartei war hierbei die Zensursula-Kampagne 2009 von entscheidender Bedeutung, wie Christoph Bieber herausgearbeitet hat.11 Aber auch jenseits der Piratenpartei wird heute z.B. gegen das vorerst auf Eis liegende ACTA-Abkommen (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) protestiert, welches geistige Eigentumsrechte auf Kosten der freien und kreativen Wissensproduktion durchzusetzen sucht. Das steht scheinbar im Widerspruch zur viel kritisierten Forderung nach »totaler Transparenz«12 , die bisweilen als vollständiger Lebensentwurf, z.B. in der Post-Privacy-Bewegung, propagiert wird. Doch eigentlich scheint es dem digitalen Protestmilieu nicht um die befürchtete Abschaffung der Privatsphäre samt und sonders zu gehen. Vielmehr sollen Informationsmonopole vor allem auf staatlicher Seite aufgebrochen werden, und zwar zugunsten einer offenen, partizipativen und kollaborativen Wissenskultur, die gemeinwohlorientierte Lösungen jenseits der bekannten Organisationsmodelle arkan arbeitender Expertenkulturen bereitstellt. 11 | Online unter: http://carta.info/34573/im-maschinenraum-der-zensursula-kam pagne/. 12 | Vgl. Byung-Chul Han, online unter: http://www.zeit.de/2012/03/Transparenz gesellschaft.

Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten

D AS N ETZ ALS O RGANISATIONSSTRUKTUR POLITISCHEN P ROTESTS Nachdem in den 1980er und 1990er Jahren vor allem eine Institutionalisierung und Professionalisierung des Protestgeschehens zu verzeichnen war, knüpfen webbasierte Protestkulturen wieder stärker an radikal basisdemokratische Mobilisierungsweisen an. Gegen das straffe und geschlossene Organisationsmodell Greenpeace, das vor allem im Fernsehzeitalter strategische Handlungs- und Reaktionsfähigkeit sicherte (vgl. Baringhorst 1998), setzen sie offene, flexible, horizontale und dezentrale Formen der Vernetzung kollektiver, aber vor allem auch individueller Akteure. »Vernetzt Euch«, so der Titel der bekannten Revolutionsbloggerin Lina Ben Mhenni, in dem sie der autoritären Informationskontrolle die Beherrschung neuer soziale Netzwerke durch die »modernen jungen Leute« gegenüberstellt (Ben Mhenni 2011: 44). »Das Netz ist so mächtig, weil es unmittelbar reagieren und unbegrenzt viele Menschen miteinander verbinden kann. Sobald jemand eine Idee, eine Information ins Netz speist, wird sie umgehend empfangen. Andere Internauten können sich gleich anschließen, den Informanten unterstützen, der sich gegen ein Unrecht wehrt. Das Netz ist wie geschaffen, um Solidarität zu üben« (ebd.).

Die Nutzung von Social-Media-Anwendungen wie Facebook, Blogs oder Twitter fördert eine größere Offenheit von Protestnetzwerken für Feedback und Kollaboration und damit auch eine größere Transparenz interner Kommunikationsund Entscheidungsprozesse. Statt top-down strukturierter bewegungsinterner Entscheidungsfindung und exklusiver Kommunikationszugänge erscheint die interne wie externe Kommunikation egalitär und oft grenzenlos inklusiv. Mit der Offenlegung interner Kommunikationsprozesse im Netz wird die tradierte Trennung zwischen Binnen- und Außenkommunikation von Protestorganisationen obsolet. Dies verdeutlicht ein Fall aus der Schweiz. Der Unternehmerverband Economiesuisse startete eine Kampagne im Namen von 200 Unternehmen, um öffentlich gegen das anstehende Gesetz zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes in der Schweiz vorzugehen. Daraufhin stieß der Medienaktivist Andreas Freimüller eine Social-Media-Kampagne an, und Schwärme empörter Internetnutzer und Unternehmenskunden sorgten dafür, dass zunächst der Outdoor-Bekleidungshersteller Mammut und später der Mobilfunkanbieter Sunrise aus der Kampagne ausstiegen. Economiesuisse stellte seine Kampagne schließlich ganz ein, was die Protestierenden als Erfolg für sich beanspruchen. Der Fall legt nahe, dass Internetprotestkulturen ohne langen Vorlauf und Organisationsstrukturen, die klar zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern trennen, mittlerweile selbst ressourcenstarken Verbänden die Stirn bieten können. Damit einher geht die häufig anarchistisch anmutende Ablehnung von

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Repräsentationsnotwendigkeiten. Seien es die #unibrennt Studierendenproteste im Winter 2009/2010 oder die Occupy-Bewegung aus dem Jahr 2011, stets scheint die »Nichtrepräsentation« ein zentrales Organisationsprinzip neuer Formen des Protests zu sein. Jede und jeder, so zwei Aktivisten der Wiener Studentenproteste aus dem Jahr 2009, hat die Möglichkeit, »auf gleicher Ebene aktiv teilzuhaben« (Chen/Liwani 2011: 53). Netzaktivisten sprechen für sich, nicht für andere. Advokatorische Rollen widersprechen der Ablehnung etablierter Sprecherrollen. Alleingänge und Ausbrüche aus der egalitären Netzstruktur zugunsten stärker institutionalisierter und hierarchischer Handlungsformen werden, wie die Reaktionen auf die Institutionalisierung von »Die digitale Gesellschaft«, als Kampagnenorganisationen für netzpolitische Anliegen durch den bekannten Blogger Markus Beckedahl dokumentieren, kritisch beäugt und zurückgewiesen.13 »You don’t need NGOs. You don’t need governments. You can do this by yourself«, so die Antwort eines Netzaktivisten auf die Frage nach seiner Definition von »Cyberactivism« (zit.n. Baringhorst et al. 2010: 394). Überträgt man Wolfgang Streecks Beschreibung des Spannungsverhältnisses zwischen Mitglieder- und Einflusslogik in politischen Verbänden (1987) auf digitale Protestkulturen, so zeigt sich eine deutliche Umkehr der Tendenzen der 1980er Jahre: Aus den Erfahrungen der Ohnmacht von Basisinitiativen und der Erschöpfung individueller Engagementressourcen resultierte damals eine stärkere Betonung der Einfluss- gegenüber der Mitgliederlogik mit den bekannten Folgen einer stärkeren Institutionalisierung von Protestbewegungen in Protestorganisationen. Während Beteiligungspflichten und -rechte der Basis gemindert wurden, verstärkte sich die Herausbildung professioneller Eliten im Sinne von PR-Profis oder Lobbying-Experten. Demgegenüber schlägt das Pendel der Protestkulturen nun in den letzten Jahren wieder deutlich in Richtung auf eine Stärkung demokratischer Partizipationschancen individueller Unterstützer, auch wenn dies, wie etwa im Fall der deutschen Occupy-Bewegung, zulasten der politischen Einflusschancen basisdemokratischer, inklusiver offener, Netzwerke geht. Während Protestbewegungen wie die deutsche Occupy-Bewegung oder die Studierendenbewegung #unibrennt Medienwirksamkeit und damit gesellschaftlichen und politischen Einfluss den Prinzipien einer konsequent umgesetzten internen Demokratie der Netzwerke opfern, gehen netzbasierte Geheimbünde wie WikiLeaks einen entgegengesetzten Weg. Die internen Querelen um die Macht des charismatischen Gruppenführers Julian Assange lassen berechtigte Zweifel aufkommen, ob bei Informalität von Entscheidungsregeln in geschlossenen Netzwerken Strukturen herausgebildet werden können, die ein Zerbrechen der Organisation an internen Reibungsverlusten verhindern können. Öf13 | Siehe hierzu die Antworten der Digitalen Gesellschaft auf ausgewählte Kritikpunkte: http://digitalegesellschaft.de/uber-uns/faq/.

Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten

fentlich infrage gestellt wird, inwiefern es legitim ist, Transparenz zu fordern, ohne selbst transparent zu sein, und wo genau die Grenzen der Legitimität von Whistleblower-Aktivitäten liegen. Nicht nur Geheimbünde wie WikiLeaks belegen, dass Protest im Netz nicht einfach mit basisdemokratischen, inklusiven Netzwerken mit starker Userbeteiligung und hoher Entscheidungstransparenz gleichgesetzt werden darf. Autoren, die Protestpolitik im Netz mit der selbstbestimmten Politik individualisierter Netzwerke gleichsetzen, verkennen auch den wachsenden Erfolg professionell arbeitender Kampagnenorganisationen im Netz. Inzwischen gibt es zahlreiche Organisationen, die nach dem amerikanischen Vorbild MoveOn schlagkräftige, Top-down-gesteuerte, kampagnenförmige Proteste im Netz mobilisieren. Campact auf nationaler Ebene und Avaaz auf transnationaler Ebene haben inzwischen einen umfassenden Stamm von Usern aufgebaut, die blitzschnell zu vielfältigen Protestaktivitäten bewegt werden können. Die Gründung von »Digitale Gesellschaft« sowie die aktuellen Überlegungen zur Schaffung einer europäischen Kampagnenorganisation nach Campact-Vorbild zeugen davon, dass basisorientierte Netzwerkorganisationen zwar den Vorzug breiter Inklusion und Aktivierung von Unterstützern haben, großer und dauerhafter politischer Einfluss jedoch inzwischen eher von professionell arbeitenden, ressourcenstarken Kampagnenspezialisten erwartet wird.

D IE P IR ATENPARTEI — A USDRUCK UND S PR ACHROHR NE T ZBASIERTER P ROTESTBE WEGUNGEN ? Zugespitzt auf kurze Verhinderungsformeln haben netzpolitische Protestkampagnen in Deutschland – und jüngst die Mobilisierungen gegen SOPA und PIPA in den USA – viel Resonanz in Massenmedien und Politik erzeugt. Damit haben sie wesentlich zum Erhalt individueller Handlungsfreiheiten im Netz beigetragen. Die »Zensursula«-Kampagne gegen die Einführung von Internetsperren im Netz hat 2009 das Selbstbewusstsein der deutschen Netzaktivisten maßgeblich gestärkt. Sie hat jenen Politisierungsschub ausgelöst, ohne den Entstehung und Erfolg der Piratenpartei wohl kaum möglich gewesen wären. Inwiefern es die Piratenpartei jedoch schaffen wird, über netzpolitische Fragen hinaus Protestissues zu bündeln, ist noch sehr fraglich. Im Vergleich zu den anderen aus Protestbewegungen hervorgegangenen linken Parteien gelingt es den Piraten gegenwärtig jedoch am besten, Organisationsstrukturen und Ästhetik netzbasierten Protests in parteipolitische Alltagspraktiken zu übertragen. Dies zeigt sich vor allem in der Ablehnung parteiendemokratisch geprägter Repräsentationsvorstellungen zugunsten einer individualisierten Kultur der Basisdemokratie. In dieser gilt online wie offline: Wer anwesend ist, stimmt ab. Ent-

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sprechend dem Do-It-Yourself-Kult14 des Social Web wird die Laienhaftigkeit der Selbstdarstellung der durchgestylten Selbstinszenierung von Politprofis gegenübergestellt. Auch die Experimentierfreude protestunterstützender Hacker und anderer Techies wird durch die Piraten in die Sphäre der politischen Partizipation übertragen: Demokratie wird als offener Versuch aufgefasst, die Weisheit der Vielen als Ressource zur Legitimitätssteigerung – und, wenn es gut läuft, auch zur Rationalitätssteigerung des politischen Output – zu mobilisieren. Doch nach den ersten 100 Tagen zeigt die Bilanz der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus auch die Schwächen, die eine Orientierung parteipolitischer Praxis an den Normen und Inszenierungsformen netzbasierter Protestkultur unweigerlich mitbringt. Im Alltag der politischen Protestpraxis im Netz haben sich basisdemokratische individualisierte Protestnetzwerke auf der einen und professionalisierte, hierarchische Kampagnenorganisationen wie Campact auf der anderen Seite ausdifferenziert. Während in jenen die auf Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe ausgerichtete Mitgliederlogik dominiert, geht es in diesen vor allem um Schlagkraft und politischen Erfolg. Hinter diese organisatorische Ausdifferenzierung von netzbasierter Protestpolitik geht die Parteigründung der Piraten wieder einen Schritt zurück. Denn die Piraten wollen zugleich egalitär, inklusiv und basisdemokratisch als auch politisch erfolgreich und schlagkräftig sein. Da werden interne Machtstrukturen unweigerlich zu einem dauerhaft-latenten Skandalon kritischer Parteiwächter und die kritische Selbstbespiegelung zu einer ständigen Gefahr für eine effiziente, an Einflussfaktoren ausgerichtete Parlaments- und Medienarbeit. »Kleine Torte statt vieler Worte«, so der Untertitel des YouTube-Videos #OPCreamStorm der Hedonistischen Internationale. Die Inszenierung von Politik als Laien-Spaß mag in protestkulturellen Milieus durchaus auf Resonanz stoßen, den parlamentarischen Alltag wird man mit Aktionen der Spaßguerilla kaum erfolgreich meistern können. Basisdemokratie und radikale Ästhetik sind integrale Bestandteile von politischem Protest im Netz wie auf der Straße und mit der nüchternen Sachlichkeit parlamentarischer Redekultur und pragmatischer Ausschussarbeit kaum dauerhaft in Einklang zu bringen. Insofern ergeben sich für die Piraten nicht nur Probleme hinsichtlich einer programmatischen Integration möglichst breiter und zum Teil widersprüchlicher ProtestIssues. Die oben angedeutete Spannung zwischen Inklusions- oder Erfolgsorientierung teilen politische Parteien mit Protestbewegungen. Ob die Piraten den 14 | Clay Shirky (2008) zufolge eignet sich im Social Web eine wachsende Schar von Amateuren und Laien professionelle Fähigkeiten an. Dies erfolgt zunächst individuell und auf eigene Faust, mündet jedoch häufig in massenhafte Vernetzung, und daraus resultiert gelegentlich breitenwirksames Handeln. Hierdurch gerate die tradierte Trennlinie zwischen Professionellen und Amateuren mehr und mehr in die Krise.

Protestkulturen und Parteigründungen – das Beispiel der Piraten

gleichen parlamentarischen Weg gehen wie frühere Protestparteien und den politischen Erfolg am Ende höher bewerten als eine möglichst breite und umfassende Mitglieder- und Unterstützerinklusion ist noch unklar. Ganz auflösen werden sie dieses Spannungsverhältnis jedoch ebenso wenig wie frühere Protestparteien.

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Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten? Karl-Rudolf Korte

Die Geschichte handelt von einem Erweckungserlebnis. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Altmaier, beschrieb am 13. Oktober 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine neue ganz persönliche Faszination als User der sozialen Netzwerke, konkret sein Twitter-Erlebnis. Wenige Tage zuvor waren die Piraten erstmals in ein deutsches Parlament – den Berliner Senat (18.09.2011) – eingezogen. Die besondere Aufmerksamkeit dieses Artikels hing nicht mit dem Ort der Veröffentlichung zusammen, denn die FAZ hat sich seit Jahren zum Vorreiter von klassischen Nerd-Themen gemacht. Brisanz erhielt das Erweckungserlebnis durch den lernenden Gestus der Aneignung: Ein politisch wichtiger Vertreter der etablierten bürgerlichen Politik beschrieb aufklärerisch und emotional zugleich, was er über seine neue Twitter-Nutzung gelernt hatte. Plötzlich war ihm klar geworden, dass er bislang ein sehr instrumentelles Verhältnis zur Internetwelt besaß. Er war professioneller Anwender und Nutzer auf hohem Niveau. Jetzt war er aber Mitglied einer sozialen Netzgemeinschaft geworden und hatte erlebt, dass Online eine vollkommen neue Arena der Politik bedeuten kann. Er schreibt: »Die Wirklichkeit des weltweiten Internet verändert die Bedingungen politischer Kommunikation von Grund auf, aber auch das materielle Konzept von Demokratie und Partizipation« (FAZ vom 13.10.2011). Nicht der Befund ist neu, aber die Aneignung dieser Konsequenzen im politischen Alltag eines Spitzenakteurs der CDU. Der Altmaier-Effekt steht somit exemplarisch für eine Situation, in der sich die bisherige bürgerliche Politik plötzlich selbst reflektiert auf dem Prüfstand sieht. Es geht nicht um inhaltliche Revisionen, um neue Politikfelder oder die Verteidigung eines bürgerlichen Habitus. Ins Blickfeld rückt der Stoff der Politik, der plötzlich diffundiert. Wenn das »materielle Konzept von Demokratie und Partizipation«, das seinen Urgrund in der analogen Welt hat, für die digitale Welt hinterfragt wird, steht die parlamentarische Demokratie vor einer neuen formativen Phase. Reflektierte Politiker von der Einfluss-Statur eines Peter Alt-

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maier räsonieren nicht nur klug darüber, sondern werden mit Sicherheit auch lernend Konsequenzen aus dieser neuen Herausforderung ableiten. Eine Konsequenz betrifft unmittelbar den Faktor Zeit. Zeitarmut ist das Kennzeichen einer digital beschleunigten Demokratie (Korte 2011d; Korte 2012a sowie auch den Beitrag von Rosa und Lamla in diesem Band). Spitzenakteure müssen noch schneller in Echtzeit handeln. Beschleunigte Ad-hoc-Entscheidungen werden immer häufiger notwendig oder eingefordert – über populäre direkte und demoskopiegetriebene Verfahren ebenso wie mit Online- und »Gefällt mir«- Abstimmungen, welche die Politik zunehmend antreiben. So dominiert mittlerweile das dezisionistische Prinzip, das primär nur das schnelle Entscheiden, das Regieren im Minutentakt zum Ziel hat. Digitale Formate, wie sie auch die Piraten benutzen, sind dabei die neuen Taktgeber der Politik. Auf die Zeitkrise des Politischen (Korte 2011c; Nolte 2011; Rosa 2008) – entschleunigte Beratung in Parlamenten auf der einen Seite und beschleunigte Entscheidung auf der anderen Seite – muss Politik reagieren. Dies gilt auch bezüglich der Transparenz von Entscheidungsvorbereitungen in den Parteien und Fraktionen. Die moderne Parteien- und Regierungsforschung kann zeigen, wie sich unter den Bedingungen der Beschleunigung die notwendige Balance zwischen Formalität und Informalität verschoben hat (Florack/Grunden 2011). Wenn Zeit fehlt, dominiert Informalität jede Vorbereitung von politischen Entscheidungen in allen Gremien. Die Legitimität des Verfahrens ist dadurch bedroht. Die Berliner Piraten gestalten ebenso wie die Grünen bei ihrem ersten Einzug in den Deutschen Bundestag alle Fraktionssitzungen öffentlich (vgl. dazu die Website der Fraktion unter http://www.piratenfraktion-berlin.de). Um jedoch nicht nur Zeit zu gewinnen, sondern auch Entscheidungen gezielt vorzubereiten, kristallisieren sich zwangsläufig frühzeitig informelle Besprechungsrunden heraus, die den öffentlichen Sitzungen vorgelagert sind.1 Steuerungswissen über Entscheidungsvorgänge in der Politik müssen immer mit Fragen danach verknüpft werden, wer letztlich die Entscheidungen fällt, wer sie zu verantworten hat und wie transparent sie fallen (Korte 2011a). Die Piraten favorisieren als Querschnittsthema Transparenz, das ist ihr Anspruch und ihre Marke (vgl. Bieber 2012 sowie den Beitrag von Vogelmann in diesem Band). Die digitale Demokratie arbeitet nicht nur mit anderen Instrumenten als die analoge Politik. Digitale Kontexte bedeuten eine neue formative Phase für das politische Gemeinwesen und die Parteiendemokratie. Nicht nur Stile und Modi des demokratischen Entscheidens ändern sich, sondern eine neue politische Arena öffnet sich. Die Piraten begleiten diese Öffnung und sind gleichzeitig auch die Protagonisten. Im Politikmanagement um das Primat der Politik zeigt sich ein Kampf um den Ort und die Verteilung politischer Entscheidungsmacht 1 | Die Piraten übertragen die Fraktionssitzungen auch ins Netz, was technisch damals bei den Grünen noch nicht möglich war.

Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten?

(Vogl 2011). Wo ist der Ort des Politischen in digitalen Zeiten? Piraten geben darauf eine andere Antwort als die etablierten Parteien. Die traditionellen Parteien definieren die Partei und die Institutionen der Willens- und Entscheidungsbildung als Orte des Politischen. Die Piraten schließen das nicht aus, aber erweitern alles um einen ortlosen Internetraum, der mit dem Netz auch den Lebensraum dieser Generation darstellt (Niedermayer 2010; Lewitzki 2011; Blumberg 2010).

P OLITISCHES L ERNEN Parteien sind lernende Organisationen mit extrem hoher Anpassungsflexibilität gerade auch in digitalen Zeiten (Wiesenthal 2010a; Wiesenthal 2010b). Lässt sich aus dem Altmaier-Effekt ein Lernprozess ablesen? Die lerntheoretischen Ansätze stellen nicht Macht und Interesse ins Zentrum, sondern Deutungen und Ideen (Bandelow 2009). Sie fragen danach, wer lernt und was lernen auslöst. Drei Differenzierungen sind aus der Policy-Forschung nutzbar: • Das einfache Lernen bezieht sich primär auf Effektivität: Können die etablierten Parteien beispielsweise ebenso wie die Piraten Wahlkampf auch im sozialen Netz organisieren? Wie kann man den Online-Auftritt verbessern? • Das komplexe Lernen stellt Ziele und handlungsleitende Annahmen selbst infrage: Woher wissen wir als Partei, was die richtige Problemlösung ist? Wie können wir unser Wissen organisieren? Machtrelevanter wird für die Politik, wie sie mit dem proportional wachsenden Nichtwissen verfährt. Der Umgang mit Nichtwissen und Nichtwissenskulturen wird für den Politiker zur Macht- und Legitimationsressource bei politischen Entscheidungen (Böschen u.a. 2008). Kommunikationswege müssen folglich überdacht werden. • Das reflexive Lernen ist Problemlösungslernen. Wie kann eine Parteiorganisation das Lernen lernen? Wie kann man die eigene Lernfähigkeit verbessern? Ebenso wie die Grünen in ihren Anfängen agieren die Piraten mit extrem egalitärem Anspruch. Man möchte eine erwartbare Oligarchisierung (Michels) ebenso verhindern wie die Bürokratisierung (Weber). Ohne ein Delegiertensystem zählt jede Mitgliedsstimme gleich. Und das Beteiligungswerkzeug »Liquid Feedback« (Bieber 2012: 31) macht aus Kommunikation unmittelbar inklusive Partizipation. Das Organisationslernen steht somit unter Online-Vorzeichen. Die Zukunftsfähigkeit der Partei und auch der Problemlösungsansätze könnte darin bestehen, grundsätzlich lernend, fehlerfreundlich und somit stets reversibel zu handeln (Welzer 2011), was instrumentell über technologische Deliberation einfacher erscheint als über analoge Wege. Die Qualität von Entscheidungsprozessen kann sich dadurch verbessern, weil auch die Fehlerfreundlichkeit von Entscheidungen kommu-

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niziert werden müsste. Reversibilität ist online nachhaltiger zu organisieren als offline (Leggewie 2011: 175). Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch die Piraten sind sicher im Moment nicht optimal in dieser dreifachen Lernkonstellation aufgestellt. Aber optional ist ein Lernpotential sowohl bei den Piraten als auch bei den anderen Parteien mit der Parlamentarisierung der Piraten eingeläutet. Welches?

W ANDEL UND E RFOLGSBEDINGUNGEN VON P ARTEIEN Die Parteien sind stets die Begleiter des Wandels (Korte 2011b), idealerweise sind sie auch Anwalt der Bürger. Ändert sich die Gesellschaft, dann ändern sich auch Parteien (Korte 2010c). Das gilt auch jetzt für die Phänomenologie der Piraten. Sie ist die erste Partei, die historisch aus Kommunikationstechnologie und der zugehörigen Nutzerkultur hervorgegangen ist (vgl. dazu die Beiträge von Baringhorst/Yang, Dobusch/Gollatz, Hensel und Mertens in diesem Band). Alles entwickelt sich schneller als bei den Grünen – damals sozusagen noch »alt-analog«. Durch Erfahrungen lernen – dieses Konzept durchzieht den zwischenparteilichen Austausch in der deutschen Parteiendemokratie von Beginn an. Selten wurde dies jedoch so authentisch, ehrlich und explizit vorgetragen wie von Peter Altmaier. Im Regelfall agieren die Parteien eher als Themendiebe. Sie versuchen auf den Themenzug aufzuspringen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Zuletzt wurde dies drastisch von der Union nach dem FukushimaSchock vorgeführt. Alles deutete damals auf einen raschen Ausstieg aus der Kernenergie, was die Union dann auch für sich selbst reklamierte, nachdem sie einige Monate zuvor, im Herbst der Entscheidungen 2010, die Laufzeiten der Kernreaktoren noch verlängert hatte (Korte/Schoofs/Treibel 2012; Walter u.a. 2011). Ganz ähnliche Parallelen finden sich im Umgang mit ökologischen Themen. Seit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag ergrünten auch alle anderen Parteien (Müller-Rommel 1993). Dennoch sind deutliche Unterschiede zwischen der Startphase der Grünen und den Piraten zu markieren. Damals entstand Zeitgeist-inspiriert etwas Neues, was den Parteienwettbewerb erweiterte und gleichzeitig von einer graswurzelhaften Bewegung in die Parlamente führte (Switek 2012a). Heute scheint zeitlich parallel eine andere liberale Traditionspartei, die FDP, aus den Parlamenten zu verschwinden. Der Parteienwettbewerb ist metaphorisch durch ein System kommunizierender Röhren vorstellbar. Die Parteienforschung unterscheidet Erklärungsansätze, die entwicklungsgeschichtlich-parteiensystematisch (Panebianco 1988) oder aber individuell-konzeptionell (Harmel/Janda 1994) bzw. organisationstheoretisch daherkommen (Jun 2010: 28-30). Parteien sind nicht nur Machterwerbsorganisationen, sondern zugleich auch immer Problemlösungsagenturen. Wenn

Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten?

Parteien Themen der Gesellschaft machtarrogant oder machtvergessen ausklammern, öffnet sich die Chance für neue Parteien (Korte/Fröhlich 2009). Themen und Problemlösungen schaffen neue Handlungsspielräume für politische Akteure. In der Folge haben unter besonderen Bedingungen Defizitparteien eine Chance. Erfolgreich sind solche Defizitparteien, welche die Kraft besitzen, einem gesellschaftlich bedeutenden Konflikt – einem sogenannten »Cleavage« – politisch Ausdruck zu verleihen (Eith 2001). Wer Macht vom Wähler erhalten möchte, benötigt zuallererst Inhalte als Antwort. So entwickelte sich aus der grünen Bewegung eine grüne Partei. Doch in der Konsequenz übernehmen die anderen Parteien lernend die Erfolgsthemen der anderen. So landet die vormalige Erfolgspartei schnell in einer Erfolgsfalle. Als Trost bleibt häufig nur der Hinweis auf die Wähleranalyse: Wähler erkennen Authentizität und honorieren das Original, epigonenhafte Volksbelauscher können selten reüssieren. Welches neue Thema setzen die Piraten, dass die Kraft hätte, zum »Cleavage« zu werden? Das wäre ein Schlüssel für die Erfolgsbedingungen und den Wandel der Partei. Die Piraten sind eine neue digitale Bewegung. Im Zentrum steht dabei weniger die Genese eines neuen Politikfeldes, wie z.B. der Netzpolitik, als vielmehr eine neue Online-Interpretation sämtlicher politischer Prozesse. Nicht die Nutzung des Internets ist dabei von Bedeutung, sondern die Haltung der Nutzer gegenüber einem gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit. Wer in einem durch das Internet bestimmten Lebensraum wohnt, der verändert die Deutung von politischen Themen, der wählt eine andere Perspektive von Betroffenheit und der nimmt politische Relevanz anders wahr. Die digitale Lebenswelt-Perspektive ist dabei identisch mit der Politik. Attraktiver kann man kein politisches Angebot als Generationenprogramm formulieren. Ob die Piraten dafür das angemessene Personal haben, wird über den Erfolg mitentscheiden. Damit zeigt sich einmal mehr, wie sich Machtressourcen unter den Bedingungen einer Netzgesellschaft ändern. Nicht mehr Besitz stellt die neue Machtwährung dar, sondern eher Zugang. Wer bleibt als Partei zukunftsfähig, indem er neue Zugänge anbietet (vgl. hierzu die Beiträge von Seemann und Helfrich/Constein in diesem Band)?

I MITATION ALS L ERNERFOLG Den größten und wirkungsmächtigsten Beitrag für alle politischen Formate des Internets setzte der US-Präsidentschaftswahlkampf von Obama (vgl. Bieber 2010). Seitdem ist erkennbar, wie das Internet alle Spielregeln politischer Öffentlichkeit revolutioniert. Die zügige Nachahmung bezog sich im deutschen Parteiensystem von der Gestaltung der Internetauftritte zu Mitmachseiten und Formaten des Online-Wahlkampfs (Albers 2010; Bieber 2010; Kamps 2010;

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Schweitzer/Albrecht 2010). Im Vergleich zu den USA bleiben alle parteipolitischen Anstrengungen bislang in Deutschland weit hinter dem US-Modell zurück, wenngleich fairerweise mit berücksichtigt werden muss, dass beide politischen Systeme sich immer deutlicher voneinander unterscheiden (vgl. hierzu den Beitrag von Lessig in diesem Band). Welchen Anstoß geben zusätzlich die Piraten? In einigen Parteizentralen laufen wohl schon seit geraumer Zeit Tests mit Beteiligungssoftware wie »Adhocracy« oder »Liquid Feedback«. Die Grünen können am deutlichsten von sich behaupten, sowohl über die internetaffinsten Wähler zu verfügen als auch am professionellsten die Klaviatur von Online-Formaten zu beherrschen. Dass sie dennoch keinen wirklichen Zugang zu den Wählern der Piraten finden und auch eher deutlich zwischenparteilich fremdeln, belegt einmal mehr die These, dass sich mit den Piraten die Arena des Politischen gewandelt hat. Am sichtbarsten ist bislang der Lernerfolg, der durch das Politikfeld einer Netzpolitik entstanden ist. Hier haben die etablierten Parteien versucht, sehr schnell Terrain zurückzugewinnen. Schon am Tag nach der Bundestagswahl 2009 betonte Bundeskanzlerin Merkel auf einer Pressekonferenz, dass man den Dialog mit den Wählern der Piraten aufnehmen müsse (Topcu 2009). Sichtbar wurde dies besonders bei der neuartigen Policybildung zur Netzpolitik (vgl. Niedermayer 2010: 843-844; auch Roleff 2012: 19-20). Die Unionsfraktion schlug die Einrichtung einer Enquete-Kommission des Bundestages zum Thema »Internet und digitale Gesellschaft« vor (vgl. http://www.bundestag.de/ internetenquete). Mit Zustimmung der anderen Fraktionen konnte die Kommission schließlich Anfang Mai 2010 die Arbeit aufnehmen. Die FDP gründete eine Querschnitts-AG mit dem Titel »IT und Informationsgesellschaft«. Auch das Netzsperrengesetz wurde von der Regierung in der Folge für ein Jahr ausgesetzt. Besonders pointierte Akzente setzte die FDP-Bundesjustizministerin Leutheuser-Schnarrenberger (Clauß 2010; Niedermayer 2010: 844; Roleff 2012: 20). Die SPD richtete einen Gesprächskreis »Netzpolitik und digitale Gesellschaft« ein. Die Grünen entwickelten netzpolitische Leitlinien: »Digital ist besser – Für ein freies Internet«; ebenso entwickelt die CSU netzspezifische Programmelemente (Roleff 2012: 19). Neben diesem Politikfeld, dem sich nunmehr unter dem Druck der Piraten auch die anderen Parteien offensiv zuwenden, schleichen sich auffallend Formulierungen zu neuen Partizipationsformaten in die aktuelle Programmatik der Parteien (Bender 2011). Insgesamt formulieren die anderen Parteien mittlerweile deutlich, dass sie mehr Transparenz und mehr Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens wünschen (Roleff 2012: 20; siehe auch NRW Grüne 2011). Zwischenparteiliche und innerorganisatorische Konsequenzen (Switek 2012b) sind im Moment nicht zu beobachten. Noch bemüht sich keine andere Partei, die Piraten unmittelbar zu integrieren. Das WASG-Phänomen bleibt den

Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten?

Piraten erspart, weil ihr Wählerpotential eindeutig heterogener daherkommt als seinerzeit bei der »Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit«. Noch rekrutieren die Piraten vor allem Nichtwähler, Erstwähler und durchaus eher Wähler vom linken Parteienspektrum – wenngleich auch Wählerwanderungen aus dem Unionslager erkennbar sind (Köcher 2011; Forschungsgruppe Wahlen 2011).

W AS KÖNNEN DIE ANDEREN NOCH LERNEN ? Konkrete Lernerfolge der etablierten Parteien durch die Parlamentarisierung der Piraten sind erst spärlich nachweisbar. Doch machtpolitisch bleibt für politische Akteure extrem relevant, antizipativ jedes Politikmanagement anzulegen. Jede parteipolitische Strategie – akteurs- oder institutionenspezifisch – muss sich am stimmungsflüchtigen Wähler-, Parteien-, Koalitionsmarkt orientieren (Korte 2010a). Jeder der zukünftigen Schritte der etablierten Parteien muss somit unter professionellen Gesichtspunkten die Existenz der Piraten mit einbeziehen. Allein von dieser Als-ob-Macht der Piraten, die von den Medien auch wegen des Neuigkeitswertes mit konstruiert wird, geht eine Wirkung aus, der sich die Altparteien nicht entziehen können. Hier liegt das größte noch verborgene Kapital, um damit Lernstrategien zu verbinden. In zwei Richtungen könnten Lerneffekte weiterhin eintreten:

— Die Aura der Nichtetablierten Zurzeit genießen die Piraten noch einen Dilettantenbonus. Sie haben den Charme des Nichtetablierten. Dahinter steckt eine tieferliegende Befindlichkeit der politischen Kultur in Deutschland, in der durchaus ein Entwicklungspotential für alle Parteien steckt. Die Partei ist attraktiv, solange es ihr gelingt, in Auftritt und Programm gleichermaßen Distanz und Protest zu den etablierten Parteien auszuleben. Als Partei des Antiestablishment können die Piraten Sogkraft entfalten. Das Fremdbild über die Piraten und ebenso der Freien Wähler (Korte 2012b) hat in Deutschland immer Bezugspunkte zur Tradition der politischen Romantik (Krockow 1985). Hintergrund dieses historischen Erbes bleibt eine Übersteigerung des Diesseits, der damaligen politischen Ohnmacht des Bürgertums im 19. Jahrhundert aus seiner fehlenden Beteiligung am politischen Prozess. Die signifikante Dichotomie zwischen Geist und Macht hat hier ihren Ursprung, das Bürgertum suchte sich Ersatzbefriedigungen. Zu den geistigen Kompensationshaltungen gehörte seit dem 19. Jahrhundert der Topos, »heimisch im Reich des Absoluten« zu sein. Dieser Pathos des Absoluten war Chiffre für die massenhafte Abkehr vom Politischen und verbunden mit der Hinwendung zur Idee des Absoluten, dem verhängnisvollen Weg eines kollek-

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tiven Sonderbewusstseins. Die bürgerliche Identitätssuche war angetrieben von politisch-partizipativen Mangelerscheinungen (vgl. Korte 1990: 28-36). Die Aktualität ist geblieben, keineswegs im Bereich der Willensbildung, aber doch in einer Dramatisierung traditioneller Politikverachtung. Politische Romantik heute bedeutet übersetzt: Der Wunsch nach einem Ausstieg aus dem kontroversen Parteihader, aus den Mühen der parlamentarischen Demokratie, aus dem Pluralismus. Je mehr sich insofern aus Politik- und Politikerverdrossenheit eine Politikverachtung entwickelt, umso strahlender erscheinen Akteure, Bewegungen, Vereinigungen, die sich offenbar graswurzelhaft als Antipartei demokratisch etablieren möchten. Je positiver das Bild der Piraten gezeichnet wird, umso negativer erscheint die Wahrnehmung der etablierten Politik. Der dialektische Mechanismus legt es für die Piraten nahe, den Charme des AndersSeins geradezu zu stilisieren. Professioneller Dilettantismus ist ein Schutzwall gegen eine politische Welt, die sich mit Diskursen über »alternativlose« Entscheidungen gerne den Erklärungen entzieht. Wer somit den Charme des Nichtetablierten nutzt, kann die Parteiendemokratie bereichern.

— Teilhabe als Pluspunkt Was die etablierten Parteien offenbar an Sogkraft verloren haben, bieten die Piraten für einen Teil des Wählermarktes an. Sie versuchen sich sozusagen auf den Ruinen der Volksparteien neu aufzubauen. Die Piraten suggerieren einen unmittelbaren, aurahaften Nutzen. Wer bei ihnen mitmacht, engagiert sich in der Regel für konkrete Projekte. Der Problemlösungsnutzen ist direkt erkennbar – anders als bei den anderen Parteien. In Abgrenzung zu den Parteien gehen die Piraten auch von einem Prozessnutzen der Demokratie aus, weniger vom Ergebnisnutzen (Grunden/Korte 2011). Die Teilhabe am politischen Diskurs ist oft wichtiger als die Übereinstimmung mit dem Ergebnis der politischen Entscheidung. Willensbildung und Teilhabe sind bei den Piraten zunächst sichtbarer als bei den anderen Parteien. Piraten spiegeln Bürgerinitiativen-Klientelismus wider. Sie agieren mit Selbsthilfe-Charme. Außerdem organisieren sie online auch eine deutlichere Beteiligung der Mitglieder an den Auswahlprozessen des Führungspersonals. All diese Aspekte könnten auch die etablierten Parteien vitalisieren (Bertelsmann Stiftung 2011). Doch nur den Piraten wird von vornherein unterstellt, dass sie diese Aspekte bereits als »Besser-Bürger« vorleben. In der Tat kann man aus dem sprunghaften Karriereweg der Piraten in einigen Bundesländern Lernstrategien der Parteien ableiten: Mehr ernsthafte Beteiligung, mehr sichtbaren Nutzen für nutzenorientierte Wähler, den graswurzelhaften Elan von Bürgerinitiativen erhalten – also mehr Bewegungs- und Netzpartei als hierarchische Großorganisation. Wer schafft es als Partei, eine »Kultur der Mitentscheidung« zu kreieren (Oberndörfer/Mielke/Eith 2012)?

Der Altmaier-Effekt: Was lernen etablierte Parteien von den Piraten?

F A ZIT : N EUER K OMMUNIK ATIONSMODUS Der Altmaier-Effekt wirkt nach. Die parlamentarische Demokratie ist auf der Suche nach einer Stärkung sowohl der Parteiendemokratie als auch der parlamentarischen Repräsentation. Die Suchbewegungen betreffen Bürger, politische Akteure und die Institutionen der politischen Verfasstheit. Die Erosion der Volksparteien ist Ausdruck einer Repräsentationslücke, die politische Mitte sortiert sich neu. Viele Bürger hadern mit der Verfasstheit der repräsentativen Willensbildung (Leggewie 2011) und fühlen sich von den Parteien in den Parlamenten nicht ausreichend vertreten. Sind die Parlamente noch der legitime Ort des Entscheidens? Abseits der Parlamente sind längst neue Empörungsorte im vorpolitischen Terrain für den bürgerlichen Protest entstanden, gerade hier tummeln sich verschiedene Netzgemeinschaften. Wie kann die Zukunft der Parlamente aussehen, wenn die Bürger nicht mehr an das Wirkungsversprechen der Politik glauben? Die direkte Demokratie (mit allen Spielarten von Bürgerbeteiligungen) kann sicher kein alleiniger Ausweg sein. So eine »Anlieger-Demokratie« bevorzugt immer die unmittelbar Betroffenen. Bei jeder Parlamentswahl beteiligen sich außerdem, trotz insgesamt rückläufiger Zahlen, immer noch weitaus mehr Bürger als in den Verfahren der direkten Demokratie (Merkel 2011). Hinter vielen Bürgerbegehren stecken häufig auch Parteien als Initiatoren oder sie bieten Parteipolitiker als Schlichter an. Auch in diesem Bereich neuer Gesellschaftsberatung zeigen die Parteien institutionelle Fantasie und Gesprächsbereitschaft, um außerparlamentarische und parlamentarische Verfahren enger miteinander zu verzahnen (Grunden/Korte 2011). Für die meisten Vorhaben genügt zunächst ein veränderter Kommunikationsmodus, der die Gesprächsstörung zwischen Politik und Bürgern verringert. Die Piraten leben einen anderen Kommunikationsmodus. Sie bieten für die Suchbewegungen sicher nur einen minimalen Anlass, aber immerhin, sie fordern die anderen Parteien allein durch ihre Parlamentarisierung heraus. Die Piraten kommen als Partei neuen Typs daher (Leggewie 2011: 140-142). Wenn Netztauglichkeit der Politik heute gleichbedeutend ist mit moderner Kommunikationsfähigkeit, dann haben die Piraten für die neue formative Phase des Parteienwettbewerbs beste Voraussetzungen. Vor moralischen und demokratietheoretischen Überhöhungen dieser neuen Netzgemeinschaftspartei muss sich die Parteienforschung hüten. Doch als einen kräftigen und kritischen Anstoß zur bürgerschaftlichen Aufwertung und Vitalisierung der Parteiendemokratie in Deutschland können die Piraten jetzt schon eingeordnet werden. Sie provozieren reflexives Lernen bei den Altparteien. Eine neue Beteiligungsarchitektur ist im Entstehen: auf dem Fundament neuartiger Willensbildungsprozesse sowie mit der Chance auf eine Verbreiterung der Akteure. So könnte politische Repräsentation in Deutschland modernisiert werden. Der Beitrag der Piraten ist hierbei zurzeit sicher verschwindend gering. Ihr Auftreten, ihre Existenz

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sind verwirrend und empörend zugleich für analoges und lineares Denken in parteipolitischen Arenen. Aber galt das nicht immer schon für alle Pioniere des Wandels?

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Single Issue — Null Chance? Was verrät der Erfolg der Piratenpartei über die Perspektiven von Ein-Themen-Parteien im politischen System Deutschlands? Stefan Marschall »Die Piraten eine Ein-Themen-Partei? Danke für das Kompliment. Das haben 1977 CDU, FDP und SPD auch von den Grünen behauptet. Ihr Problem war nur: Das eine Thema traf den Nerv der Zeit! Und unser Thema tut das auch.«1

Die »Piraten« werden von journalistischer Seite immer wieder als Partei skizziert, die sich auf ein Thema, i.e. Netzpolitik und Digitalisierung, konzentriert und deren jüngste Erfolge nicht zuletzt mit dieser thematischen Fokussierung erklärt werden können.2 Zugleich wird der Partei diese programmatische Enge als Mangel vorgeworfen; sie habe auf viele Fragen keine Antworten zu bieten.3 Am Beispiel der Piratenpartei setzt sich dieser Beitrag mit thematisch fokussierten Parteien und ihren Chancen im politischen System Deutschlands auseinander. Dabei wird zunächst das Konzept der »Single-issue-« oder – synonym – »Ein-Themen-Partei« konturiert und im Anschluss diskutiert, welche Erfolgsaussichten für Single-issue-Parteien generell in der bundesdeutschen Politik bestehen. Es lassen sich gesamtgesellschaftliche Entwicklungen (Stichwort: He1 | Wiki der Piratenpartei zum Begriff »Themenpartei«, online unter: http://wiki.pira tenpartei.de/Themenpartei [23.02.2012]. 2 | Z.B.: »Lässt sich Politik betreiben, indem man nur einen Mikrokosmos abdeckt? In diesem Wahlkampf zumindest hat es geklappt«, online unter: http://www.zeit.de/poli tik/deutschland/2011-09/piraten-wahlerfolg [23.02.2012]. 3 | »Keine Antworten, stattdessen jede Menge Fragen: Zu vielen Themen hat die Piratenpartei noch gar keine eigene Meinung, geschweige denn Lösungen«, online unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/par teitag-der-piraten-in-offenbach-ver treterder-globalen-jugend-1.1225544 [23.02.2012].

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terogenisierung) wie auch konkrete Tendenzen im Wahlverhalten (Stichwort: Sachfrageorientierung) ausmachen, die die Zukunft von Ein-Themen-Parteien im politischen System Deutschlands vielversprechend erscheinen lassen. Auf dieser Grundlage gilt es im zweiten Teil zunächst zu fragen, ob die Piraten überhaupt als Single-issue-Partei bezeichnet werden können, respektive inwieweit sich in ihrer bisherigen, insbesondere programmatischen Entwicklung ein Wandel hin zur oder weg von der Ein-Themen-Partei ausmachen lässt. Dabei sind sowohl die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmungen der Piratenpartei zu berücksichtigen. Abschließend wird resümiert, ob die Erfolge der Piraten zu verstehen sind, weil oder obwohl sie eine (vermeintliche) Single-issue-Partei darstellen, und was dies für ihre weitere Entwicklung bedeuten kann. Am Ende des Beitrags steht u.a. die These, dass die Salienz ihres Themas nicht die Ursache, sondern die Konsequenz des Piratenerfolgs ist.

1. D ER T YPUS »S INGLE - ISSUE -P ARTEI « Während alternative Konzepte aus der Parteientypologie vergleichsweise intensiv definiert und konturiert worden sind, wirkt der Begriff der »Single-issuePartei« erstaunlich unterspezifiziert. In der Parteientypologie werden Parteien wie die Piraten üblicherweise mit dem Label »Klein-« oder »Kleinstparteien« versehen (Dietsche 2004; Jesse 2011; Jun 2006; Schultze 2004). Oder sie laufen unter dem Rubrum »nicht-etablierte« (Köhler 2006) oder »sonstige« (Decker 2007) – und gehören damit in die Gruppe der Parteien, die nicht »in signifikantem Maße aktiv und gestaltend am Entscheidungsprozess und an der Auswahl politischen Führungspersonals teilhat« (van den Boom 1999: 21). Ein-Themen-Parteien können – empirisch betrachtet – als Unterfall dieser Kleinparteien begriffen werden. Jedoch ist die Größe letzten Endes nicht entscheidend, vielmehr profilieren sich Single-issue-Parteien gegenüber anderen primär durch ihre »programmatische Orientierung« (Gunther/Diamond 2003), genauer: Engführung. Richten sich Parteien freilich an einem Issue aus, das nur einen kleinen Teil der Wählerschaft anspricht, ist die thematische Fokussierung in der Regel auch mit dem elektoralen und organisatorischen Status einer Klein- und Klientelpartei verbunden. Der Ein-Themen-Partei steht (oder stand) die »Volkspartei« gegenüber, die ein breites programmatisches Spektrum abdecken und als »Catch-all-Partei« (Kirchheimer 1965) möglichst große Wählerschichten ansprechen möchte (Hättich 1967). In der »Party-Change-Forschung« wird diskutiert, inwieweit die Volkspartei von einem neuen Parteientypus abgelöst worden ist (z.B. Lösche 2009; Kulick 2011): Für den zeitgenössisch dominierenden Parteientyp sind Bezeichnungen wie »professionalisierte Wählerpartei« (von Beyme 2000, siehe bereits »electoral-professional party« bei Panebianco 1988) oder »professionelle

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Medienkommunikationspartei« (Jun 2004) gefunden worden; gemeinsam ist diesen Parteitypen, dass bei ihnen das »Vote Seeking« und »Office Seeking« im Mittelpunkt stehen (Müller/Strøm 1999). Single-issue-Parteien lassen sich auch diesem neuen Typus gegenüber abgrenzen: Während die Wählerparteien auf Maximierung von Stimmen und den Machterhalt fokussieren, sind Ein-Themen-Parteien primär »Policy Seeking«, da sie konkrete politikfeldbezogene Entscheidungen herbeiführen möchten. Sie stellen somit klassische »Programmparteien« dar (Siller/Pitz 2002). Kurzum: Das Konzept »Single-issue-Partei« bezieht sich auf einen Typ von Partei, der sich durch eine programmatische Fokussierung auszeichnet, auf spezifische Veränderungen in einem Policy-Bereich zielt und dabei in der Regel eine eingegrenzte Wählerschaft anspricht.

2. W ELCHE C HANCEN HABEN S INGLE - ISSUE -PARTEIEN IM POLITISCHEN S YSTEM D EUTSCHL ANDS ? Im Gegensatz zu Parteiensystemen in anderen etablierten Demokratien gilt das bundesdeutsche als vergleichsweise stabil und resistent gegen das Aufkommen neuer Parteien, seien es thematisch fokussierte oder sonstige. Hierfür werden nicht zuletzt die Regelungen des Parteien- und Wahlrechts einschließlich der Parteienfinanzierung verantwortlich gemacht (Niedermayer 2010: 852f.). Die Etablierung der Grünen und das – in weiten Teilen vereinigungsbedingte – Aufkommen der Linkspartei waren substanzielle und nachhaltige, aber zugleich mit Blick auf die gesamte Geschichte der Bundesrepublik und im Vergleich zur Fluidität anderer Parteiensysteme (z.B. in Frankreich, Italien) nur vereinzelte Veränderungen der bundesdeutschen Parteienlandschaft. In den Ländern der Bundesrepublik differenzieren sich die Parteiensysteme zwar weiter aus (Kost et al. 2010). Auch haben es auf der Landesebene bis heute immer wieder kleine Parteien geschafft, in das jeweilige Landesparlament zu gelangen (z.B. die STATT-Partei in Hamburg, die Freien Wähler in Bayern). In vielen Fällen blieb es aber bei episodischen Erfolgen. Klassische Issue-Parteien wie die Tierschutzpartei oder die Familienpartei »dümpeln« üblicherweise weit unter der Fünf-Prozent-Hürde – auf Landes-, erst recht auf Bundesebene. Wenn Parteien entstehen, dann vollzieht sich dieser Prozess entweder als Abspaltung oder Fusion von bestehenden Parteien, oder sie formieren sich als neue Kraft innerhalb des politischen Systems (von Beyme 2000; siehe auch Niedermayer 2010). Dabei ist es durchaus entscheidend, ob die Parteien in der Lage sind, eine »Repräsentationslücke« zu finden, die zum einen von den etablierten Parteien nicht abgedeckt wird und zugleich eine hinreichende Mobilisierungskraft für einen signifikanten Teil der Wahlbevölkerung aufweist. Mittlerweile spricht einiges dafür, dass sich diese Lücken ausweiten werden und damit

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(thematisch fokussierte) Kleinparteien durchaus eine Perspektive haben (vgl. Jun et al. 2006). So werden Ein-Themen-Parteien von der seit geraumer Zeit stattfindenden Heterogenisierung der Gesellschaft begünstigt (vgl. Niedermayer 2010: 850). Die gesellschaftliche Basis, deren Präferenzen durch die Parteien in das politisch-administrative System hineingetragen werden sollen, ist durch eine zunehmende Pluralisierung und Fragmentierung geprägt: Migration, Regionalisierung und Transnationalisierung führen zu einer Auflösung gesellschaftlicher Außen- und Binnengrenzen (Rosar 2001). In Deutschland tritt eine weitere Heterogenisierungsdimension hinzu: die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland (Gabriel et al. 2005). Die Gestaltung von Lebenslagen hat sich insgesamt entstandardisiert und findet entlang sich wandelnder sozialer, kommunikativer und politischer Randbedingungen statt (Neugebauer 2007). Mit der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Präferenzen werden auch die gegenüber dem Entscheidungsbereich artikulierten Interessen vielgestaltiger. Zugleich differenzieren sich die möglichen Kommunikationskanäle aus; medial gestützte Vernetzungen – nicht zuletzt mittels Web-2.0-Applikationen – lassen die Herausbildung neuer »politisch-kommunikativer« Milieus wahrscheinlicher werden (Weiß 2009). Dies stellt die vorherrschenden Repräsentationsakteure vor substanzielle Herausforderungen, da sie mit sehr heterogenen und mitunter divergierenden Präferenzartikulationen und Kommunikationsansprüchen der gesellschaftlichen Basis konfrontiert werden (Marschall/Weiß 2011) – eine Entwicklung, die die Potentiale der »Catch-all-Partei« (Kirchheimer 1965) an ihre Grenzen trägt, während sie Single-issue-Parteien in die Hände spielt. Zum einen vermag es den (ehemaligen) »Volksparteien« nur noch bedingt gelingen, die gesellschaftlich heterogene Basis mit ihren zentrifugalen Präferenzen zu vertreten. Hier sind thematisch fokussierte Kleinparteien im Vorteil. Zum anderen bieten gesellschaftliche Heterogenisierungsprozesse den Ausgangspunkt zur Entstehung von Konfliktlagen, entlang derer sich neue Parteien formieren können (Ohr 2005). Denkbar sind diverse potentiell mobilisierungsmächtige Konfliktlinien: infolge des demografischen Wandels die Konfliktlinie zwischen jungen und alten Bürgerinnen und Bürgern, infolge von Migrationsbewegungen die Polarisierungstendenzen zwischen ethnischen Gruppen.4 Die Heterogenisierung der Gesellschaft geht Hand in Hand mit einer Auflösung der alten Milieus und hat auch Auswirkungen auf das Wahlverhalten. 4 | Eine bislang in Deutschland vernachlässigte Konfliktlinie ist die »pro/contra europäische Integration« (vgl. Binder/Wüst 2004), welche durchaus mobilisierende Kapazitäten aufweist, wie es mutatis mutandis der rasche Aufstieg der UK Independence Party in Großbritannien zeigt – mitsamt der damit verbundenen Probleme für die Identität einer Partei (Usherwood 2008).

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Die Aufhebung von traditionellen sozialen Bindungen und damit verbundene Individualisierungsprozesse führen zu einer Abnahme der langfristigen Anziehungskraft von Parteien – ein Trend, der unter dem Stichwort »Dealignment« gefasst wird (Dalton/Wattenberg 2000; Dalton 1996). Die Parteiidentifikation als der stärkste Prädiktor für das Wahlverhalten innerhalb des in der Forschung dominanten sozialpsychologischen Modells hat sich – wennschon noch auf vergleichsweise hohem Niveau – abgeschwächt (Ohr/Quandt 2012). Die Volatilität der Wähler ist gestiegen; zugleich entscheiden sich die Bürger immer kurzfristiger, wem sie bei einer anstehenden Wahl ihre Stimme geben wollen (SchmittBeck 2009). Unter diesen Entwicklungen leiden vor allem die »Volksparteien«, deren Milieus und damit Stammwählerschaft gleichfalls fluide werden (Kulick 2011; Lösche 2009; Matuschek/Güllner 2011). Fällt die Erklärungskraft des langfristigen Faktors Parteiidentifikation ab, müssten kompensatorisch die kurzfristigen Bestimmungsfaktoren davon profitieren; hierzu zählen die Kandidaten- und die Sachfrageorientierung, also die Ausrichtung der Wahlentscheidung am personellen Tableau der Parteien sowie an den konkreten Policy-Angeboten. In der Tat lassen sich Hinweise darauf finden, dass die kurzfristig wirkenden Faktoren an Erklärungskraft für die Wahlentscheidung gewonnen haben (Dalton/Bürklin 2003). Ob bei den kurzfristigen Variablen entweder die Kandidaten- oder die Sachfragenorientierung einen größeren Ausschlag gibt, wird seitens der empirischen Wahlforschung kontextspezifisch beantwortet: So haben bei der vergangenen Bundestagswahl infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie angesichts der beiden kaum unterscheidbaren Spitzenkandidaten (Merkel vs. Steinmeier) die Issue-Orientierungen einen deutlichen Einfluss auf die Wahlentscheidung gezeitigt (Rudi 2011: 189). Auch anlässlich der Wahl in Baden-Württemberg 2011 hat sich eine Sachfrage stark in den Vordergrund geschoben, die Atomkatastrophe von Fukushima, und zu einem Erfolg der Grünen geführt, die wie keine andere Partei mit dem Anti-Atom-Kampf verbunden ist (Gabriel/Kornelius 2011). Die spezifische Effektivität der kurzfristig wirkenden Faktoren kann letzten Endes von Wahl zu Wahl höchst unterschiedlich ausfallen, sodass keine stringente Entwicklung zu erwarten ist. Inwiefern also Single-issue-Parteien in diesem Wettbewerb öffentliche Aufmerksamkeit und in einem zweiten Schritt auch sachfrageorientierte Wähler gewinnen können, hängt nicht zuletzt von der kontext- und zeitabhängigen mobilisierenden Qualität ihres Themas ab; eine seitens der Wähler attribuierte »Issue Importance« kann jedenfalls maßgeblichen Einfluss auf die Bewertung der Performanz von Parteien und damit auch auf ihre (Wieder-)Wahlchancen haben (Fournier et al. 2003): »issue matters«!

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3. D IE P IR ATEN ALS (ERFOLGREICHE) E IN -THEMEN -P ARTEI ? Sind die Piraten als Ein-Themen-Partei zu verstehen und ihre Erfolge mit den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erklärbar? Ob eine Partei als Ein-Themen-Partei typisiert werden kann, lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus beantworten. Heuristischer Ankerpunkt sind ihre programmatischen Grundlagen und deren Entwicklung. Aber genauso aufschlussreich, zumindest für ihren Erfolg in Wahlen, ist die Frage, ob eine Partei von außen als Single-issue-Formation wahrgenommen wird – von der Bevölkerung, von ihrer Konkurrenz sowie von der medialen Öffentlichkeit. Zunächst zur Programmatik der Piratenpartei: Die Ursprünge der europäischen »Piratenbewegung« liegen in der Auseinandersetzung mit einer konkreten Fragestellung; die Partei entstand entlang eines neuen »Cleavage« (Jesse 2011: 189): der Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie und ihrer Nutzung.5 Die deutschen Piraten sind ein Ableger der schwedischen »Piratpartiet« (Larsson 2011), und genau wie ihre Mutter fokussierte die deutsche Variante in ihren Anfängen programmatisch auf das Internet und die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung. Ihre Wurzel als Ein-Themen-Partei kommt im Gründungsprotokoll der Piraten zum Ausdruck: Die Gründungsmitglieder einigten sich anlässlich des konstituierenden Treffens 2006 ausdrücklich darauf, eine »weiche Themenpartei« aufbauen zu wollen.6 Auf diese Selbstbezeichnung ist später immer wieder – auch seitens der Medien – zurückgegriffen worden, um die inhaltliche Fokussierung oder Enge der Piraten zu belegen. Der eigentliche Mobilisierungsschub für die deutschen Piraten entstand im Rahmen der Diskussion um die Netzsperren und der diese ablehnenden Online-Petition (»Zensursula«, Bartels 2009: 55-89). In dieser policy-bezogenen Debatte konnten die Piraten eine konkrete Forderung in den Raum stellen, die in deutlicher Opposition zu den regierenden Parteien der damaligen Großen Koalition stand – und einen erheblichen mobilisierenden Effekt aufwies. Diese thematische Konzentration fand auch im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2009 ihren strategiebezogenen Ausdruck. So erklärt die Präambel: »Die Piratenpartei will sich auf die im Programm genannten Themen konzentrieren, da wir nur so die Möglichkeit sehen, diese wichtigen Forderungen in Zukunft durchzusetzen.«7 5 | Niedermayer (2010: 851) hingegen betont, dass es sich nicht um ein neues »Cleavage« handelt, sondern der Konflikt in das bestehende Cleavage zwischen libertärer und autoritärer Wertehaltung passt. 6 | Gründungsprotokoll der Piratenpartei, online unter: http://wiki.piratenpartei.de/ wiki/images/4/4a/Gruendungsprotokoll.pdf [23.02.2012]. 7 | Wahlprogramm der Piratenpartei zur Bundestagswahl 2009, online unter: http:// www.piratenpartei.de/tmp/Wahlprogramm_Bundestagswahl2009.pdf [23.02.2012].

Single Issue – Null Chance?

Für den Berliner Wahlkampf 2011, in dem den Piraten frühzeitig seitens der Meinungsforschungsinstitute Chancen auf den Einzug ins Abgeordnetenhaus avisiert worden sind, haben die Piraten ihre inhaltliche Fokussierung aufgegriffen – bei gleichzeitiger Ausweitung der angesprochenen Themen: Ihr Berliner Wahlprogramm8 konzentrierte sich zum einen auf Fragen rund um die »Digitalisierung« der Gesellschaft. Allerdings deckte die programmatische Plattform noch weitere Bereiche ab: Stadtentwicklung, Bildung, Verkehr und ÖPNV wurden in Abschnitten behandelt, wobei in allen Feldern die Themen Transparenz und Mitbestimmung eine Querschnittsrolle spielten. Die Ausweitung ihrer Programmatik bei beibehaltener Konzentration auf die Digitalisierung von Gesellschaft und Politik zeigt sich auch in der weiteren Programmentwicklung, die unter dem Eindruck des Berliner Wahlerfolgs stand. Auf ihrem Parteitag am 3. Dezember 2011 in Offenbach hat sich die Piratenpartei programmatisch breiter aufgestellt, nachdem das Parteiprogramm bereits zuvor mit weiteren Kapiteln ergänzt worden war.9 Mit einer Debatte und einem Beschluss zum Grundeinkommen versuchten die Piraten einen weiteren Ankerstein in einem zusätzlichen Politikfeld zu setzen. Zudem behandelt das Grundsatzprogramm die Legalisierung von Drogen, die Trennung von Staat und Kirche und die Euro-Krise. Ihre programmatische Reichweite hat sich somit vergrößert, und doch hält die Präambel an der leitmotivischen Fokussierung fest: Die »Grundpfeiler der zukünftigen Informationsgesellschaft« seien »informationelle Selbstbestimmung, freier Zugang zu Wissen und Kultur und die Wahrung der Privatsphäre«.10 Somit lässt sich bis hierhin festhalten, dass »die Piratenpartei keine bloße Ein-Themen-Protestpartei und eine pauschale Verengung auf die Forderung ›Raubkopieren Legalisieren‹ zu simpel« ist (Zolleis et al. 2010: 14; vgl. auch Bartels 2009).11 Von Bürgern und Medien scheinen die Piraten nichtsdestoweniger 8 | Wahlprogramm der Piratenpartei zur Abgeordnetenhauswahl in Berlin 2011, online unter: http://berlin.piratenpartei.de/wp-content/uploads/2011/08/PP-BE-wahlprog ramm-v1screen.pdf [23.02.2012]. 9 | »Bilanz des Piraten-Parteitags: Internet-Partei war gestern«, online unter: http:// www.sueddeutsche.de/politik/bilanz-des-piraten-par teitags-internet-par tei-wargestern-1.1226373 [23.02.2012]. 10 | Grundsatzprogramm der Piratenpartei, online unter: http://wiki.piratenpartei.de/ wiki/images/0/04/Grundsatzprogramm-Piratenpartei.pdf [23.02.2012]. 11 | Die vollzogene Ausweitung der programmatischen Basis hat innerhalb der Partei eine Kontroverse ausgelöst, die sich auch in der Medienberichterstattung niederschlägt: die Debatte zwischen »Vollis«, die ein Vollprogramm entwickeln wollen, und den »Kernis«, die eine allein auf Netzthemen spezialisierte Programmentwicklung befürworten (vgl. »Bundesparteitag der Piraten: Kernis gegen Vollis«, online unter: http:// www.taz.de/!61579/ [23.02.2012]).

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als Ein-Themen-Partei wahrgenommen zu werden. Gefragt nach den Kompetenzbereichen, die die Berliner Piraten-Wähler ihrer Partei zuschreiben, steht der Datenschutz mit 55 Prozent an erster Stelle, gefolgt von der »transparenten Verwaltung« (42 Prozent). Abgeschlagen auf Platz 3: »soziale Gerechtigkeit«.12 Und auch in der Medienberichterstattung findet ein »Framing« der Piraten als thematisch fokussierte Partei statt (s.o.). Die Wahlerfolge der Piratenpartei lassen sich jedoch nur bedingt mit ihrem Attribut »Single-issue-Partei« erklären. So sagten in einer Anschlussbefragung der Forschungsgruppe Wahlen nur 10 Prozent der Berliner Piraten-Wähler, dass sie die Partei aufgrund der Inhalte gewählt haben; 80 Prozent geben als Wahlmotiv die »Unzufriedenheit mit den anderen Parteien« an.13 Der Berliner Erfolg der Piraten kann also überwiegend mit ihrer Wahrnehmung als Protestpartei, als »Anti-Parteien-Partei« erklärt werden, die nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in ihrem Auftreten, in der Form ihrer Willensbildung und in ihrem politischen Stil gezielt und ausdrücklich eine Alternative zu den vorherrschenden Parteien bildet. Dass die Piraten schließlich unbeschadet ihres Themas durch die virtuose Verwendung von onlinebasierter Kommunikation und Vernetzung ein hohes organisatorisches Mobilisierungspotential haben, konnten sie in diversen Kampagnen (z.B. »Zensursula«, ACTA) unter Beweis stellen. Dies hat gleichfalls zu ihrer Wahrnehmbarkeit und dem daraus abgeleiteten Erfolg beigetragen.

4. A USBLICK : P ERSPEK TIVEN EINER » WEICHEN THEMENPARTEI « Aufgrund spezifischer gesellschaftlicher Entwicklungen haben sich die Perspektiven für Ein-Themen-Parteien trotz der effektiven Hürden im deutschen Wahl- und Parteienrecht aufgehellt. Sind die Piraten ein erster Ausweis dieser Entwicklung? Die Piratenpartei hat eine inhaltliche Lücke besetzt; sie wird derzeit – und aller Voraussicht nach auch weiterhin – als Partei der »digitalen Revolution« wahrgenommen. Zugleich haben die Piraten versucht, ihre programmatischen Grundlagen auszuweiten, und stellen demnach keine Single-issue-Partei im engen Sinne dar. Aber sie konzentrieren sich auf ein inhaltliches Leitmotiv und

12 | Umfrageergebnisse von Infratest dimap zu Parteienkompetenzen, online unter: http://stat.tagesschau.de/wahlen/2011-09-18-LT-DE-BE/umfrage-kompetenz.shtml [23.02.2012]. 13 | Analyse der Forschungsgruppe Wahlen zur Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011, online unter: http://www.forschungsgruppe.de/Wahlen/Wahlanalysen/Newsl_ Berl11.pdf [23.02.2012].

Single Issue – Null Chance?

werden vor allem auch über dieses wahrgenommen – als »weiche Themenpartei«. Allerdings können ihr fokussiertes Programm sowie die Wahrnehmung ihrer inhaltlichen Engführung durch Medien und Wähler den Erfolg der Piraten nicht hinreichend erklären. In diesen spielen Faktoren wie die allgemeine Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien sowie die Kommunikations- und Organisationsfähigkeit der Piraten mit hinein. Das Image als Single-issue-Partei ist somit womöglich nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis des Erfolgs. Durch ihre Performanz als eine kampagnen- und organisationsfähige Protestpartei in und jenseits von Wahlen gewinnen auch ihre inhaltlichen Zielsetzungen und damit »ihr« Thema stärkere Beachtung in der medialen und politischen Öffentlichkeit. Das mit ihnen verknüpfte Issue und damit sie selbst gewinnen an Salienz; die Verbindung zwischen Thema und Partei wird verstärkt. Ob die Piraten auf dieser Basis den Sprung auf das »nächste Level« (Bieber 2012) schaffen werden, i.e. den Bundestag »entern« können, hängt nicht zuletzt davon ab, inwiefern die Piratenpartei weiterhin als thematische und organisatorische Alternative zu den anderen Parteien erscheinen wird. Die Volatilität sowohl der Wähler als auch der Parteien und der Issues lässt eine weitreichende Prognose nicht zu.

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Die Piraten am Wahlomat Programme und inhaltliche Standpunkte einer (relativ) neuen Partei Thorsten Faas und Marc Debus

Bei der Europawahl 2009 sind die Piraten erstmals auf dem Radar einer breiteren Öffentlichkeit aufgetaucht: Die schwedische Piratenpartei, das Mutterschiff aller weltweiten Piratenparteien, gewann damals 7,1 Prozent der schwedischen Wählerstimmen – und Christian Engström wurde der weltweit erste Pirat, der ein Parlament enterte. Auch in Deutschland traten die Piraten bei der Europawahl im Juni 2009 an – und erzielten 0,9 Prozent der Stimmen. Erfolgreicher waren die deutschen Piraten bereits bei den Wahlen, die im Herbst 2009 stattfanden: Bei der Landtagswahl in Sachsen erzielten sie 1,9 Prozent der Stimmen, bei der Wahl in Schleswig-Holstein 1,8 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2009 gelang es ihnen sogar, 2,0 Prozent der Stimmen zu bekommen. Mit rund 850.000 Stimmen war die Piratenpartei damit unter den damals noch »kleinen« Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten und damit den Einzug in den Deutschen Bundestag verpassten, die mit Abstand größte. Wahlergebnisse in etwa dieser Größenordnung erzielten die Piraten auch bei den folgenden Wahlen (vgl. dazu den Beitrag von Dobusch/Gollatz in diesem Band). Im Vorfeld der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011 deutete zunächst wenig auf ein Abweichen von diesem Zwei-Prozent-Niveau hin. Noch rund zwei Monate vor dem Wahltag, im Juli 2011, sah eine Umfrage von Infratest dimap die Piraten – voll im Trend – bei zwei Prozent; Anfang August, nur sechs Wochen vor der Wahl, bei drei Prozent. Danach allerdings erfasste eine Erfolgswelle die Partei: Anfang September sah Forsa die Piraten erstmals bei fünf Prozent, kurze Zeit später waren es bei Infratest dimap schon 6,5 Prozent, eine Woche vor der Wahl bei einer Umfrage der INFO GmbH schon neun Prozent. Ins Ziel segelten die Piraten am 18. September 2011 schließlich mit einem bemerkenswerten Ergebnis von 8,9 Prozent. #15Piraten – so meldete das dafür kreierte Twitter-Hashtag – enterten in der Folge das Berliner Abgeordnetenhaus.

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Thorsten Faas und Marc Debus

Zunächst im Vorfeld der Berliner Wahl, seit diesem Zeitpunkt auch bundesweit, surfen die Piraten auf einer Welle der Euphorie. Jüngstes Beispiel war die Wahl im Saarland am 25. März. Auch an der Saar gelang es den Piraten, alle Klippen im Vorfeld der Wahl (Kandidaten aufstellen, Programm formulieren, Unterstützungsunterschriften sammeln) erfolgreich zu umschiffen. Am Wahlabend waren sie – wie schon in Berlin – die unumstrittenen Sieger: Aus dem Stand wurden 7,4 Prozent der Stimmen erzielt, damit sind zukünftig #4Piraten (so das korrespondierende Hashtag) im Landtag von Saarbrücken vertreten. Auch die Aussichten für die Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sind vielversprechend: Aktuelle Umfragen sehen die Piraten bei beiden Wahlen über der Fünf-Prozent-Hürde, teilweise sogar sehr deutlich.

P ROZESS ALS P RINZIP Die Faszination, die derzeit von den Piraten ausgeht, erfasst Journalisten, Konkurrenten, Wähler und Politikwissenschaftler (wie nicht zuletzt dieses Buch zeigt) gleichermaßen. Das »neue Betriebssystem«, die »flüssige Demokratie«, der »Prozess als Prinzip« – diese Bilder und Formeln scheinen allerorten einen Nerv zu treffen. Das Versprechen, Politik anders, offener und transparenter zu machen, überzeugt offenkundig. Für die Konkurrenten auf dem Parteienmarkt ist das in doppelter Weise schmerzhaft: weil es sie zum einen Wählerstimmen kostet und zum anderen – vielleicht noch schmerzhafter – als altmodisch erscheinen lässt. Liquid Democracy ist die Idee, die die Piraten im Innern zusammenhält. Das definierende Element der Piraten sind nicht Inhalte, sondern ein Verfahren – und ein offenes, transparentes Verfahren noch dazu. Mit Blick auf Politikinhalte hat dies eine geradezu paradoxe Konsequenz: Gerade weil der Prozess so offen und transparent ist, bleibt lange Zeit völlig offen, zu welchen Inhalten dieser Prozess am Ende führen wird. Diese Prozessorientierung wirft spannende Fragen auf, denen wir uns im Folgenden zuwenden möchten. Zunächst könnte man vermuten, dass infolge dieser thematischen Offenheit der Piraten ihre inhaltlichen Positionen stärker als bei anderen Parteien schwanken. Natürlich kennen wir auch bei anderen Parteien Flügel und Netzwerke. Aber zumindest auf der Ebene von Landesverbänden ist bei diesen Parteien doch davon auszugehen, dass inhaltliche Positionen im Zeitverlauf nur moderaten Veränderungen unterliegen. Bei den Piraten ist dies keineswegs anzunehmen, gerade vor dem Hintergrund der Jugend der Partei, in der sich aktuell auch die Mitgliederzahl noch stark (nach oben) verändert. Mitunter könnten auch Zufälligkeiten bis hin zum Ort der Mitgliederversammlung das inhaltliche Ergebnis erheblich beeinflussen. Ein System verantwortlicher Delegierter ist den Piraten bekanntlich fremd. Die Mitgliederversammlungen, die allen Mitgliedern offenstehen, haben die Macht. Dort ent-

Die Piraten am Wahlomat

scheiden die Anwesenden – und sie werden sich in ihrer Zusammensetzung je nach Ort erheblich voneinander unterscheiden. Das Ergebnis hängt vom Ort ab – übrigens etwas, das man auf der Bundesebene (mit ihren rotierenden Versammlungsorten) durchaus schon hat beobachten können. Dadurch könnte eine geringere Vorhersehbarkeit entstehen, die nicht ohne Konsequenzen für den Parteien- und Wählermarkt bleiben wird. Die Bürgerinnen und Bürger werden sich möglicherweise darauf einstellen müssen, dass sich die (inhaltlichen) Positionen der Piraten in stärkerem Maße von Wahl zu Wahl verändern, als Wähler dies von anderen Parteien gewöhnt sind. Auch für den Parteienmarkt hat dies Konsequenzen: Die Wettbewerbskonstellationen und -koalitionen könnten durch den Einzug der Piraten ebenfalls instabiler werden, als wir dies bislang gewohnt sind. Tatsächlich ist ja die Frage, welchem Konkurrenten die Partei vor allem schadet, eine der aktuell am heftigsten diskutierten. Woher kommen die vielen Stimmen der Piraten? Von der FDP? Den Grünen? Den Linken? Oder doch von den großen Parteien SPD und Union? Vermutlich ist in all diesen Thesen ein Körnchen Wahrheit enthalten. Hinzu kommt natürlich, dass die Piraten – wie zuletzt im Saarland gesehen – auch aus dem berühmten, allerdings keineswegs homogenen Nichtwählerlager Stimmen zu mobilisieren vermögen. Betrachtet man also die offenkundige Unsicherheit bezüglich der Frage der Positionierung der Piraten systematisch, so kommen mindestens drei Erklärungen dafür infrage. Erstens sind die Piraten (samt ihrer Wählerschaft) natürlich neue Akteure auf dem politischen Parkett, womit zwangsläufig gewisse Findungs- und Sortierungsprozesse verbunden sind. Zweitens könnte es aber auch der Fall sein, dass die Struktur des bundesdeutschen Parteienwettbewerbs für die unterschiedlichen Schnittstellen zu anderen Parteien verantwortlich ist. Üblicherweise werden die bundesdeutschen Parteien in einem zweidimensionalen Politikraum verortet. Die erste Dimension entspricht der »klassischen« sozio-ökonomischen Links-rechts-Dimension: Parteien unterscheiden sich folglich nach dem gewünschten Grad staatlicher Eingriffe in Marktprozesse. SPD, Grüne und Linke als Parteien der politischen Linken stehen hier Union und FDP gegenüber. Die zweite Dimension ist eher gesellschaftspolitischer Natur – progressive Positionen und sie vertretende Parteien stehen konservativ ausgerichteten Werten und den sie repräsentierenden parteipolitischen Akteuren (allen voran den Unionsparteien) gegenüber. Je nach Position und Dimension ergeben sich damit für die Piraten unterschiedliche Konkurrenzsituationen. Auch dies kann eine Quelle der Unsicherheit sein, weil nicht klar ist, mit wem die Piraten vor allem um die Wählergunst kämpfen. Schließlich gibt es noch eine dritte Erklärung für die aktuelle Unsicherheit bezüglich der Positionierung der Piraten, die mit den skizzierten Findungs- und Entscheidungsprozessen zu tun hat. Ihre Positionen sind deutlich offener und

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Thorsten Faas und Marc Debus

variabler, weswegen sich permanent neue Wettbewerbssituationen – je nach aktueller Positionierung – ergeben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wollen wir uns nun der Frage zuwenden, wie es um die Positionierung der Piraten im politischen Wettbewerb bei Wahlen der jüngeren Vergangenheit bestellt war.

D IE P IR ATEN AM WAHLOMAT Zur Analyse von Parteipositionen steht eine ganze Reihe von Methoden zur Verfügung. Experten- wie Wählerbefragungen können verwendet werden, ebenso können Wahlprogramme inhaltsanalytisch – computergestützt oder manuell – erfasst und analysiert werden. Auch Reden von Spitzenvertretern oder das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten liegen als Optionen auf dem Tisch. Statt auf diese etablierten Verfahren wollen wir hier auf den »Wahlomat« zurückgreifen. Zunächst einmal ist diese Maschine ein Instrument, das den Menschen auf der Nachfrageseite der Politik zwar »keine Wahlempfehlung«, aber doch zumindest ein »Informationsangebot über Wahlen und Politik« bieten soll, wie die verantwortliche Bundeszentrale für politische Bildung betont. Vor jeder Wahl werden den Nutzern jeweils 38 Aussagen mit je drei Antwortoptionen präsentiert: Sie können jeder einzelnen Aussage zustimmen, nicht zustimmen oder sich dazu neutral positionieren. Nach 38 Einstufungen erhält der Nutzer eine Übersicht, mit welchen (individuell auszuwählenden) Parteien er bezogen auf die 38 Thesen die größten inhaltlichen Übereinstimmungen hat.1 Dies kann natürlich nur funktionieren, weil sich auch die Parteien im Vorfeld der Wahl zu den 38 Thesen in analoger Weise positioniert haben. Und wie man aus dem Vergleich der Angaben der Nutzer und der Parteien Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen diesen ablesen kann (was letztlich das eigentliche Ziel der Unternehmung ist), so kann man im Sinne einer Nebenverwertung den Wahlomaten auch nutzen, um etwas über den Wettbewerb der Parteien untereinander zu lernen: Wo gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Parteien? In diesem Sinne soll der Wahlomat im Folgenden also weniger aus Wähler-, sondern vielmehr aus Parteiensicht analysiert werden; dazu wird für jede Wahl und jedes Paar von Parteien ein Übereinstimmungsindex berechnet. Für jedes dieser Paare wird die Häufigkeit von Übereinstimmungen über alle 38 Thesen hinweg gezählt. Für jede vollständige Übereinstimmung gibt es einen, für jede Kombination von »stimme zu« oder »stimme nicht zu« mit »neutral« einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte auf und teilt die Summe durch 38 1 | 42 wäre eigentlich eine bessere Zahl gewesen, siehe http://de.wikipedia.org/ wiki/42_(Antwort).

Die Piraten am Wahlomat

(die Zahl der Thesen), erhält man den Index, der von 0 bis 100 Prozent reicht. Inhaltlich betrachtet würden sich die beiden Parteien im ersten Fall (0 Prozent) immer konträr positionieren, während es im zweiten Fall (100 Prozent) keine einzige Abweichung zwischen den Parteien gäbe. Hinweisen möchten wir auf zwei Annahmen, die diesen Analysen zugrunde liegen: Es wird zunächst angenommen, dass alle 38 Thesen mit gleichem Gewicht in die einzelnen Paarvergleiche eingehen, keine These ist wichtiger als eine andere, wenn die Übereinstimmungen berechnet werden. Dagegen ließe sich berechtigt einwenden, dass bestimmte Themen für einzelne Parteien relevanter sind als andere. Letztlich berücksichtigt auch der Wahlomat selbst diese Möglichkeit, indem er den Nutzern erlaubt, bestimmte Thesen als besonders wichtig einzustufen, was auch häufig genutzt wird. Nichtsdestotrotz sollen hier die Thesen gleichgewichtig betrachtet werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ja auch die Frage der Gewichtung im Zuge des Programmfindungsprozesses der Piraten eine offene ist. Weiterhin muss angenommen werden, dass das jeweilige 38er-Set an Thesen über Wahlen hinweg vergleichbar ist, auch wenn die einzelnen Thesen sich mitunter unterscheiden. Man darf aber darauf vertrauen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung und die sie unterstützenden Wissenschaftler für ein ausgewogenes Themenspektrum sorgen, weswegen uns auch diese Annahme gerechtfertigt erscheint. Im Folgenden werden die Wahlomaten zur Europa- und Bundestagswahl 2009 sowie den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (2010), Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hamburg, Rheinland-Pfalz (je 2011) sowie im Saarland (2012) einbezogen. Beantwortet werden sollen hinsichtlich der Positionierung der Piraten im deutschen Parteiensystem die beiden folgenden Fragen: Welche grundsätzlichen Muster ergeben sich in der inhaltlichen Ausrichtung der Piraten? Und wie stark schwanken die Ergebnisse zwischen Wahlen?

D IE P IR ATEN IM P ARTEIENWE T TBE WERB Abbildung 1 liefert die Ergebnisse der Analyse in der Gesamtschau. Dafür wurden die für die einzelnen Wahlen resultierenden Übereinstimmungswerte zwischen den Piraten auf der einen Seite, Union, SPD, Grünen, Linken und FDP auf der anderen Seite gemittelt. Das Ergebnis zeigt eine klare Abstufung der Parteien: Die größten Übereinstimmungen (mit einem Durchschnittswert von jeweils rund 75 Prozent) gibt es zu den Grünen und den Linken; auch zur SPD findet sich noch eine beträchtliche Übereinstimmung (von rund 68 Prozent). Danach allerdings tut sich eine Lücke auf: Mit der FDP besteht in rund der Hälfte aller Thesen eine inhaltliche Übereinstimmung, bei der Union sind es nur rund 45 Prozent.

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Thorsten Faas und Marc Debus

Abbildung 1: Mittlere Übereinstimmung zwischen den Piraten und anderen Parteien

Union

FDP

SPD

Linke

Grüne

0

40

20

60

80

100

Übereinstimmung in (%)

Quelle: Wahlomat, eigene Zusammenstellung

Nach diesem Überblick ist das resultierende Bild recht eindeutig: Die Piraten positionieren sich auf der linken Seite des politischen Spektrums in der Nähe von Grünen und Linken. Allerdings gilt dieses Ergebnis zunächst nur in der Gesamtschau bei Verwendung der Durchschnittswerte. Dahinter kann sich aber ein erhebliches Maß an Varianz bei einzelnen Wahlen verbergen. Es ist daher im nächsten Schritt zu prüfen, wie sich die Wettbewerbssituation bei den einzelnen hier betrachteten Wahlen darstellt. Die entsprechende Darstellung liefert Abbildung 2. Abbildung 2: Übereinstimmung zwischen den Piraten und anderen Parteien bei einzelnen Wahlen EURO 2009 BTW 2009 NRW 2010 HH 2011 RLP 2011 BW 2011 Bremen 2011 Berlin 2011 Saarland 2012 0

20

40

60

80

Übereinstimmung in (%)

FDP

Grüne

Linke

Quelle: Wahlomat, eigene Zusammenstellung

SPD

Union

100

Die Piraten am Wahlomat

Zwangsläufig ergeben sich bei dieser differenzierten Betrachtung Unterschiede zwischen einzelnen Wahlen. Dies betrifft vor allem das Niveau der zu beobachtenden Übereinstimmungen zwischen Piraten und anderen Parteien, die mal höher, mal niedriger ausfallen. Was aber die Struktur des Parteienwettbewerbs betrifft, findet sich ein geradezu erstaunliches Maß an Stabilität wieder: In allen Fällen ist die Übereinstimmung zwischen Union und Piraten am geringsten; auch zwischen FDP und Piraten ist der Graben recht tief – trotz immer wieder berichteter Schnittstellen im Bereich der Bürgerrechte. Im Zeitverlauf deutet sich sogar an, dass die Differenzen eher größer als kleiner geworden sind (was aber eher an der FDP, weniger an den Piraten zu liegen scheint). Auf der anderen Seite bestehen auch bei Betrachtung einzelner Wahlen die größten Übereinstimmungen zu den Parteien der politischen Linken. Mal ist die Übereinstimmung zur Linken am größten, mal zu den Grünen, bei der jüngsten Auflage – der Wahl im Saarland – zur SPD. Insgesamt deutet sich ein um die Piraten erweitertes linkes Lager an. Lediglich die Wahlen in RheinlandPfalz und in Berlin 2011 fallen etwas aus diesem Bild heraus, da hier die Übereinstimmung zwischen SPD und Piraten etwas kleiner ausgefallen ist. Dennoch bleibt festzuhalten: Aller offenen und transparenten Prozesse (und der damit verbundenen Unsicherheit über den Ausgang dieser) zum Trotz ergeben sich bei den hier betrachteten Wahlen sehr stabile Strukturen. Programmatik und Positionierung im politischen Wettbewerb sowie deren Niederschlag in den Wahlomat-Thesen vermitteln ein erstaunliches Maß an Konstanz: Die Piraten positionieren sich (und konkurrieren damit) mit den Parteien des linken Spektrums. Wenige Gemeinsamkeiten hinsichtlich der programmatischen Politikangebote gibt es dagegen mit der Union und der FDP.

E IN KURZER B LICK AUF DEN W ÄHLERMARK T Werfen wir abschließend noch einen kurzen Blick auf den Wählermarkt: Wie wird der Parteienwettbewerb wählerseitig wahrgenommen? In einer repräsentativen Umfrage in Baden-Württemberg mit 1000 Befragten (ab 18 Jahren), die im November und Dezember 2011 durchgeführt wurde, haben wir u.a. auch nach der Bewertung der Parteien gefragt: »Was halten Sie – einmal ganz allgemein gesprochen – von den politischen Parteien hier in Baden-Württemberg?« Die Befragten sollten diese Parteien auf einem Thermometer zwischen -5 und +5 einstufen. Im hiesigen Kontext interessiert nun vor allem: Wie werden die Piraten relativ zu anderen Parteien bewertet? Welches Muster von Parteibewertungen ergibt sich in den Antworten der Befragten, wenn man wiederum die Logik von Paarvergleichen zwischen Parteien heranzieht? Dazu kann man für jedes Paar von Parteien (und ihren Bewertungen) einen Korrelationskoeffizienten berechnen. Dieser Koeffizient kann einen Wert zwi-

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Thorsten Faas und Marc Debus

schen -1 und +1 annehmen. Ein Korrelationskoeffizient von -1 zwischen der Bewertung der Piraten und der Bewertung einer anderen Partei würde dabei bedeuten, dass Befragte immer dann die Piraten sehr gut einstufen, wenn sie die andere Partei sehr schlecht einstufen und umgekehrt. Ein Koeffizient von +1 dagegen würde auf Gleichklang hindeuten: Piraten werden immer dann gut (oder schlecht) bewertet, wenn auch die jeweils andere Partei gut (oder schlecht) bewertet wird. Abbildung 3: Wahrnehmung der Piraten auf dem Wählermarkt in Relation zu anderen Parteien

Union

FDP

SPD

Grüne

Linke

-0,2

0

0,2

0,4

0,6

Korrelationskoeffizient

Quelle: Repräsentative Telefonbefragung bei 1000 BadenWürttembergern, November/Dezember 2011

Abbildung 3 liefert nun die resultierenden Befunde für die Paarvergleiche zwischen den Piraten und den anderen Parteien. Dabei zeigt sich ein nahezu identisches Bild wie zuvor schon bei der Analyse der Programmatik: Die größten Differenzen gibt es zwischen den Bewertungen von Union und Piraten, gefolgt von der FDP. Größere Übereinstimmungen resultieren dagegen für die SPD, die Grünen – und vor allem die Linken. Am stärksten gilt also: Wer die Linke positiv (oder negativ) bewertet, der bewertet auch die Piraten in analoger Art und Weise. Das Ergebnis entspricht übrigens auch Befunden, die am Wahlabend aus dem Saarland berichtet wurden: Nach den Ergebnissen der Wählerwanderung von Infratest dimap war die Wählerzuwanderung zu den Piraten ausgehend von den Linken am größten. Der kurze Blick auf den Wählermarkt bestätigt somit die Muster, die wir zuvor schon auf Basis der Wahlomat-Analyse identifiziert haben: Zwischen Union und Piraten herrscht Distanz, zwischen Piraten und den Parteien der politischen

Die Piraten am Wahlomat

Linken dagegen sind die Abstände eher gering. In beiden Fällen gilt: Die Piraten gehören zum linken Spektrum. Im Gegensatz zur Analyse des Wahlomaten hebt sich bei der Analyse der Bewertungen durch die Wähler innerhalb der politischen Linken die Partei »Die Linke« nochmals von SPD und Grünen ab. Hier scheint ein zusätzliches Moment zu wirken, das diese beiden Parteien – Piraten und Linke – eint: vermutlich der Protest gegen die etablierten Parteien.

A USBLICK Ausgangspunkt unserer Überlegungen war das piratentypische »Prozess als Prinzip« und die damit möglicherweise verbundenen Folgen für die inhaltliche Positionierung der Partei im Parteienwettbewerb. Geht mit dem offenen, transparenten Prozess eine stärkere inhaltliche Beweglichkeit (bis hin zur Beliebigkeit) einher? Aus der Logik des Prozesses heraus erscheint dies durchaus möglich. Die Ergebnisse deuten allerdings nicht in eine solche Richtung. Vielmehr hat sowohl die Analyse der Parteipositionierung als auch der Wahrnehmung der Piraten durch die Wähler ein sehr konsistentes Bild ergeben. Aus inhaltlicher Sicht betrachtet haben die Piraten auf der (ohnehin schon gut gefüllten) linken Seite des politischen Spektrums ihren Platz gefunden. Weitere Analysen werden dieses Ergebnis prüfen und erhärten müssen. Dies gilt zunächst mit Blick auf die hier eingesetzte Methodik: Zwar sind der Wahlomat und die darin enthaltenen Positionierungen der Parteien ein schnell und leicht verfügbarer Ansatzpunkt für entsprechende Analysen. Gleichwohl erscheint es angezeigt, die auf dieser Basis getroffenen Befunde mit anderen, etablierten Verfahren zur Positionsbestimmung von Parteien zu überprüfen und dabei auch die zweidimensionale Struktur des deutschen Parteiensystems stärker zu berücksichtigen, als dies hier der Fall gewesen ist. Darüber hinaus besteht zweifellos auch weiterer Forschungsbedarf mit Blick auf die zukünftige Entwicklung im Zeitverlauf. Die zugrunde liegende These eines weniger stabilen inhaltlichen Programms infolge des offenen Entscheidungsfindungsprozesses ist ja letztlich eine dynamische. Um sie endgültig beantworten zu können, ist der hier betrachtete Zeitraum von lediglich knapp drei Jahren zu kurz. Gleichwohl bleibt festzuhalten: Prozess wie Produkt der Piraten waren bislang eine einzige Erfolgsgeschichte – und im Moment spricht einiges dafür, dass dies auch in naher Zukunft so bleiben wird. Spannend bleiben zwei Fragen: Kann es den Piraten auch mittel- und langfristig gelingen, in deutsche Parlamente einzuziehen? Das wäre durchaus bemerkenswert, allerdings doch keine Sensation, wie auch schon die Grünen und die Linken gezeigt haben. Einer Sensation gleich käme dagegen, wenn es den Piraten dabei gelänge, sich auch mittel- und langfristig dem ehernen Gesetz der Oligar-

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Thorsten Faas und Marc Debus

chie (Robert Michels) zu entziehen und das Prinzip des offenen, transparenten, hierarchiefreien, zu massenhafter Teilnahme einladenden Prozesses aufrechtzuerhalten. Das ist nämlich bisher noch niemandem gelungen. Für einen nachhaltigen Erfolg der Piraten könnte es aber essenziell sein.

Den Laptop auch mal zuklappen Zur Kritik der Distributionsmittel einer politischen Bewegung — eine skeptische Nachbetrachtung Claus Leggewie

D ER NÄCHSTE DEUTSCHE S ONDERWEG ? Das deutsche Parteiensystem hat sich als außerordentlich anpassungsfähig und innovationsfreudig erwiesen – die Welt der Parteien verdankt ihm drei herausragende Innovationen. Als erste erwuchs nach 1945 die christliche Demokratie wie ein Phönix aus der Asche aus einer Fusion des durch sein Bündnis mit dem im Nationalsozialismus kompromittierten Konservatismus mit dem zu stark im 19. Jahrhundert verwurzelten katholischen Zentrum. Resultat war eine säkularisierte interkonfessionelle Volkspartei der Mitte, deren Modellcharakter ceteris paribus bis zur heutigen AKP in der Türkei wirksam ist. Ende der 1970er Jahre schufen dann die grün-alternativen Bewegungen aus der eher virtuellen Spaltungslinie Ökologie versus Ökonomie eine rasch normalisierte Antipartei, die in Anspruch nehmen durfte, nicht rechts und nichts links, sondern »vorn« zu sein und unter den europäischen Schwesterparteien den Ton angibt. Nirgendwo waren diese politischen Kreationen urdeutsch oder blieben sie allein auf Deutschland begrenzt, aber nirgendwo haben sie sich qua Partei derart stabilisieren können. Und man muss auch sagen, welche Varianten dem deutschen Parteiensystem trotz einer politisch-kulturellen und sozial-moralischen Potenz erspart blieben: national-populistische Partien vom Typ FPÖ und anderer Freiheitsparteien. Die transnationale Piraten-Bewegung ist nun drittens ebenso wenig eine deutsche Kreation und Besonderheit, aber man kann angesichts ihrer raschen und einstweilen erfolgreichen Formierung als Partei durchaus die Frage stellen, ob damit ein weiterer »deutscher Sonderweg« beschritten wird. Die Beiträge dieses Buches haben klargemacht, wie mächtig eine neue politische Bewegung werden kann, wenn sie die Zeichen der Zeit erkannt hat. Für die herkömmliche Politik war das Internet ein Medium, in das man Information »einstellte« und dessen Interaktivität vor allem symbolisch genutzt

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wurde. Netzpolitik blieb dabei ein Nebenschauplatz von Politikfeldern, die man für wichtiger hielt: Finanzen, Justiz, Inneres. Hier ein wenig Informationsfreiheit, dort ein wenig Urheberrecht, über allem ein paar Anreize für die DotcomUnternehmen. Unterdessen emergierte in den Netzen eine Idee und Praxis von Selbstorganisation, die das Politische von innen heraus zu revolutionieren und die meisten Aspekte herkömmlicher Politik aufzuheben trachtete. Beileibe nicht nur »die Jungen« können sich vorstellen, Berufspolitiker, Parteien und Parlamente durch virtuelle Netzwerke und soziale Netzgemeinschaften nicht allein aufzumischen, wie es der in dieser Hinsicht fast schon renegatische Ansatz der deutschen Piraten andeutet, sondern schlichtweg abzuschaffen. Auch wenn man Carl Schmitts radikale Freund-Feind-Dichotomie nicht schätzt, nähren sich politische Leidenschaft und Gründungslust aus Antagonismus, also aus Wettbewerb und erklärter Gegnerschaft. Die Piraten opponieren gegen Verbote und Vorschriften, Gesetze und Regulierungen, also gegen bestimmte Aspekte von Staatlichkeit, die in der »Netzgemeinde« für obsolet gehalten werden. Das insofern libertäre oder anarchistische Gegen-Programm: Lasst uns nur machen, am Ende kommt mehr Freiheit für alle heraus. Im Ranking der Empfindlichkeiten und Empörungsanlässe stehen staatliche Eingriffe und Interventionen ganz oben. Vieles, was unter Prävention von Terrornetzwerken und Organisierter Kriminalität oder beim Jugendschutz vor Pädophilie und Pornografie gelaufen ist, hat diese Opposition bestärkt; spätestens die weltweiten Proteste gegen das Urheberrechtsabkommen ACTA im Februar 2012 haben den entgeisterten politischen Eliten gezeigt, welche Kraft ein Mobilisierungsmotiv in einem Bereich hat, den sie für völlig nebensächlich oder für ein reines Spezialthema von Nerds gehalten hatten. Allein in München waren 16.000 Menschen bei eisiger Kälte auf die Straße gegangen, um gegen die intransparente Form des Zustandekommens und den Inhalt von ACTA Flagge zu zeigen – und sie errangen einen ersten Erfolg, weil die Bundesregierung die Zustimmung zurückzog. Es geht bei der Debatte um ACTA um nicht weniger als eine neue Eigentumsordnung geistiger und materieller Werte und die radikale Informationsfreiheit durch Transparenz und offenen Zugang. Manche Piraten nennen das Commons-Politik, den Schutz einer transnationalen Allmende des Wissens, das der Menschheit ohne Einschränkungen und Eingriffe zugute kommen soll. Genau hier formt sich die Spaltungslinie, hat sich ein Milieu ausgeprägt, haben sich Politikfelder ergeben und politische Leidenschaften aufgestaut, die »bleiben« könnten, selbst wenn die Piraten (wie man weiland auch den Grünen vorhersagte) an subjektiver Tölpelhaftigkeit oder im Gehäuse des Parteienwesens scheitern sollten. Als politische DNA könnte »Plattformneutralität« wirksam sein, wenn darunter nicht nur das »Single issue« Informationszugang liefe, sondern eben eine Matrix entstünde, die andere Agenden politischer Gleichheit (Teilhabe von Migranten und Minderheiten, Religionsfreiheit, supra- und transnationale Partizipation) und Gerechtigkeit (wie Grundeinkommen, Bil-

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dung, Mobilität) integriert und das Netz hier nicht nur als Medium politischer Information und Kommunikation modelliert, sondern übergeordneten Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einer bestimmten Idee des Netzwerks zuführt.

E NTEIGNE T F ACEBOOK ! Um solche Werte geht es seit der Frühzeit der digitalen Kommunikation. Und hier bleiben Fragen, ob die Piraten mit dem politischen Produktionsmittel Internet dieses als Distributionsmittel nicht falsch einschätzen und so einen Hauptgegner unterschätzen, nämlich die Produzenten und Eigentümer der Netzmedien. Denn stets sitzt vor allem der Staat auf der Anklagebank der enragierten Nutzer, eine Art virtuelles »1984«, das als Zensor, Kontrolleur und Moralhüter auftritt und den freien Informationsfluss stört. Zugrunde liegt dem eine liberal-libertäre Ideologie, in deren Sinne der Supreme Court, das oberste US-Verfassungsgericht, 1997 im Sinne des ersten Zusatzes zur amerikanischen Verfassung hervorhob, das Internet sei, als Marktplatz der Ideen, eine »unendliche Unterhaltung«. Richter Stevens erklärte damals: »Wir gehen davon aus, dass die inhaltliche Regulierung von Wort und Schrift den freien Austausch von Ideen eher behindert als unterstützt. Das Interesse, die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft zu unterstützen, steht über jedem theoretischen, aber unbewiesenen Gewinn durch Zensur« (zit.n. New York Times vom 27.06.1997, vgl. Leggewie 1998).

Regulierung ist dann am besten Selbstregulierung, die Sittenwidriges, Kriminelles und Volksverhetzendes von sich aus »aus dem Netz« nimmt. Hier tut sich für das rechtslibertäre Lager ein Widerspruch auf. Puritanische Amerikaner, die dem (Bundes-)Staat genauso misstrauen wie dem Teufel, vertrauten sich seinerzeit privater Filterware an, die unerwünschte Inhalte automatisch ausschließt. Sie funktionierte wie eine umgekehrte Suchmaschine, die finden soll, was man nicht zu Gesicht bekommen möchte. Damals schon konnte man sich fragen, warum sich der Schutzsuchende privat-kommerziellen Betreibern von Filtern und Suchmaschinen lieber anvertraute als einem staatlichen oder parastaatlichen Organ der Rechtspflege und des Jugendschutzes. Und die Suchmaschinen waren seinerzeit noch in einem geradezu dinosaurischen Zustand, gemessen an der Entwicklung, die Google seither genommen hat, und im Verhältnis zur Sozialisierung des Internets, die mit dem Web  2.0 mittlerweile eingetreten ist. Suchmaschinen gehören heute zu den Gelddruckmaschinen eines aus den Fugen geratenen Kapitalismus, der die freie Unterhaltung hemmungslos für Gewinnzwecke ausbeutet und »Privacy«, die Geheimhaltung

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intimer und privater Angelegenheiten vor dem Staat, so weit durchlöchert hat, dass Teile der Nutzer sich schon freiwillig in eine Post-Privacy-Epoche hineinbeamen. Protestbewegungen definieren sich von jeher durch den Gegenstand ihrer Empörung (z.B. Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Diskriminierung), durch ihre sozialen Träger (Bürger gegen die Monarchie, Arbeiter gegen die Bourgeoisie, Grüne gegen die Naturzerstörer etc.) sowie durch ihr Verhältnis zu den Medien öffentlicher Information und Kommunikation (z.B. gegen staatliche Zensur und Informationsmonopole). Bürgerliche wie sozialistische Oppositionsbewegungen hatten vornehmlich die Repressionsgewalt der herrschenden Klassen mit ihren Staatsapparaten und von oben gesteuerten Medien im Visier, und in dieser Tradition bewegten sich auch die neuen sozialen Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg gegen den »Atomstaat« und »Sicherheitsstaat«. Die 68er-Revolte unterstellte an vielen Orten der Welt eine (Re-)Faschisierung der Staatsgewalt, und in dieser linkslibertären Tradition »gegen den Staat« und seine vermeintliche Übermacht stehen auch die Piraten, wenn auch weit entfernt von der militanten Rhetorik ihrer Vorgänger und in Deutschland rascher bereit, als parlamentarische Bewegung an der Reform der Gemeinwesen mitzuwirken. Die 68er-Bewegung war in ihren Anfängen ebenso antikapitalistisch wie medienkritisch – nicht nur im Blick auf die »Manipulation« der Massen durch Massenkommunikation, sondern auch im Blick auf die Besitz- und Eigentumsverhältnisse der großen privaten Printunternehmen und TV-Anstalten. Typisch dafür war in Deutschland die »Anti-Springer-Kampagne« von 1967ff., die in einer reichlich omnipotenten Enteignungsparole mündete, aber auch zu diversen Experimenten einer Gegenöffentlichkeit führte, welche sich u.a. in der Berliner »tageszeitung« (taz) materialisierten. Das Verhältnis der 1968er zu den Massenmedien war dabei durchaus ambivalent: So kritisch die Protestbewegungen der konsumistischen Massenkultur gegenübergestanden und das Fernsehen verabscheut haben mögen, so sehr waren sie Nutznießer einer medialen Spiegelung ihrer zahlenmäßig schwachen und im kulturellen Mainstream marginalen Bewegung – the whole world is watching (Gitlin 1980). Das Fernsehen transportierte die Revolte in jedes Wohnzimmer und machte sie irgendwann konsumabel für alle und kompatibel mit dem Mainstream der postindustriellen Gesellschaft. Die Ausgestaltung des Internets als »Marktplatz der Ideen« steht durchaus in dieser libertären Tradition – zum einen als Markt- und Spielplatz, in dem Konsum- und Unterhaltungsbedürfnisse hemmungslos im Vordergrund stehen, zum anderen als Agora und Arena politischer und sozialer Partizipation, in denen viele Aspekte der antiautoritären Revolte aufbewahrt und weiterentwickelt wurden. Radikale Individualisierung und vehemente Gemeinschaftsrhetorik bilden die Flanken eines neuen medial-industriellen Komplexes, der einer deliberativen Demokratie dieselben Instrumente an die Hand gibt wie dem

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Mainstreaming des Geschmacks und der sozialen Präferenzen. Im Prozess der Medienevolution distanziert sich die »Internetgeneration« von den Unterhaltungs- und Politikformaten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens klassischer Provenienz und gestaltet, in partieller Affinität zum Unterhaltungsstil und zur Rhetorik des privat-kommerziellen Fernsehens, den Marktplatz der Ideen auch zur Politikarena um, der vor allem die strukturierte Vergemeinschaftung durch die digitalen sozialen Medien (Twitter, Facebook usw.) zugrunde liegen. Was man Ende der 1990er Jahre an Filtern, Blockiersoftware und Suchmaschinen kritisieren konnte, nämlich die Privatisierung von Zensur und Geschmacksbildung in den Händen großer Unterhaltungs- und Medienkonzerne, gilt heute für die noch weit mächtiger und finanzstärker gewordenen Eigentümer und Gestalter der sozialen Medien. Wenn in der alten Welt der Bücher und Bilder, der Zeitungen und des unidirektionalen Fernsehens für den Staat und das politische System galt, dass sie sich nicht einzumischen hätten, so gilt das in der neuen Welt der digitalisierten Kommunikation mit weit größerer Berechtigung für die Medienkonzerne Microsoft, Google und Facebook. Der Staat bleibt, wo er Zensur und Kontrolle ausübt, der »übliche Verdächtige«, gewiss. Aber die Zensur- und Kontrollmacht der Medienkonzerne zu übersehen, wäre fahrlässig und fatal; bei ihnen konzentrieren sich schon ökonomisch alle Mittel, die öffentliche Meinung zu formatieren. Hier kommt dann wieder der »Zwang zum Analogen« ins Spiel: Der Antietatismus der anarchistischen Bewegungen, die sich im Internet eine Gesellschaft nach ihrem Bild geschaffen zu haben meinen, lässt eine kritische Betrachtung und politische Opposition gegen die neoliberale Ideologie des »großen Marktplatzes der Ideen« vermissen, die großenteils nicht selbstorganisiert ist, sondern von den genannten Medienagglomerationen beherrscht wird. Die Machtfrage wird nicht gestellt, eine Enteignungsforderung gegen Marc Zuckerberg ist mir nicht zu Ohren gekommen, so wie schon Bill Gates und Steve Jobs von ihr verschont blieben, weil sie in der Szene bewundert, ja vergöttert wurden. Heute geht die Bedrohung der freien Rede – und notabene: des freien Marktes! – weniger von »Big Brother«, also den Wahrheitsministerien autoritärer Obrigkeitsstaaten, aus als vom Konformismus und von der Chuzpe eines kultur-industriellen Komplexes in privaten Händen. Sicher haben, wie dargestellt, auch die 68er-Bewegung und viele soziale Bewegungen vor und nach ihr private Medien als Distributionsmittel ihrer Programme und Aktionen genutzt. Heute, da das Internet und speziell das Web 2.0 zugleich Produktionsmittel politischer Aktivitäten sind, ist das Schweigen gegenüber der Machtkonzentration fatal und eine radikale Kritik der herrschenden Mediengewalten so notwendig wie zu Beginn der bürgerlichen und industriellen Revolutionen. Neue soziale Medien an sich zur politischen Potenz zu erheben (was nicht die Piraten, aber ihr potentieller Anhang tun und die Piraten weitgehend beschweigen), ist aus mehreren Gründen ein Kategorienfehler. Der wichtigste

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Grund ist wie gesagt ihr privat-kommerzieller Charakter, während politische Aktion Öffentlichkeit vorschreibt und Gewinnorientierung ausschließt. Es wäre fatal, wenn internetaffine Akteure im (durchaus berechtigten) Misstrauen gegen staatliche Machtmonopole die geballte Macht wirtschaftlicher Oligopole wie Facebook, Apple, Google, Microsoft, Amazon und anderen übersehen würden. Die ebenso simple wie umstürzende Geschäftsidee des Facebook-Gründers Zuckerberg bestand darin, Surfprofile und Kontakte von Konsumenten im Netz zu erstellen und sie mit Gewinn weiterzuverkaufen. Facebook verbindet virtuelle Face-to-Face-Gemeinschaften, deren Mitglieder sich nicht persönlich kennen müssen, aber über Interfaces verbunden sind und darüber regelmäßig (meist private) Informationen austauschen, sich verabreden, eine Fan-Thematik pflegen (z.B. Computer-Rollenspiele), dabei eine eigene Sprache und evtl. einen speziellen Wertekosmos herausbilden, Lebensstile gemeinsam ausprobieren und sich nach außen abgrenzen. Daran wirken unterdessen mehr als eine halbe Milliarde Menschen mit – als »freie Mitarbeiter« eines Konzerns, der ihnen Klarnamen und Konterfei abverlangt, aber die gespeicherten Mitarbeiterdaten nicht mehr herausrücken will. Problematisch ist auch, dass Facebook – im Gegensatz zu anderen Medien – selbst ein ausgrenzendes und autoritäres Medium ist, in dem es seine Dienste nur durch ein Tauschgeschäft von Daten zur Verfügung stellt. Wer sich (nicht aus Technologieverweigerung, sondern aus Gründen der informationellen Selbstbestimmung) diesem »Tauschgeschäft« verwehrt – und das sind in der Regel kritische Konsumenten und Bürger – wird aus der Pseudoöffentlichkeit von Facebook ausgeschlossen. Bestimmte Kommentierungsfunktionen in Online-Plattformen und Blogs sind derweil nicht mehr ohne eine Facebook-Mitgliedschaft möglich (Kritik und Alternativen bei Röhle/Leistert 2011). Ein weiterer Vorbehalt gegen eine Politisierung via Facebook ist die antipolitische Gleichsetzung von Bürgern mit Nutzern. Facebook sammelt nicht nur Daten, mit denen Bedarfe gelenkt werden können, es sammelt über den LikeButton bevorzugt Meinungen, mit denen durch personalisiertes Branding und Reputationsmanagement Bedürfnisse geschaffen werden können. Unter dem Vorwand totaler Transparenz hat sich eine undurchsichtige Datensammlung etabliert, die jenen, denen sie freundlichst unter den Arm greift, auch die Prioritäten darüber vorgibt, was subjektiv relevant ist und was nicht. Zur Nachricht an den engen Freundeskreis melden sich die passende Werbung und vor allem jene Freunde, die Facebook-Algorithmen für die richtigen halten. Wie die »Arabellion« – weit davon entfernt, eine »Facebook-Revolution« gewesen zu sein (Hanrath/Leggewie 2012) – gezeigt hat, kann Facebook hier und da zwar ungewollt Revolutionen unterstützen, systematischer lässt es sich aber für Überwachung und Repression nutzen. Das Ende der Anonymität ist gerade in autoritären Regimen hochproblematisch bis gefährlich. Auch demokratische Gesellschaften lassen Mobilfunkkommunikation durch staatliche Behörden über-

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wachen, indem z.B. eingeschaltete Handys durch Absetzen »stiller SMS« zu orten sind; exemplarisch war die Handyüberwachung der sächsischen Polizei gegen die Blockierer eines Neonaziaufmarschs in Dresden im Februar 2011. Überwachungssoftware dieser Art zirkuliert völlig unreguliert auf den Märkten und wird von autoritären Regimen wie im Iran und Syrien erworben und eingesetzt.

D ELIBER ATION IN DER »G EFÄLLT MIR «-F ALLE ? Zusammenfassend ignoriert dann der politisch gemeinte Klick der Piraten- und Occupy-Basis ein Kernelement demokratischer Kommunikation – die ausgewogene, nicht durch Sympathie oder Antipathie verzerrte Debatte. Deliberation kann nicht funktionieren, wenn sämtliche Inhalte ich-zentriert, also auf ein individuelles Profil abgestimmt sind, das zugleich einem von (Zu-)Stimmungen außengeleiteten Konformitätszwang untersteht. Auch Liquid Democracy, das wie als Gegengift konzipiert ist, muss daraufhin befragt werden, auf welche Seite das Verfahren am Ende fällt – zur notwendigen »Verflüssigung« der Demokratie oder ihrer postdemokratischen Liquidierung. Die sozialen Medien suggerieren spielerische Wahlmöglichkeiten, in Wirklichkeit erlauben oder erzwingen Vernetzung und Verdatung den permanenten Abgleich mit anderen zur Pflege des eigenen sozialen Kapitals. Soziale Kontrolle entsteht hier nicht durch staatliche Überwachung und Repression, sondern in der freiwilligen, durch Generations- und Modeeffekte verstärkten Soziometrie mit Bekenntniszwang. Als »Freunde« konnotierte Andere wachen über die Hipness und Hinnehmbarkeit von Präferenzen, andernfalls drohen Exklusion, Mobbing, sozialer Tod. Es wäre fatal, wenn diese Mischung von kollektivem Transparenzzwang und individueller Authentizitätsbehauptung Präferenzen bei Wahlentscheidungen und politischen Optionen beeinflussen würde. Deliberative Demokratie sieht anders aus – sie ist voraussetzungsvoller als »Clicktivism«, weit mühsamer als ein Kreuzchen oder Anklicken bei einer Abstimmung und viel aufwändiger an Zeit und Ressourcen. Doch einzig die gründliche öffentliche Erörterung öffentlicher Angelegenheiten und eine zur Normalität gewordene Alltagskultur politischer Beteiligung kann Regierende und Regierte einander annähern, politische Entfremdung überwinden und gemeinsame Lernprozesse einleiten, die den drängenden Krisen der Gegenwart und den immensen Herausforderungen der Zukunft auch nur halbwegs angemessen sind. »Liquid Democracy« bietet hier interessante Überlegungen, um die aktuelle Debatte über zeitgemäße und zielführende Formate der Bürgerbeteiligung weiterzubringen (Leggewie 2011). Dazu muss man den Laptop ab und an aber auch mal zuklappen …

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L ITER ATUR Gitlin, Todd (1980): The Whole World Is Watching: Mass Media in the Making and Unmaking of the New Left. Berkeley/Los Angeles. Leggewie, Claus (1998): Enteignet Bill Gates!? Staatliche Regulierungsversuche im Internet. In: Leggewie, Claus/Maar, Christa (Hg.): Internet und Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie. Köln, S. 207-222. Leggewie, Claus (2011): Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie. Hamburg. Hanrath, Jan/Leggewie, Claus (2012): Revolution 2.0? Die Bedeutung digitaler Medien für politische Mobilisierung und Protest. In: Globale Trends 2012. Frankfurt a.M., i.E. Röhle, Theo/Leistert, Oliver (2011): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net. Bielefeld.

Autorinnen und Autoren

Sigrid Baringhorst ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen. Christoph Bieber ist Inhaber der Johann-Wilhelm-Welker-Stiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Daniel Constein ist Student im Master-Programm »Sustainability Economics and Management« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Marc Debus ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politisches System Deutschlands und der EU an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Leonhard Dobusch ist Postdoc am Institut für Management der Freien Universität Berlin und Fellow im Projekt »The Business Web« der stiftung neue verantwortung. Thorsten Faas ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten, an der Universität Mannheim. Claudio Gallio ist Geschäftsführer Kreation der Berliner Kommunikationsagentur familie redlich, die für nationale und internationale politische Institutionen tätig ist. Dirk von Gehlen ist Diplom-Journalist und leitet die Abteilung »Social Media/ Innovations« bei der Süddeutschen Zeitung. Kirsten Gollatz ist Projektleiterin im Forschungsbereich »Policy & Governance« beim Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.

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Unter Piraten

Silke Helfrich, freie Publizistin und Mitbegründerin der Commons Strategies Group, lebt und arbeitet in Jena. Kai-Uwe Hellmann vertritt derzeit die Professur für Soziologie (WiSo) an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Alexander Hensel arbeitet am Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen und ist dort Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt über die Piratenpartei. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft, Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen und Dekan der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften. Jörn Lamla ist Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und vertritt derzeit eine Professur für Soziologische Theorie an der Universität Kassel. Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Lawrence Lessig ist Professor für Rechtswissenschaft an der Harvard University und Direktor des Edmond J. Safra Center for Ethics in Cambridge, MA (USA). Stefan Marschall ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt »Politisches System Deutschlands« am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Mathias Mertens ist Experte für digitalkulturelle Fragen an der Universität Hildesheim und im Feuilleton überregionaler deutscher Zeitungen. Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Seemann ist Blogger, Journalist und Kulturwissenschaftler mit vielen Projekten im und über das Web. Er lebt im Internet und in Berlin. Jasmin Siri ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LudwigMaximilians-Universität München, ihre Dissertationsschrift Parteien. Zur Soziologie einer politischen Form ist 2012 erschienen.

Autorinnen und Autoren

Paula-Irene Villa lehrt Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind Geschlechterforschung, soziologische Theorien, Körper- und Kultursoziologie, Elternschaft und Biopolitik. Frieder Vogelmann ist Doktorand im Fach Philosophie und Mitglied der Nachwuchsgruppe »Variationen des Neoliberalismus« am Exzellenzcluster »Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Mundo Yang ist Sozialwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialwissenschaften an der Universität Siegen. Seine Dissertationsschrift »Deliberative Politik von unten« ist 2012 erschienen.

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Kultur- und Medientheorie bei transcript Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.)

Generation Facebook Über das Leben im Social Net

2011, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4 Das Social Net verändert uns und unser soziales Leben. Die Beiträge gehen diesen Veränderungen nach: kritisch, engagiert und theoretisch fundiert. Mit Beiträgen u.a. von Geert Lovink und Saskia Sassen. »Ausgesprochen informativ. Man ist den Autoren dankbar, dass sie die geheimen Strategien des Netzwerkes fern jedes Alarmismus kritisch durchleuchten.« Regula Freuler, NZZ am Sonntag, 25.09.2011 »Es ist schwerer geworden, sich als Person gegen sein Profil zu behaupten.« Stefan Schulz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.04.2012 »Erhellende Perspektiven auf Praktiken der Selbstzerteilung und auf eine neue Geständniskultur.« Johannes Gernert, taz, 07.01.2012

www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie bei transcript Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.)

Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat

2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8 Commons – die Welt gehört uns allen! Die nicht enden wollende globale Finanzkrise zeigt: Markt und Staat haben versagt. Deshalb verwundert es nicht, dass die Commons, die Idee der gemeinschaftlichen Organisation und Nutzung von Gemeingütern und Ressourcen, starken Zuspruch erfahren – nicht erst seit dem Wirtschaftsnobelpreis für Elinor Ostrom. Commons sind wichtiger denn je. Sie beruhen nicht auf der Idee der Knappheit, sondern schöpfen aus der Fülle. Dieser Band mit Beiträgen von 90 internationalen Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft stellt ein modernes Konzept der Commons vor, das klassische Grundannahmen der Wirtschafts- und Gütertheorie radikal in Frage stellt und ein Wegweiser für eine neue Politik sein kann.

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X-Texte bei tr anscr ipt Franz Walter

Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration (2., unveränderte Auflage 2009) »Ein an Einsichten reiches Büchlein.« Jürgen Busche, Cicero, 6 (2009)

2009, 136 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1141-0

Franz Walter

Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland »Eine grundseriöse Studie des Göttinger Parteienforschers Franz Walter, der hier die intellektuelle Freude am Gegenstand kaum verbirgt.« Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT, 29.04.2010

2010, 148 Seiten, kart., 14,80 € , ISBN 978-3-8376-1505-0

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X-Texte bei transcr ipt Geert Lovink

Das halbwegs Soziale Eine Kritik der Vernetzungskultur

Juli 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1957-7 Während die meisten Facebook-User noch mit Freund-Werden, »Liken« und Kommentieren beschäftigt sind, ist es an der Zeit, auch die Konsequenzen unserer informationsübersättigten Lebensweise zu betrachten. Warum machen wir so fleißig bei den sozialen Netzwerken mit? Und wie hängt unsere Fixierung auf Identität und Selbstmanagement mit der Fragmentierung und Datenflut in dieser Online-Kultur zusammen? Mit seinen Studien zu Suchmaschinen, Online-Videos, Blogging, digitalem Radio, Medienaktivismus und WikiLeaks dringt Lovink in neue Theoriefelder vor und formuliert eine klare Botschaft: Wir müssen unsere kritischen Fähigkeiten nutzen und auf das technologische Design und Arbeitsfeld Einfluss nehmen, sonst werden wir in der digitalen Wolke verschwinden.

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Die Plattform für Veränderung Hier informieren und vernetzen sich politisch und gesellschaftlich engagierte Menschen. Die Bewegungsplattform bietet Raum für alle Themen und alle Akteure – für bundesweite Kampagnen, für die Bürgerinitiative vor Ort und für neue Ideen, die Unterstützung und MitstreiterInnen suchen. Veränderung setzt Bewegung voraus. Gemeinsam mit euch wollen wir die Alternativen sichtbar machen und die Zivilgesellschaft stärken.

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