Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft: Geschichte einer Vielvölkerregion zwischen Rebellion und Anpassung 9783412218386, 9783412224820

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Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft: Geschichte einer Vielvölkerregion zwischen Rebellion und Anpassung
 9783412218386, 9783412224820

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA MANFRED HILDERMEIER JOACHIM VON PUTTKAMER BAND 49

Der Nordkaukasus unter russischer Herrschaft GESCHICHTE EINER VIELVÖLKERREGION ZWISCHEN REBELLION UND ANPASSUNG

VON JERONIM PEROVIĆ

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der PD-Stiftung der Universität Zürich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: „An die Völker des Kaukasus [Narodam Kavkaza]“, sowjetisches Propagandaplakat aus dem Jahr 1920 von Dmitrij S. Moor (1883–1946). (Archiv des Verfassers) © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22482-0

I N H A LT ZUR REIHE  . . ..............................................................................................................  11 VORWORT  . . ...............................................................................................................  13 HINWEISE ZUR SCHREIBWEISE  . . ..................................................................  17 ABKÜRZUNGEN UND GLOSSAR HÄUFIG VERWENDETER BEGRIFFE  ............................................................  18 1. EINLEITUNG: RUSSLAND UND DIE VÖLKER DES NORDKAUKASUS  ...........................................................................................  1.1 Problemfelder der Forschung  . . ..................................................................  1.2 Die Errichtung staatlicher Herrschaft im Zarenreich und in der Sowjetunion  ..............................................................................  1.3 Ziele und Vorgehen  ..................................................................................... 

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2. EROBERUNG UND WIDERSTAND  .........................................................  2.1 Russland und die Völker des Nordkaukasus im 18. Jahrhundert  .......  2.2 Tschetschenische Besonderheiten  ............................................................  2.3 Leben und Sterben an der „Linie“  ...........................................................  2.4 Der Große Kaukasuskrieg und das Imamat Šamils  . . ............................  2.5 Der Sieg Russlands und historische Kontroversen  . . ............................. 

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3. HERRSCHAFT UND VERTREIBUNG  . . ...................................................  3.1 Auswanderung und Kolonialisierung  . . ....................................................  3.2 Zwischen den Welten: General Musa Kunduchov  ...............................  3.3 Kunduchov und die Tschetschenen  .. ........................................................  3.4 Emigration und Folgen  . . ............................................................................. 

91 93 101 107 113

4. DER NORDKAUKASUS IM ZARENREICH  .. .........................................  4.1  „Informelle“ Herrschaft zwischen Anspruch und Wirklichkeit  . . .........  4.2 Der letzte Dschihad  .....................................................................................  4.3 Kosakenherrschaft und Segregationspolitik  ..........................................  4.4 Der Nordkaukasus am Vorabend der Revolution  . . ................................  4.5 Kontroverse Beurteilung  ............................................................................ 

119 121 132 138 145 150

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Inhalt

5. BANDITEN UND HEILIGE: ABREK ZELIMCHAN  .. .........................  5.1 Banditenwesen und das Phänomen Zelimchan  .....................................  5.2 Abreken und abrečestvo  . . ...........................................................................  5.3 Das Werden eines Abreken  . . ......................................................................  5.4  „Imam“ Zelimchan und religiöse Verbindungen  .. ..................................  5.5 Tod Zelimchans  .. .......................................................................................... 

154 160 165 171 176 184

6. REVOLUTION UND BÜRGERKRIEG  .....................................................  190 6.1 Februarrevolution und Aufbruch der Völker  .........................................  193 6.2 Oktoberrevolution und Unabhängigkeitsbestrebungen  .......................  201 6.3 Der Weg in die Gewalt  ...............................................................................  207 6.4 Die Bolschewiki im Nordkaukasus und erste Staatsbildungsprojekte  212 6.5 Der Nordkaukasus nach der Ankunft Denikins  . . ...................................  222 6.6 Verpasste Chance  . . .......................................................................................  235 7. ILLUSION DER FREIHEIT  ...........................................................................  7.1 Gründung und Zerfall der sowjetischen Bergrepublik  ........................  7.2 Autonomie für die Tschetschenen  ............................................................  7.3 Reise nach Urus-Martan  .. ...........................................................................  7.4 Scheich Ali Mitaev  ......................................................................................  7.5 Im Visier der Geheimpolizei  .....................................................................  7.6 Der Weg in den offenen Machtkampf  .....................................................  7.7 Das Ende der Illusion  ................................................................................. 

239 242 255 264 270 278 286 296

8. STAAT UND GESELLSCHAFT  .. ..................................................................  8.1 Dilemmata der Sowjetisierung  .................................................................  8.2 Die dörfliche Welt zwischen Stillstand und Veränderung  ...................  8.3 Der Gegensatz von Stadt und Land  .........................................................  8.4 Gescheitertes Experiment: Die Schaffung eines tschetschenischen Proletariats  .. .................................................................  8.5 Kampf um Räume  .......................................................................................  8.6 Tschetschenien Ende der 1920er Jahre  .................................................... 

301 304 312 329

9. KOLLEKTIVIERUNG UND REBELLIONEN  ........................................  9.1 Vorspann zur Tragödie: Der Aufstand von Baksan  ..............................  9.2 Der Weg in die Eskalation  .........................................................................  9.3 Tschetschenien: Kollektivierung zwischen Utopie und Gewalt  ........  9.4 Flächenbrand  ................................................................................................  9.5 Nachwehen eines brutalen Kriegs  . . .......................................................... 

354 361 375 381 392 395

334 344 351

Inhalt

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10. AM RAND DER MOBILISIERUNGSGESELLSCHAFT  .....................  10.1 Terror, Banditen und die Ambivalenz der Moderne  .............................  10.2 Im Blickfeld Moskaus  ................................................................................  10.3 Schwacher Staat und schwierige Mobilisierung  ...................................  10.4 Der Nordkaukasus im Zweiten Weltkrieg  ..............................................  10.5 Die Tragödie der Deportation  ................................................................... 

403 408 416 423 430 442

11. ANPASSUNG UND REBELLION – DER FALL HASAN ISRAILOV  . . ...................................................................  11.1 Israilov im Spiegel der Geschichtsschreibung  ......................................  11.2 Vom Koranschüler zum Widerstandskämpfer  .......................................  11.3 Widerstand im Stalinismus  ........................................................................ 

448 449 460 469

12. GESCHICHTE, ERINNERUNG UND KRIEG – AUSBLICK IN DIE GEGENWART  .............................................................  474 13. FAZIT: PREKÄRE HERRSCHAFT UND UMKÄMPFTE LOYALITÄTEN  ..................................................................................................  488 14. KARTEN  ...............................................................................................................  493 15. ABBILDUNGSNACHWEIS  ..........................................................................  509 16. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS  ....................................  16.1 Unveröffentlichte Archivdokumente  .......................................................  16.2 Zeitungen  .. .....................................................................................................  16.3 Gedruckte Quellen, Memoiren und vor 1941 erschienene Publikationen  ................................................................  16.4 Sekundärliteratur  .........................................................................................  16.5 Nachschlagewerke/Enzyklopädien  ..........................................................  16.6 Audiovisuelle Dokumente  ......................................................................... 

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PERSONENREGISTER  .. ........................................................................................  535

Für Franca

ZUR R EIHE

Die Beiträge zur Geschichte Osteuropas erscheinen fortan in einem neuen Layout. Mehr als zwanzig Jahre nach der letzten Veränderung und nach einem partiellen Generationswechsel halten die Herausgeber eine solche Auffrischung für angezeigt. Sie verbinden die äußere Kur mit einer inhaltlichen Neuausrichtung. Ohne den bisherigen Schwerpunkt aufzugeben, der auf der russisch-sowjetischen Geschichte lag, möchten sie die Beiträge stärker sowohl zur ostmitteleuropäischen als auch zur ‚allgemeinen‘, westeuropäischen Geschichte öffnen. Die Reihe soll weiterhin vor allem Monographien aufnehmen, dabei aber Osteuropa – in Anknüpfung an ihre Anfänge – wieder breiter verstehen und vergleichenden Perspektiven gebührenden Raum geben. Sie trägt damit einer ebenso aktuellen wie alten Einsicht Rechnung: dass der Blick in die Tiefe zur klarsten Erkenntnis führt, wenn er in ein breites Sichtfeld eingebettet bleibt. Gerade in diesem Sinn soll die Reihe weiterhin sichern, wofür sie bislang zu stehen versucht hat: ein hohes Niveau an akribischer und zugleich reflektierter Forschung.

VO RWO R T

Der Nordkaukasus gilt als Synonym für eine Region, die am Abgrund steht. Ins breitere Bewusstsein der Weltöffent­lichkeit trat dieser islamisch geprägte Teil der Russländischen Föderation im Zuge der Tsche­tschenienkriege der 1990er und 2000er Jahre. Diese Kriege forderten Zehntausende Menschenleben und zogen Zerstörungen nach sich, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat. Die Zone der Gewalt hat sich längst über Tsche­tschenien hinaus ausgedehnt und umfasst nebst den Krisengebieten Dagestan und Inguschetien auch Kabardino-Balkarien, Karatschaewo-Tscherkessien und Nordossetien. Die gesamte Region gilt seit Jahren als No-go-Area. Die Außenministerien west­licher Länder raten von Reisen ab. Die starke Präsenz des Nordkaukasus in den Medien steht in krassem Gegensatz zu unserem geschicht­lichen Wissen um diese Vielvölkerlandschaft. Dabei mangelt es nicht an Büchern, die sich mit dieser Region – und nament­lich den Tsche­ tschenienkriegen – befassen. Die gängigen Darstellungen, die meist in Form von Übersichtswerken gehalten sind, belassen es allerdings oft bei der Feststellung, dass das Verhältnis zwischen Russland und den nordkauka­sischen „Bergvölkern“ schon immer konfliktträchtig gewesen sei. Ein solches Narrativ konnte sich deshalb herausbilden, weil die bisherige Geschichtsschreibung den Schwerpunkt vor allem auf drei besonders konfliktreiche Episoden gelegt hat: den hartnäckigen Widerstand einzelner nordkauka­sischer Völker gegen den rus­sischen Eroberungsfeldzug im 19. Jahrhundert, die Deportation der Tsche­tschenen, Inguschen und anderer Nordkaukasusvölker im Zweiten Weltkrieg durch Stalin und schließ­lich die Tsche­tschenienkriege der jüngsten Vergangenheit. Die Zeitabschnitte dazwischen wurden von der west­lichen Forschung bisher kaum systematisch und anhand neuer Archivquellen untersucht. Ebenso wenig wurde versucht, zwischen den Entwicklungswegen der verschiedenen Völker und deren jeweiligen Verhältnissen zu Russland zu unterscheiden. Entsprechend ­diesem selektiven Blick auf die Geschichte hat sich das Bild eines Dauerkonflikts verfestigt. Die Geschichte des Nordkaukasus und seiner Völker spricht tatsäch­lich von viel Gewalt. Die Beziehung der einzelnen Völker zu Russland war aber nicht durchgängig von Konfrontation gekennzeichnet. Die Entwicklungen spielten sich im Spannungsfeld zwischen offener „Rebellion“ und „Anpassung“ ab. Die Frontlinien stellten sich dabei oft ebenso verworren dar, wie die Identitäten und Loyalitäten von Menschen und Gesellschaften wechselhaft waren. Die Ursachen der Gewalt waren dabei nicht immer auf Unterdrückung durch den rus­sischen Zentralstaat zurückzuführen und das Attribut „antikolonial“ vermag den Charakter bewaffneter

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Vorwort

Konflikte nur bedingt zu beschreiben. So war Gewalt nicht immer gegen Russland gerichtet, sondern häufig auch das Resultat von Konflikten und Spannungen, die innerhalb der Völker und Gesellschaften angelegt waren – ein Umstand, den die Geschichtsschreibung bislang kaum berücksichtigt hat. Jeder Versuch, eine Geschichte des Nordkaukasus unter rus­sischer Herrschaft zu schreiben, ist mit dem Problem konfrontiert, dass sich die Analyse nicht auf die gewohnten historiographischen Narrative verlassen kann, die dahin tendieren, Komplexitäten in einem oft unzulässigen Maß zu reduzieren. Schon deshalb war es von Beginn weg ein gewagtes Unterfangen, sich an die Aufarbeitung dieser Geschichte zu wagen. Vieles musste ich weglassen, weil dafür kein Platz war oder die Zeit für weitere Forschung fehlte. Ich habe zahlreiche Dokumente aus russländischen Archiven einsehen können, die noch kaum in der west­lichen Sekundärliteratur verarbeitet sind. Vermut­lich habe ich dabei aber auch einiges übersehen. Dennoch hoffe ich, dass es mir mit d­ iesem Buch gelungen ist, wichtige Lücken zu schließen, Fehlwahrnehmungen zu korrigieren und einen Anstoß für die weitere Forschung zu geben. Dieses Buch, das zugleich meine Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich darstellt, hätte ohne den Rat und Beistand zahl­ reicher Personen nie geschrieben werden können. An erster Stelle danke ich Heiko Haumann, der meine Idee, eine Geschichte zum Nordkaukasus zu schreiben, von Anfang an unterstützt und mich dabei bis zum Ende des Projekts begleitet hat. Seine methodischen und theoretischen Hinweise waren für mich äußerst wertvoll. Ein Habilitationsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds ermög­lichte mir, das Projekt am Historischen Seminar der Universität Basel in drei Jahren in eine gute Form zu bringen. Danach führte ich das Vorhaben an der Universität Zürich weiter, nachdem ich 2011 daselbst zum SNF-Förderungsprofessor berufen worden war. Den Mitgliedern der Habilitationskommission an der Universität Zürich, den Professoren Johannes Ullrich, Nada Boškovska, Daniel Weiss, Svenja Goltermann und dem externen Gutachter, Maurus Reinkowski, möchte ich dafür danken, dass sie meine Habilitationsschrift wohlwollend aufgenommen und mir nütz­liche Hinweise mit Blick auf eine Drucklegung gegeben haben. Der Lehrstuhlinhaberin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich, Nada Boškovska, und dem ganzen „OEG-Team“ (Regina Klaus, Nina Perliyev-Zürcher, Florian Rohner und Daniel Ursprung) gilt mein ganz besonderer Dank für die vielen guten Gespräche und die hervorragende Atmosphäre am Institut. Das hat meiner Arbeit Flügel verliehen. Ich erhielt mehrmals Gelegenheit, Ideen und Resultate an Kolloquien und ­Seminaren vorzustellen. Susanne Schattenberg und Heiko Pleines luden mich 2009 zu einem Forschungskolloquium an die Forschungsstelle Osteuropa der Uni­ versität B ­ remen ein und ermög­lichten mir, einige meiner Thesen vor einem größeren Pub­likum zu testen. Von den Teilnehmern ­dieses Kolloquiums erhielt ich wichtige Impulse für meine weitere Forschungsarbeit. Alexandra Oberländer möchte ich

Vorwort

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speziell dafür danken, dass sie sich die Zeit nahm, mir ihre ausführ­lichen Kommentare schrift­lich zukommen zu lassen. Zwei Jahre später habe ich Auszüge aus meinem Kapitel zur Kollektivierung im Nordkaukasus am Doktorandentag der Osteuropa-Lehrstühle der Universitäten Zürich und Konstanz vorstellen dürfen. Bianka Pietrow-Ennker, Nada Boškovska, Peter Collmer und den anderen Teilnehmern danke ich für die daraus entstandenen Anregungen und nütz­lichen Hinweise. Meine Arbeit profitierte auch vom Austausch mit den Studierenden der Universitäten Basel und Zürich, wo ich mehrere Lehrveranstaltungen zur Geschichte des Kaukasus und zur sowjetischen Nationalitätenpolitik durchführte. Zugutegekommen ist mir auch die Kritik, die ich von Herausgebern und anonymen Gutachtern der Zeitschriften Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Kritika und Journal of Contemporary History vor der Publikation dreier Aufsätze zu Themen der nordkauka­sischen Geschichte erhielt. Davon haben insbesondere die Buchkapitel 5, 7 und 9 profitieren können. Für meine Recherchen hielt ich mich nicht nur längere Zeit in russländischen Archiven und Bibliotheken auf. Auch trug ich Material aus der British Library in London, der Bibliothèque Nationale de France in Paris, der Widener Library der Universität Harvard, dem Archiv der Hoover Institution an der Stanford Uni­versität im kalifornischen Palo Alto, dem Bundesarchiv (Abteilung Militärarchiv) in Freiburg i. Br. und dem Archiv der Tsche­tschenischen Republik zusammen. Ohne die Hilfe von Galina Kuznecova vom Staatsarchiv der Russländischen Föderation und Ljudmila Košeleva vom Russländischen Archiv für Soziale und Politische Geschichte hätte ich nie so viele Dokumente in nütz­licher Frist finden und durchsehen können. Andrej Doronin vom Deutschen Historischen Institut in Moskau vermittelte mir die Kontakte in die russländischen Archive, Boris Belenkin und Irina Ostrovskaja halfen bei der Suche nach Material in Archiv und Bibliothek der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau, und Nadežda Erochina war meine erste Anlaufstelle in der Russländischen Staatsbibliothek. Benjamin Haas danke ich für die Zusammenstellung der Dokumente zum Zweiten Weltkrieg, die er für mich im Bundesarchiv in Freiburg i. Br. sichtete und kopierte. Dem Direktor des Archivs der Tsche­tschenischen Republik in Groznyj, Magomed Muzaev, sowie seinem Mitarbeiter Adam Duchaev danke ich für die Zustellung von Dokumenten zu Ali Mitaev, den Mitarbeitern des FSB-Archivs in Moskau, insbesondere A. V. Tjurin, für die Informationen zu einzelnen Persön­lichkeiten der tsche­tschenischen Geschichte. Anastasija Ganič von der Moskauer Staat­lichen Universität möchte ich dafür danken, dass sie mir ihren Aufsatz zu Musa Kunduchov zur Verfügung stellte. Mit Sergej Žuralëv und Ljudmila Gatagova vom Institut für Russländische Geschichte an der Russländischen Akademie der Wissenschaften sowie Nikolaj Silaev von der Kaukasus-Abteilung des MGIMO in Moskau tauschte ich mich über den Nordkaukasus und Geschichte im Allgemeinen aus. Pavel Poljan war für mich ein wichtiger Gesprächspartner, der mir zu Beginn meiner Arbeit nicht nur

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Vorwort

inhalt­liche, sondern auch viele praktische Hinweise für meine Forschung gegeben hat; auch danke ich ihm und seiner Frau für die Gastfreundschaft in ihrem Heim in Freiburg i. Br. Ruslan Bazgiew vermittelte mir vertiefte Einblicke in die Gesellschaft und Kultur Tsche­tscheniens und übersetzte Audiomaterial vom Tsche­tschenischen ins Deutsche. Ruslan Bazgiew und mit ihm Marianne Herold leisten einen wichtigen Beitrag für die tsche­tschenische Literatur, indem sie tsche­tschenische Schriftsteller auf Deutsch übersetzt zu Wort kommen lassen und damit einem größeren euro­päischen Publikum zugäng­lich machen. Marianne Herold danke ich zudem für die vielen guten Gespräche und dafür, dass sie mir wertvolle Kontakte zu Tsche­ tschenen aus ihrem Bekanntenkreis vermittelt hat, darunter den Schriftsteller Musa ­Beksultanov, von dem ich viel über die Geschichte Tsche­tscheniens und tsche­ tschenische Eigenarten erfahren durfte. Das vorliegende Buch wäre niemals ohne die Hilfe von Ignaz Staub und Mirija Weber in Druck gegangen. Ihnen danke ich für die sorgfältige Durchsicht des Buchmanuskripts und die formellen und inhalt­lichen Anmerkungen. Sie haben ­dieses Buch besser gemacht. Ivo Mijnssen hat mir viel Zeit erspart, indem er mir half, Hunderte von Seiten sowjetischer Textquellen von Mikrofilm auf Papier zu kopieren. Felix Frey und Tom Koritschan danke ich für das genaue Lesen des fertigen ­Textes, Silke Dutzmann vom Leibniz-Institut für Länderkunde für die Anfertigung der historischen Karten. Denn: Ohne gute Karten bleibt der Kaukasus unverständ­ lich. Sollten sich im Text oder auf den Karten Fehler finden, so ist dies aber allein mir zuzuschreiben. Markus Mirschel hat sich während seines Moskau-Aufenthalts Zeit genommen, meine Fotobestellung im Russländischen Staatsarchiv für Film- und Fotodokumente abzuholen. Bei Böhlau danke ich Dorothee Rheker-Wunsch, Sandra Hartmann und Julia Roßberg für die gute und immer unkomplizierte Zusammenarbeit sowie Jörg Baberowski, Klaus Gestwa, Manfred Hildermeier und Joachim von Puttkamer für die Aufnahme in die Reihe Beiträge zur Geschichte Osteuropas und die hilfreichen inhalt­lichen Hinweise zum Buchmanuskript. Ein solches Unterfangen ist eigent­lich nicht familientaug­lich. Meinen beiden Söhnen Louis und Lorenz war es vermut­lich oft ein Rätsel, weshalb ich während so vieler Jahre so viele Stunden am Tag vor dem Computer verbrachte, anstatt mich mit dem Leben draußen, sprich mit Wichtigerem, zu beschäftigen. Ihre berechtigten Fragen, ihr „Weshalb?“ und „Was bringt’s?“, haben mich durchaus nicht kaltgelassen und dafür gesorgt, dass ich wiederholt Abstand zur Arbeit gewinnen und so auch die Energiespeicher wieder auffüllen konnte. Dafür danke ich euch, Jungs. All dies wäre aber unmög­lich gewesen, hätte ich in dieser Zeit nicht auf die Unterstützung und Liebe meiner Frau zählen können. Dir, Franca, ist d­ ieses Buch von Herzen gewidmet. Schaffhausen, im Dezember 2014

H I N W E I S E Z U R S C H R E I BW E I S E

Rus­sische Wörter werden nach der im deutschsprachigen Raum üb­lichen wissen­ schaft­lichen Umschrift (gemäß Duden) wiedergegeben, soweit sich nicht eine andere Schreibweise eingebürgert hat (Bolschewiki anstatt bolʼševiki, Sowjet anstatt sovet, Tsche­tschenien anstatt Čečnja). Soweit es sich nicht um feste deutsche Begriffe handelt, werden die rus­sischen Begriffe (außer es handelt sich um Eigennamen, geographische Bezeichnungen und Ortsnamen) kursiv geschrieben. Die nicht-­ russischsprachigen beziehungsweise nicht-slawischen Begriffe und Namen werden in derjenigen transliterierten deutschen Umschrift wiedergegeben, wie sie in den rus­sischen Quellentexten vorkommen, auch wenn sie in nicht-rus­sischsprachigen (nament­lich arabischen) Quellen anders geschrieben werden (z. B. Usun-Chadži, nicht Ūḏun-Ḥāǧǧī; Nažmuddin Gocinskij, nicht Naǧmaddīn al-Hucī; Mjurid, nicht murīd). Bei häufig verwendeten arabischen Begriffen füge ich nach Mög­lichkeit die deutsche Umschrift aus dem Arabischen in Klammern an. Im rus­sischen Sprachgebrauch wird eine Unterscheidung zwischen „rus­sisch“ (russkij) und „russländisch“ (rossijskij) gemacht. Während sich ersterer Begriff auf die Ethnie der Russen bezieht, so bezeichnet „russländisch“ das Russländische Imperium (Rossijskaja Imperia) und zu Sowjetzeiten die Russländische Sozia­ listische Föderative Sowjetische Republik (RSFSR), in denen neben den Russen noch zahlreiche andere Völker lebten. Die im Deutschen kaum beachtete begriff­ liche Unterscheidung ist auch heute für das Verständnis Russlands (offizieller Name: Russ­ländische Föderation – Russland) als einem Vielvölkerstaat eine wichtige Voraussetzung.

A BKÜ R Z U NGEN U N D GLOSSA R H ÄU F I G V E RW E N D E T E R B E G R I F F E

abrečestvo  Abrekenwesen (siehe Abrek). Abrek  (vermut­lich vom iranischen Wort aparak, „Bandit“, „Landstreicher“) ist ein im Nordkaukasus und in Teilen des Südkaukasus häufig verwendeter Begriff für einen Räuber, Migranten oder Ausgestoßenen. Adat (arab. ʿadāt, „Gewohnheit“) meint das lokale Gewohnheitsrecht der nord­ kauka­sischen Völker. Allrussländisches Zentrales Exekutivkomitee (Vserossijskij centralʼnyj ispolnitelʼnyj komitet) war von 1917 bis 1937 die oberste gesetzgebende, anordnende und kontrollierende staat­liche Behörde der RSFSR. AO  (Avtonomnaja oblastʼ) Autonomes Gebiet; ethnisch-definierte adminis­trativterritoriale Einheit der Sowjetunion, die in der föderalen Rangordnung den autonomen Republiken (ASSR) untergeordnet ist.

artelʼ  Für die Sowjetzeit beschreibt das artelʼ eine Form der agrarischen Kollektiv­ wirtschaft, ­welche die Vergemeinschaft­lichung des meisten Landes, des Viehs und der Landwirtschaftsgeräte vorsieht. ASSR  (Avtonomnaja socialističeskaja sovetskaja respublika) Autonome Sozia­ listische Sowjetische Republik; ethnisch-definierte administrativ-territoriale Einheit der Sowjetunion innerhalb einer Unionsrepublik (SSR).

Ataman  (auch Hetaman) Oberbefehlshaber kosakischer Verbände. AUP ČR  (Archivnoe upravlenie Pravitelʼstva Čečenskoj Respubliki) Archiv­ abteilung der Regierung der Republik Tsche­tschenien (Groznyj).

bednjak (pl. bednjaki, von bednyi, „arm“) bezeichnet im bolschewistischen verti­ kalen Schichtungsmodell denjenigen Teil der Bauernschaft, deren Wirtschaft zu wenig Ertrag abwarf, um das Überleben der eigenen Familie zu sichern. Um

Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

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zusätz­liches Einkommen zu generieren, mussten die bednjaki Arbeiten als Tage­ löhner, Knechte oder Saisonarbeiter außerhalb ihrer Landwirtschaftsbetriebe leisten. Bezbožnik  („Der Gottlose“) Wochen- beziehungsweise Monatszeitschrift, die in der frühen Sowjetzeit vom atheistischen „Verband der militanten Gottlosen“ (Sojuz voinstvujuščich bezbožnikov) herausgegeben wurde. CA FSB (Centralʼnyj Archiv Federalʼnoj služby bezopasnosti Rossijskoj Federacii) Zentralarchiv des Föderalen Dienstes für Sicherheit der Russländischen Föderation. CK (Centralʼnyj komitet) Zentralkomitee (ZK ); in der Sowjetunion Bezeichnung für das ausführende Komitee (die Exekutive) der Kommunistischen Partei.

Desjatine  Rus­sisches Flächenmaß; 1 Desjatine = 1,1 Hektaren. Dhikr (arab. ḏikr, auch „Zikr“ genannt, wört­lich „Gedenken an Gott“) Form des Gebets, das begleitet ist von lautem Singen, Klatschen und rhythmischen (Tanz-) Bewegungen. Besonders verbreitet bei Anhängern der Qādiriyya in Tsche­tschenien. dobrovolʼstvo  Tätigkeit auf freiwilliger Basis; im Kontext des Zweiten Weltkriegs ist damit in der Sowjetunion der freiwillige Armeedienst gemeint. Dschihad (arab. ğihād, „Anstrengung“) Kampf für innere Glaubensvertiefung oder gegen Feinde des Islam; im westlichen Kontext oft fälsch­licherweise mit „heiliger Krieg“ übersetzt. Duma  Rat; Name des Parlaments des Russländischen Reiches seit 1906. FSB (Federalʼnaja služba bezopasnosti) Föderaler Dienst für Sicherheit; Inlandgeheimdienst der Russländischen Föderation. GARF  (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii) Staatsarchiv der Russ­ ländischen Föderation (Moskau).

Gazawat (arab. ġazawāt, von ghazwa) Kriegszug, Raubzug oder überraschender Überfall. Im nordkauka­sischen Kontext wird der Begriff oft gleichgesetzt mit Dschihad, verstanden als bewaffneter Kampf gegen Feinde des Islam. gorcy (sing. gorec, „Bergler“) ist ein seit dem frühen 19. Jahrhundert verbreiteter Begriff zur kollektiven Bezeichnung der nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus.

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Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

Gosplan (Gosudarstvennyj plan) Staatsplan; Name der obersten Planungsbehörde der Sowjetunion. GPU (Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie) Staat­liche Politische Abteilung (Geheimpolizei); Nachfolgeorganisation der Tscheka.

graždanstvennostʼ (von graždanstvo, „Staatsbürgerschaft“, beziehungsweise ­ raždanin, „Staatsbürger“) meint im russländisch-imperialen Kontext des 19. Jh. g ein Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein gegenüber dem imperialen Staat und seinen Gesetzen. Haddsch (arab. Ḥaǧǧ) Islamische Pilgerfahrt nach Mekka; der Haddsch bildet eine der fünf Säulen des Islam. HPSSS   Harvard Project on the Soviet Social System.

Imam  Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft (umma); im nordkauka­sischen Kontext politischer Führer eines islamischen Staatswesens (Imamat). inogorodnye  („Auswärtige“) Im Nordkaukasus Bezeichnung für die nicht ursprüng­liche, von außen hinzugezogene Bevölkerung (in der Mehrheit Russen und andere Slawen). inorodcy (sing. inorodec, „Fremdstämmiger“) Ein ursprüng­lich recht­lich ­geprägter Terminus, der allgemein die Nichtrussen, Nichtslawen und Nichtorthodoxen des Russländischen Reichs umfasste. Die inorodcy unterstanden nicht denselben gesetz­ lichen Bestimmungen wie die natür­lichen Bewohner des Reichs. Die imperiale Gesetzessammlung (Svod zakonov) von 1857 rechnete zu den inorodcy ausdrück­ lich die „Bergvölker“ (gorcy) des Nordkaukasus. ispolkom (ispolnitelʼyj komitet) Exekutivkomitee; in der Sowjetzeit ist damit das ausführende Regierungsorgan eines Rats (Sowjets) gemeint. Kadi (arab. qāḍī) Islamischer Richter, der nach der Scharia richtet. Kavbüro (Kavbjuro) Bevollmächtigte Vertretung des Zentralkomitees der Kommu­ nistischen Partei in der Kaukasusregion mit Sitz in Rostov am Don. Die Einrichtung wurde im April 1920 gegründet und danach mehrfach reorganisiert. Sie wurde formell im Februar 1922 aufgelöst.

Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

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KKOV (Komitet krestʼjanskoj obščestvennoj vzaimopomošči) Komitee der Bäuer­ lichen Gegenseitigen Sozialen Hilfe.

Kolchose (kolchoz, pl. kolchozy) Der Begriff bildet sich aus dem zusammen­ gezogenen Wortpaar kollektivnoe chozjajstvo („kollektiver Betrieb“) und bezeichnet eine (agrarische) Kollektivwirtschaft. korenizacija  (wörtl. „Einwurzelung“, von korenʼ, „Wurzel“) Bezeichnung der bolschewistischen Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetzeit, ­welche die Förderung der nichtrus­sischen Minderheiten und deren Kulturen und Sprachen zum Ziel hatte. KPdSU   Kommunistische Partei der Sowjetunion. KPSS (Kommunističeskaja partija Sovetskogo Sojuza) Kommunistische Partei der Sowjetunion (siehe KPdSU).

krajkom (Kraj komitet) Kreiskomitee; ausführendes Exekutivorgan der Kommunistischen Partei auf Stufe des Kreises (kraj). Kulak (kulak, „Faust“) Begriff gilt in Russland seit dem 19. Jahrhundert als Bezeichnung für relativ wohlhabende Bauern. Spätestens zu Anfang des 20. Jahrhunderts erhielt das Wort einen pejorativen Beiklang. Im bolschewistischen Jargon fallen darunter kapitalistische Bauern und Ausbeuter ärmerer Bauern, mit der Zeit umfasst der Begriff alle selbständig erwerbenden Landwirte. Medresse (arab. madrasa, „Ort des Studiums“) Bezeichnung für eine höhere islamische Bildungsstätte. Medžlis (arab. maǧlis, „Ort der Zusammenkunft“) Im politischen Kontext ist damit ein Rat oder eine Versammlung gemeint. Mjurid (arab. murīd, „Strebender“) bezeichnet im Sufismus einen Anhänger einer islamisch-mystischen Bruderschaft. muchadžirstvo (arab. muhāǧir, „Flüchtling“, „Emigrant“) meint die massenhafte Auswanderung nordkauka­sischer Völker, insbesondere der Tscherkessen, ins Osmanische Reich nach Abschluss der Kaukasuskriege in den 1860er Jahren. Mufti (arab. muftī) Islamischer Gesetzesexperte, der auf Anfrage ein islamrecht­ liches Gutachten (fatwā) erteilt.

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Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

Mullah  Ehrentitel für einen Sufi-Meister, oft auch verwendet als allgemeine Bezeichnung für einen religiösen Führer oder islamischen Rechtsgelehrten. Naib (arab. nāʼib, „Stellvertreter“, „Delegierter“) Arabischer Amtstitel, der seit dem Mittelalter in Gebrauch ist. Im nordkauka­sischen Kontext bezeichnet der Naib einen von Imam Šamil eingesetzten Funktionär in einem bestimmten Verwaltungsbezirk (naibstvo). namestničestvo  Institution der Statthalterschaft (siehe namestnik). namestnik  Statthalter des Zaren; im Kaukasus bestand die Institution des namestničestvo von 1845 – 1881 und 1905 – 1916. Naqšbandiyya  Einer der bedeutendsten mystisch-sufistischen Orden des Islam, der im 12. Jahrhundert in Zentralasien entstanden und vermut­lich bereits im 16. Jahrhundert in den Nordkaukasus gelangt ist. Sein Name leitet sich von seinem wichtigsten Vertreter, Bahāʾ ud-dīn Naqšband (1318 – 1389), ab. NKVD  (Narodnyj kommissariat vnutrennych del) Volkskommissariat für Inneres (Innenministerium).

obkom (oblastnyj komitet) Gebietskomitee; Exekutivorgan der Kommu­nistischen Partei auf Stufe des Gebiets (oblastʼ). oblastʼ (pl. oblasti, „Gebiet“) Administrativ-territoriale Einheit; nach Abschaffung der zaristischen Gouvernements meistverbreitete Verwaltungseinheit in der Sowjetunion. OGPU  (Obʼʼedinёnnoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie) Vereinigte Staat­liche Politische Abteilung; Nachfolgeorganisation der GPU seit 1923.

okrug (pl. okruga, „Bezirk“) Administrativ-territoriale Einheit; in der Sowjetzeit standen die okruga unterhalb der Republiken (respubliki), Gebiete (oblasti) und Kreise (kraja), aber über den Rajons. Fast alle okruga wurden Anfang der 1930er Jahre eliminiert und durch Rajons ersetzt. OPKB (Osobaja partija kavkazskich bratʼev) Besondere Partei Kauka­sischer Brüder.

Orgbüro  Organisationsbüro (des ZKs); wichtiges politisches Führungsorgan der Kommunistischen Partei, das von 1919 – 1952 in der Sowjetunion existierte.

Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

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Politbüro  Politisches Büro (des ZKs); höchstes politisches Führungsgremium der Kommunistischen Partei zu Sowjetzeiten. PP  (Polnomočnyj predstavitelʼ, auch polpred) Bevollmächtigter Vertreter (der Geheimpolizei).

pristav  Im Zarenreich Bezeichung für Aufseher oder Vorsteher. Pud  Altes rus­sisches Gewichtsmaß; 1 Pud = 16,38 kg. Qādiriyya  Eine der ältesten islamisch-mystischen Sufi-Bruderschaften. Sie geht auf den per­sischen Mystiker ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (1088 – 1166) zurück. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts findet die Qādiriyya insbesondere in Tsche­tschenien große Verbreitung. Rajon  (vom Franzö­sischen rayon, „Bezirk“) Administrativ-territoriale Einheit; in der Sowjetunion standen Rajons unterhalb der Republiken (respubliki), Gebiete (oblasti), Kreise (kraja) und großen Städte. Rajons ersetzten in den 1920er Jahren die noch aus der Zarenzeit bestehenden uezdy und volosti, ab den frühen 1930er Jahren auch die okruga. Revkom (Revoljucionyj komitet – revkom) Revolutionäres Komitee. Bei den ­ evkoms handelte es sich um vorübergehende Exekutivorgane, die von den BolR schewiki im rus­sischen Bürgerkrieg errichtet worden waren und danach durch regulär gewählte Räte (Sowjets) ersetzt wurden. RGAKFD (Rossijskij gosudarstvennyj archiv kinofotodokumentov) Russlän­disches Staatsarchiv für Film- und Fotodokumente (Krasnogorsk). RGANI (Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii) Russländisches Staatsarchiv für Neueste Geschichte (Moskau). RKP (b) (Rossijskaja kommunističeskaja partija (bolʼševikov)) Russländische Kommunistische Partei (Bolschewiki); Name der Kommunistischen Partei von 1918 – 1925. RSFSR (Rossijskaja Socialističeskaja Federativnaja Sovetskaja Respublika) Russländische Sozialistische Föderative Sowjetische Republik.

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Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

Scharia (arab. šarīʿa) bezeichnet im Islam das für den Menschen von Gott offenbarte Gesetz. Scheich  Arabischer Ehrentitel, der sowohl zur Bezeichnung angesehener welt­licher (Oberhaupt eines Clans oder Dorfältester) als auch religiöser Führer verwendet wird. Im Sufismus bezeichnet der Titel eine geist­liche Autorität beziehungsweise den Anführer eines Sufi-Ordens. Sejm Parlament. serednjak (pl. serednjaki, von srednij, „mittel“) bezeichnet im bolschewistischen vertikalen Schichtungsmodell die Kategorie der „Mittelbauern“, w ­ elche vor Beginn der Kollektivierung die Masse der durchschnitt­lich wohlhabenden Bauern darstellten. SSR (Sovetskaja socialističeskaja respublika) Sowjetische Sozialistische Republik. SSSR  (Sojuz Sovetskich Socialističeskich Respublik) Union der Sowjetischen Sozia­listischen Republiken (UdSSR); offizieller Name der im Dezember 1922 aus dem Zusammenschluss der RSFSR mit der Ukrainischen SSR, der Weißrus­sischen SSR und der Transkauka­sischen SFSR entstandenen Sowjetunion.

stanica (pl. stanicy) Kosakensiedlung; bewaffnetes Wehrdorf der Kosaken. Südostbüro (Jugovostočnyj bjuro – Jugovostbjuro) Bevollmächtigte Vertretung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei für Angelegenheiten im Nordkaukasus mit Sitz in Rostov am Don. Die Institution wurde im März 1921 aus dem Kavbüro ausgegliedert und existierte bis Mai 1924. Danach übernahm das im Oktober 1924 geschaffene Nordkaukasus-Kreiskomitee der Kommunistischen Partei (Severo-­ Kavkazskij kraevoj komitet VKP (b)) im Wesent­lichen die Funk­tionen des Südostbüros. svodka (pl. svodki) Bericht, Meldung. Tariqa (arab. ṭarīqa, „Weg“) Sufistische (islamisch-mystische) Bruderschaft. Tejp  Clanverband der Tsche­tschenen und Inguschen. TOZ (Tovariščestvo po sovmestnoj obrabotke zemli) Genossenschaft für die gemeinsame Bearbeitung des Landes; Form der agrarischen Kollektivwirtschaft, in der landwirtschaft­liche Geräte und Mittel, ­welche die Bauern für die gemeinsame Arbeit auf dem Kolchosland einsetzen, im Besitz der Bauern bleiben.

Abkürzungen und Glossar häufig verwendeter Begriffe

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Trojka  („Die Drei“; Führungsspitze von drei Personen) Im Kontext der Kollek­ tivierung und des Großen Terrors sind darunter Kommissionen von drei Personen zu verstehen, die in den verschiedenen administrativen Einheiten des Landes gebildet wurden und befugt waren, eigenmächtig Strafen zu verhängen. Die Trojkas vor Ort umfassten üb­licherweise den Ersten Parteisekretär, den Leiter der Geheimpolizei und den Vertreter der Staatsanwaltschaft (im Zuge der Kollektivierung auch den Vorsitzenden des ört­lichen Exekutivkomitees). Tscheka  Deutsche Umschrift der rus­sischen Abkürzung „ČK“ (Črezvyčajnaja komissija); von Lenin nach der Oktoberrevolution 1917 gegründete Geheim­polizei, die unter dem Namen „Außerordent­liche Allrussländische Kommission zur B ­ ekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ (­Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po borʼbe s konterrevoljuciej i sabotažem – VČK) bis Anfang 1922 bestand und nach der Gründung der Sowjetunion unter dem Namen GPU fortgesetzt wurde. Tuchum  Bezeichnung für einen politischen Stammesverband bei Tsche­tschenen und Inguschen. tuzemcy (sing. tuzemec, „Eingeborener“) Im Nordkaukasus Kollektivbezeichnung für die nichtrus­sische und nichtkosakische autochthone Bevölkerung, die nebst dem Begriff gorcy ab dem späten 19. Jahrhundert Verbreitung fand. UdSSR  Union der Sozialistischen Sowjetischen Republiken (siehe SSSR). VČK   siehe Tscheka. VKP (b) (Vsesojuznaja kommunističeskaja partija (bolʼševikov)) Kommu­nistische All-Unionspartei (Bolschewiki); Name der Kommunistischen Partei seit 1925.

Waqf  (Fromme) Stiftung eines Muslims, die für gemeinnützige oder religiöse Zwecke verwendet wird; Institut des islamischen Rechts. Zakat (arab. zakāt, „Reinheit“) Im Islam meint dies die Almosensteuer, die Abgabe eines bestimmten Teils des Besitzes an Notleidende und festgelegte Personengruppen, die jeder Muslim zu leisten hat. Der Zakat stellt eine der fünf Säulen des Islam dar. Zikr siehe Dhikr. ZK  Zentralkomitee (siehe CK ).

1.  E I N L E I T U N G : RU S S L A N D U N D D I E VÖ L K E R D E S N O R D K AU K A S U S

Am 23. Februar 1944 erreichte den sowjetischen Machthaber Iosif Stalin ein Telegramm aus dem Nordkaukasus. Absender des vertrau­lichen Schreibens war L ­ avrentij Berija, der Vorsteher des Volkskommissariats für Inneres. Nüchtern berichtet darin Berija, dass „heute bei Tagesanbruch die Operation zur Aussiedlung der Tsche­tschenen und ­Inguschen“ begonnen habe: „Alles verläuft normal.“ 1 Damit nahm zu Ende des Zweiten Weltkriegs eine der größten mensch­lichen Tragödien auf sowjetischem Territorium ihren Lauf. Zwischen Herbst 1943 und Frühjahr 1944 ließ das Sowjetregime auf Anordnung Stalins an die 600.000 Menschen aus dem Nordkaukasus wie Vieh in Bahn­waggons verfrachten und ins ferne Zentralasien deportieren. Nebst Tsche­tschenen und den mit diesen verwandten Inguschen wurden auch die kleinen Völker der Balkaren und Karatschajer aus ihren Bergtälern im Nordkaukasus vertrieben. Mehrere Zehntausend Menschen starben auf der Reise und in den ersten Jahren des Exils.2 Berija und seine Schergen hatten die Deportation der Tsche­tschenen und Inguschen schon abgeschlossen, als das Präsidium des Obersten Rats der Sowjetunion mit seinem Dekret vom 7. März 1944 die Liquidierung der tsche­tscheno-inguschischen Republik und die Aussiedlung damit erklärte, dass viele Tsche­tschenen und Inguschen Verrat an der Heimat begangen hätten, indem sie nach dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion zu den „faschistischen Okkupanten übergelaufen“ seien, als „Spione und Aufklärer“ von den Deutschen hinter die Front­linie der Roten Armee abgesetzt worden seien oder auch „auf Geheiß der Deutschen bewaffnete Banden für den Kampf gegen die Sowjetmacht“ formiert hätten. Zudem hätten sich viele Tsche­tschenen und Inguschen, anstatt einer „ehr­lichen Tätigkeit“ nachzugehen, „bewaffneten Aufständen gegen die Sowjetmacht“ angeschlossen, und die Republik habe über einen langen Zeitraum Bandenaktivitäten zu verzeichnen gehabt, die sich in Überfällen auf ­Kolchosen der Nachbargebiete und der Tötung von sowjetischen Leuten geäußert hätten.3

1 Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (GARF), Fond (F.) R–9401, Opisʼ (Op.) 2, Delo (D.) 64, List (L.) 165. 2 Die Aussiedlung der Karatschajer erfolgte bereits im Herbst 1943, die Zwangsumsiedlung der Balkaren im März 1944, nach der Aussiedlung der Tsche­tschenen und Inguschen. Das im Nord­kaukasus siedelnde Steppenvolk der Kalmücken ließ die Sowjetführung im Dezember 1943 deportieren. Zur Deportation siehe Kapitel 10, für die Opferzahlen Kapitel 12 in ­diesem Buch. 3 Das Dekret vom 7. März 1944 ist publiziert in: V. A. Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ. Problema Čečni i Ingušetii vo vnutrennej politike Rossii i SSSR (načalo XIX–seredina

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Einleitung: Russland und die Völker des Nordkaukasus

Die Deportation ganzer Volksgruppen war mitnichten eine Erfindung ­Stalins. Um Grenzregionen zu stabilisieren, hatten bereits die Zaren wiederholt auf das Mittel der Umsiedlung und Vertreibung zurückgegriffen. So wanderte im Anschluss an den Sieg Russlands über die Tscherkessen im Jahr 1864 fast die gesamte autochthone tscherkes­sische (ady­gische) Bevölkerung süd­lich des Kuban, mutmaß­lich gegen eine halbe Million Menschen, ins Osmanische Reich aus. Zehntausende starben auf der Reise übers Schwarze Meer und in den ersten Monaten im türkischen Exil. Die Verbrechen, die das Sowjetregime während der Diktatur Stalins an den eigenen Bürgern beging, waren in ihrem Ausmaß und der Systematik der Durchführung jedoch einzigartig in der rus­sischen und sowje­tischen Geschichte. Im Zuge der Deportationen im Zweiten Weltkrieg ließ Berija sogar Soldaten und Offiziere, die einer der verfemten nordkauka­sischen Nationen angehörten, aus den Reihen der Roten Armee nehmen, verhaften und nach Zentral­asien ausschaffen. Danach beschloss die Sowjetführung die Auf­lösung und Umbenennung der Heimatrepubliken dieser Völker, schlug Teilgebiete davon den jeweiligen Nachbarn zu und ordnete an, alles, was auf die Existenz dieser zu Feindesnationen erklärten Völker hinwies, zu vernichten. Die Erinnerung an sie sollte für immer getilgt werden. Auch wenn die stalinistischen Deportationen angesichts der großen ­Opferzahlen genozidale Züge trugen, so handelte es sich dennoch nicht um den Versuch der systematischen phy­sischen Vernichtung. Die Umsiedlung von Völkern verstanden die sowjetischen Machthaber als Maßnahme, in einem unüberschaubaren, schwer verständ­lichen und deshalb auch nicht einfach zu beherrschenden Vielvölker­gebilde Ordnung herzustellen. Die Sowjetführer machten sich die besondere Kriegs­situation zunutze, um sich ganzer Völkerschaften zu entledigen, die ihr auch in der Vergangenheit als problematisch und wenig loyal erschienen waren. Nament­lich mit der Deportation der Tsche­tschenen, die mit rund 400.000 Menschen das damals zahlenmäßig größte nichtrus­sische Volk im Nordkaukasus darstellten, sortierte der sowjetische Staat genau denjenigen Bevölkerungsteil aus, der schon den Zaren­administratoren als besonders widerspenstig und suspekt erschienen war. Die Deportationen unter Stalin können als Ausdruck davon gesehen werden, dass die Führungsspitze des Landes Tsche­tschenen und andere nordkauka­sische Völker als nicht anpassungs­ fähig und das sowjetische Herrschaftsprojekt mindestens in Teilen des Nordkaukasus als gescheitert betrachtete.

XX v.), Moskva 2011, S. 674. Von der Auflösung der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR und der

Umsiedlung nach Zentralasien erfuhr die sowjetische Öffent­lichkeit (und damit auch die Weltöffent­ lichkeit) erst durch einen entsprechenden Artikel in der Zeitung Izvestija vom 26. Juni 1946: Moshe Gammer, The Lone Wolf and the Bear. Three Centuries of Chechen Defiance of Russian Rule, London 2006, S. 165.

Problemfelder der Forschung

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Dieses Buch beschäftigt sich mit den Gründen für ­dieses Scheitern. Es fragt nach dem Charakter der staat­lichen Herrschaft im Nordkaukasus und den vielfältigen Spannungen und wiederholten Konflikten, ­welche die Eingliederung dieser Region und seiner nichtrus­sischen Völker ab dem Zeitpunkt der rus­sischen Eroberung des Nordkaukasus um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den stalinistischen Deportationen im Zweiten Weltkrieg begleiteten. Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert eine Vergangenheit, die trotz der Vielzahl von Publikationen, die gerade in den letzten beiden Dekaden aus dem Interesse heraus entstanden, die Hintergründe der Kriege und Konflikte in ­diesem Teil Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion zu verstehen, noch kaum systematisch und in der nötigen Tiefe aufgearbeitet wurden.

1.1  P r oble m feld e r d e r For s chu ng Wenn sich die Geschichtsforschung mit dem Nordkaukasus beschäftigt hat, dann schwerpunktmäßig mit kriegerischen Ereignissen. Ohne jemals eine fundierte, auf Archivmaterialien gestützte Quellenanalyse versucht zu haben, hat sich die west­ liche Geschichtsschreibung gemeinhin mit der Feststellung begnügt, dass sich die mehrheit­lich muslimischen Völker dieser gebirgigen Region jeg­lichen staat­lichen Maßnahmen gegenüber äußerst resistent gezeigt hätten. Dabei hat diese Forschung aber keinen Versuch unternommen, die spezifischen Formen des Widerstands gegen die staat­liche Herrschaftspolitik oder die Motivationen der Protagonisten genau zu analysieren. Die Bedeutung innergesellschaft­licher Prozesse für Formen von Widerstand und Anpassung sowie die vielfältigen gesellschaft­lichen Veränderungen unter zaristischer und sowjetischer Herrschaft hat die Geschichtsschreibung bisher noch nie genauer unter die Lupe genommen. Die Essenz des zaristisch-imperialen beziehungsweise sowjetischen Systems, wie es sich am Südrand des russländischen Vielvölkerreichs herausgebildet hatte, blieb bis jetzt unerforscht. Besonders verbreitet erscheint in der einschlägigen west­lichen Literatur die Tendenz, die Geschichte rückwärts zu lesen. Gerade vom Endpunkt solch gewaltiger Ereignisse wie der Deportationen im Zweiten Weltkrieg, dann aber auch der beiden rücksichtslosen Kriege, w ­ elche die Armee der Russländischen Föderation gegen das nach Unabhängigkeit strebende Tsche­tschenien in den 1990er- und 2000er-Jahren führte, ist die Versuchung groß, die gesamte Geschichte nur als Abfolge von Gewaltereignissen und jede Konfliktepisode als Vorspiel für nachfolgende Tragödien zu lesen. In der west­lichen Geschichtsschreibung, die oft un­ kritisch national orientierte Sichtweisen der nordkauka­sischen Diaspora-Literatur

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Einleitung: Russland und die Völker des Nordkaukasus

übernommen hat,4 dominiert dabei das Narrativ des jahrhundertelangen kolo­nialen Befreiungskampfs, das die tieferen Ursachen von Gewaltereignissen heute wie in der Vergangenheit jeweils auf das Ringen der nach Freiheit strebenden nordkauka­ sischen Völker mit einem rus­sisch dominierten Staat zurückgeführt hat.5 Die postsowjetische rus­sischsprachige Literatur hat sich nach dem Zerfall der UdSSR in verschiedene Richtungen entwickelt, erfuhr insgesamt aber eine Akzentverschiebung – von der Aufbruchsperiode Anfang der 1990er-Jahre, die mit dem alten System und dessen Protagonisten abrechnete, hin zu einer konservativeren Haltung, die patriotische Gefühle beschwört und vergangener Größe nachtrauert. Dies hat sich auch auf die Behandlung des Themas der Deportation und auf den Umgang mit den unterdrückten Völkern ausgewirkt. Nach einer liberalen Phase der Geschichtsschreibung zu Beginn der 1990er-Jahre, ­welche die Verbrechen ­Stalins schonungslos anprangerte, ist die Historiographie insbesondere im Zuge des zweiten Tsche­tschenienkriegs ab Ende der 1990er-Jahre dazu übergegangen, den betroffenen Völkern selbst eine Mitschuld an deren Schicksal zuzuweisen.6 Unter 4 Bei der Beschreibung der Ereignisse der frühen Sowjetzeit übernimmt ein großer Teil der west­ lichen Literatur bis heute weitgehend unkritisch die Darstellungen des tsche­tschenischen Historikers Abdurachman Avtorchanov, der im Zweiten Weltkrieg in den Westen emigrierte, wo er eine vielbeachtete publizistische Tätigkeit aufnahm. Avtorchanov spricht in seinen Ausführungen zwar oft pauschal von den nordkauka­sischen Völkern, sieht aber in den Tsche­tschenen und Inguschen, die er aufgrund ihrer ethno-linguistischen Verwandtschaft vereinfacht als eine Nation bezeichnet, die Speerspitze des gegen Russland gerichteten Freiheitskampfs. Aufstände und Konflikte stellt Avtorchanov jeweils in die lange Widerstandstradition gegen eine seiner Meinung nach koloniale Herrschaft, ­welche die sowjetischen Machthaber letzt­lich von den Zaren übernommen und perfektioniert hätten. Breite Rezeption fand insbesondere Avtorchanovs Bericht über den Genozid in der UdSSR, den er 1948 für die UNO vorbereitet und danach in mehreren überarbeiteten Versionen publiziert hatte: Aleksandr Uralov [Pseudonym für Abdurachman Avtorchanov], Narodoubijstvo v SSSR, München 1952; neu publiziert als: A. Аvtorchanov, Ubijstvo čečeno-ingušskogo naroda. Narodoubijstvo v SSSR, Moskva 1991. Besonders bekannt ist auch sein Aufsatz: Abdurakhman Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush during the Soviet Period and its Antecedents, in: Marie Bennigsen Broxup (Hg.), The North Caucasus Barrier. The Russian Advance towards the Muslim World, London 1992, S. 146 – 194. 5 Stellvertretend für diese Literatur: Marie Bennigsen Broxup, Introduction, in: Dies., The North Caucasus Barrier, insbesondere S. ix–x; John B. Dunlop, Russia Confronts Chechnya. Roots of a Separatist Conflict, Cambridge 1998, Kapitel 1 und 2; Robert Seely, Russo-Chechen Conflict 1800 – 2000. A Deadly Embrace, Portland, OR 2001, Kapitel 1 – 3; Sebastian Smith, Allahʼs Mountains. Politics and War in the Russian Caucasus, London 1998, S. 1 – 24; Carlotta Gall / Thomas de Waal, Chechnya. Calamity in the Caucasus, New York 1998, Kapitel 2 und 3. Allerdings gibt es auch auf west­licher Seite Abweichungen von ­diesem Narrativ. Hervorzuheben ist insbesondere die 2010 erschienene Monographie von Alex Marshall, der sich in seiner ereignisgeschicht­lich angelegten Überblicksdarstellung kritisch mit gängigen Meinungen in der Literatur auseinandersetzt: Alex Marshall, The Caucasus under Soviet Rule, London 2010. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Historiographie: Ehren Park / David Brandenberger, Imagined Community? Rethinking the Nationalist Origins of the Contemporary Chechen Crisis, in: Kritika 5 (2004), S. 543 – 560, insbesondere S. 544 – 545. 6 Yaacov Ro’i, The Transformation of Historiography on the „Punished Peoples“, in: History and Memory 21 (2009) H. 2, S. 150 – 176.

Problemfelder der Forschung

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Verweis auf das bis in die Sowjetzeit anhaltende Banditenwesen in den schwer zugäng­lichen Gebieten des Nordkaukasus sowie auf Fälle von Kollaboration mit Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg zeigen einzelne Autoren in Russland sogar offen Verständnis für Stalins Entscheid, Tsche­tschenen und andere nordkauka­sische Völker zu deportieren. Diese Meinung, die nament­lich die populärwissenschaft­ liche Literatur verbreitet, wird zwar nicht von der Mehrheit der zeitgenös­sischen Historiker in Russland geteilt; sie findet in der Öffent­lichkeit deswegen aber nicht weniger großen Anklang.7 In Umkehr zur offiziellen Sowjetpropaganda, die schwierige Themen der Geschichte wie etwa die Deportation weitgehend tabuisiert und dagegen „Völkerfreundschaft“ im Sozialismus propagiert hat (eine Haltung, die seit der „Befriedung“ Tsche­tscheniens während der zweiten Amtszeit von Vladimir Putin als Präsident Russlands erneut das offiziöse Geschichtsbild in Russland dominiert 8), orientiert sich ein Teil der zeitgenös­sischen postsowjetischen Literatur bei der Darstellung der historischen Entwicklungen ebenfalls am Bild eines seit Jahrhunderten währenden Dauerkonflikts.9 Im Gegensatz zu ihren west­lichen Kollegen und zu tsche­tschenischen Historikern im Umfeld der national-patriotischen Geschichtsinterpretation tendieren konservative Historiker im gegenwärtigen Russland jedoch dazu, bestimmte Ereignisse wie die Deportation oder die jüngsten Tsche­tschenienkriege weniger als Folge einer staat­lichen Unterdrückungs­ politik, sondern vielmehr als Resultat einer fehlgeschlagenen Modernisierung zu sehen. Demgemäß habe die Zugehörigkeit zum Zarenreich und zur Sowjetunion zwar zu Veränderungen in den traditionellen nordkauka­sischen Gesellschaften geführt, doch seien diese zu wenig umfassend gewesen, als dass sie althergebrachte Lebensweisen und Institutionen überwunden und eine erfolgreiche Integration 7 Als prominentester Vertreter dieser pro-stalinistischen Sichtweise gilt der rus­sische Publizist Igorʼ Pychalov, der mit seinem Buch zu den stalinistischen Deportationen für Aufsehen – und unter ­manchen tsche­tschenischen Historikern für Entsetzen – gesorgt hat: I. V. Pychalov, Za čto Stalin vyseljal narody? Stalinskie deportacii – prestupnyj proizvol ili spravedlivoe vozmezdie?, Moskva 2008. 8 Stellvertretend für diese Tendenz der Geschichtsbetrachtung: Ch. I. Ibragimov / V. A. Tiškov (Hg.), Čečenskaja Respublika i čečency. Istorija i sovremennostʼ. Materialy Vserossijskoj naučnoj ­konferencii. Moskva, 19 – 20 aprelja 2005 goda, Moskva 2006. Unter tsche­tschenischen Historikern, die Russland und dem gegenwärtigen tsche­tschenischen Regime wohlwollend gegenüberstehen, ist es nament­lich Zarema Ibragimova, die Gemeinsamkeiten der rus­sisch-tsche­tschenischen Geschichte propagiert und die These vom Dauerkonflikt als Geschichtsverfälschung verurteilt. Stellvertretend für ihre zahlreichen Publikationen: Z. Ch. Ibragimova, Čečency, Moskva 2010. Für einen Überblick zur tsche­tschenischen Geschichtsschreibung: Moshe Gammer, Nationalism and History. Rewriting the Chechen National Past, in: Bruno Coppieters / Michel Huysseune (Hg.), Secession, History and the Social Sciences, Brussels 2002, S. 117 – 140. 9 Für eine Übersicht zu dieser Literatur: Park / Brandenberger, Imagined Community?, S. 544 (Anmerkung 2); zur These vom Dauerkonflikt siehe auch das 12. Kapitel in ­diesem Buch.

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Einleitung: Russland und die Völker des Nordkaukasus

in den soziokulturellen und politischen Raum des übergeordneten Staatswesens mög­lich gemacht hätten.10 Manch einem Historiker erscheint die Sowjetunion aus dieser Perspektive trotz Fehlern sogar als Wohltäterin. So schreibt etwa der in Russland bekannte Kaukasus-­Historiker ­Vladimir Degoev, dass unter dem Strich betrachtet die 70 Jahre Zugehörigkeit zum sowjetischen „Megasystem“ positive Veränderungen bewirkt habe und dass die Situation Anfang der 1990er-Jahre wohl noch schlimmer gewesen wäre, hätte die sowjetische Moderne weniger lang auf diese Völker eingewirkt.11 In eine andere Richtung zielen diejenigen Historiker im Umfeld der konservativen Geschichtsschreibung innerhalb Russlands, die in den auf Clanstrukturen basierenden sozialen Bindungen, in der islamischen Religion und in ­bestimmten archaischen Traditionen der Rechtsprechung, etwa in der Blutfehde, einen kaum überwindbaren „zivilisatorischen“ Gegensatz erkennen wollen. Gemäß dieser Vorstellung zog sich der Große Kaukasuskrieg des 19. Jahrhunderts nicht deshalb in die Länge, weil die Militärstrategien Russlands fehlerhaft gewesen wären, sondern weil es die rus­sischen Generäle letzt­lich mit Völkern zu tun gehabt hätten, die aufgrund ihrer „nationalen Psycho­logie“ dem rus­sischen Wesen und der europäischen Kultur gänz­lich entgegengestellt gewesen wären.12 Damit lehnen sich diese Autoren an Sicht­weisen an, die auch die rus­sische Geschichtsschreibung und die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts prägen. Laut ­diesem Verständnis waren Konflikte so lange unvermeid­lich, wie den als rückständig geltenden Bewohnern des Nordkaukasus nicht die Überlegenheit der rus­sischen Kultur nähergebracht und ihnen ­graždanstvennostʼ, das Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein gegenüber dem imperialen Staat, eingeimpft wurde.13 All diese Erklärungsversuche eröffnen wichtige Perspektiven. Sie verengen jedoch den Blick, wenn sie die Komplexität geschicht­licher Entwicklungen auf ein unzulässiges Maß reduzieren. Die Problematik des kolonialen Ansatzes beginnt bereits bei der Verwendung des Begriffs selbst. Das Attribut „kolonial“ dient als Worthülse, die sich fast beliebig mit Inhalten füllen lässt. Ganz allgemein beschreibt „kolonial“ ein ungleiches Herrschaftsverhältnis zwischen dem „Staat“ und dem 10 Hätte die Sowjetisierung etwa 20 Jahre länger gedauert, so der rus­sische Historiker Vladimir Kozlov, so wäre es nie zu einem „tsche­tschenischen Problem“ in den 1990er-Jahren gekommen: Čečnja i imperskaja vlastʼ. Vozvraščenie i promežutočnyj itog (častʼ 7), in: Radio Svoboda, 7. September 2003 (Radiosendung unter der Leitung von Vladimir Tolc mit der Beteiligung von Vladimir ­Kozlov; Transkript unter: http://archive.svoboda.org/programs/TD/2003/TD.090703.asp [10.8.2014]). 11 V. V. Degoev, K vozobnovleniju izdanija „Kavkazskich sbornikov“, in: N. Ju. Silaev (Hg.), ­Kavkazskij sbornik. Tom 1. Nr. 33, Moskva 2004, S. 9. 12 Jakov Gordin, Kavkaz. Zemlja i krovʼ. Rossija v Kavkazskoj vojne XIX veka, Sankt-Peterburg 2000, S. 27. 13 Siehe dazu das 4. Kapitel in ­diesem Buch.

Problemfelder der Forschung

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„Volk“, wobei sich diese Beziehung dadurch auszeichnet, dass der Staat seinem gesellschaft­lichen Gegenüber Ordnungsvorstellungen und Lebensweisen aufzwingt.14 Der Ansatz greift aber zu kurz, wenn er den geschicht­lichen Entwicklungsweg nur als Kampf um Herrschaft zwischen zwei Größen beschreibt. Dieser Blick lässt einmal außer Acht, dass der Staat nicht nur als eine von der Gesellschaft losgelöste Instanz zu betrachten ist, die in Opposition zum Volk trat, sondern auch auf vielgestaltige Weise mit der Gesellschaft verbunden sein konnte. Über die oft mit Auswärtigen besetzten Organe des Sicherheitsdienstes oder der Steuerbehörde trat der Staat gegenüber den Landbewohnern zwar durchaus als Fremdmacht in Erscheinung. Zum Staat gehörten jedoch auch die Behörden vor Ort, die im Sold des Staates standen, diesen repräsentierten und dessen Funktionen wahrnahmen. Um die Charakteristik staat­licher Herrschaft zu verstehen, ist es deshalb notwendig, die nichtrus­sischen Völker und ihre Vetreter nicht einfach als Objekte einer staat­lichen Unterdrückungspolitik zu begreifen, sondern auch als eigenständige Akteure, w ­ elche die lokalen Entwicklungen durch ihr Verhalten beeinflussten und mitgestalteten.15 Dabei stieß der Staat mit seinen Angeboten keineswegs immer auf Ablehnung. Er bot sich in bestimmten Situationen auch als willkommener Alliierter an. Die neue Herrschaftsordnung konnte für die einen Diskriminierung, für die anderen jedoch sozialer Aufstieg bedeuten. Die Vertreter des Russländischen Imperiums mochten die nichtrussichen Völker des Nordkaukasus als fremdartig ansehen und diskriminierend behandeln. Doch vorausgesetzt, diese zeigten sich anpassungswillig, war sozialer Aufstieg auch für Angehörige dieser Ethnien, nament­lich innerhalb der Armee, grundsätz­lich immer mög­lich. Die Analyse darf deshalb nicht nur nach dem Gegensatz zwischen Staat und Volk und den daraus resultierenden Konflikten fragen, sondern muss auch erklären, weshalb es in bestimmten Phasen der Geschichte zu keinen größeren Konflikten kam und weshalb bestimmte Arrangements von Herrschaftsbeziehungen mög­lich waren und relativ lange Zeit überdauerten.16

14 Diese Definition lehnt sich an Jürg Osterhammel an. Dieser bezeichnet Kolonialismus als „Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsäch­lich durchgesetzt werden“. Zitiert aus: Jürg Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2004 (4. Auflage), S. 21. Osterhammel behandelt Russland in seiner Übersichtsdarstellung jedoch nicht, was bezeichnend für die einschlägige Literatur zum Kolo­ nialismus ist, die sich meist an den Verhältnissen der frühen Neuzeit orientiert und den rus­sischen beziehungsweise sowjetischen Fall weitgehend ausblendet. 15 Aleksei Miller, Between Local and Inter-Imperial. Russian Imperial History in Search of Scope and Paradigm, in: Kritika 5 (2004), S. 16. 16 Hier wird einem Einwand Rechnung getragen, den die britische Historikerin Linda Colley in ihrem Aufsatz „What is Imperial History Now“ vorträgt, wenn sie schreibt, dass „… scholars tend now to dwell on mass resistance to empires, yet, for much of global history, it was the degree of mass

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Einleitung: Russland und die Völker des Nordkaukasus

Der koloniale Ansatz lässt zudem außer Acht, dass Konflikte auch in der Gesellschaft selbst angelegt sein konnten. Gewalt war nicht immer als Ausdruck der Unzufriedenheit über die staat­liche Herrschaftspolitik zu sehen, sondern konnte auch innergesellschaft­liche Gründe haben und auf die besonderen Traditionen und ­Sitten der Nordkaukasusvölker zurückzuführen sein. So hat die Forschung bisher den Umstand kaum berücksichtigt, dass gesellschaft­liche Konflikte, die aus Fehden unter Clans, aus Streitigkeiten um Land und Gut, manchmal aber auch aus dem Übermut der jungen Männer resultierten, die durch Raubzüge den Männ­lichkeitsidealen wie Tapferkeit, Ehre oder Beständigkeit im Kampf nacheiferten, zunächst kauka­sische Phänomene darstellten. Solche Konflikte, die eng verbunden waren mit den besonderen lokalen Wehrtraditionen und dem Gewohnheitsrecht dieser Völker, erlangten oft erst dann eine größere Dimension und entfalteten, einmal ausgebrochen, eine eigene Dynamik, wenn sie mit den staat­lichen Herrschaftsvorstellungen in Widerstreit gerieten. Dabei konnten sich die ursprüng­lichen Ziele des Widerstands im Laufe einer Auseinandersetzung ebenso verändern wie die Deutungen, ­welche die Menschen im Rückblick auf den Konflikt vornahmen. Entgegen einer verbreiteten Sichtweise war es dabei nicht die gebirgige Topo­ graphie des Nordkaukasus, die Widerstand determiniert hätte. Die Berge boten den Menschen aber Rückzugsmög­lichkeiten, ­welche die Aussichten auf erfolgreichen Widerstand auch gegen einen militärtechnisch überlegenen Angreifer erhöhten. In der Abgeschiedenheit der Bergtäler hielten sich in den einzelnen nordkauka­sischen Aulen (Dörfer) Traditionen und herkömm­liche Lebensweisen hartnäckiger als in der Ebene, die sich eher als Durchzugsgebiet für verschiedene Menschen und Ideen anbot. Der auf starken sippenhaften Strukturen basierende ­soziale Zusammenhalt der Berggemeinschaften stellte nicht nur wichtige Identitätsbezüge her, sondern fungierte auch als Netz, das dem Einzelnen Schutz vor staat­lichen Übergriffen gewährte. Gleichzeitig ließen sich diese Strukturen als Organisationsgefäße für den bewaffneten Widerstand aktivieren, falls dies bei äußerer Bedrohung nötig erschien. Immer wieder gelang sogar eine Solidarisierung von Berggemeinschaften über die ethnischen Grenzen hinaus, wenn etwa Männer aus verschiedenen Dörfern des Nordkaukasus dem Aufruf zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen Folge leisteten und ihren Aufstand gegen die rus­sischen Besatzer unter gemeinsamer Führung zu koordinieren suchten. Anstatt von der Prämisse eines langgezogenen kolonialen Freiheitskampfes auszugehen, ist es gewinnbringender, nach den Motivationen der Protagonisten acquiescence in empire that was actually more striking, and one of the reasons for this was that the existence of various imperial systems covering most of the globe was – often – simply taken for granted“. Zitiert aus: Linda Colley, What is Imperial History Now, in: David Cannadine (Hg.), What is History Now, New York 2002, S. 136.

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selbst zu fragen. Was unterschied den Nordkaukasier, der sich im 19. Jahrhundert den Truppen des Zaren entgegenstellte, vom „Abreken“ (dem nordkauka­sischen „Banditen“), der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den Wäldern und Bergen versteckte und Züge, Kosakensiedlungen, Poststellen und Banken überfiel? Wie lässt es sich erklären, dass viele Nordkaukasier im rus­sischen Bürgerkrieg mit den Bolschewiki sympathisierten, während andere aufseiten der antibolschewistischen Kräfte der „Weißen“ und Dritte wiederum nur für sich selbst kämpften? Weshalb ließen sich im Zweiten Weltkrieg Tausende für den Krieg gegen Nazideutschland mobilisieren – während sich andere dem Kriegsdienst zu entziehen suchten und eine Minderheit sich dem bewaffneten antisowjetischen Widerstand anschloss? Ebenso problematisch wie die koloniale Perspektive ist der Modernisierungs­ ansatz, wenn er gesellschaft­liche Veränderungen als Fortschritt im Sinne einer ­linearen Entwicklung erkennen will und dabei die Indikatoren ­dieses Fortschritts vor allem quantitativ, in den steigenden Zahlen von Schulen und Schülern, Industrie­ arbeitern, Lesekundigen oder Parteimitgliedern festlegt – eine Vorstellung von Moderne, wie sie etwa auch in den zeitgenös­sischen sowjetischen Berichten zum Ausdruck kommt, deren Autoren darin handfeste Belege für die „Erfolge“ des ­sozialistischen Umgestaltungsprojekts erkennen wollen. Dass sich Menschen unter dem Einfluss von politischen und gesellschaft­lichen Veränderungen in parallelen Welten bewegen und unterschied­liche Identitäten annehmen konnten, ein Phänomen, das für die Stalinzeit nament­lich bei der Analyse von Selbstzeugnissen deut­ lich wird, geht bei dieser Art der Betrachtung verloren.17 So fanden sich unter den tsche­tschenischen Kämpfern, die während des Zweiten Weltkriegs im bewaffneten Widerstand gegen die Rote Armee operierten, oft auch sowjetisch gebildete P ­ ersonen, die zuvor manchmal hohe Ämter im Staats- und Parteiapparat ihrer Heimat­republik besetzt hatten. Von Bedeutung ist somit nicht der vermeint­liche Grad einer gesellschaft­lichen Modernisierung, sondern die Klärung der Frage, wie Menschen und Gesellschaften die Mög­lichkeiten, ­welche die Neuerungen der sowjetischen „Moderne“ ­offerierten, für sich zu ­nutzen verstanden. Es muss danach gefragt werden, wie die neuen staat­ lichen Herrschaftsformen die Denkweisen und Verhaltensmuster der Gesellschaften und der einzelnen Menschen beeinflussten und wie begründet werden kann, dass sich Lebenswege wiederholt und manchmal abrupt änderten. Denn Anpassung bedeutete nicht immer Resignation und Aufgabe jeg­lichen Widerstands, sondern

17 Wegweisend für die Erforschung der Zeit des Stalinismus allgemein war in dieser Hinsicht die Veröffent­lichung des Tagebuchs von Stepan Podlubnyj: Jochen Hellbeck (Hg.), Tagebuch aus Moskau, 1931 – 1939, München 1996. Dazu ebenfalls: Heiko Haumann, Blick von innen auf den Stalinismus. Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen, in: Ders. (Hg.), Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse, Analysen, Methoden, Frankfurt a. M. 2010, S. 51 – 76.

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die Suche nach neuen Arrangements, die im Aushandlungsprozess zwischen Staat und Gesellschaft zustande kamen. Welche Formen s­ olche Arrangements annahmen, war abhängig von vielen Faktoren: Den Interessen der am Aushandlungsprozess Beteiligten, den Freiräumen, die der Staat den gesellschaft­lichen Kräften im Rahmen der neuen Herrschaftsbedingungen zuzugestehen bereit war, und schließ­lich auch den Mög­lichkeiten des einzelnen Menschen, allenfalls im kollektiven Verbund staat­lichen Forderungen entgegenzutreten. Nicht weniger heikel erscheint die „zivilisatorische“ Sichtweise, wenn sie eine grundsätz­liche Andersartigkeit des islamisch geprägten Nordkaukasus im Vergleich zum slawisch-orthodoxen Russland unterstellt. Das Russländische Imperium traf im Laufe seiner langen Expansion auf verschiedene Völkerschaften mit unterschied­ lichsten Traditionen und Religionen. Dabei erschien der imperialen Oberschicht die Welt der nichtrus­sischen und nichtorthodoxen Völker an den süd­lichen Rändern des Reichs oder im entfernten Sibirien oft nicht weniger fremd als die des rus­sisch-orthodoxen Bauern Zentralrusslands. Das Russländische Imperium bildete ein äußerst vielgestaltiges Konglomerat an Völkern und Kulturen und zeichnete sich durch eine ebenso heterogene Verwaltungsstruktur aus, die immer Angehörige verschiedenster ethnischer Gruppen und Religionen einschloss. Vorausgesetzt, die einzelnen Völker verhielten sich loyal und erfüllten die vom Zentralstaat auf­erlegten Pflichten, stellten unterschied­liche Lebensweisen, Sozial- und Rechtsstrukturen, religiöse Anschauungen und Traditionen so lange keine unüberwindbaren Probleme dar, wie sie nicht als s­ olche empfunden wurden.18 Mit Blick auf den Nordkaukasus von einem slawisch-orthodox und islamisch geprägten Gegensatz zu sprechen, ist bereits deshalb problematisch, weil diese Region nie nur einem Kulturkreis angehörte und nie nur von einer Religion dominiert war. Die Mehrheit der nichtrus­sischen Völker gehörte erst ab dem frühen 19. Jahrhundert der sunnitischen Richtung des Islam an. Vor dem Vordringen des Islam, der bereits im 7. Jahrhundert in Dagestan Fuß fassen konnte, war das Christen­tum weit stärker vertreten, als es die spätere Dominanz des Islam vermuten lässt. So waren etwa große Teile der ossetischen Bauern bei Ankunft der Russen Christen, wogegen die aristokratische Elite zu d­ iesem Zeitpunkt bereits weitgehend isla­misiert war.19 Zu beachten ist zudem, dass der Nordkaukasus auch vor der mili­tärischen Eroberung durch Russland in den 1850er- und 1860er-Jahren nie nur eine undurchlässige Front zwischen Russland und den Nordkaukasusvölkern darstellte. Die Kaukasusregion bezeichnete immer auch ein Grenzgebiet, in dem die Völker sich bekriegten, aber 18 Allgemein zur Nationalitätenpolitik im Russländischen Reich: Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, München 1992. 19 Christian W. Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis. Die Integration der Tsche­tschenen und Inguschen in das Rus­sische Reich 1810 – 1880, Mannheim 2011, S. 86.

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auch in vielfältigen Austauschbeziehungen standen, sich vermischten und untereinander Handel trieben. Seit dem 16. Jahrhundert siedelten neben den autochthonen nichtrus­sischen Völkern auch große Kosaken­gemeinschaften entlang der Flüsse des Terek und des Don, die sich zwar konfessionell unterschieden (eine Mehrheit war christ­lich-orthodox, daneben gab es aber auch muslimische Kosaken), durch ihre Lebens- und Wirtschaftsweise, die Sozialstruktur und sogar ihre äußere Erscheinung (Kleidung, Trachten und Waffen) aber weit mehr Ähn­lichkeiten mit den nordkauka­ sischen Völkern als etwa mit den Bauern Zentralrusslands aufwiesen.20 Dass die religiösen Zuordnungen ohnehin stark mit den jeweiligen Wahr­nehmungen zusammenhingen, offenbarte sich in der Haltung der rus­sischen ­Eroberer. So galten den Russen die mit den Tsche­tschenen ethnisch und sprach­lich eng verwandten Inguschen 21 trotz deren christ­lich-animistischer Religionszugehörigkeit, die bis zur endgültigen Konversion zum Islam in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts dominierte, gemeinhin als Heiden.22 Ambivalent war die Meinung der R ­ ussen gegenüber den Tsche­tschenen, die in der Mehrheit bereits im 16. Jahrhundert weitgehend islamisiert waren.23 Obwohl die Tsche­tschenen spätestens nach ihrem ersten großen Aufstand gegen die Russen unter Scheich Mansur (Ušurma) im späten 18. Jahrhundert ihren Ruf als fanatische Muslime nicht mehr loswurden, war unter den rus­sischen Eroberern gleichzeitig die Haltung vorherrschend, dass ­dieses Volk nur oberfläch­lich islamisiert sei. Überhaupt sollten sich gerade mit Blick auf die Tsche­tschenen negativ besetzte Bilder des „Fanatikers“, „Räubers“, „wilden Berglers“ oder des „Asiaten“ hart­ näckig halten. Diese Bilder, die während der Kaukasuskriege des 19. Jahrhunderts entstanden und mit denen eine Faszination für das Fremde, wie sie insbesondere

20 Siehe dazu das 2. Kapitel in ­diesem Buch. 21 Tsche­tschenen und Inguschen sind zwei verschiedene Völker und blicken auf unterschied­liche geschicht­liche Entwicklungswege zurück, gehören linguistisch gesehen jedoch derselben Gruppe der nachischen Sprachen an. Erst 1934 wurden Tsche­tschenen und Inguschen im Rahmen des Tsche­ tscheno-Inguschischen Autonomen Gebiets erstmals in einem administrativen Territorium vereinigt. Anstrengungen, eine gemeinsame nationale Identität zu schaffen, scheiterten jedoch. Nach der Auflösung der Sowjetunion trennten sich die Inguschen von den Tsche­tschenen und gründeten eine eigene Republik innerhalb der Russländischen Föderation. Zum geschicht­lichen Entwicklungsweg von Inguschen und Tsche­tschenen bis in die 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts: Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis. Eine vergleichbare Arbeit in einer west­lichen S ­ prache für die ausgehende Zarenzeit und die frühe Sowjetzeit fehlt. Als Standardwerk in rus­sischer Sprache zur Geschichte der Inguschen gilt heute: Marʼiam Jandieva / Adam Malʼsagov (Hg.), Ingušetija i inguši, Nazranʼ, Moskva 1999 (Band 1: Zeit bis 1917); Marʼiam Jandieva / Bersnak Gazikov (Hg.), Ingušetija i inguši, Moskva 2002 (Band 2: Zeit ab 1917). 22 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 225 – 227, 333. 23 Allerdings dürften sich nicht alle Bewohner der tschetschenisch besiedelten Berggebiete zu ­diesem Zeitpunkt zum Islam bekehrt haben, darunter etwa die als „Kisten“ bezeichnete Untergruppe der Tsche­tschenen: Ebd., S. 168 – 169.

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über die rus­sische romantische Literatur verbreitet wurde,24 ebenso wie Arroganz und offene Ablehnung verbunden waren, bestimmten das Verhalten gegenüber den nordkauka­sischen Völkern auch nach Abschluss der Eroberung im 19. Jahrhundert. Auch die Repräsentanten des sowjetischen Regimes verstanden sich letzt­lich als Träger einer höheren Kultur und waren von einer Modernisierungsmission getrieben.25 In der oft äußerst brutalen Art und Weise, wie auch die rus­sisch domi­nierten staat­lichen Sicherheitsorgane bis weit in die Sowjetzeit hinein den Kampf mit nordkauka­sischen „Banditen“ führten, zeigte sich die Haltung, dass die Völker des Nordkaukasus letzt­lich nur mit brachialer Gewalt zu zähmen waren. Zu klären ist somit nicht die „zivilisatorische“ Andersartigkeit an sich, sondern die Frage, wie zu verschiedenen Zeiten Andersartigkeit verstanden wurde und sich in bestimmten Handlungen und Anordnungen niederschlug. Dabei waren die Bilder nicht immer negativ besetzt und gerade in der Frühphase der Sowjetzeit wurde der „freiheitsliebende Bergbewohner“, der sich vom Zarenjoch zu befreien suchte, zum Sinnbild einer neuen Ära verklärt. Zur Kultfigur der frühen Sowjetzeit schlechthin wurde der legendäre Imam Šamil (ca. 1797 – 1871), der den bewaffneten Widerstand von Tsche­tschenen und Dagestanern bis zu seiner Kapitulation im Jahr 1859 anführte.

1. 2   D ie E r r icht u ng s t a at l iche r He r r s ch a f t i m Z a r e n r eich u nd i n d e r Sow je t u n io n Dieses Buch befasst sich mit den vielfältigen Themen und Problemen, ­welche die Errichtung staat­licher Herrschaft im Nordkaukasus in verschiedenen Phasen der rus­sischen und sowjetischen Geschichte begleitet haben. Drei Fragen stehen dabei im Vordergrund: Erstens interessiert, wie die jeweiligen Machthaber ihr staat­liches Herrschaftsprojekt im Nordkaukasus verstanden und mit ­welchen Strategien sie ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen suchten. Zweitens wird danach gefragt, wie die nichtrus­sischen Gesellschaften des Nordkaukasus – und wie einzelne Menschen – die von außen herangetragenen Herrschaftskonzepte begriffen, und wie sie auf die staat­liche Politik reagierten. Drittens sucht diese Monographie zu erklären, ­welche neuen Identitäten und Loyalitäten sich als Folge der Wechselwirkung zwischen staat­licher Politik und gesellschaft­licher Reaktion unter russländisch-imperialer und sowjetischer Herrschaft herausbildeten.

24 Susan Layton, Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy, Cambridge, New York 1994. 25 In ­diesem Punkt unterschieden sich rus­sische Eroberer und sowjetische Machthaber wenig: Jörg Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 47 (1999), S. 482 – 503.

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Im Kern stellt sich damit die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Ob der Staat als Teil der Gesellschaft oder als von ihr losgelöst begriffen und ihr entgegengestellt werden soll, hängt letzt­lich davon ab, welches Erkenntnisinteresse der jeweiligen Untersuchung zugrunde liegt. Obwohl der Staat immer wieder als Fremdmacht, als Besatzer und Eroberer und damit als direkter Gegner der Gesellschaft auftaucht, ist es für diese Untersuchung zweckmäßig, den Staat als Teil einer Gesamtgesellschaft zu verstehen, wie dies etwa Max Weber tut.26 Dieser sieht in der Gesellschaft die allgemeine strukturelle Form der mensch­lichen Gemeinschaft. Innerhalb dieser ist der Staat diejenige mensch­liche Gemeinschaft, die in einem bestimmten geografischen Gebiet „erfolgreich das Monopol legitimen phy­sischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch“ nimmt.27 Der Prozess der Errichtung und Ausdehnung staat­licher Kontrolle ließe sich demnach als der Versuch des Staates definieren, diesen aus dessen Sicht als legitim angesehenen Herrschaftsanspruch innerhalb der Gesamtgesellschaft durchzusetzen. Die staat­lichen Strategien der Herrschaftserrichtung erscheinen in den jeweiligen geschicht­lichen Phasen in unterschied­lichen Formen und Ausprägungen. Die zaristische Herrschaft basierte keineswegs immer nur auf Unterdrückung und Gewalt, sondern suchte über integrative Strategien wie die Kooptation der gesellschaft­lichen und geist­lichen Eliten oder die Errichtung von staat­lichen Schulen die Bevölkerung für die Sache des Staates zu gewinnen. Toleranz gegenüber der islamischen Religion und traditionellen Lebensweisen wechselten sich ab mit Verboten bestimmter religiöser Praktiken und der Verfolgung gesellschaft­licher Autoritäten wie etwa den hochangesehenen Sufi-Scheichen. Veränderungen der Erwartungshaltungen und Ansprüche des Staates wirkten sich auch auf das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft aus. Ingesamt verfolgte der zaristische Staat ein minimalistisches Staatsbildungsprojekt, das Stabilität und Herrschaftssicherung über die Modernisierung und aktive Umgestaltung der Gesellschaft stellte. Im Rahmen seiner mission civilisatrice des 19. Jahrhunderts formulierte der Staat zwar auch im Nordkaukasus eine Politik, die auf den umfassenden Einbezug der eingeborenen Völker in den politischen, sozialen und wirtschaft­lichen Raum des Imperiums abzielte, um sie später mit dem ­rus­sischen Volk zu verschmelzen. Tatsäch­lich wussten die zaristischen Verwalter mit den vorwiegend muslimischen Völkern des Nordkaukasus aber zunächst genauso wenig anzufangen wie etwa mit den Steppenvölkern Innerasiens oder den schamanischen Bevölkerungsgruppen Sibiriens. In der Praxis dominierte die lose Form der Verwaltung, die den Völkern 26 Dazu auch: Mark Edele, Soviet Society, Social Structure, and Everyday Life, in: Kritika 8 (2007), S. 349 – 373, insbesondere S. 361 – 364. 27 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winkelmann, Tübingen 1980 (5. rev. Auflage, Studienausg.), S. 29.

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deren innere Freiheiten beließ, im Gegenzug aber Loyalität und die Wahrung von Friede und Ordnung erwartete. Dafür unternahm das Reich wenig, die Integration dieser Völker in den Reichsverband tatsäch­lich zu fördern und ­Ressourcen für so zentrale Bereiche wie Bildung, Wirtschaft oder Infra­struktur zu sprechen. Einer kleinen Schicht sollte unter rus­sischer Herrschaft der ­soziale Aufstieg zwar gelingen, doch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, nament­lich derjenige Teil, der in den abgelegenen Berggebieten siedelte, profitierte kaum von den neuen Bedingungen. Die nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus, die im allgemeinen Sprachgebrauch oft kollektiv als „Bergler“ (gorcy) bezeichnet wurden, obwohl eine Mehrheit nach Abschluss der Eroberungskriege in der Ebene siedelte, fielen in recht­licher Hinsicht zwar bereits ab dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr in die Kategorie der inorodcy, der sogenannten Fremdstämmigen, sie wurden in der politischen Praxis aber über die gesamte Zarenzeit als ­solche behandelt.28 Dabei erschienen den Machthabern die nichtrus­sischen Völker dieser Region auch deshalb suspekt, weil sie in einem Grenzgebiet siedelten, das historisch ­gesehen im Einzugsbereich verschiedener, Russland feind­lich gesinnter Großmächte lag: Persien und das Osmanische Reich, später auch Großbritannien und Deutschland, traten im Laufe der Geschichte mit Machtansprüchen im Kaukasus auf und suchten dabei jeweils auch die eingeborenen Völker für ihre politischen Ambitionen zu ­gewinnen. Ein Ausdruck des tiefsitzenden Misstrauens, mit dem das zaristische Russland den Völkern dieser Region begegnete, ist etwa darin zu erkennen, dass Angehörige nordkauka­sischer Völker bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 nicht auf regulärer Basis in der Armee dienen konnten. Genährt von einem zum Teil rassistisch gefärbten Überlegenheitsgefühl, war es ­dieses minimalistische Staatsbildungsprojekt, das, von Ausnahmen abgesehen, die gesamte Zarenzeit dominierte und im Resultat eher zu Ausgrenzung und Segregation als zur Integration des nichtrus­sisch besiedelten Nordkaukasus mit Russland führte. Die Bolschewiki 29 dachten und handelten radikaler. Nach der Macht­ergreifung von 1917 traten sie mit dem Anspruch auf, die Völker vom „Joch“ des Zarismus 28 Bei den inorodcy handelte es sich nie um eine feste Kategorie, die Grenzen zum Bauernstand waren fließend und die politische Praxis war mindestens phasenweise auch von Anstrengungen gezeichnet, aus den nordkauka­sischen Völkern Staatsbürger zu machen und ihnen ein imperiales Bewusstsein zu vermitteln. Siehe dazu das 3. Kapitel in ­diesem Buch. 29 Als Bolschewiki wurde zunächst diejenige, von Lenin angeführte Fraktion bezeichnet, die sich bereits 1903 von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) abspaltete. Weil die Anhänger Lenins auf dem Parteitag von 1903 die Mehrheit stellten, nannte man sie fortan „Bolschewiki“ (russ. bolʼšinstvo, wörtl. Mehrheit) im Gegensatz zu den „Mensche­ wiki“ (russ. menšinstvo, wörtl. Minderheit). Im Laufe der Jahre wurden die Unterschiede zwischen B ­ olschewiki und Menschewiki immer größer, worauf letztere Fraktion von der ­Gesamt­­rus­sischen Parteikonferenz in Prag 1912 ausgeschlossen wurde und fortan eine eigene Partei bildete. Die SDAPR wurde um den Zusatz „Bolschewiki“ erweitert und aus ihr ging

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zu befreien. Unter ihrem Anführer, Vladimir Ilʼič Lenin (eigent­lich Ulʼjanov, 1870 – 1924),30 schrieb sich der neue Sowjetstaat die Förderung und Modernisierung der nichtrus­sischen Nationalitäten auf die Fahne. Außer den Russen erhielten die zahlenmäßig g ­ rößeren Völkerschaften eigene, mit Autonomie ausgestattete Territorien zugesprochen, innerhalb derer sie als sogenannte Titularnationen galten. Damit sollten sie in kultureller Hinsicht gefördert werden und konnten Anspruch auf Führungspositionen in Staats- und Parteiämtern geltend machen. Auch kamen in der Sowjetzeit erstmals breite nichtrus­sische Bevölkerungsschichten in den Genuss einer Schulbildung und es wurden Anstrengungen unternommen, auch die Völker des Nordkaukasus, die zu d­ iesem Zeitpunkt fast ausschließ­lich auf dem Land lebten, wo sie Ackerbau und (in den Bergen) Viehzucht betrieben, verstärkt in die Industrien der Städte einzubeziehen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bolschewiki von Beginn an ein Herrschaftsprojekt mit maximalistischer Zielsetzung verfolgten. Anders als das Zarenreich, das sich letzt­lich damit zufriedengab, wenn die jeweiligen Völker den Herrschaftsanspruch des Staates nicht offen infrage stellten, strebten die Bolschewiki als Endziel die totale Umgestaltung der Gesellschaft an. Unter Loyalität verstanden sie mehr als nur passives Stillhalten, sondern die aktive und bedingungslose Teilnahme am sozialistischen Großprojekt. Moderne wurde nicht bloß gewünscht, sondern war integraler Bestandteil der sozialutopischen Vision, die in die klassenlose und staatsfreie Gesellschaft münden sollte. Die umfassende sozialwirtschaft­liche Umgestaltung, die zur Umsetzung ­dieses Vorhabens nötig war, ließ sich den Vorstellungen der Bolschewiki zufolge aber nur erreichen, wenn der Staat nicht nur die Ziele, sondern auch den Weg dorthin diktierte. Zur Erreichung der sozialutopischen Fortschrittsziele musste der Staat auch den rückwärts­gewandten Menschen unterwerfen, ihn aus dessen traditionellen sozialen Bindungen und Wertvorstellungen herauslösen, um ihn ganz für die Arbeit am sozialistischen Umgestaltungsprojekt vereinnahmen zu können. Mit Blick auf die frühe Sowjetzeit meint die Errichtung staat­licher Herrschaft damit mehr als nur den Versuch zur Durchsetzung nach der Oktoberrevolution von 1917, als die Bolschewiki in einem Staatsstreich die Macht in Russland an sich rissen, die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) (Rossijskaja kommunističeskaja ­partija (­bolʼševikov) – RKP (b)) hervor, die 1925 in Kommunistische Partei der Sowjetunion (­Bolschewiki) (Vsesojuznaja kommunističeskaja partija (bolʼševikov) – VKP (b)) umbenannt wurde. Ab 1952 wurde der Zusatz „Bolschewiki“ weggelassen. Siehe dazu die Überblicksdarstellungen von: Manfred Hildermeier, The Russian Socialist Revolutionary Party before the First World War, Münster 2000; ders., Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998. 30 Lenin war der Vorsitzende der aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands hervorgegangenen Partei der Bolschewiki und der späteren Kommunistischen Partei Russlands. Er war der erste Regierungsvorsitzende Sowjetrusslands beziehungsweise der 1922 gegründeten Sowjetunion. Für eine Biographie Lenins: Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000.

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eines Herrschaftsanspruchs im öffent­lichen Raum. Staatsbildung beschreibt auch die umfassende Durchdringung des sozialen Raums bis hinein in die Privatsphäre des einzelnen Menschen.31 Denn die sozalistische Umgestaltung strebte im Endziel nicht weniger als die Schaffung des „neuen Menschen“ an.32 Viel konsequenter als die Zarenadministratoren suchte der sowjetische Staat über Eingriffe in wirtschaft­liche, gesellschaft­liche und politisch-administrative Strukturen innerhalb der Gesamtgesellschaft Kommunikationskanäle zu öffnen und so die Bedingungen dafür zu schaffen, seine Macht- und Ordnungsvorstellungen durchzusetzen und damit umfassende Veränderungen bestehender Loyalitäten und Identitäten zu erreichen. Obwohl dabei wiederholt auch Gewalt eingesetzt wurde, war sie nie das alleinige Mittel staat­licher Herrschaftsstrategien. Wohl gelang den Bolschewiki bis Mitte der 1920er-Jahre die Ausschaltung jeg­licher namhaften politischen Opposition. Doch sie waren über die gesamte frühe Sowjetzeit zu schwach, um radikale Umgestaltungsmaßnahmen, die sie etwa im Rahmen der Kollektivierung 1929/30 anstrebten, durchzusetzen. Der sowjetische Staat blieb über die gesamte frühe Sowjetzeit hinweg immer nur ein Bezugspunkt für gesellschaft­liche Integration nebst anderen, worunter im Nordkaukasus etwa die sunnitischen Bruderschaften mit ihrer jeweiligen Gefolg­ schaft, die Familienverbände und Clans sowie die Dorfgemeinschaften mit ihren Ältestenräten fielen. Der Staat konkurrierte mit diesen nichtstaat­lichen gesellschaft­ lichen Bezugsgrößen und suchte sie auszumerzen, war in der Praxis aber auch auf vielfältige Weise mit ihnen verflochten und musste sich den gesellschaft­lichen Wirk­lichkeiten vor Ort anpassen. Im Sinne einer Stabilisierung ihrer Machtposition erlaubte die bolschewistische Führung Anfang der 1920er Jahre das Bestehen von Scharia-Gerichten und lokalen Rechtstradtionen und griff sogar auf das in der Zarenzeit angewandte Mittel der Kooptation gesellschaft­licher Eliten zurück, wenn Angehörigen der islamischen Geist­lichkeit die Wahl in lokale Räte (Sowjets) und in Einzelfällen sogar die Aufnahme in regionale Exekutivorgane erlaubt wurden. Dass der sowjetische Staat seinen totalitären Anspruch nie gänz­lich verwirk­ lichen konnte und letzt­lich Kompromisse machen musste, hing damit zusammen,

31 Ausgehend von der klas­sischen Soziologie definieren etwa Raymond A. Bauer, Alex Inkeles und Clyde Kluckhohn in ihrem 1956 erschienen Werk How the Soviet System Works, das auf der Auswertung von Hunderten von Interviews mit sowjetischen Migranten basiert, die „totalitäre Gesellschaft“ als eine Gesellschaft, in der diejenigen, die politische Macht besitzen, alle vorhandenen materiellen und mensch­lichen Ressourcen der Gesellschaft zur Erreichung ihrer Ziele zu koordinieren versuchen und dies sogar auf den Bereich privater Gefühle und Empfindungen im Volk ausdehnen: Raymond A. Bauer u. a., How the Soviet System Works. Cultural, Psychological and Social Themes, Cambridge 1956, S. 20. 32 Dazu übergreifend: Manfred Hildermeier, Revolution und Kultur. Der „neue Mensch“ in der frühen Sowjetunion, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, München 1996, S. 51 – 68.

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dass es für die Umsetzung ­dieses Anspruchs nicht genügte, nur die Mittel für eine gewaltsame Unterwerfung eines Gegenübers zu besitzen. Entscheidend war auch, inwieweit die Gesellschaft und der Einzelne die Autorität des Staates und die von ihm propagierten Ideen anerkannten und verinner­lichten. Macht ist immer auch relational und entsteht abhängig davon, w ­ elche Deutungen ihr im kommunikativen sozialen Prozess zugeschrieben werden.33 Die Kommunikation zwischen Repräsentanten der Staatsmacht und der Gesellschaft wurde dabei nicht nur durch mangelnde Kenntnisse der rus­sischen Sprache aufseiten der nichtrus­sischen Bevölkerung erschwert, sondern zunächst auch bedingt durch ein grundlegendes Missverständnis hinsicht­lich der Ziele und Absichten des staat­lichen Herrschaftsprojekts. Nicht nur widersprach die hierarchische Organisation des Staatswesens der sozialen, auf der Dorfgemeinschaft basierenden Organisation der Nordkaukasusvölker, von denen viele (wie etwa die Tsche­tschenen, die Inguschen und die dagestanischen Berg­ gemeinschaften) in ihrer Geschichte keine Aristokratie oder feudalen Herrschaftsbeziehungen kannten. Auch war vielen die Vorstellung der Unterwerfung unter eine Staatsmacht grundsätz­lich fremd. Unterwerfungsbezeugungen, wie sie in der Geschichte des rus­sischen Vordringens wiederholt vorkamen, sahen diese Völker höchstens als temporäre Allianzen, die sie bei Bedarf wieder aufkünden konnten. Entsprechend deuteten sie auch die Autonomie, die ihnen die Bolschewiki nach dem Ende des Bürgerkriegs im Rahmen ethnisch definierter Territorien zu Anfang der 1920er Jahren gewährten, zunächst als eine gleichberechtigte Beziehung mit Russland. Sie hingen dabei der Illusion an, dass die Bolschewiki tatsäch­lich ihre inneren Freiheiten wahren würden und dass ihnen sogar das Recht zugestanden würde, die Allianz aufzulösen, sollten sie dies wünschen. Dass die Bolschewiki Autonomie anders verstanden, wurde den Menschen spätestens dann deut­lich vor Augen geführt, als die staat­lichen Sicherheitskräfte ab Mitte der 1920er-Jahre daran gingen, die Bevölkerung in großangelegten Militäraktionen systematisch zu entwaffnen (bis zu ­diesem Zeitpunkt war praktisch die gesamte männ­liche Bevölkerung des Nordkaukasus bewaffnet) und angesehene gesellschaft­liche Persön­lichkeiten, darunter die vom Volk hochverehrten geist­lichen Führer, zu verhaften und zu ermorden.

33 Anders als Max Weber, der über Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Gesamtgesellschaft nachdenkt, spricht etwa Michel Foucault von Machtbeziehungen. Das gesellschaft­liche Gegenüber kann eine vom Staat propagierte Deutung der Macht ablehnen und eine Gegenmacht schaffen. Gemäß Foucault ist Macht nicht an einem einzigen Ort angesiedelt, sondern als Geflecht zu verstehen, in das viele eingebunden sind. Herrschaftsbeziehungen würden demgemäß keinen Raum für einen erfolgreichen Kampf gegen den Staat bieten, Machtbeziehungen hingegen erlauben Opposition und Veränderung: Brigitte Studer / Heiko Haumann, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern 1929 – 1953, Zürich 2006, S. 9 – 37, hier S. 13.

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Auch die korenizacija (wörtl. „Einwurzelung“, von korenʼ, „­Wurzel“), wie die Bolschewiki ihre Politik der gezielten Förderung der nichtrus­sischen Minder­heiten und deren Kulturen und Sprachen nannten, stellte sich für die Menschen als ambivalentes Projekt dar. Denn die Bolschewiki betrieben diese Politik nicht als Selbstzweck, sondern sahen in der Schaffung eines nationalen Bewusstseins ein M ­ ittel für ihr sozialistisches Umgestaltungsprojekt. Aus den einzelnen Völkern sollten „Nationen“ geschmiedet werden, die als Träger neuer Ideen im künftigen Kommunismus schließ­lich zu einem Volk verschmelzen würden.34 Die Nationa­litätenpolitik der Bolschewiki war demnach ebenfalls Teil eines Mobilisierungsprojekts, das die Beteiligung aller forderte. Diejenigen, die außerhalb dieser Mobilisierungs­ gesellschaft standen oder als außerhalb davon betrachtet wurden, weil sie die neuen Normen und Werte ablehnten oder sich nicht aktiv an den Formen und Ritualen beteiligten, die das bolschewistische Umgestaltungsprojekt verlangte, galten denn auch als „Klassen­feinde“, „Saboteure“ oder „Spione“.35 Grundsätz­lich konnte jede Person einer bestimmten Feindesklasse zugeordnet werden, etwa der Kategorie der Geist­lichkeit oder derjenigen der wohlhabenden Bauern – der sogenannten Kulaken. Dass in ­diesem System aber auch ganze Völker zu Feinden werden konnten, zeigt das Beispiel der wiederholten Umsiedlungen und Deportationen, die im Nordkaukasus nicht nur nichtrus­sische Völker, sondern etwa auch die Kosaken betrafen. Vor d­ iesem Hintergrund ließe sich das von staat­licher Seite vorangetriebene Herrschaftsprojekt im Nordkaukasus als selektives Verfahren verstehen, das erst in der Auseinandersetzung mit neuen Ideen und Lebensweisen gesellschaft­liche Identitäten sichtbar machte und gleichzeitig die Basis für die Veränderung dieser Identitäten schuf.36 Besonders einschneidende Ereignisse wie Kriege oder die Massenkampagne der Kollektivierung stellten in ­diesem Prozess der Identitätsbildung insofern wichtige Schnittstellen dar, als der Staat nun einen kompromisslosen Loyalitätsbezug und die Teilnahme aller forderte. Es waren diese identitätsbildenden Prozesse, die aufzeigten, wer zur Gruppe gehörte und wer davon ausgeschlossen blieb.

34 Zur Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetzeit: Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923 – 1939, Ithaca 2001; Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge & the Making of the Soviet Union, Ithaca 2005. Anders als in der rus­sischsprachigen Literatur hat der Nordkaukasus in den einschlägigen west­lichen Dar­ stellungen zur sowjetischen Nationalitätenpolitik bisher kaum Erwähnung gefunden. Stellvertretend für die rus­sischsprachige Literatur: V. G. Čebotareva, Nacionalʼnaja politika Rossijskoj Federacii. 1925 – 1938 gg., Moskva 2008. 35 Studer / Haumann, Einleitung, S. 13 – 14. 36 Gemäß Ernesto Laclau lässt sich jede Identität nur in Bezug auf ein Äußeres festmachen, das diese Identität ablehnt, gleichzeitig aber auch die Voraussetzung dafür bietet, dass sich diese Identität konstituiert und je nachdem auch verändert. Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London 1990, S. 39.

Die Errichtung staatlicher Herrschaft

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Den deut­lichsten Ausdruck davon, dass die nordkauka­sischen Gesellschaften den Mobilierungsansprüchen nicht gerecht werden konnten oder wollten, sah die Staatsmacht darin, dass sie dem bedeutendsten staat­lichen Modernisierungsprojekt auf dem Land, der Kollektivierungskampagne von 1929/30, mit massivem bewaffneten Widerstand begegneten, worauf der Staat sich gezwungen sah, d­ ieses Vorhaben sogar vorübergehend abzubrechen. Auch andere Mobilisierungskampagnen, sei es im Bereich der Schulbildung oder der Integration von Nordkaukasiern in die städtischen Industrien, hinkten den Entwicklungen in rus­sisch besiedelten Gebieten weit hinterher. Besonders einschneidend war in dieser Hinsicht jedoch der Zweite Weltkrieg, der insbesondere mit Blick auf die Tsche­tschenen die Ambivalenz des staat­lichen Herrschaftsprojekts in aller Deut­lichkeit aufzeigte. Die Sowjetführung ließ die Tsche­tschenen und andere Völker des Nordkaukasus nicht deshalb deportieren, weil von den antisowjetischen Aufständischen, die in den Gebirgszonen operierten, eine ernstzunehmende Gefahr für die Sowjetmacht ausgegangen wäre. Spätestens nach dem Sieg der Roten Armee bei Stalingrad Anfang 1943 stellte Nazideutschland keine unmittelbare Bedrohung für den Kaukasus mehr dar – und ohne massive deutsche Militärhilfe an die Aufständischen war deren Kampf gegen die Sowjetmacht ohnehin aussichtslos. Die tieferen Gründe für die Deportation waren vielmehr darin zu sehen, dass spätestens ab Ende der 1930er-Jahre, als im Zuge der Zuspitzung der internationalen Situation eine totale Mobilisierung der Gesellschaft und bedingungslose Unterstützung gefordert wurden, viele Menschen ­diesem Begehren nicht nachkommen wollten oder konnten. Die Rekrutierungskampagne in die Rote Armee, die unter den nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus erstmals im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs 1939 durchgeführt wurde – davor waren sie wie schon zu Zarenzeiten von der allgemeinen Wehrpflicht ausgenommen –, ließ die Sowjetführung aufgrund von Problemen, die sie bei der Aushebung ortete, weniger als drei Jahre später wieder einstellen. Die staat­lich initiierten Umgestaltungsbestrebungen führten innerhalb der Gesellschaft im Endeffekt zu unterschied­lichen Formen von Fusionen von traditionellen Werten, Institutionen und Verhaltensweisen mit denjenigen Neuerungen, ­welche die Herrschenden anstrebten. Der Versuch der Totalkollektivierung der Landwirtschaft, der mit der Abschaffung der individuell geführten Landwirtschaftsbetriebe und der Aufhebung des Privatbesitzes einherging, resultierte nach U ­ nterbrechungen schließ­ lich in einer formellen Vereinheit­lichung in d­ iesem Wirtschaftsbereich. Innerhalb der Kolchosen selbst aber lebten überkommene Traditionen oft in neue insti­tutionelle Formen gehüllt weiter, indem etwa die Bewirtschaftung und Verteilung von Land nach wie vor von denselben Personen kontrolliert wurden, die darüber bereits ­früher im Rahmen ihrer dörf­lichen Gemeinschaften bestimmten. Über die Errichtung welt­licher sowjetischer Schulen erreichte der Staat mit der Zeit zwar immer mehr Kinder, wobei er die islamischen Bildungsstätten nach und nach zurückdrängte. In der Auseinandersetzung mit neuen Ideen und Methoden führte der Unterricht

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Einleitung: Russland und die Völker des Nordkaukasus

in der lokalen Sprache aber auch zu einem stärkeren Bewusstsein dessen, was die eigene Kultur und nationale Eigenart ausmachte. Die Zurück­drängung der Religion aus dem öffent­lichen Raum gab der Säkularisierung Auftrieb. Gleichzeitig wurden Tradi­tionen und Bräuche im Rahmen der Familie weiterhin gepflegt – und vom Staat oft stillschweigend akzeptiert. Schließ­lich gelang dem Staat über seine korenizacija-Politik, die während der gesamten 1920er und 1930er Jahre ein zentrales Element der sowjetischen Natio­ nalitätenpolitik bildete, tatsäch­lich, ein lokales Kader heranzuziehen, das sich zunehmend aus Nichtrussen zusammensetzte. Doch auch die korenizacija zeitigte nicht immer die Wirkung, die sich die Bolschewiki erhofft hatten. Wohl festigte die Nationa­litätenpolitik der Bolschewiki das nationale Bewusstsein der einzelnen Völker, doch ging dies nicht unbedingt mit einer Stärkung des Sowjetpatriotismus einher, wie etwa die Ereignisse nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion zeigten, als sich in den nordkauka­sischen Bergen antisowjetische Widerstands­ bewegungen formierten und viele den Dienst in der Armee verweigerten. War der Widerstand gegen staat­liche Mobilisierungsprojekte in früheren ­Zeiten oft von religiösen Losungen begleitet, so rückten erstmals im Zuge des anti­sowjetischen Widerstands Anfang der 1940er-Jahre nationale und säkular geprägte Forderungen ins Zentrum. Das von sowjetischer Seite betriebene Projekt des Aufbaus von ­Nationen – über die Schaffung von Schriftsprachen und ethnisch definierten administrativen Gebieten, die von einer jeweiligen nichtrus­sischen Titularnation dominiert wurden – führte zwar zu einer gewissen Zurückdrängung der traditionellen sozialen Bindungen und Loyalitäten. Die Nation trat jedoch zunehmend auch als Größe in Erscheinung, die ein eigenes gesellschaft­liches Mobilisierungspotenzial aufwies – was das ethnisch-nationale Bewusstsein stärkte, zugleich aber Konflikte mit Nachbarnationalitäten um Grenzen und Ressourcen schürte und manchmal dazu führte, dass Angehörige von Minderheiten diskriminiert wurden.

1. 3  Ziele u nd Vor gehe n Die Geschichte des Nordkaukasus – und insbesondere diejenige Tsche­tscheniens – kann mit genügend blutigen Episoden aufwarten, um sie als eine einzige Abfolge von Eroberungen, Unterdrückung und Aufständen gegen Russland erscheinen zu lassen. Dabei darf bei der Frage nach den Ursachen aber nicht von Annahmen ausgegangen werden, ohne vorher nach den jeweiligen spezifischen historischen Umständen und damit auch nach den Zielen und Motiven der Zeitgenossen selbst gefragt zu haben. Die Deutung der Vergangenheit bleibt zwar bereits deshalb immer aufs Engste mit der Gegenwart verstrickt, weil sich die Analyse der subjektiven Deutung des Betrachters, der das Ende der Geschichte kennt, nie entziehen kann. Der Historiker kann jedoch

Ziele und Vorgehen

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eine Annäherung versuchen, indem er die Beweggründe und Interessen der Protagonisten der jeweiligen Epoche unter Zuzug von Quellen aus der damaligen Zeit offenlegt und nach den Wirk­lichkeiten fragt, die aus diesen Dokumenten sprechen. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, die Geschichte einzelner Völker im Detail nachzuzeichnen.37 Vielmehr greift sich diese Monographie konkrete Aspekte d­ ieser Geschichte heraus, indem sie nach Formen von Widerstand, den Schwierigkeiten der Anpassungen und den gesellschaft­lichen Veränderungen fragt, die sich im nicht­rus­sisch besiedelten Nordkaukasus nach dessen gewaltsamer Einverleibung ins Russländische Imperium beobachten ließen. Ausgehend von einem Rückblick auf die wichtigsten Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert, bildet die Untersuchung der noch wenig erforschten Situation in der spätzaristischen Zeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Revolution von 1917 einen ersten zeit­lichen Schwerpunkt; denn es war in dieser Zeit, da Russland nach Abschluss der militärischen Eroberung sich erstmals eingehend mit den unterworfenen Völkern des Nordkaukasus beschäftigte und die Verwalter des Zaren daran gingen, Tsche­tschenen und andere Völker in ein imperiales Ganzes einzugliedern. Der größte Teil des Buches ist danach den Entwicklungen nach 1917 bis zur Zäsur der Deportation von 1943/44 gewidmet. Der Untersuchungszeitraum beginnt damit bewusst bereits vor dem vermeint­ lichen Einschnitt der bolschewistischen Macht­ergreifung von Oktober 1917, weil sich nur so Brüche, aber auch Parallelen zwischen der zaristischen und der sowjetischen Zeit erkennen lassen. Ebenso nötig ist die Längsschnittbetrachtung, wenn danach gefragt wird, wie sich die Reaktionen der einzelnen Völker und Gemeinschaften in Bezug auf die staat­liche Politik veränderten und ­welche neuen Identitäten und Loyalitäten sich als Folge der Wechsel­wirkung zwischen staat­licher Politik und gesellschaft­licher Reaktion über die Zeit herausbildeten. Dies ist deshalb wichtig, weil sich über die Bestimmung von Identitäten und Loyalitäten auch Aussagen über die Stabilität der jeweiligen politischen Ordnungen in bestimmten Phasen der Geschichte machen lassen. 37 Für die rus­sischsprachige Literatur gibt es eine kaum überschaubare Zahl von Übersichtswerken zu den einzelnen Völkern und geschicht­lichen Entwicklungen. Stellvertretend für die Geschichte Tsche­tscheniens und der Tsche­tschenen seien für die rus­sischsprachige Historiographie nur zwei neuere Werke genannt: Ch. V. Turkaev (Hg.), Čečency v istorii, politike, nauke i kulʼture Rossii. Issledovanija i dokumenty, Moskva 2008; M. M. Ibragimov (Hg.), Istorija Čečni s drevnejšich ­vremen do našich dnej. V dvuch tomach, Groznyj 2008. Im Westen sind in den letzten Jahren eine Reihe von Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Nordkaukasus und einzelner nordkauka­ sischer Völker publiziert worden. Nebst den bereits zitierten sind dies etwa: Amjad Jaimoukha, The Chechens. A Handbook, London 2005; ders., The Circassians. A Handbook, New York 2001; Elza-Bair Guchinova, The Kalmyks, London 2006; Walter Richmond, The Northwest ­Caucasus. Past, Present, Future, London 2008; Robert Bruce Ware / Enver Kisriev, Dagestan. Russian Hegemony and Islamic Resistance in the North Caucasus, Armonk, NY 2010.

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Die genaue Rekonstruktion einzelner wichtiger Ereignisse und Abläufe, nament­ lich während der Revolution und des Bürgerkriegs, der Phase der Totalkollektivierung der Landwirtschaft sowie der Zeit unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs, ist zentral, um den bis heute kursierenden Halbwahrheiten und Mythen in der Geschichte begegnen zu können. Nebst der Aufarbeitung von historischen Schlüsselereignissen will d ­ ieses Buch die Geschichte des Nordkaukasus auch durch das Nachzeichnen konkreter indi­vidueller Sichtweisen näherbringen. Erst am Beispiel des Einzelschicksals lässt sich deut­lich machen, dass die Gründe, die einen Menschen zu bestimmten Handlungen ver­anlassten, immer komplex und abhängig von den spezifischen Lebensumständen waren. Die Ergänzung der Globalbeschreibung um die Perspektive „von unten“ ist nötig, um den Weg aus den eindimensionalen und monochroma­tischen Betrachtungsweisen zu finden, die in der bisherigen Historiographie dominieren.38 Die detaillierte Aufarbeitung einzelner Episoden und Schicksale ist auch deshalb geboten, weil sich nur so die genauen Interaktionen zwischen staat­lichen und gesellschaft­lichen Akteuren nachzeichnen und damit auch die lokalen Machtverhältnisse bestimmen lassen. Der Charakter des zaristischen beziehungsweise sowjetischen Herrschaftsprojekts wird erst in der Kombination einer Analyse der „hohen“ Politik mit der „dichten Beschreibung“ lokaler Verhältnisse verständ­lich.39 Die großen Zusammenhänge werden dann in ihrer ganzen Tragweite fassbar, wenn sie auch im Einzelschicksal gespiegelt werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Entwicklung in den von Tsche­ tschenen bewohnten, nordöst­lichen Teilen des Nordkaukasus. Die ­Gemeinschaften der Tsche­tschenen, die relativ homogen siedelten, bildeten nicht nur das größte nichtrus­sische muslimische Volk im Nordkaukasus. Ihre Gebiete gehörten auch zu jenen Teilen des Nordkaukasus, aus denen über die gesamte Zeitspanne hinweg besonders häufig Unruhen und Aufstände vermeldet wurden. Ausgehend vom Blick auf Tsche­tschenien ist es ein Anliegen d­ ieses Buches, einen Vergleich zur Situation in anderen nichtrus­sisch besiedelten Gebieten des Nordkaukasus und der islamisch besiedelten Peripherie insgesamt zu ziehen, um so die Besonderheiten des tsche­ tschenischen Falls, aber auch die Gemeinsamkeiten mit Entwicklungen in anderen Teilen des Kaukasus und Russlands zu verstehen.

38 Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Sichtweisen, die der west­lichen Geschichts­ schreibung zum Nordkaukasus anhaften: Richard Sakwa, Introduction. Why Chechnya?, in: Ders. (Hg.), Chechnya. From Past to Present, London 2005, S. 1 – 20, hier S. 4 – 8. 39 Miller, Between Local and Inter-Imperial, S. 16. Zum Konzept der „dichten Beschreibung“: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 7 – 43.

Ziele und Vorgehen

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Die Situation des Nordkaukasus lässt sich für die zaristische Zeit aufgrund einer relativ soliden Quellenlage gut erschließen. Bereits im 19. und frühen 20. Jahr­hundert erschienen editierte Quelleneditionen und substantielle Forschungs­beiträge zum Nordkaukasus.40 Schwieriger ist allerdings die Rekonstruktion konkreter Lebenswelten. So finden sich für die gesamte späte Zarenzeit kaum schrift­liche Berichte von Tsche­tschenen. Einblicke in die damaligen Lebenswirk­lichkeiten bieten dafür Aufzeichnungen, die von Angehörigen anderer Nordkaukasusvölker verfasst wurden. Illustrativ sind etwa die Memoiren des ossetisch-stämmigen Generals der imperialen Armee, Musa Alkazovič Kunduchov (1818/20 – 1889). Kunduchov, ein Ange­höriger der muslimischen Oberschicht, war im 19. Jahrhundert an den Kriegen Russlands gegen die Völker des Nordkaukasus beteiligt und organisierte im Jahr 1865, nach Ende der militärischen Eroberung, die Aussiedlung Tausender Tsche­tschenen und Angehöriger anderer nordkauka­sischer Ethnien in das Osma­nische Reich.41 Einen weiteren Tiefenblick in die spätzaristische Wirk­lichkeit Tsche­tscheniens gewährt das Beispiel des berüchtigten tsche­tschenischen Abreken ­Zelimchan ­Gušmazukaev (ca. 1872 – 1913), der aufgrund seiner Taten noch zu ­Lebzeiten Legendenstatus erhielt und von der späteren Sowjetpropaganda zum Symbol des sozialrevolutionären Widerstands gegen die Zarenmacht verklärt wurde. Zelimchan selbst konnte zwar weder lesen noch schreiben. Sein Leben und Wirken ist aber in zahlreichen zeitgenös­ sischen Geheimdienstakten und öffent­lichen Publikationen gut dokumentiert, was einen Zugang zur Lebenswelt dieser Person mög­lich macht.42 Nach der Teilöffnung der ehemals sowjetischen Archive in den 1990er-Jahren lässt sich die Situation des Nordkaukasus und seiner Völker auch für die frühe Sowjetzeit erstmals auf der Grundlage von bisher unter Verschluss gehaltenen Quellen analysieren. Der Autor ­dieses Buches stützt sich dabei vor allem auf un­ publizierte Dokumente, die er in zwei Archiven eingesehen hat: im Staatsarchiv der

40 Diese Bemühungen reflektieren die zahlreichen Publikationen, die in Form von Dokumenten­ sammlungen, Buchserien und Zeitschriften erschienen, nament­lich: Akty, sobrannye ­Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago upravlenija namestnika kavkazskago, Tiflis 1866 – 1904 (rus­sische Militärakten zur Geschichte des Kaukasuskriegs in 12 Bänden); ­Kavkazskij sbornik, Tiflis 1876 – 1912 (militärhistorische Periodika); Sbornik svedenij o kavkazskich gorcach, Tiflis 1868 – 1881 (ethnographisch ausgerichtete Buchreihe), Sbornik materialov dlja ­opisanija ­mestnosti i plemen Kavkaza, Tiflis 1881 – 1915 (ethnographisch ausgerichtete Zeitschrift); ­Kavkazskij kalendarʼ, Tiflis 1845 – 1917 (jähr­lich erscheinende Zeitschrift); Zapiski Kavazskogo otdela Russkogo geografičeskogo obščestva, Tiflis 1852 – 1916 (wissenschaft­liche Bandreihe zu historischen, geographischen oder botanischen Themen, Expeditionsberichte); Izvestija Kavkazskogo otdela Imperatorskogo Russkogo geografičeskogo obščestvo, Tiflis 1872 – 1917 (wissenschaft­liche Beiträge zu verschiedenen Themen in unregelmäßig erscheinenden Ausgaben). Siehe daneben auch die entsprechenden bibliographischen Hinweise in den Kapiteln 2 – 4. 41 Zu Kunduchov siehe das 3. Kapitel ­dieses Buches. 42 Zu Zelimchan siehe das 5. Kapitel ­dieses Buches.

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Russländischen Föderation (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii – GARF) und im Russländischen Archiv für Soziale und Politische Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv socialʼno-političeskoj istorii – RGASPI).43 Hilfreich sind daneben die umfassenden Quelleneditionen, die zur Nationalitätenfrage in der frühen Sowjetzeit und zu Tsche­tschenien erschienen sind.44 Mit Blick auf die wieder­ holten Aufstände während der Sowjetzeit sind auch Dokumentensammlungen nütz­ lich, die den Blickpunkt der Geheimpolizei und der staat­lichen Sicherheitsorgane wiedergeben, die im Nordkaukasus aktiv waren.45 Damit basiert d­ ieses Buch für den sowjetischen Geschichtsabschnitt vorwiegend auf Dokumenten, die Repräsentanten des Staates in verschiedenen Bereichen und auf allen Ebenen – vom Politbüro der Kommunistischen Partei in Moskau bis hin zur Stufe der Sowjets und zu den Parteikomitees in einzelnen Gebieten, S ­ tädten und Bezirken – zu Wort kommen lassen.46 Diese Dokumente, die wohlgemerkt

43 Daneben hat der Verfasser der vorliegenden Monographie auch andere Dokumentenbestände durchgesehen und für die Arbeit ausgewertet: Die Fonds 6 und 89 des Russländischen Staatsarchivs für Neueste Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii – RGANI) hat der Autor in der Form von Mikrofichen in den Beständen der British Library in London eingesehen. Dasselbe gilt für den GARF-Fond R–9479 (4. Spezialabteilung des Innenministeriums der UdSSR), der im Archiv der Hoover Institution an der Stanford University (Palo Alto, CA) gesichtet werden konnte. Aus dem Archiv der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau (Archiv Meždunarodnogo obščestva „Memorial“) stammt ein Lebensbericht, der in das 9. Kapitel zur Kollektivierung einfließt. Das Memorial-Archiv enthält eine Sammlung unveröffent­lichter Lebensberichte, allerdings finden sich keine Berichte von Nordkaukasiern selbst, sondern nur s­ olche von Russen über das Leben im Nordkaukasus. Kontakt unterhielt der Autor auch mit der Archivabteilung der Regierung der Republik Tsche­tschenien in G ­ roznyj (Archivnoe upravlenie Pravitelʼstva Čečenskoj Respubliki – AUP ČR), die ihm eine Reihe von Dokumenten zugestellt hat, die in den Kapiteln 5 und 7 d ­ ieses Buches verarbeitet sind. Für die Arbeit an den Kapiteln 10 und 11 hat der Autor Dokumente aus dem Bundesarchiv (Abteilung Militärarchiv) in Freiburg i. Br. hinzugezogen. Auch hat der Autor Memoiren und andere Dokumente aus dem Archiv der Hoover Institution an der Stanford University für diese Arbeit verwertet. Der größte Teil der abgebildeten Fotos stammt aus dem Russländischen Staatsarchiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk (Rossijskij gosudarstvennyj archiv kinofotodokumentov – RGAKFD). 44 L. S. Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros. Kniga 1. 1918 – 1933 gg., Moskva 2005; dies. u. a. (Hg.), CK VKP (b) i nacionalʼnyj vopros. Kniga 2. 1933 – 1945 gg., Moskva 2009; Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ. 45 Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach, Moskva 1998–; „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934), Moskva 2001–; Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach. 1927 – 1939, Moskva 2001–. Zu den einzelnen Bänden und Verfassern siehe die Angaben in den jeweiligen Anmerkungen beziehungsweise im Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang ­dieses Buches. 46 Dass die Meinungen aber insbesondere auf Stufe der einzelnen Gebiete durchaus kontrovers waren (in den 1920er-Jahren deut­lich kontroverser als in den 1930er-Jahren), geht aus den Sitzungs­protokollen der Partei und der staat­lichen Gremien hervor, die der Autor dieser Arbeit für Tsche­tschenien

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durchaus nicht immer eine homogene Sicht auf die Entwicklungen präsentieren, lassen durch ihre oft akribischen Analysen ebenfalls Rekonstruktionen einzelner Schicksale zu. Dies gilt etwa für Scheich Ali Mitaev (ca. 1891 – 1925), eine der einflussreichsten Persön­lichkeiten Tsche­tscheniens in den frühen 1920er-Jahren. Der Scheich stand von Beginn der Sowjetherrschaft in Tsche­tschenien, vor allem aber, nachdem er 1923 in die neue tsche­tschenische Verwaltungsbehörde berufen worden war, unter genauer Beobachtung der Geheimpolizei, die ihn 1924 verhaftete und 1925 ermordete.47 Wertvolle Einblicke in damalige Lebenswelten geben auch die nur auf Rus­sisch erschienenen Memoiren des bekannten tsche­tschenischen Historikers Abdurachman Avtorchanov (1908/10 – 1997), der darin insbesondere für die frühen 1920er-Jahre ein sehr viel differenzierteres Bild der Situation zeichnet als in seinen bekannteren eng­ lischsprachigen Publikationen.48 Unter die seltenen schrift­lichen Zeugnisse, w ­ elche die Perspektive eines tsche­tschenischen Widerstandskämpfers wiedergeben, fallen für die Sowjetzeit die Aufzeichnungen von Hasan Israilov (auch Terloev, 1907 – 1944), einer der wichtigsten tsche­tschenischen Anführer einer antisowjetischen Bewegung, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee operierte.49 Ergänzt werden die Perspektiven einzelner Menschen über die Interviewsammlung des Harvard Project on the Soviet Social System (HPSSS), die mehrere Hundert Gespräche mit sowjetischen Flüchtlingen enthält, darunter auch Menschen aus dem Nordkaukasus, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg in den Westen emigriert waren und Anfang der 1950er-Jahre befragt wurden.50

beziehungsweise das Tsche­tscheno-Inguschische Autonome Gebiet eingesehen hat. Die ent­sprechenden Dokumente finden sich im GARF (Protokolle der Sitzungen der staat­lichen ­Insti­tu­tionen) und RGASPI (Sitzungen der Parteiorgane). 47 Das Schicksal Mitaevs ist im 7. Kapitel ­dieses Buches nachgezeichnet. 48 A. Avtorchanov, Memuary, Frankfurt a. M. 1983. Avtorchanovs Lebensweg ist im 8. Kapitel ­dieses Buches eingeflochten. 49 Hierbei handelt es sich um ein Tagebuch, das Hasan Israilov (Terloev) Anfang der 1940er-Jahre verfasst hat. Siehe dazu die entsprechenden Angaben im 11. Kapitel ­dieses Buches. 50 Die Interviews wurden gemäß einem festgelegten Fragenkatalog durchgeführt, der gesellschaft­ liche, wirtschaft­liche, politische und kulturelle Bereiche des Lebens in der Sowjetunion erfasste. Diese Interviews sind unterdessen mit Einschränkungen online verfügbar unter: Harvard Project on the Soviet Social System (HPSSS), Harvard University, Cambridge, MA, http://hcl.­harvard.edu/ collections/hpsss/index.html [29.1.2013]. Von besonderem Interesse für die Zwecke ­dieser Arbeit sind die rund ein Dutzend Interviews mit Angehörigen nordkauka­sischer Volks­gruppen, unter ihnen auch zwei Tsche­tschenen. Die Tsche­tschenen sind als Fälle Nr. 101 und 434 bezeichnet. Nur für den Fall Nr. 434 findet sich auch ein längeres Interview zur Lebens­geschichte dieser Person (als Kategorie-A-Interview). Interviews wurden auch durchgeführt mit m ­ ehreren Osseten und Tscherkessen, mindestens einem Awaren aus Dagestan, einem Balkaren und einem K ­ abardiner.

2 .   E RO B E RU N G U N D W I D E R S TA N D

Die Eroberung des Kaukasus durch Russland vollzog sich über einen langen Zeitraum und in Etappen. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts knüpfte Russlands Zar Ivan IV. („der Schreck­liche“) diplomatische Kontakte zu den Völkern nörd­lich des kauka­ sischen Bergmassivs, ließ erste Befestigungsanlagen bauen und Kosaken ansiedeln. Allerdings blieb die Präsenz Russlands im Kaukasus im Vergleich zu der seiner großen Rivalen, des Osmanischen Reichs im Südwesten und Persiens im Südosten, relativ schwach. Dies änderte sich auch dann nicht, als Zar Peter I. („der Große“) im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts Richtung Kaukasus vorstieß und erstmals Eroberungen jenseits des Kaukasusgebirges durchführte. Russlands Truppen konnten die eroberten Gebiete, darunter Baku und Derbent, in der Folge nicht halten und zogen sich zurück. Auch in der Kabarda blieb der rus­sische Einfluss stark begrenzt. Einen nachhaltigen geopolitischen Einschnitt bewirkte die Entwicklung ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Unter Katharina II. („der Großen“) begann Russland in langwierigen Kriegen das Osmanische Reich und Persien aus der Region zurückzudrängen. Gleichzeitig stärkte Russland ab ­diesem Zeitpunkt seine Position im Nordkaukasus. Nach Erfolgen über das Osmanische Reich und der Niederschlagung mehrerer Aufstände nordkauka­sischer Völker dehnte das Zarenreich bis ins erste Viertel des 19. Jahrhunderts seinen Einfluss über ein Gebiet aus, das im Westen bis an den Fluss Kuban und im Osten bis an den Terek reichte. Außerhalb der rus­sischen Einflusszone blieben im Kaukasus nur die süd­lich des Kuban siedelnden ady­gischen Stämme (von den Russen gemeinhin als „Tscherkessen“ bezeichnet) und – geographisch abgetrennt – die im Osten des Kaukasus lebenden tsche­tschenischen Gemeinschaften sowie die dagestanischen Völker. Die nordkauka­sischen Bergzonen und die dort siedelnden Völker lagen nun eingeklemmt zwischen der rus­sischen Präsenz im Norden und im Süden. Dabei erwuchs den rus­sischen Truppen bei ihrem Eroberungszug im nord­öst­ lichen Teil der Region Widerstand, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Anknüpfend an die Leistungen seiner beiden Vorgänger, der aus awarischen Gemeinschaften stammenden Imame 1 Gazi Muhammad und Hamza Bek, war es schließ­lich der ebenfalls awarisch-stämmige Imam Šamil, dem erstmals die Vereinigung tsche­ tschenischer und dagestanischer Gemeinschaften im Rahmen eines islamischen



1 Der Titel „Imam“ (arab.) bezeichnet das Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft (umma).

Eroberung und Widerstand

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Staatswesens (Imamat) gelingen sollte. Das war insofern erstaun­lich, als diesen Gemeinschaften nicht nur die zentralistische Form staat­licher Organisation fremd war, sondern mit der Scharia (arab. šarīʿa, „religiöses Gesetz“) ein Rechtssystem eingeführt wurde, das in vielen Bereichen der „Adat“ (arab. ʿadāt, „Gewohnheit“) genannten lokalen Rechtstradition der Nordkaukasusvölker widersprach. Erst nach einem Vierteljahrhundert fast ununterbrochener Kämpfe ergab sich Šamil 1859 bei der Ortschaft Gunib den rus­sischen Truppen. Die Eroberung der von Tscherkessen besiedelten Gebiete zog sich sogar noch bis 1864 hin. Die Kaukasuskriege des 18. und 19. Jahrhunderts bedeuteten nicht nur einen umfassenden Einschnitt in der Geschichte der eingeborenen Völker. Sie haben auch seit jeher einen derart wichtigen Platz in der Erinnerungskultur der Bewohner des Nordkaukasus eingenommen, dass es unumgäng­lich ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Auch für Russland war die Eroberung des Kaukasus eines der wichtigsten Kapitel seiner imperialen Expansion. Hat die Beschäftigung mit der Geschichte der rus­sischen Eroberung des Nordkaukasus bis heute nicht nachgelassen, so veränderten sich im Laufe der Zeit, abhängig vom gesellschaft­lichen Kontext und von den geistig-politischen Strömungen der jeweiligen Epoche, die historiographischen Sichtweisen wiederholt. Tendierte die imperiale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zur Verherr­lichung des Kriegs und zur Betonung der Überlegenheit der rus­sischen Zivilisation,2 so stellte die frühe sowjetische Historiographie die Entwicklungen in ein neues ideolo­gisches Koordinatensystem. Glorifiziert wurde nun nicht mehr die „Befriedung“ der „wilden Bergvölker“ durch das imperiale Russland, sondern der Widerstand dieser Völker gegen Imperialismus und Zarismus. Nach der Deportation mehrerer nordkauka­sischer Völker 1943/44 erfuhr die sowjetische Geschichtsschreibung allerdings eine Kehrtwende: Während die Tsche­tschenen und Inguschen als Objekte der Historiographie gänz­lich verschwanden, galt die Bewegung Imam Šamils nun als antidemokratisch und reaktionär. Erst mit Beginn der Entstalinisierung nach 1956 setzten zaghafte Versuche ein, Imam Šamil und dessen Widerstand zu rehabilitieren sowie den Völkern des Nordkaukasus einen würdigen Platz im Rahmen der sowjetischen Geschichtsschreibung zuzuweisen.3

2 Das Überlegenheitsgefühl, das Russen den unterworfenen Völkern entgegenbrachten, zeigte sich in der Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Darstellungen zahlreicher rus­sischer Militärhistoriker und Publizisten. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Art von Geschichtsschreibung zählen die Militärhistoriker Rostislav Andreevič Fadeev (1824 – 1883), Dmitrij Il’ič Romanovskij (1825 – 1881), Nikolaj Fëdorovič Dubrovin (1837 – 1904), Arnold ­Lʼvovič ­Zisserman (1824 – 1897) und Vassilij Aleksandrovič Potto (1836 – 1911): Lapin, Armija Rossii, S. 5. 3 Einen Überblick zu den Tendenzen in der sowjetischen Geschichtsschreibung bietet: V. V. Degoev, Bolʼšaja igra na Kavkaze. Istorija i sovremennostʼ, Moskva 2003, S. 256 – 306 (Kapitel: „Problema Kavkazskoj vojny XIX veka: istoriografičeskie itogi“). Zum Bild Imam Šamils in der russ­ländischimperialen und sowjetischen Geschichtsschreibung: Lars Karl, Helden zwischen Moskau und

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Trotz unterschied­licher ideolo­gischer Ausgangspunkte hatten sowohl die imperiale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als auch die sowjetische Historiographie des 20. Jahrhunderts mindestens eines gemeinsam: Beide standen sie im Dienst des Staates und kommunizierten über die Geschichte eine Sichtweise, die staat­lichen Interessen und Überzeugungen diente. Zwar konnten die einzelnen Darstellungen zum Teil stark voneinander abweichen und war Kritik, mindestens in verdeckter Form, bis zu einem gewissen Grad immer mög­lich. Doch bediente sich die in der Tendenz oft minuziös und in großer Treue zum Detail aufgearbeitete Abfolge von Ereignissen letzt­lich eines Geschichtsbilds, das in stark vereinfachten und manchmal auch polemisierenden Bildern zu seinen Lesern sprach. Das Gleiche lässt sich allerdings auch für einen Teil der west­lichen D ­ arstellungen sagen. Der Nordkaukasus war zwar bereits früh über die Schriften europäischer Forschungsreisender bekannt, die sich im 18. Jahrhundert, dann aber vor allem im 19. Jahrhundert, zu Erkundungszwecken in diese weitgehend unbekannte Region aufgemacht hatten.4 In ein breiteres europäisches Bewusstsein trat der Nord­kaukasus allerdings erst im Zuge der rus­sischen Eroberungskriege und des von Šamil angeführten Widerstands des 19. Jahrhunderts,5 und dann nament­lich über die ü­ bersetzten Schriften der rus­sischen Romantiker wie Lermontov, Puškin und später Tolstoj, die Russlands langen Krieg gegen die Völker nörd­lich des Kaukasus literarisch ver­ arbeiteten.6 Das erste große Geschichtswerk zu den Kaukasuskriegen erschien 1908 aus der Feder von John Frederick Baddeley und stand den monumentalen ­imperialen Geschichtsschreibungen rus­sischer Autoren in nichts nach.7 War das Interesse west­ licher Historiker am Nordkaukasus nach der Oktoberrevolution weitgehend versiegt, so erfuhr es im Kalten Krieg, im Zuge der Beschäftigung mit dem „Sowjetislam“ und dessen historischen Wurzeln, eine Wiederbelebung.8





Medina. Imam Šamilʼ, Babäk und Ališer Navoi als imperiale Integrationsfiguren in den musli­ mischen Regionen der Sowjetunion, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Russlands imperiale Macht. Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive, Wien, Köln, Weimar 2012, S. 155 – 178, insbesondere S. 159 – 169. 4 Für eine Übersicht: Jürgen Breuste / Burkhard Ma­lich, Reisen im Kaukasus. Berichte aus dem 19. Jahrhundert, Leipzig 1987. 5 Großen Einfluss auf die west­liche Wahrnehmung hatte dabei die bereits 1848 (und danach in zahlreichen erweiterten Neuauflagen und Übersetzungen) erschienene, populärwissenschaft­lich ausgerichtete Arbeit von Friedrich Martin von Bodenstedt (1819 – 1892): Friedrich Bodenstedt, Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen. Ein Beitrag zur neuesten Geschichte des Orients, Münster 1995 (Reprint des 1848 erschienen Buches). 6 F. Benvenuti, Rossija, Zapad i Čečnja, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 15 – 20, hier S. 15. 7 John F. Baddeley, The Russian Conquest of the Caucasus, London 1908. 8 Federführend war die „Pariser Schule“ um den Historiker Alexandre Bennigsen, die bereits in den 1960er-Jahren erste Untersuchungen zum Islam in der Sowjetunion publizierte. Exemplarisch:

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In der Tendenz hat sich auch die west­liche Forschung lange Zeit vornehm­lich mit militärischen Aspekten der Eroberung beschäftigt und dabei insofern Position für die nichtrus­sischen Völker bezogen, als sie alle Entwicklungen der Region als Reaktion auf die militärische Expansionspolitik Russlands interpretiert hat. Erst nach dem Zerfall der UdSSR und der Öffnung der sowjetischen Archive ist sowohl in Russland als auch im Westen eine neue Generation von Historikern heran­ gewachsen, die auch geistige, religiöse und s­ oziale Hintergründe des Widerstands zu erforschen begann.9 Dieses Kapitel bietet einen schematischen Überblick über die wichtigsten geschicht­lichen Linien und Kontroversen in der Literatur zu den Kaukasus­ kriegen. Dabei geht es insbesondere darum, jene Veränderungen und Merkmale aufzuzeigen, die sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl hinsicht­lich der Art und Weise des rus­sischen Vordringens als auch bezüg­lich der Formen des Widerstands beobachten ließen. Wie stellte sich die Situation im Nord­kaukasus während der verschiedenen geschicht­lichen Epochen dar? Durch w ­ elche Merkmale zeichnete sich die rus­sische Politik aus und wie reagierten die einzelnen Völker darauf? Welche Rolle spielten Religion und Sozialstruktur für den Widerstand und w ­ elche gesellschaft­lichen Veränderungen ließen sich unter dem Eindruck der rus­sischen Eroberung und der Staatsbildungsanstrengungen unter Imam Šamil beobachten?

Alexandre Bennigsen / Chantal Lemercier-Quelquejay, LʼIslam en Union soviétique, Paris 1968 (auch auf Eng­lisch unter dem Titel „Islam in the Soviet Union“ im selben Jahr erschienen). Für eine Übersicht zur Forschung zum sowjetischen Islam vor 1990: Eva-Maria Auch, Muslim – Untertan – Bürger. Identitätswandel in gesellschaft­lichen Transformationsprozessen der muslimischen Ostprovinzen Südkaukasiens (Ende 18.–Anfang 20. Jh.). Ein Beitrag zur vergleichenden Nationalismusforschung, Wiesbaden 2004, S. 11 (Anmerkung 3). 9 In ­diesem Zusammenhang tat sich 1994 der israe­lische Historiker Moshe Gammer mit einer Monographie hervor, die seit der Studie Baddleys als erstes modernes Referenzwerk zu den ­Kaukasuskriegen des 19. Jahrhunderts gelten kann: Moshe Gammer, Muslim Resistance to the Tsar. Shamil and the Conquest of Chechnia and Daghestan, London 1994. In der deutsch­ sprachigen Literatur kann die Monographie von Clemens Sidorko als bislang gründ­lichstes neueres Werk zu Eroberung und Widerstand im 19. Jahrhundert gelten: Clemens P. Sidorko, Dschihad im Kaukasus. Antikolonialer Widerstand der Dagestaner und Tsche­tschenen gegen das Zarenreich (18. Jahrhundert bis 1859), Wiesbaden 2007. Dagegen hat sich Christian W. Dettmering unlängst mit einer Studie zum 19. Jahrhundert hervorgetan, die nebst Tsche­tschenen auch die Inguschen in den Vordergrund rückt: Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis. Die muslimischen ­Völker des Nordkaukasus sind auch in den Fokus der Islamwissenschaft gerückt. Stellvertretend: Michael Kemper, Herrschaft, Recht und Islam in Daghestan. Von den ­Khanaten und Gemeinde­bünden zum ǧihād-Staat, Wiesbaden 2005. Mit neuen Ansätzen hat sich auf ­rus­sischer Seite nament­lich der Historiker und Orientalist Vladimir Bobrovnikov einen Namen gemacht, der in seinen Arbeiten auch innerkauka­sischen Aspekten der Gewalt nachgeht: V. O. Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza. Obyčaj, pravo, nasilie. Očerki po istorii i ­ėtnografii prava Nagornogo Dagestana, Moskva 2002.

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2 .1   Ru s sl a nd u nd d ie Völ ke r d e s Nor d k a u k a s u s i m 18. Ja h r hu nd e r t Im Rückblick scheint Russlands imperiales Vordringen in den Kaukasus einer wohldurchdachten Strategie gefolgt zu sein, die in den einzelnen Epochen zwar unterschied­lich motiviert gewesen sein mochte, letzt­lich aber konsequent auf das Ziel der Expansion und der Unterwerfung der verschiedenen Völker hinwirkte.10 Was manchen heutigen Betrachtern denn auch als grand strategy des Russlän­dischen Imperiums erscheint, stellte sich den Zeitgenossen nicht notwendigerweise so dar.11 Bis ins 18. Jahrhundert war die Ausdehnung des rus­sischen Machtbereichs vornehm­ lich die Folge einer lokalen Dynamik, die weniger aus strate­gischen Überlegungen St. Petersburgs als eher aus den persön­lichen Ambitionen rus­sischer Generäle und den konkreten Mög­lichkeiten vor Ort erwuchs. Denn tatsäch­lich war man sich in St. Petersburg uneins, was den wirtschaft­lichen und geostrate­gischen Nutzen einer Expansion Richtung Süden betraf. Wie umstritten diese Expansion war, zeigte sich besonders deut­lich im Fall der rus­sisch-geor­gischen Beziehungen. Georgien, das im 18. Jahrhundert seine mittelalter­liche Hochblüte längst hinter sich hatte und in verschiedene mit­einander rivalisierende Königs- und Fürstenhäuser gespalten war, sah sich nicht nur der Bedrohung seitens der Osmanen und der Perser, sondern auch dem Risiko kontinuier­ licher Überfälle dagestanischer Völker, nament­lich der Lezginer, ausgesetzt. Auf ­Begehren des ostgeor­gischen Königs Irakli II. stellte Russland das Königreich Kartli und Kachetien im Vertrag von Georgievsk 1783 unter seinen Schutz und stationierte Truppen in Tiflis. Wenig später jedoch entschied sich St. Petersburg für den Abzug seiner Einheiten. Folg­lich konnten per­sische Truppen die Stadt 1795 ungehindert verwüsten. Erst danach beschloss Russland, im Südkaukasus permanent Soldaten zu stationieren, um seinen geopolitischen Einfluss auch tatsäch­lich wahren zu ­können. Entgegen der vertrag­lichen Abmachung annektierte Russland das Königreich 1801 jedoch permanent, indem es den Herrscher absetzte, die Monarchie auflöste und die Verwaltung Georgiens einem rus­sischen General übertrug.12

10 Michael Khodarkovsky, Russiaʼs Steppe Frontier. The Making of a Colonial Empire, 1500 – 1800, Bloomington 2002, S. 2. Zur Expansion Russlands in den Kaukasus ebenfalls: Muriel Atkin, ­Russian Expansion in the Caucasus to 1813, in: Michael Rywkin (Hg.), Russian Colonial Expansion to 1917, London 1988, S. 139 – 187. 11 John LeDonne, The Grand Strategy of the Russian Empire, 1650 – 1831, New York 2004. 12 Nikolas K. Gvozdev, Imperial Policies and Perspectives Towards Georgia, 1760 – 1819, ­Basingstoke 2000, S. 46 – 98. Zur rus­sischen Eroberung und Integration des Südkaukasus in den Reichsverband im 18./19. Jh. weiterführend: Ronald Grigor Suny, The Making of the Georgian Nation, ­Bloomington 1994, insbesondere S. 55 – 143; Laurens Hamilton Rhinelander, The Incorporation of the Caucasus into the Russian Empire. The Case of Georgia. Thesis (Ph. D.), Columbia

Russland und die Völker des Nordkaukasus im 18. Jahrhundert

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Ähn­lich verlief die Entwicklung im Nordkaukasus. Nach Siegen Russlands sahen sich die Osmanen im Friedensvertrag von Küçük Kaynarca 1774 genötigt, wichtige Stützpunkte am Schwarzen Meer abzutreten. Das Khanat der Krim wurde für unabhängig erklärt und kurze Zeit später von Russland annektiert. Blieb der Vertragstext bezüg­lich der genauen Grenzen Russlands im Nordkaukasus und der rus­sischen Rolle in Georgien und der Kabarda vage, so sahen die folgenden Jahre eine stufenweise Ausdehnung rus­sischer Kontrolle sowohl nörd­lich als auch süd­lich des Kaukasus­ massivs. Der Friedensvertrag von Küçük Kaynarca ist zweifellos als wichtiger Einschnitt für die Strategie Russlands in der Kaukasusregion zu sehen. Dieses Datum ist aber nicht mit dem Beginn der weiteren Expansion des Zarenreichs im Nordkaukasus gleichzusetzen. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung in der Literatur lehnten die staat­lichen Zentralinstanzen in St. Petersburg nach dem Sieg über die Osmanen eine weitere Ausdehnung des rus­sischen Einflusses zunächst ausdrück­lich ab.13 Erst 1777 stimmte Katharina II. dem Plan zu, die sogenannte Kauka­sische Militärlinie, einen Gürtel rus­sischer Forts und befestigter Kosakensiedlungen vom Schwarzen Meer bis ans Kaspische Meer, auszubauen und Richtung Süden zu verschieben.14 Für den Entscheid Russlands, eine offensivere Haltung einzunehmen, war nicht nur der Sieg über die Osmanen ausschlaggebend, sondern auch der Umstand, dass, ähn­lich wie im Fall Georgiens, Russland um die Sympathien einzelner nordkauka­sischer Völker und insbesondere der kabardinischen Fürsten wusste und diese entsprechend zu umwerben suchte. Russland erschien einigen dieser lokalen Potentaten als valabler Alliierter, dem sie zutrauten, effektiven Schutz vor Drittmächten zu gewähren und ihre Position gegenüber anderen lokalen Machthabern zu stärken.15 Zwar scheuten sich die Militärführer des Zaren nicht, brachiale Gewalt zur Er­­ reichung ihrer expansiven Ziele einzusetzen. Doch sofern sie Gewalt nicht für nötig hielten, suchten sie die einzelnen Völker mit diplomatischem Geschick an sich zu binden. Große Erfolge erzielte Russland in dieser Hinsicht in Dagestan: Für das University 1972; Auch, Muslim – Untertan – Bürger, insbesondere S. 65 – 132; D. I. Ismail-Zade, Die Entstehung des rus­sischen Verwaltungssystems in Transkaukasien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 2 (1995), S. 107 – 122. 13 Sean Pollock, A New Line in Russian Strategic Thinking and in North Caucasia. Paper presented at the Russian and East European Historiansʼ Workshop, Harvard University, 16. Dezember 2004, S. 4. 14 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 39 – 40. Für eine Übersicht zur rus­sischen Kaukasuspolitik unter Katharina II.: Sean Pollock, Empire by Invitation? Russian Empire-Building in the Caucasus in the Reign of Catherine II. Thesis (Ph. D., Dept. of History), Harvard University 2006. 15 Sean Pollock, Claiming Kabarda. The Contest for Empire in North Caucasia from the Conversion of Korgoka Konchokin to the Treaty of Kuchuk Kainardja, unpublished paper, History Department, Harvard University [ohne Datum], S. 42. Siehe dazu die Dokumentensammlung: R. U. Tuganov (Hg.), Čerkesy i drugie narody Severo-Zapadnogo Kavkaza v period pravlenija imperatricy ­Ekateriny II 1775 – 1780 gg. Sbornik dokumentov. Tom 2, Nalʼčik 1998.

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Eroberung und Widerstand

späte 18. Jahrhundert und das frühe 19. Jahrhundert sind viele Schreiben überliefert, in denen sich dagestanische Khane und Vorsteher von Dorfgemeinschaften feier­lich unter den Schutz Russlands begeben.16 Verschiedene solcher Demutsbezeugungen finden sich für diese Zeit auch für inguschische und tsche­tschenische ­Gemeinschaften. So liest sich etwa in den Aufzeichnungen des deutsch-baltischen Forschers Johann Anton Güldenstädt (1745 – 1781), der auf Ersuchen Katharinas II. zwischen 1768 und 1775 zu Erkundungszwecken durch Südrussland und den Kaukasus reiste, in den Bemerkungen zu den Inguschen, dass ein rus­sischer Offizier diesen 1770 einen „Huldigungs Eid“ abgenommen habe. Obwohl die Inguschen ein freies Volk seien und ihre Ältesten und Richter selbst wählten, hätten sie bisher, so Güldenstädt, „unter dem Schutz der kabardinischen und alkaischen Fürsten“ gestanden. „[D]urch Vermittlung des kislarschen Commandanten, des Oberst Nemptsch, aber vertauschten sie diese unbedeutenden Schutzherren gegen Russlands Schutz. Man rechnet, dass sie 5000 streitbare Männer aufsitzen lassen können.“ 17 In den Quellen wird für die Inguschen nebst dem Datum 1770 auch das Jahr 1810 genannt, als sie Russland erneut Treue schworen und „freiwillig“ und „feier­lich“ in den Bund mit dem Zarenreich eintraten.18 Ähn­lich war die Lage damals in Gebieten, die Tsche­tschenen besiedelten. Auch sie wehrten sich gegen äußere Machtansprüche, gegen jene kabardinischer und kumykischer Fürsten und auch gegen ­solche dagestanischer Khane. So berichten die Dokumente aus jener Zeit von Treueeiden tsche­tschenischer Gemeinschaften im Jahr 1781 und erneut 1807.19 16 G. L. Bondarevskij / G. N. Kolbaja (Hg.), Dokumentalʼnaja istorija obrazovanija ­mnogonacionalʼnogo gosudarstva Rossijskogo. V 4 knigach. Kniga pervaja. Rossija i Severnyj Kavkaz v XVI-XIX vekach, Moskva 1998, insbesondere S. 328 – 353 (Dokumente Nr. 124 – 145). 17 Seine in der Form von Tagebüchern verfassten Aufzeichnungen erschienen erstmals in der von Peter Simon Pallas bearbeiteten Ausgabe in der Form von zwei Bänden 1787 – 1791 unter dem Titel „Reisen durch Russland und im cauca­sischen Gebürge“. Hier wird die von Julius Klaproth umgearbeitete Ausgabe aus dem Jahr 1834 verwendet: Johann Anton Güldenstädt, Beschreibung der kauka­sischen Länder. Aus seinen Papieren gänz­lich umgearbeitet, verbessert hg. und mit erklärenden Anmerkungen begleitet von Julius Klaproth, Berlin 1834, S. 150 – 151. 18 Das entsprechende Dokument findet sich in: A. P. Berže (Hg.), Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago upravlenija namestnika kavkazskago. Tom IV, Tiflis 1870, S. 900 – 901. Diese und andere Daten erscheinen auch in der sowjetischen und neueren zeit­genös­sischen russischsprachigen Literatur und werden jeweils als Zeitpunkt der offiziellen Angliederung Inguschetiens genannt. Die Jahreszahl 1810 nennt etwa die Sowjetische Histo­rische Enzyklopädie: Sovetskaja istoričeskaja ėnciklopedija. Tom 15, Moskva 1974, S. 997. Dagegen nennt ein im Jahr 1998 vom Russländischen Institut für Geschichte herausgegebener Band zu den nationalen Grenzgebieten des Russländischen Imperiums das Jahr 1770 als Datum der „offiziellen Anglie­derung“ Inguschetiens an Russland: S. G. Agadžanov (Hg.), Nacionalʼnye okrainy ­Rossijskoj imperii. Stanovlenie i razvitie sistemy upravlenija, Moskva 1998, S. 291. 19 Bondarevskij / Kolbaja (Hg.), Dokumentalʼnaja istorija, S. 259; A. P. Berže (Hg.), Akty, s­ obrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago upravlenija namestnika ­kavkazskago. Tom III, Tiflis 1869, S. 668 – 670, 1142 – 1155. Dazu ebenfalls: Š. A. Gapurov, Aktualʼnye problemy

Russland und die Völker des Nordkaukasus im 18. Jahrhundert

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Mit der Abnahme von Huldigungseiden und über Koalitionen mit lokalen F ­ ürsten, Notablen und Clanführern knüpfte Russland an Traditionen an, die sich seit den Tagen Ivans IV. bewährt hatten. Im Kaukasus ergänzte Russland diese Politik spätestens seit Katharina II. dadurch, dass es danach strebte, kooperationswillige lokale Anführer in das nationale Rangsystem einzubeziehen. Während Russland etwa in Georgien, Armenien und zum Teil auch in der Kabarda Teile der adeligen Eliten direkt in das imperiale System einzubinden suchte, ließ St. Petersburg in anderen Fällen lokale Herrschaftsstrukturen weitgehend unangetastet und suchte seine Macht über lokale Potentaten zu projizieren. Letztere Form der Allianzbildung war typisch für die Herrschaftsformen, wie sie sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den islamisch geprägten Gebieten des Nordkaukasus herausbildeten.20 In ­diesem Vasallenverhältnis beinhaltete die Verleihung von Diensträngen mehr als nur Ehrenbezeichnungen. Den jeweiligen Gebietern vor Ort wurde ein konkretes Gehalt zugesprochen, und über Diplome bestätigte das Zarenreich deren Macht. Russland stützte diese Lokalpotentaten nicht nur politisch, sondern falls nötig auch militärisch, damit sie in ihren Hoheitsgebieten für Ordnung sorgen und gegen russlandfeind­liche Tendenzen vorgehen konnten. Im Gegenzug bekundete der Vasall gegenüber Russland seine Loyalität, stellte Geiseln als Bürgschaft und erlaubte allenfalls auch die Stationierung rus­sischer Truppen auf seinem Territorium. So forderte etwa General Aleksej Petrovič Ermolov (1777 – 1861) als Oberbefehlshaber der rus­sischen Truppen im Kaukasus den Herrscher der dagestanischen Ortschaft Akuša in einer Mitteilung von 1819 dazu auf, die bisherige Form der Verwaltung und herkömm­liche Sitten nicht anzutasten, aber dafür zu sorgen, dass sein Herrschaftsgebiet nicht zum „Zufluchtsort von Widersachern und Feinden Russlands“ werde.21 Bedeutete aus der Sicht des Zarenreichs eine ­solche Koalition stets die ewige Unterwerfung einer bestimmten Volksgruppe, so interpretierten die Bündnispartner das nicht notwendigerweise so. Aus Sicht der verschiedenen Völker waren Bündnisse oft nur so lange bindend, wie sie ihren Interessen entgegenkamen. Keinesfalls aber wollten die Völker darin eine Schmälerung ihrer angestammten Freiheiten sehen.22 Aus den unterschied­lichen Sichtweisen resultierten dann Konflikte, wenn Russland sich entschloss, seine Sicht der Dinge als die einzig gültige zu sehen. Widerstand istorii Čečni v XVI-XIX vekach, in: Ibragimov / Tiškov (Hg.), Čečenskaja Respublika, S. 40 – 48, hier S. 42, 45. 20 Zur Unterscheidung zwischen direkter imperialer Herrschaft und indirekter Herrschaft in der Form von Vasallenverhältnissen: V. V. Degoev, Kavkaz v sostave Rossii. Formirovanie imperskoj identičnosti (pervaja polovina XIX veka), in: Silaev (Hg.), Kavkazskij sbornik, S. 28 – 47, hier S. 31. 21 Ermolov zitiert bei: V. O. Bobrovnikov / I. L. Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, Moskva 2007, S. 61. 22 Degoev, Bolʼšaja igra na Kavkaze, S. 18.

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wurde als Verstoß und als „Aufstand“ (vosstanie) gegen Russland interpretiert und die anschließende militärische Niederwerfung solcher Rebellionen erschien als legitime Aktion. Mehrere größere Aufstände fielen dabei genau in jene Zeit, da Russland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zu einer aggressiveren Expan­sionspolitik überging. Unterwerfungsbekundungen nahm die rus­sische Seite fortan zum Anlass, rigoros gegen jene Völker vorzugehen, die sich ihren Forderungen beziehungsweise ihrer Interpretation von Vasallenbeziehungen widersetzten.23 Die unterschied­liche Auslegung des Vasallenverhältnisses veranlasste kabar­ dinische Fürsten 1779 zu einem großen Aufstand gegen Russland.24 Die Erhebung, ­welche die sowjetische Geschichtsschreibung wohl daher bewusst unterdrückt hat, weil sie nicht zur Propaganda der Völkerfreundschaft passte, ist deshalb wichtig, weil sie erstmals klar die Richtung der rus­sischen Politik im Nordkaukasus e­ rkennen ließ.25 Zwar hatten die Führer der Kabarda im Frühjahr 1777 Russland die Treue geschworen und, wie es damaliger diplomatischer Gepflogenheit entsprach, den Russen hochrangige Personen als Geiseln übergeben. Doch wenige Monate später kam es bereits zum Zerwürfnis, das danach zum erwähnten Aufstand führte. Die Kabardiner waren nicht mit der von Russland vertretenen Auslegung des Friedensvertrags von Küçük Kaynarca einverstanden, wonach die Einigung sie zu Subjekten Russlands mache. Vielmehr beharrten sie darauf, dass Russland sich verpflichtet hätte, sie vor äußeren Feinden zu s­ chützen, ohne dafür Gegenleistungen zu erhalten. Die Kabardiner verstanden sich „seit der Zeit des Zaren Ivan Vasilʼevič“ (gemeint ist Ivan IV.) als Alliierte oder Gäste (kunaky) Russlands, nicht aber als Untertanen des Imperiums, wie bereits Pëtr Grigorevič Butkov (1775 – 1857) in seiner 1869 erschienen dreiteiligen Abhandlung zur Geschichte des Kaukasus festhält.26 Die rus­sischen Machthaber ließen den Aufstand gewaltsam niederschlagen und schwächten den Einfluss kabardinischer Fürsten in der Folge noch dadurch, dass Russland sich zum Beschützer der bäuer­lichen Bevölkerung und der tributpflichtigen Angehörigen anderer Völker im Einzugsbereich des kabardinischen Fürstentums erklärte. Die Gemeinschaften, die von der kabardinischen Herrschaft befreit wurden, suchten nun den direkten Kontakt zu Russland, um sich ihre Privilegien zu 23 B. B. Zakriev, K istorii rossijsko-čečenskich otnošenij poslednej treti XVIII veka, in: Ibragimov / Tiškov (Hg.), Čečenskaja Respublika, S. 254 – 261, hier S. 259. 24 Eine ausführ­liche Schilderung des Aufstands findet sich in: P. G. Butkov, Materialy dlja novoj istorii Kavkaza s 1722-go po 1803 god. Častʼ vtoraja (s pjatʼju planami), Sankt-Peterburg 1869, S. 50 – 58. 25 Pollock, A New Line in Russian Strategic Thinking and in North Caucasia, S. 45. 26 Butkov, Materialy, S. 51. Dazu ebenfalls: Michael Khodarkovsky, Ignoble Savages and Unfaithful Subjects. Constructing Non-Christian Identities in Early Modern Russia, in: Daniel R. Brower / Edward J. Lazzerini (Hg.), Russiaʼs Orient. Imperial Borderlands and Peoples. 1700 – 1917, ­Bloomington 1997, S. 9 – 26, hier S. 13.

Tschetschenische Besonderheiten

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sichern. Die Osseten etwa, die sich bereits 1774 unter rus­sischen Schutz begaben, erhielten das Recht zugesprochen, in der Ebene zu siedeln.27 Manchmal erklärten sich auch Teile bestimmter Volksgruppen bereit, zum Christentum überzutreten, um dadurch in den Genuss rus­sischen Schutzes zu kommen: So waren es 1787 karatschajsche und balkarische Gemeinschaften, die mit dem Wunsch an Russland herantraten, zum Christentum überzutreten, um „Schutz vor den Kabardinern“ zu erhalten.28 Umgekehrt betrieb Russland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur eine begrenzte Missionierungspolitik. So sollte etwa das Christentum dort gestärkt werden, wo es, wie bei den Osseten, bereits vorhanden war. Insgesamt bildeten Missionierungsbestrebungen, die über die orthodoxe ­Kirche erfolgten, jedoch eine untergeordnete Priorität der rus­sischen Politik im Kaukasus. St. Petersburg ließ dann Missionierung zu, wo dies aufgrund der politischen und konfessionellen Konstellationen zweckmäßig erschien und die Stabilisierung des imperialen Herrschaftsraums nicht gefährdete.29

2 . 2   Ts che­t s che n i s che B e s o nd e r heit e n In der langen Geschichte des rus­sischen Vordringens hatten sich wiederholt auch Tsche­tschenen zu Bündnissen und Huldigungseiden mit Russland entschlossen. Im Sinne der Propaganda von der Völkerfreundschaft war es insbesondere die spät­ sowjetische Literatur, die diese Akte der Unterwerfung als Anschluss dieser Völker an Russland sowie die jeweiligen Jahreszahlen – nament­lich 1781 – als offizielle Vereinigungsdaten zu zelebrieren begann.30 Eine ­solche Sicht der Dinge verkennt 27 Z. V. Kipkeeva, Severnyj Kavkaz v Rossijskoj imperii. Narody, migracii, territorii, Stavropolʼ 2008, S. 72. 28 A. P. Berže (Hg.), Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago upravlenija namestnika kavkazskago. Tom II, Tiflis 1868, S. 1117. 29 Zur Religionspolitik Russlands im 18./19. Jh. im zentralen Teil des Nordkaukasus: E. Ch. Naskidaeva, ­Konfessionalʼnaja politika Rossii v gorskich obščestvach Centralʼnogo Kavkaza. Seredina XVIII – nač. XX vv., Vladikavkaz 2011. 30 So nennt etwa noch ein 1988 erschienenes Geschichtsbuch für die Mittelstufe in der Tsche­tschenoInguschischen ASSR das Jahr 1781 als das offizielle Datum des „freiwillen“ Anschlusses der Tsche­ tschenen an Russland: Istorija dobrovolʼnogo vchoždenija čečencev i ingušej v sostav Rossii i ego progressivnye posledstvija (materialy k izučeniju na urokach istorii v srednich školach), Groznyj 1988, S. 29 – 31. Dagegen findet in der Sowjetischen Historischen Enzyklopädie das Jahr 1781 keine Erwähnung; als offizielles Datum der Angliederung an Russland nennt die Enzyklopädie 1859, das Jahr der Kapitulation Šamils: Sovetskaja istoričeskaja ėnciklopedija. Tom 15, Moskva 1974, S. 997. Das Datum 1781 trifft sich noch immer häufig auch in der nach 1991 erschienen Literatur an. Etwa: Agadžanov (Hg.), Nacionalʼnye okrainy, S. 291; R. G. Abdulatipov u. a. (Hg.), Kavkaz. Istorija, narody, kulʼtura, religii, Moskva 2007, S. 190. Allerdings gab es bereits in den 1980er-Jahren in der Sowjetliteratur Stimmen, die diese Interpretation infrage stellten: Zakriev, K istorii

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aber den Umstand, dass die Tsche­tschenen, wie andere Völker auch, der Idee der „Unterwerfung“ (poddanstvo) eine grundsätz­lich andere Bedeutung zuschrieben als die Russen. Die Tsche­tschenen sahen darin in erster Linie ein Abkommen, das ihnen durch Anbindung an einen starken äußeren Partner Schutz vor Dritten gewähren sollte. Dabei handelte es sich aus Sicht der „Unterworfenen“ (poddanye) bei solchen Abkommen immer um temporäre Verbindungen, die Ausdruck einer kurzfristigen Politik waren. Dies zeigte sich nur schon darin, dass Unterwerfungsbezeugungen relativ häufig vorzukommen schienen. So ist etwa in den Aufzeichnungen Gülden­ städts über die Tsche­tschenen nachzulesen, dass diese sich zwar nicht gescheut hätten, auf ihren Raubzügen gegen Kosakensiedlungen auch den zahlenmäßig oft überlegenen rus­sischen Truppen „Abbruch zu thun und sie zu überfallen; wenn ihnen ­dieses aber nur einmal fehlschlägt, stauben sie auseinander, geben ihre Dörfer völlig Preis, schwören den feier­lichsten Unterthanen-Eid und geben die ­Vornehmsten zu Geiseln nach Kislar. Bei erster sich darbietender Gelegenheit treiben es aber diese Treulose wie vorhin“. 31 Diese Einschätzung gilt nicht nur für die Tsche­tschenen, sondern auch für andere Nordkaukasusvölker. 1804 rebellierten sogar die als besonders loyal geltenden O ­ sseten gegen als ungerecht empfundene Frondienste und Abgaben, die der ­rus­sische Aufseher (pristav) forderte.32 Auch die erneute Unterwerfung der Inguschen 1810 verhinderte nicht, dass es auch in Inguschetien im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder­holt zu Unruhen kam. Allerdings ist gerade mit Blick auf die Inguschen festzuhalten, dass diese den Russen spätestens nach dem Abkommen von 1810 und im Gegensatz zu den Tsche­tschenen gemeinhin als fried­lich und nicht antirus­sisch galten. Der Übertritt der Inguschen zum Islam in den 1830er-Jahren sollte deren Bild zwar trüben, doch an der grundsätz­lich positiven Meinung über d­ ieses Volk änderte dies in den folgenden Jahrzehnten wenig. So tendierten die rus­sischen Machthaber dazu, die wiederholten Überfälle und Aufstände der Inguschen im 19. Jahrhundert nicht als „fanatisch“ einzustufen, wie sie dies bei den Tsche­tschenen machten, sondern eher als Teil der kauka­sischen Lebensweise zu akzeptieren. Die rus­sischen ­Eroberer sahen sich in ihrer Meinung über die Inguschen im Laufe des Kaukasuskriegs bestätigt, als sich d­ ieses Volk weigerte, dem Šamil-Staat beizutreten.33 Dabei ist unklar, inwieweit dies tatsäch­

rossijsko-čečenskich otnošenij, S. 254 – 255. Weiterführend zur sowjetischen Geschichtsschreibung rund um die Problematik dieser Anschlussdaten: V. A. Šnirelʼman, Bytʼ alanami. ­Intellektualy i politika na Severnom Kavkaze v XX veke, Moskva 2006, S. 270 ff. 31 Güldenstädt, Beschreibung der kauka­sischen Länder, S. 149 – 150. 32 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 97. 33 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 226.

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lich eine pro-rus­sische Haltung der Inguschen zum Ausdruck brachte oder eher als Folge davon zu sehen war, dass sie den politischen Islam, so wie ihn Šamil im Rahmen seines Gottesstaates propagierte, ablehnten. Die Inguschen waren zwar nicht Teil des Šamil-Staates, sie ließen sich von den Russen aber auch nicht aktiv gegen den Kampf gegen Šamil einspannen.34 Ein weiterer wichtiger Charakterzug solcher Unterwerfungsbezeugungen war mit Blick auf die Tsche­tschenen darin zu sehen, dass diese angesichts der Anarchie des Clanwesens nie als Vereinbarungen zu verstehen waren, ­welche die gesamte Volksgruppe betrafen. Im Gegensatz zur späteren sowjetischen und zum Teil auch heutigen Geschichtsschreibung in Russland, die diesen Umstand bei der Erwähnung des Abkommens von 1781 oft unerwähnt lässt, bemerkte bereits Butkov, dass sich die Tsche­tschenen der Siedlung Atagi hartnäckig geweigert hätten, den Huldigungseid von 1781 zu leisten. Die Bewohner Atagis stellten den Russen keine Geiseln und gaben an, sie würden keine fremden Herrscher auf ihrem Gebiet dulden.35 Gleiches ließ sich auch später feststellen. Als sich die Tsche­tschenen 1807 auf einer großen Versammlung mit Vertretern von 104 Siedlungen trafen, um sich Russland erneut zu unterwerfen, waren keine Repräsentanten der Berggebiete anwesend.36 Es ist denn auch in d ­ iesem Zusammenhang zu verstehen, dass Graf Pavel ­Sergeevič Potёmkin (1743 – 1796), dem Katharina II. 1782 das Oberkommando über die rus­sischen Truppen im Kaukasus übertrug, in den folgenden Jahren mili­ tärische Expeditionen gegen jene Ortschaften anordnete, die zu keinem Bündnis mit Russland bereit waren oder ihren „Treueschwur“ brachen. Damit schuf ­Potёmkin aber die Voraussetzungen dafür, dass es später zu Unruhen kam, die ausgehend von Tsche­tschenien große Teile des Nordkaukasus erfassen sollten. Als wichtigster Anführer des Widerstands wirkte der legendäre Scheich Mansur, dessen Kampf in der Literatur gemeinhin als einer der frühesten „Befreiungskriege“ unter dem Banner des Dschihad (arab. ğihād, wörtl. „Anstrengung“, im nordkauka­sischen Kontext oft als „Gazawat“ 37 bezeichnet) gelten kann. Der Krieg Russlands gegen Mansur, der sich in der Endphase seines Aufstands mit osmanischen Kräften gegen das Zarenreich verbündete, prägte auf rus­sischer Seite nicht nur nachhaltig eine negative Wahrnehmung der Tsche­tschenen, sondern sollte auch die Meinung verfestigen, dass es sich beim Islam um eine Bedrohung handelte, die Tsche­tschenen



34 Ebd. 35 Butkov, Materialy, S. 109. 36 Gapurov, Aktualʼnye problemy, S. 45 – 46. 37 Der „Gazawat“ (arab. ġazawāt von ghazwa) beschreibt eigent­lich einen Kriegszug, Raubzug oder überraschenden Überfall. Daraus leitet sich das Wort „Razzia“ ab: T. M. Johnstone, G̲ h̲ azw, in: Encyclopaedia of Islam. Second Edition, hg. von P. Bearman u. a., Brill Online 2014, http://­ referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/ghazw-SIM_2499 [14.3.2014].

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und andere Nordkaukasusvölker (die Inguschen beteiligten sich nicht am Mansurkrieg) mit äußeren Mächten gegen Russland vereinigen könnten.38 Der Aufstand Mansurs gilt in der Geschichtsschreibung im Jahr 1791 als ­offiziell beendet, als der Scheich bei der Festung Anapa gefangen genommen wurde.39 Was schon Butkov hinsicht­lich der Unterwerfung der Tsche­tschenen festgestellt hat, drückte den damaligen Wesenszug der tsche­tschenischen Gesellschaften aus, die durch keine übergeordnete politische Instanz repräsentiert waren. Darüber, wie genau die tsche­tschenische Gesellschaft aufgebaut war und ­welche ­Funktionen die einzelnen sozialen Organisationseinheiten hatten, herrscht allerdings auch heute keine endgültige Klarheit. Dies gilt insbesondere für die tsche­tschenischen Clans, die „Tejps“, und die politischen Verbände, die „Tuchums“. Das Problem bei der Beschreibung der Sozialstruktur ist einmal darin zu sehen, dass die rus­ sische Ethnologie bereits bei den frühesten Beschrei­bungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu tendierte, die Bedeutung der Clans überzubewerten, obwohl die Quellen aus der Zeit selbst darüber sehr wenig berichten.40 Dann sind die Vorstellungen über das tsche­tschenische Sozialwesen und die Bedeutung des Tejp auch stark von den in spätsowjetischer Zeit verfassten ­Arbeiten, nament­lich derjenigen des tsche­tschenischen Schriftstellers Magomet Amaevič Mamakaev (1910 – 1973), geprägt.41 Mamakaevs Verwandtschaftsmodell, dem eine strikt hierarchisch aufgebaute Struktur zugrunde liegt, ist allerdings mit einiger Vorsicht zu genießen. Neue Untersuchungen zeigen, dass ­dieses Modell, das einen linearen sozialen Aufbau von der Kernfamilie über die Großfamilie bis hin zu den Tejps und den Tuchums beschreibt, auf die Wirk­lichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts nicht zutrifft.42 Ein Tejp stellte eine Gemeinschaft dar, deren Mitglieder sich auf einen gemein­ samen Vorfahren beriefen und damit nominell als blutsverwandt galten. Faktisch aber war die Blutsverwandtschaft nur schon deshalb nicht immer gegeben, weil es unter den Clanmitgliedern auch viele Fremdstämmige gab, die aus anderen Tejps oder

38 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 169. 39 Zum Aufstand unter Imam Mansur: Š. B. Achmadov, Imam Mansur. Narodno-osvoboditelʼnoe dviženie v Čečne i na Severnom Kavkaze pod rukovodstvom imama Mansura v 1785 – 1791 gg., Groznyj 2010. 40 Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 148 – 151. 41 M. A. Mamakaev, Čečenskij tajp (rod) v period ego razloženija, Groznyj 1973; ders., Čečenskij tajp (rod) i process ego razloženija, Groznyj 1962. 42 Eine Korrektur ­dieses Modells hat der deutsche Historiker Christian W. Dettmering in einem Aufsatz von 2005 vorgenommen: Christian W. Dettmering, Reassessing Chechen and Ingush (Vainakh) Clan Struktures in the 19th Century, in: Central Asian Survey 24 (2005), S. 469 – 489. Für eine neuere Betrachtung auf russländischer Seite: S. A. Nataev, O probleme čečenskogo tajpa v istoričeskich issledovanijach, in: Vestnik Akademii nauk Čečenskoj Respubliki 11 (2009) H. 2, S. 107 – 113.

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aus nicht-tsche­tschenischen Gemeinschaften stammten. Das wichtigste Merkmal eines Tejps war der Ahnenkult. Es galten all diejenigen als Mitglieder eines Tejps, die sich auf einen gemeinsamen (mythischen) Vorfahren und eine (fiktive) Genealogie stützten. Der jeweilige Kult um die Ahnen, der durch religiöse Zeremonien untermauert wurde, war Basis für eine gemeinsame Identität der Clanmitglieder. Dazu gehörten zumindest in den Bergen auch Tejp-Moscheen, Tejp-Heilige und sakrale Orte wie ein Tejp-Berg oder ein Friedhof, die den Namen des Clans ­trugen. Ursprüng­lich lebten die Tejp-Mitglieder wohl in derselben Region, doch mit dem Vorstoß Russlands kam es zu verstärkten Abwanderungen aus den Bergen in die Ebene und damit zu einem Aufbrechen der territorialen Einheit eines Tejps. In den Aulen der Ebene lebten damit oft verschiedene Tejp-Anhänger, die ihr eigenes Viertel bezogen. Der Bezug zwischen den Tejp-Mitgliedern, die manchmal verstreut in der Ebene siedelten, blieb über ein gemeinsames Tejp-Kernland in den Bergen erhalten. In sozialer Hinsicht bestand innerhalb der Tejps die Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfe. So flohen Mitglieder aus der Ebene zu ihren Verwandten in die Berge, wenn ihnen Gefahr drohte. Gemeinsame Pflicht zur militärischen Hilfe gegen äußere Bedrohungen bestand innerhalb eines Tejps zwar nicht, doch konnte ein solcher Widerstand unter den Mitgliedern in den Bergen organisiert werden. Diebstähle innerhalb des eigenen Tejps waren verpönt, Überfälle auf andere Tejps dagegen dienten der Ehre. Auch wurden Heiraten innerhalb desselben Tejps bevorzugt.43 Die vielleicht 135 Tejps, die Anfang des 19. Jahrhunderts existierten, unterschieden sich stark voneinander.44 Die großen Tejps hatten einige Tausend, die kleinen nur wenige Hundert Mitglieder. Dabei wetteiferten die jeweiligen Tejps darum, wer die ältesten und damit ehrwürdigsten Vorfahren hatte. Ein Tejp konnte sein Ansehen steigern, wenn es ihm gelang, zusätz­lich zum Stammesbesitz in den Bergen mög­ lichst viel Land in der Ebene zu erwerben.45 Die verbreitete Meinung, dass es sich bei den Tuchums um eine Art Vertei­ digungsbündnisse verschiedener Tejps handeln würde, wie dies Mamakaev ­behauptet, ist mit großer Wahrschein­lichkeit falsch. Dies war schon deshalb nicht mög­lich, weil die Clanmitglieder territorial zerstreut siedelten. Bei den Tuchums handelte es sich vielmehr um die geschlossenen politischen Einheiten der Tejps in deren jeweiligem Siedlungsgebiet, das in den Bergen oft mehrere Aule umfasste, in einem größeren Aul mit mehreren Tejps aber nur einen Teil des Dorfs. Die poli­ tische Funktion eines Tuchums bestand in der Wahl eines Ältesten, der die Anliegen dieser Institution nach innen und außen zu vertreten hatte. In den Bergen, wo die

43 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 107 – 109. 44 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 9 – 10. 45 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 110.

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Clans territorial geschlossen lebten, war es vermut­lich oft ein Ältestenrat, der sich aus den Ältesten aller in den Bergen siedelnden Clanmitglieder aus den jeweiligen Dörfern zusammen­setzte. Die Verwirrung um den Begriff des Tuchums entstand in der Literatur wohl deshalb, weil bereits frühe Quellen die Begriffe Tejp und Tuchum nicht auseinanderhielten und manchmal vertauschten.46 Die zentrale Rolle im politischen Leben der Tsche­tschenen und anderer nord­ kau­ka­sischer Völker spielten die Ältesten. Dies waren gesellschaft­liche Autoritätspersonen, die meist ein hohes Alter hatten, oft aber auch als Gelehrte galten. Ihnen kam die Aufgabe zu, das s­ oziale und wirtschaft­liche Leben in ihrem Viertel oder Dorf gemäß dem Adat zu koordinieren, einem Gewohnheitsrecht, dessen oft nur münd­lich überlieferte Vorschriften das Verhalten des Einzelnen und den Alltag des Clans bis ins Detail normierten. Daran änderte auch eine Konversion zum Islam wenig, einer Religion, die mit der Scharia ebenfalls einen Normenkanon mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit besitzt. Dass die Scharia mit vielen ­Vorschriften des Adat oft unvereinbar war, sollte gerade dann zu Spannungen führen, als Imam Šamil Mitte des 19. Jahrhunderts die Tsche­tschenen in seinen auf der Scharia be­ ruhenden Staat einzugliedern suchte.47 Der Älteste war in seinem jeweiligen Tuchum alleiniger Richter, während im Aul alle Ältesten zusammen den Rat der Richter bildeten. Der Älteste beziehungsweise der Ältestenrat war aber nicht ermächtigt, Urteile durchzusetzen. Die Ältesten suchten vielmehr zwischen Streitparteien zu vermitteln, eine eigent­liche Exekutivgewalt hatten sie nicht. Um Urteilen dennoch größtmög­liche Autorität zu verleihen, fanden Verhandlungen oft an heiligen Plätzen oder bei der Moschee statt, falls eine ­solche vorhanden war. Die Ältesten spielten auf Versammlungen die wichtigste Rolle bei der Koordination der politisch-territorialen Vereinigungen. Und weil bei Vertrags­ abschlüssen mit Russland in den Quellen meist von Ältestenversammlungen die Rede ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Ältesten auch die Interessen ihrer Gemeinschaften gegenüber Drittparteien vertraten.48 Innerhalb des Dorfs war die wichtigste Organisation jedoch die Dorfversammlung, an der jeder Mann teilnahm. Diese Versammlungen berieten über alle wichtigen Fragen und jeder männ­liche Bewohner hatte das Recht, eine Versammlung einzuberufen und seine Meinung kundzutun, wenn auch die Ältesten und andere angesehene Persön­lichkeiten, darunter die Kadis (arab. qāḍī, Richter, der nach der Scharia richtet) und Mullahs (Ehrentitel für einen Sufi-Meister, oft auch verwendet als allgemeine Bezeichnung für religiösen Führer oder islamischen

46 Ebd., S. 112 – 114. 47 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 8. 48 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 122 – 123.

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Rechtsgelehrten 49) das bevorzugte Rederecht genossen. Die Dorfversammlung beriet und entschied nament­lich in den wichtigen Fragen der Landarbeit und der Verteilung von Land oder wenn es um die allgemeine Gestaltung der Politik ging. War ein Teil des Dorfs mit einem bestimmten Entscheid nicht einverstanden, dann konnte es auch zur Teilung des Dorfs in zwei Lager oder zur Abwanderung eines Teils der Dorfbewohner kommen.50 Tsche­tschenen, Inguschen und die dagestanischen Berggemeinschaften ­gelten in der Literatur gemeinhin als „staatenlose“ Völker, weil ihnen eine über­geordnete politische Instanz fehlte. Dies bedeutete aber nicht, dass es nicht auch zu g­ rößeren Vereinigungen gekommen wäre. Veränderungen brachte diesbezüg­lich das ­mili­­tä­rische Vordringen Russlands ab Ende des 18. Jahrhunderts. Mit dem Sieg Russlands über die Kabardiner und die Kumyken schüttelten die Tsche­tschenen der Ebene ihre Tributpflicht gegenüber diesen ab. Die Dörfer waren nun unabhängig und frei, sich nach Bedarf politisch zu vereinigen. Mit zunehmendem Druck Russlands gegenüber der tsche­tschenischen Ebene gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es vor, dass sich Dörfer zu losen politisch-territorialen Verbänden zusammenschlossen, die jeweils nach Flüssen oder anderen landschaft­lichen Merkmalen der Region benannt wurden (z. B. die „Martanchoj“ am Fluss Martan, die „Gichoj“ am Fluss Gechi). Die gleiche Entwicklung spielte sich auch in den Bergen ab. Weil hier die Clans geschlossener siedelten als in der Ebene, waren die Zusammenschlüsse in den Bergen entsprechend homogener. Die größte Union bildeten die „Nochčmachoj“ der Region Ičkerien (aus dieser Bergregion stammten die meisten Tsche­tschenen der Ebene, die sich „Nochči“ nannten).51 Besonders ausgeprägte regionale Identitäten, die bis heute bestimmend sind, entstanden in ethnisch durchmischten Grenzgebieten. So bildeten etwa jene Tsche­ tschenen, die auf dem Gebiet des heutigen nörd­lichen Dagestan siedelten, unter dem Eindruck der Nähe zum Steppenvolk der Kumyken eine eigene Identität heraus.52 Nicht wenige dieser als „Akkincy“ oder „Auchovcy“ bekannten Tsche­tschenen führten ihre Herkunft auf die Kumyken zurück.53 Ähn­lich wie die tsche­tschenischen Tejps und Tuchums waren auch die dagestanischen Berggemeinden organisiert, die sich als eine Art urtüm­liche Demokratie ebenfalls in losen Bundesgenossenschaften 49 Das Wort „Mullah“ erfuhr räum­lich und zeit­lich verschiedene Verwendungen und wurde manchmal auch eher abschätzig für die Bezeichnung eines islamischen Rechtgelehrten mit mittlerer oder niederer Ausbildung verwendet: Werner Ende, Mullah, in: Religion Past and Present, hg. von Hans Dieter Betz u. a., Brill Online 2014, http://referenceworks.brillonline.com/entries/­ religion-­past-and-present/mullah-SIM_14367 [14.3.2014]. 50 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 122 – 124. 51 Ebd., S. 135 – 136. 52 K. A. Aliev u. a., Čečency-akkincy Dagestana. K probleme reabilitacii, Machačkala 1994, S. 3. 53 A. Sulejmanov, Toponomija Čečni, Nalʼčik 1997, S. 337.

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organisierten.54 Auch bei den Inguschen, deren Sozialstruktur mit einigen Abweichungen derjenigen der Tsche­tschenen sehr ähn­lich war, ließ sich die Vereinigung in Form von politischen Territorialunionen (Stämmen) seit dem Vordringen Russlands beobachten.55 Dennoch blieb der politische Charakter dieser Völker in hohem Maße dezentral, was auch die zeitgenös­sischen rus­sischen Eroberer feststellten. Dies spiegelte sich einmal darin, dass es einen übergreifenden Namen für die Tsche­tschenen und Inguschen zunächst nicht gab. Wahrschein­lich entstand ein solcher erst während des Persienfeldzugs Peters I. in den 1720er-Jahren, als sich bei den Russen das Ethno­nym „Tsche­tschenen“ (čečency) als Gesamtbezeichnung für jenes Volk durch­ zusetzen begann, auf das die Soldaten des Zaren auf ihrem Durchmarsch Richtung Süden beim heute nicht mehr existierenden Aul „Čečen“ (manchmal auch „Čačen“ geschrieben) stießen. In dieser Zeit muss sich auch die Bezeichnung „Inguschen“ (inguši) durchgesetzt haben, ein Begriff, den die Russen von der inguschisch be­ siedelten Ortschaft „Ongušt“ (oder „Angušt“) ableiteten.56 Die Tsche­tschenen selbst schienen diesen Namen lange Zeit nicht sonder­lich zu schätzen, was aus Kommentaren ranghoher rus­sischer Militärs jener Zeit hervorgeht. So liest sich etwa in den Aufzeichnungen des rus­sischen Generals ­Milentij ­Jakovlevič Olʼševskij (1816 – 1895), der 1841 in den Kaukasus abkommandiert wurde und ein Vierteljahrhundert lang in der Region stationiert bleiben sollte, dass „die Bewohner [Tsche­tscheniens] sich nicht Tsche­tschenen nennen und sich ­dieses Namens beinahe schämen“ würden. Sie selbst würden sich als „Volk Gottes“ und als „Nochčė“ bezeichnen, was auf den mythischen Urahnen der Tsche­tschenen hinweist. Oder sie würden sich nach einem seiner zwölf Söhne nennen, aus denen die einzelnen tsche­tschenischen Gemeinschaften hervorgegangen waren. Insbesondere die Jungen, so Olʼševskij, lehnten aber nicht nur die Bezeichnung „Tsche­tschenen“ ab, sondern nannten sich auch nicht „Nochčė“. Vielmehr zögen sie es vor, sich nach jenen Gemeinschaften oder Aulen zu benennen, aus denen sie stammten.57 Gemäß dem rus­sischen Ethnologen V. P. Požidaev, der den Nordkaukasus in den 1920er-Jahren bereiste, blieb die Bezeichnung „Tsche­tschenen“ noch bis in die Sowjetzeit wenig beliebt. Auch Požidaev erwähnt, dass sich ­dieses Volk selbst oft als „Nochčij“ bezeichnete, was in der Übersetzung „Volk“ heißen würde, „doch noch lieber nannten sie sich nach den Namen derjenigen Aule oder Gemeinschaften,

54 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 12 – 17. 55 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 110 – 112, 138 – 142. 56 V. I. Šeremet, „Pod carskoju rukoju…“ Rossijskaja imperija i Čečnja v XIX-načale XX v. Kratkie zamečanija ob istorii vajnachov i ich otnošenijach s Russkim gosudarstvom do načala XIX v., in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 21 – 52, hier S. 29. 57 M.Ja. Olʼševskij, Kavkaz s 1841 po 1866 god, Sankt-Peterburg 2003, S. 63.

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aus denen sie stammten“.58 Die heute weitverbreitete Bezeichnung „Vajnachi“ (oder „Vejnachi“, wörtl. „Unser Volk“) als Sammelbegriff für die ethnisch und linguistisch eng verwandten Tsche­tschenen und Inguschen ist dagegen ein Konstrukt, das erst im Zuge sowjetisch angestrengter Staatsbildungsprozesse der 1920er- und 1930er-Jahre aufgekommen ist.59 Keinen Zweifel gab es für damalige Beobachter allerdings daran, dass es sich bei den verschiedenen tsche­tschenischen Gemeinschaften um ein „eigenständiges Volk“ handelte, wie dies auch Olʼševskij hervorhebt. Als „Beweis“ führt er die Sprache der Tsche­tschenen an, die sich „markant von den Sprachen der anderen Bewohner des Kaukasus“ unterscheide.60

2 . 3   L e b e n u nd St e r b e n a n d e r „ Li n ie“ Die Ausdehnung des rus­sischen Einflusses im Nordkaukasus war zunächst nicht als Verschiebung einer festen äußeren Grenze zwischen Russland und den nord­kau­ka­ sischen Völkern zu verstehen. Zwar rückte Russland im Rahmen seiner Expansionspolitik die Kauka­sische Militärlinie kontinuier­lich Richtung Süden, indem es neue Festungen errichten und Kosakengemeinschaften in reorganisierten Wehrsiedlungen (stanica; pl. stanicy) im Grenzland ansiedeln ließ. Doch war diese Linie noch bis zu Beginn der massiven rus­sischen Eroberungskampagne im 19. Jahrhundert weniger als Barriere oder Bollwerk zu verstehen, wie dies die meisten namhaften Werke zum Kaukasuskrieg suggerieren. Vielmehr bezeichnete sie ein Grenzgebiet (­frontier), das sowohl von Kleinkonflikten als auch vielfältigen Austausch- und Handels­beziehungen unter den Völkern geprägt war.61 Besonders intensiv gestalteten sich dabei die Kontakte zwischen den ­autochthonen nichtrus­sischen Einwohnern des Nordkaukasus und den mehrheit­ lich slawisch­stämmigen Kosaken. Die Kosaken, die bereits Mitte des 16. Jahrhunderts von Norden her in Richtung der Flussebenen von Sunža und Terek vorgestoßen waren, trafen dort auf die Tsche­tschenen, die etwa zur selben Zeit aus den Bergen in die Ebene wanderten. Größere Kosakengemeinschaften ließen 58 V. P. Požidaev, Gorcy Severnogo Kavkaza. Inguši, čečency, chevsury, osetiny i kabardincy. ­Kratkij istoriko-ėtnografičeskij očerk, Moskva, Leningrad 1926, S. 15 – 16. Zur Selbstbezeichnung der Tsche­ tschenen: Jan Česnov, Bytʼ čečencem. Ličnostʼ i ėtničeskie identifikacii naroda, in: D. E. Furman (Hg.), Čečnja i Rossija. Obščestva i gosudarstva, Moskva 1999, S. 63 – 101, insbesondere S. 66 – 68. 59 Šnirelʼman, Bytʼ alanamy, S. 209. 60 Olʼševskij, Kavkaz s 1841 po 1866 god, S. 63. Zur Sprache der Tsche­tschenen: Johanna Nichols / Arbi Vagapov, Chechen-English and English-Chechen dictionary = Noxchiin-ingals, ingals-noxchiin deshnizhaina = Nohčijn-ingals, ingals-nohčijn dešnižajna, London 2004, S. 4 – 9 (Einführung). 61 Thomas M. Barrett, Lines of Uncertainty. The Frontiers of the North Caucasus, in: Slavic Review 54 (1995), S. 578 – 601.

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Eroberung und Widerstand Abb. 1: Dorf Tindi in Dagestan. Aufnahme von 1897.

sich im Nordkaukasus auch im Gebiet Kuban nieder. Weil es sich bei den Kosaken mehrheit­lich um Nachkommen von Personen handelte, die sich durch Flucht an die R ­ eichsperipherie dem rus­sischen Herrscher entzogen, hatten viele unter ihnen ein zwiespältiges Verhältnis zur imperialen Staatsmacht. Als die Kosakengemeinschaften des Terek 1721 formell in ­rus­sische Dienste aufgenommen wurden, hatten sie bereits 200 Jahre lang als unabhängige Siedler, manchmal auch als Banditen und Wegelagerer, in der Kaukasus­region gelebt. Sie waren letzt­lich nur eine weitere Stammesgruppe im Völker­gemisch des Nordkaukasus, eine Gruppe zudem, die sich in ihrer Lebensweise, der Organisation ihrer Gemeinschaften und von der äußeren Erscheinung her oft nur wenig von den anderen Völkern der Region unterschied. Das enge Neben­einander der Völker drückte sich auch darin aus, dass viele Menschen nebst der eigenen oft zwei oder drei weitere Sprachen beherrschten. Dabei schien der Einfluss der autochthonen Bevölkerung auf die Kosaken und die Russen ungleich größer als umgekehrt. Die Kosaken kleideten sich nicht nur wie die nordkauka­sischen Völker, sie nährten sich auch mit kauka­sischen Gerichten und tanzten zur gleichen Musik wie die Kaukasier. Oft sprach auch die kosakische Jugend untereinander kein Rus­sisch

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Abb. 2: Lezginer aus dem Dorf Ėčeda in Dagestan. Aufnahme von 1897.

mehr.62 Die Kosaken verstanden sich zwar durchaus als Repräsentanten des Zaren, was aber nicht hieß, dass sie ihre Traditionen und politischen Freiheiten aufgeben wollten.63 Für einen Fremden äußerte sich das Völkermosaik des Kaukasus in einer oft verwirrenden Vielfalt. Für die Einwohner selbst war das nicht der Fall. Gerade das enge Nebeneinander der verschiedenen Völker führte dazu, dass sie sich ihrer eigenen Identität in Abgrenzung zu den anderen Völkern sehr wohl bewusst waren. Doch die Übergänge waren fließend und die Ethnizität, die sich für Außenstehende in der Sprache zeigte, bildete nur ein Kriterium und oft nicht einmal das wichtigste, über das sich die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestimmte. Diese Zugehörigkeit definierte sich auch über so wichtige Merkmale wie die gemein­samen Ahnen und das ört­liche Zusammenleben, dann aber vor allem auch die Religions­zugehörigkeit.

62 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 164 – 165; Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 34. 63 Stellvertretend für die kaum überschaubare Literatur sei nur die auf 15 Bände angelegte Geschichte zu den Kosaken Russlands (mit Schwerpunkt Donkosaken) erwähnt: M. P. Astapenko, Istorija kazačestva Rossii. V 15 knigach, Novočerkassk 2010 – 2011. Stellvertretend für die west­liche ­Literatur: Shane OʼRourke, The Cossacks, Manchester 2007.

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Eroberung und Widerstand

Dass aber auch die Religion keine Barriere bildete, zeigt etwa die Geschichte von Semёn Semёnovič Atarščikov (1807 – 1845), einem einfachen Kosakenoffizier aus der stanica Naur, der nebst Rus­sisch und Arabisch auch Tsche­tschenisch (sein Vater war gebürtiger Tsche­tschene) und Kumykisch (seine Mutter war gebürtige Nogajerin) sprach.64 Atarščikov war als Kenner der Kulturen und Sprachen der Völker des Nord­kaukasus für den militärischen Einsatz in dieser Region geradezu prädestiniert. Seine Karriere verlief denn auch Anfang der 1830er­-Jahre steil aufwärts, als er zunächst in St. Petersburg als Übersetzer arbeitete und der Tscherkes­sischen Garde beitrat. Nach Beförderung und Auszeichnung wurde er zurück in den Kaukasus beordert, wo er schließ­lich 1836 zum Aufseher der Karatschajer im nordwest­lichen Teil der Region ernannt wurde. Er gewann den Respekt und das Vertrauen der rus­sischen Militärführung, die ihn immer wieder mit Sonderaufträgen in die Berge schickte. Atarščikov erfüllte diese Missionen immer mit Bravour. Doch im Jahr 1841 kam es zu einer abrupten Zäsur in seinem Leben, als er ohne ersicht­lichen Grund zu den Adygen flüchtete und desertierte. Vier Monate später entschloss er sich allerdings, nach Russland zurückzukehren und um Vergebung zu bitten. Sein Gesuch wurde vom rus­sischen Zaren Nikolaj I. zwar bewilligt, doch gleichzeitig befahl er die Versetzung Atarščikovs nach Finnland, was wohl Ausdruck seines Misstrauens gegenüber dem Kosakenoffizier war. Dieses schien tatsäch­ lich nicht ganz unbegründet, denn kurz vor der Versetzung floh ­Atarščikov erneut in die Berge, konvertierte zum Islam, heiratete die Tochter eines lokalen Adeligen und beteiligte sich fortan aktiv an Raubzügen entlang der Kriegs­linie. 1845 wurde Atarščikov von seinem Kollegen, dem Kosaken Fëdor Fenev, ­an­geschossen und schwer verletzt. Fenev hatte sich zuvor Atarščikov angeschlossen und sich mit ihm in die Berge zurückgezogen, entschloss sich danach aber, die Seiten zu wechseln und ihn zu verraten. Noch bevor die Kosakentruppen eintrafen, um ­Atarščikov zu verhaften, erlag dieser seinen Schussverletzungen. Tatsäch­lich war es während der Kaukasuskriege im 19. Jahrhundert nicht außer­ gewöhn­lich, dass rus­sische oder kosakische Angehörige der imperialen Armee desertierten und in den jeweiligen Gemeinschaften Aufnahme fanden und zum Islam übertraten. Dies kam weit häufiger vor, als dies rus­sische Offiziere zugeben wollten. Doch auch der umgekehrte Fall war häufig anzutreffen. So fanden sich unter den Kosaken auch Angehörige nordkauka­sischer Ethnien, die vor Blutfehden geflüchtet waren oder als frühere Gefangene in die Kosakengemeinschaft eingeheiratet hatten.65

64 Die faszinierende und bislang unbekannte Biographie Atarščikovs, die im nachfolgenden Abschnitt zusammengefasst ist, hat der Historiker Michael Khodarkovsky im Detail nachgezeichnet: Michael Khodarkovsky, Bitter Choices. Loyalty and Betrayal in the Russian Conquest of the North ­Caucasus, Ithaca 2011, hier S. 1 – 3. 65 Barret, Lines of Uncertainty, S. 595.

Leben und Sterben an der „Linie“

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Ein enger Austausch bestand von jeher auch im wirtschaft­lichen Bereich. Der Handel zwischen den verschiedenen Völkern des Nordkaukasus und den Kosaken, an dem sich oft auch rus­sische Soldaten beteiligten, fand in den Forts, in Kosakensiedlungen und auf bestimmten Handelsposten entlang der Militärlinie statt, oder er wurde über Dritte, etwa armenische Händler, abgewickelt. Insbesondere an den Handelsposten entlang der Militärlinie, aber auch in einzelnen stanicy der Kosaken und den rus­sischen Forts, war der Austausch derart intensiv, dass sich die Tsche­ tschenen und Inguschen zum Teil direkt an diesen Orten oder in deren unmittelbarer Nähe niederließen.66 Die Nordkaukasusvölker handelten mit Vieh, Getreide, Holz, Waffen, Fellen, Kleidung, Lederwaren und anderen Handarbeiten im Austausch für Salz, Fisch, Kaviar, Baumwolle, Eisen und Fertigwaren. Der H ­ andel mit Geiseln war ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des ört­lichen Wirtschaftslebens. Eine weitere Eigentüm­lichkeit der Handelsbeziehungen war, dass die Kosaken mit Waffen ausgerüstet waren, die sie von den Nordkaukasus­völkern er­warben, die Meister im Anfertigen von Säbeln (sing. šaška), Dolchen (sing. kinžalʼ) und Musketen waren. Versuche der Russen, diesen Handel im Rahmen von Militär­kampagnen zu regulieren oder zu unterbinden, waren noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Konfrontation unter Imam Šamil ihren Höhepunkt erreichte, nie gänz­lich erfolgreich.67 Trotz der langen Tradition gegenseitiger Kontakte wäre es aber verfehlt, darin eine Basis für das Entstehen einträchtiger Beziehungen oder gegenseitiger Wertschätzung zu erkennen. Die Realitäten des Alltags an der Linie waren extrem rau. Krieg führten zwar auch Kosaken gegen Tsche­tschenen, und das Nieder­brennen von Dörfern war ein Mittel, dessen sich rus­sische Truppen bei ihren Militär­aktionen gegen die nichtrus­sischen Völker häufig bedienten. Allerdings waren vor allem bei den Nordkaukasusvölkern Raubzüge nebst Viehzucht und Ackerbau Teil eines eigent­lichen „Beigewerbes“, „aus welchem viele die Hauptsache“ machten, wie bereits Güldenstädt in seiner Charakterisierung der Tsche­tschenen schreibt. Bei diesen Streifzügen handelte es sich laut dem deutsch-baltischen Forscher um „kleine offene Kriege“, bei denen die Tsche­tschenen „plündern, sengen und brennen“. Dabei waren sie „zu dem Ende alle bewaffnet und völlig auf militä­rischem Fuß, den rus­sischen Kosaken ähn­lich eingerichtet“. Auf ihren Raubzügen „schleppen sie die Menschen in die Gefangenschaft, treiben Vieh fort, überfallen einzelne Detaschemente, treiben den Kosaken die Pferde weg und machen dabei, was sich widersetzt, nieder, brennen auch wohl, wenn sie können, die Stanizen ab. So überfielen und plünderten sie 1774 die Staniza Naur und trieben einem Kasakenregiment über tausend Pferde fort“. 68

66 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 162. 67 Barret, Lines of Uncertainty, S. 587. 68 Güldenstädt, Beschreibung der kauka­sischen Länder, S. 149 – 150.

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Eroberung und Widerstand

Die „kleinen offenen Kriege“ bezeichneten die damals vorherrschende Form der kriegerischen Auseinandersetzung, bei der es darum ging, sich beim Gegner Güter zu holen und ihn durch Entzug von Ressourcen zu schwächen.69 Den organisatorischen Kern solcher gemeinsamen Feldzüge bildete das Dorf oder der Clan, und oft beteiligten sich junge Männer daran. Diese Militärbünde, die bei Tsche­ tschenen, Bergdagestanern und anderen Völkern des Nordkaukasus verbreitet anzutreffen waren und denen ledige Männer ab dem 14. Lebensjahr angehörten, waren eine wichtige ­soziale Institution. Die jungen Männer pflegten den Winter und Frühsommer jeweils in speziell befestigten Wehrhäusern zu verbringen, wo sie gemeinsam wohnten und sich in Kampftechniken übten. In den wärmeren Mo­ naten gingen sie dann auf Raubzüge. Wichtiger als die Beute an sich war aber, sich im Kampf zu beweisen, um so dem Kriegerethos des nordkauka­sischen Mannes zu entsprechen.70 Während die Frau sich um den Ackerbau sorgte, war der Mann nach traditionellem Verständnis für die Viehhaltung, die Familienehre und den Familienschutz in Fehdeangelegenheiten sowie für den Krieg zuständig (wobei in der Ebene mit der Zeit zunehmend auch Männer Feldarbeit verrichteten und die Frauen in den Haushalt zurückgedrängt wurden).71 Die Jungmännerbünde bildeten nicht nur die Grundlage für Raubzüge; es handelte sich auch hier um Netzwerke, die sich für den bewaffneten Widerstand im Fall einer äußeren Bedrohung aktivieren ließen.72 Nie wurden s­ olche Raubzüge aber als territoriale Eroberungsfeldzüge durchgeführt, da dies angesichts des fehlenden Staatsverständnisses dieser Völker jeder Logik entbehrt hätte.73 Erst der massive Eingriff Russlands in die lokalen Verhältnisse der Region ab dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts markierte auch das Ende des fragilen Gleichgewichts unter den Völkern, das sich entlang der Kauka­sischen Militärlinie über die Jahrhunderte eingestellt hatte. Einen tiefgreifenden gesellschaft­lichen und politischen Wandel im Leben der nichtrus­sischen Bewohner des nordöst­ lichen Kaukasus bewirkten hingegen zunächst nicht so sehr die Eroberungskriege Russlands, sondern die indirekt von der äußeren Bedrohung geförderten Anstrengungen zur Bildung eines Staatswesens unter Imam Šamil, das auf der Scharia beruhte.

69 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 45 – 46. 70 Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 30 ff. 71 Mary L. Henze, Thirty Cows for an Eye. The Traditional Economy of the Central Caucasus. An Analysis from 19th Century Travellersʼ Accounts, in: Central Asia Survey 4 (1985), H. 3, S. 115 – 129, hier S. 120. 72 Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 30 ff. 73 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 131.

Der Große Kaukasuskrieg und das Imamat Šamils

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2 .4   D e r G r oß e K a u k a s u s k r ieg u nd d a s I m a m at Ša m i l s Noch bis ins erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts schien Russland keine Notwendigkeit zu erkennen, die süd­lich des Terek siedelnden Tsche­tschenen und andere, vorwiegend in den Berggebieten des Nordkaukasus lebenden Völker zu unterwerfen. Vorrangiges Ziel war die Sicherung der süd­lichen Grenzen und der Handelswege entlang der Küste des Kaspischen Meeres von Astrachan über Derbent bis Baku und Astrabad. Im Norden begnügte sich Russland zunächst damit, die nordkauka­ sischen Völker durch Befestigungsanlagen entlang der Kauka­sischen Militärlinie und durch einzelne Militärexpeditionen in Zaum zu halten. Nachdem Russland im Süden des Kaukasus den Einfluss des Osmanischen Reichs bis Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend zurückgedrängt hatte, gelang es dem Zarenreich, in m ­ ehreren aufreibenden Kriegen zwischen 1804 und 1813 auch Persien aus der Region zu verdrängen (Frieden von Gulistan von 1813). Erst jetzt schenkte Russland dem Nordkaukasus erneute Aufmerksamkeit. Die Eroberung dieser Gebiete war nicht in erster Linie die Folge einer akuten militärischen Bedrohung, die von diesen Völkern für Russland ausgegangen wäre, sondern des politischen Ziels, Russlands Herrschaft auf den gesamten Kaukasus auszuweiten und die letzten „weißen Flecken“ außerhalb rus­sischer Kontrolle zu eliminieren. Von einem rein strate­gischen Gesichtspunkt aus standen die riesigen militärischen, finanziellen und mensch­lichen Ressourcen, die Russland insbesondere im Krieg gegen Tsche­tschenen und Dagestaner in der Folge einsetzte, in keinem Verhältnis zur Notwendigkeit, diese Völker zu unterwerfen. Die Kaukasuskriege zogen sich über fast ein halbes Jahrhundert hin, verschlangen auf dem Höhepunkt der Kämpfe in den 1850er-Jahren rund ein Sechstel des gesamten imperialen Budgets und forderten Zehntausende von Toten.74 Wiederholt kritisierten angesichts solcher Zahlen auch rus­sische Zeitgenossen aus den Reihen der Liberalen das Vorgehen des rus­sischen Militärs und fragten nach dem Nutzen ­dieses Kriegs.75 Doch der Krieg, einmal begonnen, entfaltete seine eigene Dynamik, und die Frage nach dem Sinn 74 Gemäß einer 1901 publizierten Studie zu den Verlusten der imperialen Armee in den Kriegen im Kaukasus (die Verluste aufseiten von irregulären Einheiten und Milizen sind nicht erfasst) sollen im Zeitraum 1801 – 1864 beim Krieg Russlands gegen die Völker des Nordkaukasus 804 Offiziere und 24.142 Soldaten getötet und 3154 respektive 62.168 verwundet worden sein. Mehr als 6000 Armeeangehörige sollen in Gefangenschaft geraten sein: A. L. Gisetti, Sbornik svedenij o poterjach Kavkazskich vojsk vo vremja vojn Kavkazsko-gorskoj, persidskich, tureckich i v ­Zakaspijskom krae. 1801 – 1885 gg., Tiflis 1901, S. 129. Zu den Zahlen ebenfalls: V. V. Lapin, Armija Rossii v Kavkazskoj vojne XVIII-XIX vv., Sankt-Peterburg 2008, S. 36 – 50, 381; Dmitrij Vedeneev, 77 tysjač, in: Rodina (2000) H. 1 – 2, S. 108 – 110. 75 Dabei stellten auch die rus­sischen Liberalen den Anspruch Russlands auf den Kaukasus nicht infrage, sondern das rücksichtslose Vorgehen und die mensch­lichen und materiellen Kosten ­dieses Kriegs: Gordin, Kavkaz. Zemlja i krovʼ, S. 3 – 39.

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Eroberung und Widerstand

hatte sich dem unbedingten militärischen Streben nach Sieg ­unterzuordnen. In ­diesem Sinne meinte schon der berühmte Kaukasus­forscher Adolf ­Petrovič Berže (1828 – 1886) rückblickend in einer Publikation von 1882, dass „[d]er Kaukasus­ krieg [nicht] infolge irgendwelcher politischer Aufgaben oder diplo­matischer Überlegungen“ entbrannt sei, sondern das „natür­liche Resultat des staat­lichen Wachstums Russlands“ darstelle. Nicht nur habe sich der Krieg gerade deshalb so lange hingezogen. Auch erkenne „eine Mehrheit [in d­ iesem Krieg] keiner­lei Ziele, ­keinerlei Nutzen“ und beklage die „fruchtlose Vernichtung staat­licher R ­ essourcen zum Zweck unnötigen Blutvergießens“.76 Zwar können die Militärexpeditionen unter General Potёmkin und die Aufstandsbewegung unter Scheich Mansur Ende des 18. Jahrhunderts für sich genommen bereits als größere Konflikte zwischen Russland und tsche­tschenischen Gemeinschaften betrachtet werden. Doch im Vergleich zur Auseinandersetzung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts folgte, wäre es verfehlt, für diese Zeit von einem rus­sisch-tsche­ tschenischen Krieg zu sprechen. Die Beteiligten des Kaukasuskriegs selbst sahen dies gleich. So schreibt etwa General Olʼševskij in seinen Memoiren: „Bis 1806, mindestens was mir aus den schrift­lichen Dokumenten bekannt ist, handelte es sich, wenn es zu Zusammentreffen und Konfrontationen mit Tsche­tschenen kam, nur um deren Zurückwerfung von unseren Grenzen und die [Tsche­tschenen] wurden nur bis an die Sunža verfolgt.“ 77 Obwohl dies nicht den historischen Tatsachen entspricht – bereits Potёmkin ließ Aktionen gegen die Siedlung Atagi durchführen, die süd­lich des Flusses Sunža lag –, ist es doch bezeichnend, dass eine deut­liche Verschärfung des Konflikts erst mit dem Namen Ermolovs verbunden wurde, der zwischen 1816 und 1827 die rus­sischen Streitkräfte im Kaukasus kommandierte. Erst mit seiner Ernennung „hört[e] Tsche­tschenien auf, terra incognito [sic] zu sein“, so Olʼševskij.78 Die rus­sische Expansionspolitik unter General Ermolov folgte dabei weniger einer in St. Petersburg ausgearbeiteten Expansionsstrategie, sondern resultierte aus den ehrgeizigen Plänen des Generals selbst, dessen Visionen sogar die Eroberung Persiens und die Öffnung einer Landpassage bis nach Indien einschlossen. Ob ihn der Zar wegen oder gerade trotz seines eigenwilligen Charakters in den Kaukasus entsandte, ist nicht klar. Jedenfalls war Ermolov überzeugt, dass seine Entscheide, die er weitgehend unabhängig fällte, im Interesse Russlands und damit auch im Einklang mit den Vorstellungen des Zaren stehen würden.79



76 A. P. Berže, Vyselenie gorcev s Kavkaza, in: Russkaja starina 33 (1882) H. 1, S. 161 – 176, hier S. 168. 77 Olʼševskij, Kavkaz s 1841 po 1866 god, S. 69. 78 Ebd. 79 Gordin, Kavkaz. Zemlja i krovʼ, S. 97 – 135. Für eine gute Darstellung zu Ermolov und seiner Zeit im Kaukasus: Š. A. Gapurov, Severnyj Kavkaz v period „prokonsulʼstva“ A. P. Ermolova (1816 – 1827). Monografija, Nalʼčik 2003.

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Eine massive Eskalation signalisierte Ermolovs Beschluss 1817, die Kauka­sische Militärlinie vom Terek an die Sunža zu verschieben und neue Forts zu errichten, darunter Groznaja (wörtl. „die Drohende“, das spätere Groznyj), Vnezapnaja („die Unerwartete“) und Burnaja („die Stürmische“). Gleichzeitig ließ der G ­ eneral auch die Verbindung zwischen Nord- und Südkaukasus über die sogenannte Geor­gische Militärstraße, die von Mozdok nach Tiflis verlief, sichern. Wie immer waren diese Maßnahmen von forcierten Bevölkerungsverschiebungen begleitet. So ließ er auf Kosten kabardinischer Gemeinschaften, die aus dem Umland der Geor­gischen Militärstraße ausgesiedelt wurden, die als loyaler geltenden christ­lich-orthodoxen Osseten ansiedeln. Die Forts entlang der Kauka­sischen Militärlinie ließ er mit Kosakenverbänden verstärken.80 Oft wendete Russland Gewalt an, doch spielten auch wirtschaft­liche Anreize eine Rolle. So erhielten die Inguschen bereits 1810 Länder und Waldnutzungsrechte in der Terek-Ebene im Gegenzug zur Sicherung eines Abschnitts der Militärstraße.81 Weil Ermolov wie die rus­sischen Generäle vor ihm über verhältnismäßig wenig reguläre Truppen im Nordkaukasus verfügte, waren groß angelegte Feldzüge und die ständige Stationierung größerer Truppenteile nicht mög­lich. Deshalb entschied er sich für eine besonders rücksichtslose Taktik, indem er in zahlreichen Aktionen, die er „Strafexpeditionen“ nannte, ganze Dörfer niederbrennen, Ernten vernichten und Vieh vertreiben ließ. Den Zweck dieser Maßnahmen soll Ermolov selbst einmal so formuliert haben: Ich will, dass der Schrecken, den mein Name verbreitet, unsere Grenzen wirksamer schützt, als ein Gürtel von Festungen, und mein Wort soll bei den Einheimischen wie ein Gesetz gelten, dem man noch weniger entrinnt als dem Tod. Nachgiebigkeit ist in den Augen der Asiaten nur ein Zeichen ­­ von Schwäche und gerade aus Menschenliebe bin ich unerbitt­lich streng. Eine [einzige] Strafaktion bewahrt hundert rus­sische Soldaten und Tausende Muslime vor dem Verrat.82

Die Verschiebung der Militärlinie vom Terek an die Sunža richtete sich zwar in erster Linie gegen die Tsche­tschenen, die Ermolov in einem 1818 erstellten Bericht an Zar Alexander I. als das „stärkste und gefähr­lichste Volk“ (Čečency – silʼnejščij narod’ i opasnejščij) bezeichnete.83 Doch seine Maßnahmen brachten den gesamten

80 Barret, Lines of Uncertainty, S. 592 – 593. 81 Berže (Hg.), Akty, Tom IV, S. 899 – 901. 82 Zitiert (ohne Angabe des Datums und der Quelle) bei: V. A. Potto, Kavkazskaja vojna. E ­ rmolovskoe vremja. Tom 2, Stavropolʼ 1994 (Neuauflage des 1887 erschienen Bandes), S. 19. Die deutsche Übersetzung folgt: Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 95. 83 A. P. Berže (Hg.), Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago upravlenija namestnika kavkazskago. Tom VI. Častʼ 2, Tiflis 1875, S. 447 – 448, hier S. 447.

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Eroberung und Widerstand

Osten des Nordkaukasus in Aufruhr, und zwar sowohl die bislang von rus­sischem Einfluss kaum berührten Berggebiete als auch die dagestanischen Khanate, die sich Russland bereits früher unterworfen hatten. Mit Russlands Vorrücken wurden nicht nur Einheimische aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben. Die Verschiebung der Militärlinie ermög­lichte Russland auch die Kontrolle der lebenswichtigen Handels- und Wirtschaftsverbindungen zwischen Bergen und Ebene. Durch die Blockade dieser Routen konnte das Zarenreich die Clans der Berge jederzeit von ihren Getreidebezugsquellen und Winterweideplätzen in der Ebene ­abschneiden. Diese als existenziell empfundene Bedrohung ermög­lichte sogar ein gegen Russland gerichtetes Bündnis zwischen den ansonsten ­zerstrittenen dagestanischen Khanaten, die sich nun gemeinsam gegen das Russländische Imperium erhoben. Es war die Kombination von brachialer Gewalt mit diplomatischem Geschick, die Russland im Laufe der 1820er-Jahre erneut die Kontrolle über Dagestan bescherte. Eigenmächtig setzte es darauf die rebel­lischen Khane ab. Im Khanat von Awarien sollte dies allerdings einen Zersetzungsprozess auslösen, der sich später zum Nachteil Russlands entwickelte. Denn mit der Schwächung des Khanats fehlten dem Zarenreich künftig wichtige Alliierte im Kampf gegen die nordkauka­sischen Völker. Diese orientierten sich in den folgenden Jahren an neuen Führern, den ebenfalls aus Awarien stammenden Imamen.84 Wesent­lich schwerer tat sich General Ermolov in der Folge in Tsche­tschenien, das von seiner Taktik der „verbrannten Erde“ besonders hart getroffen wurde. Der erhoffte Effekt, dass sich die Tsche­tschenen nun eher unterwerfen würden, trat nicht ein. Hingegen häuften sich die Überfälle von Tsche­tschenen auf Kosakendörfer und der partisanenartige Krieg gegen Russlands Armee wurde intensiver. Der dezentrale Charakter der tsche­tschenischen Gesellschaft erschwerte es den Russen, das Volk mit Militärgewalt zu unterwerfen. Das Zarenreich war sch­licht nicht imstande, überall gleichzeitig neue Unruhen zu bekämpfen, zumal die militärischen Kräfte Russlands Ende der 1820er-Jahre auch durch neue Kriege mit Persien und dem Osmanischen Reich im Südkaukasus gebunden waren. Gleichzeitig offenbarte der Partikularismus der Tsche­tschenen aber auch die Schwächen eines unkoordinierten Widerstands. So entschlossen sie auch kämpfen mochten, so wenig konnte ihre traditionelle Form des Widerstands, der entlang von Jungmännerbünden und Ad-hoc-Allianzen von verschiedenen Gruppen und Clans funktionierte, einem militärisch überlegenen Gegner über längere Zeit die Stirn bieten. Angesichts der rus­sischen Gefahr blieb den bedrängten Völkern nur die Perspektive auf vollständige militärische Unterwerfung unter Russland oder auf Weiterführung des Kampfs in einer Militärallianz. Eine ­solche kam in Ansätzen erstmals

84 Gapurov, Severnyj Kavkaz, S. 294 – 343.

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Mitte der 1820er-Jahre unter der Führung des tsche­tschenischen Ältesten Bej-Bulat Tajmiev (1779 – 1831) zustande, dem es gelang, große Teile der Tsche­tschenen für den Kampf gegen Russland zu gewinnen. Dabei stützte sich Bej-Bulat sowohl auf die geist­liche Elite wie auch die Ältesten, die ihm per Eid eingeschworen waren. Nach dem Vorbild Mansurs gelang ihm die Aufstellung einer regulären Armee, indem er jeden Hof verpflichtete, einen Kämpfer zu stellen. Tatsäch­lich schuf Bej-Bulat damit Ansätze eines staat­lichen Gebildes, dem er selbst als Fürst vorgestanden hätte. Und tatsäch­lich hatte Bej-Bulat anfäng­lich auch große militärische Erfolge. Doch der wachsende rus­sische Militärdruck, noch mehr aber innertsche­tschenische Unstimmigkeiten, insbesondere der Abfall eines Teils der geist­lichen Eliten, die sich übergangen fühlten, schwächten Bej-Bulat erheb­lich und ließen seinen Aufstand schließ­lich scheitern.85 Russland führte unter dem Oberkommando Ermolovs den Krieg gegen die Tsche­ tschenen in dieser Zeit derart brutal, dass sogar Zar Alexander I. seinen Statt­halter im Kaukasus in einem Schreiben vom 29. September 1825 zur Zurückhaltung mahnte.86 Dieses rücksichtlose Vorgehen brachte Russland zwar vorübergehend erneut eine „Befriedung“ der Tsche­tschenen ein, doch war damit auch Unzufrieden­heit und so das Potenzial dafür geschaffen, dass die Tsche­tschenen sich bei nächster Gelegenheit erneut gegen die Fremdmacht erheben sollten. Eine s­ olche Mög­lichkeit bot sich ihnen insofern schon bald wieder an, als mit dem Auftreten des ersten Imams aus Dagestan, Gazi Muhammad, eines awarisch-stämmigen Gelehrten aus dem Berg­dorf Gimry, eine Persön­lichkeit auftauchte, die nicht nur über großes Charisma, sondern auch über die Fähigkeit verfügte, größere Teile der in den öst­lichen Gebieten des Nordkaukasus siedelnden Völker im Rahmen eines Militärbündnisses zu organisieren. Diese Allianz erwies sich als stabil genug, um Muhammads Tod zu überstehen und unter einem neuen Imam fortgesetzt zu werden. Mög­lich war das auch deshalb, weil es den Imamen gelang, über die Einführung der Scharia jene Klammer zu schaffen, die einem Bündnis unter verschiedenartigen Völkern mit unterschied­lichen Rechtstraditionen eine gemeinsame Struktur gab. Bestrebungen, islamisches Recht auf Kosten des Gewohnheitsrechts durchzusetzen, hatte es schon früher gegeben und insbesondere im Osten des Nordkaukasus waren islamische Gelehrte aus Dagestan ihre Träger – wogegen im Westen der Einfluss des Osmanischen Reichs stärker war. Anders als bei den Tsche­tschenen, die in der Mehrheit erst im Laufe des 16. Jahrhunderts zum Islam übertraten (bei einzelnen ady­gischen Völkern des Nordwestkaukasus fand die Islamisierung noch später statt, die Karatschajer wurden erst im 18. Jahrhundert islamisiert, die Inguschen traten

85 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 188 – 195. 86 Gapurov, Severnyj Kavkaz, S. 228 – 229.

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im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dem Islam bei), hatte der Islam in Dagestan bereits im 7. Jahrhundert, nach der Eroberung von Derbent durch die Araber, Fuß gefasst. In der Folge entwickelte sich Derbent zum Zentrum einer islamischen Gelehrtentradition, die weit auf das Hinterland ausstrahlen sollte.87 Kriege gegen die „Ungläubigen“ unter der Losung des Dschihad waren bereits früher geführt worden. Erst die massive äußere Bedrohung gab den Bestrebungen zur Durchsetzung der Scharia und zur Vereinigung der Widerstandsbewegungen ab den 1820er-Jahren aber Auftrieb. Der Dschihad startete 1830 denn auch nicht mit einem Angriff auf rus­sische Truppen, sondern mit einer Attacke gegen Gegner des bewaffneten Kampfs in verschiedenen Ortschaften Dagestans, die der konsequenten Umsetzung der Scharia galt. Gleichzeitig nahm Gazi Muhammad zu Anführern des tsche­tschenischen Widerstands Kontakt auf. Es ist bezeichnend, dass die rus­ sische Kolonialmacht von diesen inneren Entwicklungen, die bald in eine eigent­ liche Volksbewegung münden sollten, zunächst nur eine vage Vorstellung hatte.88 Der Islam ist dabei nicht als Hauptursache des Kampfs gegen die Russen anzu­ sehen. In Form der Scharia verlieh er d­ iesem vielmehr eine Organisationsform, die den Widerstand im Rahmen eines relativ stabilen regionalen Bündnisses ermög­ lichte.89 In d ­ iesem Zusammenhang ist in der Forschung auf die Bedeutung von Sufi-Orden oder Bruderschaften, den „Tariqa“ (arab. ṭarīqa, „Weg“), hingewiesen worden, denen Historiker eine große Bedeutung für den Dschihad gegen Russland nachsagen. Insbesondere die islamisch-mystische Bruderschaft der Naqšbandiyya,90 der im nordöst­lichen Teil des Kaukasus am stärksten verbreitete Orden mit einem weitverzweigten Netzwerk von geist­lichen Führern und ihren Anhängerschaften, soll maßgeb­lich für die Organisation und den Erfolg des Widerstands verantwort­ lich gewesen sein.91

87 A. A. Alov / N. G. Vladimir, Islam v Rossii. Naučno-populjarnoe izdanie, Moskva 1996, S. 80 – 86. Zur Islamisierung Tsche­tscheniens: Anna Zelʼkina, Islam v Čečne do Rossijskogo zavoevanija, in: Furman (Hg.), Čečnja i Rossija, S. 40 – 62, insbesondere S. 40. 88 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 136 – 137, 146. 89 Michael A. Reynolds, Myths and Mysticism. Islam and Conflict in the North Caucasus. A Longitudinal Perspective. Occasional Paper No. 289 (Kennan Institute, The Woodrow Wilson International Center for Scholars), Washington, DC 2004, S. 12. 90 Die Naqšbandiyya ist einer der bedeutendsten mystisch-sufistischen Orden des Islam. Sie ist im 12. Jahrhundert in Zentralasien entstanden und leitete ihren Namen später von Bahāʾ ud-dīn ­Naqšband (1318 – 1389) ab. Die Naqšbandiyya gelangte vermut­lich bereits ab dem 16. Jahrhundert in den Nordkaukasus, wo sie nament­lich in Dagestan und bei Tsche­tschenen große Verbreitung fand. Dazu: Clemens P. Sidorko, Die Naqšbandiyya im nordöst­lichen Kaukasus. Ein historischer Überblick, in: Asiatische Studien 51 (1997), S. 627 – 650. 91 Anna Zelkina, In Quest for God and Freedom. The Sufi Response to the Russian Advance in the North Caucasus, London 2000, S. 235 – 238.

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Unbestritten ist in der Forschung, dass die Naqšbandiyya einen wichtigen so­­ zialen Faktor darstellte und als geistige Bewegung viele Menschen anzog. Die ­Naqšbandiyya verfolgte zwar ebenfalls das Ziel einer strikten Durchsetzung der Scharia, doch politisch spielte die Bruderschaft im Kampf gegen die rus­sischen Eroberer offenbar nie diejenige große Rolle, die ihr von den zaristischen Vertretern und der späteren Forschung zugewiesen wurde.92 Der deutsche Kaukasus-Historiker Clemens Sidorko weist überzeugend nach, dass es gerade in der wichtigen Anfangsphase der Dschihad-Bewegung unter Gazi Muhammad zu erheb­lichen Differenzen unter den verschiedenen Naqšbandiyya-Scheichen kam, was den Glaubens­kampf gegen Russland anging.93 Der Islamexperte Michael Kemper weist darauf hin, dass es keine Selbstzeugnisse der Dschihad-Bewegung gebe, die vermuten lassen, dass die Lehren der Naqšbandiyya als Legitimationsgrundlage für den Kampf gegen Russland herangezogen worden seien. Bestehende Sufi-Netzwerke seien nicht genutzt worden und auch die damals bekannten Naqšbandiyya-Scheiche hätten keine offiziellen Positionen im Rahmen des Imamats von Imam Šamil übernommen.94 Šamil integrierte Sufi-Rituale in seine Herrschaftspraxen und die Naqšbandiyya-Tariqa hatte im Imamat ihren festen Platz und auch viele Anhänger, obwohl die meisten unter ihnen wohl eher Sympathisanten als feste Mitglieder waren.95 Aber der Sufi-Orden war nicht die treibende Kraft des Widerstands. Ob einzelne Kämpfer oder ­Anführer letzt­lich Angehörige der Bruderschaft waren oder nicht, spielte gemäß Sidorko somit „weder im Krieg noch innerhalb des Staates die geringste Rolle“.96 Die Verwirrung um die Naqšbandiyya, wie sie bereits die Literatur des späten 19. Jahrhunderts aufzeigt und die sich bis in heutige Darstellungen zieht, ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die rus­sischen Eroberer ihre Gegner gemeinhin als „Mjuriden“ (arab. murīd, „Strebender“, im Sufismus Bezeichnung für einen Anhänger einer Bruderschaft) bezeichneten, obwohl viele Kämpfer im sufistischen Sinn gar keine waren. In der Bewegung, ­welche bereits in frühen rus­sischen ­Darstellungen unter dem Begriff „Mjuridismus“ erscheint, erkannten die Russen oft obskure Geheimbünde, die von Sufi-Scheichen im Untergrund organisiert wurden und darauf abzielten, die Volksmassen gegen Russland aufzuwiegeln.97 92 Für eine kritische Auseinandersetzung: Alexander Knysh, Sufism as an Explanatory Paradigm. The Issue of the Motivations of Sufi Movements in Russian and Western Historiography, in: Die Welt des Islams 42 (2002), S. 139 – 173. 93 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 141. 94 Michael Kemper, Khālidiyya Networks in Daghestan and the Question of Jihād, in: Die Welt des Islams 42 (2002) H. 1, S. 41 – 71. 95 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 239, 403, 433. 96 Ebd., S. 403 – 404. 97 Eine ­solche Vorstellung dominierte nicht nur die rus­sische Wahrnehmung des nordkauka­sischen Widerstands im 19. Jahrhundert (Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 141, 159, 404), sondern war

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Doch in erster Linie ermög­lichte es der gemeinsame Staat, die verschiedenen Gemeinschaften und Volksgruppen im Dschihad gegen einen zahlenmäßig und technisch überlegenen Gegner zu mobilisieren und zu disziplinieren. Zwar wurden die Voraussetzungen für die Errichtung des Imamats bereits unter Gazi Muhammad geschaffen und, nachdem er 1832 in einer Schlacht getötet worden war, unter Hamza Bek weitergeführt, der allerdings bereits zwei Jahre später bei einem Mordanschlag ums Leben kam. Doch die eigent­liche Institutionalisierung des Kampfs im Rahmen eines einheit­ lichen staat­lichen Gebildes erfolgte erst unter Imam Šamil, der 1834 an die Spitze des Widerstands trat und diesen bis zu seiner Kapitulation 1859 anführte. Bemerkenswert an der Herrschaft Šamils ist vor allem die Tatsache, dass ihm erstmals in der jüngeren Geschichte des Nordkaukasus der Aufbau eines zentralistischen Staatswesens gelang, obwohl dies im Widerspruch zu den traditionellen Sozialstrukturen und Gebräuchen der Tsche­tschenen und der dagestanischen Dorfgemeinschaften stand, wobei Letztere das Rückgrat der antirus­sischen Widerstandsbewegung bildeten.98 Nicht nur waren die auf Tejp-Strukturen basierende tsche­tschenische Gesellschaft und die dagestanischen Dorfgemeinschaften weitgehend dezentral organisiert, auch kannten diese Gemeinschaften kaum ­soziale Unterschiede. Anders als etwa bei den benachbarten Kabardinern, deren s­ oziale Ordnung im Fürstenstaat sich durch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen adeliger Obrigkeit und Bauernschaft auszeichnete, gab es innerhalb tsche­tschenischer Gemeinschaften sowie dagesta­nischer Berg­ dörfer keine Feudalbeziehungen. Ausgeschlossen vom politischen Leben und vom Wahlrecht auf Versammlungen blieben allein die Frauen, denen der Adat ansonsten eine ähn­liche ­soziale Rechtsstellung zusprach wie den Männern, sowie die Unfreien (Sklaven), die es in der tsche­tschenischen Gesellschaft – wiederum im Unterschied etwa zu den Kabardinern – aber nur in geringer Zahl gegeben zu haben scheint.99 auch für die nachfolgende Zeit prägend und hat sich auch in der west­lichen Geschichtsschreibung zum Sufismus im Nordkaukasus niedergeschlagen. Für eine Übersicht: Michael Kemper, Introduction. Integrating Soviet Oriental Studies, in: Ders. / Stephan Conermann (Hg.), The Heritage of Soviet Oriental Studies, London 2011, S. 1 – 25, hier S. 14, 24 (Anmerkung 37); V. O. Bobrovnikov / Michael Kemper, Mʼuridizm, in: M. S. Prozorov (Hg.), Islam na territorii byvšej Rossijskoj imperii. Ėncyklopedičeskij slovarʼ. Tom 5, Moskva (im Erscheinen). 98 Als eine der besten Darstellungen zu Šamil und seinem Imamat gilt noch immer das bereits 1934 als Dissertation vorgelegte, aber erst im Jahr 2000 publizierte Buch von Nikolaj I. Pokrovskij (1897 – 1947): N. I. Pokrovskij, Kavkazskie vojny i imamat Šamilja, Moskva 2000. 99 Eine Vorstellung vom Ausmaß der Sklaverei im Nordkaukasus geben die statistischen Angaben, die Russland im Zuge der 1867 erfolgten Durchsetzung des allgemeinen Verbots der Leibeigenschaft im Nordkaukasus erstellen ließ (Zar Alexander II. schaffte die Leibeigenschaft bereits 1861 in ganz Russland formell ab). So soll es in der Kabarda zu ­diesem Zeitpunkt bis zu 21.000 Leibeigene gegeben haben. Verbreitet war die Leibeigenschaft auch bei Osseten und Kumyken und bei den Völkern des Kuban. Tsche­tschenen und Inguschen schienen dagegen kaum Leibeigene besessen zu haben, die Statistik gibt für diese Völker ledig­lich 300 Sklaven an. Wenig verbreitet war die Leibeigenschaft auch bei den dagestanischen Berggemeinschaften: Sbornik svedenij o ­Kavkazskich gorcach.

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In der Literatur wird mit Blick auf die späteren Staatsbildungsprozesse der Sowjet­zeit oft behauptet, dass die Sozialstruktur der Tsche­tschenen mit ein Grund dafür gewesen sei, dass sich diese nicht in ein modern organisiertes Staatswesen hätten einfügen können. Doch das Imamat von Šamil entkräftet diese Behauptung weitgehend. Ein wichtiger Grund für den Erfolg des nordkauka­sischen Widerstands im 19. Jahrhundert war eben der Umstand, dass sich die Mehrheit der tsche­ tschenischen Tejps in den von Imam Šamil zentralistisch gelenkten Staat integrieren ließ, obwohl dies weitreichende Folgen für die traditionelle Sozialstruktur und die auf dem Adat basierende Lebensweise der Tsche­tschenen hatte. Die Einführung der neuen Ordnung verlief indes nicht immer spannungsfrei. Zwar betraf die administrative Umgestaltung vor allem die gesamtstaat­lichen Verwaltungsstrukturen, das Militär- und Finanzwesen, die Rechtsprechung sowie die Innen- und Außenpolitik. Weniger stark wirkten sich die Reformen dagegen auf kommunaler Ebene aus. Die wichtigsten lokalen Institutionen wie Gemeinde­ versammlungen und Ältestenräte wurden nicht abgeschafft. Doch faktisch hatten diese Gremien den Befehlen des Naibs (arab. nāʼib, „Stellvertreter“, „Delegierter“), eines von Šamil eingesetzten Funktionärs über einen bestimmten Verwaltungs­bezirk, zu ­ge­horchen. So bestimmten entweder der Imam selbst oder sein Naib, wie viele Kämpfer ein Dorf zu stellen hatte. Das s­ oziale und private Leben im Dorf, die Regelung des landwirtschaft­lichen Jahresablaufs und die Beziehungen zwischen einzelnen Kommunen blieben zwar auch im Imamat weitgehend vom Gewohnheitsrecht bestimmt. Doch verloren die Ältesten mit der Einführung der Scharia nicht nur ihre richter­liche Funktion an den vom Imam eingesetzten Kadi oder Mufti (arab. muftī, islamischer Gesetzesexperte), auch ging die Steuerhoheit in die Kompetenz des Imamats über. Wiederholt kam es wegen Kompetenzstreitigkeiten zu Konflikten oder gar zu lokalen Revolten, in denen Naibs vertrieben oder gar ermordet wurden und Einwohner bekundeten, sie würden die Scharia nicht akzeptieren. Imam Šamil ließ ­solche Aufstände jeweils mit harter Hand niederschlagen.100 Das Imamat Šamils zog durch die Einführung der Scharia zwar umfassende strukturelle Einschnitte nach sich, zu spürbaren Veränderungen des ethnischen Bewusstseins der einzelnen Völker aber scheint es laut neueren Forschungen nicht gekommen zu sein. Im Imamat kam es wohl zu verstärktem Kontakt zwischen unterschied­lichen Sprachgruppen, insbesondere zwischen Tsche­tschenen und Angehörigen verschiedener dagestanischer Volksgruppen (nament­lich den Awaren). Dabei hatten die Dagestaner aufgrund ihrer tiefer verwurzelten Gelehrtenkultur, und Vypusk I, Tiflis 1868, S. 15 – 50. Weiterführend zur Geschichte des Sklavenhandels im Kaukasus: Liubov Kurtynova-DʼHerlugnan, The Tsarʼs Abolitionists. The Slave Trade in the Caucasus and its Suppression, Leiden 2010. 100 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 333 – 336.

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wohl wegen ihrer Nähe zu Šamil, oft auch in tsche­tschenisch besiedeltem Gebiet Führungspositionen inne und dominierten insbesondere im Justizwesen gegenüber den Tsche­tschenen. Zwar vertrieben die Tsche­tschenen nach dem Fall des I­ mamats 1859 zahlreiche dagestanisch-stämmige Anführer und Amtsträger aus ihren Gemeinschaften. Doch auch in dagestanischen Gemeinden ließ sich die Vertreibung von Flüchtlingen, aber auch von ehemaligen Amtsträgern der eigenen Volksgruppe beobachten. Diese Entwicklungen waren somit nicht notwendigerweise gegen eine bestimmte ethnische Gruppe gerichtet, sondern wohl eher gegen Repräsentanten des Imamats.101 Bemerkenswert ist auch, dass nach dem Zerfall des Imamats die Fälle von Blutrache stark anstiegen. Opfer waren insbesondere ehemalige ehrbare Personen und Naibe Šamils, deren vergangene Taten, etwa die Verhängung der Todesstrafe, von den Verwandten der Betroffenen gerächt wurden.102

2 . 5   D e r Sieg Ru s sl a nd s u nd h i s t or i s che Ko nt r ove r s e n Die Niederlage Šamils und der rasche Zusammenbruch des Imamats ­überraschten die Russen. Rein militärisch gesehen hätte der Imam auch nach dem Verlust g­ roßer Teile Tsche­tscheniens noch über genügend militärische Kräfte verfügt, um den Eroberern Widerstand zu leisten. Weshalb kollabierte der Staat Šamils im Jahr 1859? Sicher war der Zerfall zum einen auf den rus­sischen Vorstoß zurückzuführen, der immer größere militärische Kräfte band und durch das systematische ­Ab­holzen von ­Wäldern die natür­lichen Rückzugsgebiete der Tsche­tschenen verkleinerte. Zum ­anderen muss auch davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerung nach Jahrzehnten fast ununterbrochenen Kriegs phy­sisch und psychisch vollständig erschöpft war. Es war notabene ein Krieg, der in der Endphase der 1850er-Jahre von Hungersnöten als Folge von Ernteausfällen, Übervölkerung durch den Zustrom von Flüchtlingen und einer Wirtschaftsblockade durch Russland begleitet war.103 Doch daneben spielte auch die rus­sische Politik gegenüber den Völkern des Nord­ kaukasus eine nicht unwesent­liche Rolle.

101 Ebd., S. 399. 102 Diese Feststellung macht Gazi Mohammed, der Sohn Imam Šamils, in einem Gespräch mit Oberst Apollon Ivanovič Runovskij (1823 – 1874) im November 1859. Oberst Runovskij hatte zwischen 1859 und 1862 regelmäßig Gespräche mit Šamil und seinen Söhnen in Kaluga (dem Ort der Verbannung nach der Kapitulation) geführt und diese Gespräche in einem Tagebuch ­aufgezeichnet. Die Tagebucheinträge (Dnevnik polkovnika Runovskago) sind publiziert in: E. D. Felicyn / A. P. Naumov (Hg.), Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv ­Glavnonačalʼstvujuščago graždanskoju častʼju na Kavkaze. Tom XII, Tiflis 1904, S. 1395 – 1526, hier S. 1512. 103 Baddeley, The Russian Conquest of the Caucasus, S. xxxv.

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Die Eroberung des Nordkaukasus durch Russland unterscheidet sich wenig von Eroberungszügen anderer europäischer Kolonialmächte, wobei es im Fall von Russland im Unterschied zu anderen Imperien vor allem militärstrate­gische, nicht aber wirtschaft­liche Interessen waren, w ­ elche die Eroberung antrieben.104 Dies heißt jedoch nicht, dass Russland ausschließ­lich auf Militärgewalt gesetzt hätte. Bereits ab den frühen 1850er-Jahren gingen die Vertreter des Zarenreichs vermehrt dazu über, nebst militärischem Druck auch Anreize für einen Übertritt unter die r­ us­sische Schutzmacht zu bieten. Im Zuge des vom militärischen Oberkommando 1852 ­initiierten Aufbaus einer Verwaltung für die eroberten Teile der tsche­tschenischen Ebene ging Russland daran, ein Konkurrenzsystem zum ŠamilStaat aufzubauen. In Nach­ahmung der Verwaltungsbezirke, die Šamil errichtet hatte, entschied sich die rus­sische Administration nicht nur, die vormalige administrative Gliederung zu übernehmen, sondern auch am Titel „Naib“ festzuhalten. Den ­Naiben unter­standen die Ältesten in den jeweiligen Dörfern, die vom Verwaltungschef für Tsche­tschenien, der seinen Sitz in Groznaja hatte, vorgeschlagen und von Fürst Aleksandr ­Ivanovič Barjatinskij (1815 – 1879), der zu dieser Zeit der Kommandierende der Linken Flanke der Kaukasuslinie war, gebilligt wurden. Handelte es sich beim Verwaltungschef selbst nicht um einen Tsche­tschenen, so waren mindestens die ersten Naibe, die Barjatinskij einsetzte, ausschließ­lich Angehörige des tsche­ tschenischen Volks, die der rus­sischen Armee früher in unterschied­licher Weise geholfen hatten und die nun in ihren Heimat­gebieten als Verwalter eingesetzt wurden.105 ­Barjatinskij suchte Einheimische über die Aussicht auf Führungs­positionen in der Verwaltung und über finanzielle und materielle Anreize anzuwerben. Alle im Dienst der von B ­ arjatinskij errichteten Verwaltung stehenden Einheimischen erhielten ihren Sold aus der Reichskasse.106 Dass die rus­sischen Eroberer nachweis­ lich und offenbar mit Erfolg relativ große Geldsummen einsetzten, um bestimmte Gruppen der nordkauka­sischen Bevölkerung für den Kampf gegen Šamil anzuwerben oder Funktionäre des Imamats zu be­stechen, ist ein Aspekt der russländisch-imperialen Eroberungsgeschichte, dem die Historio­graphie bislang noch kaum die erforder­liche Aufmerksamkeit geschenkt hat.107 Eine eigent­liche politische Kehrtwende ließ sich unter Barjatinskij insbesondere hinsicht­lich des Islam und der Behandlung der islamischen Eliten feststellen,

104 Šarchudin Gapurov, Metody kolonialʼnoj politiki carizma v Čečne v pervoj polovine XIX veka, in: Furman (Hg.), Čečnja i Rossija, S. 113 – 127, hier S. 125. 105 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 258 – 262. Zum Verwaltungssystem unter ­Barjatinskij außerdem: R. A. Tovsultanov, Administrativnaja dejatelʼnostʼ knjaza Barjatinskogo v Čečne, in: Vestnik Akademii nauk Čečenskoj Respubliki 11 (2009) H. 2, S. 114 – 116. 106 V. M. Muchanov, Pokoritelʼ Kavkaza. Knjazʼ A. I. Barjatinskij, Мoskva 2007, S. 135. 107 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 424 – 425.

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die nebst anderen Teilen der gesellschaft­lichen Elite nun ebenfalls in Führungs­ positionen innerhalb der neuen staat­lichen Strukturen berufen wurden. Damit sollte diejenige Schicht abgeworben werden, die Šamil aufgrund der Isolation vonseiten Russlands bislang hatte an sich binden können. Als Barjatinskij die Ausarbeitung der Regeln veranlasste, auf denen die tsche­tschenische Verwaltung beruhen sollte, achtete er darauf, dass in diese Arbeit nebst den Naiben und Ältesten auch die Kadis und Mullahs einbezogen wurden. Die Einbeziehung der geist­lichen Elite drückte nicht nur die Annäherung an den Islam und die islamische Geist­lichkeit aus, sondern bedeutete im weitesten Sinne auch eine Hinwendung zur Scharia, die als Rechtsgrundlage für die neuen Regeln diente. Daneben suchte Russland das Wohlwollen der Einheimischen auch durch eine tolerantere Haltung gegenüber ihren althergebrachten Bräuchen und ­Traditionen zu gewinnen. So erlaubte das Regelwerk zur tsche­tschenischen Verwaltung in einer späteren Ergänzung sogar, dass die ­Praxis der Blutrache, die Russland bislang strikt abgelehnt hatte, in denjenigen Fällen erlaubt sein sollte, in denen sich die Rache direkt gegen den Täter, allerdings nicht gegen dessen weitere (männ­ liche) Verwandtschaft, richtete.108 Es wäre jedoch falsch, die Niederlage der Tsche­tschenen und Dagestaner letzt­lich auf ein Scheitern des „Mjuriden-Projekts“ Šamils zurückzuführen, wie dies ­Vladimir Degoev behauptet. Degoev unterstellt dem Imamat Šamils, eine nur begrenzte sozio-kulturelle und ideolo­gische Anziehungskraft besessen zu haben. Šamil habe seinen Staat auf einem System der Repression aufgebaut und das einfache Volk terrorisiert, wenn es sich seinen Befehlen widersetzte. Russland dagegen sei den nichtrus­sischen Völkern attraktiver erschienen, da es für Ordnung gestanden und die Aussicht auf eine bessere Zukunft mit materiellen Vorteilen für alle verkörpert habe – ohne Rücksicht auf Volkszugehörigkeit, Klasse oder Konfession. Russland, so Degoev, habe den Völkern des Nordkaukasus im Kern genau das offeriert, was Imam Šamil vergeb­lich wollte, näm­lich ein Ende des gegenseitigen Blutvergießens, der Raubzüge, der Blutrache und der Vielgötterei.109 Diese Argumentation lehnt sich an eine bereits im 19. Jahrhundert von der ­rus­sischen Propaganda verbreitete Sichtweise an, wonach es sich beim Šamil-Staat um einen Unterdrückerstaat gehandelt habe, der letzt­lich an seinen inneren Konflikten gescheitert sei.110 Obwohl die Einführung der Scharia und der Z ­ entra­lismus

108 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 262 – 264. 109 Degoev, Kavkaz v sostave Rossii, S. 46; ders., Imam Šamilʼ. Prorok, vlastitelʼ, voin, Moskva 2001, S. 260 – 263. 110 Allerdings hatten schon Historiker im Russland des 19. Jahrhunderts durchaus anerkannt, dass der Šamil-Staat dazu beigetragen hätte, als zivilisierende Kraft im „wilden und unbändigen Tsche­ tschenien“ zu wirken: Evg. Maksimov, Čečency. Istoriko-geografičeskij i statistiko-ėkonomičeskij

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des Šamil-Staates durchaus Spannungen hervorriefen, die sich negativ auf den staat­lichen Zusammenhalt auswirkten, ist allerdings nicht davon auszugehen, dass diese beiden Faktoren den Hauptgrund für den Zusammenbruch des Imamats darstellten. Denn damit ist noch nicht erklärt, weshalb der Staat ein Vierteljahrhundert lang Bestand hatte. Ohne ein Minimum an Zustimmung unter der Bevölkerung wäre dies kaum mög­lich gewesen. Ein Indiz, dass die Mehrheit der Bevölkerung dem Staat Šamils eher wohlwollend gegenüberstand, lässt sich darin erkennen, dass Šamil und sein Imamat im kollektiven historischen Gedächtnis vieler Menschen insgesamt als Verkörperung einer guten Zeit in Erinnerung blieben. Das mag damit zusammenhängen, dass sich die Menschen offenbar selbst in Zeiten des Kriegs Freiräume für Feier­lichkeiten wie Hochzeiten oder das Fasten­brechen schufen, was sich etwa aus den schrift­lichen Erinnerungen ehemaliger rus­sischer Gefangener herauslesen lässt.111 Zum Bild, das Degoev zeichnet, passt auch nicht, dass es letzt­lich Tausende nordkauka­sischer Familien nach der Niederlage vorzogen, ins Osmanische Reich zu emigrieren, statt sich Russland zu unterwerfen.112 Schließ­lich darf nicht übersehen werden, dass die Politik Barjatinskijs, insbesondere die Hinwendung zur Scharia und zu den islamischen Eliten, als taktische und damit vorübergehende Maßnahme zur Schwächung des Šamil-Staates gedacht war. Russland betrieb gegenüber den Völkern des öst­lichen Nordkaukasus zwar keine aktive Konversions­politik.113 In ihrer Rhetorik und Ideologie blieb die rus­sische Führung dem Islam gegenüber jedoch eher skeptisch eingestellt und brachte geist­lichen Führern dieser Religion Misstrauen entgegen, was die weiteren Entwicklungen bestätigen sollten. Es war die Kombination aus brachialer Militärgewalt und geschickter Diplomatie, verbunden mit wirtschaft­lichen Anreizen, die das Ihrige zum Sieg Russlands und zur Kapitulation Šamils beitrug. Denn tatsäch­lich gelang Russland nicht nur der Aufbau einer Verwaltung, die in Konkurrenz zum Imamat trat, sondern auch die aktive Beteiligung von Tsche­tschenen am Krieg gegen Šamils Truppen. Dabei griff die Armee zunehmend auch auf diejenigen Teile der tsche­tschenischen Jugend zurück, die von Šamil als Abreken verstoßen wurden.114 Anstatt in diesen Abreken

očerkʼ, in: Terskij sbornik. Priloženie kʼ Terskomu kalendarju na 1894 godʼ. Vypusk tretij. Kniga vtoraja, Vladikavkaz 1893, S. 3 – 100, hier S. 28. 111 Sidorko, Dschihad im Kaukasus, S. 368. 112 Dazu Kapitel 3 in ­diesem Buch. 113 Firouzeh Mostashari, Colonial Dilemmas. Russian Policies in the Muslim Caucasus, in: Robert P. Geraci / Michael Khodarkovsky (Hg.), Of Religion and Empire. Missions, Conversion, and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca 2001, S. 229 – 249. 114 Zum Begriff „Abrek“ und den Abreken siehe die Ausführungen im 5. Kapitel ­dieses Buches.

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Räuber und Banditen zu sehen, suchte Russland sie als Überläufer für den Krieg gegen Šamil zu gewinnen (dieselbe Politik verfolgte anfäng­lich auch Šamil, indem er bei der Rekrutierung von Soldaten auch auf Personen zurückgriff, die zuvor als Abreken ein Leben außerhalb der Gesellschaft fristeten).115 Vor ­diesem Hintergrund lässt sich die Behauptung des Kaukasus-Historikers Moshe Gammer, wonach sich „Tsche­tschenen damals wie in den 1990er-Jahren nur selten untereinander bekriegen“ würden, weder für die 1850er-Jahre noch später kaum aufrechterhalten.116 Tatsäch­lich finden sich in der Geschichte wiederholt Belege dafür, dass sich Tsche­tschenen durchaus bekriegten, so auch in der Endphase des Großen Kaukasuskriegs. Ende Februar 1855 berichtete der damalige Oberkommandierende der kauka­sischen Streitkräfte, General Graf Nikolaj Nikolaevič Muravʼёv-Karsskij (1794 – 1866), in einem Schreiben an General Ermolov, dass (…) wir heute eine große Zahl fried­licher Aule sehen, die sich in der Umgebung der von uns errichteten Festung [Groznaja] ansiedeln. Diese Tsche­tschenen beteiligen sich mit uns an den Militärexpeditionen und kämpfen gnadenlos [bezpoščadno] gegen ihre nicht unterworfenen Verwandten. Bereits haben wir hier fünf Naibstvos [Verwaltungsbezirke mit einem Naib] errichtet, es gibt einen pristav und ein Gericht, das nach dem Vorbild Eures Kabardinischen Gerichts [gemeint ist das Gerichtswesen, das Ermolov seinerseits in der Kabarda errichten ließ] geschaffen wurde.117

Daraus aber bereits einen Beweis für eine pro-imperiale Haltung der Tsche­tschenen und anderer Nordkaukasusvölker zu erkennen oder die Kaukasuskriege als eine Art Bürgerkrieg unter den Völkern selbst darzustellen, der sich daraus entwickelte, dass viele sich Russland anschließen wollten,118 verkennt die Motive, die einzelne Gemeinschaften dazu bewogen, sich den Eroberern anzuschließen. Im Sinne seiner Strategie der Herrschaftssicherung suchte Russland nach Mög­ lichkeit auch Milizeinheiten aus Angehörigen einheimischer Völker zu formieren, denen entweder lokale Verteidigungsaufgaben übertragen oder die als irreguläre Einheiten nebst rus­sischen Armeekräften an verschiedenen Kriegsschauplätzen des Kaukasus eingesetzt wurden.119 Ihre Motive basierten oft weniger auf einer

115 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 265. 116 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 73. 117 D. M. Kobjakov (Hg.), Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv ­Kanceljarii Glavnonačalʼstvujuščago. Tom XI, Tiflis 1888, S. 58. 118 Dies suggeriert etwa der aus Krasnodar stammende russische Historiker V. A. Matveev: V. A. Matveev, Rossija i Severnyj Kavkaz. Istoričeskie osobennosti formirovanija gosudarstvennogo edinstva (vtoraja polovina XIX – načalo XX.), Rostov-na-Donu 2006, S. 28 – 34. 119 Lapin, Armija Rossii, S. 336 – 365.

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pro-imperialen Einstellung als auf handfesten Interessen, die mit der Hoffnung auf Erweiterung ihres Landbesitzes und ihres Herrschafts­bereichs verbunden waren. Bezeichnenderweise waren bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und danach wiederholt kabardinische Fürsten – die lokalen Widersacher der Tsche­ tschenen – an der Niederschlagung von Aufständen beteiligt.120 Das Gleiche galt später auch für Tsche­tschenen, die ab den 1850er-Jahren in nicht geringer Zahl an den Feldzügen gegen die Truppen Šamils teilnahmen. Angesichts der dezentralen Struktur ihrer Gemeinschaften war es für Drittparteien nicht sonder­lich schwierig, eine Gemeinschaft gegen eine andere aufzubringen, wenn die entsprechenden Anreize vorhanden waren. Die Tsche­tschenen, die sich Russland vorüber­gehend anschlossen, sahen sich deshalb aber noch lange nicht als Unterworfene. Auch der rus­sische Armee­befehlshaber Graf Muravʼёv-Karskij wusste letzt­lich, dass es mehr als eine Besatzerarmee brauchen würde, damit ein Volk als „unterworfen“ gelten konnte. Er selbst sah darin einen langfristigen Prozess, der vom Aufbau ziviler Strukturen, der Errichtung von Schulen und der Anhebung der Wirtschaft begleitet war.121 Die Loyalitätsbezeugungen gegenüber Russland, wie sie die tsche­tschenischen Gemeinschaften der Terek-Ebene in zunehmender Zahl Anfang der 1850er-Jahre leisteten, waren somit nicht notwendigerweise Ausdruck einer veränderten Einstellung gegenüber dem Russländischen Imperium. Sie setzten zunächst einfach die Tradition fort, das eigene Überleben durch Allianzen mit äußeren Mächten zu sichern, ohne dabei herkömm­liche Lebensweisen, religiöse Ansichten und politische Freiheiten aufgeben zu müssen. Dabei war für die Repräsentanten der eingeborenen Völker seinerzeit nicht absehbar, ­welche Folgen diese Unterwerfung haben würde. Während sich danach tatsäch­lich ein kleiner Teil der nordkauka­sischen Elite in den Dienst des Imperiums stellte, darunter auch einzelne tsche­tschenische Familien, kam es in den tsche­tschenischen Berggebieten schon 1860 zu größeren ­bewaffneten Aufständen. Bereits zwei Jahre zuvor war es in Inguschetien in Zusammenhang mit der Verteilung von Land und der Siedlungspolitik zu Unruhen und bewaffneten Zusammenstößen gekommen.122 Die militärische Eroberung war nach der Kapitulation Šamils und dem Zerfall ­seines Imamats im Nordosten des Kaukasus zwar weitgehend abge­schlossen. Der Krieg jedoch setzte sich zunächst fort, und zwar nicht nur gegen die ­Tscherkessen im Westen, die erst 1864 besiegt wurden, sondern auch gegen aufständische ­Gruppierungen in den bereits eroberten Gebieten im Osten. Zehntausende wurden 120 Šeremet, „Pod carskoju rukoju…“, S. 29. 121 Kobjakov (Hg.), Akty, Tom XI, S. 65. 122 Zum Aufstand der Tsche­tschenen 1860 siehe das 3. Kapitel in d ­ iesem Buch. Zum Aufstand der Inguschen von 1858: Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 269 – 272.

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nach Abschluss des Kriegs aus ihren angestammten Heimatgebieten ins Innere Russlands umgesiedelt oder ins Osmanische Reich vertrieben. Wie sich die S ­ ituation in Tsche­tschenien unmittelbar nach der Kapitulation Šamils darstellte und ­welche Überlegungen auf rus­sischer Seite mit Blick auf die unterworfenen Völker vorherrschten, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

3.   H E R R S C H A F T U N D V E R T R E I B U N G Die Vertreibung der Tscherkessen und anderer nordkauka­sischer Völker in den 1860er-Jahren zählt zu den dunkelsten Kapiteln der rus­sischen Eroberungs­geschichte. Obwohl heute niemand mehr die Tatsache der massenhaften Emigration bestreitet, die in der rus­sischsprachigen Literatur als muchadžirstvo bezeichnet wird (abgeleitet vom arabischen Wort muhāǧir, was „Flüchtling“ oder „Emigrant“ bedeutet), ist das Thema sowohl emotional als auch politisch nach wie vor stark aufgeladen und erfährt auch in der neueren Geschichtsschreibung unterschied­liche Deutungen. Die Spannbreite reicht von der Forderung tscherkes­sischer ­Gesellschaften nach offizieller Anerkennung der Vertreibung nach 1864 als „Genozid“ bis hin zum Standpunkt konservativer Historiker in Russland, die in der Auswanderung von Nordkaukasiern einen freiwilligen Entscheid erkennen und eine allfällige Schuld auf die damalige osmanische Politik abwälzen wollen.1 Tatsäch­lich hat sich die Geschichtsschreibung, wenn sie die ­Massenvertreibungen im Nordkaukasus Mitte der 1860er-Jahre behandelt, bislang fast ausschließ­lich mit dem Fall der Tscherkessen beschäftigt.2 Die Umstände, die zur gleichen Zeit zur

1 Zur Genozid-Frage: Richmond, The Northwest Caucasus, S. 77 – 80; Stephen D. Shenfield, The Circassians. A Forgotten Genocide?, in: Mark Levine / Penny Roberts (Hg.), The Massacre in History, New York 1999, S. 149 – 162. Für eine Übersicht über die rus­sischsprachige Literatur: Bobrovnikov, Severnyj Kavkaz, S. 155 – 157. 2 Mit der Auswanderung der Tscherkessen hat sich die rus­sischsprachige Historiographie schon früh befasst. Die detaillierteste Studie ist diejenige aus der Feder von Adolʼf Berže mit dem Titel ­Vyselenie gorcev s Kavkaza („Aussiedlung der Bergler aus dem Kaukasus“), die ursprüng­lich in neun Teilen in der Zeitschrift Russkaja starina in den Volumen 33 und 34 von 1882 erschien. Beržes Studie ist unterdessen in der Form einer Monographie neu aufgelegt: Adolʼf Berže, ­Vyselenie gorcev s Kavkaza, Nalʼčik 2010. Erwähnung fand die Vertreibung der Nordkaukasier auch in sowjetischen Geschichtsdarstellungen (zum Beispiel: N. A. Smirnov, Politika Rossii na Kavkaze v XVI – XIX vekach, Moskva 1958, insbesondere S. 220 – 226), doch wurde das Thema ab den 1960er Jahren im Zuge der Propaganda von der fried­lichen Angliederung der nordkauka­ sischen Völker an Russland zunehmend unterdrückt und tabuisiert. Dass sich auch die west­liche Historiographie früh mit dem Widerstand und der Vertreibung der Tscherkessen befasst hat, ist nament­lich dem Umstand zu­­zuschreiben, dass schon im 19. Jahrhundert enge Verbindungen zwischen dem Vereinigten Königreich und tscherkes­sischen Gemeinschaften bestanden, insbesondere über die Figur von David Urquhart (1805 – 1877), einem britischen Politiker, Publizisten und Diplomaten, der aus seiner antirus­sischen Einstellung keinen Hehl machte. Urquhart, der zahlreiche Reisen zu den Tscherkessen unternahm, setzte sich für die Anliegen dieser Völker auf politischer und publizistischer Ebene stark ein. Zu David Urquhart und der britischen Rolle im Nordwestkaukasus im 19. Jahrhundert besteht eine umfassende Literatur, deren Wurzeln weit zurückreichen: Charles Webster, Urquhart, ­Ponsonby, and Palmerston, in: The English

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Auswanderung anderer muslimischer Gemeinschaften, darunter nament­lich der Tsche­tschenen, führten, sind weit weniger bekannt.3 Diese verließen ihre Heimat zwar nicht, wie die Tscherkessen, zu Hunderttausenden, aber immerhin zu Zehn­ tausenden. Noch bevor die Stämme süd­lich des Kuban überhaupt unterworfen waren, arbeitete Russland Pläne aus, die eroberten oder noch zu erobernden Gebiete von ihnen besonders gefähr­lich erscheinenden Volksgruppen zu säubern. Dennoch waren die Umstände, die im Fall der Tscherkessen zu systematischer und massenweiser Auswanderung ins Osmanische Reich führten, etwas andere als diejenigen im Fall der Völker, die im mittleren und öst­lichen Teil des Nordkaukasus siedelten. Die Tscherkessen wanderten nach der militärischen Niederlage 1864 fast in ihrer Gesamtheit aus ihrer Heimat ins Osmanische Reich aus, noch bevor sie unter ­rus­sische Hoheit gerieten. Nur eine Minderheit ließ sich auf das rus­sische Angebot ein, in die Ebene des Kuban umzusiedeln.4 Im Fall der Tsche­tschenen hatten sich Teile ­dieses Volks aber bereits in den 1850er-Jahren unter rus­sische Herrschaft begeben. Nur in den Berggebieten zog sich der Kampf einzelner Gruppen auch noch nach der Kapitulation Šamils 1859 über einige Jahre hin. War der Massenexodus der Völkerschaften süd­lich des Kuban direkte Folge der rus­sischen Eroberungs- und Vertreibungspolitik, so sind die Gründe für die Auswanderung anderer Völker in der Kombination verschiedener Faktoren zu sehen und konnten eine Folge von Kämpfen und Unruhen, aber auch von wirtschaft­licher und sozialer Not sein. Eine Rolle spielten dabei auch Emissäre aus dem Osmanischen Reich, ­welche die Menschen durch Verbreitung falscher Gerüchte dazu anstachelten, ihre Heimat zu verlassen. Maßgeb­lich war aber auch hier die rus­sische Politik, die dahingehend wirkte, dass schließ­lich Tausende von Familien aus Gebieten im mittleren und nordöst­lichen Teil des Kaukasus ins Osmanische Reich auswanderten. Eine wichtige Funktion spielten im Fall der Auswanderung aus diesen Gebieten auch muslimische Angehörige der imperialen nordkauka­sischen Militärelite. Bei der Auswanderung muslimischer Osseten, Karabulaken und Tsche­tschenen im Jahr 1865 war es der ossetisch-stämmige General der imperialen Armee, Musa Kunduchov, dem

Historical Review 62 (1947), S. 327 – 351; Peter Brock, The Fall of Circassia. A Study in Private Diplomacy, in: The English Historical Review 71 (1956), S. 401 – 427. Eine erste Biographie zu Urquhart erschien bereits 1920: Gertrude Robinson, David Urquhart. Some Chapters in the Life of a Victorian Knight-Errant of Justice and Liberty, Boston, New York 1920. Stellvertretend für die neuere Literatur: Charles King, Imagining Circassia. David Urquhart and the Making of North Caucasus Nationalism, in: The Russian Review 66 (2007), S. 238 – 255. 3 Einzig für die früheste sowjetische Geschichtsschreibung finden sich dazu Darstellungen. So ist es der ossetisch-stämmige Historiker G. A. Dzagurov, der d ­ ieses Kapitel der nordkauka­sischen Geschichte in einer Publikation von 1925 erstmals dokumentiert hat: G. A. Dzagurov, Pereselenie gorcev. Materialy po istorii gorskich narodov, Rostov-na-Donu 1925. 4 Kipkeeva, Severnyj Kavkaz v Rossijskoj imperii, S. 274 – 316.

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eine Schlüsselrolle zukam. Kunduchov war an den Kriegen Russlands im Kaukasus beteiligt und spielte als Verwalter des Bezirks Vladikavkaz und nach der Niederlage Šamils in den neu eroberten tsche­tschenischen Gebieten eine zentrale Rolle. Als er Mitte der 1860er-Jahre die Massenauswanderung von Tsche­tschenen und anderen muslimischen Völkern ins Osmanische Reich organisierte, reiste er zusammen mit seiner Familie gleich selbst aus, um später in der Armee des S ­ ultans als General zu hohen Ehren zu gelangen. Das Nachzeichnen d­ ieses konkreten Einzelschicksals soll dazu dienen, die Situation im nordöst­lichen Teil des Kaukasus sowie die Herrschaftspolitik Russlands zu Beginn der 1860er-Jahre und damit einen noch wenig bekannten Aspekt der Eroberungsgeschichte zu verdeut­lichen.

3.1   Au s wa nd e r u ng u nd Kolo n ia l i sie r u ng Umsiedlungen und Kolonialisierung waren beim rus­sischen Vordringen Richtung Süden stets Bestandteil der Herrschaftssicherung. Die ständige Verschiebung der Kauka­sischen Militärlinie war begleitet von der Neugründung von Kosaken-­ stanicy und der zum Teil auch zwanghaft durchgeführten Verlegungen von Kosaken­ gemeinschaften in immer süd­lichere Territorien.5 Ob Russland bei seinem Vordringen die unterworfene Bevölkerung in ihrer Heimat beließ oder zum Mittel der Umsiedlung griff, hing oft von der Art und Weise der Eroberung ab. Unterwarf sich eine Gemeinschaft, ohne Widerstand zu leisten, dann ließ Russland diese in ihren angestammten Siedlungsgebieten. Wollten sie sich aber nicht unterwerfen und setzten sich zur Wehr, dann drängte die rus­sische Armee diese Gemeinschaften aus ihren Heimatgebieten zurück und suchte sie im Anschluss an die militärische Unterwerfung aus den Bergen in die Ebene umzusiedeln. Besondere Mühe bekundeten die Eroberer mit den demokratisch ­organisierten Tsche­tschenen oder dagestanischen Berggemeinschaften, weil deren Form der Sozial­organisation es aus rus­sischer Sicht schwierig machte, zu bindenden Überein­ kommen hinsicht­lich der Bedingungen einer Unterwerfung zu gelangen. Dies stellten nicht nur die zaristischen Kommandanten vor Ort fest, sondern auch zeitgenös­ sische rus­sische Beobachter. So gab sich etwa der Dekabrist Pavel Ivanovič Pestelʼ (1793 – 1826) bereits in seiner 1823 unterbreiteten Schrift Russkaja pravda überzeugt, dass Russland den Kaukasus erobern würde und dabei zwischen „fried­lichen“ (mirnye) und „wilden“ (bujnye) Völkern zu unterscheiden sei. Erstere sollten in ihrer Heimat belassen und in das rus­sische Staatswesen und Rechtssystem überführt werden. Letztere jedoch seien gewaltsam ins Innere Russlands auszuschaffen, wo

5 Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 667.

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sie, in kleine Gruppen aufgesplittert, in verschiedenen rus­sischen Ortschaften neu anzu­siedeln seien. Der Kaukasus selbst sollte mit rus­sischen Kolonisten besiedelt werden.6 Was Pestelʼ ansprach, sollte seinen Widerhall nicht nur in vielfachen ­Variationen in späteren Publikationen über den Kaukasus finden, sondern erfuhr seine tra­gische Umsetzung in der rus­sischen Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik der 1860er-Jahre. Denn tatsäch­lich erschienen den zaristischen Generälen Krieg und Zwangsumsiedlung oft als die einzigen Mittel, um Völker wie die Tsche­tschenen gefügig zu machen. General Dmitrij Alekseevič Miljutin (1816 – 1912), der spätere Kriegsminister, der zwischen 1856 und 1859 als Generalstabschef der Kaukasusarmee amtete, erklärte etwa in einem Schreiben an das Kriegsministerium vom 29. November 1856: Die Eroberung der Region erfolgt nach einer von zwei Methoden: 1) entweder durch Unterwerfung der ört­lichen Bewohner und [der Erlaubnis] zum Verbleib auf dem von ihnen bewohnten Land, oder 2) dadurch, dass das Land seinen Einwohnern weggenommen wird und darauf die Sieger platziert werden. (…) Die erste Methode wendet Russland hauptsäch­lich gegenüber denjenigen Stämmen und Gemeinschaften an, die von einer nach dem Erb­lichkeitsprinzip organisierten Staatsmacht oder von einer Aristokratie regiert werden. Die zweite [Methode] gegenüber denjenigen demokratischen Stämmen, die weder über einen Staat noch eine gesellschaft­liche Ordnung verfügen und wo es unmög­ lich ist, mit dem ganzen Volk zu einer Übereinkunft hinsicht­lich einer Unterwerfung zu gelangen. Während der Südkaukasuskreis, zahlreiche dagestanische Herrschaftsgebiete, die Kabarda, Ossetien und einige andere Teile sich der [rus­sischen] Regierung unterworfen und die Bewohner ihr Land behalten haben, stößt Russland seit mehr als einem halben Jahrhundert Richtung Kuban und Terek vor, drängt die dort lebenden halbwilden Völker in die Berge zurück und lässt das neu gewonnene Land mit Kosaken besiedeln.7

Der rus­sische Druck veranlasste Teile der einheimischen Bevölkerung im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts zwar wiederholt dazu, ihre Heimat Richtung Osma­ nisches Reich zu verlassen. Doch verfolgte Russland bis in die späten 1850er-Jahre hinein keine Politik, die aktiv darauf abgezielt hätte, die Völker des Nordkaukasus vollständig aus Russland zu vertreiben. Vorrangiges Ziel war ihre Unterwerfung und Umsiedlung in die Ebene und damit in Gebiete, die Russland besser kontrollieren konnte. So betrachtet sahen sich die rus­sischen Eroberer keineswegs als Übeltäter. Sie waren davon überzeugt, dass ihre Politik, gerade im Vergleich mit 6 Pestelʼ, Russkaja Pravda. Nakazʼ Vremennomu verchovnomu pravleniju, Sankt-Peterburg 1906, S. 48. 7 Schreiben Miljutins, 29. November 1856, in: Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 757 – 763, hier S. 762.

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den Entwicklungen, die sie in anderen, von Europäern kolonialisierten Teilen der Erde feststellen wollten, sogar durchaus human war. So liest sich im selben Schreiben Miljutins, dass Russland, anders als die europäischen Siedler Amerikas, bei ihrem Vorstoß Richtung Kaukasus die Ureinwohner nicht ausgerottet hätte, denn „in unserem Zeitalter [gebe es] eine Verantwortung gegenüber der Menschheit, die verlangt, dass wir im Voraus Maßnahmen für die Existenzsicherung von uns sogar feind­lich gesinnten Völkern ergreifen, die wir aus einer staat­lichen Notwendigkeit heraus aus ihrer Heimat verdrängen“.8 Tatsäch­lich begann sich aber bereits in der zweiten Hälfte der 1850er-Jahre eine Änderung dieser Haltung abzuzeichnen. Dies kam insbesondere im Umgang mit der immer größeren Zahl von Flüchtlingen zum Ausdruck, die den in Not geratenen ŠamilStaat verließen, um sich unter rus­sischen Schutz zu begeben. Solange der Krieg gegen Šamil nicht gewonnen war, waren die rus­sischen Generäle aus militärstrate­gischen Gründen an Überläufern interessiert. Gleichzeitig begegneten sie d­ iesem Phänomen aber mit wachsendem Unbehagen, denn sie wussten nicht wirk­lich, was sie mit diesen Menschenmassen anfangen sollten. Bezeichnend dafür war etwa die Haltung des Oberkommandierenden der kauka­sischen Streitkräfte, Graf Muravʼёv-Karsskij, der bezüg­lich der tsche­tschenischen Überläufer am 23. April 1856 rapportierte: Sie [die tsche­tschenischen Überläufer] bebauen Land, das für die Kosaken ­vorgesehen [war] und erhalten darüber hinaus noch bedeutende Zuwendungen an Getreide auf Kosten der Staatskasse. Die Zahl derjenigen, die zu uns überlaufen, nimmt täg­lich zu. Damit werden wir uns nach der Errichtung der vollständigen Herrschaft über die tsche­ tschenische Ebene mitten unter einem Volk befinden, auf das kein Verlass ist und das sich nicht entwaffnen lassen will. Ein solcher Zustand entspricht nicht unseren Herrschaftsvorstellungen, denn unter wilden Menschen lässt sich eine Wirtschaft [promyšlennostʼ] nicht zügig errichten, was aber die einzige Mög­lichkeit wäre, diese [wilden Menschen] zu besänftigen. So aber sind wir gezwungen, weiterhin Truppenteile in den von uns errichteten Festungen zu unterhalten. Um eine Lösung für ­dieses Problem zu finden, bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Leute an die hinterste Linie oder noch weiter zurück umzusiedeln; aber an dieser Stelle taucht eine neue Frage auf, der wir noch größere Beachtung schenken müssen: wohin genau?9

Diese Frage sollte die rus­sischen Machthaber noch über Jahre beschäf­tigen, zumal der Zeitraum 1857 – 1859 in Tsche­tschenien von massiven internen Migrationsbewegungen

8 Ebd., S. 763. 9 Schreiben Muravʼёv-Karsskijs, 23. April 1856, in: Kobjakov (Hg.), Akty, Tom XI, S. 64 – 67, hier S. 66.

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gekennzeichnet war. Mehrere Zehntausend Menschen verließen die Berggebiete, um sich in der Ebene neu anzusiedeln.10 Dass Russland an den „wilden Menschen“ nicht wirk­lich interessiert war, zeigte sich in aller Deut­lichkeit nach der Kapitulation Šamils, als sich die rus­sische Armeeführung an die Unterwerfung der Völker im nordwest­lichen Teil des Kaukasus machte und dabei die Vertreibung ins Osmanische Reich endgültig zu einem zentralen Element der Eroberungs- und Herrschaftspolitik wurde. Vorrangiges Ziel der Armeeführung war es, die schwierig zu kontrollierenden Berggebiete von ihren Bewohnern zu säubern, um damit auch nach einer Eroberung Aufstandsbewegungen ein für alle Mal zu unterbinden. Weigerten sich die einzelnen Völker, ihre Heimat zu verlassen und sich an von Russland vorbestimmten Orten neu anzusiedeln, dann stellten ihnen die Eroberer nur die Mög­lichkeit in Aussicht, ins Osmanische Reich aus­zuwandern. Ziel der rus­sischen Eroberungspolitik im Nordwestkaukasus war nicht die phy­sische Vernichtung einzelner Völker. Dass damit gerechnet werden musste, dass die beschwer­liche Reise aus dem Kaukasus und die Überfahrt übers Schwarze Meer sehr hohe Opfer fordern könnte, dafür wollten die rus­sischen Machthaber jedoch keine Verantwortung übernehmen. Sie waren gewillt, allfällige Opfer, die direktes Resultat ihrer Vertreibungspolitik waren, in Kauf zu nehmen. Bereits im Oktober 1860 beschloss die Armeeführung bei einem Treffen in Vladikavkaz die Eroberung der letzten, noch nicht von Russland direkt kontrollierten Gebiete süd­lich des Kuban, die von tscherkes­sischen (ady­gischen) Volksstämmen besiedelt waren. Die Vertreibung dieser Menschen und die Besiedlung der ­entleerten Gebiete mit Kosaken waren Bestandteile des Eroberungsplans, den General ­Nikolaj Ivanovič Evdokimov (1804 – 1873) ausgearbeitet hatte und den Fürst ­Barjatinskij genehmigte. Evdokimov teilte die verschiedenen Völker je nach Grad ihrer Gefähr­lichkeit für Russland ein und empfahl in einigen Fällen die Vertreibung ins Osmanische Reich, in anderen die Umsiedlung von den Bergen in die Ebene.11 Die Vertreibungspolitik, die von Zar Alexander II. unterstützt wurde, war zwar nicht unumstritten und es meldeten sich auf rus­sischer Seite durchaus auch Kritiker d­ ieses Projekts, zumal ein Unternehmen d­ ieses Ausmaßes nicht geheim gehalten werden konnte. Sowohl Fürst Barjatinskij als auch der spätere Statthalter des Zaren im Kaukasus, Großfürst Michail Nikolaevič Romanov (1832 – 1909), befürworteten die 10 Ein rus­sischer Historiker des 19. Jahrhunderts nennt die Zahl von insgesamt 14.290 Höfen (sing. dvor), die zwischen 1857 und 1859 von den Berggebieten in die Ebene umgesiedelt worden seien, was mehr als 70.000 Menschen entsprochen haben dürfte, wenn von fünf Personen pro Hof ­ausgegangen wird: Maksimov, Čečency, S. 30. 11 F. A. Ozova, Plan generala Evdokimova (1856 – 1869). Častʼ pervaja, in: Archiv i obščestvo 21 [ohne Datum], http://archivesjournal.ru/?p=4713 [24.10.2012]; ders., Plan generala Evdokimova (1856 – 1869). Okončanie, in: Archiv i obščestvo 22 [ohne Datum], http://archivesjournal.ru/?p=5046 [24.10.2012]; Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 162.

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Emigration zum Zweck der endgültigen Beseitigung eines ­Problems, das Russland lästig war. So soll Barjatinskij bei besagtem Treffen im Oktober 1860 in ­Vladikavkaz geäußert haben: „Wissen sie was? Das ist näm­lich gar nicht so dumm, dass d­ ieses Gesindel [svoločʼ] weggeht, das uns nur eine Last ist. Haltet sie nicht zurück, sollen sie doch nach Mekka, oder wo immer sie wollen, hingehen.“ 12 Bereits ab den späten 1850er-Jahren kam es aufgrund des rus­sischen Militärdrucks zu einer ansteigenden Auswanderungsbewegung ins Osmanische Reich. Die erste große Welle erfolgte 1858/59, als rund 30.000 Nogajer den Nordwest­kaukasus Richtung Osmanisches Reich verließen. 1861 emigrierten 10.000 ­Kabardiner. ­Ady­gische Völker wie die Abadzechi, die Šapsugi und die Ubychi leisteten zu ­diesem Zeitpunkt nach wie vor Widerstand in der naiven Hoffnung, internationale Unterstützung zu erhalten.13 Der Höhepunkt der Auswanderung wurde zwischen Ende 1863 und Mitte 1864 erreicht, als die Tscherkessen begannen, ihre Heimat in Massen zu verlassen. Zuvor hatte die Armeeführung ihnen ein Ultimatum gestellt: Entweder sie unterwarfen sich und siedelten in die Ebene des Kuban um, oder sie hatten ins Osmanische Reich auszuwandern.14 Bis zum 20. Februar 1864 wurde ihnen Zeit gegeben, sich zu entscheiden.15 Es ist allerdings höchst zweifelhaft, ob es Russland wirk­lich ernst war mit dem Angebot, die Menschen innerhalb des Russländischen Imperiums neu anzusiedeln. Das rus­sische Oberkommando war sich bewusst, dass die meisten Völker nie darauf eingehen würden.16 Dies zeigte sich dann, als sich die große Mehrheit zur Auswanderung entschied. Ernsthafte Anstalten seitens der rus­sischen Armeeführung, diesen Prozess aufzuhalten, gab es nicht. Als Folge des rus­sischen Militärdrucks verließen bis Ende 1864 praktisch alle Tscherkessen süd­lich des Kuban (vermut­ lich gegen eine halbe Million Menschen, vielleicht aber auch bis zu einer Million Menschen – die genauen Zahlen sind bis heute umstritten), den Nordwestkaukasus Richtung Osmanisches Reich. Die Mehrheit davon waren Angehörige ady­gischer Stämme und die mit diesen eng verwandten Abchasen.17 Zehntausende von Auswanderern kamen dabei unterwegs oder wegen miss­licher Lebensbedingungen und

12 Barjatinskij zitiert bei: Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 162. Weiterführend zu Barjatinskij und seiner Rolle im Kaukasus: Muchanov, Pokoritelʼ ­Kavkaza. 13 Richmond, The Northwest Caucasus, S. 75 – 76. 14 M. N. Pokrovskij, Diplomatija i vojny carskoj Rossii v XIX stoletii. Sbornik statej, Moskva 1923, S. 229. 15 Kipkeeva, Severnyj Kavkaz v Rossijskoj imperii, S. 306 – 307. 16 Richmond, The Northwest Caucasus, S. 75. 17 Berže geht in seinen Berechnungen von rund einer halben Million Menschen aus, die zwischen 1858 und 1864 den Nordkaukasus verließen, schreibt aber selbst, dass keine genauen Statistiken vorliegen würden und die Zahlen ungenau seien: Berže, Vyselenie gorcev s Kavkaza, S. 167. Zu den Zahlen: V. S. Belozërov, Ėntničeskaja karta Severnogo Kavkaza, Moskva 2005, S. 39.

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Epidemien in den ersten Wochen und Monaten nach Ankunft im Osmanischen Reich ums Leben.18 Eine Minderheit zog sich zunächst noch tiefer in die Berge zurück, wo sie aber später von den rus­sischen Truppen herausgedrängt wurde. Weniger als 100.000 Menschen (ein Sechstel der ursprüng­lichen einheimischen Bevölkerung im süd­lichen Kubangebiet) sollen sich gemäß Berže zur Umsiedlung von den Bergen in die Ebene bewegt haben lassen.19 Vermut­lich waren es aber deut­lich weniger. Gemäß Statistiken aus den frühen 1880er-Jahren siedelten im Nordwestkaukasus nur noch rund 50.000 Tscherkessen beziehungsweise der ady­gischen Volksgruppe zugehörige Bevölkerungsteile.20 Emigrationsbewegungen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich hatte es bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts in beide Richtungen gegeben. Als Hunderttausende von Muslimen in den 1860er-Jahren ins Osmanische Reich emigrierten, wurden sie vor allem in den Grenzregionen des Reichs, im Balkan, in Kleinasien und im Nahen Osten angesiedelt. Istanbul benutzte die Nordkaukasier ähn­lich wie die Russen die Kosaken: als Wehrbauern zur Grenzsicherung. Die Osmanen bildeten aber auch Milizverbände aus Nordkaukasiern, die zur Niederschlagung von ­Aufständen oder in Kriegen (so etwa auch im rus­sischtürkischen Krieg von 1877 – 1878) eingesetzt wurden.21 Umgekehrt verließen auch Christen, in erster Linie Armenier und Angehörige verschiedener slawischer Völker, das Osmanische Reich und wurden von Russland in den Grenzgebieten angesiedelt.22 Es bestand somit auf beiden Seiten durchaus ein Interesse an einem Bevölkerungsaustausch, der wieder­holt auch auf höchster diplomatischer Ebene vereinbart wurde.23 Dabei wiesen schon zaristische Historiker des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass das Osmanische Reich eine eigent­liche Propaganda unter 18 Auch wenn es dazu keine verläss­lichen Angaben gibt, so waren sich bereits Zeitgenossen einig, dass die Opferzahlen sehr hoch waren. Gestützt auf ein Schreiben des rus­sischen Konsuls vor Ort, Moščina, vom 10. Juni 1864, schreibt Berže, dass von den 247.000 Tscherkessen, die bis zu ­diesem Zeitpunkt im türkischen Schwarzmeerhafen Trepizonde (heute Trabzon) eintrafen, 19.000 ­gestorben seien. Die Sterb­lichkeitsrate liege bei 180 – 250 Menschen pro Tag. Berže, Vyselenie gorcev s Kavkaza, S. 353. 19 Ebd., S. 347. 20 Richmond, The Northwest Caucasus, S. 77 – 78. 21 Belozërov, Ėtničeskaja karta, S. 41; dazu ebenfalls: Georgy Chochiev, Some Aspects of Social Adaptation of the North Caucasian Immigrants in the Ottoman Empire in the Second Half of the XIXth Century (on the Immigrantsʼ Applications to Authorities). Extended paper presented to the XVth Turkish Congress of History, Ankara 2006. 22 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 165 – 166. 23 Der ­rus­sische Historiker Vladimir Bobrovnikov spricht in Anlehnung an den US-Historiker Mark Pinson (Mark Pinson, Demographic Warfare. An Aspect of Ottoman and Russian Policy, 1854 – 1866. Thesis (Ph. D.), Harvard University 1970) von einem „demographischen Krieg“: Vladimir Bobrovnikov, Muchadžirstvo v „demografičeskich vojnach“ Rossii i Turcii, in: Prometheus (2011) H. 9, http://­ chechen.org/archives/162 [10.6.2014].

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der islamischen Bevölkerung des Nordkaukasus betrieben habe, um sie zum Verlassen ihrer Gebiete zu bewegen.24 Diese Propaganda habe die Hohe Pforte über Emissäre verbreitet, die in den Kaukasus reisten, aber auch über Briefwechsel mit lokalen geist­lichen Autoritäten, in denen manchmal wilde Gerüchte von einer bevorstehenden Zwangschristianisierung und der Umwandlung der nichtrus­ sischen Bevölkerung in Kosaken verbreitet wurden.25 So betrachtet spielte das Osmanische Reich für die Auswanderung wohl eine gewisse Rolle, weil es den Menschen die Option einer Emigration anbot und sie zum Verlassen ihrer Heimat aufrief. Wer den Osmanen aber die Hauptschuld an der Emigration a­ n­lastet, wie dies einige zeitgenös­sische Historiker in Russland tun,26 vernied­licht die Rolle der rus­sischen Eroberungspolitik und verkennt die t­ieferen Ursachen, die hinter dem Entscheid zur Auswanderung standen. Während im Fall der Tscherkessen tatsäch­lich von einer systematischen Vertreibungspolitik (nicht aber von einer gezielten Vernichtungspolitik) durch Russland gesprochen werden kann, waren die Gründe für die Auswanderung anderer Völker komplexer. Insbesondere in der Kabarda, in den von muslimischen ­Osseten besiedelten Gebieten, aber auch in den dagestanischen Khanaten waren es die ­Abschaffung der Feudalhierarchien und Privilegien, darunter auch das Verbot der Sklaverei, sowie die Tilgung des Anspruchs der Oberschicht auf ihre traditionellen Ländereien, die viele Familien ihrer Existenzgrundlage beraubten und zur Ausreise bewogen. Im Osten des Nordkaukasus waren es indes die Konfiskation von Land, die Willkürpolitik der ört­lichen Machthaber und die Androhung interner Umsiedlungen, die viele Menschen zur Emigration veranlassten.27 Dabei machte Russland wiederholt Versprechungen an die eingeborenen ­Völker, dass es deren Landbesitz nicht antasten würde. Bereits der erste Statthalter im Kaukasus, Graf Michail Semёnovič Voroncov (1782 – 1856), erklärte in seiner 1845 verfassten „Proklamation an die Bergvölker“, dass Russland ihnen die Religion, die Scharia, den Adat, das Land und das Eigentum belassen würde.28 Dieses Ver­ sprechen äußerte Voroncov just in der Zeit, als der Kaukasuskrieg seinem Höhepunkt zustrebte. Dabei eigneten sich nicht nur Russen bei ihrem Vordringen Land an, auch Imam Šamil ließ Bewohner aus Siedlungen vertreiben, die ihm nicht loyal ergeben



24 Exemplarisch: Berže, Vyselenie gorcev s Kavkaza, S. 341 – 342, 347, 355 – 356, 363. 25 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 167 – 168. 26 Stellvertretend: Matveev, Rossija i Severnyj Kavkaz, S. 113 – 116. 27 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 164; Valerij Dzidzoev, Istorija i sudʼba kavkazskich pereselencev v Turciju (50-e – 70-e gody XIX v.), in: Darʼjal 1 (2008), http://www.darial-online.ru/2008_1/dzidzoev.shtml [28.3.2012]. 28 N. P. Gricenko, Ėkonomičeskoe razvitie Čečeno-Ingušetii v poreformnyj period (1861 – 1900 gg.), Groznyj 1963, S. 15 – 22.

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waren. Vor allem der tsche­tschenische Kriegsschauplatz erfuhr so kontinuier­lich Migrationsbewegungen. Der geor­gisch-stämmige General der zaristischen Armee, Grigorij Dmitrievič Obreliani (1804 – 1883), bemerkte in ­diesem Zusammenhang in einem Schreiben vom 28. Januar 1862, dass es in ganz Tsche­tschenien „keinen Aul und keinen Hof“ mehr gegeben habe, „der nicht mehrere Male von einem an einen anderen Ort“ umgesiedelt worden sei.29 Dabei beschlagnahmte Russland die Besitztümer der Einwohner, die sich vor den anrückenden Truppen in die Berge zurückgezogen hatten, mit der Begründung, sie hätten sie aufgegeben, und gab das Land zur Besiedlung durch Kosaken oder andere Siedler aus Russland frei.30 In ähn­licher Form gelobte auch Barjatinskij 1860 in seiner „Proklamation an das tsche­tschenische Volk“, dass die Tsche­tschenen ihre Religion und ihre lokalen Rechtstraditionen (mit Ausnahme der Blutrache) frei ausüben dürften und ihr Landbesitz, die Volksgerichte, der Handel und die Ausübung ihres Handwerks nicht angetastet würden. Auch sollten die Tsche­tschenen fünf Jahre lang keine Abgaben an den Staat leisten müssen.31 Dabei war der Wortlaut zur Landfrage bereits in der Proklamation derart ambivalent formuliert, dass sich die Konfiskation von Land faktisch leicht rechtfertigen ließ. So versprach Barjatinskij den Tsche­tschenen in Punkt 3 der Proklamation, alle „Flächen und Wälder in der Ebene, auf denen das tsche­tschenische Volk bis zu den Unruhen im Jahr 1839“ gelebt hatte, in deren „ewigen Besitz“ zurückzugeben. Allerdings nahm die Proklamation Gebiete aus, die bereits genutzt wurden, sowie Flächen in den Berggebieten, „die das Volk vor den Unruhen nicht [genutzt hatte]“.32 Tatsäch­lich bekräftigte der Statthalter damit nur die Politik der Kolonialisierung, die das Land der Tsche­tschenen an zarentreue Kosaken, rus­sische Offiziere und slawisch-stämmige Siedler (nebst Russen auch Ukrainer), vereinzelt aber auch an loyale tsche­tschenische Familien verteilte.33 Auch in den 1860er- und 1870er-Jahren kam es im Zuge militärischer Kampagnen gegen Aufständische wiederholt zur Konfiskation von Land mit anschließender Kolo­ nialisierung und Neuzuteilung. Landarme Tsche­tschenen und andere Nordkaukasier wurden zudem wiederholt von den Bergen in die Ebene umgesiedelt, wo sie sich gezwungen sahen, Land von Kosaken zu oft ungünstigen Konditionen zu pachten.34

29 Schreiben Obrelianis, 28. Januar 1862, in: Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 1253 – 1255, hier S. 1254. 30 N. A. Smirnov, Mjuridizm na Kavkaze, Мoskva 1963, S. 206 – 207. 31 Proklamacija knjazja Glavnokomandujuščego Kavkazskoj armiej, Namestnika Kavkazaskogo, general-feldmaršala knjazja A. I. Barjatinskogo, in: Rodina (2000) H. 1 – 2, S. 135 – 136. 32 Ebd., S. 135. 33 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 69 (einschließ­lich Anmerkung 7) und S. 83 (einschließ­ lich Anmerkungen 82 und 83). 34 Siehe dazu das 4. Kapitel in ­diesem Buch.

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Russland erließ zwar bereits ab Mitte der 1860er-Jahre gesetz­liche ­Bestimmungen, um die Auswanderung zu unterbinden, die nach der großen Migrationswelle aus dem Nordwestkaukasus nun auch die in der Kabarda siedelnden Völker sowie Tsche­tschenen und Dagestaner erfasst hatte.35 Ähn­lich wie bei den Tscherkessen süd­lich des Kuban wollte Russland mit Blick auf die Völker im Zentrum und im Osten des Nordkaukasus ursprüng­lich nur die „gefähr­lichen“ Elemente zur Auswanderung bewegen. Als die Emigration aber wie im Fall der Tscherkessen massen­haften Charakter anzunehmen drohte, suchten die Behörden der Entwicklung entgegenzuwirken. Denn diese verletzte nicht nur die mit dem Osmanischen Reich vereinbarten Bestimmungen über die Zahl der Auswanderer, sondern führte auch dazu, dass Istanbul angesichts der vielen Flüchtlinge nun selbst versuchte, die Einwanderung zu begrenzen.36 Klang die Auswanderung in der Folge tatsäch­lich ab, wobei es vor allem unter Tsche­tschenen auch zu Rückkehrbewegungen kam, so wuchs sie bei Ausbruch des rus­sisch-türkischen Kriegs und der großen Aufstände in Tsche­tschenien und Dagestan Ende der 1870er-Jahre wieder stark an. Als Folge davon ließ Russland erneut Tausende von Familien ins Innere des Reichs und nach Sibirien umsiedeln.37 Obwohl das Zarenreich die Massenemigration ab der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre nicht mehr anstrebte, löste doch die rus­sische Politik die Auswanderung ins Osmanische Reich maßgeb­lich aus. Außer den Tscherkessen, von denen nur wenige Zehntausend in Russland zurückblieben, verließen nach offiziellen Angaben zwischen 1856 und 1925 gegen 40.000 Tsche­tschenen und Inguschen, rund 40.000 Nogajer, 8000 bis 10.000 Osseten und 20.000 bis 25.000 Dagestaner ihre Heimat.38

3. 2   Zw i s che n d e n Welt e n: G e ne r a l Mu s a Ku nd u chov Eine wichtige Rolle bei der Auswanderung ins Osmanische Reich spielten für die neu eroberten Gebiete im nordöst­lichen Teil des Kaukasus die Vertreter der lokalen nordkauka­sischen Eliten, die aus den Migrationsbewegungen manchmal ein lukratives Geschäft zu machen verstanden. Dabei handelte es sich in der Mehrheit um (ehemalige) Angehörige der imperialen Armee, in einzelnen Fällen auch um Vertreter der islamischen Geist­lichkeit.39 Im nordöst­lichen Teil des Kaukasus

35 Bobrovnikov, Muchadžirstvo v „demografičeskich vojnach“ Rossii i Turcii. 36 Ebd. 37 Siehe dazu auch das 4. Kapitel in ­diesem Buch. 38 Bobrovnikov, Muchadžirstvo v „demografičeskich vojnach“ Rossii i Turcii; Belozërov, ­Ėntničeskaja karta, S. 21 – 53. 39 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 165 – 166.

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kann als besonders eindrück­liches Beispiel der Fall des Generals Musa ­Kunduchov dienen, der um 1818/20 im Bezirk Tagaurija in Nordossetien geboren wurde und aus einer wohlhabenden muslimischen Familie aus dem Adelsgeschlecht der Alchasta stammte.40 Kunduchov diente zunächst in der imperialen Armee und beteiligte sich aktiv an den Kriegen Russlands gegen die Nordkaukasusvölker und die Osmanen. 1865 nahm sein Leben eine jähe Wende. Er trat aus der Armee aus und organisierte die Auswanderung von rund 5000 nordkauka­sischen (in der Mehrheit tsche­tschenischen) Familien ins Osmanische Reich, wo er sich mit seiner ganzen Familie auch selbst niederließ. Das Schicksal Kunduchovs, der seine Zeit im Dienst der Zarenarmee und seine Beteiligung am muchadžirstvo in Memoiren aufzeichnete,41 ist auch deshalb besonders illustrativ, weil an d ­ iesem Beispiel nicht nur die schwierige S ­ ituation innerhalb der neu eroberten Gebiete des Nordkaukasus (nament­lich in den Bergregionen Tsche­tscheniens) sowie die damaligen imperialen Herrschaftspraxen im

40 Zum Geburtsjahr finden sich unterschied­liche Angaben. A­lichan Kantemir (1886 – 1963), der sich auf Gespräche mit dem Sohn Kunduchovs, Bekir-Sami Kunduch (1865 – 1933) stützt, gibt in ­seiner Kurzbiographie zu Kunduchov das Jahr 1818 als Geburtsjahr an: A. Kantemir, Musa Paša ­Kunduchov (biografija i dejatelʼnostʼ), in: Kavkaz 28 (1936) H. 4, S. 13 – 19, hier S. 13. Zurab Avališvili dagegen glaubt, dass Kunduchov im Jahr 1820 geboren sei, und stützt sich dabei auf die Memoiren Kunduchovs: Z. Avališvili, O vospominanijach Musa-Paši Kunduchova, in: Kavkaz 44 (1937) H. 8, S. 11 – 17, hier S. 11. 41 Diese Memoiren, die Kunduchov gegen Ende seines Lebens im Osmanischen Reich verfasst hat, wurden erstmals in der von der kauka­sischen Emigration in Paris herausge­geben ­rus­sischsprachigen Zeitschrift Kavkaz (Le Caucase) publiziert, der sie der Neffe Kunduchovs, Ševchet Kunduch (Chevket Koundoukh), übergeben hatte. Die Memoiren erschienen in kommentierter Form, ergänzt mit weiteren Dokumenten, einer kurzen Biographie (von A­lichan Kantemir) und einem Nachwort (von Zurab Avališvili), verteilt über mehrere Nummern in den Jahren 1936 und 1937 (Nr. 1/25, 2/26, 3/27, 4/28, 5/29, 8/32, 10/34, 11/35, 12/36 im Jahr 1936; Nr. 3/39, 5/41, 7/43, 8/44, 10/46 im Jahr 1937). Die ersten drei Teile der Memoiren wurden in einer eng­lischen Übersetzung 1938 in der Zeitschrift The Caucasus Quarterly publiziert. In der Sowjetunion blieben seine Memoiren jedoch unveröffent­licht und kaum jemand wusste von deren Existenz. Der ossetisch-stämmige Historiker Vladimir Degoev schreibt, dass er K ­ unduchovs Memoiren in der Originalversion im Archiv der Hoover Institution 1993 zufällig entdeckt habe: Vladimir Degoev, General Mussa Kunduchov. Istorija odnoj illjuzii, in: Zvezda (2003) H. 11, S. 151 – 162, hier S. 161. Eine vollständige rus­sische Version erschien danach (zusammen mit weiteren Dokumenten) erstmals in der wenig bekannten Zeitschrift Darʼjal (Nr. 4, 1994 und Nr. 1 – 2, 1995), die vom Schriftstellerverband der Republik Nordossetien in Vladikavkaz herausgegeben wird. Diese sind in der vollständigen Version online verfügbar unter: Mussa K ­ unduchov. Memuary, in: Darʼjal [ohne Datum und Nummer], ­http://biblio.darial-online.ru/text/Kunduhov/index_­rus. shtml [16.3.2012]. Erst die Publikation der Memoiren (allerdings in einer verkürzten Form) in der Zeitschrift Zvezda im Jahr 2001 verschaffte Musa Kunduchov größere Bekanntheit: Memuary Generala Musa-Paši Kunduchova (1837 – 1865), in: Zvezda (2001) H. 8, S. 100 – 123. Im Folgenden wird aus der ursprüng­lichen Fassung der Erstveröffent­lichung der Memoiren aus der Zeitschrift Kavkaz zitiert.

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Abb. 3: Musa Kunduchov. Aufnahme undatiert.

Kaukasus, sondern auch die Fluidität imperialer Identitäten in ethnisch g­ emischten Grenzregionen deut­lich gemacht werden können.42 Wie viele andere Söhne aus kauka­sischen Adelsgeschlechtern wurde auch der ossetisch-stämmige Kunduchov zur Ausbildung an eine imperiale Bildungsstätte außerhalb seiner Heimat gesandt. Noch General Ermolov hatte während seiner Amtszeit im Kaukasus den Adelsfamilien des Bezirks Tagaurija die Mög­lichkeit eröffnet, ihre Kinder zur Ausbildung nach Tiflis an das orthodoxe Seminar zu ­schicken. Allerdings hielt diese Verbindung nicht lange. Denn als bei Abschluss der Ausbildung in Tiflis den jungen Muslimen aus Nordossetien der Übertritt zum Christentum nahegelegt wurde, verboten die Vertreter der Aristokratie aus ­Tagaurija fortan, ­Kinder an diese Bildungseinrichtung zu entsenden.43 Im Alter von zwölf Jahren wurde Musa 42 Zu Kunduchov sind unterdessen eine Reihe von rus­sischsprachigen Arbeiten erschienen, die sich nicht nur auf dessen Memoiren stützen, sondern weitere Dokumente aus Regional- und Z ­ entralarchiven einbeziehen: Degoev, General Mussa Kunduchov; ders., O Muse Kunduchove i ne tolʼko o nёm, in: Darʼjal (1994) H. 4, http://biblio.darial-online.ru/text/Degoev/index_rus.shtml [11.1.2013]; A. A. Ganič, Na službe dvuch imperij. Žiznʼ generala Musy Kunduchova, in: Vostok (Oriens) (2008) H. 4, S. 109 – 120; D. I. Olejnikov, Čelovek na razlome kulʼtur. Osobennosti psichologii russkogo oficera-gorca v period Bolʼšoj Kavkazskoj vojny, in: Zvezda (2001) H. 8, S. 95 – 99. 43 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava devjataja, in: Kavkaz 36 (1936) H. 12, S. 31 – 36, hier S. 34.

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Kunduchov denn auch nicht mehr nach Tiflis, sondern nach St. Petersburg an die prestigeträchtige Pavlovsker Militärschule geschickt. Nach einer sechsjährigen Ausbildung verließ er diese, um danach in das Kauka­sische Armeekorps (Otdelʼnyj Kavkazskij korpus) einzutreten, wo er eine steile militärische Karriere machte.44 Wie groß das Vertrauen der rus­sischen Armeeführung in K ­ unduchov war, zeigte sich im Jahr 1848, als er auf Geheiß General Voroncovs, der von 1844 bis 1853 als Statthalter im Kaukasus waltete, mit einer wichtigen diplomatischen Mission betraut wurde: Er sollte Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Imam Šamil aufnehmen, der den rus­sischen Truppen zuvor bittere Niederlagen zugefügt hatte. Die Gespräche, die Kunduchov über zwei Naibe Šamils führte, die er persön­lich kannte, erzielten allerdings nicht das gewünschte Ergebnis, wofür Kunduchov in seinen Memoiren den Imam verantwort­lich macht.45 Dass mit Kunduchov ein Muslim aus dem Nordkaukasus Verbindungen zu Vertretern des Šamil-Staates unterhielt, stieß in den Reihen der Armee nicht nur auf Wohlwollen. Als Kunduchov nach einem rund dreijährigen Einsatz in Polen 1852 wieder in den Kaukasus zurückkehrte, sah er sich seitens einiger Angehöriger der Armeeführung mit Anschuldigungen konfrontiert, im Geheimen weiterhin Kontakte mit Russlands Feinden zu pflegen. Dieses Misstrauen, das rus­sische Offiziere den aus den Reihen der einheimischen Bevölkerung rekrutierten Armeeangehörigen entgegenbrachten, war im Kaukasus keine Seltenheit. Im Fall Kunduchovs nährte sich das Misstrauen auch aus dem Umstand, dass zwei seiner Brüder, Chadži-Murza und Chasbulat, zu Šamil übergelaufen waren. Hatte sich Chadži-Murza bereits 1843 Šamil angeschlossen (und wurde er 1844 im Kampf mit rus­sischen Verbänden ge­­ tötet),46 so trat Chasbulat erst 1851 in dessen Dienste und wurde vom Imam sogleich zum Naib über einen Teil Tsche­tscheniens ernannt. Sein Übertritt ist vermut­lich in Zusammenhang mit dem Unmut seitens der ossetischen Aristokratie über ein neues imperiales Gesetz zu sehen, das ihre herkömm­lichen Landrechte beschnitt.47 Musa Kunduchovs militärischer Aufstieg hielt indes ungeachtet an: Er beteiligte sich am Krimkrieg (1853 – 1856), wo er eine aus Angehörigen nordkauka­sischer Völker zusammengesetzte Reiterabteilung gegen das Osmanische Reich befehligte. Nach Beendigung des Kriegs stieg er nicht nur erneut in der militärischen Rang­ordnung auf, sondern es wurden ihm erstmals auch Verwaltungsaufgaben

44 Kantemir, Musa Paša Kunduchov, S. 13. 45 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava tretʼja, in: Kavkaz 27 (1936) H. 3, S. 14 – 18, hier S. 17 – 18; Kantemir, Musa Paša Kunduchov, S. 15. 46 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava vtoraja, in: Kavkaz 26 (1936) H. 2, S. 13 – 19, hier S. 19. 47 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava četvertaja, in: Kavkaz 28 (1936) H. 4, S. 19 – 23, hier S. 22 – 23; Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 112.

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im Kaukasus übertragen. Fürst Barjatinskij ernannte ihn 1857 zum Vorsteher des Militärbezirks Vladikavkaz – ein Amt, das Kunduchov bis 1859 ausübte.48 Seine Beförderung muss bei einigen seiner rus­sischen Kameraden erneut für Unmut gesorgt haben. Im Korps zirkulierten Gerüchte, wonach Kunduchov seine Position dazu ­nutzen würde, antirus­sische Propaganda zu verbreiten und einen Aufstand der Nordkaukasusvölker gegen Russland vorzubereiten. Aus den Dokumenten jener Zeit geht aber auch hervor, dass es wiederum nicht allen passte, dass mit Kunduchov ein Muslim die Verwaltungsgeschäfte in ­diesem vornehm­lich von Osseten besiedelten Bezirk anführte, zumal ein großer Teil der bäuer­lichen ossetischen Gesellschaft christ­lich war und Kunduchov sich dezidiert gegen Missionierungsversuche der orthodoxen ­Kirche stellte.49 Kunduchov jedoch trat mit Eifer an seine neue Aufgabe heran. Hier nun erkannte er die Mög­lichkeit, zum Wohl der Bevölkerung zu wirken und sie auf die imperiale Moderne vorzubereiten. So mindestens hält er dies in seinen Memoiren fest: (…) [I]ch war über meine Ernennung sehr erfreut. Dies gab mir die Mög­lichkeit, einen schon seit langer Zeit gehegten aufrichtigen Wunsch umzusetzen: näm­lich die Sitten zu beseitigen, die dem Volk aus der Barbarenzeit erhalten geblieben waren und die seinen Wohlstand schädigen, ständige Feindschaft schüren und ein fried­liches Zusammen­leben, an der das Glück des Volks hängt, verhindern. Da­­rüber hinaus habe ich kleinere Aule in größere [Einheiten] zusammengefasst und, wo dies mög­lich war, auch Gärten an­­legen lassen. Ich habe in einigen Aulen Schulen errichten lassen, um Lesen und Schreiben zu vermitteln. (…) [Ich schaffte] einige landwirtschaft­liche Geräte an und ließ Land umpflügen. Mit einem Wort: Ich habe all meine Bemühungen und Fähigkeiten darauf gerichtet, dem Volk wenigstens ein bisschen aufzuzeigen, wie sie die reichen Gaben der Natur n­ utzen können; dagegen hatte es kein einziger rus­sischer Verwalter bislang für nötig befunden, die Aufmerksamkeit des Volks darauf zu richten, obwohl die [­rus­sische] Führungsspitze auf dem Papier dies wünschte und dies [von den rus­sischen Verwaltern] sogar forderte.50

Als Träger imperialen Gedankenguts sah er sich berufen und legitimiert, den Völkern die Zivilisierungsmission näherzubringen und sie als Untertanen des Zaren auf ihre Pflichten gegenüber dem Imperium und den imperialen Gesetzen hinzuweisen. Bräuche wie Blutrache oder Brautgeld ließ er verbieten. Gehorsam vor den Gesetzen des Reichs war ihm wichtig und Vergehen ahndete er aufs Schärfste. 48 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava pjataja, in: Kavkaz 29 (1936) H. 5, S. 20 – 25, hier S. 22. 49 Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 112 – 114. 50 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava pjataja, S. 22.

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Auch wenn es ihm in seiner kurzen Amtszeit nicht gelang, diejenigen Traditionen der Gesellschaft zu beseitigen, die er als schäd­lich ansah, so muss Kunduchov bei der Bevölkerung seines Verwaltungsbezirks großes Ansehen genossen haben. Und dass es ihm gelang, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, anerkannte offenbar auch die Armeeführung vorbehaltlos an.51 Wenn sich Kunduchov in seinen Memoiren als Mittler zwischen den ­Welten porträtiert, dann bedeutete dies nicht, dass er als Angehöriger der Muslime ­Tagauriens nicht selbst in das Spannungsfeld zwischen imperialem und t­ raditionellem Recht geraten konnte. Dies macht der Fall des Tsche­tschenen Becho deut­lich, den ­Kunduchov 1845 auf offener Straße in Vladikavkaz aus Rache dafür erschoss, dass dieser 15 Jahre zuvor drei seiner entfernten Verwandten getötet hatte. Dass sich Becho mit seinen Anhängern überhaupt nach ­Vladikavkaz und damit in die Nähe der Tagaurier wagte, wo er sich zuvor aus Angst vor einer Blutrache nicht hatte blicken lassen, hatte damit zu tun, dass er sich von Šamil losgesagt und sich und seine Gemeinschaft Russland unterworfen hatte. Die Tatsache, dass Graf Voroncov, der damalige Statthalter im Kaukasus, diese Unterwerfung akzeptierte, musste Kunduchov sauer aufgestoßen sein, denn in seinen ­Memoiren bezeichnet er Becho als Verräter, dem „nichts heilig“ sei und der aus opportunistischen Gründen schon mehrmals die Seiten gewechselt habe. Noch mehr muss ihn aber geärgert haben, dass Becho der Ansicht war, vom bestehenden Gewohnheitsrecht nicht mehr belangt werden zu können, weil er sich nach seiner Unterwerfung durch das imperiale Recht geschützt und in Sicherheit wähnte. Auch zeigte K ­ unduchov kein Verständnis dafür, dass Becho es nicht einmal für nötig gehalten hatte, sich mit den Hinterbliebenen der von ihm getöteten Tagaurier zu treffen. Deshalb sah er es als sein Recht und seine Pflicht an, Becho zu töten. Dass er dabei selbst dem Gewohnheitsrecht Vorrang vor imperialem Recht gab, störte ihn in d­ iesem Fall offenbar nicht im Geringsten. Im Gegenteil vermochte er den für den Militärbezirk Vladikavkaz zuständigen Kommandanten, General Pëtr Petrovič Nestorov (1802 – 1854), davon zu überzeugen, dass die Anwendung des Gewohnheitsrechts der Erhaltung des Friedens dien­lich gewesen sei, weil es für einen Ausgleich unter den Tsche­tschenen und Tagauriern gesorgt habe. Seine Verurteilung würde deshalb von den Tagauriern als Beleidigung empfunden werden, zumal sie einen höheren Blutzoll gezahlt hätten als die Tsche­tschenen. Entsprechend sah Nestorov von einer Bestrafung Kunduchovs ab.52

51 Ebd., S. 22 – 23; Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 114. 52 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava tretʼja, S. 15 – 16.

Kunduchov und die Tschetschenen

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3. 3   Ku nd u chov u nd d ie Ts che ­t s che ne n Nach der Kapitulation Šamils 1859 erhielt Kunduchov eine neue, weit herausforderndere Aufgabe zugesprochen: Er wurde 1860 im Rang eines Generalmajors zum Vorsteher des tsche­tschenischen Verwaltungsbezirks ernannt. Seine Verlegung begründet er in seinen Memoiren damit, dass es in den Bergen Tsche­tscheniens erneut zu Aufständen und Kämpfen gekommen sei und „[er] deshalb leider (…) den Ossetischen Bezirk und alles, was [er] dort zu bewirken begonnen hatte, [verlassen musste]“.53 Kunduchovs Mission in Tsche­tschenien begann zunächst damit, gegen die aufständischen Zentren vorzugehen, um eine endgültige Befriedung des Gebiets zu erreichen. Betroffen waren nament­lich die Bezirke Ičkerskij und Argunskij, wo sich die Aufständischen um Führungsfiguren wie Bajsungur (Benoevskij), Atabaev und Uma Duev scharten, die zuvor alle unter Šamil gedient hatten.54 Bei diesen Aufständen handelte es sich im Wesent­lichen um eine Fortsetzung des Widerstands von Tsche­tschenen, die es 1859 abgelehnt hatten, sich den Russen zu unterwerfen. In ­diesem Sinn erklärte etwa der Sohn Šamils, Gazi Muhammad, gegenüber seinem rus­sischen Gesprächspartner im Exil von Kaluga, dass die Gründe für den Aufstand unter Bajsungur, einem ehemaligen Naib Šamils aus der Ortschaft Benoj, darin zu sehen waren, dass jener es zusammen mit einer kleinen Zahl von Kämpfern nach der Kapitulation Šamils vorgezogen hatte, weiterzukämpfen und eher zu sterben, als sich den Russen zu ergeben. Als die rus­sischen Machthaber den Einwohnern Benojs die Aussiedlung für den Fall androhten, dass sie ihnen bei der Habhaft­ werdung Bajsungurs nicht helfen würden, da erhoben sich auch die Einwohner Benojs und schlossen sich den Rebellen an.55 Unter dem Kommando des damaligen Oberkommandierenden des Terek-­Gebiets, General Evdokimov, gelang es zwar, die Aufständischen im Sommer 1860 zu ­schlagen, doch bereits im Oktober organisierten sich die Rebellen neu und abermals zog das rus­sische Militär aus, um diese zu bekämpfen.56 An den Erhebungen

53 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava pjataja, S. 23. 54 Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 666, 687 ff. 55 Angesprochen auf die Ursachen für den Aufstand wies im selben Gespräch Imam Šamil darauf hin, dass die Androhung einer Aussiedlung auch deshalb jeweils großen Unmut bei den Tsche­ tschenen hervorrufen würde, weil sie die Gräber ihrer Ahnen nicht verlassen wollten: Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 1454. Zu den Aufständen in Benoj und Argunskij 1860/61: Š. A. Gapurov / A. V. Bakašov, Vosstanie v Ičkerinskom okruge Čečni v 1860 – 1861 gg. (Benojskoe ­vosstanie), in: Vestnik Akademii nauk Čečenskoj Respubliki 12 (2010) H. 1, S. 109 – 116; dies., Vosstanie v Argunskom okruge v 1860 – 1861 gg., in: Vestnik Akademii nauk Čečenskoj Respubliki 13 (2010) H. 2, S. 85 – 95. 56 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 138.

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beteiligten sich auf tsche­tschenischer Seite zwar verhältnismäßig wenige K ­ ämpfer.57 Dennoch war es für die rus­sische Besatzungsmacht keine leichte Aufgabe, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen, weil die Rebellen sich schnell verschoben und Erhebungen an verschiedenen Orten gleichzeitig ausbrachen. Um der Aufstän­ dischen habhaft werden zu können und zu verhindern, dass die Bewohner der Aule sich gegenseitig unterstützten, war die rus­sische Armee gezwungen, gleichzeitig an verschiedenen Orten zu wirken und damit auch ihre militärischen Kräfte auf­ zuteilen. Zudem musste der Herbst abgewartet werden, um die Rebellen, die in den dichten Laubwäldern Unterschlupf fanden, ausfindig machen zu können. So zogen sich die Kämpfe über Monate hin und involvierten eine große Zahl von Soldaten.58 Kunduchov war von Anfang an in diese Kämpfe involviert. Als der Ossete seine Truppen im Herbst 1860 gegen die Gruppierung um den tsche­tschenischen Widerstandskämpfer Atabaev (in den Quellen auch „Atabaj Atavov“ oder „Atabi Ataev“) ins Feld führte, befand sich darunter auch eine 500 Mann starke tsche­tschenische Miliz.59 Folgt man den rus­sischen Militärberichten aus jener Zeit, so war es nament­lich die Präsenz der unter Kunduchov dienenden Tsche­tschenen, die viele Kämpfer Atabaevs dazu bewog, die Waffen niederzulegen.60 Auch soll es mit Hilfe Kunduchovs zuvor gelungen sein, den in der Ebene siedelnden Tsche­tschenen sowie den Bewohnern des Bezirks Ičkerskij einen Schwur abzunehmen, wodurch sich die Bewohner verpflichteten, die Aufständischen nicht zu unterstützen. Eine Ausweitung des Aufstands ließ sich so unterbinden.61 Atabaev stellte sich schließ­lich, als seine Lage aussichtslos wurde.62 Dennoch konnte auch Kunduchov nicht verhindern, dass die Militäraktion nach Atabaevs Verhaftung äußerst blutig verlief. Weil sich nicht alle Anhänger Atabaevs ergeben wollten, zogen sich die Kämpfe noch über zweieinhalb Wochen hin, w ­ orauf gemäß rus­sischen Quellen „200 Abreken (…) bis auf den letzten Mann“ vernichtet wurden und damit die gesamte Gruppe um Atabaev zerschlagen wurde.63 Danach ließen die Sieger zahlreiche tsche­tschenische Aule, darunter die Ortschaft Benoj, dem Erdboden gleichmachen und Hunderte von Familien von den Bergen in die Ebene umsiedeln. Die wichtigsten Anführer der Tsche­tschenen, nebst Atabaev waren dies Uma Duev und Sultan-Murad, verbannte die rus­sische Führung ins Exil nach Zentralrussland. Die andere zentrale Figur des Widerstands, Bajsungur, wurde



57 Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 666. 58 Ebd., S. 1220. 59 Ebd., S. 1220 – 1223, hier S. 1220. 60 Die Quellen sprechen von bis zu 200 tschetschenischen Aufständischen, die verhaftet wurden oder sich freiwillig ergaben: Ebd., S. 1247, 1250. 61 Ebd., S. 1249. 62 Ebd., S. 1250. 63 Ebd.

Kunduchov und die Tschetschenen

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dagegen hingerichtet, was seinen Status als Freiheitsheld in der Erinnerungskultur der Tsche­tschenen in der Folge aber nur erhöhte.64 Über seine militärischen Unternehmungen in Tsche­tschenien schweigt sich Kunduchov in seinen Memoiren aus. Dagegen rückt der Ossete wiederum seine Mittlerfunktion in den Vordergrund und weist auf seine Rolle als Friedensstifter hin: Nachdem ich die Verwaltung des tsche­tschenischen Bezirks übernommen hatte, verlor ich keine Zeit und fing an, alle Aule zu bereisen, wo sowohl die Geist­lichkeit als auch die Bewohner aus allen Aulen mir offen ihre Beschwerden und ihren Unmut bezüg­lich der Bezirksverwaltung und [ihre Ängste] mit Blick auf die Zukunft vorbrachten. Mit Gottes Hilfe gelang es mir, einen weiteren unnötigen und zerstörerischen Krieg abzuwenden. Es war mir mög­lich, sowohl die Tsche­tschenen, die bereit waren, einen Krieg zu beginnen, als auch die Armee zu beruhigen; ich ging daran, die Armeespitzen davon zu überzeugen, dass es unumgäng­lich sei, die Tsche­tschenen davon zu unterrichten, was sie von der rus­ sischen Führung für die Zukunft zu erwarten hätten; ohne dies würden alle Maßnahmen und Bemühungen, die angestrebte Beruhigung zu erwirken, keine Resultate zeitigen.65

Dieser Darstellung zufolge war es somit nament­lich Kunduchovs ­Bemühungen zuzuschreiben, dass Fürst Barjatinskij 1860 die „Proklamation an das tsche­tschenische Volk“ verkündete, in der dieser den Tsche­tschenen versprach, dass sie ihre Religion und ihre lokalen Rechtstraditionen frei ausüben dürften und dass ihr Landbesitz, die Volksgerichte, der Handel und die Ausübung ihres Handwerks nicht angetastet würden.66 Es war im Geiste dieser Bestimmungen, dass Kunduchov mit den tsche­tschenischen Ältesten Gespräche führte, um sie dazu zu bewegen, ihren Widerstand aufzugeben und sich den imperialen Bestimmungen zu fügen. In seinen Memoiren liest sich dazu: Nachdem den Tsche­tschenen der Akt [Barjatinskijs] präsentiert worden war, war es mir mög­lich, schnell und ohne große Opfer die vollständige Beruhigung der Lage nicht nur in Tsche­tschenien zu bewirken, sondern sogar in Šatoj und in ­Ičkerien, wohin ich mit meinen Truppen ritt, und alle, die sich zuvor nicht unterwerfen wollten und sich in den Wäldern versteckt hielten, in die Ebene umzusiedeln und in große Aule einzugliedern,

64 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 138. Unter ­Umständen war es die Hinrichtung Bajsungurs, die es der neueren tsche­tschenischen Geschichtsschreibung erlaubt hat, ihn zum Nationalhelden emporzustilisieren. Dabei sollte Bajsungur bewusst auch ­Šamil gegenübergestellt werden, da er sich nicht wie jener den Russen ergeben, sondern bis zu seinem Tod weiter gekämpft hatte. Bajsungur wurde zum Symbol eines spezifisch tsche­tschenischen Widerstandes, der die von der späteren Geschichtsschreibung als Schmach empfundene Kapi­tulation Šamils zu überwinden suchte. Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 70. 65 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava pjataja, S. 23. 66 Proklamacija knjazja Glavnokomandujuščego Kavkazskoj armiej, S. 135 – 136.

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so dass es 1861 im ganzen Kreis [gemeint ist der Nordkaukasus], außer dem linken Flügel [gemeint sind die von Tscherkessen bewohnten Gebiete] keinen einzigen noch nicht unterworfenen Menschen mehr gab.67

Kunduchov war vielleicht tatsäch­lich um die Schaffung eines dauerhaften ­Friedens in Tsche­tschenien bemüht. Bereits der Umstand, dass es ihm gelang, den Tsche­ tschenen der Ebene im Vorfeld der Militäraktion vom Herbst 1860 einen Eid abzunehmen, deutet darauf hin. Das hielt ihn aber nicht davon ab, mit großer Härte gegen die Aufständischen vorzugehen, wie die Quellen belegen. Auch bei der Umsiedlungsaktion, die er in seinen Memoiren nur kurz streift, handelte es sich um eine äußerst harsche Anordnung. Gemäß rus­sischen Dokumenten ließ ­Kunduchov 177 Familien von den Bergen in die Ebene umsiedeln.68 Dass diese Umsiedlung mitten im Winter durchgeführt wurde, bezeichnete selbst ein zeitgenös­sischer ­rus­sischer Berichterstatter als „harte Maßnahme“ (mera žestokaja), die er aufgrund der besonderen Kriegssituation aber als gerechtfertigt ansah.69 Allerdings kehrte in Tsche­tschenien auch nach der Niederwerfung der Aufstände der frühen 1860er-Jahre keine nachhaltige Beruhigung ein. Aufgeheizt wurde das Klima gegenseitigen Misstrauens und Argwohns durch die zum Teil harsche Religions­politik der rus­sischen Verwalter, die sich durch eine Tendenz zur ­Islamophobie auszeichnete. Geprägt von den Erfahrungen des Kriegs gegen Imam Šamil sahen die Russen in der Scharia oder den sufistischen Traditionen Ausprägungen eines „islamischen Fanatismus“ und suchten alle Erscheinungen, die sie als ­solche deuteten, zu bekämpfen. Dabei unterschieden sie oft kaum zwischen den verschiedenen sufistischen Bruderschaften und deren geistigen Grundlagen. Ironischerweise machten sich die Russen zu Anfang der 1860er Jahre genau jene Bewegung zum Feind, die sich im Gegensatz zur Naqšbandiyya während der Kaukasuskriege ausdrück­lich gegen bewaffneten Widerstand und für ein fried­liches Leben unter rus­sischer Herrschaft ausgesprochen hatte: den vom tsche­tschenischen Scheich Kunta-Chadži Kišiev (wörtl. Sohn des Kiši) angeführten Sufi-Orden der Qādiriyya.70 Nach der Niederlage Šamils breitete sich der Orden der Qādiriyya unter der charismatischen Führung von Kunta-Chadži schnell aus.71 Im Gegensatz zur N ­ aqšbandiyya

67 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova. Glava pjataja, S. 25. 68 Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 1221. 69 Ebd., S. 1222. 70 Zu Kunta-Chadži und zur Qādiriyya: Moshe Gammer, The Qadiriyya in the North Caucasus, in: Journal of the History of Sufism 1 – 2 (2000), S. 275 – 294; ders., The Lone Wolf and the Bear, S. 73 – 83; Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 290 – 296. 71 Bei der Qādiriyya handelt es sich um eine der ältesten islamisch-mystischen Sufi-­Bruderschaften. Begründet wurde sie vom per­sischen Mystiker ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (1088 – 1166). Ob der Orden tatsäch­lich erst im 19. Jahrhundert in den Kaukasus gelangte, wie die west­liche Forschung behauptet,

Kunduchov und die Tschetschenen

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vertrat der Scheich eine quietistische Lehre, die eher das indi­viduelle als das kommunale Heil betonte und die Muslime zur Abkehr von welt­lichen Angelegenheiten, zum Gebet und zu mora­lischer Läuterung aufrief. Auch unter ­rus­sischer Fremdherrschaft war es somit mög­lich, ein guter Muslim zu sein, solange es gelang, sich von den Besatzern inner­lich zu distanzieren – eine Botschaft, die bei einer ausgelaugten und kriegsmüden Bevölkerung Anfang der 1860er-Jahre auf große Resonanz stieß. Auch in ritueller Hinsicht gab es Abgrenzungen zu den Lehren und Praktiken der Naqšbandiyya. Das äußerte sich vor allem im lauten „Dhikr“ (arab. ḏikr, oft auch „Zikr“ genannt, was wört­lich „Gedenken an Gott“ heißt), wobei die Menschen durch Singen und rhythmische (Tanz-)Bewegungen Gott anbeteten. Die Naqšbandiyya kannte zwar den lauten Dhikr ebenfalls, verbreiteter war aber die stille Anbetung.72 Suchten die rus­sischen Administratoren im Krieg gegen Šamil die alternative Lehre Kunta-Chadžis noch zu stützen, so standen sie ihr nach dem Krieg feind­ lich gegenüber, weil sie in ihr Potenzial für eine religiöse Einigungsbewegung sahen. Zwar waren sich die zaristischen Verwalter der Gefahr bewusst, dass harte Unter­drückung einer Vereinigungsbewegung und einem neuen Krieg Vorschub leisten könnte. Sie suchten Kunta-Chadži anfäng­lich durch die Stützung gegne­ rischer Mullahs und politischer Kräfte zu schwächen.73 Allerdings erschienen ihnen die „Zikristen“, wie die Russen die Anhänger der Qādiriyya gemeinhin nannten, letzt­lich als zu gefähr­lich. Kunta-Chadžis Popularität nahm trotz gegenteiliger Anstrengungen ständig zu. Rus­sische zeitgenös­sische Beobachter wollten in der Bewegung gar die Anfänge eines hierarchisch organisierten Untergrundstaates erkennen, dem Kunta-Chadži als Imam vorstand.74 Das Singen der Zikristen ­erinnerte die Russen an Kriegslieder, die Šamil und seine Krieger vor Attacken anzustimmen gepflegt hatten.75 Schließ­lich wurden Anfang 1864 ­Kunta-Chadži, sein Bruder und einige seiner Anhänger in einer Überraschungsaktion festgenommen und über Groznyj und Vladikavkaz nach Novočerkassk überführt, von wo sie nach sechs Monaten Arbeitslager in ein Gefängnis bei der Stadt Ustjužkino im Gouvernement N ­ ovgorod transferiert wurden. Auf die großen Un­­ruhen, ­welche die Nachricht von der Verhaftung Kunta-Chadžis auslöste, reagierte die rus­ sische Kolonialmacht mit einer Verhaftungswelle unter seinen Mjuriden. Die





ist allerdings unklar. Diesen Hinweis macht: Sidorko, Die Naqšbandiyya im nordöst­lichen Kaukasus, S. 645 (Anmerkung 56). 72 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 75 – 76. 73 Z. Ch. Ibragimova, Čečnja posle Kavkazskoj vojny (1863 – 1875 gg.). Po archivnym istočnikam, Moskva 2000, S. 87; Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 76; Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 141. 74 A. Ippolitov, Učenia „zikrʼ“ i ego posledoveteli v Čečne i Argunskom okruge, in: Sbornik svedenij o Kavkazskich gorcach. Vypusk II, Tiflis 1869, S. 1 – 17, hier S. 3. 75 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 141.

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Praxis des Zikr wurde unter Strafe gestellt. Nach drei Jahren Gefangenschaft unter härtesten Bedingungen starb ­Kunta-Chadži im rus­sischen Exil am 31. Mai 1867.76 Die ­Qādiriyya war damit jedoch nicht ausgeschaltet. Sie nahm nun nebst der ­Naqšbandiyya endgültig einen festen Platz in der tsche­tschenischen Gesellschaft ein. Dabei erhielt der Sufi-Orden in späteren Jahren noch deshalb zusätz­ lich Zulauf, weil sich hartnäckig Gerüchte hielten, dass Kunta-Chadži noch am Leben sei und bald zurückkehren werde, um die Bevölkerung zu befreien. Jedenfalls muss diese Situation die Tätigkeit Kunduchovs in Tsche­tschenien enorm erschwert haben. Kunduchov gehörte „als Soldat“, so schreibt er im Vorwort zu seinen Memoiren, „dem Zaren“, doch „als Mensch [könne er] nicht anders als auch dem Volk anzugehören“.77 Dieses Spannungsfeld musste für ihn im Laufe seiner Amtszeit in Tsche­tschenien aber zunehmend schwieriger zu überbrücken gewesen sein, was mit seiner wachsenden Unzufriedenheit über die rus­sische Politik im Nordkaukasus zu tun hatte. Am 25. August 1863 schickte Kunduchov dem Leiter des rus­sischen Generalstabs im Kaukasus, General Aleksandr Petrovič Karcov (1817 – 1877), den er seit seiner Jugendzeit kannte, einen Brief, in dem er auf Missstände in Tsche­tschenien hinwies und den Generalstab aufforderte, die gegenwärtige Politik zu überdenken: Während meiner Amtszeit [in Tsche­tschenien] ist es mir geglückt, die Ruhe [spokojstve] wiederherzustellen; im gesamten Gebiet habe ich nicht einen einzigen Abreken übrig­ gelassen. Leider ist es mir aber nicht gelungen, die Eingeborenen [tuzemcy] vom Wichtigsten überhaupt zu überzeugen, näm­lich davon, dass der Staat nicht danach trachtet, sie zu vernichten. Doch die Willkürherrschaft der Kosaken, die Tatsache, dass diese den Eingeborenen jedes Recht verweigern, die ständigen Konflikte zwischen [­Kosaken und Eingeborenen], die mehrheit­lich wegen Land ausgetragen werden, hat nicht nur Feindschaft und Hass zwischen diesen [Volksgruppen] geschürt, sondern aufseiten der Bergler [gorcy] zur festen Überzeugung geführt, der Staat hege ihnen gegenüber keine wohlwollenden Absichten. In der Ernennung von Großfürst [Michail ­Nikolaevič] zum Statthalter [im Kaukasus] sehen die Bergler ein Anzeichen einer väter­lichen Fürsorge des Zaren, und nach der Reise seiner Majestät [Zar Alexander II.] durch das Gebiet des Terek [im September 1861] haben sie Glauben und Hoffnung auf Besserung erhalten. (…) [Wir] können und dürfen in dieser wichtigen Ange­legenheit nicht gleichgültig sein.78

76 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 77 – 78. 77 Memuary gen. Musa Paši Kunduchova (1837 – 1865). Predislovie, in: Kavkaz 25 (1936) H. 1, S. 12 – 13, hier S. 13. 78 Priloženija k memuaram gen. Musa-Paši Kunduchova, in: Kavkaz 44 (1937) H. 8, S. 24 – 29, hier S. 25.

Emigration und Folgen

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Kunduchov war vorsichtig genug, seinen Text nicht als offene Kritik am Führungsstab der Armee oder gar am Zaren aussehen zu lassen. Eine ­solche Kritik lag ihm auch in seinem Verständnis als Angehöriger der imperialen Armee fern. Die Probleme, die er ansprach, nament­lich die krasse Bevorzugung der Kosaken bei der Verteilung von Land und die schlechte Behandlung der n­ ord­kau­ka­sischen Völker, die der Willkür der ört­lichen Militärmachthaber ausgesetzt waren, führte K ­ unduchov auch in einem längeren Bericht im Detail aus, den er ursprüng­lich bereits am 25. März 1863 verfasst hatte und dem Brief an Karcov beifügte. In ­diesem sprach der ­ossetisch-stämmige Generalmajor vom schweren Los der Tsche­tschenen und beklagte gemeinhin die Situation der islamischen Völker des Nordkaukasus, die nach dem Ende des Kriegs gegen Šamil nicht nur unter zunehmender Landarmut, sondern auch ­Christia­nisierungsversuchen zu leiden hätten. Der L ­ esart ­Kunduchovs ent­sprechend waren dem Zwang, zum Christentum überzutreten, Anfang der 1860er-Jahre nicht nur die Osseten ausgesetzt, sondern etwa auch die Karabulaken (ein den Tsche­tschenen zugehöriges Volk, das im heutigen Inguschetien siedelte) oder die N ­ azraner (die bei der Ortschaft Nazran wohnhaften Inguschen). Während als Folge davon die Angehörigen von mehr als 300 ossetischen Höfen ins Osmanische Reich auswanderten (und viele völlig verarmt wieder zurückkehrten), sollen sich andere zum Teil „mit der Waffe in der Hand“ gewehrt haben.79

3.4  E m ig r at io n u nd Folge n Für Kunduchov nahmen die Entwicklungen damit einen Verlauf an, der auch ihn persön­lich vor Probleme stellen musste. Den zunehmenden Druck auf die Muslime, darunter auch die Adelsgeschlechter aus dem Bezirk Tagaurija, musste er auch als Druck auf seine eigene Person empfunden haben.80 Seine Zugehörigkeit zur imperialen Armee und seine Identität als Muslim waren anscheinend immer schwieriger miteinander zu vereinbaren. Auch seine Stellung als Verwalter Tsche­tscheniens 79 Der Bericht ist enthalten in: Ebd., S. 25 – 29. 80 Dass sich die Beziehungen zwischen muslimischen Osseten und den rus­sischen Eroberern nach der Kapitulation Šamils 1859 verschlechterten und eine allgemeine „Unruhe“ die einheimische Bevölkerung des Nordkaukasus erfasste, liest sich auch in den Berichten anderer Zeitzeugen, so etwa auch in den 1875 publizierten Erinnerungen von Inal Dudarovič Kanukov (1850/51 – 1899), der ebenfalls einem muslimisch-ossetischen Adelsgeschlecht angehörte. Der Vater Kanukovs diente, wie ­Kunduchov auch, in der imperialen Armee, verließ aber bereits 1860 mit seiner gesamten ­Familie den Nordkaukasus, um ins Osmanische Reich zu emigrieren. In der ostanato­lischen Provinz Kars, das als neues Siedlungsgebiet vorgesehen war, sah er aber keine Zukunft und kehrte nach kurzer Zeit mit seinen Familienangehörigen wieder in die Heimat zurück. Sein Bericht (datiert vom 8. ­September 1875) findet sich in: I. Kanukov, Gorcy-pereselency, in: Sbornik svedenij o Kavkazskich gorcach. Vypusk IX, Tiflis 1876, S. 84 – 112.

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wurde schwieriger. Die Tatsache, dass sich Russland nicht an die Versprechungen hielt, wie sie Barjatinskij in der Proklamation an die Tsche­tschenen von 1860 verkündet hatte, untergruben Kunduchovs eigene Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung, denn schließ­lich war er es, der mit den Tsche­tschenen auf der Basis ­dieses Rechtstextes Verhandlungen führte. Damit sah sich Kunduchov zunehmend machtlos in einer Situation, die er aus eigener Kraft kaum verändern konnte. In dieser Lage muss sich die Emigration Kunduchov nicht nur als Mög­lichkeit dargestellt haben, neuen Konflikten und Aufständen vorzubeugen, sondern auch als Ausweg aus einem persön­lichen Dilemma. Ursprüng­lich hatte Kunduchov vorgeschlagen, dass die Kosaken, w ­ elche die Armeeführung als Elemente der Herrschaftssicherung in den neu eroberten Gebieten ansiedeln ließ,81 ihre Siedlungen wieder räumen und das Land den Tsche­tschenen zurückgeben sollten.82 Doch zu d­ iesem Zeitpunkt diskutierte die rus­sische Politik gegenüber den Tsche­tschenen im Wesent­lichen nur über zwei Pläne: Entweder sollten alle Tsche­tschenen ihre Heimat verlassen und nörd­lich des Flusses Terek angesiedelt oder gar ins Osmanische Reich vertrieben werden, oder es sollten mindestens die Tsche­tschenen der Berggebiete in der Ebene der kleinen Kabarda neu angesiedelt werden, um Verbindungen zwischen Tsche­tschenen und Dagestanern zu unterbinden und damit auch die Mög­lichkeit großflächiger Aufstände ein für alle Mal zu verhindern.83 Beiden Varianten stand Kunduchov negativ gegenüber. In seinen Memoiren erklärt er diese Haltung damit, dass er glaubte, dass eine ­solche Umsiedlung, die sich nur im Rahmen einer großangelegten Militäroperation durchführen ließ, nicht nur einen neuen Aufstand in Tsche­tschenien nach sich ziehen, sondern den gesamten öst­ lichen Teil des Nordkaukasus in Aufruhr versetzen würde.84 Der armenisch-stämmige General der rus­sischen Armee, Graf Michail Tariėlovič Loris-Melikov (1825 – 1888), der zu d­ iesem Zeitpunkt das Oberkommando über die Streitkräfte des Terek-­Gebiets innehatte und ein vehementer Vertreter einer Umsiedlung der Tsche­tschenen war, soll Kunduchov in dieser Situation das Kommando über die Streitkräfte in Tsche­ tschenien angeboten haben, die für die Umsiedlung zusammengezogen werden sollten. Kunduchov jedoch lehnte diese ihm zweifelhaft erscheinende „Ehre“ mit der Begründung ab, dass

81 Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 667. 82 Bericht Kunduchovs, 25. März 1863, in: Priloženija k memuaram gen. Musa-Paši Kunduchova, S. 27 – 28. 83 Memuary gen. Musa-Paši Kunduchova. Glava sedʼmaja, in: Kavkaz 32 (1936) H. 8, S. 24 – 30; siehe auch die beiden Schreiben des Oberkommandierenden der Streitkräfte im Terek-Gebiet, Graf M. T. Loris-Melikov, vom 14. Juli 1863 und 7. Mai 1864, in: Dzagurov, Pereselenie gorcev, S. 13 – 18. 84 Memuary gen. Musa-Paši Kunduchova. Glava sedʼmaja, S. 24.

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(…) [er] noch nicht vor einem Jahr dem tsche­tschenischen Volk die Akte [­Barjatinskijs] vorgelegt [habe] und ihnen im Namen [seines] Monarchen ver­sicherte, dass alle Bestimmung auf Ewigkeit heilige Gültigkeit haben würde. Wenn seine Hoheit [der Statthalter im Kaukasus, Großfürst Michail Nikolajevič] [ihn] wirk­lich zum Kommandanten der Armeen für die tsche­tschenische Abteilung ernennen [wolle], dann gescheh[e] dies, so schein[e] [ihm], nur deshalb, weil [er] das Vertrauen des tsche­tschenischen Volks genieße und seine Hoheit, dem dieser Umstand wohl bewusst [sei], sich dadurch eine reibungslose Umsiedlung [der Tsche­tschenen] erhoff[e].85

Im Gegenzug stellte Kunduchov der Armeeführung sein eigenes Projekt vor, das vorsah, zusammen mit Teilen der muslimisch-stämmigen Osseten und Kabardinern nur diejenigen Tsche­tschenen ins Osmanische Reich umzusiedeln, die sich besonders unzufrieden mit der rus­sischen Herrschaft zeigten. Am 17. Mai 1864 bewilligte Zar Alexander II. Kunduchovs Projekt, und in enger Abstimmung mit der kauka­sischen Statthalterschaft bereitete der Generalmajor nun die Aussiedlung vor. Er reiste ins Osmanische Reich zu Verhandlungen und bekam eine Zusage der Hohen Pforte, 5000 Familien aus dem Nordkaukasus aufnehmen zu wollen.86 Die Verhandlungen mit den Tsche­tschenen selbst gestalteten sich dabei ungleich schwieriger. Dass es Kunduchov dennoch gelingen sollte, diese 1865 zur Auswanderung zu bewegen (insgesamt emigrierten schließ­lich über 23.000 Personen, mehrheit­lich Tsche­tschenen, ins Osmanische Reich), erklärt er in seinen Memoiren damit, dass er den Vertretern dieser Völker klarmachen konnte, dass für sie im Kaukasus keine Perspektiven bestehen würden und sie nur Armut und der Zwang, zum Christentum überzutreten, erwarten würde. Große Wirkung muss auch sein Versprechen erzielt haben, dass er zusammen mit ihnen die erste Gelegenheit n­ utzen würde, um mit Unterstützung der Osmanen „unseren Feind aus dem Kaukasus“ zu vertreiben.87 Tatsäch­lich setzte Kunduchov offenbar aber auch Bestechungsgelder im Umfang von rund 10.000 Rubel ein, um einflussreiche Persön­lichkeiten aufseiten der Tsche­tschenen für sein Anliegen zu gewinnen – ein Umstand, den er in seinen Memoiren unerwähnt lässt.88 Aus den Memoiren Kunduchovs lässt sich als Motiv für die Auswanderung keine Feindschaft mit dem rus­sischen Volk und auch nicht fundamentaler Argwohn gegenüber dem Zarenreich herauslesen, dem er ein halbes Leben lang gedient hatte.

85 Ebd., S. 25. 86 Siehe die Schreiben aus Konstantinopel von Musa Kunduchov an Loris Melikov vom 23. August 1864 und 7. Oktober 1864 sowie den Bericht von Loris-Melikov vom 15. November 1864 an den Statthalter im Kaukasus. Alle publiziert in: Dzagurov, Pereselenie gorcev v Turciju, S. 30 – 35. 87 Memuary gen. Musa-Paši Kunduchova. Glava sedʼmaja, S. 29. 88 Der Hinweis auf Bestechungsgelder findet sich in einem Schreiben von Loris-Melikov an Karcov vom 23. Januar 1865, enthalten in: Dzagurov, Pereselenie gorcev v Turciju, S. 46 – 47, hier S. 47.

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Vielmehr schien Kunduchovs Entscheid eine direkte Reaktion auf die repressiven Maßnahmen der Staatsmacht gegen die Völker des Kaukasus darzustellen – eine Politik, die aus seiner Sicht jeg­licher Rechtsgrundlage entbehrte. Dass er Tausende von Tsche­tschenen und Angehörige anderer Nordkaukasusvölker in eine neue ­Heimat führte, begründet er in seinen Aufzeichnungen damit, dass ihm damals daran gelegen gewesen sei, den Frieden im Kaukasus zu wahren. Um den Erfolg des Unternehmens zu garantieren und gegenüber den Einheimischen glaubwürdig zu ­erscheinen, sei es dabei unbedingt nötig gewesen, dass er seine Karriere in der imperialen Armee beendet habe und selbst mit den Auswanderern mitgegangen sei, was die Armeeführung erst nach einigem Zögern akzeptiert hätte. Ent­sprechend spricht K ­ unduchov in seinen Memoiren auch von einem großen Opfer, das er persön­lich für den höheren Zweck des Friedens zu bringen bereit gewesen sei.89 Inwieweit ­solche hehren Ziele tatsäch­lich ausschlaggebend für seinen Entscheid waren, muss an dieser Stelle offen bleiben. Jedenfalls sah das ganze Unterfangen nach einer Vereinbarung aus, die sich letzt­lich sowohl für Kunduchov als auch für die rus­sische Armeeführung auszahlte: Kunduchov, ohnehin seit Längerem un­ zufrieden mit seiner Situation, sollte es erlaubt sein, mit seiner gesamten Familie und ausgestattet mit einer großzügigen finanziellen Entschädigung das Reich zu verlassen. Im Gegenzug war die rus­sische Armeeführung daran interessiert, dass er so viele Tsche­tschenen wie nur mög­lich auf seine Reise mitnahm. Dass nicht alle aufseiten der rus­sischen Armeeführung von ­diesem Arrangement angetan waren, war verständ­lich, denn immerhin gewannen die Osmanen mit Kunduchov nicht nur einen ranghohen und erfahrenen Militärangehörigen der imperialen rus­sischen Armee, sondern auch einen der besten Kenner des Kaukasus. Doch die Aussicht, dass mit Kunduchov auch Tausende von unliebsamen Tsche­tschenen das Reich verließen, wog im damaligen strate­gischen Kalkül der rus­sischen Machthaber offenbar schwerer als die Vorstellung, mit dem Weggang Kunduchovs einen potenziellen formidablen Widersacher gewonnen zu haben. Immerhin erreichte die rus­sische Diplomatie in Direktverhandlungen mit der Hohen Pforte, dass die Tsche­tschenen – offenbar entgegen den Abmachungen, die Kunduchov zuvor getroffen hatte – nicht in unmittelbarer Grenznähe zum Russländischen Imperium angesiedelt wurden, um so eine allfällige Rückkehr dieser Menschen zu erschweren.90 Auch für Kunduchov war der Schritt ins Exil sowohl in finanzieller als auch in beruf­licher Hinsicht kein schlechtes Geschäft. Neben insgesamt 12.000 Silberrubel, die er für die Organisation der Auswanderung erhielt, sprach ihm die Armeeführung

89 Memuary gen. Musa-Paši Kunduchova. Glava sedʼmaja, S. 29. 90 Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 117 – 118; siehe auch die entsprechenden Dokumente in: Dzagurov, Pereselenie gorcev v Turciju, insbesondere S. 75 – 77.

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eine finanzielle Entschädigung von 45.000 Silberrubel für seinen Besitz zu, den er der rus­sischen Regierung überließ – eine Summe, die gemäß Kunduchov dem tatsäch­lichen Wert seines Landes und Hauses bei weitem nicht entsprach. Dies soll ihn aber nicht gestört haben, weil er, wie andere Muslime auch, bereit gewesen sei, seinen Besitz abzustoßen, „um sich von der rus­sischen Herrschaft zu befreien“.91 In seinen Memoiren lässt er allerdings unerwähnt, dass die Staatskasse die gesamten Kosten für die Umsiedlung im Umfang von 130.000 Silber­rubel übernahm.92 Von den Osmanen wurde Kunduchov mit offenen Armen empfangen. Ihm w ­ urden ein statt­licher Landsitz und der Titel eines Paschas zugesprochen. Seine mili­tärische Karriere verlief im Exil nicht weniger beeindruckend als in der Zarenarmee: Er rückte innerhalb der osmanischen Armee in den Rang eines Generals auf und kämpfte schließ­lich auf der Seite der Osmanen im rus­sisch-türkischen Krieg (1877 – 1878). Nach dem Krieg kommandierte er die Garnison bei Erzurum im Grenzgebiet zu Russland. Die Familie Kunduchovs nahm fortan in der osmanischen Elite einen festen Platz ein. Sein Sohn, Bekir-Sami Kunduch, sollte in der späteren republikanischen Türkei sogar zum Außenminister avancieren.93 Auf der Verliererseite standen dagegen diejenigen Gemeinschaften, die ­zusammen mit Kunduchov ihre Heimat verließen. So versuchten bereits wenige Jahre nach der Auswanderung viele, in der Zwischenzeit völlig verarmte Tsche­tschenen, in ihre Heimat zurückzukehren, wobei einige sogar eingewilligt haben sollen, das Christentum anzunehmen, sollten ihnen die zaristischen Behörden die Rückkehr erlauben.94 Die Russen wollten darauf aber nicht eingehen und es gelang schließ­ lich nur wenigen, über Georgien und Dagestan in die Heimat zurückzureisen.95 Mit dem Namen Kunduchov verbanden die Nordkaukasusvölker denn auch vor allem negative Erlebnisse. Auch beim ossetisch-stämmigen Juristen und Sozial­demokraten Achmed Tembulatovič Calikov (1882 – 1928), der in den Umbruchsjahren nach der Revolution von 1917 kurzfristig eine wichtige politische Rolle spielen sollte, kam Kunduchov nicht gut weg. Calikov schreibt in einer Publikation von 1913, dass es

91 Er schätzt den Wert von Land und Haus auf 82.000 Silberrubel: Memuary gen. Musa-Paši ­Kunduchova. Glava vosʼmaja, in: Kavkaz 35 (1936) H. 11, S. 26 – 29, hier S. 27. Siehe auch die entsprechenden Dokumente (insbesondere die beiden Schreiben von Loris-Melikov vom 23. Januar 1865 und 15. April 1865 an Karcov) in: Dzagurov, Pereselenie gorcev v Turciju, S. 46 – 47, 66 – 70. 92 Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 117. 93 Avališvili, O vospominanijach, S. 16 – 17; Kantemir, Musa Paša Kunduchov, S. 17 – 19; Degoev, General Mussa Kunduchov, S. 151 – 152; Z. Ch. Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Politika i ėkonomika, Moskva 2009, S. 310 – 313. 94 Dies kommt etwa in einem Bittschreiben von Tsche­tschenen an Loris-Melikov vom Frühjahr 1867 zum Ausdruck, in dem die Tsche­tschenen beklagen, sie wären von Kunduchov betrogen worden: Dzagurov, Pereselenie gorcev v Turciju, S. 151 – 152. 95 Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 118.

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Herrschaft und Vertreibung

die rus­sische Armeeführung gewesen sei, die den Vorschlag zur Aussiedlung der Tsche­tschenen an Kunduchov herangetragen habe. Dieser habe nur unter der Bedingung zugesagt, dass er finanziell entsprechend belohnt würde. Dies alles sei auf Kosten der nordkauka­sischen Auswanderer geschehen, die in der Fremde „krank waren, hungerten und in Massen starben“.96 Kunduchov galt nach seiner Auswanderung als Feind und Verräter Russlands. Das berühmte Nižnij-Novgoroder Dragonerregiment, das sich unter anderem auch im rus­sisch-türkischen Krieg von 1877 – 1878 auszeichnete, besang ­Kunduchov noch lange im Lied „Der Verräter Pascha Kunduchov“ (Izmennik paša Kunduchov). Wohl kein Zufall war es, dass rus­sische Soldaten bei ihrem Vorstoß Richtung Osmanisches Reich im Ersten Weltkrieg das Grab des Generals in Erzurum zerstörten.97 Das negative Bild Kunduchovs fand noch bis in die 1920er-Jahre hinein Widerhall in ossetischen Volksliedern, in denen der General als derjenige besungen wurde, der das Volk mit falschen Versprechungen auf ein besseres Leben zur Auswanderung bewogen hatte.98 Auch in der sowjetischen Historiographie kommt Kunduchov nicht gut weg, auch wenn er dort kaum noch Erwähnung findet.99 Der Einblick in das Leben und Wirken dieser Persön­lichkeit macht deut­lich, wie komplex die Realitäten der rus­sischen Politik im kauka­sischen Vielvölker­ gemisch waren. Weil Identitäten, gerade wenn es sich um Militärangehörige aus den Reihen der einheimischen Bevölkerung handelte, kaum je fix waren, erscheint es besonders schwierig, dem Entscheid Kunduchovs im Rückblick eindeutige Motive zuzuweisen. Doch was ihn letzt­lich auch immer dazu bewogen haben mochte, das Auswanderungs­projekt 1865 durchzuführen, so trübt die triste Bilanz das Bild des ossetischen Generals in einem Maß, dass es kaum zulässig erscheint, ihm rück­blickend den Status eines Helden zuweisen zu wollen, wie dies einige ­zeit­genös­sische Historiker Russlands, darunter nament­lich der aus Nordossetien stammende Vladimir Degoev, anzustreben scheinen.100

96 Achmed Calikov, Kavkazʼ i Povolžʼe. Očerki inogorodičeskoj politiki i kulʼturno-­chozjajstvennogo byta, Moskva 1913, S. 20 – 21. 97 Kantemir, Musa Paša Kunduchov, S. 18 – 19. 98 Einige dieser Lieder finden sich in: Dzidzoev, Istorija i sudʼba kavkazskich pereselencev v Turciju. 99 In der 1958 erschienen Publikation von N. A. Smirnov (Politika Rossii na Kavkaze v XVI – XIX vekach) erscheint Kunduchov als „Hasardeur [avantjurist] und Verräter“, der eine „wider­liche Rolle“ bei der Auswanderung von Nordkaukasiern spielte: Smirnov, Politika Rossii na Kavkaze, S. 221. 100 Wohlgemerkt erhebt Degoev eine s­ olche Forderung in seiner Kurzbiographie zu Kunduchov nicht explizit, doch fällt auf, dass der Historiker versucht, diesen in einem positiven Licht erscheinen zu lassen und auf problematische Bereiche kaum zu sprechen kommt: Degoev, General Mussa Kunduchov, insbesondere S. 159 – 162; insgesamt deut­lich ausgewogener erscheint in ihrer Einschätzung dagegen: Ganič, Na službe dvuch imperij, S. 109 – 120.

4.   D E R N O R D K AU K A S U S I M Z A R E N R E I C H Die Vertreibungspolitik in der ersten Hälfte der 1860er-Jahre war spiegelbild­lich für eine in der rus­sischen Armeeführung verbreitete Haltung, die in den unterworfenen Völkern kaum einen Nutzen für das imperiale Projekt erkannte, sondern eher eine Last, die Russland mög­lichst loswerden wollte. Dennoch kam Russland nach Abschluss der Eroberungskriege auch nicht darum herum, den Aufbau von Herrschaftsstrukturen anzugehen, die geeignet schienen, die neuen Gebiete und Völker in den imperialen Raum einzubinden. Die nordkauka­sischen Gesellschaften mochten den rus­sischen Eroberern wenig loyal und von ihrem Wesen her fremdartig erscheinen, doch gab es auf rus­sischer Seite nie einen Zweifel daran, dass Russland auch diese Region fortan als etwas anderes als einen festen Bestandteil seines Reichs betrachte, der genauso wie andere nichtrus­sisch besiedelte Gebiete auf ewig ins Imperium eingegliedert werden sollte. Verschiedene Maßnahmen, so etwa die Verschrift­lichtung der lokalen Sprachen und die Errichtung staat­licher Schulen, sollten dazu dienen, die nichtrus­sischen Völker näher an die rus­sische Kultur heranzuführen und aus ihnen loyale Bürger des Reichs zu formen. In der Realität unternahmen die zaristischen Verwalter im Kaukasus allerdings wenig, um eine echte Integration voranzutreiben; die Voraussetzungen dafür schienen ihnen nicht gegeben. Um größtmög­liche Stabilität zu garantieren, begnügten sich die neuen Machthaber zunächst in erster Linie damit, die bestehende Militärverwaltung auf die neu eroberten Gebiete auszudehnen und den einzelnen Volksgemeinschaften ihre Traditionen und gesellschaft­lichen Organisationsstrukturen zu belassen. Diese in der Tendenz „informelle“ Form der Verwaltung, die sich auch an europäischen Vorbildern orientierte, bildete kein kohärentes System, sondern entsprang einer pragmatischen Haltung, die darauf abzielte, die Region nach dem langen Krieg endgültig zu befrieden und dabei den Aufwand mög­lichst gering zu halten. Ein solches minimalistisches Staatsbildungsprojekt nahm regional unterschied­ liche Ausprägungen an und wurde wiederholt reformiert. Dennoch war es ­dieses eigent­lich nur als Übergang angedachte Modell, das den Charakter der rus­sischen Herrschaft während der gesamten Zarenepoche prägen sollte. Dass Russland den unterworfenen Völkern ihre inneren Freiheiten zunächst weitgehend ließ, gründete keineswegs auf einer wohlwollenden Haltung des imperialen Staates gegenüber diesen islamischen Gesellschaften oder gar auf einer Wert­schätzung ihrer Kultur und Lebensweise. Im Gegenteil stellten sich diese den rus­sischen Machthabern als Ärgernisse dar, die es im Rahmen einer Modernisierungs- und Zivilisierungsmission zu beseitigen galt. Dabei waren

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Der Nordkaukasus im Zarenreich

es die mit großen K ­ ompetenzen ausgestatteten Machthaber vor Ort, w ­ elche die Politik maßgeb­lich bestimmten. Deren Reformbemühungen waren einerseits vom Bestreben gekennzeichnet, die administrativ-territoriale Ordnung der Region zu vereinheit­lichen und das lokale Gewohnheitsrecht der imperialen Gesetzgebung anzupassen. Andererseits machte die Politik kaum ernsthafte Anstalten, die Berggesellschaften wirk­lich zu integrieren. Anstatt etwa Mittel für den Aufbau von Schulen und Infrastruktur bereitzustellen, was wichtige Voraussetzungen für eine Einbeziehung dieser Völker in den sozialen Raum des Imperiums gewesen wären, zeichnete sich die rus­sische Politik hauptsäch­lich dadurch aus, dass sie angestammte Rechte und Traditionen in der Praxis wiederholt zu beschneiden suchte, ohne im Gegenzug etwas zu bieten. Die rus­sische Militärverwaltung setzte Dorf­ älteste ab, die ihr nicht passten, sie schränkte bestimmte religiöse Praktiken ein, bevorzugte Kosaken und andere slawisch-stämmige Bewohner bei der Verteilung des knappen Landes und wendete bei Vergehen von Einzelnen wiederholt auch Kollektivstrafen gegen ganze Dörfer an. Diese Politik, die der nichtrus­sischen Bevölkerung ungerecht und willkür­lich erschien, bildete keine guten Voraussetzungen für eine nachhaltige Stabilisierung der Region. Wiederholt lehnten sich die einzelnen Gemeinschaften denn auch gegen die rus­sische Herrschaft auf. Die Ursachen dieser Aufstände waren vielfältig. Auslöser konnten die Erhöhung von Abgaben und Steuern, Änderungen in der Verwaltungsstruktur, die Androhung von Umsiedlungen, das Verbot religiöser Praktiken oder die Konfiskation von Land sein. Oft konnten allein schon Gerüchte, wie etwa jenes von einer bevorstehenden Christianisierung, Aufstände entfachen. Erst 1877, nachdem Russland einen großen Aufstand von Tsche­tschenen und ­Dagestanern nieder­ gerungen hatte, trat in militärischer Hinsicht erstmals eine deut­liche ­Be­ruhigung ein. Der Aufstand von 1877 sollte zudem der letzte sein, der noch einmal große Bevölkerungsteile unter dem Banner des Dschihad gegen die rus­sische Herrschaft mobilisieren konnte. Die Konsequenz dieser Aufstände war eine Zunahme der staat­lichen ­Repression, die eine Eingliederung der nordkauka­sischen Völker in den imperialen Staats­verband erschwerte. Insbesondere in dem von Tsche­tschenen und Inguschen b ­ ewohnten Terek-Gebiet setzte der Staat in der Folge noch stärker auf Polizei­gewalt und Kosaken­macht. Angehörige dieser Völker wurden im öffent­lichen Leben gegenüber Kosaken und Russen deut­lich diskriminiert. Der Zugang zu staat­lichen ­Schulen wurde ihnen verwehrt, vom wirtschaft­lichen und politischen Leben b ­ lieben sie weitgehend ausgesperrt und sogar ihre Bewegungsfreiheit wurde durch die Einführung eines Pass-Systems stark eingeschränkt. Zeitweise war es den Tsche­tschenen im Terek-Gebiet sogar untersagt, sich in größeren Ortschaften und Städten wie ­Groznyj oder Vladikavkaz niederzulassen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Zar im Zuge landesweiter gesellschaft­licher Forderungen nach Freiheit und

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politischer Partizipation auf eine etwas liberalere Politik einschwenkte, wurden die dis­kriminierenden Bestimmungen auch im Nordkaukasus gelockert. Dieses Kapitel zeichnet die Entwicklung vom Ende der Kaukasuskriege bis 1917 nach. Dabei drängt sich eine eingehende Behandlung dieser Epoche bereits deswegen auf, weil die Nachkriegszeit im Gegensatz zu den Kaukasuskriegen erst ansatzweise aufgearbeitet wurde. Während die historische Forschung in Russland unlängst begonnen hat, auch diese Zeit systematisch und aufgrund neuer Quellen zu untersuchen,1 um dabei aber keinesfalls zu einheit­lichen Beurteilungen der r­ us­sischen Politik zu gelangen, hat sich die west­liche Geschichtsschreibung mit dieser Epoche bislang nur in Übersichtsdarstellungen befasst.2 Während für die Tsche­tschenen und Inguschen unterdessen immerhin eine Studie vorliegt, ­welche die Entwicklung bis zum Aufstand von 1877 im Detail nachzeichnet,3 ist die gesamte Zeitspanne danach weitgehend unerforscht. Die bestehende west­liche Literatur zum Nord­kaukasus tendiert dazu, die Entwicklungen nach Abschluss der rus­sischen Eroberung in den 1860er Jahren bis zur Revolution von 1917 eher un­­differenziert als eine Übergangsperiode zu betrachten, in der die unterworfenen Völker verschiedent­lich gegen die Fremdherrschaft aufbegehrten, um ihrem Freiheits­streben nach der Revolution von 1917 erneut Ausdruck geben zu können. ­Dieses Kapitel sucht einigen dieser Defizite zu begegnen und rückt dabei einerseits die Frage nach dem Charakter der rus­sischen Herrschaft im Nordkaukasus und damit verbunden auch nach den Zielen und der Politik Russlands in den Vordergrund. Andererseits wird auch den gesellschaft­lichen Reaktionen und Veränderungen in dieser langen Zeitspanne Rechnung getragen.

4.1  „ I n for mel le“ He r r s ch a f t z w i s che n A n s p r u ch u nd Wi r k l ich keit Für die zaristischen Machthaber präsentierte sich der Nordkaukasus nach der Eroberung als einziges großes Reformvorhaben, das sich in seiner Stoßrichtung, die Region und deren Völker zu einem imperialen Ganzen zu fügen, wenig von den Bestrebungen in anderen nichtrus­sisch besiedelten Gebieten unterschied. Ziel war letzt­lich die „Zivilisierung“ und „Modernisierung“ dieser Völker bis hin zur „Verschmelzung“ (slijanie) mit dem rus­sischen Volk. Angesichts der Wahrnehmung ­großer kultureller Unterschiede und eines tiefsitzenden Misstrauens gegenüber d­ iesen ­Gesellschaften, das sich von den langen Kriegserfahrungen herleitete, erschien den 1 Exemplarisch: Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii. 2 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 68 – 117; Austin Jersild, Orientalism and Empire. North Caucasus Mountain Peoples and the Georgian Frontier, 1845 – 1917, Montreal 2002. 3 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, insbesondere S. 273 – 327.

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Der Nordkaukasus im Zarenreich

rus­sischen ­Er­oberern ein solches Vorhaben mindestens kurzfristig nicht durchführbar. Beim Aufbau der Verwaltung ließen sich die Repräsentanten vor Ort daher von Überzeugungen und Ideen leiten, wie sie im Zeitalter des Kolonialismus und des Imperialismus nicht atypisch waren. Als besonders attraktiv erschien vielen die in der Literatur als „informelle“ Herrschaft bezeichnete Art von Verwaltung, wie sie etwa die Franzosen in Algerien oder die Briten in Indien praktizierten. Die Parallelen der kolonialen Herrschaft Russlands im Nordkaukasus zur Praxis in der übrigen kolonialisierten Welt waren keineswegs ­zufällig. Noch bevor der Krieg gegen die Völker des Nordkaukasus beendet war, wurde auf höchster politischer Ebene die Wünschbarkeit diskutiert, sich an den Erfahrungen anderer europäischer Großmächte zu orientieren. So schrieb etwa Evgenij ­Aleksandrovič Golovin (1782 – 1858), der zwischen 1837 und 1842 Oberbefehls­haber der zaris­tischen Streitkräfte im Kaukasus war, im letzten Jahr seiner Amtszeit an das Kriegsministerium: „Es besteht kein Zweifel darüber, dass die politischen ­Mittel, mit ­welchen es den Engländern gelang, ihre Herrschaft über Indien aus­zubauen, mit demselben Nutzen auch hier [im Kaukasus] eingesetzt werden könnten.“ 4 Tatsäch­lich sah die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einen breiten Wissens­ transfer zwischen Russland und anderen europäischen Kolonialmächten. Der Transfer erfolgte über die Korrespondenz zwischen ranghohen Militärs, die Verbreitung von Publikationen sowie über diplomatische und wissenschaft­liche Kontakte. Et­liche Personen, die später Verwaltungsämter im Kaukasus übernehmen sollten, ­bereisten auf Wunsch der rus­sischen Regierung das von Frankreich verwaltete Nordafrika oder erkundeten die Verhältnisse im Osmanischen Reich, um Erfahrungen für Russlands neu eroberte Gebiete zu sammeln. Große Verbreitung fanden dabei die aus dem Franzö­sischen übersetzten Werke zum Orientalismus, die mit Stereotypen über einen exotischen Orient operierten, die eher den Fantasien der Europäer als ört­ lichen Tatsachen entsprangen.5 Russland vermischte diese Vorstellungen mit eigenen Kaukasusbildern, wie sie etwa über die publizierten Erinnerungen rus­sischer Offiziere (etwa diejenigen von Baron Tornau 6) oder bereits ab den 1820er-Jahren

4 Golovin zitiert bei: Martin Aust u. a. (Hg.), Imperium inter pares. Rolʼ transferov v istorii ­Rossijskoj imperii (1700 – 1917), Moskva 2010, S. 205. 5 Ebd. Zur Vorstellung des „Orients“ im spätzaristischen Russland: Vera Tolz, Russiaʼs Own ­Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011, insbesondere S. 23 – 68. 6 Baron Fëdor Fëdorovič Tornau (1810 – 1890) geriet bei seiner Militärmission im ­Nordwestkaukasus in tscherkes­sische Gefangenschaft und blieb zwei Jahre lang in Haft (von September 1836 bis November 1838). Seine Erinnerungen wurden erstmals 1864 in zwei Ausgaben des Russkij vestnik unter dem Pseudonym „T“ publiziert: F. F. Tornau, Vospominanija kavkazskogo oficera, Moskva 2000 (kommentierte Neuausgabe, hg. von S. Ė. Makarova). Zur Entstehung und der Rezeption des Werkes: S. Ė. Makarova, Baron F. F. Tornau i ego vospominanija, in: Ebd., S. 5 – 30.

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in den Publikationen rus­sischer Schriftsteller und Publizisten, von Romantikern wie Puškin, Lermontov oder Gribaedov bis hin zu den damaligen politischen ­Aktivisten, verbreitet wurden.7 War die Beziehung der rus­sischen Romantiker zum Kaukasus oft von einer Art „Hassliebe“ geprägt, die rus­sische Arroganz ebenso verkörperte wie Faszination für die „edlen Wilden“,8 so äußerte sich das Bild der Nordkaukasier im Rahmen des aufkeimenden rus­sischen Nationalismus und der Bewegung der Slawophilie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer negativen, ja rassistischen Haltung. Als Beispiel hierfür können die Äußerungen des einflussreichen slawophilen Publizisten und Begründers der eura­sischen Bewegung Nikolaj Jakovlevič Danilevskij (1822 – 1885) gelten, der in seinem 1871 erschienenen Buch „Russland und Europa“ mit Blick auf die Völker des Nordkaukasus schreibt: Die kauka­sischen Bergler sind aufgrund ihrer fanatischen Religion, Lebensweisen und Gewohnheiten, aber auch bedingt durch die Eigenschaften des von ihnen bewohnten Landes, von Natur aus Räuber und Plünderer, die ihre Nachbarn nie in Ruhe lassen und nicht imstande sind, sie in Ruhe zu lassen.9

Anhand des Vergleichs mit dem militärischen Vorgehen Englands gegen die Clans der schottischen Hochebene wollte Danilevskij sodann offensicht­lich Verständnis für die rus­sische Politik schaffen, die solches Verhalten ebenso wenig tolerieren könne wie England.10 Stärker als im Fall Schottlands spielten im Nordkaukasus geopolitische Überlegungen eine Rolle, die aus rus­sischer Sicht mit der Angst verbunden waren, dass Drittmächte – damals vor allem das Osmanische Reich und Großbritannien – die instabile Lage in der Grenzregion ausnutzen und die dortigen Bewohner gegen Russland aufbringen könnten. Nicht immer war das Bild der Nordkaukasier derart rassistisch geprägt. Grundsätz­ lich aber war die Politik des Zarenreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker als noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert von einem Überlegenheits­gefühl und einer mission civilisatrice angetrieben, wie sie auch für andere europäische Großmächte typisch waren. Russland und seine Repräsentanten sahen sich als Kulturträger, die den zurückgebliebenen (otstalʼye) Muslimen die Zivilisation und

7 Dazu allgemein: Layton, Russian Literature and Empire. 8 Regula Heusser-Markun, Eine rus­sische Hassliebe. Aspekte einer Kolonisation, in: Der K ­ aukasus. NZZ Folio, Nr. 9, Zürich 1995, S. 7 – 11. 9 N. Ja. Danilevskij, Rossija i Evropa. Vzgljad na kulʼturnyja i političeskija otnošenija Slavjanskago mira k Germano-Romanskomu, Sankt-Peterburg 1871, S. 37. 10 Ebd.

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Der Nordkaukasus im Zarenreich

den Fortschritt näherbrachten.11 Russland wollte sich nicht damit begnügen, nur die Eliten in das imperiale Dienstsystem zu kooptieren, sondern über die Ausbreitung von Handel und Bildung ein Mindestmaß an Kultur schaffen, vor allem aber der Bevölkerung die graždanstvennostʼ näherbringen.12 Darunter verstanden die zaristischen Verwaltern zunächst vor allem eines: Gesetzeshörigkeit und Loyalität gegenüber der Monarchie und den Grundsätzen imperialer Staat­lichkeit.13 Angetrieben von aufklärerischen Vorstellungen waren es etwa Gelehrte wie der bekannte rus­sische Sprachforscher Pëtr Karlovič Uslar (1816 – 1875), die den Eingeborenen grundsätz­lich die Fähigkeit für kulturellen Fortschritt zusprachen. Weil Uslar glaubte, dass die Vermittlung der graždanstvennostʼ am ehesten in den lokalen Sprachen mög­lich sei, machte er sich in den 1860er Jahren mithilfe von Einheimischen daran, ein spezielles kauka­sisches Alphabet basierend auf kyril­ lischen Schriftzeichen zu entwickeln. Dieses Alphabet diente ihm als Grundlage zur erstmaligen Verschrift­lichung mehrerer nordkauka­sischer Sprachen, darunter auch des Tsche­tschenischen und des Awarischen, die bislang noch keine eigenen Schriftzeichen besaßen (Tsche­tschenen und Dagestaner bedienten sich in der schrift­lichen Kommunikation bis dahin fast ausschließ­lich des Arabischen).14 In recht­lich-normativer Hinsicht drückte sich die Wahrnehmung großer ­kultureller Unterschiede darin aus, dass Russland die nichtrus­sischen Völker des Nord­kaukasus genau wie die Muslime Zentralasiens oder die Jäger und Nomaden Sibiriens den inorodcy, den Fremdstämmigen, und damit nicht den natür­lichen Bewohnern des Reichs zuordnete. Die Ethnien des Nordkaukasus wurden zwar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts formell nicht mehr zur Kategorie der ­inorodcy gezählt.15 Auch im Sprachgebrauch fand sich die Bezeichnung i­norodcy kaum 11 Andreas Kappeler, Die zaristische Politik gegenüber den Muslimen des Rus­sischen Reiches, in: Ders. / Gerhard Simon (Hg.), Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Identität, Politik, Widerstand, Köln 1989, S. 117 – 129, hier S. 124. Dazu ebenfalls: Aust u. a. (Hg.), Imperium inter pares, S. 182 ff. 12 Austin Lee Jersild, From Savagery to Citizenship. Caucasian Mountaineers and Muslims in the Russian Empire, in: Daniel R. Brower / Edward J. Lazzerini (Hg.), Russia’s Orient. Imperial Borderands and Peoples, 1700 – 1917, Bloomington 1997, S. 101 – 114, hier S. 107. 13 Agadžanov (Hg.), Nacionalʼnye okrainy Rossijskoj imperii, S. 306 – 307. Dazu ebenfalls: Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit, S. 489; Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 278 – 279. 14 Die Resultate seiner Forschungen wurden schon zu Lebzeiten Uslars in kleinen Auflagen dem gelehrten Publikum zugäng­lich gemacht, die Arbeiten zu den einzelnen Sprachen erschienen in der Form von Einzelbänden erst posthum: P. K. Uslar, Ėtnografija Kavkaza. Jazykoznanie, Tiflis, 1887 – 1896, 1979 (in sieben Bänden; Band 2 zur tsche­tschenischen Sprache erschien 1888, der siebte Band zur tabasarinischen Sprache wurde erst 1979 publiziert). 15 Ursprüng­lich handelte es sich beim Begriff inorodec (pl. inorodcy) um einen recht­lich ­geprägten Terminus, der allgemein die Nichtrussen, Nichtslawen und Nichtorthodoxen des Russländischen Reichs umfasste. Die imperiale Gesetzessammlung (Svod zakonov) von 1857 rechnete zu den

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mehr. Weit gebräuch­licher war die Kollektivbezeichnung gorcy, die sowohl muslimische als auch christ­liche nichtrus­sische Völker des Nordkaukasus einschloss und auch von den Bewohnern selbst als Eigenbezeichnungen übern­ommen wurde. Gegen Ende des 19. Jahr­hunderts setzte sich daneben verstärkt das Wort tuzemcy („Ein­geborene“) durch, was insofern eine wichtige semantische Verschiebung darstellte, als damit immerhin eine gewisse Anerkennung für die Rechte dieser ursprüng­lichen Bewohner des Kaukasus zum Ausdruck gebracht wurde. Mit ­welchen Namen die nordkauka­sischen Völker auch immer bedacht wurden, sie unterlagen über die gesamte Zarenzeit hinweg Bestimmungen, die für andere Fremdstämmige auch galten: Sie waren von der ­allgemeinen Wehrpflicht befreit und konnten nur als Freiwillige in der Armee dienen. Dafür zahlten sie (ab 1866) eine Ersatzsteuer und die Verwaltung in St. Petersburg ließ ihre Herrschaftsstrukturen und Rechts­traditionen weitgehend bestehen.16 Wie sich das rus­sische Denken bei der Formulierung und Umsetzung von P ­ olitik im Nordkaukasus zeigte, hing nicht so sehr von St. Petersburg ab, sondern von den ört­lichen Verwaltern, die im Kaukasus mit weitreichenden Kompetenzen aus­gestattet waren. Ähn­lich wie in Polen schuf Russland im Kaukasus bereits 1844 die Institution der Statthalterschaft (namestničestvo), eine Form von Vizeregentschaft mit einem Statthalter (namestnik), der vom Zaren eingesetzt und ihm gegenüber verantwort­lich war. Diese Institution, die nach einer längeren Unterbrechung ­zwischen 1881 und 1905 bis 1916 existierte, bedeutete, dass faktisch eine einzige Person die gesamte Kaukasusregion regierte. Der Statthalter des Zaren vereinigte mili­tärische und zivile Gewalt und konnte in eigener Kompetenz die imperiale Gesetzgebung ört­lichen Gegebenheiten anpassen. Für die operativen Kontakte zwischen dem Statthalter im Kaukasus und St. Petersburg wurde das Kauka­sische Komitee (Kavkazskij komitet)

inorodcy ausdrück­lich die „Bergler“ (gorcy) des Nordkaukasus. Der Begriff blieb aber höchst unscharf, die Definitionen änderten sich im Laufe der Zeit und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte die Zuordnung der einzelnen Volksgruppen letzt­lich nicht aufgrund f­ ormeller objektiver, sondern subjektiv-willkür­licher Kriterien. So wurden in der Volkszählung von 1897 die islamischen Völker des Nordkaukasus, so auch die Tsche­tschenen, in der Mehrheit dem Stand der Bauern zugeordnet. Dagegen galten in der Volkszählung von 1897 im Nord­kaukasus Teile der in der Steppe siedelnden Völker der Nogajer, der Kalmücken, der Kumyken und der tatarisch sprechenden Einwohner nach wie vor ausdrück­lich als inorodcy. Christoph Schmidt, Stände, in: Henning Bauer u. a. (Hg.), Die Nationalitäten des Rus­sischen Reiches in der Volkszählung von 1897. A: Quellenkritische Dokumentation und Datenhandbuch, Stuttgart 1991, S. 416 – 419. 16 Zur Stellung der inorodcy im Russländischen Reich: John W. Slocum, Who, and When, Were the Inorodtsy? The Evolution of the Category of „Aliens“ in Imperial Russia, in: Russian Review 57 (1998), S. 173 – 190; V. O. Bobrovnikov, Čto vyšlo iz proektov sozdanija v Rossii inorodcev? Otvet Džonu Slokomu iz musulʼmanskich okrain imperii, in: Ponjatija o Rossii. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda. Tom 2, Moskva 2012, S. 259 – 291.

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eingerichtet, das zwischen 1845 und 1882 bestand und als eine eigenständige Instanz den anderen Ministerien faktisch gleichgestellt war.17 Beim konkreten Aufbau der Administration über die neu eroberten Teile des Kaukasus zu Anfang der 1860er-Jahre orientierte sich die rus­sische Armee­führung zwar durchaus an Modellen, wie sie andere europäische Mächte praktizierten, griff aber auch auf eigene Erfahrungen der informellen Herrschaftsausübung zurück, wie sie die Armeeführung in Form von Protektoraten bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts in den unterworfenen Khanaten Dagestans und Aserbaidschans umgesetzt hatte.18 Richtungsweisend für den Aufbau der nordkauka­sischen Verwaltungsstruktur war Fürst Barjatinskij, der zwischen 1856 und 1862 im Kaukasus als Statthalter fungierte. Ausgehend von den Erfahrungen mit informellen Herrschaftsmodellen im Südkaukasus arbeitete das Oberkommando der Kaukasusarmee gegen Ende des Kaukasuskriegs eine Verwaltungsstruktur aus, die Barjatinskij bereits 1852, damals noch in seiner Funktion als Kommandierender der Linken Flanke der Streitkräfte der kauka­sischen Linie, in den unterworfenen Gebieten der tsche­tschenischen Ebene anwandte und nach der Kapitulation Šamils auf die gesamte eroberte Region übertrug.19 Den Charakter dieser „militärisch-­zivilen ­Administration“ (voenno-­narodnoe upravlenie) genannten Herrschaftsform beschrieb Graf Illarion Ivanovič Voroncov-Daškov (1837 – 1916), der von 1905 bis 1916 als Statthalter im Kaukasus amtete, rückblickend als ein System, das „auf der Konzentration administr­ativer Macht in den Händen einzelner Offiziere unter der höheren Leitung des Ober­kommandierenden der Kauka­sischen Armee und auf der Gewährung des Rechts der Bevölkerung, ihre inneren Angelegenheiten gemäß ihren Adaten zu regeln“ beruht.20 Dieses Herrschaftsmodell folgte keinem durchdachten Plan. Vielmehr war die rus­sische Politik bereits unter Graf Barjatinskij eher spontan und hatte stark ex­perimentellen Charakter, was sich nicht zuletzt in einer Vielzahl von Direktiven und Anweisungen ausdrückte, die ein widersprüch­liches Bild rus­sischer Politik er­­gaben.21 Auch kann nur sehr bedingt von echter lokaler Selbstverwaltung für die einheimische Bevölkerung gesprochen werden. Unmittelbar nach dem Ende des Kaukasuskriegs

17 G. G. Lisicyna, Kavkazskij komitet. Vysšee gosudarstvennoe učreždenie dlja upravlenija Kavkazom (1845 – 1882), in: Dies. / Ja. A. Gordin (Hg.), Rossija i Kavkaz skvozʼ dva stoletija, Sankt-Peterburg 2001, S. 154 – 168; Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 187 – 188. 18 V. O. Bobrovnikov, Voenno-narodnoe upravlenie v Dagestane i Čečne. Istorija i sovremennostʼ, in: Lisicyna / Gordin (Hg.), Rossija i Kavkaz, S. 91 – 107, hier S. 100. 19 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 192. 20 Zitat aus dem Schreiben Voroncov-Daškovs, 10. Februar 1907, in: Ja. A. Gordin u. a. (Hg.), K ­ avkaz i Rossijskaja imperija. Proekty, idei, illjuzii i realʼnostʼ. Načalo XIX – načalo XX vv., Sankt-­Peterburg 2005, S. 491 – 495, hier S. 491. 21 Agadžanov (Hg.), Nacionalʼnye okrainy Rossijskoj imperii, S. 302.

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erlaubte Russland zum Zweck einer vorübergehenden S ­ tabilisierung und als Gegenleistung für Loyalitätsbezeugungen zwar die Existenz lokaler Machtstrukturen. Oft beließ Russland auch Personen in Führungspositionen, die bereits unter Šamil gedient hatten, oder berief Persön­lichkeiten in hohe Ämter, die gesellschaft­liches Ansehen bei der einheimischen Bevölkerung genossen, wie dies Barjatinskij etwa im Fall Tsche­tscheniens nach Einführung einer ersten Verwaltungsstruktur bereits ab 1852 praktizierte.22 Aufgrund der unterschied­lich wahrgenommenen Voraussetzungen in den einzelnen Teilen der Region gestaltete sich die Praxis der Herrschaftsausübung nicht einheit­lich. Dies zeigte sich am deut­lichsten bei der Besetzung von Amtsposten Anfang der 1860er-Jahre. Dort, wo Russlands Herrschaft schon länger etabliert war und mindestens ein Teil der Bevölkerung Rus­sisch verstand, wie etwa in den von Kabardinern, Osseten oder Inguschen besiedelten Gebieten, waren es rus­sische ­Offiziere, die nicht nur diese Bezirke leiteten, sondern auch den sogenannten učastki, den Verwaltungsabschnitten innerhalb der Bezirke, vorstanden. Dies sollte sicherstellen, dass die „rus­sische Staatsmacht in größtmög­liche Nähe zum Volk“ gerückt wurde, wie dies der Kommandant der Kaukasusarmee, Graf Grigorij Obreliani, in einem Schreiben an den Kriegsminister vom 28. Januar 1862 erklärt.23 In den­jenigen Teilen der Region, wo diese Voraussetzungen aus rus­sischer Sicht nicht gegeben waren, schien es der Armeeführung angezeigt, Einheimische auf lokale Amtsposten zu berufen. Dabei bestand gemäß Obreliani das Problem insbesondere bei den Tsche­tschenen darin, dass es hier kaum genügend „Unterwürfige“ gab, die sich für diese Aufgabe heranziehen ließen. Deshalb habe Russland in Tsche­tschenien, dessen Gesellschaft „nach zwanzig Jahren ununterbrochenen Kriegs“ und großen internen Bevölkerungsbewegungen zerrüttet sei, den Staat erst von Grund auf aufzubauen und die Menschen an die neue Herrschaft zu gewöhnen.24 Weil die rus­sischen Machthaber eine ­soziale Hierarchie bei den Tsche­tschenen nicht erkennen konnten, suchten sie eine s­ olche aufzubauen, indem gegen Ende des Kaukasuskriegs auch Tsche­tschenen, die sich im Krieg verdient gemacht hatten (in der Mehrheit Offiziere der Armee), Land zugewiesen wurde, das der Statt­halter zu ihrem persön­lichen Besitz erklärte. Von den weniger als 60 Personen erhielt jedoch nur eine Handvoll besonders große Flächen im Umfang von mehr als 500 ­Desjatinen (1 Desjatine = 1,1 ha) zugewiesen, darunter die tsche­tschenischen ­Familien von Oberst Kasim (Kosum) Kurumov, Oberst Arcu Čermoev (1825 – 1895) und Major

22 Siehe Kapitel 2 in ­diesem Buch. 23 Schreiben Obrelianis, 28. Januar 1862, in: Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 1253 – 1255, hier S. 1254. 24 Ebd.

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Bata (Baša) Šamurzaev.25 Schenkungen fanden auch später, etwa 1867 und 1873, statt.26 Dabei waren es oft auch Personen aus solchen verdienten Familien, die Russland als Vorsteher für die naibstva einsetzte (Arcu Čermoev war für kurze Zeit sogar Vorsteher des Bezirks Ičkerskij). Überhaupt standen den naibstva, die nebst den učastki eine weitere Verwaltungseinheit innerhalb der tsche­tschenisch ­besiedelten Bezirke bildeten, anfäng­lich ausnahmslos Tsche­tschenen vor. Dass 1866 auch für die naibstva Kosakenoffiziere zugelassen wurden, hatte vielleicht damit zu tun, dass Großfürst Michail Nikolaevič, der von 1862 – 1881 als namestnik des Zaren im Kaukasus amtete, den Tsche­tschenen weniger vertraute als sein Vorgänger.27 Ohnehin wurde bald deut­lich, dass Russland die lokalen Machtstrukturen nie als ebenbürtige Herrschaftsformen, sondern höchstens als temporäre Struk­turen ­verstand, die später entweder aufgehoben oder an die imperialen Struk­turen und Gesetze angepasst werden sollten. Ziel Russlands war letztlich eine einheit­liche zentralisierte Form der Verwaltung. Dafür wurde der gesamte Nordkaukasus nach ähn­lichen Prinzipien auf der Grundlage von Gebieten (oblasti), Bezirken (­ okruga) sowie einzelnen Verwaltungsabschnitten (učastki oder naibstva) ­ge­gliedert. Dabei wurden 1860 die Tsche­tschenen, Inguschen, Kabar­diner, Osseten und Kumyken mit den Kosaken im Gebiet Terek (Terskaja oblastʼ) zusammen­gefasst, wo diese Völker in der späteren Zarenzeit als Folge der Abwanderung und des Zustroms neuer Siedler stark unter Druck gerieten. Da­­gegen wurden die dagestanischen Berggemeinschaften und Khanate in einem eigen­ständigen administrativen Gebiet Dagestan (Dagestanskaja oblastʼ) organisiert. Der west­liche Teil des Nordkaukasus wurde zum Gebiet Kuban (Kubanskaja oblastʼ).28 Die administrativen Namensbezeichnungen und Grenzen änderten sich im Lauf der Zeit jedoch wiederholt. Bereits 1867 schuf die Armeeführung die ­Khanate in Dagestan ab und erklärte diese zu Bezirken.29 Im Rahmen von allgemeinen ­Re­formen unter Großfürst Michail Nikolaevič im Jahr 1870 wuchs die Zahl der Bezirke im Terek-Gebiet von sechs auf sieben an.30 1883 wurde im Rahmen einer erneuten großen administrativen Neuordnung der größte Teil Tsche­tscheniens mit der Ortschaft 25 Im Sinne einer gerechteren Verteilung hatten diese später allerdings Teile ihres Landes wieder abzutreten: Maksimov, Čečency, S. 51. 26 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 305. Eine Liste mit Tsche­tschenen, die in den 1870er Jahren im Besitz von Land waren, das ihnen vom Staat zugewiesen wurde, findet sich für die Bezirke Groznyj und Vedeno in: Z. Ch. Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki (1860 – 1900), Moskva 2006, S. 204 – 205. 27 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 284 – 285. 28 Artur Cuciev, Atlas ėtnopolitičeskoj istorii Kavkaza (1774 – 2004), Moskva 2006, S. 22. 29 Bobrovnikov, Voenno-narodnoe upravlenie, S. 95. 30 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 285.

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Groznyj, die noch 1870 den Status einer Stadt erhielt, verbunden und zum Bezirk Groznyj (Groznenskij okrug) zusammengeschlossen. Tsche­tschenien und Dagestan blieben jedoch während der gesamten rus­sischen und späteren sowjetischen Herrschaft zwei administrativ voneinander getrennte Gebiete.31 Die Vereinheit­lichungsbestrebungen unter Großfürst Michail Nikolaevič kamen etwa auch dann zum Ausdruck, als der Statthalter am 1. Januar 1871 die Militärherrschaft über die Gebiete Terek und Kuban formell abschaffen ließ und diese in eine zivile Hauptverwaltung überführte. Dagegen blieb die militärisch-zivile Administration in Dagestan bestehen.32 Mit der Eingliederung der Gebiete in die zivile Verwaltung des Reichs sollten bessere Voraussetzungen für die Ausdehnung der graždanstvennostʼ auf eine Bevölkerung geschaffen werden, in denen der Großfürst Wilde sah, die sich auf der untersten zivilisatorischen Entwicklungsstufe befanden, wie der Statthalter dies unverblümt in einem 1873 erstellten Überblick über seine bisherige Amtszeit deklarierte.33 In der Praxis änderte sich für die nichtrus­sische Bevölkerung nach Überführung des Nordkaukasus unter die Zivilverwaltung des Statthalters aber wenig. Nach wie vor waren es die Offiziere, in deren Händen die administrative Macht konzentriert war, und die letzt­lich nichts anderes als einen Überwachungsstaat verkörperten, der nicht zögerte, direkt in die ört­lichen Belange der einheimischen Gesellschaften einzugreifen, Beschlüsse des Adat oder der Scharia aufzuheben und etwa auch die gewählten Ältesten einer Dorfgemeinschaft abzusetzen, falls sie es für zweckmäßig hielten. Während die Verwaltungs­strukturen in den Gebieten Terek und Kuban bereits ab den mittleren Ebenen rus­sisch und kosakisch geprägt waren, stellte sich in Dagestan die S ­ ituation insofern anders dar, als die Herrschaftsstrukturen gemeinhin stärker von Ein­heimischen dominiert waren. Das waren in Dagestan häufig Personen, die noch von Imam Šamil als Naibe eingesetzt worden waren, jedoch kurz vor dessen Niederlage die Seiten gewechselt hatten. Russen und andere Slawisch-Stämmige waren im Gebiet Dagestan nicht nur in den Verwaltungsstrukturen deut­lich in der Minderheit. Auch konzentrierten sie sich in den wenigen Städten; zudem machten sie prozentual nur einen kleinen Anteil der Gesamtbevölkerung aus. Bezirksvorsteher waren aber auch in Dagestan Offiziere, und der Gebietsvorsteher jeweils ein Auswärtiger.34

31 Cuciev, Atlas, S. 24 – 29. 32 Sbornik svedenij o Kavkazskich gorcach. Vypusk V, Tiflis 1871, S. 55. 33 Otčët po glavnomu upravleniju namestnika kavkazskago za pervoe desjatiletie upravlenija ­Kavkazskim i Zakavkazskim kraem ego imperatorskim vysočestvom knjazem Michailom ­Nikolaevičem. 6 ­dekabrja 1862 – 6 dekabrja 1872, Tiflis 1875, S. 60 – 63, hier S. 60. 34 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 197 – 198.

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Das Bekenntnis zu den lokalen Rechtstraditionen suchte die rus­sische Verwaltung in der Praxis zusätz­lich zu untergraben, indem sie die Normen des Adat, die vorwiegend münd­lich überliefert waren und lokal stark variierten, konsequent zu kodifizieren und in die imperiale Gesetzgebung zu integrieren begann. ­Archaische Formen der Rechtsprechung wie etwa die Blutrache, das Brautgeld oder die Beschlagnahmung von Eigentum als Vergeltungsmaßnahme bei Verbrechen wurden nun verboten. Dabei vollzog Barjatinskij in seiner Religions­politik bereits 1859 erneut eine Kehrtwende, indem er sich nun dezidiert gegen die Scharia stellte, um so den Einfluss der islamischen Geist­lichkeit zu verringern. Denn solange die gesellschaft­liche Organisation der Muslime auf den Gesetzen des Islam basierte, sah der rus­sische Statthalter kaum Mög­lichkeiten, diese Völker in einen christ­lichen Staat zu integrieren. Es war auch mit d­ iesem Ziel vor Augen, dass Barjatinskij etwa in Dagestan die Khanate wieder zuließ, weil er hoffte, über diese ein Gegengewicht zur theokratischen Staatsform zu schaffen.35 Auch die Kodifizierung des Gewohnheitsrechts drückte auf rus­sischer Seite somit weniger eine besondere Wertschätzung lokaler Traditionen aus als vielmehr den Versuch, über die Schaffung eines welt­lichen Rechtssystems und die Errichtung entsprechender Gremien den Einfluss der Scharia-Gerichte und damit auch der islamischen Geist­lichkeit zurückzudrängen.36 Diese Gerichte wollte die rus­sische Staatsmacht dadurch kontrollieren, indem sie die bestehenden reli­giösen Hierarchien in die gesamtimperialen Strukturen zu k­ ooptieren suchte. Damit war länger­fristig die Hoffnung verbunden, einen staatstreuen Islam zu schaffen, über den sich imperiale Herrschaft projizieren ließ.37 Doch anders als in den muslimischen Gebieten des Südkaukasus, wo Russland 1872 zwei offizielle muslimische Organisationen mit Sitz in Tiflis (für Angehörige der sunnitischen und schiitischen Richtug des Islam) nach dem Vorbild der älteren Muftiate von Orenburg und dem Taurider Muftiat auf der Krim errichteten ließ, wurden bis 1917 keine solchen Institutionen im Nordkaukasus (oder auch in den neu eroberten Gebieten Zentralasiens) geschaffen, auch wenn es in den 1860er

35 Diese Haltung bringt Barjatinskij in einem rückblickenden Bericht zu seiner Tätigkeit im K ­ aukasus an den Zaren vom Dezember 1862 unmissverständ­lich zum Ausdruck. Das Schreiben findet sich in: A. L. Zissermann, Felʼdmaršalʼ Knjazʼ Aleksandrʼ Ivanovič Barjatinskij 1815 – 1879. Tom vtoroj, Moskva 1890, S. 414 – 418, hier S. 415 – 416. 36 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 191 – 194; Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 142 – 175. 37 Juliette Cadiot, Searching for Nationality. Statistics and National Categories at the End of the Russian Empire (1897 – 1917), in: Russian Review 64 (2005), S. 440 – 455, hier S. 445. Weiter­ führend: Robert D. Crews, For Prophet and Tsar. Islam and Empire in Russia and Central Asia, Cambridge 2006.

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und 1870er Jahre Vorstöße in diese Richtung gegeben hatte.38 Die Schaffung einer ­hierarchisch organisierten islamischen Organisation stellte dem Reich zwar in­­sofern die Loyalität der islamischen Elite in Aussicht, als diese in den Genuss hand­fester Privilegien kam. Im Fall der südkauka­sischen Organisationen mit einem sunni­ tischen Mufti be­ziehungsweise einem schiitischen Scheich an der Spitze umfasste dies etwa die Befreiung von Steuern, staat­liche finanzielle Unterstützung und Aussicht auf Aufnahme in den Adelsstand. Für den Nordkaukasus fürchteten die zaristischen Verwalter jedoch, dass ihnen durch Schaffung solcher Muftiate die Kontrolle über die Tätigkeit der lokalen Geist­lichen entgleiten könnte – der­jenigen Personen, die der Bevölkerung besonders nahe standen und einen ent­sprechend großen Einfluss auf diese aussübten. In Dagestan etwa wurden die Mullahs und Kadis von der lokalen Bevölkerung gewählt und mussten danach von der r­ us­sischen Verwaltung bestätigt werden. Im System des Muftiats wären die lokalen Geist­lichen den über­geordneten isla­mischen Instanzen unterstellt worden, was Russlands direkte Einflussmög­lichkeiten geschmälert hätte.39 Zudem bestand ein grundsätz­liches Misstrauen aufseiten der zaristischen Verwalter gegenüber Anhängern der als gefähr­lich ­eingestuften Sufi-Orden. Wenn die zaristischen Verwalter auch im Nordkaukasus die Kooperation mit lokalen Geist­lichen anstrebten, dann vorzugsweise mit solchen, die in Opposition zum Sufismus standen und sich bereit zeigten, einen „ortho­doxen“ Islam zu unterstützen.40 Das ursprüng­liche Ziel Barjatinskijs, die Scharia zugunsten des Adat zurück­ zudrängen, erwies sich als hartnäckiger und letzt­lich erfolgloser Prozess.41 Oft orien­tierten sich die Dorfgerichte sowohl an herkömm­lichem als auch an islamischem Recht. Dabei wurde die Adat-Gerichtsbarkeit bei Landstreitigkeiten und der Regelung sozialer Beziehungen innerhalb eines Dorfs sowie zwischen Dörfern und Gemeinschaften angewandt. Dagegen kam die Scharia vor allem bei familiären Angelegenheiten, etwa für Streitigkeiten zwischen Mann und Frau, sowie im religiösen Leben zur Geltung.42 Trotz der ­Anstrengungen zur Kodifizierung des Adat-Rechts hielten sich insbesondere in den Berggebieten Dagestans und in Tsche­tschenien die archaischen Formen der Rechtsprechung hartnäckig. In der Praxis kam es vielfach vor, dass die lokalen ­Gemeinschaften 38 Timothy K. Blauvelt, Military-Civil Administration and Islam in the North Caucasus. 1853 – 83, in: Kritika 11 (2010), S. 221 – 255. 39 Ebd., S. 241 – 242. 40 Ebd., S. 246. 41 Zur rus­sischen und traditionellen Gerichtsbarkeit im Nordkaukasus während der Zarenzeit: Z. Ch. Misrokov, Adat i Šariat v rossijskoj pravovoj sisteme. Istoričeskie sudʼby juridičeskogo ­pljuralizma na Severnom Kavkaze, Moskva 2002, S. 19 – 119. 42 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 197; Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 203 – 204.

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die welt­lichen Gerichte zu umgehen suchten und auch schwere Delikte (zum Beispiel Mord) nach eigenen Rechtstraditionen (etwa der Blut­rache) beurteilten. Auch Landstreitigkeiten wurden oft nicht im Gerichtsgebäude, sondern in Form bewaffneter Konflikte entschieden. Besonders schlecht war es um die Situation der Frauen bestellt. So schien es etwa in Zentraldagestan keine Seltenheit zu sein, dass Frauen bei Vergehen von der (männ­lichen) Dorfgemeinschaft gesteinigt wurden.43 Die vielfältigen Reform- und Vereinheit­lichungsbestrebungen in dieser Zeit dürfen schließ­lich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Militär und Polizei dank ihrer weitgehenden Befugnisse faktisch ohnehin in jeden Bereich direkt eingreifen konnten. Entsprechend nahm ihr Handeln – zumindest aus Sicht der Bevölkerung – mitunter rein willkür­lichen Charakter an. Schwere Vergehen, die sich gegen staat­liche Einrichtungen oder Behörden richteten, wurden zudem ausschließ­lich von rus­sischen Militärgerichten abgeurteilt.44 Daran änderte auch die Reform von 1871 wenig, denn oft saßen rus­sische Offiziere auch den zivilen Gerichten vor.45 Vor ­diesem Hintergrund ist zu verstehend, dass es insbesondere in den Bergregionen wiederholt zu Unruhen und lokalen Aufständen gegen die rus­sische Herrschaft kam, die von Russland jeweils brutal niedergeschlagen wurden. Gesondert gilt es, in ­diesem Zusammenhang den Aufstand von 1877 zu betrachten, der als letzte große Erhebung eine regional übergreifende Dynamik entwickelte.

4. 2   D e r le t z t e D s ch i h a d Tsche­tschenien blieb auch nach der Niederwerfung der Aufstände der frühen 1860er-Jahre ein Unruheherd. Der Schwerpunkt des Widerstands verschob sich allerdings zunehmend auf Dagestan, ein Gebiet, in dem die Historiographie ­zwischen 1859 und 1877 18 Erhebungen gegen die rus­sische Herrschaft, alle davon in Berg­gebieten, zählt.46 Doch blieben alle diese Erhebungen lokal begrenzt und ­entsprechend gelang es der Besatzungsmacht jeweils auch, jene in gewohnter Manier mit militärischer Macht niederzuschlagen. Dies änderte sich 1877, als es zum ­letzten Mal in der

43 Aufschlussreich sind dazu zeitgenös­sische rus­sische Aufzeichnungen in der Sektion „Krimi­ nalistik“ der Zeitschrift Sbornik svedenij o Kavkazskich gorcach, die zahlreiche Vorfälle dieser Art beschreiben. Zur Bestrafung von Frauen und dem Fall einer Steinigung im Jahr 1866 in Zentral­dagestan: Izʼ gorskoj kriminalistiki, in: Sbornik svedenij o Kavkazskich gorcach. Vypusk I, Tiflis 1868, S. 57 – 67. 44 Bobrovnikov, Voenno-narodnoe upravlenie, S. 96. 45 Dettmering, Russlands Kampf gegen Sufis, S. 277. 46 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 137.

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Geschichte des Nordkaukasus zu einer großflächigen Rebellion ­nordkauka­sischer ­Völker gegen die rus­sische Herrschaft unter dem Banner des Dschihad kam. Dieser Volksaufstand erfasste auf dem Höhepunkt Hunderte von Siedlungen in Tsche­ tschenien, Dagestan und vereinzelt auch in anderen Teilen des Nordkaukasus sowie Dörfer im Norden des heutigen Aserbaidschan.47 Dass dieser Aufstand von der Sufi-Bruderschaft der Qādiriyya organisiert worden sei, wie dies einige zeitgenös­sische postsowjetische Historiker behaupten,48 lässt sich allerdings nicht erhärten. Tatsäch­lich trat die Qādiriyya nach der Verhaftung Kunta-Chadžis ab Mitte der 1860er Jahre viel stärker als zuvor in Opposition zur rus­sischen Herrschaft, und Anführer von Aufständen oder Bandenmitglieder mögen durchaus Anhänger der Qādiriyya gewesen sein oder zumindest mir ihr sympathisiert haben. Genauso wenig, wie die Naqšbandiyya ein Netzwerk war, das unter Šamil den Widerstand gegen Russland organisierte, genauso falsch wäre es, die Qādiriyya als solches zu begreifen. Auch den großen Aufstand 1877 haben nicht in erster Linie Scheiche der Qādiriyya angeführt. Vielmehr handelte es sich um eine breit abgestützte anti­­rus­sische Bewegung, die im April 1877 in einem Bergaul Ičkeriens ihren Anfang nahm, um sich dann schnell auf andere Teile der Region auszuweiten. Zwei Voraussetzungen machten den Aufstand mög­lich: Einerseits gab es eine Reihe von inneren Gründen. So herrschte unter der Bergbevölkerung damals großer Unmut über die Maßnahmen, die Großfürst Michail Nikolaevič gegen die Ausübung ihrer Religion (etwa das Verbot des Zikr) angeordnet hatte. Besonders in Dagestan kam hinzu, dass ehemalige lokale Potentaten im Rahmen der administrativen Um­­ gestaltung ihre früheren Machtpositionen verloren und in die Opposition zu Russland getrieben wurden. Auch Machtmissbrauch lokaler Verwalter konnte den Unmut in der Bevölkerung gegenüber der rus­sischen Herrschaft schüren. Einen Nährboden für die Aufstände bildeten schließ­lich auch die in den abgelegenen Berggebieten grassierende große Armut und (insbesondere im Terek-Gebiet) die als ungerecht empfundene Bevorzugung der Kosaken bei der Landvergabe. Andererseits erschien die internationale Situation günstig. So band der erneute Ausbruch des Kriegs zwischen Russland und dem Osmanischen Reich große militärische Kräfte und ließ den Zeitpunkt für einen Aufstand opportun erscheinen. 47 Zum Aufstand von 1877: Ebd., S. 143 – 151. 48 Diesen Hinweis macht etwa Anna Zelkina, wenn sie schreibt, dass alle Aufstände nach dem Ende des Šamil-Staates von Sufi-Scheichen angezettelt und angeführt worden wären, so auch derjenige von 1877: Zelkina, In Quest for God and Freedom, S. 247. Und der tsche­tschenische Historiker Emil Souleimanov schreibt mit Blick auf den Aufstand von 1877: „Soon, an extensive uprising occurred in 1877 – 1878 under the zikrist flag. In the Soviet period, as well as during Chechen independence, the qadiriyya tariq lay at the centre of revolts against the regime, and stood uncompromisingly for the idea of national sovereignty.“ Zitiert aus: Emil Souleimanov, An Endless War. The Russian-Chechen Conflict in Perspective, Frankfurt a. M. 2007, S. 69.

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Dass es einen direkten Zusammenhang mit der internationalen Lage gab, lässt sich kaum bestreiten. Rus­sische Quellen berichten, dass bereits in den Jahren vor Ausbruch des Aufstands Schreiben aus Istanbul zirkulierten, ­welche die Bevölkerung zur Re­­bellion aufriefen, darunter auch Briefe, die angeb­lich von Gazi Muhammad, dem Sohn Imam Šamils, der in der osmanischen Armee diente, verfasst worden sein sollen.49 Daneben suchten Emissäre aus dem Osmanischen Reich, die sich aus den Reihen nordkauka­sischer „Muchadžire“ (Emigranten) rekrutierten, die Berg­ bevölkerung zum Kampf gegen die Ungläubigen zu mobilisieren.50 Jedenfalls konnte es kein Zufall sein, dass es Mitte April 1877, zeitgleich zum Ausbruch des rus­sisch-türkischen Kriegs, zu einem ersten Aufstand kam, als sich die Bevölkerung Ičkeriens gegen die rus­sische Herrschaft erhob. Zu ihrem Imam und Führer wählten rund 60 Einwohner aus verschiedenen Siedlungen Alibek-Chadži Aldamov (1850 – 1878).51 Alibek-Chadži aus der kleinen Ortschaft Simsir (auch Semsir) befand sich kurz vor Ausbruch des rus­sisch-türkischen Kriegs auf dem Haddsch (arab. Ḥaǧǧ), der Pilgerreise nach Mekka, wo er von den Gerüchten über den bevorstehenden Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und Russland erfahren haben muss und vielleicht tatsäch­lich von „türkischen Patrioten“ dazu angestachelt worden sein könnte, in ­diesem Fall einen Aufstand gegen Russland zu orga­nisieren.52 Dass er sich sogar mit dem Sohn Imam Šamils, Gazi-­Muhammad, getroffen hatte, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht gesichert. Denn Alibek-Chadži und seine Familie hatten wenig Einfluss und kaum Beziehungen. Dass er sich von irgendeiner Seite von der Notwendigkeit eines Aufstands im Fall des Ausbruchs des rus­sisch-türkischen Kriegs überreden ließ, muss deshalb wohl tatsäch­lich seiner Überzeugung entsprochen haben und war wohl auch auf sein jugend­liches Alter zurückzuführen: Er dürfte erst etwa 25 Jahre alt gewesen sein.53 Alibek-Chadžis Ziel war die Unabhängigkeit von Russland und die Errichtung eines Imamats nach dem Vorbild Šamils. Entsprechend ernannte er zwei Naibe für seinen künftigen Staat, Sultan-Murad aus der Ortschaft Benoj und Sulejman aus dem Aul Contaroj, weniger als zehn Kilometer von Benoj entfernt.54 Ins­gesamt schlossen

49 M. G. Gadžiev u. a. (Hg.), Istorija Dagestana s drevnejšich vremën do XX veka. V dvuch tomach. Tom 1, Moskva 2004, S. 525 – 526. 50 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 143. 51 Chronika čečenskago vostanija 1877 goda, in: Terskij sbornik. Priloženie k Terskomu kalendarju na 1891 god. Vypusk pervyj, Vladikavkaz 1890, S. 3 – 92, hier S. 14. 52 N. Semënov, Izʼ nedavnjago prošlago na Kavkaze. Razskasy-vospominaija o čečenskom vostanii v 1877 g. Razkazʼ pervyj, in: Kavkazskij vestnik (1900) H. 4, S. 21 – 37, hier S. 24. 53 Ebd. 54 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 144; Semënov, Izʼ nedavnjago prošlago, S. 27.

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sich Alibek-Chadži 300 – 500 bewaffnete Männer an.55 Im tsche­tschenischen Aufstand sollte auch der vormalige Widerstandsführer Uma Duev zu einer bedeutenden Figur werden. Uma Duev, der nach seiner Verhaftung Ende 1860 und der Verbannung nach Innerrussland erst 1876 in den Kaukasus zurück­gekehrt war, schloss sich zwar erst nach anfäng­lichem Zögern, Mitte Juli 1877, den Aufständischen an, wurde danach aber zu einem ihrer wichtigsten Anführer.56 In Dagestan begann der Aufstand rund einen Monat später in einem Berggebiet, das an Tsche­tschenien grenzte, und weitete sich danach auf andere Bezirke aus, um im Spätsommer große Teile des Gebiets, einschließ­lich der an Dagestan angrenzenden Dörfer im heutigen Aserbaidschan, zu erfassen.57 Die Aufständischen gingen überall nach dem gleichen Muster vor: Sie überfielen kleinere Gruppen von Soldaten, griffen Befestigungsanlagen an und suchten über die Zerstörung von Brücken die Nachschublinien und Kommunikationswege der Armee, die sich in Tsche­tschenien nicht nur aus Teilen regulärer Infanterie, sondern auch aus Kosakenverbänden und ört­lichen Milizverbänden zusammensetzte, zu unterbrechen. Kern des bewaffneten Widerstands bildeten wie früher die Männerbünde der Dörfer. Russland hatte die Bünde zwar nach dem Ende der Kaukasuskriege zu zerschlagen versucht; sie wurden nun aber wieder neu formiert. Die Russen gingen ihrerseits gegen die Aufständischen vor, wie sie es immer taten: mit großer Härte und dem Niederbrennen ganzer Siedlungen. Dass die Kosakentruppen den Tsche­ tschenen dabei wiederholt auch das Vieh forttrieben, gab der Auseinandersetzung auch den Charakter eines Beutezugs.58 Zwar beteiligten sich im gesamten Nordkaukasus Hunderte von Ortschaften und Tausende von Bewaffneten am Aufstand, was es den Russen erschwerte, der Un­­ruhen schnell Herr zu werden. Insgesamt aber blieb die Bewegung wenig ­koordiniert und es fehlte eine starke Führung, die den tsche­tschenischen und dagestanischen Widerstand hätte einen können. Als die Bewohner Awariens den in der Bevöl­kerung hochgeachteten Scheich Abdurachman Sorgatlinskij (1792 – 1891) baten, den Titel des Imams und damit die Führung der Bewegung in Dagestan zu übernehmen, winkte dieser ab und schlug stattdessen seinen Sohn Muhammad Chadži vor, der im August 1877 zum Imam gewählt wurde. Es ist gut mög­lich, dass Sorgatlinskij damit andeuten wollte, dass er der Bewegung am Ende kaum Chancen auf Erfolg einräumte.59



55 Chronika čečenskago vostanija, S. 14. 56 Ebd., S. 28. 57 Gadžiev u. a. (Hg.), Istorija Dagestana, S. 529. 58 Chronika čečenskago vostanija, S. 88. 59 Bobrovnikov / Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 146.

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Erschwerend für die Aufständischen kam hinzu, dass wohl viele Menschen mit den Aufständischen sympathisierten, aber letzt­lich auch in Tsche­tschenien lange nicht alle am Aufstand teilnahmen. Insbesondere gelang es Alibek-Chadži nicht, die Tsche­tschenen der Ebene für den Aufstand zu gewinnen. Mehrfach stellten sich etwa die Bewohner Šalis dem Imam sogar entgegen und verhinderten ein ­Eindringen seiner Truppen.60 Die Situation stand aber jeweils auf Messers Schneide, denn jeder Erfolg des Imams steigerte auch seine Autorität. Darüber hinaus waren es Gerüchte vom bevorstehenden Sieg der Osmanen über Russland oder vom Aufstand in ­Dagestan, die einen Meinungsumschwung herbeiführen konnten: Dörfer, die noch kurz zuvor beteuert hatten, mit Russland verbunden zu sein, wechselten unverhofft ins Lager von Alibek-Chadži. Auffällig war, dass dies manchmal gegen den Willen der Dorfältesten geschah, die sich offenbar nicht in der Lage zeigten oder nicht gewillt waren, den Enthusiasmus der jungen Männer zu bändigen, die auf eigene Faust auszogen, um sich den Truppen Alibek-Chadžis anzuschließen. Umgekehrt konnten Nachrichten von Niederlagen der Truppen Alibek-Chadžis ebenso schnell wieder dazu führen, dass bestehende Allianzen unter den einzelnen Gemeinschaften zerbrachen und vormals rebel­lische Dörfer Russland erneut die Treue schwuren.61 Eine Besonderheit in Dagestan stellte der Umstand dar, dass viele Angehörige der früheren militärischen Elite Dagestans, unter ihnen auch vormalige Naibe Šamils, dem Imperium treu blieben und zum Teil Seite an Seite mit den zaris­tischen Truppen gegen die Aufständischen vorgingen, was letzt­lich auch als Ausdruck des Erfolgs zaristischer Kooperations- und Kooptationspolitik gelesen werden kann.62 Dazu zählte etwa Said Abdurachman (1837 – 1900/01) aus dem Kazikumuchskij-­ Bezirk im gebirgigen, zentralen Teil Dagestans. Abdurachman, der mit einer ­Tochter Šamils verheiratet war, kämpfte mit dem Imam bis zum letzten Tag gegen die ­rus­sischen Eroberer und lebte anschließend mit jenem im rus­sischen Exil in Kaluga. Mit ­rus­sischer Erlaubnis kehrte er 1866 in seine Heimat zurück und stellte sich in den Dienst des Russländischen Imperiums. In seinem Bericht zum Aufstand von 1877, den er als Beteiligter auf rus­sischer Seite selbst miterlebt hatte, bringt er insbesondere seinen Unmut darüber zum Ausdruck, dass sich auch ein Teil der Einwohner seines eigenen Dorfs gegen Russland erhoben habe. Dies beklagt er auch deshalb, weil die dortigen Bewohner bisher als besonders loyale Subjekte des Zaren

60 Chronika čečenskago vostanija, S. 18. 61 Besonders eindrück­lich tritt dies im Bericht von N. Semënov hervor, der zum Zeitpunkt des Aufstands Vorsteher eines Verwaltungsabschnitts im Ičkerskij Bezirk war und seine Erinnerungen aufzeichnete. Diese wurden in einer mehrteiligen Folge in der Zeitschrift Kavkazskij vestnik (Tiflis, Jahrgang 1900) publiziert. 62 Blauvelt, Military-Civil Administration, S. 254.

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ge­­golten haben sollen, die sich jeweils zusammen mit ihm gegen dessen Feinde gestellt ­hätten. Entsprechend gütig habe sich der Zar gegenüber diesen Einwohnern nach der Niederschlagung des Aufstands gezeigt und in der Folge nur diejenigen bestraft, die sich aktiv an den „Unruhen“ beteiligt hätten. Allerdings dringt aus dem Bericht Abdurachmans auch Kritik an der rus­sischen lokalen Verwaltung durch: Er verurteilt zwar die Ermordung des Vorstehers des Kazikumuchskij-Bezirks, L. M. Čember, doch beschuldigt er diesen gleichzeitig, einen groben Umgang mit der Bevölkerung gepflegt und kein Verständnis für die ört­lichen Sitten und Gepflogenheiten aufgebracht zu haben.63 Der Aufstand und dessen Niederschlagung, die in Tsche­tschenien Anfang O ­ ktober 1877 und in Dagestan im Laufe des Novembers 1877 erfolgten, zeigten deut­lich, dass trotz der Loyalität zahlreicher Angehöriger der nordkauka­sischen Elite immer noch große Teile der Bergbevölkerung die rus­sische Herrschaft ablehnten. Gleichzeitig machte der Verlauf der Rebellion aber auch klar, dass es angesichts der militärischen Übermacht Russlands nicht mög­lich war, zu Zuständen zurückzukehren, wie sie unter Imam Šamil geherrscht hatten. Dafür fehlte nicht zuletzt eine Persön­lichkeit, die als Integrationsfigur die divergierenden Interessen der Berg­bevölkerung hätte vereinigen und unter den oft sehr jugend­lichen Kämpfern jene militärische Dis­ziplin hätte durchsetzen können, die Voraussetzung dafür gewesen wäre, im Kampf gegen die gut organisierte rus­sische Armee zu bestehen. Zwar sollten sich Alibek-Chadži, Uma Duev und ihre Verbündeten Anfang Oktober 1877 noch nach Dagestan zum ­letzten Gefecht zurückziehen.64 Völlig ausgeschlossen war aber, dass die D ­ agestaner den jungen und weitgehend ungebildeten Tsche­tschenen Alibek-Chadži als ihren Anführer und Imam anerkannt hätten.65 Die Russen reagierten in der Folge mit härtester Unterdrückung. Sie ließen zahlreiche Siedlungen niederbrennen, konfiszierten Land und siedelten erneut große Teile der Bergbevölkerung in die Ebene oder ins Innere des Landes um. Wieder verließen Tausende die Heimat Richtung Osmanisches Reich. In Dagestan erhob die Zaren­administration eine Sondersteuer für jeden Haushalt, deren Mitglieder unter Verdacht standen, am Aufstand beteiligt gewesen zu sein.66 Die Verwalter 63 Der ursprüng­lich auf Arabisch verfasste Bericht liegt in einer rus­sischen Übersetzung vor: Abdurrachman iz Gazikumucha, Padenie Dagestana i Čečni vsledstvie podstrekatelʼstva ­osmanov v 1877 godu (predislovie, tekst, perevod, kommentarii), in: Dagestanskij ­vostokovedčeskij sbornik, Machačkala 2008 (übersetzt und kommentiert von S. M. Gusejchanov und M. A. Musaev), http://www.vostlit.info/Texts/Dokumenty/Kavkaz/XIX /Arabojaz_ist/Gazikumuchi/padenie_­ dagestana_1877.htm [9.4.2013]. 64 Chronika čečenskago vostanija, S. 91. 65 N. Semënov, Izʼ nedavnjago prošlago na Kavkaze. Razskasy-vospominanija o čečenskom vostanii v 1877 g. Razkazʼ tretij, in: Kavkazskij vestnik (1900) H. 7, S. 1 – 14, hier S. 9. 66 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 100.

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des Zaren ließen im Frühling 1878 alle wichtigen Anführer der Er­hebung bestrafen. Von den 18 führenden tsche­tschenischen Aufständischen wurden 13 zum Tod durch den Strang verurteilt, unter ihnen Alibek-Chadži. Diesmal kannten die ­rus­sischen Besatzer auch gegenüber Uma Duev keine Gnade. Auch er wurde gehängt.67 Ähn­ lich erging es den Aufständischen in Dagestan: Rund 300 am Aufstand beteiligte Personen wurden bestraft, ihre Familien (insgesamt rund 5000 Personen) ins Innere Russlands exiliert und ihre Aule zerstört.68 Es verwundert denn auch kaum, dass Zar Alexander II., der dank der Aufhebung der Leib­eigenschaft 1861 und weiterer Reformen gemeinhin als „Befreier“ und „Reformer“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, im historischen Gedächtnis vieler Menschen im Nordkaukasus als Despot in Erinnerung blieb, ein Bild, das in späteren Beschreibungen des Aufstands, in Liedern und der Folklore zum Ausdruck kommt.69

4. 3  Ko s a ke n he r r s ch a f t u nd Seg r eg at io n s p ol it i k Die Zeit nach der Niederwerfung des letzten großen Aufstands von 1877 hatte für die Situation der nichtrus­sischen Bevölkerung prekäre Folgen. Die Repression nahm zu, Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik erreichten einen neuen Höhepunkt. Verschärfend wirkte sich zudem die Ermordung Zar Alexanders II . im Jahr 1881 aus, auf die im ganzen Land eine Welle von Konterreformen und Repression folgte. Administrativ stellte das Jahr 1881 für den Nordkaukasus insofern einen Einschnitt dar, als die mit großen Kompetenzen ausgestattete Institution des namestničestvo abgeschafft und der Kaukasuskreis zunächst vollumfäng­lich in die allgemeine zivile Verwaltungsstruktur des Russländischen Imperiums überführt wurde. Bereits 1888 unterstellte der Zar per Dekret sowohl die zivile als auch die mili­tärische Verwaltung dem Kriegsministerium. Dieses steuerte über seine ­Reprä­­­­­­sen­tanten in den einzelnen Militärkreisen nicht nur die Entwicklung in der Region, s­ ondern über die zivilen Vorsteher auch jene in den einzelnen G ­ ebieten und Bezirken. Noch wichtiger als zuvor wurden im Terek-Gebiet nun das kosakische Element und die einzelnen Atamanen (Kosakenführer), denen Polizeiund Über­wachungsaufgaben übertragen wurden, was die Kontrolle über die von Tsche­tschenen und Inguschen bewohnten Aule einschloss. Auch die aus Einheimischen ­formierten Milizen wurden nominell den Kosakenvorstehern der einzelnen

67 Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Politika i ėkonomika, S. 238. 68 Gadžiev u. a. (Hg.), Istorija Dagestana, S. 531. 69 T. M. Ajtberova u. a. (Hg.): Vostanija dagestancev i čečencev v poslešamilevskuju ėpochu i ­imamat 1877 goda. Materialy. Tom 1, Machačkala 2001, S. 145 – 149, 168.

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Abteilungen unterstellt.70 Allerdings blieb die Verwaltungsstruktur im Nordkaukasus mosaikartig. Anders als im Terek-Gebiet bestand in Dagestan das Regime der militärisch-zivilen Administration noch bis 1917. Aufgrund der Tatsache, dass in Dagestan die administrativen Strukturen von Beginn weg immer stärker von Einheimischen durchsetzt waren, stellte sich das Problem einer rus­sischen beziehungsweise kosakischen Dominanz nie in gleicher Schärfe wie im Terek-Gebiet. Entsprechend schwieriger gestalteten sich Versuche der staat­lichen Obrigkeit, Russi­ fizierungsmaßnahmen durchzusetzen. Als die Zarenadministration 1913 anordnete, alle Amtsgeschäfte in Dagestan auf Rus­sisch zu führen (was faktisch auch eine Russifizierung des Gerichtswesens bedeutet hätte), kam es zum Aufstand (in der rus­sischen Geschichtschreibung bekannt als anti-pisarskoe dviženie), und das Vor­ haben musste aufgrund des großen Widerstands seitens der islamischen Geist­lichkeit rückgängig gemacht werden.71 Schien vielen Menschen die rus­sische Herrschaft ohnehin ungerecht und will­ kür­lich, so trifft dies vor allem auf die letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts zu, die als eine Zeit maximaler Ausgrenzung gelten dürfen und die Angehörigen der nichtrus­sischen Bevölkerung durch eine Reihe gesetz­licher Bestimmungen zu Bürgern zweiter Klasse machten. Am deut­lichsten kam dies im Terek-Gebiet durch eine Bestimmung vom 14. Mai 1893 zum Ausdruck, die es Angehörigen nord­­kauka­ sischer Völker, die nicht im Dienst des Staates standen, untersagte, sich in der Stadt Groznyj und in den Ortschaften (sloboda) Vozdviženskij, Šatoj und Vedeno niederzulassen oder dort Handel zu treiben. Bereits angesiedelte Familien, die nicht in die Kategorie staat­licher Bediensteter fielen, mussten in der Folge diese Orte ver­ lassen.72 Von den 15.564 Einwohnern Groznyjs, ­welche die Volkszählung von 1897 erfasste, gaben nur gerade 502 Personen Tsche­tschenisch als Muttersprache (rodnoj jazyk) an. Die überwiegende Mehrheit der Städter waren Russen und Angehörige anderer slawisch-stämmiger Völker sowie Juden.73 Gemäß der Statistik von 1897 lebten nur gerade 3,2 Prozent aller Tsche­tschenen in Städten.74 Die ­Bestimmungen für ­Groznyj wurden 1901 zwar wieder aufgehoben, jene für Vozdviženskij aber

70 Agadžanov (Hg.), Nacionalʼnye okrainy Rossijskoj imperii, S. 310; Z. Ch. Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Vlastʼ i obščestvo, Moskva 2009, S. 370. 71 Chadži Murat Donogo, Nažmuddin Gocinskij, in: Voprosy istorii (2005) H. 6, S. 34 – 57, hier S. 37. 72 Agadžanov (Hg.), Nacional’nye okrainy Rossijskoj Imperii, S. 311. 73 A. A. Golovlëv, Ėtapy i faktory formirovanija naselenija g. Groznogo (1818 – 1998 gg.), in: ­Izvestija Russkogo geografičeskogo obščestva. Tom 32. Nr. 1, 2000, S. 72 – 83, hier S. 75 – 76. 74 Am höchsten war 1897 der Anteil der städtischen Bevölkerung bei den Osseten mit immerhin 8 Prozent. Der Anteil anderer Nordkaukasusvölker an der städtischen Bevölkerung bewegte sich ebenfalls auf sehr tiefem Niveau: Belozërov, Ėtničeskaja karta, S. 59.

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erst 1906. Die Restriktionen für Vedeno und Šatoj galten dagegen noch bis 1916.75 Ebenfalls 1893 erteilte ein vom Zaren unterschriebenes Dekret ört­lichen Behörden praktisch uneingeschränkte Vollmachten, um Angehörige nichtrus­sischer Völker verhaften und im Schnellverfahren sowie unter Umgehung des üb­lichen Rechtswegs verurteilen zu können. Die lokalen Behörden des Terek-Gebiets hatten zudem das Recht, bei Verbrechen oder nur schon bei entsprechendem Verdacht eigenmächtig die Ausschaffung von Nordkaukasiern samt ihren Familien nach Sibirien anzuordnen.76 Zwar entsprach die Segregationspolitik durchaus dem Geist der ­vorherrschenden politischen Strömungen unter der Elite des Russländischen Imperiums, einem Denken, das von überzeichneten slawophilen Gefühlen und großrus­sischem N ­ ationalismus geprägt war. Letzt­lich waren es aber einzelne Personen vor Ort, die der Politik ihren Stempel aufdrückten. Treibende Kraft hinter der Segregations­politik im Terek-­Gebiet war dessen Vorsteher, der Ataman der Tereker Kosaken­truppen Semёn Vasilevič ­Kachanov (1842 – 1908), der von 1890 bis 1899 amtete.77 So entwarf er etwa den Text für ein 1894 verabschiedetes Gesetz, das bei Vergehen von einzelnen Angehörigen eines „Bergvolks“ Kollektivstrafen gegenüber ganzen Dorfgemeinschaften erlaubte – eine Bestimmung, die bis zur Abschaffung des Zarismus in Kraft bleiben sollte.78 Ebenso führte Kachanov ein Pass-System ein, das Angehörigen eines bestimmten Volks die Niederlassung in Ortschaften, die von einer anderen Volksgruppe bewohnt waren, verbot und die Bewegungsfreiheit der Einheimischen stark einschränkte.79 An die Kosaken erging die Anweisung, Bekanntschaften (kunačestvo) mit „Berglern“ zu meiden. Umgekehrt war es diesen untersagt, Kosakensiedlungen zu besuchen.80 Überhaupt war die Migration von Angehörigen der nichtrus­sischen Bevölkerung in dieser Zeit stark eingeschränkt, was sich insbesondere für die Bewohner in den Bergen nachteilig auswirkte, die im Winter ihr Vieh in die Ebene zu treiben pflegten. Gemäß einer Bestimmung des Vorstehers des Terek-Gebiets, die aus dem Jahr 1884 stammte, war diese Art von Migration von den Aulen der Berge in die Ebene nur dann erlaubt, wenn ein Aul der Ebene den Migranten Land zur Verfügung stellte.81 Diese Politik als Folge einer forcierten „Russifizierung“ erklären zu wollen (ein Oberbegriff, mit dem die west­liche Literatur gemeinhin den Charakter der

75 Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Vlastʼ i obščestvo, S. 371. 76 Ebd., S. 368. 77 Ebd., S. 367 – 370; Genealogičeskaja baza znanij. Persony, familii, chronika, http://baza.vgdru.com/ post/1/15274/p46861.htm [9.4.2013]. 78 Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Vlastʼ i obščestvo, S. 368. 79 Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 32. 80 Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Vlastʼ i obščestvo, S. 368. 81 N. Ju. Silaev, „Kavkaz ne stanet…“ Vladikavkazskaja železnaja doroga. Neskolʼko ­nezamečennych sjužetov, in: Ders. (Hg.), Kavkazskij sbornik, S. 110 – 128, hier S. 123.

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spät­zaristischen Herrschaft über nichtrus­sisch besiedelte Gebiete beschreibt), erscheint im Fall des Nordkaukasus nur beschränkt adäquat und wenig aus­ sagekräftig.82 Zumindest was die Situation im Terek-Gebiet betrifft, ist es für die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts wohl zutreffender, die Herrschaftsform als eine Art Apartheid-System zu sehen, das Angehörige der nichtrus­sischen, mehrheit­lich muslimischen Bevölkerung von den übrigen Bewohnern des Gebiets, den christ­lichen Russen und Kosaken, trennte und sie in vielerlei Hinsicht diesen gegenüber benachteiligte. Eine gezielte Russifizierung im Sinne einer Verdrängung lokaler Eliten und einer forcierten Verbreitung der rus­sischen Sprache und Kultur konnte im Terek-Gebiet insofern nur bedingt stattfinden, als die Einheimischen in den politischen Strukturen ohnehin kaum präsent waren. Außerdem wurden sie von den gesellschaft­lichen Mobilisierungsprozessen, wie sie im Zuge der Ausbreitung der Industrie und des säkularen Bildungswesens anderswo im Reich abliefen, nur marginal erfasst. So gab es damals in den tsche­tschenischen Aulen keine welt­lichen Schulen. Auf Anweisung des Vorstehers des Terek-Gebiets wurde 1877 in Vedeno die einzige Schule für Einheimische, die nur sieben Jahre vorher eröffnet worden war, wieder geschlossen.83 Kinder nichtrus­sischer Nordkaukasusvölker war es erlaubt, die wenigen „Berg­ schulen“ (gorskie školy) zu besuchen. Die Grundlage für die Einrichtung solcher Schulen schuf Graf Barjatinskij per Gesetz von 1859.84 Das Ziel dieser ­Schulen, die zunächst in den größeren Ortschaften Vladikavkaz, Nalʼčik, Temir-Chan Šura, Ustʼ-Labinskij, Groznaja und Suchum errichtet wurden und drei respektive vier Schuljahre umfassten, war die Verbreitung von graždanstvennostʼ und Bildung für eine ausgewählte Schicht von Kindern aus angesehenen Familien aus den ­Reihen von „fried­lichen Berg­ lern“, die sich Russland unterworfen hatten, und aus ­rus­sischen Offiziersfamilien, die im Kaukasus dienten. Der Plan Barjatinskijs sah vor, für die Schule bei der Festung Groznaja insgesamt 40 Schüler zuzulassen, davon 25 Kinder von „achtbaren Tsche­ tschenen und Kumyken“ und 15 von rus­sischen Beamten.85 Die Schüler waren in Pensionen untergebracht, die den Schulen angegliedert waren. Nebst welt­lichen Fächern (rus­sische Sprache, Arithmetik, Schönschreiben, Geo­grafie) wurden auch religiöse Fächer (christ­lich-orthodoxes Recht für die christ­lichen ­Kinder, islamisches Recht 82 Zutreffender ist es, im Fall des Nordkaukasus Russifizierung als einen Trend, nicht als gezielte Politik zu begreifen, wie dies Austin Jersild vorschlägt: Jersild, Orientalism and Empire, S. 126. 83 Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 22; dies., Carskoe prošloe čečencev. Nauka i kulʼtura, Moskva 2009, S. 511. 84 Der Gesetzesentwurf vom 20. Oktober 1859 zur Errichtung von Bergschulen findet sich in: Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 658 – 661. 85 Ebd., S. 659. Bereits kurze Zeit später sollte diese Schule allerdings wieder geschlossen werden. 1863 wurde erneut eine ­solche Schule auf Primarstufe eingerichtet. Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 19.

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für die muslimischen) unterrichtet.86 Unterrichts­sprache war grundsätz­lich Rus­sisch. Vereinzelt wurde im Kaukasus auch in welt­lichen Schulen in einheimischen lokalen Sprachen unterrichtet, falls dafür lokale Lehrer zur Verfügung standen. Doch ab 1891 war in der gesamten Region (aber auch in anderen nichtrus­sisch besiedelten Gebieten des Reichs) nur Rus­sisch als Unterrichtssprache erlaubt.87 Insgesamt stellte sich im Terek die Bildungssituation mit Blick auf die Ausbildung von Nichtrussen jedoch auch zu Ende des 19. Jahrhunderts noch immer bedenk­lich dar: 1893 existierten im Terek-Gebiet zwar bereits 222 Bildungseinrichtungen mit insgesamt 14.000 Schülern (darunter drei Gymnasien für Jungen und eines für Mädchen). Von den 30 Grundschulen, die Kinder von Eingeborenen ­zuliessen, befanden sich 24 in Ossetien und wurden über Mittel der sogenannten Gesellschaft für die Wiederrichtung der Orthodoxie getragen, eine Institution, die unter Graf Barjatinskij 1860 eingerichtet worden war. Im gesamten übrigen Gebiet existierten aber 1893 nur gerade sechs Schulen, an denen insgesamt 458 Kinder von Angehörigen der übrigen Völker (Kabardiner, Tsche­tschenen, Inguschen, Kumyken und andere) unterrichtet wurden.88 Nur vereinzelt wurden Studierende aus diesen Bergschulen an höheren Bildungsinstitutionen aufgenommen.89 Aufschlussreich sind in ­diesem Zusammenhang auch Statistiken von 1897, die im Rahmen der ersten reichsweiten Volkszählung erhoben wurden. Obwohl sie lückenhaft sind, vermögen sie doch einen Eindruck der Situation zu vermitteln. Zum Zeitpunkt der Volkserhebung gaben für den Nordkaukasuskreis unter jenen Personen, die Tsche­tschenisch als ihre Muttersprache bezeichneten (worunter auch die Inguschen fielen), nur gerade 759 Befragte (0,43 Prozent) an, Rus­sisch lesen zu können. Unter allen Völkern des Nordkaukasus waren die Osseten mit 5175 Personen (7,77 Prozent) am stärksten vertreten. Bei den rus­sischsprachigen Völkern des Nordkaukasus (worunter neben Russen auch Kosaken fielen) lag der Anteil der Lesekundigen dagegen bei knapp einem Viertel. Immerhin gaben unter den Tsche­ tschenisch sprechenden Personen laut Volkserhebung 4721 Personen (2,59 Prozent) an, in anderen Sprachen lesen zu können, was auf Arabischunterricht an einer isla­ mischen Schule schließen lässt.90 Vereinzelt wurde auch in islamischen Schulen ­Rus­sisch unterrichtet, doch von einer eigent­lichen Kampagne zur Verdrängung

86 Felicyn / Naumov (Hg.), Akty, Tom XII, S. 658 – 659. 87 Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 17. 88 G. A. Vertenov, Obzorʼ Terskoj oblasti za 1894g., in: Zapiski Kavkazkago otdela imperatorskago Russkago geografičeskago obščestva. Knižka XIX, Tiflis 1897, S. 115 – 160, hier S. 130 – 134. 89 Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 20 – 21. 90 Befragt wurden in dieser Umfrage nur Personen über zehn Jahren. Die Angaben finden sich in: Henning Bauer u. a. (Hg.), Die Nationalitäten des Rus­sischen Reiches in der Volkszählung von 1897. A: Quellenkritische Dokumentation und Datenhandbuch, Stuttgart 1991, S. 239 – 240.

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islamischer Schulen oder des Islam konnte zu ­diesem Zeitpunkt nicht gesprochen werden. Immerhin zählte das Terek-Gebiet Anfang des 20. Jahrhunderts 115 ­Medressen (arab. madrasa, wörtl. „Ort des Studiums“, höhere islamische Bildungsstätte) und 138 islamische Grundschulen (arab. maktab) mit über 3000 Schülern.91 Die Verbreitung der Orthodoxie über Einrichtungen wie die erwähnte Gesellschaft für die Wiederrichtung der Orthodoxie wurde von Barjatinskij zwar anfäng­lich gefördert, doch bereits 1878 war es der orthodoxen ­Kirche per Gesetz untersagt, in den stark muslimisch geprägten Gebieten wie Tsche­tschenien oder Dagestan zu missionieren. Auch nahm die Zahl neu errichteter Moscheen und islamischer Schulen bis zum Ausbruch der Revolution stark zu.92 Am deut­lichsten zeigten sich die Ungleichheiten jedoch in der Verteilung von Land, was vor allem im Terek-Gebiet das brennendste Problem darstellte und das Verhältnis der Tsche­tschenen und Inguschen zu den Kosaken nachhaltig vergiften sollte. Landwirtschaft und Viehzucht waren die mit Abstand wichtigsten Wirtschaftsbereiche im Terek-Gebiet und bildeten nament­lich für die Tsche­tschenen und Inguschen die Existenzgrundlage schlechthin. Dies lässt sich bereits daraus er­sehen, dass gemäß den Resultaten der Volkszählung von 1897 von 271.310 Personen, die Tsche­tschenisch als ihre Muttersprache angaben, rund 97 Prozent als Bauern aufgeführt waren. Den Rest bildeten vor allem Händler und Handwerker. Verhältnismäßig wenige Tsche­tschenen waren damals in anderen Berufen tätig, etwa in der Armee (188 Personen) oder in der Verwaltung (748 Personen).93 Besonders prekär stellte sich die Landarmut in den Berggebieten Tsche­ tscheniens dar, wo rund ein Drittel der Bevölkerung lebte, die aber aufgrund der Knappheit an Ackerland sch­licht nicht imstande war, sich selbst ausreichend zu versorgen, wie dies bereits zeitgenös­sische Beobachter feststellten.94 Ein noch größeres Gefälle als zwischen den Tsche­tschenen der Ebene und denjenigen der Berge bestand aber zwischen den Terek-Kosaken und den Tsche­tschenen. Verfügten die Kosaken des Terek im Durchschnitt über 21,3 Desjatinen Land pro

91 Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 18. 92 Ebd., S. 16. 93 Henning Bauer u. a. (Hg.), Die Nationalitäten des Rus­sischen Reiches in der Volkszählung von 1897. B: Ausgewählte Daten zur sozio-ethnischen Struktur des Rus­sischen Reiches. Erste Auswertungen der Kölner NFR-Datenbank, Stuttgart 1991, S. 261, 287. Obwohl in der Forschung richtiger­weise darauf hingewiesen wird, dass die Berufsdaten mit Vorsicht zu genießen sind, weil nicht zuletzt auch die Kategorien der einzelnen Berufsgruppe unscharf voneinander abgetrennt sind, so bildet die Erhebung von 1897 doch die einzige Quelle, ­welche einen gesamt­haften Eindruck von der Berufsstruktur im Russländischen Reich vermitteln kann. Dazu: Claudia Pawlik, Berufe, in: Bauer u. a. (Hg.), Nationalitäten, A: Quellenkritische Dokumentation und Datenhandbuch, S. 430 – 488. 94 Maksimov, Čečency, S. 54.

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männ­liche steuerpflichtige Person (naličnaja duša mužskogo pola), so waren es bei Tsche­tschenen, die in der Ebene siedelten, gerade einmal 4,1 Desjatinen (bei den Bergtsche­tschenen sogar nur 1,23 Desjatinen).95 Damit verfügten die Tsche­ tschenen auch über weniger Land als die anderen Völker des Nordkaukasus wie etwa die Kabardiner (8,37 Desjatinen), die Osseten in der Ebene (5,3 Desjatinen) oder die bei Nazran siedelnden Inguschen (4,3 Desjatinen).96 Im Unterschied zu den Terek-Kosaken befand sich nur ein kleiner Teil des tsche­tschenischen Landes in privaten Händen (nament­lich in denjenigen der von Russland beschenkten Offiziersfamilien), der größte Teil wurde von den einzelnen Aulen gemeinschaft­ lich bewirtschaftet, wie dies der Tradition der Tsche­tschenen entsprach.97 Als ungerecht wurden nicht nur die Landverhältnisse zwischen Tsche­tschenen und Kosaken angesehen, sondern auch diejenigen zwischen den Tsche­tschenen selbst. Als Tsche­tschenen 1888 mit einer Bittschrift an den Zaren herantraten, um auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen, beklagten sie sich auch darüber, dass die besten Ländereien an wenige tsche­tschenische Familien verteilt und die umliegenden Aule dadurch benachteiligt worden waren.98 Die Landknappheit führte nicht nur zu wiederholten Kleinkonflikten unter den Gemeinschaften der Region selbst, sondern wurde erstmals Anfang der 20. Jahrhunderts auch zum Gegenstand der hohen Politik. Wie sich die Situation darstellte, verdeut­lichte der Vertreter des Terek-Gebiets, Anton Petrovič Maslov (1861 – 1916), in einer Rede am 5. Juli 1906 an die Mitglieder des unlängst bestellten rus­sischen Parlaments, der Staatsduma:99 [D]er Kaukasus wird von Kosaken, Eingeborenen [tuzemcy] und zugezogenen Russen, sogenannten Auswärtigen [inogorodnye] besiedelt. Die Länder sind alle aufgeteilt zwischen diesen Volksgruppen [narodnosti]. Ein Fünftel der Gesamtbevölkerung stellen die Kosaken dar, doch beim Land[besitz] ist das Verhältnis zwischen diesen und den anderen Volksgruppen umgekehrt proportional. Die Einheimischen, die sich aus Tsche­tschenen, Osseten und anderen Völkerschaften zusammensetzen, befinden sich in einer schreck­ lichen Situation. (…) Sie können sich nicht vorstellen, wie heruntergekommen die länd­ lichen Siedlungen etwa bei den Tsche­tschenen sind: 1/5, 1/10, 1/4 und 1/3 einer Desjatine. Wenn Sie [einen Tsche­tschenen] fragen, wie viel Land er hat, dann wird er sagen, er hat

95 Wobei der Anteil in den einzelnen Bergaulen offenbar großen Schwankungen unterlag (zwischen 0,05 und 5,3 Desjantinen): Ebd., S. 53. 96 Ebd., S. 53 – 55. 97 Ebd., S. 42. 98 Ebd., S. 56. 99 Terskie Vedomosti, Nr. 126 (1906), zitiert bei: A. Avtorchanov, K osnovnym voprosam istorii Čečni (k desjatiletiju Sovetskoj Čečni), Groznyj 1930, S. 40 – 41.

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so viel, wie unter seinem Mantel [burka] Platz hat. Das Land kostet dort viel. So zahlt man zum Beispiel für ein Stück Land unter einer Kuh so viel wie für die Kuh selbst.

Die Vergleiche waren überzeichnet, doch der Appell verfehlte seine Wirkung nicht. Bereits wenig später rief der neue Statthalter im Kaukasus, Graf Voroncov-Daškov, eine Kommission ins Leben, die genauen Aufschluss über die Landsituation im Nordkaukasus geben sollte. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Demnach entfielen in den Bergregionen des Nordkaukasus auf eine männ­liche Person rund 7,5 Desja­ tinen Land, wovon aber nur rund 0,57 Desjatinen als Ackerfläche nutzbar waren. Der Rest bestand aus Weiden und Wiesen für die Viehzucht. Im Durchschnitt verfügte ein Kosake im Terek-Gebiet dagegen über 18,8 Desjatinen Land, das meiste davon war Ackerland. Gestützt auf die Ergebnisse der Kommission publizierte Georgij Cagalov im Juli 1912 einen Beitrag in den Terskie vedomosti. Darin beklagte er, dass die Fläche, die den in den Bergen siedelnden Völkern zur Verfügung stehe, nur gerade 14 Prozent der Bevölkerung ernähren könne. Der Rest sei gezwungen, auszuwandern oder in Armut zu leben – oder aber bei Kosaken Land zu oft sehr ungünstigen Bedingungen zu pachten.100 Zur Landarmut kam die ungleiche Erschließung der Region durch Straßen und Eisenbahnen. Nicht nur blieben die Bergregionen Tsche­tscheniens, Inguschetiens und Dagestans aufgrund schlechter Straßen weitgehend vom Rest des Landes ­ab­geschnitten. Der Ausbau der Transportinfrastruktur in der Ebene, insbesondere der Bau neuer Eisenbahnverbindungen – von Rostov am Don nach Vladikavkaz und von Beslan nach Petrovsk-Port und weiter nach Derbent und Baku –, brachte neue Siedler aus dem Inneren Russlands in die nordkauka­sische Ebene. Das Schwinden freier Landstücke in der Ebene beeinträchtigte die traditionelle Wirtschaftsstruktur der nichtrus­sischen Bevölkerung insofern zusätz­lich, als diese darauf angewiesen war, im Herbst und Winter ihre Viehherden, die den wichtigsten Teil ihres Auskommens darstellten, von den Bergen in die wärmeren Zonen der Ebene treiben zu können.101

4.4  D e r Nor d k a u k a s u s a m Vor a b e nd d e r Revolut io n Dass der Zar entschied, das Amt des Statthalters 1905 wieder einzuführen, entsprang wohl der Einsicht, dass die „letzten zwanzig Jahre zu ziem­lich schlechten Resultaten“ geführt hätten, wie der neue namestnik des Zaren im Kaukasus, Graf

100 Terskie Vedomosti, Nr. 144, 145, 146 (1912), zitiert bei: Ebd., S. 37 – 40. 101 Silaev, „Kavkaz ne stanet…“, S. 118 – 120.

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Voroncov-Daškov, in einem Bericht vom 10. Februar 1907 rückblickend festhält.102 Dass dies gerade im Jahr 1905 geschah, war mit Blick auf die Entwicklungen in Russland selbst wohl kein Zufall. Es war schließ­lich präzise in dem Jahr, in dem das Ansehen der Monarchie nach dem verlorenen rus­sisch-japanischen Krieg, der blutigen Niederschlagung eines fried­lichen Protestmarschs durch Kosaken­ einheiten in St. Petersburg und Erhebungen im ganzen Land angeschlagen war. Der Zar sah sich gezwungen, gesellschaft­lichen Forderungen nach Freiheit und politischer Par­ti­zipation in Form einer Ver­fassung und der Schaffung einer gewählten nationalen Volksvertretung (Duma) nachzukommen. Dass in d­ iesem Parlament auch Re­­präsentanten nichtrus­sischer Parteien und muslimischer Völker vertreten waren, spiegelte das politische und kulturelle „Erwachen“ wider, das sich im Fall der Muslime auch in einem stürmischen Aufschwung von Publikationen in arabischer Sprache und den Sprachen der jeweiligen Volksgemeinschaften äußerte.103 Zwar blieb der politische Einfluss der Duma stark beschränkt und der Zar löste diese Institution im Laufe ihres Bestehens zweimal auf. Auch wurde die freie ­Meinungsäußerung in der Presse wiederholt stark beschnitten. Immerhin aber blieb die Duma als nationales Volksvertretungsorgan mit Unterbrechungen bis zur Revo­ lution von 1917 bestehen und stellte eine Diskussionsplattform für unterschied­liche ­Meinungen dar. Auch innerhalb der Presselandschaft, die unter der zaristischen Zensur zu leiden hatte, bestanden Nischen, die ein Minimum an freier Meinungsäußerung erlaubten. Russifizierungstendenzen oder Versuche zur Stärkung der Orthodoxie waren auch Anfang des 20. Jahrhunderts ein Merkmal der imperialen Politik, doch gab sich die Monarchie an ihrer nichtrus­sisch besiedelten Peripherie zurückhaltender als in den 1880er- und 1890er-Jahren. Im Vergleich zu Teilen des Südkaukasus, die wiederholt von ethnischen Unruhen (nament­lich in Städten wie Baku und Tiflis), zum Teil aber auch von Bauer­naufständen, erfasst wurden, waren die revolutionären Erscheinungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Terek-Gebiet und in Dagestan kaum direkt spürbar. Eine Ausnahme bildete die Stadt Groznyj mit ihrer Erdölindustrie, die im Sommer 1906 große und zum Teil blutig ausgetragene Arbeiterstreiks erlebte.104 Die Leitungen der verschiedenen Erdölunternehmen sahen sich angesichts der Massenproteste genötigt, Forderungen nach Verbesserungen der Arbeitsbedingungen nachzukommen. Der Forderungskatalog der Arbeiter enthielt dabei auch Punkte, die speziell auf die Situation der muslimischen Arbeiterschaft hinwiesen. So sollten die Muslime an religiösen Feiertagen der Arbeit 102 Zitat aus dem Schreiben Voroncov-Daškovs, 10. Februar 1907, in: Gordin u. a. (Hg.), Kavkaz i Rossijskaja imperija, S. 491. 103 Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, S. 268 – 277. 104 M. S. Simonova u. a. (Hg.), Vtoroj period revoljucii. 1906 – 1907 gody. Častʼ vtoraja. Maj-sentjabrʼ 1906 goda. Kniga vtoraja, Moskva 1962, S. 221 – 229.

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fernbleiben dürfen, durch Schaffung von Moscheen oder Andachtsräumen innerhalb der Betriebe sollte ihnen ein Ort zum Beten zur Verfügung gestellt werden, und schließ­lich trat die Arbeiterschaft auch mit der Forderung an die Betriebsleitungen heran, Muslime „ohne negative Vorurteile“ zu behandeln und sie „zu Arbeiten im Bereich der Bohrtätigkeiten und in den Werkstätten auf einer Stufe mit den Orthodoxen“ zuzulassen. Obwohl die Betriebsführungen den Vorwurf ablehnten, dass Muslime nicht die gleichen Rechte wie die slawisch-stämmigen und orthodoxen Arbeiter genießen würden, war es doch eine Tatsache, dass diese in den höher qualifizierten Arbeitsbereichen kaum vertreten waren und vermut­lich auch nicht gefördert wurden.105 Das Land war von revolutionären Erscheinungen zwar nicht betroffen, doch die Umwälzungen in den Städten strahlten durchaus auf das Land aus, das der staat­lichen Kontrolle zunehmend zu entgleiten drohte. Nament­lich in den von Inguschen und Tsche­tschenen besiedelten Gebieten nahmen die Unruhen zu Anfang des 20. Jahrhunderts derartig große Ausmaße an, dass das Postwesen ausgesetzt werden musste, wie der Schweizer Geschäftsmann Charles Manuel, der sich 1907 auf seiner Reise in den Kaukasus und nach Turkestan auch in Vladikavkaz aufhielt, in seinen Memoiren zu berichten weiß.106 Dabei unternahm die Staatsmacht gerade in ­diesem Zeitraum Anstrengungen, der nichtrus­sischen Bevölkerung ihr Wohlwollen zu signalisieren, wenn im Terek-Gebiet etwa die Restriktionen b­ e­treffend die Bewegungsfreiheit der nichtrus­sischen Bevölkerung gelockert und die will­kür­lichen Rechtspraxen, wie sie während der Kosakenherrschaft üb­lich gewesen waren, eingedämmt wurden. Über die Bildung einer Kommission zur Landfrage im Jahr 1906 hatte Graf Voroncov-Daškov zumindest auf dem Papier ein ­Interesse der Staatsmacht signalisiert, das Problem der Landverteilung anzugehen. Auch erkannte der Graf, dass die größte Herausforderung bei der Entwicklung der Region und deren Integration in den imperialen Raum in der „Entfremdung“ zwischen Staat und lokaler Bevölkerung liege, deren kulturelles Niveau in einem fast ursprüng­lichen [pervobytnom] Zustand verharrt sei, wie der Statthalter des Zaren in einem Bericht im April 1910 notiert.107 Um diese Kluft zu überwinden, so liest sich im selben Bericht weiter, gelte es, der eingeborenen

105 Ebd., S. 225 – 226. 106 Charles Manuel lebte und arbeitete zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland und hielt seine Eindrücke in Memoiren fest, in denen er die Ereignisse in Moskau im Sommer 1905, seine Reise in den Kaukasus und nach Turkestan 1907, den Krieg und die Revolution 1914 – 1918 und eine Expedition in den Kaukasus 1919 – 1920 beschreibt. Sein 329-seitiger, auf Franzö­sisch verfasster Bericht ist undatiert und findet sich im Archiv der Hoover Institution. Die Reise in den Kaukasus 1907 (Titel: „Turkestan et Caucase 1907“) stellt den zweiten Teil seiner Memoiren dar und umfasst 25 doppelt beschriebene Seiten: Hoover Institution Archives, Charles Manuel memoir, 1 item, S. 20. 107 Schreiben Voroncov-Daškovs an Zar Nikolaj II. in Zusammenhang mit dem Überfall Zelimchans auf das Schatzamt von Kizljar vom 27. März 1910, 29. April 1910, in: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, Ll. 18ob–19.

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Der Nordkaukasus im Zarenreich

Bevölkerung die ­graždanstvennostʼ einzuimpfen und die „Entwicklung der Kultur“ zu fördern.108 Voroncov-­Daškov forderte mehr Mittel, um etwa auf dem Land rus­ sische Schulen zu eröffnen, die abgelegenen Bergregionen durch den Bau von Straßen zu erschließen, Landwirtschaft und Industrie zu fördern, die allgemeine Wehrpflicht auf die muslimische Bevölkerung auszudehnen sowie den staat­lichen Verwaltungs­ apparat auf dem Land, dessen Beamte eine oft „verbrecherische Untätigkeit“ an den Tag legen würden, aufzustocken und besser zu entlohnen.109 In der Realität brachte die Rückkehr zum vormaligen System der mili­tärischzivilen Administration genauso wenige Verbesserungen für die Masse der Berg­ bevölkerung wie die Einsicht des Grafen, dass Veränderungen unbedingt nötig seien. Wenn sich um die Jahrhundertwende in den wenigen Städten und größeren Ortschaften des Terek-Gebiets eine schmale Schicht einer nordkauka­sischen Intelligenzija herauszubilden begann, der Lehrer, Juristen, Unternehmer und Offiziere angehörten, dann war dies nur bedingt auf eine entgegenkommende Politik seitens des Russländischen Imperiums gegenüber den nichtrus­sischen Einwohnern des Nordkaukasus zurückzuführen. Vielmehr hatte es damit zu tun, dass es Teile dieser Gesellschaften verstanden, sich mit den neuen Bedingungen zu arrangieren und die wenigen Bildungsangebote und Nischen für die Ausführung bestimmter gesellschaft­licher Tätigkeiten zu n­ utzen. In den tsche­tschenischen Bezirken und in wachsendem Ausmaß auch in Groznyj und sogar in Vladikavkaz waren es zunehmend Tsche­tschenen, die erfolgreich das Handelswesen zu monopolisieren verstanden.110 Dabei entstammten die Angehörigen dieser Elite in den meisten Fällen reichen Familien mit großem Landbesitz, die sich nach der Eroberung durch Russland bereits in den 1850er-Jahren in den Sold der imperialen Armee oder als Angestellte in den Dienst des Zarenreichs gestellt hatten und nun im Handel oder in der boomenden Erdölindustrie zu Reichtum kamen.111 Das Register des rus­sischen Erbadels führte Anfang des 20. Jahrhunderts sogar zwei reiche tsche­ tschenische Familien aus dem Bezirk Groznyj, die Čermoevs und Kurumovs.112 Der Aufschwung der Stadt Groznyj und ihrer Erdölindustrie, die auch eine kleine Zahl tsche­tschenisch-stämmiger Arbeiter beschäftigte, vermochten auch einige islamische Geist­liche im Umfeld der Naqšbandiyya zu n­ utzen. So wurde etwa

108 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 19. 109 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, Ll. 15, 18 – 20ob. 110 S. Berdjaevʼ, Čečnja i razbojnikʼ Zelimchanʼ (iz dalëkichʼ vospominanij), Paris 1932, S. 16; D. Bagrationʼ, Podvigʼ Terskago Kazaka. Nyne dagestankago konnogo polka por. Kibirova, ­uničtivšago abreka Zelimchana, Petrogradʼ 1914, S. 12. 111 Ibragimova, Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 31. 112 Ibragimova, Carskoe prošloe čečencev. Politika i ėkonomika, S. 87 – 88; dies., Čečency v zerkale carskoj statistiki, S. 56.

Der Nordkaukasus am Vorabend der Revolution

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unter dem Vorsitz von Abdul-Aziz Šaptukaev (genannt „Dokku-Scheich“) die Ölförderungs-Aktiengesellschaft Staro-Jurtovskaja neftʼ gegründet.113 Auch was die Förderung des Bildungsbereichs anging, blieben die Worte ­Voroncov-Daškovs weitgehend Lippenbekenntnisse. So liest sich etwa in den ­Erinnerungen von S. Berdjaev, der zwischen 1908 und 1911 für die Verwaltung eines Distrikts im tsche­tschenischen Bezirk Vedeno verantwort­lich war, dass sich in seiner dreijährigen Dienstzeit nicht nur der Gebietsvorsteher nicht einmal in seinem Distrikt habe blicken lassen, sondern auch der Vorsteher des Vedeno-Bezirks nie aufs Land gereist sei, um die Situation vor Ort zu erkunden. Auch machten die zaristischen Administratoren im Kaukasus oder die Behörden in St. Petersburg wenig Anstalten, konkret etwas für die kulturelle Förderung dieser Völker tun zu wollen. Entsprechende Projekte wurden im Gegenteil sogar gestoppt. Berdjaev schreibt in seinen Aufzeichnungen, dass es ihm gelungen sei, in seinem Verwaltungsdistrikt eine Schule für die dort lebenden Bewohner zu eröffnen, was bei diesen auf großes Interesse und Wohlwollen gestoßen sei. Als der Direktor des russischen Volksschulwesens aber davon erfuhr, sei dieser nicht gewillt gewesen, das Projekt zu sanktionieren. Berdjaev sah sich darauf hin gezwungen, die Schule wieder zu schliessen.114 Auch die Tatsache, dass St. Petersburg im August 1914 erstmals die Bildung von nordkauka­sischen Regimentern innerhalb der neugeschaffenen Kauka­sischen Einheimischen Reiterdivision (besser bekannt als die „Wilde Division“) erlaubte, die fortan ein regulärer Bestandteil der imperialen Armee war, war weniger Ausdruck einer veränderten Gesinnung, sondern eine eher kurzfristige Reaktion auf eine äußere Bedrohungskonstellation nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, als die zaristische Regierung das Ziel verfolgte, mög­lichst viele Soldaten für die Front zu mobilisieren.115 Insbesondere in Gebieten wie Tsche­tschenien bezweckte 113 Zu den wirtschaft­lich aktiven Naqšbandiyya-Scheichen zählten außerdem Jusup-Chadži ­Bajbatyrov aus dem Dorf Koškeldy, der ein erfolgreiches Handelsunternehmen führte, oder Scheich Deni ­Arsanov aus Kenʼ-Jurt. Der Naqšbandiyya-Scheich Sugaip-Mulla Gojsumov aus Šali war ein bedeutender Großgrundbesitzer. Aber auch Mitglieder des Qādiriyya-Ordens zählten zu Großgrundbesitzern wie etwa Bamat Girej Chadži Mitaev aus dem Dorf Avtury. Viele dieser Scheiche wurden allerdings 1912 im Zuge der Bekämpfung des Banditenwesens im Terek-Gebiet nach Innerrussland aus­gesiedelt: Džulʼetta Mesxidze, Die Rolle des Islams beim Kampf um die staat­liche Eigenständigkeit Tsche­ tscheniens und Inguschetiens, 1917 – 1925, in: Anke von Kügelgen u. a. (Hg.), Inter-­Regional and Inter-Ethnic Relations, Berlin 1998, S. 457 – 481, hier S. 458 – 459; Z. Ch. Ibragimova, Čečenskie ­neftjanye ­mestoroždenija. Istorija ich razrabotki [Internet­publikation, ohne Datum], http://­chechenasso. ru/?page_id=2407 [9.4.2013]; GARF, F. 102, Op. 146, D. 635 – 2, Ll. 91 – 93. 114 Berdjaevʼ, Razbojnikʼ Zelimchanʼ, S. 20 – 21. 115 Bereits zuvor hatten Tsche­tschenen und Angehörige anderer Nordkaukasusvölker irreguläre Milizen und Freiwilligenverbände gebildet und Einzelne brachten es in der zaristischen Armee zu hohen Ehren. Mit Ausnahme der Osseten, die auf regulärer Basis in der Zarenarmee dienten – an die 3000 ossetische Offiziere sollen im Ersten Weltkrieg gedient haben –, blieben die muslimischen Angehörigen anderer Nordkaukasusvölker von der allgemeinen Wehrpflicht ausgenommen.

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Der Nordkaukasus im Zarenreich

die Schaffung nordkauka­sischer Regimenter, die jeweils von rus­sischen Offizieren geführt wurden, auch die Bekämpfung des Banditenwesens. So ging die Formierung nordkauka­sischer Einheiten Hand in Hand mit einem Amnestieangebot an Banditen als Gegenleistung für den Dienst in der Armee, das Hunderte annahmen. Dadurch ließ sich eine „gesonderte Abrekenhundertschaft“ formieren, die sich fast ausschließ­lich aus amnestierten Banditen zusammensetzte und die sich im Kampf an der Front besonders auszeichnen sollte.116

4. 5   Ko nt r ove r s e B e u r t ei lu ng Über die gesamte Zeitspanne der Zarenepoche hinweg war die rus­sische Politik vielgestaltig und wenig kohärent. Entsprechend schwierig ist es, dem Charakter dieser Politik mit einzelnen Begriffen oder Konzepten gerecht zu werden. Ein domi­nanter Zweig der gegenwärtigen Historiographie in Russland, die sich an Sichtweisen der imperialen Geschichtsschreibung der spätzaristischen Zeit anlehnt, wehrt sich etwa gegen die Gleichsetzung der Herrschaft Russlands mit jener anderer europäischer Kolonialmächte, indem sie auf die Einzigartigkeit des russländisch-imperialen Experiments hinweist. Weil Russland immer die vollständige Einverleibung der Region ins Imperium und die Verschmelzung der eroberten Völker mit dem r­ us­sischen Volk angestrebt habe, sei es auch nicht angebracht, die Form der r­ us­sischen Verwaltung im Kaukasus als eine „informelle“ Herrschaft zu bezeichnen. Auch andere Merkmale, die den europäischen Kolonialismus auszeichnen würden, zum Beispiel die Ausbeutung von Rohstoffen, hätten im Nordkaukasus gefehlt. Die Herrschaft Russlands, so moniert etwa Vladimir Degoev, einer der wichtigsten Vertreter dieser Schule, habe sich von einem finanziellen Standpunkt aus im Gegenteil kaum gelohnt, weil St. Petersburg mehr Ressourcen in die Region gepumpt, als es erwirtschaftet habe.117 Andere Historiker aus ­diesem Umfeld beurteilen die imperiale Politik in dieser Zeit deshalb durchwegs positiv, weil es St. Petersburg trotz widriger Umstände gelungen sei, Ruhe und

Insbesondere das rus­sische Innenministerium hatte sich bis zum Ersten Weltkrieg vehement gegen die Pläne des Einbezugs von Muslimen aus dem Kaukasus gestellt, weil sie die Loyalität der muslimischen Bevölkerung im Fall eines Kriegs – etwa gegen das Osmanische Reich – infrage stellte: Marshall, Caucasus, S. 16; Salavat Midchatovič Ischakov, Die rus­sischen Muslime im Ersten Weltkrieg, in: Fikret Adanır / Bernd Bonwetsch (Hg.), Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus. Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 253 – 269; Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii 1917 – 1923. Ėnciklopedija v četyrëch tomach. Tom 2, Moskva 2008, S. 203 – 204. 116 Ischakov, Die rus­sischen Muslime, S. 259. 117 Degoev, Kavkaz v sostave Rossii, S. 43 – 44.

Kontroverse Beurteilung

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Frieden in d ­ iesem traditionell un­ruhigen Teil des Reichs zu schaffen, und dafür erheb­lichen Aufwand betrieben habe, wie etwa die tsche­tschenische Historikerin Zarema I­ bragimova schreibt.118 Tatsäch­lich trifft es zu, dass Russland als längerfristiges Ziel die vollständige Einverleibung des Nordkaukasus und seiner Völker anstrebte, indem Russland etwa Anstrengungen unternahm, die herkömm­liche lokale Rechtssetzung in die imperiale zu integrieren und die einheimische Bevölkerung über die Errichtung von Bergschulen an die rus­sische Kultur heranzuführen. Und tatsäch­lich waren die zaristischen Verwalter bis zu einem gewissen Grad bereit, die inneren Frei­heiten dieser Völker zu achten. Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts mag der Staat mindestens auf dem Papier erkannt haben, dass Repression nicht das einzige und auch nicht das beste Mittel war, um etwa das Banditenwesen zu bekämpfen, das sich um diese Zeit rasant entwickelte. Im Gegensatz zur schmalen Schicht der nordkauka­sischen Intelligenzija in den Städten erlebte die große Mehrheit der Menschen, die abgeschottet in ihren Aulen lebte und kein Rus­sisch verstand, die Staatsmacht, wenn sie überhaupt jemals mit ihr in direkten Kontakt kam, über die Vertreter des zaristischen Sicherheits- und Polizeiapparats, die bei ihrer Suche nach Banditen nicht zögerten, auch ganze Gemeinschaften dafür zu bestrafen, dass sie Banditen schützten oder nicht willig waren, deren Verstecke preiszugeben. Der Staat wandte Kollektivstrafen an, indem er die Menschen der Dörfer, in denen sich Banditen versteckt hielten, mit hohen Geldabgaben belegte, ihnen die Waffen abnahm und wiederholt nicht nur die Familien der Banditen, sondern auch die Einwohner von Siedlungen, die Banditen Schutz boten, nach Sibirien ausschaffen ließ. Die Häuser der Familienangehörigen und manchmal sogar ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht.119 Die Tatsache, dass bestimmte Familien und gesellschaft­liche Schichten von der neuen Situation profitierten und in der imperialen Ordnung soziale Aufstiegsmög­ lichkeiten fanden, weist darauf hin, dass Anpassung nicht einfach nur Unter­werfung im Sinne von bedingungsloser Zustimmung bedeutete. Vielmehr stellte dies ein aktives Bestreben dar, „persön­liche und kommunale Interessen, die im Rahmen des Imperiums angeboten wurden“, zu n­ utzen, wie der amerikanische Historiker Charles King schreibt.120 Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Russland unbedingte Loyalität forderte und kulturelle Andersartigkeit nur so lange tolerierte, wie diese nicht als Bedrohung seines Herrschaftsanspruchs wahrgenommen wurde. Die rus­sische 118 Z. Ch. Ibragimova, Čečenskij narod v Rossijskoj Imperii. Adaptacionnyj period. Monografija, Moskva 2006, S. 8. Zu den verschiedenen Tendenzen der Geschichtsschreibung: Bobrovnikov, Kavkaz v sostave Rossijskoj Imperii, S. 132 – 135. 119 Dazu Kapitel 5 in ­diesem Buch. 120 Charles King, The Ghost of Freedom. A History of the Caucasus. Oxford 2008, S. 156.

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Der Nordkaukasus im Zarenreich

Politik gab sich nur dann großzügig, wenn dies der Stabilität dien­lich war und sich mit den jeweiligen imperialen Zielsetzungen vereinbaren ließ. Ansonsten herrschte mindestens gegenüber den unterworfenen nordkauka­sischen Völkern über die gesamte Zarenzeit betrachtet ein grundsätz­lich re­pressiver Charakter vor, der aus einer abschätzigen und intoleranten Haltung und aus dem Überlegenheitsgefühl einer rus­sischen Missionspolitik hervorging. In ­diesem Sinn war die Integration immer eine einseitige Angelegenheit, indem sie von den Unterworfenen Anpassung an die neuen sozialen Bedingungen forderte, w ­ elche die Eroberer festschrieben. Dabei ist Herrschaft im Nordkaukasus allerdings nicht einfach als „rus­sische“ Herrschaft zu verstehen. Von Beginn weg suchte der zaristische Staat die lokalen Verwalter auch aus den Reihen der Einheimischen zu rekrutieren. Weil dafür aber nament­lich in Tsche­tschenien und den Berggebieten Dagestans gerade für höhere Verwaltungsposten zu wenig ausgebildete Kader zur Verfügung standen, wurden Posten oft mit anderen Kaukasiern, nament­lich aus den Reihen der geor­gischen und armenischen Aristokratie, besetzt, was bei der eingeborenen Bevölkerung aber keineswegs immer auf Anklang stieß. In Dagestan etwa führte die Besetzung von Posten mit Georgiern in den 1860er Jahren zu Unmut unter den lokalen Muslimen, ­welche die „Tyrannei und Ungerechtigkeit der geor­gischen Bosse, mit denen [sie] eine ewige Feinschaft verbind[e]“, ablehnten.121 Auch wäre es falsch, ausgehend vom Misstrauen der zaristischen Verwalter gegenüber dem Islam, wie er im Nordkaukasus nament­lich in der Sufi-Bewegung in Erscheinung trat, auf die Haltung Russlands gegenüber Muslimen oder Nichtrussen insgesamt zu schließen, denn die zaristische Nationalitäten- und Islampolitik war keineswegs einheit­lich. Vergleichbar war Russlands Politik gegenüber den muslimischen Völkern des Nordkaukasus nur mit derjenigen gegenüber den Nomaden Zentralasiens, die über die gesamte spätere Zarenzeit auf eine ähn­lich ablehnende Haltung stießen.122 Die komplexen sozialen Realitäten, ­welche die ausgehende Zarenzeit charakterisieren, können letzt­lich nicht alleine über eine Analyse der Politik St. Petersburgs erfasst werden; denn die Entwicklungen spielten sich nicht so sehr im Spannungsfeld einer Zentrum-Peripherie-Beziehung ab, sondern waren das Resultat einer lokalen Dynamik. Um die vermeint­liche Ambivalenz des rus­sischen Herrschaftsprojekts im Nordkaukasus verständ­lich zu machen, müssen die lokalen Herrschaftspraxen untersucht werden und ist danach zu fragen, wie die Menschen selbst diese Herrschaft wahrnahmen und ihre Handlungen begründeten. Dies lässt sich auf besonders

121 Zitiert aus einem ursprünglich auf Arabisch verfassten anonymen Schreiben, datiert vom Mai 1868 und ­adressiert an die kauka­sische Verwaltung, in eng­lischer Übersetzung in: Blauvelt, Military-­ Civil Admi­nistration, S. 229. 122 Dazu allgemein: Vladimir Bobrovnikov, Islam in the Russian Empire, in: Dominic Lieven (Hg.), The Cambridge History of Russia. Volume II. Imperial Russia 1689 – 1917, Cambridge 2006, S. 202 – 223.

Kontroverse Beurteilung

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anschau­liche Weise am Phänomen des Abrekenwesens zeigen. Ins Zentrum der nachfolgenden Untersuchung soll dabei der Fall des tsche­tschenischen Abreken Zelimchan gerückt werden, der sich in seiner Zeit als Bandit mit zahlreichen (Un-) Taten in ganz Russland einen Namen machte.

5.  B A N D I T E N U N D H E I L I G E: A B R E K Z E L I M C H A N Im Frühjahr 1910 sah sich der Statthalter des Zaren im Kaukasus, Generaladjutant Graf Illarion I. Voroncov-Daškov, genötigt, zu einem für ihn äußerst unangenehmen Ereignis Stellung zu nehmen: Zum aufsehenerregenden Überfall auf das Schatzamt in Kizljar, ausgeführt von der Bande um den damals in ganz Russland bekannten tsche­tschenischen Abreken Zelimchan Gušmazukaev.1 In seinem vom 29. April 1910 datierten Bericht, den Voroncov-Daškov Zar Nikolaj II . höchstpersön­lich zustellte, rekonstruiert Voroncov-Daškov den Ablauf des Überfalls im Detail und setzt sich mit den unmittelbaren Gründen und tieferen Ursachen auseinander, die ­dieses dreiste Unterfangen mög­lich gemacht hatten.2 Gemäß einem Augenzeugen bewegten sich am Morgen des 27. März 1910 rund 60 bewaffnete Reiter Richtung Kizljar, einer im Terek-Gebiet gelegenen Ortschaft, die mehrheit­lich von Kosaken bewohnt war. Angeführt wurde die Gruppe von zwei in schmucken Offiziersuniformen gekleideten Reitern. Weil auch die übrigen Reiter Kosakenkleidung trugen, erregten sie bei den Anwohnern zunächst kaum Verdacht. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich hierbei um eine Banditenbande handelte, die von keinem Geringeren als dem berüchtigten Abreken Zelimchan, „oder einer Person, die sich für ihn ausgab“, angeführt wurde.3 Die Hälfte der Reiter stieß in geordneter Formation in das Stadtzentrum vor, die andere blieb zur Sicherung außerhalb stationiert. Ohne auf namhaften Widerstand zu stoßen, drangen Zelimchan und einige seiner Anhänger ins Schatzamt vor, andere blieben vor dem Gebäude postiert. Danach kam es zum Blutbad. Die Banditen töteten und v­ erletzten Angestellte der Behörde und ermordeten Angehörige des Wachpersonals sowie mehrere Zivilisten, die sich zu ­diesem Zeitpunkt im Gebäude befanden. Gleichzeitig kam es auch draußen zu Schießereien.

1 Eine Version ­dieses Kapitels habe ich bereits publiziert in: Jeronim Perović, Imperiale Projektionen und kauka­sische Wirk­lichkeiten. Banditenwesen und das Phänomen Zelimchan im spätzaristischen Russland, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014), S. 30 – 60. 2 In ­diesem Bericht stützt sich Voroncov-Daškov im Wesent­lichen auf drei Berichte, die er zuvor in Auftrag gegeben hatte. Dabei kam der Statthalter dem Begehren des Vorsitzenden des Ministerrats des Russländischen Imperiums, Pëtr Arkadʼevič Stolypin (1862 – 1911), vom 12. April 1910 nach, die Behörden in St. Petersburg ausführ­lich über den Vorfall zu informieren. Das Schreiben Vornoncov-Daškovs an Zar Nikolaj II. vom 29. April 1910 ist enthalten in: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, Ll. 1 – 21. Ein weitgehend identisches Schreiben Voroncov-Daškovs an Stolypin, datiert vom 4. Mai 1910, findet sich in einer gekürzten Fassung in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 223 – 236. 3 Zitiert aus dem Schreiben Vornoncov-Daškovs an Zar Nikolaj II., 29. April 1910, in: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 3ob.

Banditen und Heilige: Abrek Zelimchan

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Da es Zelimchan und seinen Komplizen nicht gelang, in den abgesperrten Tresor­ raum vorzudringen, wo zu ­diesem Zeitpunkt 400.000 Rubel lagerten, mussten sie sich mit nur 4124 Rubel und 41 Kopeken zufriedengeben, die sie in den Kassen und auf den Pulten vorfanden. Daneben stahlen sie Wertpapiere und Briefmarken und nahmen den Ermordeten Revolver und Gewehre ab. Dass die Beute dürftig ausfiel, war wesent­lich auf Schatzmeister Kopytko zurückzuführen. Bevor die Banditen in sein Arbeitszimmer eindringen konnten, hatte es dieser geschafft, rund 10.000 Rubel im Tresor zu verstauen, diesen abzuschließen und den Schlüssel unter seinem Schreibtisch zu verstecken. Auch soll es dem Schatzmeister noch gelungen sein, das elektrische Alarmsignal auszulösen, das nun unaufhör­lich läutete und die Banditen zur Eile trieb. Dafür hinterließen diese eine grausige Blutspur: Insgesamt 18 Personen, darunter Schatzmeister Kopytko, wurden während des Überfalls und bei den anschließenden Gefechten beim Rückzug aus Kizljar getötet. Eine weitere Person erlag einige Tage später ihren schweren Verletzungen. Die Banditen hatten in ihren Reihen offenbar nur wenige Verletzte zu beklagen. Variev, der pristav der Stadt Kizljar, saß während des Raubüberfalls in seinem Büro. Später gab er zu Protokoll, die Schießereien nicht gehört zu haben. Erst als man ihn davon unterrichtete, ließ er umgehend die Kosakeneinheiten alarmieren, die sich zu dieser Zeit in der Stadt befanden, und begab sich selbst zur ­nahegelegenen Militärkaserne, die Teile des Schirwansker Regiments (širvanskij polk) beherbergte. Die aus der Kaserne herbeigerufenen Truppenteile unter dem Kommando von Kapitän Dobromyslov trafen jedoch viel zu spät ein. Die Banditen hatten die Stadt bereits verlassen. Zusammen mit den Kosakeneinheiten heftete sich Dobromyslov in der Folge zwar an ihre Fersen, doch gelang es den Banditen, sich nach einem Schusswechsel schnell über den Fluss Terek Richtung Chasavjurt abzusetzen, um sich danach tief in tsche­tschenisch besiedeltes Gebiet zurückzuziehen. Da die dortigen Dorfältesten und Landbewohner den kosakischen und rus­sischen Verfolgern kaum Hinweise auf das Verbleiben der Banditen geben mochten, verlor sich deren Spur schnell. Bei der Ortschaft Vedeno und nach etwa fünf Tagen vergeb­licher Suche sahen sich die Verfolger schließ­lich gezwungen, die Suche aufzugeben. In den folgenden Tagen verhafteten die Behörden zwar noch acht Inguschen, von denen ihnen sechs „höchst verdächtig“ erschienen.4 Darüber hinaus aber konnte Voroncov-Daškov keine Erfolge vermelden. Die Bande hatte sich zerstreut, von Zelimchan fehlte jede Spur. Als Graf Illarion Voroncov-Daškov im Jahr 1905 von Zar Nikolaj II. zum Statt­ halter im Kaukasus und Oberkommandierenden der Armeen des Kauka­sischen Militär­kreises ernannt wurde, blickte er bereits auf eine lange Karriere in imperialen

4 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 14ob.

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Diensten zurück. Voroncov-Daškov hatte sich nicht nur an zahlreichen Kriegen Russlands beteiligt, er brachte auch Erfahrung im Aufbau einer Kolonialverwaltung in muslimisch besiedeltem Gebiet mit, da er von 1866 bis 1874 in Zentralasien an der Seite des Gouverneurs des Turkestanischen Gebiets gedient hatte. Mit dem Statt­ halteramt im Kaukasus wurde ihm nun ein Posten übertragen, der ihn zwar mit weitreichenden Vollmachten ausstattete, aber undankbarer nicht hätte sein ­können. Die Kaukasuskriege lagen bei seinem Amtsantritt bereits ein knappes halbes Jahrhundert zurück. Und spätestens nachdem rus­sische Truppen die letzte große Erhebung von Tsche­tschenen und Dagestanern 1877 niedergeschlagen ­hatten, ging von der Region keine ernsthafte militärische Bedrohung mehr für die r­ us­sische Herrschaft aus.5 Doch wirk­lich ruhig war der Nordkaukasus aus Sicht der rus­sischen Verwalter auch danach nicht. Im Gegenteil hatten sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Meldungen über Überfälle auf Kosakensiedlungen, Züge, Poststellen und Banken gehäuft. Alleine das Tereker Gebiet verzeichnete gemäß Angaben der zaris­tischen Verwaltung im Kaukasus zwischen 1902 und 1909 16.940 Diebstähle, 3998 Raub­überfälle, 4533 Körperverletzungen und 1857 Morde.6 Besonders entlang der Sunža, der vormaligen Kauka­sischen Militärlinie, w ­ elche die Siedlungen der Kosaken von den Aulen der Tsche­tschenen und Inguschen trennte, entwickelte sich ein eigent­licher Kleinkrieg. Waren unter der Kosakenherrschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert die Nordkaukasus­ völker die Hauptleidtragenden gewesen, so sahen sich Anfang des 20. Jahrhunderts nun vermehrt auch die Kosaken Überfällen von Tsche­tschenen und Inguschen ausgesetzt, was wiederholt Polizei- und Armeeeinheiten auf den Plan rief und Kosaken zu Vergeltungsaktionen veranlasste.7 So soll es im mehrheit­lich von Tsche­tschenen besiedelten Bezirk Chasavjurt im Terek-Gebiet im Zeitraum 1907 – 1912 zu 44 ­größeren kriminellen Aktionen gekommen sein, die von tsche­tschenischen Banden ausgeübt wurden und sich vornehm­lich gegen die rus­sische und kosakische Bevölkerung richteten. Eine starke Zunahme von Konflikten zeichnete auch das Verhältnis zwischen Inguschen und Osseten und zwischen Inguschen und Kosaken aus. 1906 erlebte der Aul Jandyrka im Terek-Gebiet sogar einen eigent­lichen Kleinkrieg zwischen Inguschen und kosakischen Truppen, an dem sich auf inguschischer Seite mehr als 2000 Personen beteiligten und in dessen Folge zahlreiche Personen ihr Leben ließen.8 5 Zu Voroncov-Daškov und seiner Tätigkeit im Kaukasus: D. I. Ismail-Zade, Graf I. I. Voroncov-­ Daškov. Namestnik Kavkazskij, Moskva 2005. 6 Dies geht aus der Stellungnahme der kauka­sischen Administration auf eine Anfrage von Mit­gliedern der Duma im März 1911 bezüg­lich des Vorgehens gegen das Banditenwesen im Nordkaukasus hervor: Rossija i Kavkaz. Delo ob Abreke Zelim-Chane, in: Zvezda (2006) H. 4, S. 119 – 142, hier S. 129. 7 Die zeitgenös­sische kosakische Sichtweise auf die Problematik spiegelt wider: G. A. Tkačev, Inguši i čečency v semʼe narodnostej Terskoj oblasti, Vladikavkaz 1911. 8 L. S. Gatagova, Mežėtničeskoe vzaimodejstvie, in: V. V. Trepavlov (Hg.), Rossijskaja mnogonacionalʼnaja civilizacija. Edinstvo i protivorečija, Moskva 2003, S. 213 – 264, hier S. 242 – 243.

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Der Angriff auf das Schatzamt von Kizljar war zwar nur einer in einer seit Jahren anhaltenden Serie von Überfällen, die auf das Konto von Zelimchan und anderen Banditen gingen. Doch das Ereignis erregte deshalb die Gemüter bis nach St. Petersburg, weil dieser Angriff am hell­lichten Tag stattfand und auf eine bewachte Einrichtung mitten in einer Ortschaft verübt wurde, die eine Militärkaserne be­­herbergte, und weil sich die Räuber trotz großen Anstrengungen nicht fassen ließen. Dass auch namhafte rus­sische Tageszeitungen ausführ­lich darüber berichteten, steigerte nicht nur den Bekanntheitsgrad von Zelimchan, sondern ließ auch die rus­sische Verwaltung im Kaukasus in einem schlechten Licht erscheinen. Voroncov-Daškov war jedenfalls unter Zugzwang. Weil er gegenüber St. Petersburg unbedingt schnell Erfolge ausweisen musste, reagierte er zunächst so, wie es für bürokratische Verwalter nicht untypisch war: Er suchte innerhalb des staat­lichen Machtapparats nach Schuldigen. An erster Stelle entfernte er den für die Ortschaft Kizljar zuständigen Kosaken-Ataman, Verbickij, von dessen Posten. Verbickij hatte sich zum Zeitpunkt des Überfalls in Vladikavkaz aufgehalten, obwohl er, wie spätere Ermittlungen ergaben, bereits eine Woche vor dem Überfall konkrete Hinweise seitens der Polizei erhalten haben soll, dass Zelimchan einen entsprechenden Anschlag planen würde.9 Unter dem Vorwurf der „Untätigkeit“ wurden zusammen mit Verbickij noch weitere für die Stadt Kizljar verantwort­ liche Amtsinhaber, darunter auch der Vorsteher der Stadt Kizljar, Variev, entlassen. Gegen sie alle wurde eine Strafuntersuchung eingeleitet.10 Abgesetzt wurde auch Kapitän Baškov, der Befehlshaber der 15. Kompanie des Schirwansker Regiments, das in der Garnison bei Kizljar stationiert war. Ihm ­lastete Voroncov-Daškov an, dass er, anstatt die Banditen zu verfolgen, es vor­ gezogen hätte, mit seinen Truppen zentrale Einrichtungen Kizljars vor mög­lichen weiteren Überfällen zu ­schützen; nebst dem Schatzamt die Post, in der 50.000 Rubel lagerten, und das Gefängnis, das zu ­diesem Zeitpunkt prallvoll mit kauka­sischen Banditen war. Baškov hielt sich nicht allein darum in der Garnison auf, weil er einen erneuten Angriff fürchtete, sondern auch deshalb, weil in seiner Truppe vorwiegend junge, noch weitgehend unerfahrene Soldaten dienten. Auch sein Kollege Dobromyslov, Kommandant der ebenfalls in der Kaserne von Kizljar stationierten 14. Kompanie des Schirwansker Regiments, erhielt keine guten Noten. Dennoch beließ ihn Voroncov-Daškov auf seinem Posten, weil er als einziger immerhin die

9 K ogrableniju kizljarskogo kaznačejstva, in: Utro Rossii, 13. April 1910. Die Hinweise auf Artikel aus den rus­sischen Tageszeitungen Moskovskaja gazeta kopejka, Novoe vremja, Peterburgskaja gazeta, Rannee utro, Rečʼ, Russkoe slovo und Utro Rossii im Zeitraum 1908 – 1912 sind der Datenbank http://starosti.ru/ (zuletzt besucht am 12.3.2013) entnommen. 10 Schreiben Vornoncov-Daškovs an Zar Nikolaj II., 29. April 1910, in: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 15ob.

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Verfolgung Zelimchans aufgenommen hatte, auch wenn dieser Aktion kein Erfolg beschieden gewesen war.11 Auch auf lokaler administrativer Stufe griff der Graf durch. Im Bezirk Vedeno traf es den Vorsteher des 4. Verwaltungsabschnitts, Berzniev, dem im Bericht sogar nachgesagt wurde, er habe sich mit den flüchtigen Banditen getroffen und ihnen den Durchzug erlaubt.12 Gemäß einem Zeitungsbericht soll er aber offenbar sch­licht nicht über genügend Polizeikräfte verfügt haben, um die Banditen aufzuhalten. 13 Bestraft wurden wegen ihres unkooperativen Verhaltens auch tsche­tschenische Dorfvorsteher. Den Ältesten der Ortschaften Gudermes, Adilʼ-Jurt, Aksaj, Kadi-Jurt und Azam-Jurt wurden „verdeckter Widerstand“ und „Untätigkeit bei der Verfolgung der Banditen“ vorgeworfen. Sie alle wurden ihrer Ämter enthoben. Zudem sollte es den dortigen Gemeinschaften für die Dauer eines Jahres nicht erlaubt sein, Dorfälteste selbst zu wählen. Diese sollten vom Gebietsvorsteher nunmehr direkt eingesetzt werden. Weitere Strafmaßnahmen gegen diese Siedlungen behielt sich Voroncov-Daškov für den Zeitpunkt vor, wenn vollständig geklärt war, inwiefern auch breitere Bevölkerungsteile auf dem Land als Mithelfer in die Aktion ver­ wickelt gewesen waren.14 Daneben leitete er auch militärische Maßnahmen zur Ergreifung Zelimchans ein. Nach der Ermordung des Vorstehers des Bezirks Vedeno, Oberst Vasilij Savelʼevič Galaevs, den Zelimchan am 6. Juni 1908 durch einen gezielten Schuss aus dem Hinterhalt getötet hatte, wurden zusätz­lich zu den bestehenden rus­sischen und kosakischen Einheiten Reiterabteilungen zum Kampf gegen das Banditenwesen und Zelimchan formiert, die sich aus der einheimischen Bevölkerung rekrutierten. Dabei handelte es sich um irreguläre Truppen, die jeweils unter der Leitung rus­ sischer oder kosakischer Offiziere standen.15 Voroncov-­Daškov knüpfte an diese



11 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 17ob. 12 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, Ll. 8, 15ob. 13 K ogrableniju kizljarskogo kaznačejstva, in: Utro Rossii, 13. April 1910. 14 Schreiben Vornoncov-Daškovs an Zar Nikolaj II., 29. April 1910, in: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 16ob. 15 Im Juli 1908 willigten Repräsentanten aus fünf Gebietsabschnitten Tsche­tscheniens schrift­lich ein, für die Ergreifung Zelimchans und seiner Familienmitglieder 15 Reiter und 15 Fußsoldaten pro Abschnitt (insgesamt 150 Bewaffnete) aufzubieten, die dem Abschnittsleiter unterstellt waren. Die Tsche­tschenen verpflichteten sich, Zelimchan, seinen Bruder Soltamurad und seinen Vater ­Gušmazuko innerhalb eines Monats an die Behörden auszuliefern. Sollte ihnen dies in d­ iesem Zeitraum nicht gelingen und sollte sich zudem herausstellen, dass Zelimchan oder einer seiner Anhänger sich innerhalb der von diesen Truppen kontrollierten Gebiete aufgehalten hatte, ohne dass etwas zur Ergreifung der Banditen unternommen wurde, dann sahen die Behörden eine Geldstrafe vor. Dies geht aus dem Schreiben des Vorstehers des Kauka­sischen Militärbezirks an den Vorsteher des Terek-Gebiets vom 6. Juli 1908 hervor. Das Dokument ist enthalten in: L. R. Gudaev, Abrek Zelimchan. Fakty i dokumenty, Groznyj 2010, S. 386 – 387.

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vielfach erprobte Taktik des Partisanenkampfs an, schuf nach dem Überfall auf Kizljar aber auch neue Formationen mit einer Gesamtstärke von insgesamt 400 Mann, die unter dem Oberkommando von Rittermeister (rotmister) Bellik standen. Zudem erging die Instruktion, die Operationen gegen Zelimchan besser zu koordinieren.16 Allerdings sollte die Maßnahme Voroncov-Daškovs zunächst keinen Erfolg zeitigen. Im Gegenteil. Als eine von Graf Andronnikov angeführte Truppe im September 1910 die Familienangehörigen Zelimchans, seine Frau und vier Kinder sowie die Frau seines Bruders Soltamurad (Sultamurat) und deren Sohn, in den inguschischen Bergen aufspürte und verhaftete, lauerte ihnen der Abrek in der Schlucht beim Fluss Assa auf. Bei den anschließenden Gefechten verloren auf rus­sischer Seite ins­gesamt neun Menschen ihr Leben, darunter der Anführer der Truppe, Graf Andronnikov, sowie Angehörige seiner vornehm­lich aus Dagestanern zusammengesetzten Kompanie.17 Dabei war es Andronnikov, der zu ­diesem Zeitpunkt der Vorsteher des Nazraner Bezirks war, der sich durch die Gefangennahme der Familie erhoffte, Zelimchan aus dessen Versteck zu locken, um ihn danach verhaften oder töten zu können. Den Soldaten versprach er im Fall eines Erfolgs einen hohen Geldbetrag.18 Die Aktion Andronnikovs scheiterte, doch die Familie Zelimchans blieb in Haft und sollte schließ­lich im Frühjahr 1911 in das entfernte Gouvernement Enisej in Mittelsibirien deportiert werden, um erst rund zwei Jahre später aus der Verbannung zurückzukehren.19 Zuvor ließ die rus­sische Führung die inguschischen Siedlungen Nelʼch und Kek dem Erdboden gleichmachen. Das war die Strafe dafür, dass sich ihre Bewohner, ­welche die Familie Zelimchans versteckt gehalten hatten, w ­ eigerten, den Behörden Auskunft über das Verbleiben Zelimchans zu geben. Vielleicht ­wussten sie aber auch gar nicht, wo sich dieser versteckt hielt.20 Dies war die Art von Krieg, den Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kaukasus gegen das Banditenwesen führte. Auf jeden neuen Anschlag reagierte die Staatsmacht mit noch härterer Vergeltung. Auf jede Vergeltungsmaßnahme musste mit einem neuen Anschlag gerechnet werden. Es war eine Gewaltspirale, die sich unaufhör­lich drehte. Dass dabei wiederholt auch die unschuldige Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wurde, blieb der rus­sischen Öffent­lichkeit schon deswegen

16 Dies geht aus einem von S. N. Rukavišnikov verfassten Polizeibericht hervor, der nicht später als am 3. November 1911 verfasst wurde. Der Bericht findet sich in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 246 – 250, hier S. 249. 17 Bericht der Leitung des Nazraner Bezirks über die Tötung von Fürst Andronnikov, 22. September 1910, in: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 399. 18 Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 983 (Anmerkung 191). 19 Vysylka semejstva Zelim-chana, in: Rannee utro, 19. Mai 1911. 20 Uničtoženie aulov Nelʼch i Kek, in: Russkoe slovo, 25. Januar 1911.

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nicht verborgen, weil auch die Zeitungen im Land immer ausführ­licher über die Vorgänge berichteten. Auch die rus­sische Staatsduma befasste sich wiederholt mit dem Problem des Banditenwesens im Kaukasus. Erst dreieinhalb Jahre nach dem Überfall auf Kizljar gelang es einer eigens für die Liquidation Zelimchans gebildeten Spezialeinheit, diesen in der Nähe der tsche­tschenischen Ortschaft Šali aufzuspüren. Nach einem mehrstündigen Gefecht erlag Zelimchan am Morgen des 26. September 1913 seinen zahlreichen Schussverletzungen.21 Wie viele Tote und Verwundete bei d ­ iesem Krieg auf das Konto Zelimchans und seiner Bande gingen, wird sich wohl nie mit letzter Deut­lichkeit sagen lassen. In der rus­sischen Vorstellung waren es aber viele. Vielleicht waren es tatsäch­lich 230 Soldaten, 60 Offiziere und mehr als 100 Einheimische, die im 15-jährigen Krieg mit dem Abreken auf rus­sischer Seite gefallen waren, wie sich dies in einer Publikation nachlesen lässt, die noch in der Zarenzeit, kurz nach dem Tod Zelimchans, erschienen war.22

5.1   Ba nd it e nwe s e n u nd d a s Ph ä nome n Z el i m ch a n Manch einer sah den tieferen Grund dafür, dass gerade das Terek-Gebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen derartigen Anstieg des Banditenwesens erlebte, in einer zu laschen Haltung der Behörden gegenüber der einheimischen nichtrus­sischen Bevölkerung. So liest sich in einem rus­sischen Polizeibericht, der nach dem Überfall auf Kizljar erstellt wurde, dass der maßgeb­liche Grund für das Banditenwesen die „Unentschlossenheit und Nachsichtigkeit“ eines Staates sei, der „seit der Freiheitsbewegung (…) jeg­liche Autorität unter der Bergbevölkerung verloren“ habe. Das Volk, das es gewohnt war, „durch eine starke Hand regiert zu werden“ habe erkannt, dass „die Mehrheit der Verbrechen ungesühnt bleib[e] und es genüg[e], den Vorsteher des jeweiligen Abschnitts zu bestechen, wobei sich das mora­lische Niveau [der Vorsteher] vollständig gesenkt [habe] (…)“.23 Tatsäch­lich lässt sich nicht abstreiten, dass der Anstieg des Banditenwesens mit der „Freiheitsbewegung“ zusammenfiel, womit die revolutionären Jahre nach 1905 angesprochen wurden. Im Zuge der etwas liberaleren Politik des Zaren suchten nun die Tsche­tschenen und Inguschen das Unrecht zu rächen, das ihnen während der Kosakenherrschaft im späten 19. Jahrhundert widerfahren war. Voroncov-Daškov 21 Bagrationʼ, Podvigʼ, S. 41. 22 Ebd., S. 8. 23 Der Bericht stammt aus der Feder von Oberst I. I. Pastrjulin, Vorsteher der Gendarmerie des Gouvern­ements Tiflis, und datiert vom 18. Dezember 1910. Der Bericht ist enthalten in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 236 – 246, hier S. 245.

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war allerdings alles andere als ein Vertreter einer laschen Haltung. Angesichts der Missstände der Vergangenheit erkannte er zwar durchaus, dass repressive ­Maßnahmen allein nicht ausreichten, um dem „schreck­lichen Übel“ des Banditenwesens, gegen das „die rus­sische Regierung schon lange [kämpfe]“, Herr zu werden.24 Voroncov-Daškov forderte denn auch wiederholt, die Ursachen anzugehen, die den Nährboden für das Entstehen des Banditenwesens bildeten. Dazu zählte er in seinem Bericht an den Zaren nebst der Landknappheit in den Bergen auch die besondere Lebensweise und Weltanschauung der eingeborenen Bevölkerung, die in großer Armut lebte und auf einem tiefen kulturellen Niveau verharrte.25 Im ­selben Bericht ließ er angesichts der Zunahme des Banditenwesens aber auch keinen ­Zweifel daran aufkommen, dass er nicht zögern würde, „jedes Mal, wenn Eingeborene sich größerer Verbrechen gegen (…) fried­liche Bürger“ schuldig machen würden, darauf mit Repression zu reagieren.26 Dass er dies auch tatsäch­lich so meinte, zeigen die weiteren, dramatischen Entwicklungen bei der Bekämpfung Zelimchans und des Banditenwesens. Die ­rus­sische Macht war bei der Verfolgung von Banditen bereits in früheren Jahren wenig zimper­lich vorgegangen und hatte wiederholt auch unschuldige Menschen für die Verbrechen Einzelner büßen lassen. Nach dem Vorfall von Kizljar nahm die staat­liche Repression aber deut­lich zu. Dabei ließen die Administratoren des Zaren nicht nur die engsten Familienangehörigen Zelimchans ins Innere Russlands ausschaffen, sondern auch entferntere Verwandte des Banditen. Auch Menschen aus Dörfern, die sich der Mithilfe schuldig gemacht hatten, ließ die Zarenverwaltung deportieren. Nebst den inguschischen Dörfern Nelʼch und Kek sollten im Zuge der Verfolgung Zelimchans noch weitere Siedlungen zerstört und die Bewohner um­­ gesiedelt werden.27 Zudem ordnete die rus­sische Verwaltung an, sieben einflussreiche Scheiche Tsche­tscheniens samt ihren Familienangehörigen und engsten Vertrauten für fünf Jahre ins Exil nach Kaluga zu verbannen. All diesen Geist­lichen wurde vorgeworfen, zu wenig getan zu haben, um ihren Einfluss auf die Bevölkerung bei der Bekämpfung des Banditenwesens geltend zu machen, und den Behörden die Unterstützung verweigert zu haben.28 Wiederholt erhoben die Zarenadministratoren auch Kollektivstrafen in Form von Steuern gegenüber der einheimischen Bevölkerung.

24 Schreiben Vornoncov-Daškovs an Zar Nikolaj II., 29. April 1910, in: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 18. 25 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, Ll. 18 – 19. 26 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 18. 27 Vysylka rodstvennikov Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 20. November 1911; Vysylka čečencev, in: Russkoe slovo, 15. Februar 1912. 28 Vyselenie čečenskich „svjatych“, in: Utro Rossii, 13. November 1911; Repressii, in: Rečʼ, 18. April 1912.

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Die Gelder kamen dabei teils den Opfern zu, die infolge der Anschläge des Banditen zu Schaden gekommen waren, teils wurden Summen daraus als Kopfgelder für die Ergreifung Zelimchans und seiner Abreken eingesetzt.29 Dabei hatte es die rus­sische Verwaltung im Kaukasus nicht nur mit der ­konkreten Person Zelimchans, sondern vielmehr mit einem Banditenwesen zu tun, das in zunehmendem Maß mit der Figur Zelimchan in Verbindung gebracht wurde. So tendierten Bevölkerung, Behörden und Presse dazu, Überfälle generell Zelimchan zuzuschreiben oder mindestens seine Handschrift darin zu erkennen, bis nicht das Gegenteil bewiesen war.30 Als rus­sische Zeitungen im Februar 1911 etwa einen Raub­überfall auf eine Erdölindustrieanlage bei Groznyj meldeten, schrieb die Presse diesen zunächst Zelimchan zu, bis sich herausstellte, dass es wohl die Fabrik­arbeiter selbst gewesen waren, die ihr eigenes Unternehmen um 1000 Rubel erleichtert und dabei den Besitzer, den Kanadier James McGarvey, und mindestens zwei weitere Personen, einen Ingenieur und einen Wächter, getötet hatten.31 Wenige Monate ­später berichtete die Presse von einem Vorfall in Vladikavkaz, bei dem ein gewisser Kaufmann Pozin einen angeb­lich von Zelimchan unterzeichneten Drohbrief mit der Aufforderung zur Übergabe von 5000 Rubel erhalten hatte, bis sich herausstellte, dass es sich beim Absender um den Angehörigen einer städtischen Bank handelte, der sich der Identität des gefürchteten Zelimchan bedient hatte, um an Geld zu kommen. Der Hochstapler wurde verhaftet.32 Zelimchan schien omnipräsent. Jede erfolgreiche Aktion, ob sie nun direkt von ihm oder in seinem Namen ausgeführt wurde, steigerte seinen Nimbus als Un­­ besiegbaren und bereitete den Boden für das Aufkommen immer wilderer Gerüchte. So zirkulierte etwa das Gerücht, Zelimchan habe sich zum Imam ernennen lassen und wolle in der Nachfolge Šamils das Volk aus der rus­sischen Herrschaft führen. Diese Meinung war nicht nur unter der Bevölkerung selbst verbreitet, sondern auch in konservativen rus­sischen Polit- und Wissenschaftszirkeln und innerhalb der Armeeführung. In ihrer oft islamophoben Vorstellung sahen diese Kreise in

29 Štraf za Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 3. April 1912; Posobie postradavšim ot Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 16. März 1912; 100-tysjačnyj štraf, in: Russkoe slovo, 10. November 1911; Štraf za ukryvatelʼstvo Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 18. August 1911; Nagrada za poimku Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 22. April 1911; Zelim-chan, in: Russkoe slovo, 1. März 1911. 30 Zelim-chan, in: Russkoe slovo, 1. Oktober 1910. 31 Je nachdem, auf w ­ elche Zeitungsberichte man sich stützt, soll zudem die Frau von McGarvey entweder getötet oder verletzt und noch eine weitere Person ermordet worden sein: Šajka ­Zelim-chana?, in: Utro Rossii, 11. Februar 1911; Napadenie na anglijskye neftjanye promysly, in: Russkoe slovo, 11. Februar 1911. Zu James McGarvey und dem Anschlag auf ihn findet sich auch ein Hinweis in: Gary May, Hard Oiler! The Story of Canadiansʼ Quest for Oil at Home and Abroad, Toronto 1998, S. 157. 32 Policejskij „Zelimchan“, in: Russkoe slovo, 29. November 1911.

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Zelimchan einen Auswuchs von Rückständigkeit, religiösem Fanatismus und des Primitiven und damit die Bestätigung für all diejenigen negativen Attribute, die dem nordkauka­sischen „Bergler“ gemeinhin zugeschrieben wurden und ­welche die ­rus­sische Macht mit allen Mitteln auszuradieren hatte.33 Eine andere Projektions­ fläche bildete Zelimchan dagegen in sozialdemokratisch orientierten Kreisen. Für sie fügte sich der Abrek ins Bild des Kämpfers für die Anliegen des ­unterdrückten Volks, das sich gegen die Willkür staat­licher Repression auflehnte.34 Dabei war es letztere Sichtweise, die nach der Machtergreifung der Bolschewiki in der frühen Sowjetzeit Deutungshoheit erfahren hatte und auch die Geschichtsschreibung zu ­Zelimchan und zum Abrekenwesen nachhaltig prägen sollte.35 Gerade die Tatsache, dass es den rus­sischen Behörden so lange nicht gelingen sollte, Zelimchans habhaft zu werden, verlieh ­diesem einen fast schon mythischen Status. Dabei trug die Berichterstattung in der rus­sischen Presse das Ihrige zur Verklärung des Banditen bei. Für Journalisten war Zelimchan ein dankbares Sujet, das sich vielfältig verwenden ließ. So berichtete die Presse im Herbst 1911 nicht ohne Bewunderung davon, wie sich der Bandit, umkreist von rund 400 Soldaten, schließ­ lich doch noch auf „wundersame Weise“ aus einer aussichtslos erscheinenden Lage hatte befreien können, nachdem in den Medien wenige Tage zuvor noch Meldungen von seinem Tod zirkuliert hatten.36 Dabei sollte es die Geschichte d­ ieses „Wunders“ sein, die bei Teilen der Bevölkerung offenbar den Glauben schürte, dass Zelimchan bei seiner Flucht nicht weniger als die Unterstützung der Propheten erhalten habe.37 Daneben verbreiteten die Medien aber auch völlig absurde Geschichten. So versuchte etwa ein Beitrag in der großen Moskauer Tageszeitung Russkoe slovo ihren Lesern weiszumachen, dass es sich bei Zelimchan in Tat und Wahrheit um einen ehe­maligen Offizier der Zarenarmee, einen edlen Ritter und Gentleman, handeln würde, der in den Salons der hohen Gesellschaft verkehre.38 Ein anderes Mal kursierten in der 33 Ein prominenter Vertreter dieser Sichtweise: P. I. Kovalevskij, Vostanie Čečni i Dagestana vʼ 1877 – 1878 gg. Zelimʼ-Chanʼ, Sankt-Peterburg 1912, insbesondere S. 94 – 95. 34 Ein bekannter nordkauka­sischer Vertreter aus den Reihen der Sozialrevolutionäre war der Ossete Achmed Calikov; siehe etwa seine Publikation: Calikov, Kavkazʼ i Povolžʼe. 35 So wertet etwa der bekannte sowjetische Historiker der frühen Sowjetzeit, N. I. Pokrovskij, das Abrekenwesen als einen nationalen Freiheitskampf und eine Reaktion auf die kolonisatorische Unter­drückungspolitik in der Zarenzeit: N. I. Pokrovskij, Obzor istočnikov po istorii imamata, in: Problemy istočnikovedenija. Vypusk II, Moskva, Leningrad 1936, S. 187 – 234, hier S. 188. Zur Behandlung des Abrekenwesens in der rus­sischen und sowjetischen Geschichtsschreibung: Vladimir Bobrovnikov, Abreki i gosudarstvo. Kulʼtura nasilija na Kavkaze, in: Vestnik Evrazii (Acta ­Eurasica) 8 (2000), H. 1, S. 19 – 46, hier S. 20 – 24. 36 Novoe vremja, 18. Oktober 1911; Sluch ob ubijstve Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 2. Oktober 1911. 37 Dies geht aus dem Bericht des Militärgouverneurs des Gebiets Dagestans vom 17. März 1912 hervor, enthalten in: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 420 – 422, hier S. 420. 38 Berdjaevʼ, Čečnja i razbojnikʼ Zelimchan, S. 26.

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Presse Gerüchte, dass der gestürzte Schah von Persien, Mohammed Ali, Gesandte zu Zelimchan geschickt habe, um diesen um Unterstützung bei seinem Kampf um die Wiedereroberung der Macht zu bitten. Zelimchan habe aber abgelehnt, weil er dem Schah nicht helfen wolle, sein unterdrückerisches Regime wiederherzustellen; im Gegenteil werde er, Zelimchan, wenn er nach Persien komme, dafür kämpfen, dass das Volk vom Schah befreit werde.39 Diese Art von Berichterstattung kann kaum geholfen haben, das Banditenwesen zu diskreditieren, sondern ließ ­dieses eher noch attraktiver erscheinen. So griff die Polizei in dieser Zeit wiederholt junge Männer auf, die aus anderen Landesteilen angereist kamen, um sich Zelimchans Bande anzuschließen.40 Auch revolutionär orientierte Studentenkreise suchten Zelimchan für ihre radikalen Ziele einzuspannen. So sandte eine Gruppe, die sich vornehm­lich aus armenischen Studenten zusammensetzte, fünf Abgeordnete nach Tsche­tschenien, die Kontakt zu Zelimchan herstellen sollten, um Pläne für gemeinsame Terroranschläge zu besprechen.41 Zelimchan erreichte noch zu Lebzeiten einen Bekanntheitsgrad, der weit über Russland hinausreichte. Auch Zeitungen in Europa und den USA berichteten von ihm.42 Sein Schicksal ist somit zwar gut dokumentiert, die frühe Legendenbildung und die vielgestaltigen Rezeptionen und Verwendungen, die dieser Abrek erfuhr (und bis heute erfährt), machen es aber schwierig, zwischen der historischen und der erfundenen Figur zu unterscheiden. Dieser Anspruch kann an dieser Stelle auch gar nicht erhoben werden. Vielmehr soll die Diskussion verschiedener Episoden aus dem Leben des Abreken – nament­lich sein Werdegang vom einfachen Menschen zum Banditen, seine Verklärung zum Imam und die angeb­liche Verbindung zu religiösen Gruppen sowie die Umstände seines Todes – Einblicke in gängige 39 Ėks-šach i Zelimchan, in: Moskovskaja gazeta kopejka, 30. August 1911. Tatsäch­lich bestand zum damaligen Zeitpunkt eine enge Verbindung zwischen Persien und Russland. So suchte der 1909 gestürzte Schah vergeb­lich die Hilfe rus­sischer Truppen, um die Macht zurückzuerobern. Auch bestanden in ­diesem Zeitraum Kontakte zwischen kauka­sischen Revolutionären und den ­Gegnern des Schahs, den Anhängern der konstitutionellen Revolution (gelegent­lich auch „Jungperser“ genannt). Dazu: Moritz Deutschmann, Cultures of Statehood, Cultures of Revolution. Caucasian Revolutionaries in the Iranian Constitutional Movement, 1906 – 1911, in: Ab Imperio (2013) H. 2, S. 165 – 190. 40 Voroženskie „abreki“, in: Russkoe slovo, 3. November 1911. 41 Dies geht aus dem Schreiben des Vorstehers des Terek-Gebiets und des Kosaken-Atamans an den Stellvertreter für den Bereich der zivilen Verwaltung der kauka­sischen Statthalterschaft vom 4. Mai 1911 hervor, enthalten in: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 415 – 416. 42 West­liche Zeitungen informierten zu Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Leser wiederholt von Banditen, die im Kaukasus ihr Unwesen trieben, darunter auch Zelimchan. So befasste sich etwa auch die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Ausgabe vom 10. Oktober 1910 mit ­diesem Banditen. Auch die Liquidierung Zelimchans war ein Ereignis, über das weltweit berichtet wurde. Besonders ausführ­ lich berichtete etwa die Los Angeles Times: Caucasian Brigand Killed by Soldiers, in: Los Angeles Times, 14. Dezember 1913, S. SN3.

Abreken und abrečestvo

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Vorstellungen über das kauka­sische Banditenwesen geben. Gleichzeitig erlaubt dies eine Annäherung an die Charakteristika der rus­sischen Politik und die komplexen sozialen Realitäten im Nordkaukasus in der ausgehenden Zarenzeit. Dabei muss insbesondere die Vorstellung revidiert werden, dass eine Mehrheit der Einheimischen in Zelimchan einen Helden oder gar Freiheitskämpfer sah, wie dies von der frühen sowjetischen Literatur zu Zelimchan, aber auch einem Teil der postsowjetischen tsche­tschenischen Historiographie, suggeriert wird, die dahin tendiert, diesen Menschen als Kämpfer gegen staat­liche Unterdrückung und für s­ oziale Gerechtigkeit zu porträtieren. Mindestens die Einwohner des Nordkaukasus selbst hatten bestenfalls ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Figur. Dabei wünschten ihm nicht nur diejenigen den Tod, die eine Blutfehde mit ihm offen hatten, sondern auch diejenigen, die unter den kollektiven Strafmaßnahmen litten, w ­ elche die rus­sische Militärführung im Zuge der Ergreifung des Abreken wiederholt durchführen ließ.

5. 2   Ab r e ke n u nd a b r e č e s t v o Zelimchan war ein Abrek. Der Begriff „Abrek“ stammt vermut­lich vom iranischen Wort „aparak“ (Bandit, Landstreicher) und bahnte sich seinen Weg vor langer Zeit in die kauka­sischen Sprachen.43 Im Kaukasus war der Begriff zunächst eher negativ konnotiert. Ein Abrek war ein Ausgestoßener oder Migrant, der sich in den Wäldern und Bergen versteckt hielt, weil er aus Gefangenschaft oder Knechtschaft geflüchtet war oder vor einer Blutrache Schutz suchte. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich der Abrek durch Raub und Diebstahl, auch schloss er sich manchmal mit anderen Abreken zu kleinen Banden zusammen. Während der Kaukasuskriege des 19. Jahrhunderts kam es insofern zu einer ersten gesellschaft­lichen Umdeutung des Abreken, als Imam Šamil viele Abreken als Kämpfer in seine Reihen aufnahm. Eine neue Lesart erfuhr das Abrekenwesen (abrečestvo) nach dem Ende des Kaukasuskriegs, indem der Begriff nun auch auf Einzelne oder Gruppen angewandt wurde, die sich in die Berge zurückgezogen hatten, um sich der Festnahme durch die staat­lichen Behörden zu entziehen.44 Setzten die rus­sischen Verwalter das Abrekenwesen nach dem Ende der Kaukasuskriege gemeinhin mit dem Banditentum gleich und sahen

43 Bobrovnikov, Abreki i gosudarstvo, S. 24. 44 Zu Begriff und Veränderung der Bedeutung: Vladimir Bobrovnikov, Bandits and the State. Designing a „Traditional“ Culture of Violence in the North Caucasus, in: Jane Burbank u. a. (Hg.), Russian Empire. Space, People, Power, 1700 – 1930, Bloomington 2007, S. 239 – 267, insbesondere S. 245 – 253; ders., Abreki i gosudarstvo, S. 19 – 46; ders., Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 16 – 97. Zum Abrekenwesen im Kaukasus grundsätz­lich: Ju. M. Botjakov, Abreki na Kavkaze. Sociokulʼturnyj aspekt javlenija, Sankt-Peterburg 2004.

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darin gemeine Verbrecher (razbojniki), so erhielt der Begriff unter den Völkern der Region nun eine deut­lich positivere Bedeutung: Der Widerstand des Abreken wurde mitunter gar gleichgesetzt mit dem Widerstand des Volks gegen Russland. Folgt man etwa der Sichtweise des ossetischen Schriftstellers Dzacho Konstantin Gatuev (1892 – 1938), so war es in Tsche­tschenien etwa Atabaev, der nach der Kapitulation Šamils den Widerstand fortsetzte, der in die Kategorie der Abreken fiel.45 Tatsäch­lich konnte es vorkommen, dass einzelne Abreken bereits zu Leb­zeiten auf eine Stufe mit Heldenfiguren wie Mansur oder Šamil gestellt wurden. Auf sie wurden die Wünsche und Hoffnungen breiter Bevölkerungskreise projiziert. M ­ anche von ihnen wurden zu „Heiligen“ verklärt, und insbesondere (aber nicht nur) in den von Schiiten besiedelten Gebieten Dagestans und in Aserbaidschan wurden g­ e­tötete Abreken im Rahmen des islamisch-schiitischen Märtyrerkults als „­Schahiden“ (von arab. šahīd, „Zeuge“) verehrt, die im Kampf für die Verbreitung oder Verteidigung des Islam ihr Leben gelassen hatten; ihre Gräber wurden zu Kultstätten für Pilger.46 Allerdings konnten Abreken bei der Bevölkerung auch in Ungnade fallen, wenn sie gegen den Kanon des Gewohnheitsrechts der nordkauka­sischen Völker verstießen. In ­diesem Fall versagten ihnen die Verwandten ihren Schutz, der Abrek verspielte dabei auch das Recht auf Gastfreundschaft, was praktisch seinem Todesurteil gleichkam.47 Den Weg in den rus­sischen Sprachgebrauch und damit in eine breitere Öffent­ lichkeit fand der Begriff „Abrek“ nament­lich über drei literarische Texte der ­frühen rus­sischen Romantik: über Michail Lermontovs „Chadži Abrek“ (1833) und über zwei Novellen Aleksandr Bestužev-Marlinskijs, „Ammalat Bek“ (1832) und „­Mullah Nur“ (1836).48 Wurde der Abrek somit wesent­lich über die rus­sische ­Sprache popu­ larisiert, so war er doch keine rus­sische Erfindung. Er ist bereits früh in kauka­ sischen Liedern dokumentiert und fand Eingang in von nordkauka­sischen und geor­gischen Dichtern verfasste Gedichte.49 Besonders eingehend beschäftigten sich bereits in der ausgehenden Zarenzeit sozialrevolutionär eingestellte Intellektuelle aus dem Nordkaukasus mit dem Topos des Abreken, zumal jener gut in ihre Sichtweise des legitimen Aufbegehrens des Volks gegen die Ungerechtigkeiten der zaris­tischen Unterdrückungspolitik passte. So versuchte etwa der Sozialdemokrat Achmet ­Calikov, negativ besetzten Bildern der kauka­sischen Banditen als „Tiere in

45 Konst. Gatuev, Zelimchan. Iz istorii nacionalʼno-osvoboditelʼnych dviženij na Severnom ­Kavkaze, Rostov-Don, Krasnodar 1926, S. 14. 46 Bobrovnikov, Abreki i gosudarstvo, S. 36. 47 Valerij Dzidzoev, Abrečestvo kak forma socialʼnogo soprotivlenija na Kavkaze vo vtoroj polovine XIX veka, in: Darʼjal 3 (2011), http://www.darial-online.ru/2011_3/dzidzoev.shtml [29.4.2012]. 48 Rebecca Gould, Trangressive Sanctity. The Abrek in Chechen Culture, in: Kritika 8 (2007), S. 271 – 306, hier S. 281. 49 Ebd., S. 272 (Anmerkung 2).

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der Gestalt von Menschen“ entgegenzuwirken, indem er die kulturellen und sozialen Zusammenhänge des Werdegangs eines Abreken erklärte.50 So liest sich in seinem 1913 publizierten Buch Kavkazʼ i Povolžʼe etwa von einem jungen Mann, der sich, um das hohe Brautgeld für die Heirat bezahlen zu können, zu dreisten nächt­lichen Diebeszügen hinreißen ließ, dabei im Affekt einen Menschen tötete und sich danach aus Furcht vor der Blutrache der Verwandten verstecken musste – und so schließ­lich ungewollt zum Abreken wurde.51 Calikov bedauert zwar ­solche Traditionen, doch sieht er die zentralen Probleme nicht darin, sondern in Russlands Umgang damit: Wenn sich die rus­sische Macht im Kaukasus bemühen würde, die s­ oziale Natur des kauka­sischen Banditenwesens oder sogar die Psychologie des kauka­sischen Banditen zu verstehen, dann würde sie entschieden und ein für alle Mal von repressiven Maßnahmen gegenüber der [unschuldigen] eingeborenen Bevölkerung absehen.52

Ähn­lich argumentiert auch der tsche­tschenische Intellektuelle Aslanbek Džemaldinovič Šeripov (1897 – 1919) in seinen Anmerkungen zu von ihm übersetzten und erstmals 1918 erschienenen tsche­tschenischen Liedern.53 Šeripov, der später als Anführer der aufseiten der Bolschewiki kämpfenden Tsche­tschenen während des rus­sischen Bürgerkriegs Bedeutung und Berühmtheit erlangen sollte,54 fasst die Bedeutung des Abreken in einer in der Sowjetliteratur vielzitierten Passage wie folgt zusammen: Die staat­liche Macht terrorisierte die fried­liche Bevölkerung und die Abreken terro­risierten diejenigen an der Macht. Und natür­lich betrachtete das Volk die Abreken deshalb auch als Kämpfer gegen die Unterdrückung und staat­lichen Maßnahmen. Die Tsche­tschenen bezeichnen einfache Diebe und Banditen mit anderen, beleidigenden Worten. (…) Doch der „Abrek“ wurde zu einem Begriff des Respekts und das Volk verlieh nicht jedem ­diesen [ehrenvollen] Titel. Die respektiertesten und erfolgreichsten Abreken f­aszinierten die Tsche­tschenen und sie sahen in ihnen Personen, die den von Šamil und seinen ­Mjuriden begonnenen Kampf [gegen die Russen] weiterführten.55

Beklagt Calikov die Uneinsichtigkeit und Brutalität der rus­sischen Macht, wobei er dieser das Bild des unschuldigen und etwas naiven Menschen gegenüberstellt,



50 Calikov, Kavkazʼ i Povolžʼe, S. 102. 51 Ebd., S. 102 – 103. 52 Ebd., S. 120. 53 Aslanbek Šeripov, Stati i reči. Sbornik, Groznyj 1972 (zweite, erweiterte Ausgabe, hg. von E. P. Kireev und M. N. Muzaev), S. 65 – 69; die Gedichte finden sich in: Ebd., S. 157 – 172. 54 Zum Bürgerkrieg und der Rolle Šeripovs siehe das 6. Kapitel in ­diesem Buch. 55 Šeripov, Stati i reči, S. 67.

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der unwillent­lich zum Abreken mutierte, so argumentiert Šeripov deut­lich kompromiss­­­­loser, wenn er entlang seiner marxistischen Weltanschauung Komplexität auf vereinfachte Zusammenhänge reduziert und vom terrorisierten „Volk“ spricht, das einem barbarischen Kolonialstaat gegenüberstand, der von Abreken in der Tradition Šamils bekämpft wurde. Eine weitere Zuspitzung dieser Sichtweise erfolgte in der Sowjetzeit: So lehnt etwa Abdurachman Avtorchanov in einer seiner frühen Schriften die Verbindung von Banditentum und abrečestvo gänz­lich ab, da er Letzteres als legitime Form des revolutionären Kampfs betrachtet, den die Massen unterstützten. Damit waren „abrečestvo und Banditentum“ ­seiner Meinung nach „zwei diametral entgegengesetzte Strömungen“ und „grund­ legend verschieden“.56 Überhaupt entrückte in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die Sowjet­literatur Zelimchan und das Abrekenwesen zunehmend, um diese für die Zwecke der bolschewistischen Umgestaltungsziele einzuspannen. So erschien 1926 aus der Feder des ossetischen Dichters Dzacho Gatuev der erste historische Roman zu Zelimchan, wobei dem Autor eine erstaun­lich authentisch wirkende Erzählung gelang.57 In den 1920er-Jahren produzierte das sowjetische Kino eine Reihe von Spielfilmen zum Abrekenwesen, darunter den 1926 erschienenen Spielfilm „Abrek Zaur“ von Boris Michin und „Zelimchan“ des Regisseurs Oleg Fre­lich, der im August 1929 erstmals in die Kinos kam und zu einem großen Erfolg avancierte.58 Das Drehbuch zum Film von Fre­lich lieferte dabei kein Geringerer als Dzacho Gatuev, womit es auch dessen Version sein sollte, die später wiederholt übernommen werden und das Bild Zelimchans nachhaltig prägen sollte.59 Nach der Rückkehr der Tsche­tschenen aus der zentralasiatischen Verbannung steuerte der Kult um Zelimchan ab den späten 1960er-Jahren einem neuen Höhepunkt entgegen. So publizierte der tsche­tschenische Schriftsteller Magomet Mamakaev in dieser Zeit seine bekannten Werke zum Banditenwesen und zu Zelimchan.60

56 Avtorchanov, K osnovnym voprosam, S. 36. Auch in seinen Memoiren beschäftigte sich ­Avtorchanov ausgiebig mit dem Abrekenwesen und Zelimchan: Avtorchanov, Memuary, S. 41 – 69. 57 Gatuev, Zelimchan. Zu Dzacho Gatuev: Gould, Transgressive Sanctity, S. 284 – 286; Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 252 – 255. 58 V. E. Višnevskij u. a. (Hg.), Letopis’ rossijskogo kino, 1863 – 1929, Moskva 2004, S. 520, 669. Die Zeitschrift Revoljucija i gorec berichtet in der Ausgabe Nr. 10/1929 von einem „großen Erfolg“ des Kinofilms zu Zelimchan „in Moskau, Rostov und anderen Städten der Sowjetunion“. In Rostov am Don laufe der Film bereits seit zwei Monaten und „jeden Abend vor großem Publikum“, das um die Plätze kämpfen würde. Zitate aus: Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 14. 59 Gatuev lieferte das Drehbuch in Zusammenarbeit mit I. Trabskij: Zelim-chan, in: KinoPoisk [Internet­publikation, ohne Datum], http://www.kinopoisk.ru/film/596172/ [30.11.2012]. 60 Das bekannteste dieser Werke ist: M. A. Mamakaev, Zelimchan. Roman, Groznyj 1971 (russ. Übersetzung des ursprüng­lich 1968 auf Tsche­tschenisch erschienen Buches).

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Mitte der 1970er-Jahre wurde Zelimchan zu Ehren in dessen Heimatbezirk Vedeno ein Denkmal errichtet.61 Der sowjetische Propagandaeifer ging auch an der Familie Zelimchans nicht spurlos vorüber. Die beiden Söhne Zelimchans standen nach der Oktoberrevolution 1917 im Dienst der neuen Sowjetmacht. Und w ­ elche Ironie der Geschichte: Beide Söhne sollten ihr Leben im Kampf gegen „Banditen“ lassen. Magomed, der ältere Sohn, fiel bereits 1921 „bei der Verteidigung von Kämpfern der sowjetischen Armee durch die Hände von Banditen“. Der jüngere, Umar-Ali, fiel 1947 ebenfalls im Kampf gegen „Banditen“ bei der „Verteidigung der Interessen der Sowjetmacht“. So mindestens liest es sich im Protokoll, in dem die politische Führung des Rajons Vedeno am 9. November 1972 mit der Bitte an den tsche­tschenisch-inguschischen Ministerrat gelangte, den beiden Töchtern Zelimchans, Medi und Ėnisat, aufgrund der Verdienste der Familie eine „persön­liche Rente von ört­licher Bedeutung“ zuzusprechen.62 Welch große propagandistische Bedeutung Zelimchan in der Sowjetzeit hatte, lässt sich auch in der durchaus bemerkenswerten Tatsache erkennen, dass offenbar nicht alle Nachkommen der Familie Zelimchans im Februar 1944 deportiert wurden. Umar-Ali nahm bereits in den 1930er-Jahren eine hohe Position im sowjetischen Apparat ein und war zuletzt Vorsteher der Geheimpolizei im tsche­tschenischen Rajon Vedeno (der nach der Deportation der Tsche­tschenen der Republik D ­ agestan zugeschlagen wurde).63 Er erhielt im Mai 1944, nachdem Stalin die Tsche­tschenen bereits nach Zentralasien umgesiedelt hatte, für seine Verdienste bei der Vertei­ digung der Heimat zwei Medaillen zugesprochen, eine „Für die Verteidigung des ­Kaukasus“, die andere „Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterlän­dischen Krieg 1941 – 1945“.64 Getötet wurde Umar-Ali, als er mit tsche­tschenischen ­Rebellen, die sich der Deportation entzogen hatten, Verhandlungen führte, um diese zur Aufgabe ihres bewaffneten Widerstands zu überreden.65 Erst nach dem Tod ihres Bruders sollen sich die beiden Töchter Zelimchans freiwillig entschlossen haben, ins Exil nach Zentralasien zu gehen, um, wie die Mehrheit der Tsche­tschenen, erst nach der Rehabilitierung der Deportierten wieder in die Heimat zurückzukehren.66

61 Vozvraščenie abreka, in: Čečeninfo. 8.7.2009, http://www.checheninfo.ru/2478-Возвращение абрека.html [30.11.2012]. Eine Abbildung des Denkmals findet sich in: Gudaev, Abrek ­Zelimchan, S. 507. 62 Das Dokument findet sich in: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 452 – 453, hier S. 452. Medi soll 1891, Ėnisat 1893 geboren sein (ebd., S. 452), beide starben innerhalb einer Woche im Jahr 1990 (ebd., S. 115 – 116). 63 Ebd., S. 452. 64 Die entsprechenden Dokumente finden sich in: Ebd., S. 450 – 451. 65 Ebd., S. 119 – 120. 66 Dies stützt sich auf eine Angabe (33ʼ) aus dem Dokumentarfilm des tsche­tschenischen Fernsehens zu Abrek Zelimchan: Iz glubiny vekov. Dokumentalʼnyj film ot „ČGTRK Groznyj“ o znamenitom

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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Wirren der beiden Tsche­tschenienkriege lässt sich in jüngster Zeit eine Wiederbelebung des ­Zelimchan-Kults erkennen: 2009 wurde das zum Gedenken an Zelimchan Mitte der 1970er-Jahre errichtete Denkmal bei Vedeno wieder aufgebaut, nachdem es im Tsche­tschenienkrieg der 1990er-Jahre vollständig zerstört worden war.67 Das tsche­tschenische Fernsehen produzierte einen ­längeren Dokumentarfilm zu Z ­ elimchan und zum Abrekenwesen.68 Und auch in der tsche­tschenischen Geschichtsschreibung erfuhr Zelimchan eine Neubelebung. Dabei behandeln Historiker diese Figur auch heute keineswegs einheit­lich: So erscheint Z ­ elimchan bei denjenigen, die ihre Geschichte vor allem als Nationalgeschichte und in Abgrenzung zu Russland zeichnen, in erster Linie als Freiheitskämpfer und damit als früher Protagonist der tsche­tschenischen Nationsbildung. Anderen Historikern erscheint es in der gegenwärtigen Situation, die von einem russlandfreund­ lichen Kurs unter dem tsche­tschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrov geprägt ist, offenbar opportuner, weniger die politischen als die sozialen Aspekte des Abreken­wesens zu betonen, wenn sie Zelimchan als Streiter für Gerechtigkeit und als eine kauka­sische Variante des „edelmütigen und frommen Banditen ähn­ lich wie Robin Hood“ porträtieren.69 Ausgehend von den frühen Interpretationen der rus­sischen Sozialdemokraten verorten letztere Historiker das Zelimchan-Bild damit in einer west­lich-marxistisch geprägten Geschichtsschreibung zum Sozialbanditentum, das Ausdruck eines gesellschaft­lichen Protests und ein „universelles soziales Phänomen“ gewesen sein soll, das sich in ähn­lichen Formen und zu verschiedenen Zeitpunkten in allen Teilen der Welt wiedergefunden habe.70 Entsprechend dieser Lesart sei auch der „Mythos“, den die bäuer­liche Bevölkerung solchen Banditen zugeschrieben habe, oft nicht allzu fern von der „Realität des Banditenwesens“ gewesen, wie der



abreke Zelimchane Gušmazukaeve (Charačoevskom) [ohne Datum], http://www.checheninfo. ru/12167-abrek-zelimhan-iz-glubiny-vekov.html [30.11.2012]. 67 Vozvraščenie abreka. 68 Dokumentarfilm „Iz glubiny vekov“ (siehe Anmerkung 66 in ­diesem Kapitel). 69 Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 3. 70 Das Konzept des sozialen Banditentums geht auf den britischen Historiker Eric Hobsbawm zurück, der ­dieses 1959 in der Schrift Primitive Rebels entwickelt und 1969 in seinem Werk Bandits ausgebaut hat. Ich stütze mich hier auf seine im Jahr 2000 erschiene, revidierte Ausgabe: Eric Hobsbawm, Bandits, New York 2000, S. 21. Hobsbawm nimmt explizit Bezug zu Zelimchan, den er als „Robin Hood von Dagestan im frühen 20. Jahrhundert“ bezeichnet: Ebd., S. 49. Die Gleichsetzung Zelimchans mit Robin Hood findet sich allerdings nicht erst bei Hobsbawm, sondern geht auf zeitgenös­ sische west­liche Interpretationen zurück. So widmet etwa die Los Angeles Times Zelimchan in ihrer Ausgabe vom 10. November 1912 einen ausführ­lichen Bericht, in dem dieser als „moderner Robin Hood“ betitelt wird, den die Armen lieben: Handsome Highwayman a Modern Robin Hood, in: Los Angeles Times, 10. November 1912, S. III26.

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Begründer dieser Geschichtsschreibung, Eric Hobsbawm, in seinem b­ ekannten Buch Bandits festhält.71 Eine endgültige „Realität“ wird sich im Fall Zelimchans nicht rekon­struieren lassen. Immerhin finden sich für Zelimchan aber ausreichend Zeugnisse aus der Zeit selbst, die Auskunft darüber geben, wie vergangene Wirk­lichkeiten ­ab­gebildet ­wurden.

5. 3   D a s We r d e n ei ne s Ab r e ke n Zelimchans Entscheid, als Abrek in die Berge zu gehen, war auf Beweggründe zurückzuführen, die in Zusammenhang mit einem konkreten Vorfall in seinem Heimat­ort standen. In einem rus­sischen Polizeibericht aus dem Jahr 1911 liest sich, dass Zelimchan Gušmazukaev ein „ruhiger und relativ wohlhabender“ Bewohner des Dorfs Charačoj im Bezirk Vedeno war, bis es 1894 zu einer Blutfehde mit einer Person aus demselben Dorf kam, worauf Zelimchan seinen Widersacher in Notwehr tötete. Der stellvertretende Hauptmann des Bezirks Vedeno, Černov, der als Ankläger herangezogen wurde, brachte Zelimchan ins Gefängnis. Doch dieser brach aus und wollte sich nun an Černov rächen. Als der Hauptmann davon erfuhr, ließ er Zelimchan mitteilen, dass er ihn fälsch­licherweise beschuldigt habe; er bat ihn um Verzeihung und versprach, ihn nicht weiter zu verfolgen. Als Černov später durch Hauptmann Dobrovolʼskij abgelöst wurde, hielt sich dieser nicht an die Abmachung. Als Zelimchan, um sich vor der Verfolgung durch Dobrovolʼskij zu ­schützen, als Abrek in den Untergrund ging, weitete der Hauptmann die Verfolgung auf Zelimchans Verwandte aus, die darauf ebenfalls untertauchen mussten. Die männ­lichen Mitglieder der Familie schlossen sich Zelimchans Bande an. In einem Racheakt sollte es Zelimchan schließ­lich im Jahr 1906 gelingen, Dobrovolʼskij zu ermorden. Mit d­ iesem Mord begab sich Zelimchan endgültig in die Illegalität, aus der kein Weg mehr herausführen sollte.72

71 Hobsbawm, Bandits, S. 503. Wohlgemerkt wurde Hobsbawm für diese Interpretation bereits früh kritisiert, so nament­lich in der 1972 erschienenen Rezension von Anton Blok (Anton Blok, The Peasant and the Brigand. Social Banditry Reconsidered, in: Comparative Studies in Society and History (1972) H. 4, S. 494 – 503). Diese Kritik löste eine Forschungsdebatte aus, die bis heute nicht abgebrochen ist und die sich im Wesent­lichen darum dreht, inwiefern es zulässig ist, ­dieses Banditenwesen als Form eines sozialen Protests zu bezeichnen, und der Mythos mit der Realität des Banditenwesens zusammenfällt. Mein Beitrag ist zwar nicht als eine explizite Auseinandersetzung mit dem Hobsbawmschen Konzept zu verstehen. Ich stelle aber ähn­liche Fragen, wenn es um die Interpretation ­dieses Phänomens im kauka­sischen Kontext geht. 72 Diese Passage bezieht sich auf den Bericht Rukavišnikovs, vor dem 3. November 1911, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 246 – 247. Im Bericht wird das Datum 1906 als Zeitpunkt

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Diese ist nur eine der vielen Versionen, die den Beginn von Zelimchans Wirken erklären. Sie enthält jedoch alle wichtigen Elemente, die nötig sind, um seinen Weg in das Abrekenwesen und seinen späteren Widerstand gegen die rus­sische Staatsgewalt zu verstehen. Am Anfang der Tragödie stand eine Blutfehde zwischen zwei verfeindeten tsche­tschenischen Familien.73 Bereits die frühesten Publikationen zu Zelimchan berichten übereinstimmend, dass der Auslöser für die Blutfehde ein Streit um eine junge Frau gewesen sein soll, die sowohl vom Bruder Zelimchans, Soltamurad, als auch von einem Mann aus demselben Dorf oder aus dem Nachbardorf begehrt wurde. Ob sie vom Nebenbuhler Soltamurads tatsäch­lich geraubt und vergewaltigt wurde oder sich ihm aus freien Stücken hingab, muss dahingestellt bleiben. Es finden sich in der Literatur beide Versionen.74 Allerdings hat sich spätestens mit dem Erscheinen des Buches von Gatuev die Sichtweise durchgesetzt, die von einer Liebesgeschichte zwischen Soltamurad und der jungen Braut (Gatuev nennt sie Zezyk) ausgeht und die Familie des Nebenbuhlers als diejenige darstellt, die dem jungen Glück im Weg stand.75 Auch Generalleutnant Graf Dmitrij Petrovič Bagrationʼ (1863 – 1919) sieht in seiner 1914 erschienenen Publikation, die sich mit dem Schicksal Zelimchans und dessen Liquidation im Detail auseinandersetzt, eine Liebesgeschichte am Ausgangspunkt der Tragödie, in der er in Vorwegnahme der in späterer Zeit verfassten historischen Romane und Filme Potenzial „für einen romantischen Schriftsteller oder Dramatiker-Komponisten für die Schaffung einer schönen Oper“ erkennen will.76 Anders als bei Gatuev entscheidet sich in Bagrationʼs Version jedoch die Braut (er nennt sie Chadyžat) von Anfang an für den Nebenbuhler, und Zelimchan, der dieser hübschen Frau „selbst nicht völlig gleichgültig“ gegenübergestanden haben soll, soll es für seine Pflicht gehalten haben, sie zu entführen und seinem Bruder zu übergeben.77







der Ermordung Dobrovolʼskijs nicht explizit erwähnt. Dieses Datum findet sich aber in den anderen Berichten zu Zelimchan wieder und wird etwa erwähnt bei: Calikov, Kavkazʼ i Povolžʼe, S. 112. 73 Wann die Blutfehde genau stattgefunden hatte, ist unklar. Die Quellen nennen verschiedene Daten, wobei das Datum 1894, das der Polizeibericht aus dem Jahr 1911 nennt, allerdings sehr früh an­gesetzt ist. Gatuev gibt in seinem Roman an, dass Zelimchan infolge der Familienfehde 1901 verhaftet und ins Gefängnis gebracht worden sei: Gatuev, Zelimchan, S. 48. 74 Bagrationʼ, Podvigʼ Terskago Kazaka, S. 14 – 15. 75 Gatuev, Zelimchan, S. 43. 76 Bagrationʼ, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Oberkommando über eine Brigade der neu geschaffenen kauka­sischen einheimischen Reiterdivision übernehmen sollte, stützte sich in seinem Bericht im Wesent­lichen auf ein Gespräch mit Oberst Kibirov, der jenes Spezialkommando angeführt hatte, das Zelimchan im September 1913 aufgespürt und getötet hatte: Bagrationʼ, Podvigʼ, S. 14. 77 Ebd., S. 13 – 15.

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Kaum bestritten ist in der Literatur auch, dass es Zelimchans Partei war, die auszog, die junge Frau zurückzuholen, um die Ehre der Familie wiederher­zustellen. Als im Zuge dieser Aktion ein Verwandter Zelimchans getötet wurde, war es an der ­Familie des Geschädigten, Rache zu üben. Bezüg­lich der Form, wie dies genau geschah, gibt es wiederum verschiedene Versionen. Gemäß Gatuev soll es ­Gušmazuko, der Vater Zelimchans, gewesen sein, der den Nebenbuhler Soltamurads tötete.78 Jedenfalls wurde die junge Frau daraufhin befreit und an Soltamurad übergeben. Wird davon ausgegangen, dass beide Familien je einen Verlust zu beklagen hatten, dann hätte vielleicht die Mög­lichkeit bestanden, die Blutfehde zu beenden und den Frieden zwischen den Familien wiederherzustellen, zumal sich die r­ us­sische Staatsmacht bis zu d­ iesem Zeitpunkt nicht in diese lokale Auseinandersetzung eingeschaltet hatte. Doch in d­ iesem Fall kam es anders. Die mit Zelimchan verfeindete Partei wandte sich an die rus­sische Staatsmacht in der Person von Černov. Und vielleicht war es tatsäch­lich so, wie Gatuev schreibt, dass dies mithilfe des Dorf­ ältesten geschah, der in dieser Angelegenheit von Anfang an auf der Seite der mit Zelimchan verfeindeten Familie stand.79 Diese Ausführungen decken sich auch weitestgehend mit den Ausführungen in einem Brief, der im Namen Zelimchans am 15. Januar 1909 dem Vorsitzenden der Staatsduma zugestellt wurde. Zelimchan, der selbst kein Rus­sisch sprach und weder lesen noch schreiben konnte, ließ während seiner Zeit als Abrek tatsäch­ lich wiederholt mithilfe von Drittpersonen Briefe verfassen, die er an ihm verhasste Amtspersonen schickte. Allein Oberst Galaev ließ er im Vorfeld des Mord­ anschlags gegen diesen angeb­lich 14 Briefe zukommen.80 Doch der Brief an die Duma, der im Februar 1909 in einer Ausgabe der sozialdemokratisch orientierten St. Petersburger Zeitung Golos pravdy erstmals abgedruckt wurde, stammte mit größter Wahrschein­lichkeit nicht von Zelimchan. Selbst Achmed Calikov, der diesen Brief in seinem Buch in voller Länge publiziert, gibt zu verstehen, dass ­dieses Schreiben kaum von Zelimchan stammen könne, da dieser sich „bekannt­ lich nicht durch besondere Lese- und Schreibkunde“ ausgezeichnet habe.81 Dass der Brief nicht aus der Feder Zelimchans war, konnte aber auch ein unab­hängiger Beobachter leicht daran erkennen, dass der Autor zu Beginn des Schreibens herausstreicht, dass der Brief deshalb der Duma zugestellt werde, weil deren Delegierte zu d­ iesem Zeitpunkt eine Anfrage zum Banditenwesen im Kaukasus

78 Gatuev, Zelimchan, S. 41 – 47. 79 Ebd., S. 46. 80 Dies behauptet S. Berdjaevʼ, der zu Anfang seines Einsatzes in Tsche­tschenien noch unter Galaev diente. Gemäß Berdjaevʼ waren diese Briefe jeweils auf Arabisch und vom Vater Zelimchans, Gušmazuko, verfasst: Berdjaevʼ, Razbojnikʼ Zelimchanʼ, S. 39. 81 Calikov, Kavkazʼ i Povolžʼe, S. 117. Der Brief findet sich in: Ebd., S. 112 – 117.

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behandeln würden. Von diesen größeren politischen Zusammenhängen im fernen St. Petersburg konnte Zelimchan kaum Kenntnis gehabt haben. Der Autor des Schreibens, bei dem es sich vielleicht tatsäch­lich, wie Gatuev schreibt, um einen Angehörigen der tsche­tschenischen Intelligenzija und Erdölunter­nehmer gehandelt hat,82 setzte sich vor allem ein Ziel: das rücksichtslose rus­sische Vorgehen im Kaukasus anzuprangern und die Öffent­lichkeit über das Wesen des Banditentums aufzuklären. Wer anders als Zelimchan, der zu d­ iesem Zeitpunkt bereits der bekannteste Abrek Russlands war, schien besser geeignet, die Duma über die Verhältnisse im Kaukasus zu unterrichten? Im Grunde genommen handelte es sich bei ­diesem Briefdokument, das in der tsche­tschenischen Literatur zu Zelimchan gemeinhin als authentische Quelle eines Ego-Zeugnisses Zelimchans behandelt wird,83 nur um eine weitere politisch motivierte Schrift, die den rücksichtslosen Umgang Russlands mit Nichtrussen und fremden Kulturen anprangerte. Weil sich der Autor aber im Detail mit den Gründen auseinandersetzt, weshalb er, Zelimchan, zum „bekanntesten Abreken in den ­Gebieten Terek und Dagestan“ wurde, ist dies dennoch ein, wie auch Calikov schreibt, „äußerst charakteristisches“ Dokument, da es die „gängigen Wege“ begreif­lich werden lässt, die im Kaukasus aus einem Menschen einen Abreken werden ließen.84 Um den Brief nicht als Rechtfertigung oder Bittschrift für Zelimchan selbst aussehen zu lassen, stellt der Autor zu Beginn klar, dass ihm, Zelimchan, bewusst sei, dass aufgrund seiner Taten eine „Rückkehr zu einem fried­lichen Leben“ unmög­lich sei und er von niemandem „Barmherzigkeit und Gnade“ erwarte. Dennoch wäre es für ihn aber „eine große mora­lische Befriedigung, wenn die Volksvertreter wüssten, dass [er] genauso wenig als Abrek geboren [worden sei] wie [s]ein Vater, [s]ein Bruder und andere. Die Mehrheit von ihnen wähl[e] einen solchen Weg als Folge des ungerechten Verhaltens der staat­lichen Behörden oder aufgrund irgendeiner Straftat oder einer sonstigen unglück­lichen Fügung äußerer Umstände“. Danach erläutert er im Detail, weshalb er 1906 Hauptmann Dobrovolʼskij und zwei Jahre später den Vorsteher im Bezirk Vedeno, Oberst Galaev, getötet hatte.85 Dem Autor ging es ganz offensicht­lich darum, zu zeigen, dass der Weg in die Illegalität und den Widerstand nicht vorgezeichnet war. Am Anfang von Zelimchans Weg, der ihn schnell in einen Strudel von Gewalt und Gegengewalt riss, stand die Unverträg­lichkeit von rus­sischem und traditionellem Recht. Zelimchan erklärt im Brief, dass er mit der Ermordung des Nebenbuhlers seines Bruders, den er selbst und „ohne Mittäter“ getötet habe, der „heiligen Pflicht“ der Vergeltung nachgekommen

82 Gatuev, Zelimchan, S. 174. 83 So etwa auch Avtorchanov: Avtorchanov, Memuary, S. 46. 84 Calikov, Kavkazʼ i Povolžʼe, S. 117. 85 Ebd., S. 112.

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sei, die jeder Tsche­tschene hochzuhalten habe. Durch diese Tat, so der Autor, wäre die Angelegenheit eigent­lich für alle Beteiligten erledigt gewesen, hätte nicht eine ihm feind­lich gesinnte Person die rus­sischen Behörden darüber informiert, worauf ein Verfahren wegen Mordes eröffnet worden sei.86 Wäre es mög­lich gewesen, die Blutrache vor den Behörden geheim zu halten, hätten sich die verfeindeten ­Familien einigen und Zelimchan und seine Familie wohl weiterhin ein unbescholtenes Dasein fristen können, denn als wohlhabende Bewohner ihres Dorfes hätten sie alles gehabt, was sie zum Leben brauchten: „Klein- und Großvieh, einige Pferde, eine Mühle (…) und eine große Imkerei, die mehrere Hundert Bienenstöcke umfasste. Wir ­hatten an Eigenem genug, und Fremdes haben wir nicht gesucht.“ 87 Dass der Autor ausdrück­lich betont, dass es allein Zelimchan gewesen sei, der den Nebenbuhler getötet und danach auch die Morde an den Staatsangehörigen ausgeführt habe, bringt ein weiteres zentrales Anliegen zum Ausdruck: Anstatt zu versuchen, die Taten Zelimchans zu verharmlosen, ging es dem Autor offensicht­lich darum, die Schuld von den anderen Familienangehörigen Zelimchans und der Bevölkerung zu nehmen, um das Vorgehen der Behörden bloßzustellen, denen „der Kampf mit fried­lichen Leuten offenbar viel leichter [falle] als mit Abreken“.88 Der Umstand, dass auch unschuldige Menschen für die Taten von Banditen bestraft wurden, erschien zwar ungerecht und musste verurteilt werden. Doch blieb der Autor des Briefs die Antwort schuldig, wie das Abrekenwesen, das er selbst als ein inhärent gesellschaft­liches Phänomen darstellt, bekämpft werden konnte, ohne dabei die Gesellschaft in Mitleidenschaft zu ziehen. Zudem blieb bei dieser Sichtweise, wie sie in sozialdemokratisch gesinnten Kreisen vorherrschte, unklar, wie mit den archaischen Rechtsnormen der nordkauka­sischen Völker konkret zu verfahren war. Wenn am Ursprung des Konflikts die Unvereinbarkeit von rus­sischem und traditionellem Recht stand, bedeutete dies dann, dass damit der „heiligen Pflicht“ der Blutrache Vorrang vor der imperialen Gesetzgebung zu geben war? War es falsch, dass die mit Zelimchans Familie verfeindete Partei an die rus­sische Staatsmacht gelangte, um ihr Recht einzufordern? Es konnte denn auch nicht erstaunen, dass diese Art von Kritik an der ­rus­sischen Kaukasuspolitik in der zu ­diesem Zeitpunkt von konservativen Kräften ­dominierten Duma auf wenig Gehör stieß. Als etwa im Herbst 1910 die beiden ­sozial­demo­kratischen Duma-Delegierten aus Georgien, die Menschewiki Evgenij Petrovič Gegečkori (1881 – 1954) und Nikolaj Semënovič Čcheidze (1864 – 1926), das Problem Zelimchan vor dem Hintergrund der zunehmenden staat­lichen Gewalt

86 Ebd., S. 113. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 116.

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Banditen und Heilige: Abrek Zelimchan

gegen die Bevölkerung behandeln wollten, kommentierte dies die St. Petersburger Tageszeitung Peterburgskaja gazeta mit der zynischen Bemerkung, dass der Auftrag zur Ergreifung Zelimchans doch einfach den beiden kauka­sischen „Landsmännern“ Zelimchans übertragen werden sollte, denen es dann sicher­lich gelingen würde, den Banditen lebend der Polizei zu übergeben.89

5.4   „ I m a m“ Z el i m ch a n u nd r el ig iö s e Ve r bi nd u nge n Zentral für das Verständnis der rus­sischen Sichtweise, wie sie insbesondere unter konservativ denkenden Vertretern der rus­sischen Elite und Vertretern des impe­rialen Verwaltungsapparats vorherrschte, war die Annahme, dass „Zelimchan sich zum Imam erklären und die Zarenmacht ausradieren [wolle]“,90 sowie seine ­an­­­­­­geb­lichen Verbindungen zu islamischen Fanatikern und Russland feind­lich ­gesinnten ­äußeren ­Kräften. In einem im Herbst 1912 erstellten internen Bericht des Leiters der ­rus­sischen Geheimdienstabteilung in Konstantinopel, der sich auf „verschiedene geheime ­Quellen“ beruft, die er als vertrauenswürdig einstuft, liest sich, dass Zelimchan im Jahr 1909 „an einer großen Versammlung Ältester aus Siedlungen des Terek-Gebiets und Dagestans in einem Bergaul oder [an] einem historischen Ort in einem abgelegenen Teil Dagestans öffent­lich zum Heiligen und Großen Imam für den Kampf mit den Ungläubigen“ erklärt worden sei. Danach sei er bereits im Mai 1909 nach Mekka und anschließend nach Medina und I­ stanbul gereist. Die Überfälle, die während seiner Abwesenheit im Kaukasus durch­geführt wurden, seien in Stellvertretung Zelimchans von „türkischen Offizieren und ­Emissären des ‚Ittichad‘“ ausgeführt worden. Schließ­lich erfahren wir noch, dass Zelimchan letzt­lich aber dennoch nicht an die Eröffnung eines Pan-Islamisten­kongresses nach Mekka gereist sei, weil er nicht offizieller Delegierter und zu ungebildet gewesen sei.91 Die Quelle rechnet Zelimchan somit einmal dem jungtürkischen Lager zu, obwohl ­dieses klar säkulare Ziele verfolgte (beim „Ittichad“ sind die Jungtürken gemeint, eine politische Bewegung innerhalb des Osmanischen Reichs, w ­ elche die Er­­richtung eines großtürkischen Staates auf säkularer Grundlage anstrebte), und einmal dem panislamischen Lager, einer im Kern religiösen Bewegung, ­welche die Ver­einigung aller islamischen Siedlungsgebiete in einem Staat zum Ziel hatte. In­­ wiefern sich der Verfasser des Berichts dieser Unterscheidung überhaupt bewusst war, ist unklar. In beiden Bewegungen muss er jedenfalls eine Bedrohung für Russland 89 Social-demokraty i Zelimchan, in: Peterburgskaja gazeta, 6. November 1910. 90 So formulierte dies Aslanbek Šeripov bereits 1918: Šeripov, Stati i reči, S. 67. 91 Das Dokument datiert vom 25. September 1912 und findet sich in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 250 – 251.

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erkannt haben. Ein anderer rus­sischer Geheimbericht aus dem gleichen Zeitraum bestreitet zwar die Meinung, Zelimchan habe sich zum Imam wählen lassen, lässt aber ebenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, dass Zelimchan einen Aufstand gegen Russland planen würde. Dabei habe er bei seinen Vorbereitungen verschiedene geist­liche Führer in Tsche­tschenien und Dagestan angeschrieben, um diese zur Annahme des Imam-Titels zu bewegen; er selbst würde nur den bewaffneten Widerstand für den Kampf gegen die rus­sische Regierung organisieren.92 Dass zwischen dem islamischen Nordkaukasus und dem Osmanischen Reich Kontakt bestand, lässt sich kaum bestreiten. Doch erfolgte dieser vor allem über geist­liche Würdenträger Dagestans, mit Tsche­tschenien war der Austausch weit weniger ausgeprägt. Die Vermutung, dass im Terek-Gebiet die Geist­lichkeit an den islamischen Schulen eine „panislamistische Propaganda“ betreibe und sich „die Bildung in den Händen von Einwanderern aus Persien und der Türkei“ befinde, ließ sich durch eine entsprechende Untersuchung zu panislamistischen Tendenzen im Kaukasus, ­welche die Behörden im Zuge des Überfalls auf das Schatzamt von Kizljar durchführen ließen, nicht erhärten.93 In der rus­sischen Vorstellungswelt existierte diese Verbindung jedoch und Personen wie Zelimchan waren Dreh- und Angelpunkt im Szenario einer Invasion des Osmanischen Reichs. Dies kam nicht nur in internen Berichten zum Ausdruck, sondern in ausgeprägter Form auch bei konservativen Publizisten. Bezeichnend ist in ­diesem Kontext etwa die Äußerung des damals in Russland bekannten Akademikers Pavel Ivanovič Kovalevskij (eigent­ lich ein Psychiater, 1850 – 1930), der sich im Oktober 1912 anläss­lich eines Vortrags vor der Gesellschaft der Anhänger der Geschichte (Obščestvo revnitelej istorii) zum Thema „Zelimchan und der Kaukasus“ mit der Aussage zitieren ließ: Obwohl Russland den Kaukasus erobert hat, ist dieser nicht vollständig befriedet. Alle [den Kaukasus] bewohnenden muslimischen Völkerschaften atmen in der Abgeschiedenheit ihrer Aule einen unversöhn­lichen Hass gegen Russland und warten nur auf die Gelegenheit, sich zusammen mit der Türkei zur Verteidigung des Islam zu erheben. (…) [Besonders] der wilde Zustand Tsche­tscheniens wird immer eine Gefahr für Russland darstellen, denn 250.000 Tsche­tschenen stellen, im Fall eines Kriegs mit der Türkei, Letzteren eine bereite Streitmacht zur Verfügung, die bis in die letzten Winkel des Kaukasus reicht.94

92 Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 420. 93 Bericht Pastrjulins, 18. Dezember 1910, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 238 – 239. 94 Kovalevskij hatte den Vortrag am 10. Oktober 1910 gehalten. Der Text des Vortrages findet sich als Abschrift eines Polizeiberichts, der vom 11. Oktober 1910 datiert und enthalten ist in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 251 – 254, hier S. 253.

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Banditen und Heilige: Abrek Zelimchan

Die Vorstellung, dass islamische Fanatiker mithilfe des Osmanischen Reichs die Loslösung des Nordkaukasus von Russland anstreben könnten, brachte nicht nur tiefsitzende Ängste zum Ausdruck, sondern war auch ein kraftvolles Argument, mit dem nach einer als liberal geltenden Phase der Politik nun die Rückkehr zu einer Politik der harten Hand gefordert wurde, wie sie nach Ansicht vieler gegenüber „asiatischen Völkern“ nötig war. So meint etwa auch Kovalevskij: „Zelimchan – das ist das Produkt eines riesigen Fehlers der Verwaltung [des Kaukasus], die nicht gewillt war, der Förderung der Kultur in Tsche­tschenien und der Vernichtung des von Fanatismus durchsetzten Geistes der Völker die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.“ 95 Als Maßnahmen schlug der Akademiker vor, Tsche­tschenien und Dagestan aus dem Nordkaukasus-Kreis auszugliedern und unter die direkte Kontrolle des Petersburger Zentrums zu stellen, um insbesondere auch die Kosaken vor dem „schlechten Einfluss“ der Tsche­tschenen zu ­schützen. Dann sollte die Administration daran gehen, Straßen zu bauen, um die Kommunikationswege für die Verbreitung der Kultur und von „rus­sischem Geist und rus­sischen Ansichten“ zu schaffen. In d­ iesem Zusammenhang sollten auch rus­sische Schulen errichtet und die Aktivitäten der Mullahs und der türkischen Emissäre besser überwacht werden, da diese oft schäd­liche Propaganda unter der Bevölkerung verbreiteten und die Menschen leicht zum heiligen Krieg anstacheln könnten. Schließ­lich müssten auch die aus Mekka heimgekehrten Muslime kontrolliert werden, da sie sich auf ihrer Reise durch das Osmanische Reich mit den gegen das Christentum ­gerichteten Ideen des Panislamismus infizieren würden. Deshalb, so Kovalevskij, sollten die Behörden anordnen, dass muslimische Pilger die Reise nach Mekka in Zukunft unter Umgehung der Türkei durchführen sollten.96 Die Aktionen Zelimchans erregten in Russland großes Aufsehen und ent­sprechend wurde auch über die Hintergründe und Zusammenhänge wild spekuliert. Jede Seite hatte dabei ihre eigenen Gründe, um bestimmten Gerüchten Glauben zu s­ chenken oder sie zu verbreiten. Wohlwissend, dass sich die Russen vor einem neuen Dschihad im Kaukasus fürchteten, war Zelimchan unter Umständen vielleicht sogar selbst daran interessiert, entsprechende Nachrichten zu verbreiten. So brachte er offenbar bereits 1908 in einem Brief an den damaligen Vorsteher der Terek-Oblast, General Aleksandr Stepanovič Micheev (1853 – 1914), seine Absicht zum Ausdruck, sich zum Imam wählen zu lassen.97 Vor dem Hintergrund dieser Befind­lichkeiten konnte es kaum erstaunen, dass sich auf rus­sischer Seite auch im Zuge des aufsehenerregenden Überfalls auf das 95 Ebd., S. 253. 96 Ebd., S. 254. 97 Der Brief Zelimchans an Micheev aus dem Jahr 1908 ist vermut­lich verschollen, ein expliziter Hinweis darauf findet sich in: Bericht Rukavišnikovs, vor dem 3. November 1911, in: Ebd., S. 250.

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Schatzamt von Kizljar Deutungen fanden, die den Akt Zelimchans nicht nur von konkreten pekuniären Beweggründen angetrieben sahen, sondern dahinter auch ­religiös-politische Motive verbunden mit einem konkreten Racheakt sehen w ­ ollten. Das Rachemotiv erklärt sich mit einem Ereignis, das sich ein Jahr zuvor in Gudermes zugetragen hatte. Im März 1909 kam es in dieser tsche­tschenischen Ortschaft zu einem Blutbad, als eine dem Ataman von Kizljar, Verbickij, unterstellte Militäreinheit eine Entwaffnungsaktion unter anwesenden Tsche­tschenen durchführen wollte. Als sich die Tsche­tschenen weigerten, ihre Waffen abzu­geben, eskalierte die Situation, worauf die Truppe Verbickijs das Feuer er­­öffnete. Die ­rus­sische Presse berichtete später von drei Toten und acht Verwundeten, ohne dabei deren Nationalität zu nennen.98 Gemäß rus­sischen internen Berichten, die sich auf Angaben Verbickijs stützen, dürften es aber tatsäch­lich mehr als 30 Personen, vermut­ lich vornehm­lich Tsche­tschenen, gewesen sein, die infolge der Zusammenstöße getötet wurden.99 Entsprechend naheliegend war es nun, im Überfall Zelimchans auf das Schatzamt von Kizljar einen Racheakt für die getöteten Tsche­tschenen von Gudermes zu sehen, zumal die große Zahl von Opfern, die aus ­diesem Überfall resultierte, dafür gesprochen hätte. Schließ­lich wäre dies auch nicht das erste Mal gewesen, dass bei Zelimchan ­solche Motive eine Rolle gespielt hätten. Um offenbar Rache an 17 ge­­töteten Tsche­tschenen zu nehmen, die von Soldaten des Schirwansker Regiments am 10. Oktober 1905 auf einem Bazar in Groznyj erschossen worden waren, überfiel eine Bande, die mutmaß­lich von Zelimchan angeführt wurde, eine Woche ­später bei der stanica Kady-Jurt einen Personenzug, wobei sie ebenso viele ­rus­sische Passagiere tötete.100 Die zu dieser Zeit häufig geäußerte Vermutung, dass beim Überfall auf das Schatzamt von Kizljar zudem religiöse Motive eine Rolle gespielt haben könnten, war wiederum in Verbindung mit dem Vorfall von Gudermes zu sehen. Die Er­­ mordung so vieler Menschen war ein Ereignis, das auch die tsche­tschenische Geist­ lichkeit nicht unberührt gelassen haben konnte. So soll es der damals vielleicht einflussreichste Scheich in der tsche­tschenischen Ebene, Bamat Girej Chadži Mitaev (ca. 1838–1914), gewesen sein, der sich zum Fürsprecher der Tsche­tschenen machte und eine Racheaktion gegen die Russen sanktionierte. Bamat Girej Chadži gehörte

98 Russkoe slovo, 18. März 1909. 99 Bericht Pastrjulins, 18. Dezember 1910, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 242. 100 Unklar ist, ob es sich um Passagiere oder rus­sische Soldaten handelte, und auch über die Zahl der Getöteten besteht Unklarheit. Ein rus­sischer Zeitungsbericht schreibt von 15 getöteten und 20 verwundeten Passagieren: Ubijstvo razbojnika, in: Russkoe slovo, 11. September 1908. Der Bericht Rukavišnikovs nennt 19 ermordete Passagiere: Bericht Rukavišnikovs, vor dem 3. November 1911, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 247.

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in seinen jungen Jahren zur Gefolgschaft des bekannten Scheichs Kunta-Chadži. Nach dem Tod Kunta-Chadžis stieg Bamat Girej Chadži in Tsche­tschenien zu einem der wichtigsten Anführer der Bruderschaft der Qādiriyya auf. Um 1873 unternahm er mit einer Gruppe Tsche­tschenen den Haddsch, die islamische Pilgerreise nach Mekka. Er wurde als „Heiliger“ verehrt und zählte nach übereinstimmenden An­­ gaben auf eine Anhängerschaft von Hunderten, vielleicht sogar von Tausenden von Mjuriden.101 Bamat Girej Chadži war gemäß rus­sischen Quellen mit drei Frauen verheiratet, besaß große Ländereien und eine Textilwarenproduktion (manufakturnyj tovar), ­welche die Behörden auf einen Wert von 8000 Rubel schätzten.102 Dass Bamat Girej Chadži im Anschluss an das Verbrechen in Gudermes nun tatsäch­lich seine Mjuriden unter der Führung seines erstgeborenen Sohns Ali losgeschickt hatte, um Rache an den getöteten Tsche­tschenen zu nehmen, und sich dieser Truppe auch Zelimchan und weitere Abreken anschlossen, eine Version, die sich auch in zeitgenös­sischen Agenturmeldungen und internen rus­sischen Berichten findet, ist jedoch unwahrschein­lich.103 Tatsäch­lich konnten Nachforschungen, die im Anschluss an den Überfall auf das Schatzamt von Kizljar durchgeführt wurden, nicht bestätigen, dass sich Ali unter den Angreifern befunden hatte. Keiner der Zeugen konnte Ali, der nach dem Überfall kurzzeitig verhaftet worden war, als Beteiligten identifizieren. Auch bei einer Durchsuchung des Hauses von Bamat Girej in Avtury fanden sich keinerlei Hinweise, außer dass beim Scheich „große Geldsummen“ gefunden worden seien.104 Ohne Frage war Verbickij bei den Tsche­tschenen eine verhasste Figur und tatsäch­lich muss davon ausgegangen werden, dass eine Animosität Zelimchans gegenüber dem Kosaken-Ataman beim Überfall eine Rolle gespielt hatte. Dies belegt auch der Brief, den Zelimchan während des Überfalls auf einem der Tische im Schatzamt hinterlegte und in dem er sich direkt an den Kosaken-Ataman richtet.

101 Bericht Pastrjulins, 18. Dezember 1910, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 243 – 244; M. D. Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev. Patriot, mirotvorec, politik, genij. Ėtalon ­spravedlivosti i česti, Groznyj 2008, S. 15, 26 – 27, 38. 102 Dies geht aus einer Zusammenstellung hervor, ­welche die Behörden des Kauka­sischen Militär­ bezirks am 6. Dezember 1911 im Vorfeld der Exilierung verschiedener Scheiche aus dem Terek-­ Gebiet nach Kaluga anfertigen ließen. Der Bericht datiert vom 10. Februar 1912 und findet sich in: GARF, F. 102, Op. 146, D. 635 – 2, Ll. 91 – 93. 103 Obwohl Nachforschungen ergaben, dass sich Ali nicht am Überfall auf Kizljar beteiligte, hielt sich ­dieses Gerücht auch später weiterhin hartnäckig. So erwähnt etwa ein Bericht aus der Feder des Militär­gouverneurs des dagestanischen Gebiets vom 17. März 1912 eine Beteiligung Alis am Überfall auf Kizljar: Doklad voennogo gubernatora, in: Gatuev, Abrek Zelimchan, S. 420 – 422, hier S. 420. 104 Russkoe Slovo, 25. Juni 1910. Auch Ali Mitaev selbst berichtet in seinen Aufzeichnungen, die er während seiner Gefangenschaft 1924 – 1925 verfasst hat, von der Verhaftung durch die Behörden: Archiv KGB Čečenskoj Respubliki, Sledstvennyj Fond Nr. 4971, Tom 2, S. 268, zitiert bei: Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 50 – 51.

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Der Abrek verurteilt darin ausdrück­lich die Amtsführung des Atamans und wirft ihm vor, mit seinem prahlerischen und über Zeitungsartikel verbreiteten Getue, dass er ­Zelimchan bald fangen werde, den Zaren selbst in die Irre geführt zu haben. Weil er den Ataman in Kizljar nicht antraf, verspricht Zelimchan in seinem Schreiben, dass er diesen später aufspüren würde.105 Dass es sich aber um einen Racheakt für den Vorfall von Gudermes handelte und dies sogar mit dem Segen eines Scheichs durchgeführt worden sei, glaubte offenbar auch Oberst I. I. Pastrjulin, der Vorsteher der Gendarmerie des Tifliser Gouvernements, nicht, der von Voroncov-Daškov mit der Leitung der Untersuchung des Überfalls auf Kizljar beauftragt worden war und im Dezember 1910 einen ausführ­lichen Bericht zu den Hintergründen des Überfalls auf das Schatzamt von Kizljar erstellt hatte.106 Obwohl die vielen Toten, die der Überfall forderte, auf den ersten Blick zwar auf einen groß angelegten Racheakt schließen lassen, erschien es Pastrjulin, der sich in seinem Bericht auf die Be­­fragung von Augenzeugen stützte, unwahrschein­lich, dass ­Zelimchan die Ermordung so vieler Menschen von vornherein geplant hatte. Vielmehr sei das Blutbad aus dem un­­erwarteten Widerstand resultiert, der Zelimchan und seinen ­Komplizen vonseiten der Beamten und Wachen im und vor dem Gebäude erwachsen sei und den jene erwidert hätten. Dafür spreche auch die Tatsache, dass der Abrek im Schreiben, das er im Schatzamt hinterlassen habe, nur seinen persön­lichen Argwohn gegen ­Verbickij zum Ausdruck gebracht habe und von anderen Motiven oder einer Verbindung zu Bamat Girej Chadži nicht die Rede sei.107 Dass sich Zelimchan und Bamat Girej Chadži kannten, darf aber als gesichert gelten und ist auch mit einem Foto aus dem Jahr 1904 belegt, das den Abreken zusammen mit Bamat Girej Chadži und dessen Sohn Ali in deren Heimatdorf Avtury zeigt.108 Dies kann jedoch kaum überraschen, denn schließ­lich stammten Bamat Girej und Zelimchan aus demselben Bezirk Vedeno und gab es in ­diesem Bezirk kaum eine Persön­lichkeit, die der Scheich nicht kannte, und kaum ein Ereignis, von dem der Scheich nicht Kenntnis gehabt hätte. Dass jedoch Bamat Girej Chadži zu einem Rachefeldzug aufgerufen oder gar einer gemeinsamen Aktion seiner Mjuriden mit dem Abreken Zelimchan zugestimmt hatte, entsprach weder dem Selbstverständnis des Scheichs noch des Mjuridenwesens. 105 Graf Voroncov-Daškov schreibt in seinem Rapport an den Zaren vom 29. April 1910, dass nach dem Überfall auf einem der Tische im Schatzamt ein Schreiben im Namen des Abreken Zelimchan Gušmazukaev mit dreien seiner Siegel gefunden worden sei, und fasst den Inhalt des Schreibens zusammen: GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 5. 106 GARF, F. 543, Op. 1, D. 462, L. 1ob; Bericht Pastrjulins, 18. Dezember 1910, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 236 – 246 (siehe dazu die Angaben in Anmerkung 23 in ­diesem Kapitel). 107 Ebd., S. 244. 108 Das Foto ist abgebildet in: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 495.

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Banditen und Heilige: Abrek Zelimchan

Heilige wie Bamat Girej Chadži waren bei der Bevölkerung hochangesehene Persön­ lichkeiten, die gerade bei Streitigkeiten oder Verbrechen als Richter und ­Sch­lichter herangezogen wurden. In der sufistischen Vorstellung galt jemand als heilig, der ­Wunder vollbringen und Prophezeiungen machen konnte. Die Menschen suchten ­solche Geist­liche auf, um Rat und Trost zu holen.109 Daneben hatten Scheiche aber nicht zuletzt wegen ihrer Anhängerschaft, die ihnen vollständig ergeben und zudem bewaffnet war, immer auch eine machtpolitische Funktion. So soll es gemäß Pastrjulin in Tsche­tschenien damals Dutzende von Scheichen gegeben haben, die um Macht und Einfluss rangen. Je mehr Mjuriden ein Scheich um sich scharen könne, desto mäch­ tiger und reicher werde dieser. Ob es unter den Scheichen tatsäch­lich auch s­ olche gab, die Raubzüge durchführen ließen, um an Ein­nahmen zu kommen, wie sich im Bericht Pastrjulins liest, muss dahingestellt bleiben. Pastrjulin sah im Status des „Heiligen“ eine Funktion, die im Wesent­lichen die Machtstellung gegenüber anderen Konkurrenten erhöhen und zudem relativ leicht erlangt werden konnte. Abschätzig schreibt er dazu: „Es reicht aus, in Mekka zu sein, zu Gott zu beten und zwei oder drei erfolgreiche Vorhersagen zu machen.“ 110 In ­diesem Kontext liest sich im Bericht Pastrjulins von verschiedenen Konflikten, die es in erster Linie zwischen alteingesessenen Scheichen und Emporkömmlingen gegeben haben soll.111 In seiner Funktion als Friedensstifter war Bamat Girej Chadži an einem Ausgleich mit der rus­sischen Macht, aber sicher nicht an einem Konflikt interessiert. Dies zeigte sich auch darin, dass er im Unterschied zu manch einem anderen Scheich mit dem rus­sischen Gesetz nie in Konflikt geriet, mindestens nicht bis zu seiner Deportation im April 1912.112 Als ihn die rus­sische Staatsmacht zusammen mit sechs weiteren Scheichen nach Kaluga aussiedeln ließ, erfolgte dies unter dem Vorwurf, er habe Zelimchan geschützt beziehungsweise nichts dafür getan, die Behörden bei dessen Ergreifung zu unterstützen.113 Dass Bamat Girej Chadži Zelimchan bei dessen Unternehmungen aktiv unterstützt hätte, ist wohl nicht richtig. Im Gegenteil suchte er gegenüber der rus­sischen Administration seinen guten Willen und seine Kooperationsbereitschaft zu zeigen, so etwa, als er seinen zweitältesten Sohn, Omar, Ende 1911 damit beauftragte, im Bezirk Vedeno eine Mjuridenabteilungen zur Ergreifung Zelimchans zu bilden. Gemäß einer Zeitungsnotiz sollen es bis zu 1000 Mjuriden gewesen sein, die zu ­diesem Zweck zusammengezogen wurden.114

109 Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 36. 110 Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 243. 111 Ebd. 112 GARF, F. 102, Op. 146, D. 635 – 2, L. 92ob. 113 Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 26. 114 Im Zeitungsartikel wird er „Umar“ genannt. Presledovanie Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 22. Dezember 1911.

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Tatsäch­lich war aber der Vorwurf, dass Bamat Girej Chadži kaum etwas zur Ergreifung Zelimchans getan habe, nicht gänz­lich von der Hand zu weisen. So beklagte die rus­sische Presse, dass es sich bei der Bildung der Mjuridenabteilungen zur Verfolgung Zelimchans ledig­lich um eine Alibiübung gehandelt habe, die dazu gedacht gewesen sei, die rus­sischen Behörden davon abzubringen, den Scheich zu deportieren.115 Dass sich Zelimchan mit seinen Anhängern nach dem Überfall auf das Schatzamt von Kizljar ungehindert Richtung Vedeno zurückziehen konnte, war wohl nicht nur dank der Rückendeckung durch tsche­tschenische Älteste und Einwohner mög­lich, sondern auch deshalb, weil Bamat Girej Chadži, der gerade im Bezirk Vedeno den größten Einfluss ausübte, dies zuließ. Während sich einzelne tsche­tschenische Geist­liche wohl auf direkten Druck der rus­sischen Administration Anfang 1912 in einem Appell an die Bevölkerung wandten, in dem sie Zelimchans Taten für schänd­lich und im Widerspruch zur Scharia erklärten und damit auch die Erlaubnis für seine Tötung erteilten, ließen sich Bamat Girej Chadži und andere einflussreiche Scheiche Tsche­tscheniens nie für eine öffent­liche Verschmähung des Abreken vereinnahmen.116 Eine s­ olche wäre wohl aber eine Voraussetzung dafür gewesen, die Bevölkerung überhaupt dazu zu bringen, dem Abreken den Schutz zu verweigern. Wenn Zelimchan und andere Abreken ungehindert durch tsche­tschenische Dörfer ziehen konnten, dann hatte dies nicht unbedingt mit Sympathie für den Abreken zu tun. Vielmehr ließ es sich als eine typisch tsche­tschenische Form des passiven Widerstands gegen einen Staat begreifen, dessen Autorität nicht anerkannt wurde. Es hatte aber auch damit zu tun, dass die Kultur vieler Kaukasusvölker die Denunziation von Schutzsuchenden grundsätz­lich verbot. Und schließ­lich war im Schutz von Banditen auch ein Ausdruck konkreter Furcht vor Blutrache zu sehen, musste doch bei Verrat eines Schutzsuchenden damit gerechnet werden, dass dessen Angehörige Rache nahmen. So schreibt etwa ein tsche­tschenischer Autor in der Zeitung Terskie vedomosti 1911, dass es ohne diese „veraltete Vorstellung“ hinsicht­lich der Denunziation nie mög­lich gewesen wäre, dass sich „Zelimchan, Ajub [Tamaev] und andere Abreken unter [ihnen] versteckt halten [würden]“. Und weiter: „Ich bin überzeugt, dass, wenn Zelimchan oder Ajub zu irgendeinem Dorf kommen, über die Hälfte der Einwohner davon weiß; aber alle schweigen und keiner liefert sie aus.“ 117 Verdeckte Hilfe hat

115 Ebd. 116 Der Appell der Scheiche ist enthalten in: Neulovimyj Zelim-chan, in: Moskovskaja gazeta kopejka, 1. Februar 1912. Weil der Artikel keine Namen nennt, bleibt unklar, ­welche Scheiche konkret zur Tötung Zelimchans aufgerufen haben sollen. Somit lässt sich auch nicht nachprüfen, ob Scheiche aus Tsche­tschenien tatsäch­lich jemals einen solchen Appell erlassen hatten. 117 Mnenie čečenca o kražach i grabežach (iz gazety Tersk. Ved.) [Nr. 15, 1911], in: Tkačev, Inguši i čečency, S. 144 – 148, hier S. 147.

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Banditen und Heilige: Abrek Zelimchan

es aber dennoch gegeben. Und diese sollte entscheidend dafür sein, dass Zelimchan schließ­lich im September 1913 aufgespürt und getötet wurde.

5. 5   To d Z el i m ch a n s Nicht alle Tsche­tschenen sahen in Zelimchan einen Helden und Befreier. Für viele war er ein Ärgernis. Denn viel zu oft wurden im Zuge der rus­sischen Repressionspolitik, die Zelimchans Aktionen hervorriefen, auch Unbeteiligte in Mitleidenschaft gezogen. So willigten Delegierte aus verschiedenen tsche­tschenischen Ortschaften im Bezirk Vedeno bereits im Jahr 1908, nach der Ermordung des Bezirksvorstehers Galaev, darauf ein, den Behörden bei der Festnahme des Abreken zu helfen. Nicht nur hatten die verschiedenen Dörfer des Bezirks Vedeno zu ­diesem Zweck eigene Reiterabteilungen zu stellen. Auch musste jedes Dorf eine Steuer entrichten, um eine angemessene Prämie auf die Köpfe Zelimchans und dessen Abreken für jene Personen aussetzen zu können, die den Behörden Hinweise zum Aufenthaltsort der Banditen lieferten oder diese selbst töteten. Für den Fall, dass die zuständige Person bei der Aktion zu Tode kam, ging das Geld auf ihre Familie über. Ins­gesamt sollen so 16.426 Rubel bereitgestellt worden sein, wovon allein 8000 Rubel auf den Kopf Zelimchans ausgesetzt waren. Angesichts der Angst vor Blutrache erging aber die Bitte an die Behörden, die Anonymität der Beteiligten zu wahren.118 Dass die rus­sische Administration die Dorfältesten etwa durch Androhung von Geldstrafen unter Druck setzte, um solchen Begehren nachzukommen, lässt sich kaum bezweifeln. Doch viel Widerstand schien sich dagegen nicht geregt zu haben. Im Gegenteil ließ sich das Geld offenbar ohne große Probleme eintreiben und auch die Formierung von entsprechenden Partisaneneinheiten kam jeweils schnell zustande und zeigte im Fall der Einheit, die im Juli 1908 zur Liquidierung der Bande Zelimchans formiert wurde, auch Wirkung. So war es schließ­lich eine aus Tsche­tschenen der Ortschaft Benoj formierte Truppe, die im September 1908 bei Kämpfen mit der Bande Zelimchans dessen Vater Gušmazuko, dessen Bruder Soltamurad und weitere Banditen tötete. Dass dabei auch Zelimchan selbst zu Tode kam, wie Russkoe slovo in ihrer Ausgabe vom 11. September 1908 verkündete, sollte sich als eine der vielen Falschmeldungen erweisen, w ­ elche die Presse 119 über Zelimchan verbreitete.

118 Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 247. 119 Ubijstvo razbojnika, in: Russkoe slovo, 11. September 1908. Zelimchan selbst wurde nur verletzt. Siehe dazu auch die Aufzeichnungen von S. Berdjaevʼ, der angibt, an dieser Aktion beteiligt ge­­ wesen zu sein: Berdjaevʼ, Razbojnikʼ Zelimchanʼ, S. 50.

Tod Zelimchans

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Abb. 4: Titelblatt der Wochenzeitung „Iskry“ vom 13. Oktober 1913 mit dem Leichnam Zelimchans und ausführ­lichen Berichten zu dessen Liquidierung. Links im Bild die Familie Zelimchans.

Dass Zelimchan nicht die uneingeschränkte Unterstützung der einheimischen Bevölkerung genoss, lässt sich auch darin erkennen, dass die Spezial­einheit, die nach dem Überfall auf das Schatzamt von Kizljar formiert wurde, um Z ­ elimchan zu ergreifen, sich aus Dagestanern zusammensetzte. Zu ­Zelimchans Habhaftwerdung wurde zudem wiederholt auf die Hilfe tsche­tschenischer Spitzel gesetzt.120 Dass den Dagestanern bei der Ergreifung Zelimchans 1913 sogar eine entscheidende Rolle zukommen sollte, war kein Zufall, denn auch sie hatten, genauso wie die Tsche­tschenen aus dem Heimatdorf Zelimchans, Charačoj, oder ­diejenigen aus dem Dorf Benoj, Blutfehden offen mit Zelimchan. Die Da­­gestaner hatten nicht nur beim Zusammenstoß im September 1910 bei der Schlucht Assa Verluste zu beklagen. Ein Jahr später wurde bei einem Anschlag Zelimchans auf eine Ingenieurskommission die gesamte diese Kommission begleitende Reiterabteilung ausgelöscht, die sich aus über einem Dutzend Dagestanern unter dem Kammando von Rittermeister 120 Die Hilfe seitens „loyaler Tsche­tschenen“ streicht auch der Vorsteher des Vedeno-Bezirks, K. N. Karalov, in seinem am 30. September 1913 erstellten Bericht zum Tod von Zelimchan heraus: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 424 – 425.

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Dolidze zusammensetzte. Auch zwei Ingenieure wurden getötet, ein dritter als Geisel genommen.121 Nach dem brutalen Überfall sprach die rus­sische Führung eine Strafe im Umfang von 100.000 Rubel aus, die von allen Bergaulen Tsche­tscheniens, mit Ausnahme der Zelimchan feind­lich eingestellten Ortschaft Benoj, innerhalb eines Monats zu entrichten war.122 Nebst dem Motiv der Blutrache war es auch die konkrete Aussicht auf eine Be­­lohnung, ­welche die Ergreifung Zelimchans ermög­lichte. Als der Polizei­ direktor der Vladikavkazer Abteilung der Gendarmarie des Terek-Gebiets am 30. ­September 1913 das Telegramm über die Tötung Zelimchans erhielt, stand darin die Bitte, den Tsche­tschenen für ihre Dienste 7000 Rubel auszuzahlen. Eine entsprechende Ab­­machung hätte die Gruppe der Tsche­tschenen, deren ­Anonymität im Schreiben gewahrt bleibt, bereits im April unterzeichnet.123 Bezeichnend war, dass die Tsche­tschenen, wohl um sich vor späteren Racheakten zu ­schützen, Zelimchan nicht selbst töteten, sondern nur Hinweise zu dessen Aufenthaltsort lieferten. Vollstreckt worden war die Aktion ein paar Tage zuvor von Truppen des dagestanischen Reiterregiments, die unter der Leitung von Leutnant Georgij Alekseevič Kibirov standen, einem gebürtigen Kosaken aus dem Terek-Gebiet.124 Obwohl der Angriff, der am 25. September 1913 um 10 Uhr abends in der Nähe der Ortschaft Šali erfolgte, Zelimchan überrascht haben muss, gelang es ­diesem noch, Kibirov und drei Dagestaner zu verwunden, bevor er am nächsten Morgen seinen schweren Verletzungen erlag. Kibirov will sich erinnert haben, dass die Leiche des Abreken 32 Schussverletzungen aufgewiesen habe.125

121 Novoe krovavoe delo Zelim-chana, in: Russkoe Slovo, 17. September 1911. 122 100-tysjačnyj štraf, in: Russkoe slovo, 10. November 1911; Krovniki Zelim-chana, in: Russkoe slovo, 8. November 1911. 123 Dieser Hinweis findet sich im Telegramm vom 30. September 1913, das der Vorsteher der ­Gendar­merie des Gebiets Vladikavkaz an den Direktor des Polizeidepartements schickte, in dem von der Liquidierung Zelimchans berichtet wird. Das Telegramm ist enthalten in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 254. Siehe ebenfalls den Bericht über die Liquidierung Zelimchans aus der Feder des Vorstehers des Terek-Gebiets, 10.–18. Oktober 1913, in: Gudaev, Abrek ­Zelimchan, S. 426 – 433, hier S. 433. 124 Bagrationʼ, Podvigʼ, S. 3 – 4. In anderen Quellen wird Kibirov als Ossete bezeichnet: Gudaev, Abrek Zelimchan, S. 427. 125 Bagrationʼ, Podvigʼ, S. 42. Um den Tod des Abreken ranken sich in der tsche­tschenischen Literatur zahlreiche Legenden. Stellvertretend für eine verbreitete Version schreibt etwa Avtorchanov in seinen Memoiren, dass Zelimchan bereits 1911 erkrankt sei und deshalb bewusst einen ­heroischen Tod im Kampf mit seinen Widersachern gesucht habe. Er wollte im „Gazawat“, im heiligen Krieg, mit seinen Feinden sterben und sei, dabei das Sterbegebet der Muslime singend, in den Tod gegangen. Die vielen Schussverletzungen sollen daher gerührt haben, dass die Soldaten nach seinem Tod noch „lange, lange“ in den Leichnam des Abreken gefeuert hätten: Avtorchanov, Memuary, S. 68 – 69.

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Abb. 5: Postkarte mit dem verwundeten Leutnant Kibirov (sitzend in der Mitte) und seinen dagesta­nischen Reitertruppen vor dem Leichnam Zelimchans. Aufnahme undatiert, ca. September 1913.

Zelimchans Tod löste unter der Bevölkerung keine Trauer aus. Glaubt man der Erzählung Kibirovs, wie sie Graf Bagrationʼ in seiner 1914 erschienenen Pub­li­kation wiedergibt, so soll unter den Tsche­tschenen der Ortschaft Šali, wohin der Leichnam Zelimchans gebracht wurde, eine feier­liche Stimmung geherrscht haben. Auch die Menschen aus Charačoj, dem Heimatort Zelimchans, die zusammen mit dem Vorsteher des Bezirks Vedeno, K. N. Karalov, angereist kamen, um den Leichnam zu identifizieren, sollen sich gefreut haben, dass der Abrek ge­­tötet worden war. Einer der Anwesenden wollte ihm gar den Kopf abschneiden, um sich am Tod seines Vaters zu rächen, für den er Zelimchan verantwort­lich machte. Leutnant Kibirov soll dabei vom versammelten Volk wie ein Held gefeiert worden sein. Als Zeichen ­­ des Danks für seine Verdienste soll Karalov im Namen der Tsche­tschenen Kibirov das Schwert übergeben haben, das einst Šamil gehört und das einer seiner ehemaligen Naibe, der Tsche­tschene Talchikov, aufbewahrt habe.126 Als ihm das Schwert später ins Spital von Vladikavkaz nachgeliefert wurde, wo sich Kibirov zur Behandlung und Erholung befand, soll ­dieses zusammen mit einer Dankes­urkunde geliefert worden sein, die mit 612 Unterschriften von gewählten Vertretern verschiedener tsche­tschenischer Aule versehen war.127

126 Bagrationʼ, Podvigʼ, S. 47. 127 Ebd., S. 48.

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Sicher waren viele Menschen erleichtert, dass Zelimchan liquidiert worden war. Die Freude darüber und der Dank an Kibirov, den Bagrationʼ beschreibt, erscheinen aufrichtig und waren kaum nur Propaganda vonseiten der ­Russen. Dass der rus­sische Staat mit dieser Tat aber seine Autorität, die durch den nicht fassbaren Zelimchan so lange Zeit „praktisch paralysiert“ war, nun erheb­lich ­steigern konnte, wie Bagrationʼ feststellen will, mutet dagegen übertrieben an.128 Die rus­sische Staatsmacht hatte sich unfähig gezeigt, dem Abrekenwesen Einhalt zu gebieten, und hatte sich durch ihre groben Aktionen gegen die Bevölkerung derart diskreditiert, dass auch der späte Erfolg gegen Zelimchan diese Tatsache nicht beschönigen konnte. Klar ist aber, dass Zelimchan und seine Bandenmitglieder keine „edelmütigen Banditen“ waren. Das Phänomen Zelimchan darf weder als ein Ausdruck eines sozialen Protests noch als die Fortsetzung eines „antikolonialen Befreiungskampfes“ gegen Russland verstanden werden. Das Abrekenwesen war vielmehr Teil einer traditionellen nordkauka­sischen Widerstands- und Gewaltkultur, in der Blutrache und Vergeltung als Motive eine wichtige Rolle spielten. Daneben töteten Zelimchan und andere Abreken aber auch willkür­lich und waren angetrieben von der Aussicht auf Beute, wie aus dem detaillierten Bericht zum Überfall aus Kizljar hervorgeht. Dabei war es nicht immer klar, ob Zelimchan selbst hinter solchen Aktionen stand oder es sich einfach um die Taten junger M ­ änner handelte, die sich aus Opportunitätsgründen zu Banden zusammenschlossen, um auf Raubzüge zu gehen, aber vielleicht auch, um Tapferkeit und Männ­lichkeit unter Beweis zu stellen, was ebenfalls nordkauka­ sischen Traditionen entsprach. Auch war Zelimchan kein Vertreter des „Volks“, der einem feind­lich gesinnten „Staat“ gegenüberstand. Darauf deuten bereits die Umstände hin, die dazu führten, dass Zelimchan zum Abreken wurde. Der Staat erscheint in ­diesem Beispiel nicht so sehr als eine abseits stehende Fremdmacht. Über die Verbindungen, die die staat­lichen lokalen Vertreter, in ­diesem Fall nament­lich die Kosakenoffiziere des Terek-Gebiets, mit den jeweiligen Konfliktparteien eingingen, war der Staat vielmehr Teil einer innergesellschaft­lichen Auseinandersetzung.129 Zelimchans Aktionen richteten sich gegen Angehörige der verfeindeten tsche­tschenischen Familie, dann aber auch gezielt gegen diejenigen Vertreter des lokalen Staatsapparats, die in diese gesellschaft­liche Auseinandersetzung involviert waren. Erst mit der Ausweitung des Konflikts wuchs sich dieser innergesellschaft­liche Konflikt schließ­lich zu größeren militärischen Konfrontationen aus, die breitere Bevölkerungsteile in Mitleidenschaft zog.

128 Ebd. 129 Dass Banditen oft mit dem Staat und seinen ört­lichen Vertretern verflochten waren, scheint ein typisches Merkmal des Banditenwesens, wie historische Untersuchungen auch in anderen Welt­ gegenden feststellen konnten, so etwa im Fall Indiens: Kim A. Wagner, Thugee and Social B ­ anditry Reconsidered, in: The Historical Journal 50 (2007), S. 353 – 376, hier S. 372.

Tod Zelimchans

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Tsche­tschenen und andere Völker waren in ­diesem Konflikt zwar Opfer der ­rus­sischen Politik, gleichzeitig standen sie sich bei der Bewältigung innerer P ­ robleme aber auch selbst im Weg. Konflikte um Land und Ehre, die oft in vertrackte Blutfehden ausarteten, zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die an ihren eigenen Traditionen litt. Es kommt darin zudem eine in hohem Maße zerrissene Gesellschaft zum Vorschein, die nach den Kriegen und Aufständen des 19. Jahrhunderts noch immer Orientierung suchte. Einem kleinen Teil dieser Gesellschaft sollte es um die Jahrhundertwende gelingen, diese Orientierung in der rus­sisch geprägten Welt der Städte wie Vladikavkaz oder Groznyj zu finden. Der größte Teil jedoch verharrte in der Welt der Aule und lebte nach den herkömm­lichen Sitten und Gebräuchen. Die Identität dieser Menschen bezog sich auf das Dorf und die Dorfgemeinschaft oder einzelne Persön­lichkeiten wie die erwähnten Scheiche. Für diese Menschen waren der Zar und St. Petersburg sehr weit weg. In der Sehnsucht breiter Bevölkerungsteile nach einem neuen Imam, wie sie sich im Zusammenhang mit dem abrečestvo eines Zelimchan manifestierte, kam somit nicht notwendigerweise eine Sympathie für die konkrete Person Zelimchan oder der Wunsch nach Loslösung von Russland zum Ausdruck. Vielmehr verband eine ­solche Emotion wohl eher die Ängste und Sorgen einer Bevölkerung, die sich nach einem besseren Leben und der Wiederherstellung von Recht und Ordnung sehnte – ein Zustand, der in der Vorstellung der Bevölkerung in der Vergangenheit einmal existiert hatte. Entsprechend erstaunt es auch nicht, dass die Revolution von 1917 im Nordkaukasus nicht in erster Linie von Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit getrieben war, sondern von den Partikularinteressen der einzelnen Völker und sozialen Gruppen, die politisch gesehen zu keinem Zeitpunkt eine Einheit darstellten.

6.   R E VO L U T I O N U N D B Ü RG E R K R I E G Nach dem Sturz der rus­sischen Monarchie im Februar 1917 waren die Entwicklungen im Nordkaukasus zunächst von jenen säkular orientierten Kräften einer ­nordkau­­­­­­ka­sischen Elite dominiert, die in der allgemeinen Aufbruchstimmung danach strebten, die Völker der Region in einem gemeinsamen Bund zu vereinigen und diesen auf föderaler Grundlage in ein neues, demokratisches Russland zu i­ ntegrieren. Im Mai riefen Delegierte aus allen Teilen der Region einen autonomen Bund aller Völker des Nordkaukasus und Dagestans aus. Bereits früh trat innerhalb dieser Vereinigung auch eine machtpolitisch bedeutsame, von Tsche­tschenien und Dagestan ausgehende Bewegung in Erscheinung, die islamisch orientiert war und für einen Nordkaukasus-Staat auf Basis der Scharia eintrat. Der Zusammenbruch zentralstaat­licher Strukturen nach der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober 1917 wirkte sich für den Nordkaukasus verheerend aus. Die fragilen Gleichgewichte, die sich im Rahmen des Bergbundes unter den verschiedenen Völkern und Gemeinschaften eingestellt hatten, gerieten mit dem Auftreten der neuen Macht in Gestalt der Bolschewiki schnell aus der Balance. In dieser Phase größter Unsicherheit drangen nun all jene Spannungen an die Oberfläche, die in der späten Zarenzeit nur mit großer Mühe hatten unterdrückt werden können. Zu Gewaltausbrüchen kam es insbesondere zwischen der landarmen tsche­tschenischen beziehungsweise inguschischen Bevölkerung und den Kosakengemeinschaften des Terek-Gebiets. Aber auch die Beziehungen unter den einzelnen Völkern und Gemeinschaften selbst waren oft spannungsgeladen. So erlebten die Stadt Vladikavkaz und die angrenzenden Gebiete wiederholt blutige Zusammenstöße zwischen Osseten und Inguschen. Verschärft wurde die Situation in der gesamten Region durch die Rückkehr vieler Soldaten von der Front des Ersten Weltkriegs, die sich zum Teil zu Banden zusammenschlossen und plündernd und marodierend durchs Land zogen. Wiederholt waren auch die Ölfelder bei Groznyj Ziel von Anschlägen. So soll sich Ende 1917, als nach einem entsprechenden Angriff von Tsche­tschenen Ölfelder in Flammen aufgingen, eine „gigantische Mauer schwarzen Rauchs“ über die Stadt und ihre Umgebung gelegt haben, wie ein Zeitzeuge berichtet.1 Den Bolschewiki und ihrer Anfang 1918 gegründeten Roten Armee fiel es angesichts der Zerstrittenheit der Völker zunächst leicht, die Regierung des Berg­bundes,



1 May, Hard Oiler!, S. 162.

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die kaum über eigene militärische Mittel verfügte, bei ihrem Vormarsch Richtung Süden bis zum Frühjahr 1918 aus dem Nordkaukasus zu vertreiben. Bei der verzweifelten Suche nach Verbündeten strebte die Regierung des Bundes eine enge Allianz mit den Südkaukasusländern an, die sich nach der Februarrevolution ebenfalls in Form einer Föderation neu organisiert hatten, und setzte ihre H ­ offnungen zudem auf das Osmanische Reich, das in seinem Streben nach Sicherheit vor einem wiedererstarkenden Russland an einer Pufferzone in Form unabhängiger Kaukasusstaaten interessiert war. Den Bolschewiki sollte es in der kurzen Phase ihrer Vorherrschaft im Nordkaukasus allerdings nicht gelingen, ihre Herrschaft zu sichern. Ihre Versuche, die einzelnen Völker im Rahmen neuer Staatsbildungsprojekte für die sowje­ tische Sache zu gewinnen, gestalteten sich als schwierig. Die im März 1918 ins Leben gerufene sowjetische Terek-Republik wurde außerhalb der mehrheit­lich rus­sisch besiedelten Städte kaum zur Kenntnis genommen. Darüber hinaus sahen sich die Bolschewiki mit dem Problem konfrontiert, dass die einzelnen Völker die Allianz mit ihnen vor allem dazu zu n­ utzen suchten, ihre Landforderungen durchzusetzen. Wollten die kosakischen Delegierten die Bolschewiki bei der Eröffnung des Tereker Volkskongresses im Frühjahr 1918 für einen Krieg gegen die Tsche­tschenen und Inguschen gewinnen, so strebten die Abgeordneten der nordkauka­sischen Völker eine Allianz mit jenen an, um eine Vertreibung der Kosaken zu sanktionieren. Tatsäch­lich sollten die Bolschewiki bei Teilen der Inguschen und Tsche­tschenen gerade deshalb Sympathien gewinnen, weil sie sich in der Landfrage schließ­lich gegen die Terek-Kosaken stellten, die sich darauf gegen die Bolschewiki erhoben. Die Machtverhältnisse verschoben sich erneut, als die antibolschewistische Koalition unter der von General Denikin angeführten Freiwilligenarmee bis Anfang 1919 den gesamten Nordkaukasus eroberte. In dieser Situation erschienen nun die Bolschewiki, denen es bis zu ­diesem Zeitpunkt nicht gelungen war, die Bevölkerung außerhalb der größeren Städte für ihre Sache zu gewinnen, als einziger valabler Bündnispartner der Nordkaukasusvölker im Kampf gegen Denikins Freiwilligenarmee. Das Osmanische Reich dagegen entfiel als Alliierter, nachdem Istanbul im Ersten Weltkrieg kapituliert und seine Militärpräsenz im Kaukasus in der Folge drastisch reduziert hatte. Auch die Deutschen, die sich 1918 in Georgien fest­gesetzt hatten, zogen als Verlierer des Ersten Weltkriegs ihre Truppen aus dem Kaukasus ab. Die siegreichen Briten, die mit ihrer Flotte im Kaspischen Meer stationiert waren, waren dagegen nicht gewillt, die nordkauka­sischen Völker direkt zu unterstützen, sondern setzten auf General Denikin, in dem sie die einzige Kraft erkannten, die den Bolschewiki die Stirn bieten konnte. Denikin aber lehnte nicht nur eine Zusammenarbeit mit der Bergregierung ab, die damit endgültig zwischen die Fronten geriet, er machte sich auch große Teile der nicht­rus­sischen

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e­ inheimischen Bevölkerung zu Feinden, indem er unter der Losung des „einen und unteilbaren Russland“ jeg­liche Autonomieforderungen zurückwies und bei Widerstand ganze Siedlungen dem Erdboden gleichmachen ließ. Diese rücksichtslose Vorgehensweise war mit ein Grund, weshalb sich viele Gemeinschaften, darunter sogar Teile der islamischen Geist­lichkeit, im Sommer 1918 schließ­lich auf eine Allianz mit den Bolschewiki einließen, was entscheidend zur Niederlage Denikins Anfang 1920 beitragen sollte. Kein Abschnitt der nordkauka­sischen Geschichte stellt sich derart chaotisch dar wie die Zeitspanne der Revolution und des Bürgerkriegs. Mit Blick auf die Staatsbildungsanstrengungen waren es grundsätz­lich zwei Tendenzen, die in Widerspruch zueinander traten: Einerseits waren die nationalen Bewegungen unter den Nordkaukasiern von Anfang an vom Gedanken der Einheit geleitet. Die Vertreter der verschiedenen Gemeinschaften erkannten, dass sie die vertrackte Landfrage und die vielschichtigen Animositäten nur dann aus eigener Kraft lösen konnten, wenn dies im Rahmen eines Bundes aller Völker der Region geschah. Andererseits sollte es den Nordkaukasiern nie gelingen, ihren nach der Februarrevolution deklarierten Einheitswunsch effektiv umzusetzen. Der Bergbund und seine Vertreter genossen zwar in weiten Kreisen der Bevölkerung durchaus großes Ansehen. Doch der Bund blieb ein Staatsgebilde ohne reale Machtgrundlage. In einer Situation unsicherer Machtverhältnisse suchte jede Gemeinschaft zunächst ihre unmittelbaren Interessen zu verteidigen. Zudem traten auch die einzelnen Völker – allen voran die Tsche­tschenen – nie als geschlossene Größen in Erscheinung. Entsprechend ließen sich auch keine nationalen Ziele dieser Völker ausmachen. Während sich in der gesamten Bürgerkriegszeit das politische G ­ eschehen ohnehin nur in den wenigen Städten und größeren Ortschaften abspielte, konzentrierte sich auf dem Land und in den Bergregionen die Macht rund um geist­liche Führer und deren meist gut bewaffnete Anhängerschaften. Diese gesellschaft­lichen Kräfte nach Mög­lichkeit an sich zu binden, war im Bürgerkrieg wichtigstes Ziel der Bolschewiki. Dabei setzten sie, in Erkenntnis der Wichtigkeit des Einigungsgedankens, bei ihren Staatsbildungsprojekten, von der Tereker Sowjetrepublik im März 1918 bis zur Ausrufung der kurzlebigen sowjetischen Nordkaukasus­republik im Juli 1918, ebenfalls auf das Prinzip der Einheit der Völker. Dass ihnen ­Allianzen mit einzelnen Nordkaukasusvölkern schließ­lich teilweise gelingen sollten, war nicht notwendigerweise auf die pro-bolschewistische Orientierung der Bevöl­kerung zurückzuführen, sondern ergab sich aus dem Umstand, dass ihnen mit Denikin ein gemeinsamer äußerer Feind entgegentrat, den sie nur im Verbund erfolgreich bekämpfen konnten.

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Das folgende Kapitel arbeitet die wichtigsten Entwicklungslinien dieser in der west­lichen Geschichtsschreibung noch kaum bekannten Ereignisse heraus.2 Wenn in ­diesem Zusammenhang den verschiedenen Staatsbildungsanstrengungen und Ver­ einigungsbemühungen nachgegangen wird, so lässt sich dabei deut­lich erkennen, dass sich die Bestrebungen der einzelnen Völker nicht mit den einfachen Formeln eines Be­­ freiungskriegs beziehungsweise des Wunsches nach Loslösung von Russland begreifen lassen. Die Führer der verschiedenen Völker und Gemeinschaften, sowohl die säkular als auch die religiös orientierten, verbanden mit der Revolution im Februar 1917 zunächst vor allem die Hoffnung, dass sich die sozialen Probleme im Nordkaukasus im Verbund mit einem reformierten Russland lösen ließen. Erst die Ereignisse im rus­ sischen Zentrum im Herbst 1917, die Veränderungen der geopolitischen Konstellation im Zuge des Vorstoßes des Osmanischen Reichs und anderer Großmächte Richtung Kaukasus und die Eskalation der Gewalt im Inneren verliehen den Entwicklungen zum Teil unerwartete Wendungen, um schließ­lich in Unabhängigkeitsbestrebungen zu münden. Doch auch diese Bestrebungen spiegelten zu keinem Zeitpunkt ein kollek­ tives nationales Interesse wider. In der Situation des gewaltsam ausgetragenen Kriegs ging es den meisten Gemeinschaften in erster Linie darum, ihre Existenz zu sichern. Dabei wagten in der Endphase des Kriegs zwar viele tatsäch­lich die Allianz mit den Bolschewiki. Andere aber kämpften unter Führung lokaler Autoritäten oder S ­ cheiche nur für ihre eigene Sache – und wieder andere ließen sich sogar in die Verbände Denikins rekrutieren. Dies verunmög­lichte aber auch jeg­liche Anstrengungen, die in Richtung eines unabhängigen nordkauka­sischen Staatswesens hätten gehen können.

6.1   Fe b r u a r r evolut io n u nd Au f b r u ch d e r Völ ke r Die Februarrevolution von 1917 empfanden viele Völker des Russländischen I­ mperiums als Befreiung und Chance zugleich. Vornehm­lich an der nichtrus­sisch besiedelten Peripherie konstituierten sich innert kurzer Zeit rund 40 mehr oder weniger stabile nationalterritoriale Einheiten, die zunächst weitreichende Autonomie, aber nicht den Austritt aus Russland forderten.3 Im Nordkaukasus wurde 2 Eine gute Darstellung der Ereignisse im Nord- und Südkaukasus im Zeitraum 1917 – 1920 bietet: Marshall, Caucasus, S. 51 – 147. In der rus­sischsprachigen Literatur sind Revolution und Bürgerkrieg seit jeher zentrale Themen der Geschichtsschreibung. Für eine Übersicht (einschließ­lich einer kurzen Abhandlung der sowjetischen Geschichtsschreibung) siehe: P. M. Poljan, Vajnachi v ėpochu rossijskoj mežduvlastija. 1917 – 1922 gg., in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 261 – 282. 3 Boris Meissner, Sowjetföderalismus und staatsrecht­liche Stellung der Nationalitäten der RSFSR bis 1991, in: Andreas Kappeler (Hg.), Regionalismus und Nationalismus in Russland, Baden-Baden 1996, S. 41 – 55, hier S. 42 – 43.

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die m ­ ilitärisch-zivile Verwaltung in Form des namestničestvo abgeschafft und durch eine rein zivile Struktur ersetzt; im Gebiet Terek war dies das Tereker Zivile Gebietskomitee (Terskij oblastnij graždanskij ispolnitelʼnyj komitet).4 Diese Institution hatte aber zu keinem Zeitpunkt eine reale Machtbasis, da sie bereits früh durch zahlreiche andere Volksvertretungen konkurriert wurde. Praktisch jede Volksgruppe, die Kosaken eingeschlossen, schuf in ihrem Teilgebiet eigene autonome Volksvertretungen. Vor allem in den rus­sisch besiedelten Städten entstanden – wie im übrigen Land auch – Räte der Arbeiter, Bauern und Soldaten, über ­welche die Bolschewiki später ihre Macht zu konsolidieren suchten.5 Praktisch unberührt von gesamtnationalen Entwicklungen blieben zunächst die abgelegenen Bergaule in den nichtrus­sisch besiedelten Teilen des Nordkaukasus. Nationale Staatsbildungsprojekte gestalteten sich im Nordkaukasus nicht nur angesichts zerfallender Machtstrukturen und ethnischer Vielfalt schwierig. Auch hatte sich in der Region, die erst spät Teil Russlands geworden war, erst in Ansätzen eine nationale Intelligenzija herausgebildet, deren Vertreter zu gesellschaft­lichen Integrationsfiguren und Trägern eines künftigen Staatswesens hätten avancieren ­können. Trotzdem begann der erste Versuch der Errichtung eines souveränen Staates im Nordkaukasus zunächst verheißungsvoll: Nur wenige Wochen nach dem Sturz der Monarchie trafen sich im März 1917 Vertreter der politischen und kulturellen Führungsschicht des Nordkaukasus, um die Gründung eines Bundes der Völker des Nordkaukasus vorzubereiten. Im Mai 1917 versammelten sich in Vladikavkaz rund 300 Delegierte und Gäste aus allen Teilen der Region (Tsche­tschenen, Inguschen, Kabardiner, Adygen, Osseten, Balkaren, Karatschajer), einschließ­lich einer 60-­köpfigen Vertretung aus Dagestan sowie Abgeordnete der K ­ osakengemeinschaften, um den sogenannten Bund der vereinigten Bergvölker des Nordkaukasus und Dagestans ins Leben zu rufen.6 Zum Vorsitzenden des 17-köpfigen Zentralkomitees, des ausführenden Organs des Bundes, wählte die Versammlung den tsche­tschenischen Offizier Abdul-­Medžid (Tapa) Čermoev (1882 – 1936/37). Čermoev stammte aus einer wohlhabenden tsche­ tschenischen Familie aus dem Bezirk Groznyj. Sein Vater, Arcu Čermoev, hatte in der Zarenarmee gedient und sich auf rus­sischer Seite im Krimkrieg (1853 – 1856) und im rus­sisch-türkischen Krieg (1877 – 1878) ehrenvoll geschlagen. Den guten Beziehungen zur rus­sischen Generalität war es zu verdanken, dass sein Sohn Tapa

4 Dazu ausführ­lich: T. M. Muzaev, Sojuz gorcev. Russkaja revoljucija i narody Severnogo Kavkaza. 1917 – mart 1918 g., Moskva 2007, S. 6 – 44. 5 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 119 – 120. 6 G. I. Kakagasanov u. a. (Hg.), Sojuz obʼʼedinёnnych gorcev Severnogo Kavkaza i Dagestana (1917 – 1918 gg.). Gorskaja Respublika (1918 – 1920 gg.). Dokumenty i materialy, Machačkala 1994, S. 4. Siehe zum Territorium des Bergbundes Karte 4 in ­diesem Buch.

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Abb. 6: Mitglieder der Regierung des Bergbundes mit Präsident Tapa Čermoev (in der Mitte sitzend). Aufnahme undatiert, ca. 1917 – 1918.

an der prestigeträchtigen Nikolaj-Kavallerieschule in St. Petersburg ­aufgenommen wurde, was Ausgangspunkt einer glanzvollen militärischen Karriere war. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte es Tapa Čermoev im neu formierten tsche­ tscheno-inguschischen Regiment der Wilden Division bis zum Adjutanten. Neben dem Militär war Čermoev schon früh auch in der aufstrebenden Erdölindustrie bei Groznyj tätig, wo er zu großem Reichtum kam. Tapa Čermoev war somit nicht nur einer der Hauptinitianten des Bundes, sondern als schwerreicher Erdölindustrieller auch dessen wichtigster Geldgeber.7 So finanzierte Čermoev etwa auch die erste offizielle Zeitung des Bergbundes, die den Titel „Bergleben“ (Gorskaja žiznʼ) trug und die erstmals am 4. (17.) August 1917 in Vladikavkaz erschien.8 Bei der Zusammensetzung des Bergbund-Komitees wurde darauf geachtet, dass Vertreter aller größeren ethnischen Gruppen und Gebiete Einsitz hatten.9

7 Zu Čermoev: Timur Muzaev, Tapa Čermoev, in: Nachskij žurnal „Teptar“, 1. November 2007, http://archive.today/AXO4I [21.4.2015]; Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii 1917 – 1923. Ėnciklopedija v četyrëch tomach. Tom 4, Moskva 2008, S. 396. 8 Herausgeber der Zeitung war der Ossete Ėlʼbazduko Britaev, der gleichzeitig Mitglied des Zentral­ komitees des Bergbundes war: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 160. 9 Zur ethnischen und sozialen Zusammensetzung des Bundes: Ebd., S. 71 – 84.

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Unter den führenden Mitgliedern des Gremiums fanden sich neben Offizieren wie Čermoev vorwiegend Intellektuelle und Aristokraten, so etwa der kumykische Fürst Rašidchan Zabitovič Kaplanov (1883 – 1937), der aus einem kabardinischen Adelsgeschlecht stammende Jurist Pšemacho Tamaševič Kocev (1884 – 1965), der dagestanische Gelehrte Bašir Kerimovič Dalgat (1870 – 1934), der inguschische Intellektuelle Vassan-Girej Ižievič Džabagiev (1882 – 1961), der kumykische In­­ genieur Zubair Temirchanov (1868 – 1952) oder der aus Dagestan stammende Fürst und Offizier der imperialen Armee Nuch-Bek Šamchal Tarkovskij (1878 – 1951).10 Tarkovskij, der im späteren Verlauf des Bürgerkriegs eine wichtige Rolle spielen sollte, war ein ethnischer Kumyke, der im Ersten Weltkrieg das erste dagestanische Reiterregiment befehligt hatte und nun zum Kriegsminister des Bundes ernannt wurde.11 Erstmals erhielt der Nordkaukasus nun auch ein eigenes Muftiat. Zum Mufti, und damit zum höchsten islamischen Geist­lichen des Nordkaukasus, wählte die Versammlung Nažmuddin Gocinskij (1859 – 1925), einen islamischen Gelehrten aus dem awarischen Goco im gebirgigen Teil Zentraldagestans. Innerhalb des Bergbundes war Gocinskij gleichzeitig Vorsitzender des geist­lichen Flügels.12 Bemerkenswert an dieser ersten Sitzung war, dass auch Abgeordnete der Terek-Kosaken teilnahmen. So soll Michail Aleksandrovič Karaulov (1878 – 1917), der Ataman der Terek-­Kosaken, enthusiastischen Zuspruch von den Delegierten erhalten haben, als er von der Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den nichtrus­ sischen Nordkaukasusvölkern und den Kosaken sprach.13 Viele Redner, die an der Sitzung auftraten, betonten die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Nordkaukasusvölker über die religiösen und ethnischen Grenzen hinweg, und explizit wurden in diese Überlegungen nebst den Kosaken auch die mehrheit­lich christ­lichen ­Osseten eingeschlossen. Um die kulturellen Besonderheiten zu wahren und zu s­ chützen, war – wenig verwunder­lich – der Bildungsbereich eines der Haupt­anliegen des ­Kongresses. Die Kongressteilnehmer beschlossen die Schaffung eines Sonder­komitees für Bildung unter der Leitung des dagesta­ nischen ­Schriftstellers und ­Gelehrten Said ­Ibragimovič Gabiev (1882 – 1963).14 Um die Kultur der nichtrus­sischen Bewohner des Nordkaukasus zu fördern, empfahl 10 Eine Liste der Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees des Bergbundes in der Zusammensetzung vom 7. Mai 1917 findet sich in: Ebd., S. 384 – 385. 11 Kurzbiographien von Tarkovskij finden sich in: V. Ž. Cvetkov, … Dobrovolʼskaja armija idët na Ingušetiju ne s mirom, a s vojnoj, in: Voenno-istoričeskij žurnal (1999) H. 1, S. 31 – 40, hier S. 40; B. M. Kuznecov, 1918 god v Dagestane. Graždanskaja vojna, Nʼju-Iork 1959, S. 59; Muzaev, Sojuz gorcev, S. 453. 12 Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 39. 13 Kakagasanov u. a. (Hg.), Sojuz obʼʼedinёnnych gorcev, S. 32, 35. 14 Eine Kurzbiographie Gabievs findet sich in: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 434.

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Gabiev in seinem Bericht als eine der zentralen Maßnahmen die Einführung des Unterrichts der kauka­sischen Sprachen vom ersten Jahr der Grundschule an und die Unterweisung in rus­sischer, arabischer und türkischer Sprache in späteren Jahren. Dies bedeutete aber keineswegs eine Abkehr von Russland. Rus­sisch wurde zur Staatssprache innerhalb des Bundes erklärt. Viele Redner erklärten ihre Solidarität mit dem rus­sischen Volk, indem sie ausdrück­lich den Willen bekundeten, Seite an Seite mit Russland Demokratie und Freiheit, die durch die Revolution errungen worden waren, zu verteidigen. Das grundlegende politische Ziel des Bergbundes sollte darin bestehen, im Rahmen der konsti­tuierenden Versammlung Russlands am Aufbau einer neuen föderativen und demokratischen Ordnung mitzuwirken.15 Mit der Gründungssitzung vom Mai 1917 steuerte der Bund allerdings bereits seinem Zenit entgegen. Schon im Vorfeld der zweiten Versammlung, die am 20. August (2. September) 1917 im dagestanischen Bergort Andi eröffnet wurde, kam es unter den Mitgliedern des Bundes zu Meinungsverschiedenheiten. Die Vertreter der Geist­lichkeit Tsche­tscheniens und Dagestans drängten auf die Errichtung einer ­Theokratie, in der sie die einzige Basis für den Aufbau eines gemeinsamen Staates und eine Vereinigung der nordkauka­sischen Völker sahen. Dagegen opponierte der größere Teil der Mitglieder des Zentralkomitees. Sie traten für die Schaffung von Räten und den Zusammenschluss mit Russland auf einer säkularen Grundlage ein.16 Wenige Tage vor der Versammlung in Andi wurde Gocinskij im Beisein einer großen Menschen­menge im tsche­tschenischen Vedeno zum Imam des Nord­kaukasus, zum geist­lichen und politischen Oberhaupt eines zukünftigen Gottesstaates (­Imamat), ernannt.17 Dabei war es vermut­lich der angesehene und hochbetagte Scheich UsunChadži Saltinskij (ca. 1845 – 1920), ein ebenfalls awarisch-stämmiger Gelehrter aus Dagestan, der Gocinskij zu d­ iesem Schritt drängte.18 Angesichts dieser Entwicklung war zunächst unklar, ob die Versammlung in Andi überhaupt eröffnet werden konnte. Die säkular orientierten Delegierten des Bundes sprachen sich gegen den Imam-Titel aus und bestanden darauf, dass­­Gocinskij sich wie bisher nur Mufti nannte. Das Beharren auf dem Imam-Titel, so die Befürchtung, hätte nicht nur die säkularen Kräfte innerhalb des Bergbundes, sondern auch 15 Michael A. Reynolds, Native Sons. Post-Imperial Politics, Islam, and Identity in the North ­Caucasus, 1917 – 1918, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), S. 221 – 247, hier S. 227. 16 Kakagasanov u. a. (Hg.), Sojuz obʼʼedinёnnych gorcev, S. 5 – 6. 17 Gemäß Šalba Amiredžvili, der als Delegierter Georgiens an der Versammlung teilnahm und seine Eindrücke publizierte (in geor­gischer Sprache erschienen in der Zeitschrift Sakartvelo, Nr. 270, 12. Dezember 1917), waren es gegen 20.000 Personen, die sich in Vedeno einfanden: N.[G.] Džavachišvili, Maloizvestnye stranicy istorii gruzino-dagestanskich vzaimootnošenij (pervoe ­dvadcatiletie XX veka), in: Meždunarodnaja naučnaja konferencija „Archelogija, ėtnologija, ­folʼkloristika Kavkaza“. Sbornik kratkich soderžanij dokladov, Tbilisi 2011, S. 377 – 385, hier S. 378. 18 Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 40.

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die ­slawisch-stämmigen und orthodoxen Bevölkerungsteile von den Muslimen entfremden können. Gocinskij willigte schließ­lich ein, auf den Imam-Titel zu verzichten und sich nur Mufti zu nennen.19 Das bedeutete aber keinesfalls, dass er von den Prinzipien der Scharia abgerückt wäre, die er für die Muslime unter der Bevölkerung als Pfeiler der neuen staat­lichen Rechtsordnung propagierte. Auch sahen viele Menschen und eine Mehrheit der Geist­lichkeit, darunter nament­lich Usun-Chadži, in Gocinskij nach wie vor den rechtmäßigen Imam, weshalb sie ihn weiterhin so nannten.20 Angesichts des riesigen Bevölkerungsauflaufs und der Anwesenheit vieler geist­ licher Würdenträger ließ sich die Sitzung in Andi nicht wie geplant durchführen, zumal et­liche Mitglieder des Bergbundes die Versammlung aus Protest gegen die Ernennung Gocinskijs zum Imam bereits frühzeitig verlassen hatten. Trotzdem muss die Versammlung ein eindrück­liches und feier­liches Ereignis gewesen sein, wie Pšemacho Kocev in einem Augenzeugenbericht schreibt. Kocev war seinerzeit nicht nur Mitglied des Präsidiums des Bergbundes, sondern auch ­Vorsitzender der im Mai 1917 formierten Regierung des Terek-Gebiets und nach Čermoev die wichtigste Figur im Zentralkomitee des Bundes – im Januar 1919 sollte er den Tsche­tschenen als Vorsitzenden des Zentralkomitees gar ablösen.21 Sein Bericht gibt eine Vorstellung davon, wie die Versammlung angesichts des bunten Völker- und Sprachgemischs konkret abgelaufen sein könnte:22 Gegen 9 Uhr morgens des 10. September 23 erschienen Gruppen aus 7 – 8 Abgeordneten fast aller Völkerschaften. Unter ihnen waren Geist­liche aus den Reihen der Dagestaner, Tsche­tschenen, Inguschen, Osseten und Kabardiner. Wir warteten auf Nuch Bek Šamchal Tarkovskij, der auch bald mit einer Gruppe von 6 – 7 Reitern angereist kam. Es war um drei Uhr mittags, als Nažmuddin-Efendi (Imam) [Gocinskij] erschien. Diesmal endete das Zusammentreffen mit ihm in völliger Übereinstimmung. Alle nahmen die Džumchuriet [türk. für „Republik“], die Ausrufung der Republik der Völker des Nordkaukasus,

19 Siehe dazu seine Botschaft „An alle Völker des Kaukasus“, die er vermut­lich im Zeitraum zwischen August 1917 und Anfang 1918 verfasste: I. Ch. Sulaev, Musulʼmanskoe duchovenstvo Dagestana i Sovetskaja vlastʼ. Borʼba i sotrudničestvo, Machačkala 2004, S. 159 – 161. 20 Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 40. 21 Zu Kocev: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 444 – 445; A. Ch. Karmov / M. Z. Sablirov, Žiznʼ i obščestvnenno-političeskaja dejatelʼnostʼ P. T. Koceva, in: Kabardino-Balkarskij pravozaščitnyj centr [ohne Ort und Datum], http://zapravakbr.ru/newfile_2.htm [18.2.2010]; M. A. Košev, Ljudi, sobytija, fakty istorii narodov Severnogo Kavkaza. V očerkach illjustracijach i dokumentach (konec XIX-XX vek), Majkop 1999, S. 78 – 92. 22 Der Bericht Kocevs ist zitiert bei: Kuznecov, 1918 god, S. 17 – 18. 23 Gemäß gregorianischem Kalender.

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an. Der Beschluss wurde verfasst in arabischer, awarischer und kumykischer Sprache und schließ­lich auch auf Rus­sisch. Am Morgen des 20. September, auf der Versammlung des ganzen Džamaats (des Volks), sollte dieser Beschluss, der von allen geist­lichen Würdenträgern unterzeichnet worden war, verlesen werden. Der 20. September war ein großer Feiertag in Andi. Im west­lichen Teil des Auls, auf dem großen Platz und auf den umliegenden Hügeln, versammelten sich Tausende von Menschen. Anwesend waren Vertreter aller Stämme [plemën] und Völkerschaften vom fernen Schwarzmeergebiet bis Zakatal.24 Das waren alles Bürger der künftigen Bergrepublik. Anwesend waren aber auch Gäste aus Aserbaidschan und Georgien und anderen Orten. (…) Auf dem flachen Dach eines niederen Hauses befanden sich die Mitglieder des Komitees [des Bergbundes]. Insgesamt waren es fünf Personen: der Vorsitzende Tapa Čermoev, der Genosse [tovarišč] des Vorsitzenden Pšemacho Kocev, Fürst Nuch Bek Šamchal Tarkovskij, Mechmed Kady Dibir und M. Chizroev und einige andere, darunter Major Girej. Auf dem Dach des Hauses sitzen daneben zehn Personen der Geist­lichkeit mit Nažmuddin an der Spitze. Usun Gadži [gemeint ist Usun-Chadži Saltinskij] fehlt. Den auf dem Dach sitzenden Delegierten zugewandt sitzen auf Bänken mehr als einhundert Chadžis 25 und Älteste. Auf den umliegenden Hügeln finden Gebetstänze der „Zikristen“ statt und es können die angenehmen Klänge des Zikr vernommen werden. Die Versammlung beginnt mit dem Begrüßungswort des Vorsitzenden in tsche­ tschenischer Sprache, das auf Arabisch, Awarisch und andere Sprachen übersetzt wird. Als gesonderte Gruppe sitzen die Übersetzer, die in die verschiedenen lokalen Sprachen übersetzen. (…) Alle diese [Übersetzer] sind nicht nur auf dem Gebiet der islamischen Theologie ausgebildet, sondern erhielten Ausbildungen in einem breiten Sinne. Unter ihnen befinden sich Persön­lichkeiten, die in Ägypten und der Türkei ausgebildet wurden. Sie alle sprechen auch die rus­sische Sprache gut. Aus der oben genannten Gruppe [der Übersetzer] trat mit einem Blatt Papier Abduch Kermin aus Chodžalmach heraus und las die Zusammenfassung der wichtigsten Ziele [der Besprechung] vor. Zuerst auf Arabisch, dann übersetzte er selbst auf Awarisch und in den chodžalmachischen Dialekt, schließ­lich auch in die kumykische, karatschajsche, tsche­tschenische, tscherkes­sische und ossetische Sprache. Darauf folgte die Lesung eines kurzen Gebets durch drei Älteste der Geist­lichkeit, worauf die weiter entfernt positionierte Jugend, die zum Teil beritten war, in die Luft schoss und die allgemeine „Ziko“ (Feier) einleitete.

24 Ort im heutigen Nordaserbaidschan. 25 Chadži (arab. Ḥāğğī) ist ein Ehrentitel für Muslime, w ­ elche die Pilgerfahrt nach Mekka unter­ nommen haben.

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Der Bund, dem auf der zweiten Sitzung noch Abchasien beigetreten war, sah sich aber mit einer fast unlösbaren Aufgabe konfrontiert. Das Zentralkomitee suchte sich als Regierung eines staat­lichen Gebildes zu etablieren, das es in Wirk­lichkeit nicht gab. Die Organisation hatte nur so viel Macht und Einfluss, wie die einzelnen Parteien ihr zugestanden. Sie kontrollierte kein klar definiertes Territorium, hatte keine feste Hauptstadt und die Regierung verfügte über keine starken Armee- und Polizeieinheiten. Den verschiedenen Repräsentanten der Völker und Gebiete bot der Bund indes eine Plattform, auf der sie über so wichtige Fragen wie Landbesitzrechte, Wirtschafts- und Bildungsfragen oder die künftige politische Orientierung diskutieren konnten. Daneben kam einzelnen Mitgliedern des Exekutivkomitees eine wichtige friedensstiftende Funktion zu. So verfügte etwa Tapa Čermoev als Vorsitzender des Bundes in den ersten Monaten nach der Februar­revolution noch über genügend Autorität, um mäßigend auf die wachsenden Spannungen zwischen Tsche­tschenen und Kosaken oder die Auseinandersetzungen zwischen Inguschen und Osseten einzuwirken.26 Mit der Rückkehr einer immer größeren Zahl von Soldaten von der Front verschlechterte sich die Sicherheitslage im Nordkaukasus im Sommer 1917 jedoch zunehmend. Bereits Anfang Mai 1917 kam es zu Übergriffen auf Tsche­tschenen, die in der Stadt Groznyj wohnten. Viele Häuser von Tsche­tschenen wurden von Banden, zu denen sich Kriegsdeserteure und Kosaken zusammengeschlossen h­ atten, ausgeplündert und niedergebrannt. Im Juli 1917 erlebte die Stadt Vladikavkaz blutige Zusammenstöße zwischen marodierenden Soldaten und der inguschischen Bevölkerung.27 Um der wachsenden Anarchie Herr zu werden, suchte Čermoev zwar nun noch stärker die Zusammenarbeit mit den Terek-Kosaken. Doch die Lage im Nord­ kaukasus beruhigte sich in der Folge nicht. Dabei sollte die Oktoberrevolution den nationalen Bewegungen neue Dynamik verleihen und die Spannungen unter den Völkern sowie unter den einzelnen sozialen und religiösen Gruppen noch zusätz­lich verschärfen.

26 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 4, S. 396. 27 Muzaev, Sojuz gorcev, S. 110 – 119; siehe dazu auch den Bericht von P. Kozok, der als Direkt­beteiligter aufseiten der Bergregierung seine Erinnerungen in späteren Jahren aufzeichnete: P. Kozok, Revolution and Sovietization in the North Caucasus, in: Caucasian Review (1955) H. 3, S. 45 – 53; ders., Revolution and Sovietization in the North Caucasus, in: Caucasian Review (1955) H. 1, S. 47 – 54. Weiterführend zur Situation im Nordkaukasus im Zeitraum Februar–Oktober 1917: F. M. Kuliev, Političeskaja borʼba na Severnom Kavkaze v 1917 godu (fevralʼ-oktjabrʼ), ­Pjatigorsk 2004.

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6. 2   Ok t ob e r r evolut io n u nd Un a bh ä ng ig keit sb e s t r e bu nge n Die Oktoberrevolution von 1917 wirkte als Katalysator für nationale Unabhängigkeitsbestrebungen an den Rändern des Reichs. Angesichts zerfallender zentralstaat­ licher Strukturen und in Reaktion auf die von Russlands neuer Regierung, dem Rat der Volkskommissare, erlassene „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ vom 2. (15.) November 1917, die das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur vollstän­ digen Loslösung von Russland proklamierte, erklärten eine Reihe von nichtrus­sisch besiedelten Gebieten in den darauffolgenden Monaten ihre vollständige staat­liche Unabhängigkeit. Entscheidend waren dabei nicht nur die jeweiligen politischen Konstellationen innerhalb der einzelnen nichtrus­sischen Grenzgebiete, sondern auch die internationale Situation, die sich mit den ausländischen Interventionen ab Februar 1918 schlagartig veränderte und sowohl dem Aufflammen des Bürgerkriegs zwischen den Bolschewiki und ihren Widersachern als auch n­ ationalen Unabhängigkeitsbestrebungen Vorschub leistete.28 Die Kaukasier reagierten nach der Februarrevolution 1917 zunächst zurück­ haltend. Weder die Regierung des nordkauka­sischen Bergbundes noch die Vertreter der südkauka­sischen Völker konnten sich eine Zukunft außerhalb eines gesamt­ rus­sischen Verbands vorstellen. Ähn­lich wie im Nordkaukasus hatte sich nach der Februarrevolution auch im Südkaukasus eine Übergangsregierung (die sich nach der Oktoberrevolution „Südkauka­sisches Kommissariat“ nannte) zur Verwaltung der Gebiete und Gouvernements der Region gebildet. Diese Regierung, die ihren Sitz in Tiflis hatte und seit Februar 1918 auch über einen Sejm (Parlament) verfügte, war von Beginn weg nicht nur mit großen internen Spannungen und terri­torialen Streitigkeiten unter den einzelnen Völkerschaften konfrontiert, sondern sah sich nach der Auflösung der ehemaligen imperialen Kaukasusarmee auch durch äußere Machtansprüche, nament­lich vonseiten des Osmanischen Reichs, bedroht.29 Erst als osmanische Truppen in südkauka­sisches Territorium vorrückten und Mitte April 1918 die Hafenstadt Batumi eroberten, beschloss der Sejm am 22. April 1918 die Unabhängigkeit und rief die Südkauka­sische Demokratische Föderative Republik (Zakavkazskaja Demokratičeskaja Federativnaja Respublika) aus.30 Damit drückten die Delegierten jedoch weniger ihren Willen zur Loslösung von Russland aus, sondern gaben dem Druck Istanbuls nach, das über die Errichtung eines kauka­sischen Staates die historische Chance eines schwächelnden Russlands n­ utzen 28 Dazu allgemein: Evan Mawdslev, The Russian Civil War, New York 2007, insbesondere S. 21 – 37. 29 Für eine gute Übersicht zu den Entwicklungen im Südkaukasus 1917 – 1918: Marshall, Caucasus, S. 85 – 100. 30 Wolfdieter Bihl, Die Kaukasuspolitik der Mittelmächte. Teil II. Die Zeit der versuchten Staat­ lichkeit (1917 – 1918), Wien, Köln, Weimar 1992, S. 46; Cuciev, Atlas, S. 48 – 51.

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wollte, um durch eine Pufferzone mög­lichen künftigen Machtansprüchen seines historischen Rivalen entgegenwirken zu können. Zudem sahen die Osmanen in einer Südkaukasus­föderation eine Mög­lichkeit, die Armenier in eine Koalition von Georgiern und Muslimen einzubinden und damit zu neutralisieren. Dies stand in Einklang mit dem Bestreben Istanbuls, potenziellen künftigen territorialen An­­ sprüchen der Armenier, deren historische Siedlungsgebiete auch osmanisches Terri­ torium in Ostanatolien umfasste, entgegenzuwirken.31 Die unabhängige Südkaukasusrepublik war allerdings von Anfang an ein äußerst schwaches Gebilde. Zwar hatte eine knappe Mehrheit der Abgeordneten im Sejm für die Unabhängigkeit votiert, doch nicht alle nationalen Abgeordneten trugen diesen Entscheid zu gleichen Teilen mit: Die armenischen Delegierten ­votierten dagegen, die Georgier waren gespalten und die Vertreter der pro-türkischen Musavat-­Partei mit ihrer Basis bei den Muslimen von Baku stimmten dafür.32 Wie gering die Solidarität innerhalb des neuen Staatsgebildes war, zeigte sich darin, dass Georgien keine Anstalten machte, den Armeniern zu Hilfe zu kommen, als diese sich erneut im Krieg mit den Osmanen befanden. Anstatt die Armenier zu unterstützen, entschieden die Georgier, die selbst mit territorialen Ansprüchen des Osmanischen Reichs konfrontiert waren, aus der Föderation auszutreten. Sie erklärten am 26. Mai 1918 ihre Unabhängigkeit und begaben sich unter die Patronage Deutschlands.33 Deutschland war im Ersten Weltkrieg zwar ein Alliierter des Osmanischen Reichs, im Kaukasus aber trat Berlin auch als direkter Konkurrent zu Istanbul in Erscheinung, das Georgien als Basis ­nutzen wollte, um von dort aus seine Macht­ansprüche im Kaukasus, nament­lich mit Blick auf das Öl von Baku, durchzusetzen.34 Bis Ende Mai 1918 traten schließ­lich auch Armenien und Aserbaidschan aus der Trans­ kaukasusföderation aus und erklärten sich für unabhängig. Istanbul anerkannte diese Staaten umgehend, nachdem diese eingewilligt hatten, die türkischen Eroberungen im Kaukasus zu akzeptieren und bereit waren, der Pforte gewisse Zugeständnisse zu machen. So gestanden sie dem Osmanischen Reich etwa das Recht zu, die Eisenbahnstrecken innerhalb Georgiens und Armeniens zu benutzen, solange der Krieg mit Großbritannien anhielt.35 Den nordkauka­sischen Bergbund sollte eine ähn­liche Konstellation in die Unabhängigkeit führen. Auf der Suche nach Verbündeten im Kampf gegen die Bolschewiki

31 Michael A. Reynolds, Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908 – 1918, Cambridge, New York 2011, S. 195. 32 Ebd., S. 204 – 205. 33 Marshall, Caucasus, S. 90. 34 Zur Kaukasuspolitik des Deutschen Reichs 1917 – 1918: Bihl, Kaukasuspolitik, S. 13 – 129. 35 Reynolds, Shattering Empires, S. 214. Siehe zur Situation im Kaukasus 1918 auch Karte 5 in ­diesem Buch.

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trafen Vertreter der Bergregierung unter der Führung von Tapa Čermoev und dem kumykisch-stämmigen Juristen Gajdar Bej Naždimovič Bammat (auch Bammatov, 1890 – 1965), der für Außenbeziehungen zuständig war, Anfang April 1918 in Tiflis ein, um Gespräche über eine Zusammenarbeit mit den südkauka­sischen Ländern zu führen.36 Allerdings waren die südkauka­sischen Regierungsvertreter bereits nach Trabzon zu Friedensgesprächen mit den Osmanen abgereist, worauf die nordkauka­ sische Delegation ihr nachreiste. Dort angekommen, baten die Vertreter des Nordkaukasusbundes um die Aufnahme in das südkauka­sische Kommissariat, was eine faktische Zusammenführung der Regierungen des Nord- und des Südkaukasus bedeutet hätte. Während die Osmanen der Idee eines vereinten Kaukasus positiv gegenüberstanden, konnten sich die Delegierten aus dem Südkaukasus zu keinem Entscheid durchringen.37 Nach der Ausrufung der Südkaukasusrepublik war es somit nur folgerichtig, dass sich auch der Nordkaukasus formell zu d­ iesem Schritt entschied. Am 11. Mai 1918 rief Čermoev in Istanbul die unabhängige Berg­republik aus. Zum gleichen Zeitpunkt befand sich sein Außenminister, Gajdar Bammat, in Batumi, um im Rahmen einer neuer­lichen Friedenskonferenz für die Anliegen der Nordkaukasusrepublik zu werben. Gleichzeitig sollte Bammat aber auch weitere Sondierungsgespräche über eine Vereinigung mit dem Südkaukasus führen.38 Istanbul anerkannte die Unabhängigkeit der Bergrepublik im Sinne seiner Ein­ dämmungsstrategie gegenüber Russland zwar an und auch der deutsche Abgeordnete an der Batumi-Konferenz sicherte den Nordkaukasiern seine Unterstützung zu (wobei eine formelle Bestätigung der Unabhängigkeit seitens der deutschen Regierung und des Parlaments nie folgen sollte).39 Die Anerkennung änderte jedoch zunächst nichts an der nach wie vor völlig desolaten Situation der Bergrepublik. Dabei bestand das Hauptproblem darin, dass die Republik und einzelne seiner Mitglieder zwar durchaus über eine gewisse Autorität, die Organisation als s­ olche aber über keine eigenen militärischen Mittel verfügte. Dabei waren es die Ereignisse in St. Petersburg im Oktober 1917 gewesen, die den Abstieg des Bergbundes eingeleitet hatten. Bereits im November 1917, in Reaktion auf die bolschewistische Machtübernahme in Petrograd, hatte das Zentralkomitee des Bergbundes die Autonomie beschlossen und den Bund zur Republik erhoben. Das Zentralkomitee nannte sich fortan Regierung, und diese residierte, nachdem die Bolschewiki Vladikavkaz eingenommen hatten, in Temir-Chan-Šura, dem Hauptort des dagestanischen Gebiets. Allerdings verfügte die

36 Eine Kurzbiographie Bammats findet sich in: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 431. 37 Reynolds, Shattering Empires, S. 201; V. D. Dzidzoev, Ot sojuza obʼʼedinёnnych gorcev Severnogo Kavkaza i Dagestana do Gorskoj ASSR (1917 – 1924). Načal’nyj ėtap nacionalʼno-gosudarstvennogo stroitelʼstva narodov Severnogo Kavkaza v XX veke, Vladikavkaz 2003, S. 27 – 28. 38 Reynolds, Shattering Empires, S. 206. 39 Dzidzoev, Ot sojuza, S. 28.

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Regierung noch immer kaum über nennenswerte militärische Macht und konnte sie der wachsenden Bedrohung durch die Bolschewiki nichts entgegensetzen.40 Boris M. Kuznecov, der als Offizier der Freiwilligenarmee und der bewaffneten Streitkräfte Südrusslands diente und Anfang 1918 als Kommandant einer Reiterabteilung Fürst Nuch-Bek Tarkovskijs in Dagestan unterstellt war, beschreibt die Situation der Bergrepublik in seinen 1959 publizierten Memoiren, in denen er sich hauptsäch­lich mit dem Bürgerkrieg in Dagestan befasst: Im Allgemeinen hatte die Regierung der Bergrepublik kein „eigenes Haus“. Es besteht kein Zweifel, dass die Leute der Regierung nur die besten Absichten hatten: Ihre Region vor der wachsenden Gefahr des Bolschewismus zu beschützen; doch da sie absolut nichts hatten – kein Geld, keine Armee, keine Waffen, keine Nahrungsmittel für die Bevölkerung, und vor allem auch keine Erfahrung –, waren sie gezwungen, sich auf unter­nehmerisch denkende und entschlossene Leute zu stützen, worunter die von mir erwähnten ­rus­sischen Offiziere aus den Reihen der Bergbevölkerung stammten wie etwa der Oberst und Fürst Nuch Bek Šamchal Tarkovskij und der Oberst Rusul Bek Koitbekov. Diese Leute entschlossen sich vor allem, Dagestan von den Bolschewiki zu säubern, die ihren Stützpunkt in der Stadt Petrovsk-Port hatten.41

Tatsäch­lich gehörten Tarkovskij und der dagestanisch-stämmige Rusul Bek ­Koitbekov (auch Rasul Bek Kaitbekov, 1880 – 1921), die beide als Offiziere in der Zaren­armee gedient hatten, zu den wenigen Kommandanten, die ihre Truppen nach dem Rückzug von der Front auf dem dagestanischen Kriegsschauplatz in den Dienst der Bergregierung stellten – auch wenn sie das Kommando nie formell an die Regierung abgegeben hatten. Im Terek-Gebiet konnten die Machthaber auf keine s­ olche Unterstützung zählen – und so suchten sie ihre Position Ende 1917 durch eine Festi­ gung der Allianz mit Teilen der Kosaken zu stärken. Nachdem die Mitglieder des Bundes bereits im Oktober 1917 an der Gründungssitzung des kurzlebigen Südostbundes teilgenommen hatten, der in gewisser Weise eine gegen die Bolschewiki gerichtete Kosakenföderation darstellte, ging im Dezember aus der Allianz mit den Terek-Kosaken kurzfristig eine gemeinsame Regierung hervor, die in Vladikavkaz residierte. Zusammen mit dem Kosaken-Ataman Michail Karaulov gelang Vertretern der Berg­republik die Bildung eines Vorübergehenden Militärkomitees des Terek-Gebiets, in dem Kosakeneinheiten mit Teilen der ehemaligen Wilden Division für Sicherheit im Gebiet sorgen sollten.42

40 Muzaev, Sojuz gorcev, S. 327 – 367. 41 Kuznecov, 1918 god, S. 19. 42 Muzaev, Sojuz gorcev, S. 234 – 239, 282 – 284.

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Doch die Formierung einer gemeinsamen Terek-dagestanischen Regierung stieß weder bei den Kosaken noch bei den nordkauka­sischen Völkern, insbesondere den Tsche­tschenen und Inguschen, auf Gegenliebe. Und weil das Zusammengehen von Nordkaukasusvölkern und Kosaken keinen breiten Rückhalt hatte, blieb auch die Autorität dieser Regierung auf einen relativ kleinen Kreis von Personen beschränkt, deren Herrschaftsbereich kaum über Vladikavkaz hinausreichte. Die eigent­liche Macht war damals vor allem innerhalb der Volksgemeinschaften, bei den Räten der Städte sowie innerhalb der Aule angesiedelt. Vor allem in den muslimischen Gemeinschaften der Bergregionen konzentrierte sie sich rund um charismatische geist­liche Führer und deren Anhängerschaften. Außenbetrachtern erschien die Situation gerade in Tsche­tschenien denn auch ­völlig unübersicht­lich. So liest sich aus einem Bericht, den Generalmajor B. P. ­Lazarev (*1882, Todesjahr unbekannt) zuhanden des Oberkommandos der antibolschewistischen Streitkräfte im Süden Russlands Anfang 1919 verfasste, dass es „in Tsche­tschenien an die 70 Scheiche [gebe], von denen jeder seine eigene Anhängerschaft [habe] und jeder gegen jeden [intrigiere]“.43 Ähn­liches ließ sich aus Dagestan berichten. Allerdings konstatierte Lazarev in seinem Bericht, dass in Dagestan im Unterschied zu den anderen Territorien der Bergrepublik deut­lich weniger Anarchie und ein geringer ausgeprägtes „Abrekenwesen“ herrsche.44 Der Hinweis, es gebe in Tsche­tschenien 70 Scheiche, schien zwar willkür­lich, sollte sich aber in der rus­sischen Vorstellung noch bis in die frühe Sowjetzeit halten.45 Dass die politische Landschaft Tsche­tscheniens stark fragmentiert war und sich die Beziehungen unter den verschiedenen gesellschaft­lichen Führungskräften nicht immer spannungsfrei gestalteten, lässt sich jedoch kaum bestreiten. Eine von allen Seiten anerkannte Führung, w ­ elche die Tsche­tschenen als Gesamtes repräsentiert hätte, gab es nicht. Was sich dem Fremden als Chaos dargestellt haben muss, das widerspiegelte das damalige politische Wesen der Tsche­tschenen. Dabei gab es gerade am Anfang der Revolution auch bei den Tsche­tschenen durchaus Bestrebungen, zu

43 Der Bericht Lazarevs datiert vor dem 24. Januar 1918 und findet sich in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 282 – 294, hier S. 288. 44 Ebd., S. 291. 45 So wurde der tsche­tschenische Scheich Ali Mitaev, nachdem er im März 1924 durch den sowjetischen Staatssicherheitsdienst verhaftet worden war, bei einem der zahlreichen Verhöre mit der Frage konfrontiert, weshalb „von den 70 bestehenden Sekten“ gerade seine Bewegung bei den Tsche­tschenen so populär sei. Darauf soll Mitaev geantwortet haben: „Mir ist es völlig schleierhaft, wie Sie darauf kommen, dass es in Tsche­tschenien 70 Sekten gibt. Es gibt die Anhänger von Tašu-Chadži Sajasanovskij, diejenigen von Kunta-Chadži Kišiev, anders ausgedrückt, die Bruderschaften der Naqšbandiyya und der Qādiriyya. Die Frage ist, wer was schreibt. Ihr sucht Feinde dort, wo sie nie waren, wir suchen und finden Freunde.“ Archiv KGB Čečenskoj Respubliki. Sled. fond. D–4971, T–2. S. 219, zitiert bei: Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 158.

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einer Einheit zu finden, was sich etwa in den riesigen Massenversammlungen im Frühsommer 1917 ausdrückte: Noch im März 1917 hatten sich die Vertreter des tsche­ tschenischen Volks in Groznyj zu einem ersten gesamttsche­tschenischen Kongress versammelt, an dem die Delegierten für den Kongress des Bundes der vereinigten Bergvölker des Nordkaukasus und Dagestans in Vladikavkaz bestimmt wurden und der sogenannte Tsche­tschenische Nationale Rat, bestehend aus 36 Mitgliedern mit Achmet-Chan Magomedovič Mutušev (1879 – 1943) an der Spitze, gewählt wurde.46 Mutušev, Jurist und Anhänger sozialistischer Ideen, sollte später auch Mitglied des ersten Präsidiums des im Mai formierten Bergbundes werden.47 Allerdings verlief der Kongress in Groznyj, an dem gemäß der Darstellung von Abdurachman Avtorchanov gegen 10.000 Personen und Vertreter aller politischen Gruppierungen sowie die wichtigsten Repräsentanten der Geist­lichkeit teilnahmen, nur dem äußeren Anschein nach harmonisch.48 Die inneren Widersprüche traten kurz nach der Oktoberrevolution in aller Deut­lichkeit zu Tage. An der zweiten „Sitzung des tsche­tschenischen Volks“, die Anfang 1918 in Urus-Martan stattfand, lehnte eine Mehrheit der Teilnehmer die Bergrepublik ab. Gleichzeitig sprach sich die überwiegende Mehrheit auch gegen das bolschewistische Programm der Sowjetisierung aus. Als höchstes Organ der Volksversammlung wurde ein neuer „Medžlis“ (Rat) mit Sitz in Starye Atagi einberufen, der abermals unter der Leitung von Achmet-Chan Mutušev stand. Als Vertreter säkularer Ideen sah sich Mutušev innerhalb des Medžlis mit einer Mehrheit von Anhängern einer religiösen Bewegung konfrontiert, ­welche die Errichtung eines auf der Scharia basierenden islamischen Staates anstrebte. Der Medžlis zerfiel endgültig, nachdem Mutušev seinen Posten als Vorsitzender nach kurzer Zeit aufgegeben hatte. Ein Teil der Personen blieb unter der Führung von Ali Mitaev und Ibragim Čulikov (Geburtsjahr unbekannt, † 1943) noch eine gewisse Zeit in Atagi. Der linke Flügel des Rats unter der Führung des ehemaligen tsche­tschenischen Duma-­Abgeordneten des Terek-Gebiets, Taštemir ­Elʼžurkaevič Ėlʼdarchanov (1870 – 1934), spaltete sich ab und zog in das Dorf Goity, um danach einen neuen Volksrat zu wählen. Dabei sollte es später die kleine Gruppe um ­Ėlʼdarchanov sein, aus der sich nach dem Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg die neue sowjetische Führung Tsche­tscheniens herausbildete.49

46 S. M. Išakov, Rossijskie musulʼmane i revoljucija (vesna 1917 g.–leto 1918 g.), Moskva 2004, S. 150. 47 Zu Mutušev: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 448 – 449. Siehe dazu auch die (tendenziöse) biographische Darstellung von: M. Gešaev, Znamenitye čečency. Istoričeskie očerki v 4-ch kn., Moskva 2005 (Band 2), S. 277 – 303; online unter: http://www.sakharov-center.ru/asfcd/auth/ [6.1.2013]. 48 Avtorchanov, K osnovnym voprosam, S. 54 – 55. 49 N. F. Bugaj u. a., Nacionalʼno-gosudarstvennoe stroitelʼstvo Rossijskoj Federacii. Severnyj ­Kavkaz (1917 – 1941 gg.), Majkop 1995, S. 56; Ch. Ošaev, Očerki načala revoljucionnogo dviženija v Čečne, Groznyj 1927, S. 22.

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Die Frage, wie nach dem Umbruch von 1917 mit der neu erlangten Freiheit von der Zarenmacht umgegangen und die Macht organisiert werden sollte, wurde bei Tsche­tschenen, aber auch anderen Nordkaukasusvölkern kontrovers diskutiert. Auch wenn die Vorstellung, sich einer übergeordneten Bergregierung unterzuordnen, letzt­lich keine Mehrheit finden sollte, waren Einheitsideen auch bei den Tsche­ tschenen durchaus populär. Dies zeigt sich etwa darin, dass einzelne Mitglieder der Bergregierung auch später, während des Bürgerkriegs, bei der einheimischen Bevölkerung großes Ansehen genossen. Auch das Bekenntnis zu einem auf der Scharia basierenden Staat, wie es sich mit der Ernennung Gocinskijs zum Imam im August 1917 ausdrückte, kann letzt­lich als Ausdruck einer gemeinsamen, über die Volkszugehörigkeit hinausgehenden Identität verstanden werden. All diese und alle späteren Staatsbildungsprojekte, ob sie nun eher säkular oder religiös beeinflusst waren, scheiterten am Ende jedoch an den unterschied­lichen politischen Vorstellungen der verschiedenen nordkauka­sischen Führer, den wachsen­ den Spannungen unter den Völkern und der Ungewissheit darüber, w ­ elche Macht­ verhältnisse sich in Russland künftig einstellen würden. Angesichts dieser Ungewissheit vertraute zunächst jede Seite auf eigene Mittel, um ihre Interessen zu wahren, oder suchte nach starken Verbündeten, die diese Interessen ­schützen sollten. Der Bund bot sich in dieser Situation insofern nicht als Alliierter an, als er weder über Machtmittel in Form einer schlagkräftigen Armee verfügte, noch die drängendste Frage, jene der Umverteilung von Landbesitz im Sinne der Bergbevölkerung, regeln konnte. Der Friede zwischen den nichtrus­sischen Nordkaukasus­völkern und den Kosaken ließ sich nur so lange halten, wie die Aussicht bestand, innerhalb eines gesamtstaat­lichen Rahmens in der Landfrage einen Ausgleich zu finden. Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung im Oktober 1917 fiel diese Klammer jedoch weg und die Gewalt sollte sich an der Landfrage mit aller Wucht entladen.

6. 3  D e r Weg i n d ie G e wa lt Die Oktoberrevolution verband an der nordkauka­sischen Peripherie vor allem handfeste ­soziale Ziele. Noch mehr als im übrigen Russland war bei den ­nicht­­­­­rus­sischen Völkern des Nordkaukasus der weitaus größte Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, wobei in den Berggebieten die extensive Art der Landbewirtschaftung in Form von Vieh- und Weidewirtschaft überwog.50 Für Kazbek Savvič Butaev (1893 – 1937), der als Mitstreiter der Bolschewiki den Bürgerkrieg im Nordkaukasus aus erster Hand erlebte und später führende Staats- und Parteiposten in

50 Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, S. 289.

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seinem Heimatgebiet Nordossetien übernahm, lagen die Gründe für die vor allem von Tsche­tschenen und Inguschen ausgehende Gewalt gegen die Kosaken auf der Hand.51 In seinen im Oktober 1920 verfassten Erinnerungen macht er klar, dass es die pro-kosakische Haltung des Zentralkomitees des Bergbundes war, die den Konflikt zwischen Nordkaukasusvölkern und Kosaken provoziere: All dies [die Zusammenarbeit zwischen dem Zentralkomitee und den Terek-Kosaken] geschieht an der Spitze, in den führenden Kreisen. Und unten wartet die Masse auf Maßnahmen der Revolution und bereitet sich darauf vor. Die Bergvölker warten auf die Vernichtung des über sie herrschenden Kosakentums und die Rückgabe von Land und auf die echte nationale Befreiung und die Beteiligung an der Macht. Trotz all dem suchen die Fürsten und Millionäre [des Exekutivkomitees] ihr Land und Kapital vor dem wachsenden Zorn der Volksmassen zu s­ chützen und übergeben das Schicksal der ­Bergler in die Hände kosakischer Reaktionäre, derjenigen [Leute], die während der Zeit des Zarismus die Henker [der Bergbevölkerung] gewesen waren. (…) Die Masse sah dies alles, lernte und wartete, ihre Kräfte sammelnd, auf den Moment, um loszuschlagen.52

„Die Masse“ in Gestalt einer organisierten Volksbewegung existierte allerdings nicht – dafür gab es zahlreiche Gemeinschaften und Gruppierungen, w ­ elche die anarchischen Zustände ausnutzten, um das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Was das für die Kosaken des Terek konkret bedeutete, lässt sich dem Schreiben entnehmen, das der Ataman der Terek-Kosaken, Gerasim Andreevič Vdovenko (1865 – 1945), an den Oberkommandierenden der Weißen Armee an der Südfront, General Anton Ivanovič Denikin (1872 – 1947), im Oktober 1919 schickte. Vdovenko hatte im Dezember 1917 die Nachfolge von Michail Karaulov angetreten, der bei einem Überfall bei der stanica Prochladnoj von Soldaten und eigenen Kosaken, die sich unzufrieden über seine Politik der Annäherung an die nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus zeigten, getötet worden war:53

51 Eine Kurzbiographie Butaevs findet sich in: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 433 – 434. 52 Die Aufzeichnungen Kazbek Butaevs, die vom 10. Oktober 1920 datieren, sind in Auszügen publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 381 – 405. Nachfolgendes Zitat stammt aus: Ebd., S. 384 – 385. 53 Dies geht aus den Aufzeichnungen von Nikolaj N. Baratov hervor, einem Terek-Kosaken und Offizier der Zarenarmee, der im Bürgerkrieg aufseiten von Denikins Freiwilligenarmee gekämpft hatte. Seine Eindrücke zur Situation im Nordkaukasus im Zeitraum 1917 – 1918 hält er unter dem Titel „Kurzer Abriss der revolutionären Bewegung im Nordkaukasus 1917 – 1918“ (Kratkij očerk revoljucionnago dviženija na Severnom Kavkaze v 1917 – 1918 godach) in einem undatierten sieben­ seitigen Papier fest, das zusammen mit weiteren Schriften im Archiv der Hoover Institution auf­ bewahrt ist: Hoover Institution Archives, N. N. (Nikolai Nikolaevich) Baratov Papers, 1890 – 1934, 4 manuscript boxes, 2 envelopes, hier Box 4, Folder 1 [S. 4].

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Nach dem zweiten Staatsumsturz, der im Oktober 1917 stattgefunden hatte, (…), nutzten das tsche­tschenische und inguschische Volk die vorübergehende Schwäche der rus­sischen Macht und des rus­sischen Volks aus und organisierten mit großem und erbarmungslosem Fanatismus reguläre Streitkräfte, um rus­sische Siedlungen zu vernichten (…), insbesondere aber die Kosaken der stanicy entlang der Sunženskij-Linie, von Kachanovskij bis Karabulakskij am linken Ufer des Terek zu vertreiben, um dann die Nordkauka­sische Föderative Bergrepublik, die sie unabhängig von Russland erklärten, zu gründen. Die Zerstörung und Eroberung rus­sischen Territoriums durch die tsche­tschenischen und inguschischen Völker erfolgte entlang einer klar ausgedachten, systematischen Linie. Als erstes zerstörten und plünderten [die Tsche­tschenen und Inguschen] die blühenden deutschen Kolonien, die reiche rus­sische Wirtschaft und Farmbetriebe im Bezirk [okrug] Chasav-Jurt und danach Höfe um die stanica Kachanovskij (…), schließ­lich die christ­lichen Siedlungen des Bezirks Chasav-Jurt (…). Gleichzeitig verheerten die Tsche­tschenen die Bahnknotenpunkte in Gudermes, der stanicy Kadi-Jurt, Džalka, Argun und anderen, und schließ­lich, im Morgengrauen des 29. Dezembers 1917, führten [sie] einen organisierten Angriff auf die stanica Kachanovskij durch – die letzte Bastion des rus­sischen Volks. Die Einwohner und ihre kleine Garnison lieferten den Tsche­tschenen einen zähen Kampf, von 4 Uhr morgens bis 3 Uhr nachmittags, doch angesichts fehlender Unterstützung vermochten sie dem Druck nicht standzuhalten und zogen sich hinter den Terek zurück (…). Die stanica Kachanovskij (…) wurde bis auf den Grund nieder­ gebrannt. (…) [A]m 30. Dezember 1917 griffen die Tsche­tschenen die kleine stanica Ilʼinskaja an. Die Kosaken ­dieses Dorfs zogen sich in die stanica Petropavlovsk zurück; auch die [stanica Ilʼinskaja] wurde von den Tsche­tschenen verwüstet und ausgeplündert. Danach, im Januar 1918, plünderten und zerstörten [die Tsche­tschenen] die große, ­völlig wehrlose und unbewaffnete Siedlung Chasav-Jurt. (…) [I]m November 1917 führten die Inguschen einen Angriff auf die stanica Felʼdmaršalskij aus, die sie von allen Seiten abbrannten und dem Erdboden gleichmachten.54

Die Gewalt im Nordkaukasus äußerte sich nicht immer in Form groß angelegter und offenbar gut organisierter Überfälle, wie sie Vdovenko in seinem Bericht beschreibt, sondern ging auch von früheren Soldaten der Zarenarmee und von bewaffneten Banden aus, die ohne erkennbare politische Ziele plündernd und raubend durch die Gegend zogen, um von der chaotischen Situation zu profitieren. Während dem Berg­bund die Mittel fehlten, ordnend einzugreifen, schienen damals auch die Aufrufe der Geist­lichkeit wenig Wirkung zu zeitigen. Das galt auch für den seinerzeit wohl einflussreichsten geist­lichen Führer, Nažmuddin Gocinskij, der sich als gewählter

54 Das Schreiben Vdovenkos datiert vom 12. Oktober 1919 und ist enthalten in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 377 – 380; das nachfolgende Zitat stammt aus: Ebd., S. 377 – 378.

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Mufti des Nordkaukasus angesichts der wachsenden Anarchie veranlasst sah, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen. Im November 1917 erließ Gocinskij einen dring­lichen Appell an die Mullahs des nordkauka­sischen Muftiats, mittels der Scharia wieder Recht und Ordnung herzustellen. Gleichzeitig suchte er das Einvernehmen des Zentralkomitees des Bergbundes, indem er betonte, dass seine Forderung dem Ziel des Gremiums entsprechen würde, „das politische und kulturelle Niveau unserer Völker (…) und ihre Rechte“ anzuheben, zu einer Zeit, da „verschiedene Gefahren die Existenz unserer Völker“ bedrohten. Gocinskij befahl die unverzüg­liche Wahl von „gottesfürchtigen Personen“, die „verpflichtet sein sollten, die Regeln der Scharia in aller Schärfe im Kampf mit den Dieben, Verbrechern und Mördern durchzusetzen und [darin] mit den Vertretern der welt­lichen Macht (…) zusammenzuarbeiten (…)“. 55 Gerade mit Blick auf den Gegensatz zwischen orthodoxen Kosaken und sunni­ tischen Tsche­tschenen und Inguschen suchte Gocinskij seiner Forderung im Schreiben vom November 1917 auch dadurch Nachdruck zu verleihen, dass er daran erinnerte, dass er „bei Verbrechen, die Muslime gegen Muslime begehen [würden], durch die von [ihm] autorisierten Personen, diesen die Hände abschneide; und für Verbrechen, die [Muslime] gegen den Besitz oder die Persön­lichkeit eines ­Christen verüben, dieselben [von ihm autorisierten] Personen die Todesstrafe gegen die Verbrecher ausführen [würden]“.56 Die harsche Drohung schien indes kaum mäßigend gewirkt zu haben. Als wichtigster Anführer einer gegen die Bolschewiki gerichteten Aufstandsbewegung, die ab Herbst 1920 weite Teile des gebirgigen Nordkaukasus erfassen sollte, trat Gocinskij in der sowjetischen Geschichtsschreibung als Feind der Sowjetmacht schlechthin in Erscheinung.57 In der west­lichen Literatur ging er dagegen als Anführer des „letzten Dschihad“ gegen die rus­sischen Eroberer in die Geschichte ein.58 Tatsäch­lich trat Gocinskij in dieser Phase als ein eher gemäßigter Politiker auf, der auf Ausgleich und Kompromiss bedacht war, jedoch eine Allianz mit den Bolschewiki, wie sie andere Scheiche nach der Ankunft Denikins aus taktischen Gründen befürworteten, strikt ablehnte. Gocinskij war religiös hoch gebildet, aber sicher kein Fanatiker. Er trat konsequent für die Einführung der Scharia ein, in der er die einzige Mög­lichkeit für die Herstellung von Recht und Ordnung sah, was sich jedoch nicht gegen Russen

55 Der Text der Botschaft Gocinskijs ist publiziert in: Kakagasanov u. a. (Hg.), Sojuz obʼʼedinёnnych gorcev, S. 76 – 77. 56 Ebd. 57 Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 34. 58 Marie Bennigsen Broxup, The Last Ghazawat. The 1920 – 21 Uprising, in: Dies. (Hg.), The North Caucasus Barrier, S. 112 – 145.

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und Anhänger anderer Religionsgemeinschaften richtete. Dass er, wie andere Ver­ treter der Bergbundes auch, zwar dem Zarismus, nicht aber Russland grundsätz­lich ­ablehnend gegenüberstand, hatte wohl mit seiner Biographie zu tun: Sein Vater, Donogo Muhammad (Geburtsjahr unbekannt, † 1889), der als Naib zunächst Seite an Seite mit Imam Šamil gekämpft hatte, trat nach dem Ende der Kaukasuskriege in die Dienste des Zaren, erhielt mehrfache Ehrungen und brachte es bis zum Ritter­ meister der imperialen Armee. Nažmuddin Gocinskij machte ebenfalls Karriere in der Zaren­administration. Er war Abgeordneter im dagestanischen Volksgericht und wurde 1895 in der Nachfolge seines Vaters zum Vorsteher des Kojsubulinsker Abschnitts im awarischen Bezirk ernannt. Nach dem Tod des Vaters erbte er dessen großen Landbesitz. Zwar ­beobachtete die Zarenadministration die Aktivitäten des Geist­lichen argwöhnisch, der wie viele andere auch seiner Reisen nach Mekka und ins Osmanische Reich wegen den Verdacht der Behörden erweckte. Doch tat dies seinem Einfluss, der sich von Awarien aus bald auch auf die tsche­tschenische Berg­region ausweitete, keinen Abbruch. Er trat in Streitigkeiten verschiedent­lich als Sch­lichter auf und hatte den Ruf eines Pragmatikers. Es war wohl dieser Wesenszug, der ihn nach der Februarrevolution 1917 zu einem für alle Seiten akzeptablen Kandidaten für den Posten des Mufti und Abgeordneten der Geist­lichkeit innerhalb des Bergbundes machte.59 Die Gewalt nahm in der Folge nicht ab. Die Auseinandersetzung im Terek ­zwischen den Kosaken und Tsche­tschenen erreichte Ende 1917 im Gegenteil einen Höhepunkt, als der bei den Tsche­tschenen hochangesehene Scheich Deni ­Arsanov (1850 – 1917) nach gescheiterten Friedensgesprächen mit Kosakenvertretern in ­Groznyj zusammen mit rund 30 seiner Anhänger von Kosaken in einen Hinterhalt gelockt und ermordet wurde.60 Nebst Figuren wie Ali Mitaev, der nach dem Tod seines Vaters Bamat Girej Chadži 1914 zu einem der wichtigsten Anführer der Qādiriyya-Bewegung in Tsche­tschenien aufstieg, galt Deni Arsanov als der damals wohl einflussreichste Anführer des noch immer weitverbreiteten Sufi-­Ordens der Naqšbandiyya.61 Im blutigen Herbst 1917 gab es somit keine Instanz, die genügend Autorität gehabt hätte, um der zunehmenden Rechtlosigkeit und der wachsenden Gewalt Einhalt zu gebieten. Im Frühjahr 1918 trat mit den Bolschewiki eine neue Kraft mit dem Anspruch auf, die Ordnung wiederherzustellen. Allerdings sollte auch den Bolschewiki zunächst nur kurzfristig Erfolg beschieden sein.

59 Zum frühen Werdegang Gocinskijs: Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 34 – 38. 60 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 123; Marshall, Caucasus, S. 70. 61 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 121.

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6.4  D ie B ol s che w i k i i m Nor d k a u k a s u s u nd e r s t e St a a t sbi ld u ng s p r oje k t e Für die Bolschewiki und ihre Rote Armee war es angesichts der Verwerfungen der politischen Landschaft ein Leichtes, die Bergregierung aus dem Nord­kaukasus zurückzudrängen. Bereits im März 1918 nahmen sie mit Unterstützung von Kosaken­ einheiten Vladikavkaz ein, worauf die Mehrheit der Regierungsmitglieder ins geor­ gische Exil nach Tiflis flüchtete. Einzelne Vertreter der Bergregierung, so Gajdar Bammat, hatten bereits vor dem Eintreffen der Roten Armee ihren ­ständigen Sitz in Tiflis. Von hier aus war es ihm eher mög­lich, Kontakte mit potenziellen ­Alliierten – vor allem mit den benachbarten Südkaukasusländern und dem Osmanischen Reich – herzustellen. Erste Staatsbildungsanstrengungen auf nordkauka­sischem Territorium unter­ nahmen die Bolschewiki bereits Anfang 1918. Im Januar ­dieses Jahres riefen sie die Sowjetrepublik Stavropolʼ (Stavropolʼskaja Sovetskaja Respublika) aus, die allerdings nur wenige Monate Bestand hatte und sich mit großflächigen Bauernaufständen konfrontiert sah.62 Den zweiten Versuch unternahmen die Bolschewiki im März 1918, als sie die Sowjetrepublik Terek (Terskaja Sovetskaja Respublika) ausriefen. Die Gründungssitzung begann am 3. März in Pjatigorsk und wurde in Vladikavkaz fortgesetzt, nachdem die Bolschewiki dort die Terek-dagestanische Regierung vertrieben hatten.63 Es folgte Mitte März 1918 die Errichtung der Sowjet­ republik Černomorsk auf dem Territorium des gleichnamigen früheren Gouvernements und im April die Errichtung der Sowjetrepublik Kuban. Beide Republiken schlossen sich wenige Wochen später zur Sowjetrepublik Kubano-Černomorsk (Kubano-Černomorskaja Sovetskaja Respublika) zusammen.64 Die ersten sowjetischen Staatsbildungsprojekte ersetzten die vorhandenen Machtstrukturen nicht, sondern überlagerten, ergänzten oder konkurrierten sie. Dabei strahlten die frühen bolschewistischen Projekte wiederum nur sehr begrenzt auf die nichtrus­sisch besiedelten länd­lichen Gebiete aus, zumal es dort noch kaum sozial­revolutionäre Organisationsstrukturen gab, auf die sich die Bolschewiki ­hätten stützen können. Mit Ausnahme von Nordossetien, wo sich bereits 1905 eine sozial­revolutionäre Strömung unter der Intelligenzija ausmachen ließ, gab es unter den übrigen Völkern nur vereinzelte und in kleinsten Gruppen auftretende Sozial­ revolutionäre, die sich fast ausschließ­lich in den wenigen größeren Ortschaften und Städten konzentrierten. Nach der Februarrevolution von 1917 formierte sich denn

62 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 4, S. 155. 63 Ebd., S. 205, 209. 64 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 2, S. 420.

Die Bolschewiki im Nordkaukasus und erste Staatsbildungsprojekte

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auch nur in Nordossetien eine größere sozialrevolutionäre Bewegung. Diese spaltete sich aber bereits Mitte des Jahres in zwei verschiedene Fraktionen: Dem von Simon Alievič Takoev (1876 – 1937) kontrollierten menschewistischen Flügel stellte sich die von Sachandžeri Gidzovič Mamsurov (1882 – 1937) angeführte Orga­nisation Kermen entgegen, die von ihrem Programm her den Bolschewiki nahestand und bereits Anfang 1918 mehrere Hundert Mitglieder zählte.65 Daneben gab es vor allem unter der Mehrheit der christ­lich-orthodoxen Osseten eine einflussreiche Offiziers­ kaste, die sich nur wenig mit bolschewistischem Gedankengut identifizierte und zur Zusammenarbeit mit den Kosaken neigte.66 Parteiorganisationen ähn­lich großen Umfangs gab es in den anderen Gebieten damals nicht. Sozialrevolutionäre ­Zellen pflegten sich rund um einzelne Persön­lichkeiten zu bilden und waren deshalb vorwiegend an jenen Ort gebunden, an dem diese Person ihre Machtbasis hatte. Obwohl es im Nordkaukasus somit kaum eine sozialrevolutionäre Bewegung gab, die diesen Namen verdient hätte, verschob das Auftreten der Bolschewiki in der regionalen Konfliktlandschaft mit einem Schlag die machtpolitischen Parameter. Für jedes Volk und jede Gemeinschaft stellte sich die Frage, inwiefern die Zusammen­ arbeit mit der neuen Macht den eigenen Interessen entsprach. Umgekehrt waren die Bolschewiki im Nordkaukasus außerhalb der rus­sisch dominierten städtischen Zentren noch derart schwach, dass sie auf jede Unterstützung angewiesen waren. Anfäng­lich glaubten sich die Bolschewiki insofern in einer komfortablen Situation, als sich nicht nur Teile der nichtrus­sischen Völker, sondern auch die Kosaken offen für eine Zusammenarbeit mit ihnen zeigten. So bekannte sich bereits un­­mittelbar nach der Oktoberrevolution eine Reihe von Kosakengemeinschaften in ihren ­Gebieten zur Sowjetmacht. Klar war aber auch, dass sich sowohl die nichtrus­sischen Völker als auch die Kosaken dadurch vor allem Unterstützung im Krieg gegen die jeweils andere Seite erhofften. Dies wurde spätestens an der ersten Sitzung der Völker des Terek deut­lich, als sich rund 400 Delegierte vom 25. bis 31. Januar (7. bis 12. ­Februar) 1918 in Mozdok einfanden, um den Tereker Volksrat (Terskij nardonyj sovet) als höchste sowjetische Vertretung der Region zu wählen.67 Der bolschewistische Delegierte Sergej Mironovič Kirov (eigent­lich ­Kostrikov, 1886 – 1934), der an dieser Sitzung als einer der Redner auftrat, wollte die Delegierten erst daran erinnern, dass es darum ging, die „revolutionären Kräfte im Terek-­Gebiet“ zu vereinigen, um die Konterrevolution erfolgreich bekämpfen

65 Aufzeichnungen Butaevs, 10. Oktober 1920, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, insbesondere S. 387 – 388. 66 Ebd. 67 Auszüge aus den Sitzungsprotokollen wurden bereits zu Sowjetzeiten publiziert in: Sʼʼezdy narodov Tereka. Sbornik dokumentov i materialov v 2-ch t., Ordžonikidze 1977. Teile der ersten Sitzung sind enthalten in: Ebd. (Band 1), S. 27 – 58.

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zu können. Stattdessen warf er den Versammelten vor, dass sich aus der An­­ erkennung der Sowjet­macht beide Seiten nur Vorteile im Krieg gegen die jeweils andere Seite erhofften: Hier wurde gesagt: Um die Inguschen und Tsche­tschenen zu besiegen, muss man die Macht des Rats der Volkskommissare [Sovet narodnych komissarov] anerkennen. Doch in ­diesem Fall werden sich morgen auch die Inguschen zu einer Sitzung zusammenfinden und die Macht des Rats der Volkskommissare anerkennen, um die Kosaken zu schlagen. Das ganze Unheil kommt daher, dass die Kosaken und [die] Bergler von Leuten angeführt wurden, die sich nicht um die Interessen des Volks kümmerten. Wenn wir die Sowjetmacht nur deshalb anerkennen, um andere Völkerschaften bekriegen zu können, dann ist es besser, diese Macht nicht anzuerkennen.68

Tatsäch­lich waren an der ersten Sitzung in Mozdok kaum Vertreter der ­nicht­­­­­rus­sischen Nordkaukasusvölker und kein einziger Delegierter der Tsche­tschenen und Inguschen anwesend. Kazbek Butaev rapportiert in seinen Memoiren, dass die Kosaken, die zu den Hauptinitianten der Versammlung zählten, Tsche­tschenen und Inguschen bewusst keine Einladung zugestellt hätten, da ihr erklärtes Ziel darin bestanden habe, die übrigen Delegierten für den bewaffneten Feldzug gegen die Tsche­tschenen und Inguschen zu mobilisieren.69 Die von den Kosaken angestrebte Allianz sollte allerdings nicht zustande kommen, weil sich „die sozialistischen Parteien in diese Angelenheit einmischten“ und d­ ieses militärische Vorhaben, das zuvor bereits beschlossene Sache schien, verhinderten, wie ein anderer Zeitzeuge, der Kosakenoffizier Nikolaj Nikolaevič Baratov (1865 – 1932), in einer Schrift zur Situation im Nordkaukasus festhält.70 An der zweiten Sitzung der Völker des Terek, die vom 16. Februar bis 4. März 1918 in Pjatigorsk tagte und nach der Vertreibung der Terek-dagestanischen Regierung ab dem 6. März 1918 in Vladikavkaz fortgesetzt wurde, rief Kirov die Kosaken und die nichtrus­sischen Völker dazu auf, ihren Konflikt umgehend zu beenden. Er drängte aber in erster Linie die Kosakendelegation zum Einlenken, wobei er keinen Hehl aus seiner Abneigung den Kosaken gegenüber machte.71 Zur Sitzung in Pjatigorsk erschienen nun ebenfalls die Inguschen, und auch die Tsche­tschenen

68 Die Rede Kirovs vom 11. Februar (29. Januar) 1918 ist enthalten in: K. I. Efanov, Lenin i ­Čečeno-Ingušetija. Sbornik dokumentov i materialov, Groznyj 1982, S. 38 – 41, hier S. 40. 69 Aufzeichnungen Butaevs, 10. Oktober 1920, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 388. 70 Baratov, Kratkij očerk, in: Hoover Institution Archives, Baratov Papers, Box 4, Folder 1 [S. 4]. Siehe zu Baratov Anmerkung 53 in diesem Kapitel. 71 Der Vortrag Kirovs vom 20. Februar (5. März) 1918 ist enthalten in: Efanov, Lenin i ­Čečeno-­Ingušetija, S. 42 – 48.

Die Bolschewiki im Nordkaukasus und erste Staatsbildungsprojekte

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waren erstmals vertreten, zunächst aber nur in Person des tsche­tschenischen Sozial­ revolutionärs Aslanbek Šeripov. Šeripov, der in der sowjetischen Geschichtsschreibung gemeinhin als „­erster Kommunist“ Tsche­tscheniens gilt,72 stammte, wie etwa auch Tapa Čermoev, aus einer der wenigen altgedienten tsche­tschenischen Offiziersfamilien. Sein Großvater war bereits 1852, kurz nach der Unterwerfung der tsche­tschenischen Gemeinschaften der Ebene, in die Zarenarmee eingetreten. Šeripov selbst durchlief eine welt­liche Ausbildung, tat sich als Publizist, Dichter und Übersetzer hervor. Zunächst unterstützte auch Šeripov den Bund der Bergvölker und die Forderung nach weitgehender Autonomie. Die Unabhängigkeit aber, die der Bund im Frühjahr 1918 anstrebte, ging ihm zu weit; er sah die Zukunft des Nord­kaukasus nur im Rahmen eines reformierten sozialrevolutionären Russland.73 Als flammender Redner und Verteidiger der Sache der nichtrus­sischen Völker an den Tereker Volkskongressen sorgte Šeripov für Aufsehen. Tatsäch­lich war es wohl auch seinem Engagement und Charisma zu verdanken, dass die Bolschewiki im Volkskongress letzt­lich die Anliegen der Bergbevölkerung unterstützten. In seinen Erinnerungen dramatisiert Butaev das Erscheinen der Inguschen und des tsche­tschenischen Vertreters als historischen Moment, denn nun war erstmals eine direkte Beziehung zwischen der Sowjetmacht, die sich im Terek formierte, und diesen beiden Völkern hergestellt: Die Inguschen kamen, ihre „Front war durchbrochen“. Aber die Tsche­tschenen nicht. Sie bildeten noch immer ihre „Republik“, isoliert von allen Seiten. Doch durch die Front und durch die Berge Inguschetiens kam der einzige Vertreter der Tsche­tschenen angereist – Aslanbek Šeripov, der auf der Sitzung lautstark verkündete, dass die Tsche­tschenen den Krieg unter den Nationen stoppen wollten, die Kosaken dies aber verhinderten.74

Šeripov gab an, den Frieden zu wünschen, ging aber davon aus, dass die Sowjetmacht die Landfrage im Interesse der Tsche­tschenen regeln würde: „Das Land sollen diejenigen erhalten, die es bearbeiten,75 ohne Unterschied der Volks- oder Religionszugehörigkeit. Die wichtigste Frage für uns ist die Landfrage und der Rat 72 So etwa in der Beschreibung aus der Großen Sowjetischen Enzyklopädie von 1934: Bolʼšaja sovetskaja ėnciklopedia. Tom 61, Moskva 1934 (erste Ausgabe), S. 534. 73 Reynolds, Native Sons, S. 246. Zu Šeripov siehe die Biographie von: Efrem Ėšba, Aslanbek ­Šeripov. Opyt charakter, ličnosti i dejatelʼ A. Šeripova, v svjazi s narodno-revoluc. dviženiem v Čečne. K desjatiletiju Oktjabrʼskoj revolucii, Groznyj 1929 (zweite, erweiterte Ausgabe). 74 Aufzeichnungen Butaevs, 10. Oktober 1920, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 389 – 390. 75 Damit sprach er vermut­lich die Pachtsituation an. Konkret hieß dies, dass die von den Tsche­tschenen gepachteten Besitzungen der Kosaken in deren faktischen Besitz übergehen sollten.

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der Volkskommissare regelt dies genauso, wie wir wollen. Und nicht nur auf dem Papier, sondern [auch] in der Realität (…).“ 76 An der Sitzung, an der sich gemäß Butaev rund 1000 Delegierte einfanden, wurde formell die Sowjetmacht im Terek ausgerufen und eine Regierung aus Vertretern der verschiedenen Völker gebildet. Das höchste gesetzgebende Organ der ­Republik bildete der rund 60-köpfige Volksrat, in dem nationale Fraktionen zusammen­ gesetzt aus Kosaken, Repräsentanten aus den nichtrus­sisch dominierten Gebieten (nament­lich aus der Kabarda, aus Ossetien, Inguschetien und Tsche­tschenien) sowie ­Russen und andere „Auswärtige“ (inogorodnye) vertreten waren.77 Zum Ver­treter Tsche­tscheniens im Rat wurde Aslanbek Šeripov ernannt. Unmittelbar danach reiste Šeripov nach Tsche­tschenien zurück, um Ende März zusammen mit Taštemir­ ­Ėlʼdarchanov in besagtem tsche­tschenischen Aul Goity nach einer Versammlung mit mehreren Tausend Teilnehmern das sogenannte Gojtinskij Revolutionäre Komitee zu gründen und die Sowjetmacht in Tsche­tschenien auszurufen. Bezeichnend war in ­diesem Zusammenhang, dass sowohl Ėlʼdarchanov als auch Šeripov aus dem kleinen Kreis tsche­tschenischer Sozialrevolutionäre stammten und damit zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit der Tsche­tschenen repräsentierten.78 Genau wie Šeripov war auch Ėlʼdarchanov eine gebildete Person, die zwar nie Šeripovs Charisma hatte, dafür über großes politisches Geschick verfügte und es bereits in der Zarenzeit zu hohen Posten gebracht hatte. Ėlʼdarchanov war der Sohn des Vorstehers (staršina) des Dorfs Gechi im Urus-Martanovskij Bezirk und stammte aus einer wohlhabenden Familie mit großem Landbesitz. Mit sieben Jahren wurde er in die islamische Dorfschule geschickt, danach besuchte er in Groznyj die einzige welt­liche Schule, die auch Angehörigen der nichtrus­sischen Bevölkerung offenstand, und setzte seine Ausbildung in Vladikavkaz und schließ­lich in Tiflis fort, wo er Lehrer wurde. 1893 schloss Ėlʼdarchanov sein Studium ab und unterrichtete zunächst als Volkslehrer in einer Schule für Angehörige der Bergbevöl­kerung in Majkop, ab 1898 in einer solchen in Groznyj. Er sammelte tsche­tschenische Folklore und Märchen, publizierte Beiträge dazu in Sammel­bänden und gab 1911 ein tsche­tschenisches Wörterbuch heraus.79 Ėlʼdarchanov war zudem Mitglied der muslimischen Fraktion des Terek-Gebiets innerhalb der ersten und zweiten Duma (1906 – 1907).80

76 Zitiert aus der Rede Šeripovs an der zweiten Sitzung des Tereker Volkskongresses am 12. März 1918 in Pjatigorsk: Efanov, Lenin i Čečeno-Ingušetija, S. 49. 77 Aufzeichnungen Butaevs, 10. Oktober 1920, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 391. 78 Bugaj u. a., Nacionalʼno-gosudarstvennoe stroitelʼstvo, S. 56. 79 Ibragimova, Čečenskij narod, S. 435, 594, 609. 80 Zu Ėlʼdarchanov siehe die Biographie von: Isa Šaipov, Taštemir Ėlʼdarchanov, Groznyj 1960.

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Die Bolschewiki sympathisierten zwar von Beginn weg mit den Anliegen der nichtrus­sischen Bevölkerungsteile der Region, doch ein eigent­liches Bekenntnis zu den Tsche­tschenen und Inguschen ließen sie sich erst anläss­lich der dritten Sitzung der Völker des Terek, die im April und Mai 1918 in Groznyj stattfand, abringen. Die Warnung des tsche­tschenischen Abgeordneten Šeripov, dass dem Nordkaukasus ein Aufstand einer „Armee landarmer Bergler“ drohe, sollte diesen das Recht auf die Rückgabe von Land verweigert werden, verfehlte unter den vorwiegend rus­sischen Delegierten offenbar ihre Wirkung nicht.81 Die Sitzung in Groznyj sanktionierte im Kern die Übergabe von Land an die Tsche­tschenen und Inguschen.82 Gleichzeitig fiel der Beschluss, eine Reihe von Kosakengemeinschaften aus der Terek-Region auszusiedeln. Damit war bereits in dieser frühesten Phase der sowjetischen Geschichte ein Präzedenzfall für die Deportationen ganzer Volksgruppen geschaffen.83 Die Einheit des Tereker Volksrats war von Beginn an nicht nur aufgrund des schwelenden Konflikts mit den Kosaken bedroht, sondern entlud sich auch an anderen Fronten, so etwa an jener zwischen den Inguschen und den Osseten, wo es im April 1918 erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen in den Siedlungsgebieten entlang einer Linie zwischen Vladikavkaz und Murtazov kam. Butaev sieht es in seinen Aufzeichnungen als besonderes Verdienst der neuen sowjetischen Staatsmacht und des damaligen Vorsitzenden des Rats des Volkskommissariats, Samuil Grigorʼevič Buačidze (Pseudonym Noj, 1882 – 1918),84 an, dass zwischen den beiden Seiten ein Friedensabkommen ausgehandelt und der Konflikt vorübergehend entschärft werden konnte.85 Die Bolschewiki machten sich keine Illusionen darüber, weshalb die nicht­ russischen Völker die sowjetische Sache mehrheit­lich unterstützten. Der georgisch-­ stämmige Bolschewik Grigorij (Sergo) Konstantinovič Ordžonikidze (1886 – 1937), der im April 1918 zum Kommissar mit besonderen Befugnissen (Vremennyj ­črezvyčajnyj komissar) für den Süden Russlands ernannt worden war,86 erklärte in einer Rede vor dem Büro der Bergfraktion der Tereker Volksversammlung im Dezember 1918: „Ich verstehe natür­lich, dass die Inguschen die Sowjetmacht nicht deshalb unterstützen, weil der Ordžonikidze schöne Augen hat, die er übrigens gar 81 Sʼʼezdy narodov Tereka (Band 1), S. 334. 82 Dž. Dž. Gakaev, Očerki političeskoj istorii Čečni (xx vek). V dvuch častjach, Moskva 1997, S. 60 – 63; S. S. Chromov, Graždanskaja vojna i voennaja intervencija v SSSR. Ėnciklopedija, Moskva 1983, S. 584. 83 Poljan, Vajnachi, S. 266. 84 Eine Kurzbiographie Buačidzes findet sich in: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 471. 85 Aufzeichnungen Butaevs, 10. Oktober 1920, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 392. 86 Dekret des Rats der Volkskommissare über die Einrichtung eines Kommissariats mit besonderen Befugnissen des süd­lichen Rajons, 9. April 1918, in: Efanov, Lenin i Čečeno-Ingušetija, S. 50 – 51.

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nicht hat, sondern wegen demjenigen Land, das die Bolschewiki dem inguschischen Volk versprochen und übergeben haben.“ 87 Für den Entscheid, sich letzt­lich auf die Seite der Tsche­tschenen und Inguschen zu stellen, mögen durchaus auch persön­liche Sympathien einzelner hochrangiger Bolschewiki eine Rolle gespielt haben. Gleichzeitig entsprach ein solcher Schritt auch einem ideolo­gischen Credo, denn letzt­lich sah sich die Sowjetmacht als Befreierin und Beschützerin der „unterdrückten Völker“ des Zarenreichs, wobei die Kosaken als dessen vormalige Stütze nicht in diese Kategorie fielen. Ausschlaggebend waren am Ende aber pragmatische Überlegungen: Es galt, sich vor dem Hintergrund wachsender militärischer Bedrohung die nichtrussichen Völker nicht zum Feind zu machen. Denn während der Tereker Kongress tagte, gelang es der von General Denikin angeführten Freiwilligenarmee, die sich Ende 1917 im Don formiert hatte, die dortige Sowjetmacht mithilfe der Don-Kosaken zu stürzen. Auf ihrem Weg Richtung Kuban und Terek schlossen sich der Truppe weitere Kosakenformationen an, sodass die Freiwilligenarmee zu einer formidablen Streitmacht heranwuchs, der die Bolschewiki vorerst nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten.88 Gleichzeitig sahen sich die Bolschewiki in den nun ebenfalls unabhängigen südkauka­sischen Staaten der Gefahr einer Invasion deutscher Truppen ausgesetzt. Die Deutschen hatten sich im Mai 1918 in Georgien festgesetzt, wo sie als Schutzmacht der menschewistisch orientierten Regierung fungierten. Daneben suchte vor allem das Osmanische Reich seine Machtansprüche im Kaukasus durchzusetzen. So unterstützte Istanbul in Aserbaidschan die pro-türkische Partei des Musavat. Im Juni 1918 begann ein von General Nuri Pascha (auch Nuri Killigil, 1889 – 1949) angeführter osmanisch-aserbaidschanischer Vorstoß nach Baku, um die von Bolschewiki dominierte Sowjetregierung (die „Kommune von Baku“) zu stürzen. Sodann stieß ein osmanisches Expeditionskorps, das 500 Soldaten und 77 Offiziere einschloss, nach Dagestan vor, das vom tscherkes­sisch-stämmigen Major der osmanischen Armee, Ismail Hakki Berkok (1890 – 1954), angeführt wurde. Auch bei den meisten Soldaten und Offizieren handelte es sich um Nachkommen nordkauka­sischer Emigranten, die nach Abschluss des Grossen Kaukasuskriegs ins Osmanische Reich ausgewandert waren. Ismail Hakki Berkok wurde die Aufgabe übertragen, Angehörige nichtrus­sischer Bevölkerungsgruppen für seine Armee zu rekrutieren und auf den bevorstehenden Krieg mit den Bolschewiki vorzubereiten. Einem weiteren Tscherkessen, der in der osmanischen Armee diente, Generalmajor Jusuf Izzet

87 Zitiert bei: Bugaj u. a., Nacionalʼno-gosudarstvennoe stroitelʼstvo, S. 57. 88 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 2, S. 6. Zur weißen Bewegung in Südrussland: R. G. Gagkuev, Beloe dviženie na juge Rossii. Voennoe sotrudničestvo, istočniki komplektovanija, socialʼnyj sostav. 1917 – 1920 gg., Moskva 2012, hier S. 51 – 114.

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Pascha (1876 – 1922), wurde im August das Oberkommando über die Streitkräfte im Nordkaukasus übertragen.89 In dieser Situation war es wiederum Šeripov, der gegenüber den Bolschewiki den Umstand dieser wachsenden äußeren Bedrohung rhetorisch viel geschickter als seine kosakischen Widersacher auszuspielen wusste. Während der dritten Sitzung des Tereker Volkskongresses im April/Mai 1918, nachdem er noch einmal ausführ­ lich über den „heroischen“ Widerstand der Völker des Nordkaukasus gegen die zaristischen Generäle im 19. Jahrhundert gesprochen hatte, um so eine wirksame Drohkulisse aufzubauen, appellierte Šeripov an die Anwesenden im Saal: „[G]ebt uns eine Heimat und ihr werdet in ihr würdige Genossen vorfinden, die ehr­lich und selbstaufopfernd mit euch in den Kampf gegen jeden Einfall [von außen] ziehen.“ 90 Aus Protest gegen die Landpolitik der Bolschewiki erhoben sich Ende Juli 1918 Teile der Terek-Kosaken unter der Führung des ossetisch-stämmigen Generals Georgij Fëdorovič Bičerachov (1878 – 1920)91 in einem großflächigen bewaffneten Aufstand, dem sich gegen 12.000 Kämpfer anschlossen.92 Als Menschewik bekämpfte Bičerachov nicht die Sowjetmacht an sich – er selbst gehörte schließ­ lich zu den Hauptinitianten des ersten Tereker Volkskongresses –, vielmehr lehnte er die bolschewistische Politik gegenüber den Kosaken ab. Seinem Aufstand sollte allerdings kein großer Erfolg beschieden sein. Zwar gelang es seinen schlecht orga­ nisierten Kosakenverbänden im Verbund mit ossetischen Einheiten, die Bolschewiki im August 1918 kurzfristig aus Vladikavkaz zu vertreiben. Doch bereits eine gute Woche später eroberten diese die Stadt zusammen mit inguschischen Truppen zurück. War beim Vorstoß von Bičerachov die inguschische Bevölkerung die Hauptleid­ tragende, so kam es nach der Rückeroberung von Vladikavkaz zu pogromartigen Übergriffen auf die ossetische Bevölkerung und zur Erschießung ossetischer Offiziere. Außerdem griffen Inguschen erneut Kosakensiedlungen an und vertrieben deren Einwohner.93 Nicht nur die länd­liche kosakische Bevölkerung litt unter den schreck­lichen Folgen dieser kriegerischen Auseinandersetzungen, auch die Hauptstadt des Nordkaukasuskreises, Vladikavkaz, verwandelte sich im Sommer 1918 in eine „tote Stadt, die zu einem Fünftel zerstört wurde“, wie der Kosakenoffizier Baratov in seinen Aufzeichnungen schreibt.94

89 Reynolds, Shattering Empires, S. 237. Weiterführend: V. V. Galin, Intervencija i Graždanskaja Vojna, Moskva 2004. 90 Zitiert aus der Rede Šeripovs in: Sʼʼezdy narodov Tereka (Band 1), S. 334. 91 Eine Kurzbiographie Georgij Bičerachovs findet sich in: Muzaev, Sojuz gorcev, S. 470. 92 R. T. Džambulatov, Graždanskaja vojna v Terskoj oblasti v 1918 – načale 1919 g., in: Voprosy istorii (2008) H. 12, S. 78 – 90, hier S. 81. 93 Poljan, Vajnachi, S. 368. 94 Baratov, Kratkij očerk, in: Hoover Institution Archives, Baratov Papers, Box 4, Folder 1 [S. 6].

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Erfolglos blieb auch Bičerachovs Versuch, Groznyj einzunehmen, das er rund drei Monate lang belagern ließ. Die Stadt vermochte sich nicht zuletzt deshalb seines Ansturms zu erwehren, weil ihr außer den tsche­tschenischen Truppen von Aslanbek Šeripov und Kräften der Roten Armee auch starke Kosakenverbände aus dem Sunžeskij-Rajon zu Hilfe kamen – ein Indiz dafür, dass auch die Kosaken zu keiner Zeit als einheit­liche Front in Erscheinung traten.95 Verantwort­lich für die Verteidigung Groznyjs war der Bolschewik Nikolaj Fёdorovič Gikalo (1897 – 1938), ein gebürtiger Russe, der in Groznyi aufgewachsen war und als Anführer einer Abteilung der Roten Armee eine wichtige Rolle im nordkauka­sischen Bürgerkrieg spielen sollte.96 Nach der Niederlage seiner Kosaken zog Bičerachov mit Teilen seiner Truppen weiter Richtung Dagestan, wo er sich mit dem Heer seines Bruders, General Lazarʼ Fёdorovič Bičerachovs (1882 – 1952),97 vereinigte, der im Sommer 1918 von Baku Richtung Dagestan vorgestoßen war und mithilfe der Briten Derbent und Petrovsk-Port eingenommen hatte.98 Vor dem Hintergrund des Kampfs gegen die Bolschewiki suchte Lazarʼ ­Bičerachov nicht nur die Verbindung zu General Denikin, der damals mit seinen Armeeteilen noch immer im Gebiet des Kuban stationiert war, sondern auch die An­­näherung an Graf Nuch Bek Tarkovskij, der sich mit seinen Reitertruppen in Temir-Chan-Šura aufhielt.99 Während Lazarʼ Bičerachov eine Zusammenarbeit mit den Osmanen ablehnte, war er pragmatisch genug, punktuell auch zu Übereinkünften mit den in den Städten Dagestans agierenden Bolschewiki zu kommen, um letzt­lich aber mit diesen in offenen Konflikt zu geraten.100 Sowohl Bičerachov als auch Tarkovskij scheuten zudem nicht vor einer Zusammenarbeit mit den in den dagestanischen und tsche­tschenischen Bergen operierenden Verbänden zurück, die von Männern wie Gocinskij und Usun-Chadži angeführt wurden. Diese galten jedoch als wenig zuverlässige Partner, und externe Beobachter bekundeten Mühe, ihre Absichten zu verstehen. Aufschlussreich sind an dieser Stelle wiederum die Einschätzungen Boris Kuznecovs, der den Kriegsschauplatz Dagestan 1918 als Direktbeteiligter erlebte:

95 Chromov, Graždanskaja vojna, S. 67, 202, 401, 584. 96 Für eine kurze Biographie Gikalos: O. M. Morozova, Nikolaj Fëdorovič Gikalo, in: Voprosy istorii (2011) H. 9, S. 37 – 57. 97 Relativ ausführ­liche biographische Angaben zu General Lazarʼ F. Bičerachov, die sich u. a. auf An­ gaben seiner Frau stützen, finden sich bei: Kuznecov, 1918 god, S. 63 – 75. Für die erste ­um­fassende Biographie zu Lazarʼ Bičerachov: A. Ju. Bezugolʼnyj, General Bičerachov i ego ­Kavkazskaja armija, 1917 – 1919, Moskva 2011. 98 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii 1917 – 1923. Ėnciklopedija v četyrëch tomach. Tom 1, Moskva 2008, S. 184. 99 Kuznecov, 1918 god, S. 39. 100 Marshall, Caucasus, S. 97 ff.

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In ­diesem verlorenen Kampf hatten wir unglück­licherweise zwei „Verbündete“, die uns wie unnötiger Ballast auf den Schultern lagen: Der erste war Nažmuddin ­Gocinskij, der sich selbst Imam Dagestans nennt, [das heißt] den höchsten geist­lichen Führer der Muslime. Ich habe bereits früher von ihm als einem erbitterten Gegner der Sozia­listen gesprochen, aber tatsäch­lich war er gegen all diejenigen, die ihn nicht anerkannten. Er selbst war ein Mullah aus dem Aul Gocatlʼ, unglaub­lich dickleibig, immer auf dem Pferd, umgeben von seinen Anhängern mit den grünen Zeichen ­­ des „­Gazawat“. Er selbst beteiligte sich an keinerlei Kampfhandlungen, dafür verlangsamte er den Vormarsch unserer Kolonne durch seine häufigen Aufrufe zum Gebet stark. Der zweite „Verbündete“ war Usun-Chadži, ein kleingewachsener Tsche­tschene 101 (darum nannte man ihn klein – „usun“), der oft in Mekka war und seinen Krieg unter dem Banner des „Gazawat“ nicht so sehr gegen die Bolschewiki führte, von denen er keine Ahnung hatte, sondern überhaupt gegen alle „Ungläubigen“. Auch er nahm an ­Kampfhandlungen selbst nicht teil, sondern hielt sich irgendwo in Tsche­tschenien auf. Die einzige Person, die uns beim Kampf gegen die Bolschewiki hätte hilfreich sein können, war Ali ­Mitaev, ein Tsche­tschene, der großen Einfluss in Tsche­tschenien hatte; allerdings waren die Tsche­tschenen zu dieser Zeit mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt: Sie rechneten mit den Terek-Kosaken ab und plünderten alle aus, die sie nicht schon ausgeplündert hatten.102

Die Bolschewiki suchten ihre Kräfte angesichts des Drucks von allen Seiten auch dadurch zu stärken, dass sie im Juli 1918 in Ekaterinograd die Nordkauka­sische Sowjetrepublik (Severo-Kavkazskaja Sovetskaja Respublika) ausriefen, w ­ elche die verschiedenen bestehenden Sowjetrepubliken im Nordkaukasus in eine administrative Einheit zusammenfasste.103 Die Nordkaukasus-Republik hatte allerdings nur wenige Monate Bestand. Nachdem Denikins Freiwilligenarmee die Sowjetmacht im Don bis zum Juni 1918 eliminiert hatte, fielen unter dem Ansturm seiner Truppen bis im September 1918 auch ihre Vertreter im Kuban, in Stavropolʼ und in Černomorsk. Anfang 1919 gelang es der Freiwilligenarmee, den ­gesamten Nordkaukasus vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer zu erobern.104 Doch auch die Herrschaft General Denikins im Nordkaukasus sollte schwach und nur von kurzer Dauer sein.

101 Hier irrt der Autor. Usun-Chadži stammte wie Gocinskij aus Dagestan, war aber im Bürgerkrieg überwiegend in Tsche­tschenien aktiv. 102 Kuznecov, 1918 god, S. 31 – 32. 103 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 4, S. 62 – 63. 104 Ebd.

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6. 5   D e r Nor d k a u k a s u s n a ch d e r A n k u n f t D e n i k i n s Der Nordkaukasus schien mit der Ankunft Denikins für die Bolschewiki zunächst verloren, denn die Machtverhältnisse hatten sich mit dem Eintreffen der Freiwilligen­ armee erneut dramatisch verschoben. Allerdings darf die Eroberung des Nordkaukasus durch die Truppen Denikins nicht als Ablösung der Herrschaft der Bolschewiki verstanden werden. Diese stellten 1918 zwar den wichtigsten Machtfaktor in der Region dar, doch übten sie zu keinem Zeitpunkt die alleinige Herrschaft im Nordkaukasus aus. Tatsäch­lich waren die Fronten und Kräfteverhältnisse auf dem nordkauka­sischen Bürgerkriegsschauplatz in hohem Maße verworren, und auch für Direktbeteiligte war es oft schwierig, „sich zu orientieren und Freund von Feind zu unterscheiden“, wie Kuznecov in seinen Erinnerungen festhält.105 Die Notlage ermög­lichte Allianzen und Kompromisse auch unter Parteien, die durch nichts als einen gemeinsamen äußeren Feind verbunden waren. So erschien den Bolschewiki Ende 1918 ihre Lage angesichts der vorrückenden weißen ­Truppen derart aussichtslos, dass sie einen Kompromiss mit der verhassten Führung der Bergrepublik ins Auge fassten. Im November 1918 trafen zwei hochrangige Kommissare der Sowjetrepublik Terek zu Verhandlungen mit der Bergregierung in ­Tiflis ein. Die Forderungen, ­welche die Bergregierung den beiden Delegierten für ein Zusammengehen stellten – die „absolute Ablehnung der Sowjetmacht“ und die Anerkennung der Unabhängigkeit der Bergrepublik –, waren für diese aber un­­ annehmbar und machten klar, dass die Bergregierung mit den Bolschewiki nicht mehr als ernstzunehmender Kraft im Kaukasus rechnete und sie als Bündnispartner nicht in Betracht zog.106 Im Nachhinein sollte sich das allerdings als folgenschwere Fehleinschätzung erweisen, denn die Bergregierung blieb am Ende ohne einen einzigen starken Bündnispartner. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass das Osmanische Reich an der internationalen Konferenz von Batumi die Unabhängigkeit der Berg­ republik anerkannt und deren Regierung militärische Unterstützung versprochen hatte. Tatsäch­lich sollte es der Bergrepublik mithilfe des osmanischen Militärs gelingen, sich im Herbst 1918 erneut im dagestanischen Temir-Chan-Šura festzusetzen. Die Osmanen stützten dabei Tarkovskij, den sie in Dagestan als Vertreter der Bergregierung einsetzten. Doch die Unterstützung der Bergregierung durch Istanbul entfiel nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg. Weil die kämpfende osmanische Truppe im Kaukasus zunächst nicht wusste, dass die Mittelmächte zu ­diesem Zeitpunkt bereits kapituliert hatten und die Pforte

105 Kuznecov, 1918 god, S. 32. 106 Dzidzoev, Ot sojuza, S. 37 – 38, 176.

Der Nordkaukasus nach der Ankunft Denikins

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Waffenstillstandsverhandlungen mit den Briten führte, errangen die Truppen Istanbuls zwar noch Anfang November 1918 einen wichtigen Sieg über Lazarʼ Bičerachov, der sich zuvor mit seinen Verbänden in der kaspischen Hafenstadt Petrovsk-Port festgesetzt hatte. Kurz nach der Eroberung von Petrovsk-Port zog Istanbul jedoch den größten Teil seiner Truppen aus dem Nordkaukasus ab. Bičerachov dagegen marschierte mit seinen verbliebenen Kosaken und mit britischen Einheiten Richtung Baku, wo die Briten die Kontrolle über die Stadt übernahmen, als diese von den osmanischen Truppen evakuiert worden war. Die Briten blieben zwar noch bis August 1919 in Aserbaidschan stationiert, anerkannten aber die Unabhängigkeit der Republik und unterstützten die dortige Regierung.107 Dabei sollten in der Folge jedoch nicht die Bolschewiki der Bergregierung den Todesstoß versetzen, sondern General Denikin. Bis zur Eroberung des N ­ ordkaukasus durch dessen Freiwilligenarmee galten beide Seiten als natür­liche Verbündete im Kampf gegen den Bolschewismus. Nach dem Rückzug der Osmanen erhielt die Berg­regierung militärische Rückendeckung von den Briten, die fortan die starke Kraft im Kaukasus waren. Nachdem es Denikins Truppen bis Anfang 1919 ­gelungen war, den Nordkaukasus zu erobern, wurde jedoch schnell klar, dass die weißen Generäle kein Interesse daran hatten, in irgendeiner Form mit einer unabhängigen Berg­regierung zusammenzuarbeiten. Die Briten, die im Kampf gegen die Bolschewiki auf Denikin setzten, waren in der Folge vorsichtig genug, dieser Politik nicht offen entgegenzutreten, und drängten den Repräsentanten der Bergregierung auf, eine Einigung mit Denikin zu erzielen. Die Frage der Anerkennung der Berg­republik sollte verschoben und erst an der Pariser Friedenskonferenz erörtert werden.108 Der Konflikt zwischen Denikin und der Bergregierung eskalierte jedoch schnell. Im Februar 1919 schickte General Pavel Nikolaevič Šatilov (1881 – 1962), der Denikins Armee im Kaukasus kommandierte, ein Schreiben an den neu ernannten Präsidenten der Bergrepublik, Pšemacho Kocev, in dem er diesen ultimativ auf­forderte, sich zu unterwerfen. Im Gegenzug bot er den nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus im Rahmen eines gemeinsamen Staates eine Selbstverwaltung an, die im Detail allerdings noch auszuarbeiten war.109 Als die Bergregierung im folgenden Monat eine hochrangige Delegation nach Ekaterinograd entsandte, um direkte Gespräche mit General Denikin über eine Allianz zu führen, lehnte es dieser ab, die Delegierten zu empfangen.110 Für diese kam das Verhalten des Generals einer Beleidigung gleich, und statt sich mit General Vladimir ­Platonovič Ljachov (1869 – 1919) zu treffen (der später zum Hauptkommandierenden des Terek-dagestanischen Kreises ernannt 107 Reynolds, Shattering Empires, S. 250 – 251; Marshall, Caucasus, S. 102 – 103. 108 Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 1, S. 34. 109 Kakagasanov u. a. (Hg.), Sojuz obʼʼedinёnnych gorcev, S. 11. 110 Ebd., S. 12.

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wurde), zogen es die Gesandten der Bergregierung vor, unverrichteter Dinge nach Temir-Chan-Šura zurückzukehren.111 Danach zeigten die weißen Generäle im Umgang mit den nichtrus­sischen Völkern wenig Geduld. Während es ihnen gelang, sowohl den nordwest­lichen Teil des Nordkaukasus als auch die Kabarda und Nordossetien relativ schnell unter ihre Kontrolle zu bringen, stießen sie beim Vormarsch Richtung Inguschetien und Tsche­tschenien zunächst auf hartnäckigen Widerstand. Bei ihrem Feldzug bedienten sie sich einer Taktik, die bereits General Ermolov im 19. Jahrhundert angewendet hatte, indem sie im Zuge von „Strafaktionen“ ganze Aule niederbrannten, um den Widerstand der Bevölkerung zu brechen.112 Darüber hinaus bestand ein wichtiger Grund für das harsche Vorgehen der Freiwilligenarmee darin, dass sich nament­ lich die Tsche­tschenen in den Berggebieten weigerten, die Rotarmisten auszuliefern, die sich in ihren Aulen versteckt hielten – wogegen die Tsche­tschenen der Ebene sich eher kooperativ verhielten.113 Dabei profitierten die Bolschewiki aber auch in den Berggebieten offenbar nicht notwendigerweise von den Sympathien der einheimischen Bevölkerung, sondern der Tradition der Gastfreundschaft, die eine Auslieferung untersagte.114 Mehr als alles andere war es aber die brutale Kriegführung der Weißen gegen die nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus, die alle Parteien vereinigte. So gibt General Denikin in seinen Memoiren an, dass allein die Militäraktion, die General Daniil Pavlovič Dracenko (*1876, Todesjahr unbekannt) Mitte März 1919 gegen tsche­tschenische Siedlungen durchführen ließ, unter den Tsche­tschenen mindestens 1000 Tote gefordert habe.115 Im Fall der Siedlung Alchan-Jurt setzte die Freiwilligenarmee offenbar auch schwere Artillerie ein, als sie das Dorf drei Tage lang beschießen ließ.116 Doch ­solche Strafaktionen zeigten nur scheinbar Wirkung. So gaben sich die Tsche­tschenen danach anläss­lich einer großen Versammlung in Urus-Martan zwar 111 Die Delegierten der Bergregierung taten ihren Unmut über den Vorfall in einem Schreiben (­Zajavlenie) an Denikin kund, in dem sie auf die mög­lichen negativen Konsequenzen seines Handelns hinweisen. Das zweiseitige, undatierte Dokument findet sich in: Hoover Institution Archives, ­Baratov Papers, Box 4, Folder 1 [ohne Angaben von Seitenzahlen]. 112 Poljan, Vajnachi v ėpochu rossijskoj mežduvlastija, S. 274 – 275. 113 Dies geht aus dem Bericht von General Ljachov vom 22. März 1919 hervor, enthalten in: V. Ž. Cvetkov, … Dobrovolʼskaja armija idët na Ingušetiju ne s mirom, a s vojnoj, in: Voenno-istoričeskij žurnal (1999) H. 2, S. 52 – 61, hier S. 53. 114 Aleksej Kosterin, 1919 – 1920. V gorach Kavkaza. Istoričeskij očerk Gorskogo revoljucionnogo dviženija, Vladikavkaz 1921, S. 16 – 17. 115 A. I. Denikin, Očerki Russkoj Smuty. Tomʼ četvёrtyj. Vooružënnyja sily Juga Rossii, Berlin 1925, S. 126. Die hohen Opferzahlen bestätigt auch der Bericht des nordkauka­sischen Armeestabs der Freiwilligenarmee über die Gefechte bei Alchan-Jurt und Gojty vom 19. März 1919, enthalten in: Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 1, S. 39. 116 Kosterin, V gorach Kavkaza, S. 23.

Der Nordkaukasus nach der Ankunft Denikins

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unterwürfig und erklärten sich in Anwesenheit Denikins bereit, eine tsche­tschenische Division und eine inguschische Brigade zu bilden und ihm zur Verfügung zu stellen. In den Reihen der Freiwilligenarmee kämpften laut Angaben Denikins zu d­ iesem Zeitpunkt zwischen 3000 und 4000 Angehörige nichtrus­sischer Völker, unter ihnen auch Tsche­tschenen. Doch zur Bildung einer eigenständigen tsche­tschenischen oder inguschischen Einheit als festen Bestandteil der Freiwilligenarmee sollte es nie kommen.117 Wie andere rus­sische Generäle vor ihm schätzte auch Denikin die „Unterwerfung“ der Tsche­tschenen falsch ein. Denn dies bedeute noch lange nicht, dass sich die Bevölkerung nun als Partner der Weißen sah. Wie er später in seinen Memoiren feststellt, hätten die Tsche­tschenen damals weder ihren eigenen Medžlis noch der Freiwilligenarmee vertraut, sondern seien „nicht über die konkreten Interessen ihrer jeweiligen Aule hinaus[gegangen]“.118 Zur gleichen Zeit, als Denikin an die Unterwerfung der Tsche­tschenen und Inguschen ging, formierte sich der Widerstand in den tsche­tschenischen und da­ gestanischen Berggebieten, die sich der Kontrolle der Freiwilligenarmee entzogen hatten und wo sich noch immer kleine Gruppen von bolschewistischen K ­ ämpfern versteckt hielten – während andere Bolschewiki sich über die Grenze nach Georgien zurückgezogen hatten. Auch rissen die Beziehungen der einzelnen Völker zur Bergregierung von Pšemacho Kocev nie gänz­lich ab. Die Bergregierung verfügte zwar selbst über sehr geringe militärische Mittel und hatte gerade bei den Tsche­ tschenen und Inguschen ihr Ansehen zum Teil deshalb verspielt, weil sie sich mit den Kosaken zusammengetan hatte. Als Persön­lichkeit hatten Kocev und andere Mitglieder der Bergregierung bei der einheimischen Bevölkerung aber genügend Autorität, um etwa auch an Versammlungen in Tsche­tschenien offen gegen die Besatzung durch die Weißen zu agitieren.119 Im Vorfeld der Militär­aktion gegen tsche­tschenische Siedlungen Mitte März 1919 war es Kocev, der als Vertreter der Bergregierung Verhandlungen mit dem Generalstab der Freiwilligen­armee führte, um diese davon abzubringen, einen Angriff auf die Tsche­tschenen zu unternehmen.120 Im Mai 1919 kollabierte die Bergregierung jedoch endgültig. Nachdem ­Denikins Freiwilligenarmee Petrovsk-Port und Derbent erobert hatte, ohne auf großen Widerstand zu stoßen, kam es in Temir Chan-Šura zum Machtwechsel. Der

117 Denikin, Očerki, S. 116. 118 Ebd., S. 126. 119 Siehe dazu den Bericht des stellvertretenden Oberkommandierenden der Weißen Armee im Terek-­ dagestanischen Kreis, P. A. Tomilov, und des Stabsführers der Armee, E. V. Maslovskij, an das Armeehauptquartier (A. M. Dragomirov) vom 22. März 1919, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 309 – 312, hier S. 310. 120 Siehe die entsprechenden Dokumente in: Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 1, S. 27 – 38.

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awarisch-stämmige Generalmajor der ehemaligen Zarenarmee, Mikaėlʼ Magometič Chalilov (1869 – ca. 1921), der zuvor Mitglied des Exekutivkomitees des Bergbundes war, wurde vom Generalstab der Freiwilligenarmee zum Befehlshaber (pravitelʼ) mit diktatorischen Vollmachten für Dagestan ernannt.121 Die Truppen um Tarkovskij zogen sich in die Berge zurück und die Regierung Kocev emigrierte erneut ins Exil nach Tiflis, wo sie für die Entwicklung im Nordkaukasus keine nennenswerte Rolle mehr spielen sollte.122 Einen Rückschlag erlitten auch die Bolschewiki in Dagestan, wo die Mehrheit der Mitglieder des dagestanischen Gebietskomitees der Kommunistischen Partei (Dagestanskij obkom RKP (b)) im Mai 1919 verhaftet und später erschossen wurde.123 Dass es den Bolschewiki und ihren Verbündeten bereits innert weniger als zwölf Monaten gelingen sollte, die Weißen aus dem Nordkaukasus wieder zu vertreiben, hing stark mit der Entwicklung auf dem südrus­sischen Kriegsschauplatz zu­­­sammen. Dort begannen sich die Kräfteverhältnisse ab Herbst 1919 zu Ungunsten der ­Weißen zu verschieben, nachdem sie nach erfolgreichen Vorstößen in zentral­­­­­­­rus­sisches Gebiet empfind­liche Niederlagen gegen die Rote Armee hatten einstecken müssen. Danach wurde die Freiwilligenarmee auch durch Unruhen in den eigenen Reihen geschwächt. Dabei kam es insbesondere mit den Führern der Don-Kosaken zum Zerwürfnis, die auf eine größere Autonomie ihrer Gebiete drängten.124 Folgenschwer für die Entwicklung im Nordkaukasus war aber auch die Position, ­welche die Führungsspitze der Weißen Armee gegenüber der nichtrus­sischen Bevölkerung einnahm. General Denikin war überzeugt, dass „nur eine starke ­rus­sische Macht“ imstande sein würde, die Probleme der Region zu lösen, die nicht nur von Spannungen unter den Völkern, sondern auch von „panislamistischen und sepa­ ratistischen Tendenzen“ geprägt gewesen seien, wie er in seinen Memoiren festhält.125 Auch zeitgenös­sischen kosakischen Beobachtern wie etwa Nikolaj Baratov war klar, dass diese Politik in die Sackgasse führen musste: Denikins Haltung erschien den Nichtrussen als Versuch, das ihnen verhasste alte Regime wiederherzustellen, was nur Ablehnung hervorrufen konnte.126

121 Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 2, S. 61. 122 Kakagasanov u. a. (Hg.), Sojuz obʼʼedinёnnych gorcev, S. 13 – 14; Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 1, S. 494 – 495. 123 Dies geht aus dem Bericht des Oberkommandierenden der Weißen Armee im Terek-dagesta­ nischen Kreis, General E. V. Maslovskij, hervor, in dem dieser über die Veränderung der Situation im Terek-dagestanischen Kreis und in Tsche­tschenien im Zeitraum 1.–15. Mai 1919 berichtet; der Bericht wurde vor dem 27. Mai 1919 verfasst und ist publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 335 – 340, hier S. 337; Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 1, S. 494. 124 Denikin, Očerki, S. 119; Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 1, S. 537 – 538. 125 Denikin, Očerki, S. 114. 126 Baratov, Kratkij očerk, in: Hoover Institution Archives, Baratov Papers, Box 4, Folder 1 [S. 7].

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Die Bemühungen der weißen Führungspitze, nach ihren Eroberungszügen gegen Tsche­tschenien die Sympathien der Bevölkerung zu gewinnen, kamen zu spät und waren vergeb­lich. So versprach General Ljachov in einem Appell „an das tsche­ tschenische Volk“ im Frühjahr 1919 den Menschen die innere Selbstverwaltung und die Respektierung ihrer Religion. Er versicherte, dass es nicht stimmen würde, dass die Freiwilligenarmee darauf ziele, „das alte Regime“ wiederherzustellen „und [die Tsche­tschenen] den Kosaken“ zu unterstellen. Die Konfrontation mit den Tsche­ tschenen, die bei den Kämpfen Mitte März 1919 eine hohe Zahl von Opfern gefordert und große Zerstörung verursacht hatte, nannte er das Resultat eines „schlich­ ten Missverständnisses“, das daraus entstanden sei, dass die Tsche­tschenen über die tatsäch­lichen Absichten der Freiwilligenarmee falsch informiert gewesen seien. Um die einzelnen Völker von den wohlwollenden Absichten der Freiwilligenarmee zu überzeugen, präsentierte Ljachov eine Verwaltungsstruktur, die in jedem Bezirk die Leitung durch einen Angehörigen aus dem jeweiligen Volk vorsah. Auch der Gouverneur des Terek-dagestanischen Kreises sollte ein Kaukasier sein und von einem nationalen Kongress der Völker gewählt werden.127 Für Tsche­tschenien ernannte Ljachov den erfahrenen tsche­tschenisch-stämmigen General der Artillerie, Ėris Chan Sultan Girej Aliev (*1855, Todesjahr unbekannt).128 Dieser sollte als Befehlshaber die Geschäfte so lange führen, wie er vom Volk nicht durch die Wahl einer anderen Person ersetzt wurde. Die einzige Auflage bestand darin, dass der künftige Verwalter ebenfalls ein Armeeangehöriger in einem höheren Rang sein musste.129 Aus der Sicht der Tschetschenen musste dies allerdings insofern zynisch klingen, als der Führungsstab Denikins bis zu ­diesem Zeitpunkt jeg­liche Autonomieforderungen abgelehnt hatte und in der Praxis nicht zögerte, zu äußersten Mitteln der Gewalt zu greifen, wenn sich eine Gemeinschaft nicht unterwerfen wollte. Ganz anders traten die Bolschewiki auf. Die bolschewistische Führungsriege war im Kern zwar ebenfalls zentralistisch orientiert und wollte einen weiteren Zerfall des ehemaligen Imperiums mit allen Kräften verhindern. Dies zeigte sich im Nordkaukasus etwa darin, dass die sowjetische Regierung die Unabhängigkeitserklärung der Bergregierung vom 11. Mai 1918 mit dem Verweis darauf, dass dies nicht „den Willen der breiten Volksmassen“ ausdrücken würde, aufs Schärfste verurteilte.130 Im Unterschied zu den weißen Generälen machten sich die Bolschewiki auf der deklarativen Ebene jedoch bereits von Beginn weg zu ausdrück­lichen Verfechtern der Rechte der Völker auf Selbstbestimmung und explizit auch zu Beschützern 127 Der Appell Ljachovs an das tsche­tschenische Volk ist publiziert in: Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 1, S. 56 – 57. 128 Eine Kurzbiographie Alievs findet sich in: Ebd., S. 61. 129 Appell Ljachovs an das tsche­tschenische Volk: Ebd., S. 56 – 57. 130 Dzidzoev, Ot sojuza, S. 30.

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der muslimischen Völker an der süd­lichen Peripherie. So riefen Lenin und Stalin in ihrer Botschaft „An die werktätigen Muslime Russlands und des Ostens“ vom 20. November (3. Dezember) 1917 die Völker – darunter nament­lich auch „die Tsche­tschenen und die Bergbewohner des Kaukasus“ – dazu auf, sich das Recht zu nehmen, ihre „Überzeugungen und Bräuche, ihre nationalen und kulturellen In­­ stitutionen (…) frei und ungestört“ auszuüben, nachdem ihnen dies in der Zarenzeit verboten gewesen sei.131 Nebst diesen rhetorischen Unterschieden war es aber letzt­lich die politische Praxis, die aus Sicht der Bevölkerung entscheidend war. Die Rote Armee hatte sich gegenüber den Tsche­tschenen bis zu d ­ iesem Zeitpunkt keiner Verbrechen schuldig gemacht – nicht wie die Freiwilligenarmee mit ihren Aktionen gegen tsche­tschenische Aule Mitte März 1919. Mehr noch: Die Führung der Freiwilligen­ armee machte auch in der Folge und trotz der Autonomieversprechungen Ljachovs keine Anstalten, von ihrer vormaligen Politik der verbrannten Erde abzuweichen. Verantwort­lich dafür zeichnete sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 ins­besondere General Ivan Georgievič Ėrdeli (1870 – 1939), der das Oberkommando der Streitkräfte der Freiwilligenarmee im Terek-dagestanischen Kreis im Juli 1919 übernommen hatte, nachdem General Ljachov einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war.132 Aus Protest gegen die massive Gewaltpolitik der Freiwilligenarmee, aber auch weil er die Gegenaktionen der Tsche­tschenen verurteilte, trat der noch von Ljachov eingesetzte Machthaber Tsche­tscheniens, General Aliev, im November desselben Jahres von seinem Posten zurück.133 Während viele somit tatsäch­lich dachten, die Bolschewiki wären aufrichtig um die Anliegen der Völker bemüht, machten sich die weißen Generäle aufgrund ihrer Vorgehensweise bei der Bevölkerung derart verhasst, dass schließ­lich sogar dort militärische Allianzen mög­lich wurden, wo ­solche vorher undenkbar erschienen: nament­lich zwischen den Bolschewiki und der geist­lichen Führerschaft Tsche­ tscheniens und Dagestans. Aus den politischen Berichten über die Situation im Nordkaukasus, die dem Kommando der weißen Generäle zwischen Frühjahr und Herbst 1919 regel­mäßig zugestellt wurden, wird deut­lich, wie verworren sich die Lage gerade im Hinblick auf die Rolle der geist­lichen Führung darstellte, deren tatsäch­licher Einfluss ­schwierig einzuschätzen war. Das galt insbesondere auch für Dagestan, wo die Situation, nachdem die Führung der Freiwilligenarmee General Chalilov im Mai 1919 zum 131 Die Botschaft der Regierung mit dem Titel „Ko svem trudjaščimsja musul’manam Rossii i Vostoka“ wurde erstmals publiziert in der Pravda (Nr. 196) und der Izvestija (Nr. 232) am 22. November 1917. 132 Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 1, S. 40; Voenno-istoričeskij žurnal (1999) H. 4, S. 63. 133 Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 2, S. 61.

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dortigen Vorsteher ernannt hatte, vollends unübersicht­lich erschienen sein muss. In einem Bericht der Freiwilligenarmee, die den Zeitraum vom 1. bis 15. Mai 1919 abdeckt, heißt es mit Blick auf Dagestan: Die Macht ging an den Militärrat mit General Chalilov an der Spitze (…). Es gab den Vorschlag, dass an der Regierung [Chalilovs] auch Kocev in der Funktion eines Ministers für Außenbeziehungen, Justiz und Volksbildung teilnehmen würde. Nach anderen Quellen soll die Macht in [Temir-Chan-] Šura an U[s]un-[Ch]adži übergegangen sein, der dort an der Spitze von 800 Mjuriden angekommen sein soll. Es gab Gerüchte, wonach die Mullahs U[s]un-[Ch]adži und Nažmuddin [Gocinskij] (…) als die tatsäch­lichen Führer Dagestans ansahen. Es zirkulierten weitere Gerüchte, die besag[t]en, dass U[s]un-[Ch] adži, Nažmuddin [Gocinskij], Ali-Chadži [Mutušev] und [Achmet-Chan] Mutušev 134 (ein hitzköpfiger Bolschewik) den Gazawat ausgerufen hätten.135

Glaubte dieser Bericht bereits eine Verbindung zwischen den geist­lichen Führern Dagestans und den Bolschewiki feststellen zu können, so schien die folgende Meldung für die Zeit vom 15. Mai bis 1. Juni 1919 diese Vermutung noch zu erhärten. Besorgniserregend muss dabei insbesondere die Nachricht erschienen sein, dass sich Usun-Chadži mit Aslanbek Šeripov verbündet habe: Mitte Mai erhielten wir Berichte, wonach Usun-Chadži die Tsche­tschenen für einen Angriff auf Groznyj zusammen mit den Inguschen anstifte. In ­diesem Zusammenhang traf er auf die Unterstützung von Šeripov (ehemaliger Vorsitzender des Sowjets der Bolschewiki in Tsche­tschenien, ein intelligenter und ener­gischer Tsche­tschene, der über große Gelder verfügt und eine höchst erfolgreiche Propaganda unter dem Banner des Panislamismus führt), der unzufriedene Elemente für einen Angriff auf die Freiwilligenarmee organisiert (…). Es gab weitere Berichte, dass in den Aulen Gechi, Valerik, Katyr-Jurt, Šama-Jurt und Ačchoj-Martan bolschewistische Agenten und sich dort versteckt haltende Mitglieder der Roten Armee eine breitangelegte Agitation für den Angriff gegen die Freiwilligenarmee führen; es werden provokative Gerüchte darüber verbreitet, dass unsere Armee vor der geor­gischen und aserbaidschanischen flüchte. Ein gewisser Šity 136 und seine Anhänger sollen erneut versucht haben, die Menschen im Bezirk Vedeno vom Kampf gegen die Freiwilligenarmee zu überzeugen, trafen aber fast nirgends auf Sympathie. Den gleichen Misserfolg erzielte die bolschewistische Agitation im Bezirk Chasav-Jurt. Deshalb hat sich Šity mit seinen Anhängern in die Berge Tsche­tscheniens zurückgezogen, wo gemäß 134 Gemeint ist der Vorsitzende des Tsche­tschenischen Nationalen Rats. 135 Bericht von Maslovskij, verfasst vor dem 27. Mai 1919, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 337 – 338. 136 Vermut­lich ist Šita Istamulov gemeint. Zu Istamulov siehe das 9. Kapitel in ­diesem Buch.

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Quellen bis zu 1000 ehemalige Angehörige der Roten Armee leben, die sich in einem erbärm­lichen Zustand befinden und den Tsche­tschenen als Arbeiter dienen. Ebenso gab es Berichte über eine türkische Agitation; es wird berichtet, dass im Rajon des Auls Šatoj ein türkischer Gesandter bis zu 150 Personen für einen Angriff auf die Freiwilligen­armee [habe] aufbringen [können].137

Die Entwicklung in den Bergen Tsche­tscheniens signalisierte die Anfänge eines großflächigen Aufstands, der im Juni 1919 in Dagestan ausbrach und bis zum Herbst die ganze Bergregion Tsche­tscheniens, Inguschetiens, Dagestans (mit Ausnahme Awariens), Kabardas und Ossetiens erfassen sollte.138 Obwohl der Verfasser des Berichts Šeripov irrtüm­lich dem panislamistischen Lager zurechnete, war doch erwiesen, dass auch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Offiziere der osmanischen Armee vor allem auf dem dagestanischen Kriegsschauplatz eine wichtige Rolle bei der Organisation des Aufstands spielten, auch wenn es ihnen nicht gelingen sollte, aus den nordkauka­sischen Völkern eine schlagkräftige Armee zu formieren. Finanzielle und militärische Unterstützung erhielt die breite anti-­denikinische Bewegung in bescheidenem Umfang auch aus Georgien und Aserbaidschan.139 Wie eng ­Šeripov und Usun-Chadži im Sommer 1919 zusammenarbeiteten, ist schwierig ­abzuschätzen. Tatsäch­lich muss es in dieser Zeit immer wieder zu großen Spannungen zwischen den beiden gekommen sein, die wohl nur deshalb nicht in offene Konfrontation umschlug, weil ihnen mit der Freiwilligenarmee ein gemeinsamer ­Gegner entgegentrat.140 Šeripov selbst sollte das Ende des Bürgerkriegs nicht mehr erleben. Am 29. August 1919 wurde er bei der Ortschaft Vozdviženskoe, als die Bolschewiki zusammen mit den Anhängern von Usun-Chadži gegen Truppen der Freiwilligenarmee erfolgreich in den Kampf zogen, verwundet und erlag kurze Zeit später seinen Verletzungen. Danach übernahm Gikalo die Organisation des bolschewistischen Widerstands

137 Auszug aus dem Bericht von General E. V. Maslovskij an das Armeeoberkommando der bewaffneten Streitkräfte im Süden Russlands, General A. S. Lukomskij, zur Situation im Terek-dages­ tanischen Kreis und in Tsche­tschenien im Zeitraum 15. Mai–1. Juni 1919, verfasst vor dem 7. Juni 1919 und enthalten in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 340 – 345, hier S. 342. 138 Siehe den Bericht über die Veränderung der Situation im Terek-dagestanischen Kreis und in Tsche­ tschenien im Zeitraum 15. August–1. September 1919, verfasst vom Armeestab der Weißen Armee im Süden Russlands zuhanden von General A. S. Lukomskij; der Bericht datiert vor dem 22. ­September 1919 und ist publiziert in: Ebd., S. 345 – 349. 139 Siehe den Bericht über die Veränderung der Situation im Terek-dagestanischen Kreis und in Tsche­ tschenien im Zeitraum 15. September–1. Oktober 1919, verfasst vom Armeestab der Weißen Armee im Süden Russlands zuhanden von General A. S. Lukomskij; der Bericht datiert vom 31. Oktober 1919 und ist publiziert in: Ebd., S. 356 – 362, hier S. 356. 140 Kosterin, V gorach Kavkaza, S. 32.

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in Tsche­tschenien.141 Wie brutal der Krieg zu d­ iesem Zeitpunkt auf beiden ­Seiten geführt wurde, zeigte sich etwa darin, dass Usun-Chadži im Anschluss an den Sieg bei Vozdviženskoe befahl, alle gefangenen Offiziere der Freiwilligenarmee hängen zu lassen.142 Auch die Vertreter der Bergrepublik hatten in der Zwischenzeit erkannt, dass nur eine enge Zusammenarbeit mit der islamischen Geist­lichkeit Aussicht auf Erfolg beim Streben nach einer unabhängigen nordkauka­sischen Bergrepublik haben würde. So bemühte sich die Bergregierung unter Präsident Pšemacho Kocev in ihrem Exil in Tiflis aktiv um die Bildung von Allianzen mit wichtigen geist­lichen Führern in Tsche­tschenien und Dagestan. Bereits Anfang September 1919 trafen sich auf Ini­ tiative der Bergregierung Vertreter der anti-denikinischen Kriegs­parteien in Tiflis zu einer großen Versammlung, um den gemeinsamen Kampf gegen die weißen Kräfte zu koordinieren. Zum ausführenden Organ berief das Treffen ein elf­köpfiges Gremium, dem der Ossete Achmed Calikov vorstand. Aus d­ iesem Gremium ging im Oktober 1919 der Dagestanische Verteidigungsrat (Dagestanskij Sovet oborony) als eine Koalitionsregierung hervor, die sich auf eine breite Allianz anti-deni­kinischer Kräfte stützte, an der sich auch die Bolschewiki beteiligten.143 Den Verteidigungsrat dominierten geist­liche Abgeordnete unter dem Vorsitz von Scheich Ali-Chadži Akušinskij (1847 – 1930), der bereits im Januar 1918 zum „Scheich-ul-Islama“ (Mufti) von Dagestan gewählt worden war.144 Die Ernennung Akušinskijs war insofern brisant, als damit gleichzeitig Gocinskij der Mufti-Titel aberkannt wurde – was beinahe einen offenen Konflikt zwischen den beiden ­Seiten ausgelöst hätte.145 Während sich Gocinskij mit seinen Anhängern in die Berge zurückzog und sich nicht an der anti-denikinischen Koalition be­teiligte, führte auf dem dagestanischen Kriegsschauplatz nament­lich Ali-Chadži Akušinskij, der sowohl von den Bolschewiki als auch von osmanischen Truppen unterstützt wurde, einen äußerst wirksamen Partisanenkrieg gegen die Kräfte General Denikins.146 Die sowjetische Literatur unterließ den Hinweis, dass der von Akušinskij an­­ geführte Widerstand letzt­lich auf der Idee der Einheit der Völker des Nordkaukasus baute, wie sie schon 1917 im Rahmen des Bergbundes verfolgt worden war. Mit einzelnen Vertretern des Bundes stand Akušinskij denn auch in engem Kontakt. In

141 Ebd., S. 32 – 33. 142 Ebd., S. 32. 143 Sulaev, Musulʼmanskoe duchovenstvo, S. 106 – 131; ders., Sovet Oborony Severnogo ­Kavkaza i Dagestana. Neizvestnye stranicy istorii, Machačkala 2004. 144 M. A. Abdullaev, Triumf i tragedija šejch-ul’-islama Dagestana Ali-Chadži Akušinskogo, ­Machačkala 2013, S. 253. 145 Ebd., S. 249 – 278; Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 1, S. 464 – 465. 146 Sulaev, Musulʼmanskoe duchovenstvo, S. 106 – 131.

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Armenien, Georgien und Aserbaidschan nahmen Angehörige der Berg­regierung, ­Alibek Tacho-Godi (1892 – 1937) und Gajdar Bammat, die Interessen des Verteidigungsrats wahr.147 So war es an der Eröffnungssitzung des Gremiums am 19. Oktober 1919 im da­­gestanischen Dorf Levaši denn auch ein erklärtes Ziel, die „Zerstörung der Einheit der Bergvölker aufzuhalten“, wie Magomed Piralov, der Vorsteher der Aufstän­dischen in der Region Gunib, erklärte. Voraussetzung dafür, dass dies gelingen konnte, war letzt­lich auch die Koordination des Widerstands über Dagestan hinaus, mit anderen Bewegungen im Nordkaukasus. Konkret hieß das, die Zusammenarbeit mit dem anderen wichtigen Anführer des anti-denikinischen Widerstands, Usun-Chadži, zu suchen, ein Unterfangen, das allerdings erfolglos bleiben sollte – denn dieser hatte zu d­ iesem Zeitpunkt eigene Pläne, was den Aufbau staat­licher Strukturen im Nordkaukasus anging.148 Der ebenfalls aus Dagestan stammende Scheich Usun-Chadži Saltinskij war um das Jahr 1845 und damit eine knappe Generation früher als Gocinskij geboren worden. Anders als dieser erlebte er die Schrecken des Kaukasuskriegs und die Zerstörung seines Dorfs noch als Kind mit. Vielleicht beteiligte er sich auch aktiv am Aufstand von 1877. Usun-Chadži war wie Gocinskij ein islamischer Gelehrter, hatte aber im Gegensatz zu ­diesem nie offizielle Funktionen in der Zaren­administration inne. Nach der Beteiligung am Aufstand von 1913 in Dagestan wurde er nach ­Sibirien ins Exil geschickt, flüchtete und hielt sich danach in Tsche­tschenien versteckt. Nach der Eroberung des Nordkaukasus durch Denikin gründete Usun-Chadži in Tsche­ tschenien eine Widerstandsbewegung, die nicht nur Tsche­tschenen, sondern auch Angehörige anderer Volksgruppen rekrutierte, die vor dem Ansturm der Weißen Schutz suchten, unter ihnen Kabardiner, Balkaren, Inguschen, Dagestaner und sogar Russen.149 Usun-Chadži lehnte die Bolschewiki wegen deren atheistischer Überzeugung zwar ebenso ab wie Gocinskij, doch aus taktischen Gründen hielt er eine Allianz mit ihnen für richtig. Nachdem es ihm im Verband mit den Bolschewiki gelungen war, die Freiwilligenarmee aus den Bergen weitgehend zu verdrängen, rief Usun-­ Chadži im September 1919 im tsche­tschenischen Vedeno das unabhängige nord­ kauka­sische Emirat aus und wurde von der versammelten Menschenmenge als „Emir“ (Herrscher) bestätigt. Er ernannte den tsche­tschenisch-stämmigen Fürsten Inaluk Arsanukaev Dyšninskij zum „Großwesir“ und Oberkommandierenden der Streitkräfte und beauftragte ihn mit der Bildung einer Regierung, die ihren Sitz fortan in Vedeno hatte.150 Dieses auf der Scharia basierende Staatsgebilde war ähn­lich wie 147 Ebd., S. 111, 115. 148 Ebd., S. 111. 149 Ebd., S. 87; Kosterin, V gorach Kavkaza, S. 28. 150 Voenno-istoričeskij žurnal (1999) H. 4, S. 56.

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der Šamil-Staat aufgebaut, verfügte über eigene Ministerien und sogar über eine Währung und erfuhr sogleich Rückendeckung durch Georgien, Aserbaidschan und das Osmanische Reich, die nach wie vor an einer Pufferzone im Kaukasus zwischen einem wiedererstarkenden Russland und ihren eigenen Staaten interessiert waren.151 Aus militärisch-taktischen Gründen erkannten auch die Bolschewiki das nord­ kauka­sische Emirat umgehend an.152 Es war allerdings von Anfang an klar, dass es sich im Fall der Bolschewiki um eine brüchige Allianz handelte. Für das enge Zusammenwirken der Bolschewiki mit dem Emirat sprach etwa der Umstand, dass Usun-Chadži die Truppen Gikalos unter der Bezeichnung „5. Rote Armee“ auf der Liste seiner eigenen Streitkräfte führte.153 Zwar ließen sich viele Tsche­tschenen auf die Kooperation mit den Bolschewiki ein, doch sie weigerten sich, unter dem Kommando Gikalos zu dienen, der seine Truppen fast ausschließ­lich aus der Arbeiterschaft Groznyjs rekrutierte.154 Andere Gruppierungen in Tsche­tschenien lehnten eine Allianz mit den Bolschewiki jedoch von Beginn weg ab. So bildete sich eine mehrere Hundert Mann starke tsche­tschenische Formation, die von Ibragim Čulikov angeführt wurde und sich „Komitee zur Vertreibung der Bande der Bolschewiki und Usun-Chadžis aus Tsche­ tschenien“ nannte.155 Als früherer Mitstreiter der Bergrepublik und Tapa ­Čermoevs nahm Čulikov, ein Mitglied des Tsche­tschenischen Nationalen Rats und Vertreter der liberalen Intelligenzija, jedoch gleichzeitig auch eine kritische Haltung gegenüber der Politik Denikins ein.156 Wenig Vertrauen hatten die Bolschewiki in die geist­lichen Führer der Region, die sie nicht nur als Vertreter von als überkommen erachteten religiösen ­Überzeugungen ablehnten, sondern auch als Träger alternativer Herrschaftsvorstellungen nicht dulden wollten. Dabei stand die islamische Geist­lichkeit den sich zum Atheismus

151 Kosterin, V gorach Kavkaza, S. 28, 35 – 37. 152 Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 4, S. 63. 153 Kosterin, V gorach Kavkaza, S. 44 – 45; Aufzeichnungen Butaevs, 10. Oktober 1920, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 402. 154 Bericht über die Situation im Terek-dagestanischen Kreis und in Tsche­tschenien im Zeitraum 15. September–1. Oktober 1919, verfasst vom Generalstab der Weißen Armee im Süden Russlands zuhanden von General A. S. Lukomskij; der Bericht datiert vor dem 14. Dezember 1919 und ist publiziert in: Ebd., S. 372 – 377, hier S. 375. 155 Kosterin, V gorach Kavkaza, S. 53. 156 Gegen Ende des Bürgerkriegs hat sich Čulikov den Bolschewiki ergeben. Danach war er für kurze Zeit Leiter der Abteilung für Volksbildung in Groznyj. Über ihn berichtet Abdurachman Avtorchanov, der ihn in dieser Funktion in Groznyj getroffen haben soll: Avtorchanov, Memuary, S. 83 – 85. Er soll später von der sowjetischen Geheimpolizei angeheuert und in den Westen entsandt worden sein, um prosowjetische Agitation unter der kauka­sischen Emigration zu betreiben, soll sich deren Anliegen zur Errichtung eines von der Sowjetunion unabhängigen Kaukasus aber angeschlossen haben. Er verstarb 1943: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 993; Muzaev, Sojuz gorcev, S. 460.

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be­­kennenden Bolschewiki ebenso skeptisch gegenüber. So beteiligte sich G ­ ocinskij auch deshalb nicht aktiv am Krieg gegen Denikin, weil er den Atheismus der Bolschewiki als größeres Übel betrachtete und die Allianz zwischen Usun-Chadži beziehungsweise Ali-Chadži Akušinskij und den Bolschewiki scharf verurteilte.157 Doch auch diese beiden Geist­lichen sahen in der Allianz mit den Bolschewiki nicht mehr als ein Zweckbündnis. Das kam in Dagestan etwa darin zum Ausdruck, dass sich die Geist­lichkeit anfäng­lich dagegen stemmte, Kommunisten in die Exe­ kutive des Verteidigungsrats aufzunehmen. Dass sich in der Regierung zehn Bolschewiki befunden hätten, wie dies sowjetische Darstellungen oft behaupten, ist daher unwahrschein­lich und dürfte die Tendenz der sowjetischen Literatur widerspiegeln, die Bedeutung des bolschewistischen Elements beim Befreiungskampf in Dagestan zu übertreiben.158 Das Blatt wendete sich im Februar und März 1920 mit dem Eintreffen der 11. Roten Armee endgültig zugunsten der Bolschewiki. Nachdem es diesen im Verbund mit geist­lichen Führern und der Roten Armee gelungen war, die ­Truppen ­Denikins endgültig aus dem Terek-Gebiet und aus Dagestan zu ver­treiben, erstaunte es wenig, dass sie bereits im März das nordkauka­sische Emirat liquidierten. Dieses Gebilde, das sich aufgrund interner Spannungen ohnehin bereits in Auflösung befunden hatte, konnten sie schon deshalb nicht weiter dulden, weil die von Fürst Dyšninskij angeführte Regierung strikt an der vollständigen staat­ lichen Unabhängigkeit festhielt und sich aktiv um ausländische Unterstützung bemühte. Um sich Usun-Chadži nach dem Ende des Bürgerkriegs nicht zum Feind zu machen, suchten ihn die Bolschewiki in das politische Leben einzubinden, indem sie ihm den Titel des Mufti des Nordkaukasus anboten. Doch drei Monate später starb der hochbetagte Scheich, womit die Bolschewiki einen potenziell höchst unbequemen Allianzpartner loswurden.159 Gleichzeitig verschoben sich auch die Kräfte in Dagestan, indem es den Bolschewiki gelang, die Macht im Dagestanischen Verteidigungsrat an sich zu reißen. Parallel zur Zurückdrängung der Truppen General Denikins traten sie nun immer offener gegen ihre mutmaß­lichen Feinde auf, unter ihnen in erster Linie die Vertreter der Bergregierung und die türkischen Militärgesandten. Dagegen verhielten sich die Bolschewiki vorerst noch zurückhaltend gegenüber dem wichtigsten geist­lichen Führer, Ali-Chadži Akušinskij, den sie vorläufig in der Regierung beließen. ­Gocinskij dagegen musste sich unter dem Druck der Roten Armee mit seinen Anhängern in geor­gisches Grenzgebiet zurückziehen. 157 Sulaev, Musulʼmanskoe duchovenstvo, S. 53. 158 Die Angabe betreffs der zehn Bolschewiki findet sich u. a. in: Revoljucija i graždanskaja vojna v Rossii, Tom 1, S. 494 – 495; dazu ebenfalls: Sulaev, Musulʼmanskoe duchovenstvo, S. 118. 159 Zum Emirat Usun-Chadžis: Ebd., S. 86 – 106.

Verpasste Chance

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Nachdem die Bolschewiki den Krieg gegen die Freiwilligenarmee im Nordkaukasus gewonnen hatten, machten sie sich daran, den Südkaukasus für Sowjet­ russland zurückzugewinnen: Im April 1920 marschierte die Rote Armee in Baku ein, im Oktober kapitulierte die von allen Seiten isolierte Dašnak-Regierung in Jerewan und im Februar 1921 eroberten die Bolschewiki schließ­lich das menschewistische Georgien, nachdem sie dort unter der Bevölkerung gezielt Unruhen geschürt und die Osseten zum Aufstand angestachelt hatten. Mög­lich waren die Erfolge der Bolschewiki auch aufgrund einer für sie günstigen internationalen Konstellation: Während sich die Briten aus dem Kaukasus militärisch weitgehend ­zurückgezogen hatten, unterstützte die Türkei das bolschewistische Unterfangen. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs war die neue nationalistisch orientierte Regierung unter Mustafa Kemal (Atatürk, 1881 – 1938) an einer Stabilisierung der Grenzen im Kaukasus und an guten Beziehungen zum bolschewistischen Russland interessiert, um sich den dringenderen Problemen im Westen, in Anatolien, widmen zu können, wo die Franzosen, Briten und Italiener mit territorialen Ansprüchen auftraten.

6.6   Ve r p a s s t e C h a n c e Den Vertretern der Bergrepublik mussten die Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs im Nordkaukasus im Rückblick als eine Zeit verpasster Chancen erschienen sein. Tatsäch­lich hätte sich den Völkern der Region damals die Mög­lichkeit ge­­ boten, aus eigener Kraft ein staat­liches Projekt zu realisieren, das die verschiedenen gesellschaft­lichen Kräfte und Völker im Rahmen eines reformierten Russland hätte einen können. Dass es nie dazu kam, hatte mit inneren Gegensätzen im ethnischen Völkermosaik des Nordkaukasus ebenso zu tun wie mit äußeren Umständen, die nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung im Oktober 1917 einer solchen Entwicklung entgegenstanden. Zu Protagonisten einer national und säkular orientierten Unabhängigkeits­ bestrebung wurden nach der Oktoberrevolution die Angehörigen der schmalen Elite der Bergregierung. Diese genossen in der Bevölkerung wohl einiges An­ sehen, in militärischer Hinsicht jedoch verfügten sie über keine genügend große Basis, um die Entwicklungen im Nordkaukasus, die nach der bolschewistischen Macht­ergreifung zunehmend in einen allumfassenden Bürgerkrieg mündeten, unter Kontrolle zu halten. In einer Situation der Unsicherheit waren es die Partikular­ interessen der jeweiligen Gemeinschaften, die überwogen und gemeinsame Projekte verun­­­­­mög­lichten. Größer war dagegen der Einfluss, den die geist­lichen Führer hatten. Jedoch hatten auch religiös motivierte Staatsbildungsprojekte wie etwa das ­nord­­­­­kauka­sische Emirat keine Überlebenschance. Solche Unterfangen waren auf einzelne Personen ausgerichtet, die zwar Charisma und Ausstrahlung besaßen, aber

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Revolution und Bürgerkrieg

nie eine Mehrheit der Muslime repräsentierten. Zudem war auch die Geist­lichkeit in Fraktionen aufgespalten, die sich rund um miteinander konkurrierende Scheiche gebildet hatten. Hätte sich etwa Gocinskij nicht zurückgezogen, sondern sich aus taktischen Überlegungen der anti-denikinischen Koalition von Usun-Chadži und Ali-Chadži Akušinskij mit den Bolschewiki angeschlossen, so wären die Entwicklungen im Nordkaukasus vielleicht gänz­lich anders verlaufen. So gesehen bestand wohl die größte Tragödie darin, dass es Denikin als Ver­ körperung der alten Ordnung nicht verstand, die Repräsentanten der nordkau­­­­ka­ sischen Völker als ebenbürtig zu behandeln und ihnen eine Perspektive in einem künftigen gemeinsamen Staat zu offerieren, die für sie attraktiv genug gewesen wäre, um im Verbund gegen die Bolschewiki zu kämpfen. Die Folge des Konflikts zwischen der Freiwilligenarmee und der Bergregierung war, dass schließ­lich beide Parteien zu den großen Verlierern des Kriegs gehörten. Die Anhänger der Berg­ republik sollten in der Emigration der vermeint­lich verpassten Chance eines un­­ abhängigen Nordkaukasus-Staates noch lange nachtrauern, was sich in politischem Aktivismus und publizistischer Tätigkeit niederschlug. Teile der nordkauka­sischen Diaspora ließen sich im Zweiten Weltkrieg schließ­lich für Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion einspannen, in der Hoffnung, die Idee der Unabhängigkeit unter deutschem Protektorat realisieren zu können.160 Zu den Verlierern gehörten auch die Terek-Kosaken, weil sie es gewagt hatten, sich den Bolschewiki entgegenzustellen. Nachdem bereits 1918 erste Kosaken­ gemeinschaften ausgesiedelt worden waren, ließ die neue Sowjetführung nach Ende des Bürgerkriegs erneut Tausende von Kosaken umsiedeln, um Land für Tsche­ tschenen und Inguschen freizumachen.161 So war es nicht verwunder­lich, dass die Mehrheit der nichtrus­sischen Bevölkerung den Sieg der Bolschewiki zunächst als Sieg für ihre Sache verbuchte. Denn in den Bolschewiki sahen viele jene Partei, die am ehesten ihren Bestrebungen entgegenkam. Die Bolschewiki sprachen sich nicht nur deklarativ für Autonomie und Freiheit der Völker aus, sondern schienen diese Ziele auch insofern umsetzen zu wollen, als sie sich in der Landfrage gegen die Kosaken stellten. Auch verstanden sie schon früh, dass sie bei ihren Staats­ bildungsanstrengungen den Einheitsgedanken aufnehmen mussten, um Alternativen zu denjenigen Staatsbildungsprojekten anzubieten, die von den Nordkaukasiern zu jener Zeit selbst ausgingen. In d­ iesem Zusammenhang verwunderte denn auch nicht, dass die Bolschewiki nach dem Sieg der Roten Armee 1920 im Nordkaukasus zunächst keine rein ­ethnisch 160 Marshall, Caucasus, S. 217 – 224. 161 Shane OʼRourke, The Deportation of the Terek Cossacks 1920, in: Richard Bessel / Claudia B. Haake (Hg.), Removing Peoples. Forced Removal in the Modern World, Oxford 2009, S. 254 – 279.

Verpasste Chance

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definierten Territorien, sondern in Kontinuität zu den im Bürgerkrieg entstandenen Einheitsprojekten eine alle Völker der Region umfassende sowjetische Berg­republik (unter Ausklammerung Dagestans) ausriefen. Überhaupt bewiesen die Bolschewiki im Bürgerkrieg viel größeres taktisches Geschick als die weißen Generäle. Sie waren zwar bekennende Atheisten, unterstützten aber nicht nur nominell das Recht auf freie Religionsausübung, sondern gingen sogar so weit, dass sie mit den geist­lichen Würdenträgern zusammenarbeiteten. Sie anerkannten mindestens kurzzeitig den Scharia-Staat Usun-Chadžis und saßen mit Vertretern der isla­mischen Geist­lichkeit im Dagestanischen Verteidigungsrat. Schließ­lich waren die Bolschewiki, wiederum ganz im Gegensatz zu Denikin und seinen Generälen, Meister der Propaganda und der Blendung: Um der bolsche­ wistischen Sache unter den nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus Nachdruck zu verleihen, richtete Stalin im von ihm geleiteten Volkskommissariat für Nationalitäten­ fragen am 12. Juli 1918 die sogenannte Abteilung für Angelegenheiten der Berg­ völker ein, der auch Vertreter der verschiedenen Völker ­angehörten.162 Anfang 1919 machte das Ministerium gar den Vorschlag, im Gebäude dieser Abteilung und in allen Institutionen der nordkauka­sischen Völker das Porträt des legendären Imam Šamil aufzuhängen. Die Bolschewiki nahmen Šamil in der Folge geschickt in ihre Propaganda auf, indem sie ihn als Symbol für den jahrzehntelangen Widerstand des „Bergproletariats“ gegen den Zarismus porträtierten.163 Tatsäch­lich sollten nach der Machtergreifung der Bolschewiki im Nordkaukasus die Porträts Šamils die Bilder Lenins ersetzen, und die Bolschewiki heizten vor allem Anfang der 1920er-Jahre den Kult um den Imam gezielt an, um sich Sympathien unter den einheimischen Völkern zu verschaffen.164 Während des Bürgerkriegs eigneten sich die Bolschewiki diejenigen E ­ rfahrungen im Umgang mit den verschiedenen Völkern des Nordkaukasus an, die ihnen bei der konkreten Organisation des Sowjetstaates in der Region nütz­lich sein sollten. In dieser Zeit kamen sie mit den verschiedenen Völkern der Region in engen Kontakt und gewannen so eine Vorstellung von den Komplexitäten, die den Nord­kaukasus und die Beziehungen unter dessen Ethnien charakterisierten. Zwar waren viele bolschewistische Repräsentanten auch im Nordkaukasus Russen, doch daneben bestand eine sehr starke und einflussreichere Gruppe, die aus dem Kaukasus selbst

162 Poljan, Vajnachi, S. 266. 163 Schreiben der Abteilung für Angelegenheiten der Bergvölker an das Volkskommissariat für Nationalitäten­fragen, 4. Januar 1919, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 305. 164 Dies bestätigen auch Aussagen von Zeitzeugen: HPSSS, Schedule B, Vol. 7, Case 81, S. 7. Der Kult um Šamil, der als Anführer einer nationalen Befreiungsbewegung gefeiert wurde, sollte in den 1930er-Jahre noch gesteigert werden: Šnirel’man, Bytʼ alanami, S. 217; Karl, Helden, S. 166 – 169.

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Revolution und Bürgerkrieg

stammte. So war Stalin selbst Georgier und Sergo Ordžonikidze, ebenfalls Georgier, zählte während des Bürgerkriegs zusammen mit dem gebürtigen Armenier Anastas Ivanovič Mikojan (1895 – 1978) zu den wichtigsten Akteuren auf dem kauka­sischen Kriegsschauplatz. Es waren nament­lich Ordžonikidze und Mikojan, ­welche die ­Po­litik der Bolschewiki im Nord- und Südkaukasus auch in den 1920er-Jahren wesent­lich prägen sollten. Dabei zeigte sich aber schon sehr bald, dass die neuen Machthaber bei der Verwirk­lichung der Freiheit der Völker andere Ziele verfolgten als die Völker selbst. Der Aufbruch in die Sowjetzeit begann mit einem großen Missverständnis.

7.  I L L U S I O N D E R F R E I H E I T Die Bolschewiki hatten zwar den Bürgerkrieg gewonnen, doch ihr Herrschaftsbereich reichte im Frühjahr 1920 noch kaum über die rus­sisch bewohnten Städte hinaus. Der Bürgerkrieg hatte im Nordkaukasus Zehntausende von Menschenleben gefordert, die Wirtschaft war arg zerstört und durch das verwüstete Land zogen unzählige Banden. In den Dörfern waren praktisch alle Männer b­ ewaffnet. Viele Menschen hatten Seite an Seite mit den Bolschewiki gegen General ­Denikins Truppen gekämpft. Doch nun verhielten sich Teile der Roten Armee wie eine Be­­ satzungsmacht. Die Genossen vor Ort nahmen wenig Rücksicht auf die r­ eligiösen Traditionen und Lebensweisen der Bevölkerung. Die Konflikte häuften sich. Gleichzeitig war auch die militärische Bedrohung nicht gebannt. Bereits im Sommer 1920 kam es in den Bergregionen Dagestans und in Teilen Tsche­tscheniens zu einem ­großen Aufstand. Einer der wichtigsten Anführer der Erhebung war der ehe­malige Mufti des Nordkaukasus, Nažmuddin Gocinskij, der bereits im Bürger­krieg ein erklärter Gegner der Bolschewiki gewesen war. Unterstützung erhielt seine Be­­ wegung von der nordkauka­sischen Bergregierung, die ihren Sitz in Tiflis, der Hauptstadt des von Sowjetrussland zu d­ iesem Zeitpunkt noch immer unabhängigen Georgien, hatte. Mitglieder der Bergregierung warben zudem in Paris, L ­ ondon und Istanbul um Hilfe im Kampf gegen die Bolschewiki. Gleichzeitig suchte General Vrangelʼ, der von Denikin das Oberkommando über die Freiwilligenarmee übernommen hatte, die verbliebenen Streitkräfte auf der Halbinsel Krim neu zu formieren. Die junge Sowjetmacht, kaum hatte sie gesiegt, sah sich von inneren und äußeren Feinden bedroht. Oberstes Gebot für die Bolschewiki war in dieser Situation die Stabilisierung ihrer Herrschaft. Parallel zum militärischen Vorgehen gegen innere und äußere Bedrohungen waren sie bestrebt, die im Krieg geschmiedeten Allianzen mit den verschiedenen Völkern des Nordkaukasus zu festigen. Die bolschewistische Führung rief die Genossen vor Ort zu größerer Toleranz im Umgang mit der muslimischen Bevölkerung auf. Um insbesondere die Landknappheit in den Bergen zu entschärfen, ließ die Sowjetmacht kurzerhand Hunderte Kosakenfamilien aus ihren Siedlungen ausschaffen und machte deren Land zur Besiedlung für Inguschen und Tsche­tschenen frei. Gleichzeitig sollten die Nordkaukasier über die Schaffung neuer staat­licher Institutionen an die Sowjetmacht gebunden werden. Über neue Formen der Herrschaft, so die Vorstellung der Bolschewiki, sollten auch die neuen ­sozialistischen Inhalte transportiert werden. Im November 1920 wurde auf Ini­ tiative der bolschewistischen Führung eine autonome sowjetische Bergrepublik ins

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Leben gerufen, w ­ elche die Völker des ehemaligen Terek-Gebiets im Rahmen eines eigenen staat­lichen Gebildes vereinigte. Die Völker Dagestans wurden dagegen in einer eigenen autonomen Sowjetrepublik zusammengefasst. Den Einwohnern beider Staatsgebilde sicherte die Sowjetmacht eine weitreichende Selbstverwaltung und der islamischen Bevölkerung sogar die Beibehaltung beziehungsweise Wieder­ herstellung der Scharia-Gerichte zu. Blieb die Republik Dagestan in der Folge bestehen, so zerfiel die Bergrepublik bis 1924 schrittweise in einzelne autonome Gebiete. Dabei zeigte sich die bolschewistische Führung sogar bereit, im Gegenzug für die Loyalität der einzelnen Völker und in der Hoffnung auf eine Stabilisierung der Region auch auf die Forderungen kleinster ethnischer Gruppen einzugehen. Der Auflösungsprozess der Republik war dabei weniger Folge einer von Moskau initiierten Politik des „Teile und Herrsche“, sondern spiegelte die große ethnische Komplexität und Diversität der Interessenlagen der verschiedenen Völker des Nordkaukasus wider. In einer Situation, in der die neue Sowjetmacht den Völkern des ehemaligen Zarenreichs Freiheit und Land versprach, suchten die jeweiligen Volksvertreter, ihre ­Forderungen mög­lichst in der Maximalvariante durchzusetzen. Die Neuordnung der Region äußerte sich dabei als ein zum Teil mit Waffengewalt ausgetragener Kampf um Territorium und Grenzen, bei dem die Instanzen des Zentralstaates hauptsäch­lich in der Rolle von Schiedsrichtern auftraten. Im Vordergrund der nationalen Autonomiebestrebungen stand nicht so sehr die Abgrenzung gegenüber dem Zentrum, von dem jede Seite Hilfe in eigener Sache erwartete, sondern gegenüber dem eigenen Nachbarn. Die natio­nalen Eliten verkehrten Autonomie und Freiheit in Bestrebungen, im Namen der Völker, die sie zu vertreten vorgaben, ihre jewei­ ligen Eigeninteressen durchzusetzen. Einen besonders komplizierten Fall stellte Tsche­tschenien dar, wo die Bolschewiki mehr als anderswo Schwierigkeiten beim Aufbau staat­licher Strukturen in Form von Räten und der Parteiorganisation bekundeten. Kaum Einfluss hatte die kleine Gruppe einheimischer Kommunisten unter der Führung von Taštemir ­Ėlʼdarchanov. War das Verhältnis der Tsche­tschenen zur Sowjetmacht unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs zunächst weitgehend problemlos, so verzeichneten die nach­folgenden Jahre eine starke Zunahme von Übergriffen bewaffneter tsche­tschenischer Banden auf Angehörige der Roten Armee, die Eisenbahnlinie und sogar die Erdölanlagen bei Groznyj. Vor ­diesem Hintergrund entschied sich die bolschewistische Führung Ende 1922 für die Ausgliederung Tsche­tscheniens aus der Bergrepublik und die Schaffung eines autonomen Gebiets, das von Tsche­tschenen verwaltet und in dem der tsche­tschenischen Regierung auch die Verantwortung für die Wiederherstellung der Sicherheit übertragen wurde. Doch die Vorstellung, dass einheimische Kader diese Aufgabe erfolgreich ­würden ausführen können, scheiterte in vielen Fällen, so auch in Tsche­tschenien, an

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der sozialen Realität. Solange die Bolschewiki schwach waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit den Verhältnissen vor Ort zu arrangieren und auch mit gesellschaft­lichen Kräften zusammenzuarbeiten, die ihnen nicht genehm waren, wie etwa mit den noch immer sehr einflussreichen geist­lichen Würden­trägern. Erst ab Mitte der 1920er-Jahre waren die Bolschewiki selbstsicher genug, um einen deut­lich härteren Kurs einzuschlagen. Lokale Machtträger, die ihnen nicht passten, entfernten sie von ihren Posten. Dabei zeigte sich schon bald, dass in der sozialis­ tischen Vor­stellungswelt kein Platz für die muslimische Geistlichkeit war, selbst wenn sich diese loyal verhielt. Da die Geist­lichen ab­­weichende gesellschaft­liche Modelle in Form der Scharia verkörperten und zum Teil zahl­reiche bewaffnete Anhänger hinter sich scharten, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Bolschewiki sie ausschalten würden. Dieses Vorhaben setzte sich die staat­liche Geheim­ polizei, die GPU (ab November 1923 OGPU ), zum Ziel.1 Ohne dass sie dies mit den ­anderen, für den Staatsaufbau im Nordkaukasus verantwort­lichen Parteibehörden immer abgestimmt hätten, gingen die lokalen Geheimpolizisten bereits ab Anfang 1923 mit großer Zielstrebigkeit daran, die ihnen verhassten gesellschaft­ lichen Auto­ritäten auszuschalten. Unter dem Aspekt der staat­lichen Herrschaftssicherung lässt sich die erste Hälfte der 1920er-Jahre insofern als eigener Geschichtsabschnitt behandeln, als diese Periode nicht nur Anfang und Ende der sowjetischen Bergrepublik und die Schaffung nationaler Gebiete beschreibt, sondern eine Zeit, in der es den Bolschewiki gelang, potenzielle militärische Bedrohungen in Form großer aufständischer Gruppierungen im Nordkaukasus, aber auch in den islamisch dominierten G ­ ebieten Zentralasiens, weitgehend zu beseitigen und ihre Machtstellung im Inneren durch Entwaffnungsaktionen unter der Bevölkerung und die Ausschaltung alter­nativer gesellschaft­licher Machtträger zu festigen. Das Schicksal des einflussreichen tsche­ tschenischen Scheichs Ali Mitaev vermittelt einen Einblick in die Dynamik der Errichtung staat­licher Kontrolle in Tsche­tschenien in den Anfängen der Sowjetzeit. Dies zeigt gleichzeitig die divergierenden und sich verändernden Motive und Wahrnehmungen der verschiedenen Konfliktparteien in ­diesem Ringen um Macht und Einfluss auf.2

1 Die GPU (Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie) war zunächst dem Innenministerium der Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetischen Republik (NKVD RSFSR), ab November 1923 dem Rat der Volkskommissare angegliedert, dem nominell höchsten ausführenden Organ der Sowjetunion, worauf die Organisation auch ihren Namen erneut anpasste und zur OGPU (Obʼʼedinёnnoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie) mutierte. 2 Zum Fall Mitaev und den Entwicklungen in Tsche­tschenien in den frühen 1920er Jahren siehe auch meinen Aufsatz: Jeronim Perović, Uneasy Alliances. Bolshevik Co-Optation Policy and the Case of Ali Mitaev, in: Kritika 15 (2014), S. 729 – 765.

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Illusion der Freiheit

7.1   G r ü nd u ng u nd Z e r f a l l d e r s ow je t i s che n B e r g r e pu bl i k Wenn die Bolschewiki aus dem Bürgerkrieg im Nordkaukasus etwas gelernt h­ atten, dann dies: Allianzen konnten so schnell wieder zerbrechen, wie sie entstanden waren. Entsprechend erschien es ihnen nach Ende des Kriegs geboten, diese Bündnisse im Rahmen tragfester staat­licher Institutionen zu sichern. Dabei sollte mit größter Vorsicht vorgegangen werden. Angesichts des oft rüden Verhaltens lokaler Parteivertreter und von Angehörigen der Roten Armee mahnte Lenin selbst wiederholt zu größerer Sensibilität gegenüber der einheimischen Bevölkerung. In einem Schreiben vom 2. April 1920 an Sergo Ordžonikidze, der damals Vorsitzender des Nordkauka­sischen Revolutionären Komitees und damit für den Aufbau der Sowjetmacht im Nordkaukasus zuständig war, forderte Lenin ein „Höchstmaß an gutem Willen“ gegenüber den Muslimen; dabei hielt er die Genossen vor Ort dazu an, größtmög­liche Sympathie für deren Streben nach „Autonomie“ und „Unabhängigkeit“ zu zeigen.3 Ein ähn­liches Schreiben hatte Lenin bereits im November 1919 den Genossen in Zentralasien zukommen lassen und sie aufgefordert, der Herstellung „kameradschaft­licher Beziehungen zu den Völkern Turkestans“ die „größte Aufmerksamkeit“ zu schenken.4 Denn ähn­lich wie im Nordkaukasus waren auch die Beziehungen der Bolschewiki zu den Muslimen Zentralasiens, die in der Mehrheit zunächst mit diesen kooperierten, zunehmend angespannt. Bereits 1918 kam es im Ferghana-Tal zu einer großflächigen Aufstandsbewegung, die sich in der Folge auf andere Gebiete Turkestans sowie die ehemaligen zaristischen Protekrorate Chiva und Buchara ausweitete. Erst Mitte 1922 sollte es den Bolschewiki mit Hilfe der Roten Armee gelingen, diese als „Basmači“-Revolte bekannte Rebellion niederzuringen, wobei bewaffnete Gruppierungen noch bis weit in die 1930er Jahre hinein in der Region aktiv bleiben sollten.5 Was genau unter Autonomie für die nichtrus­sischen Völker zu verstehen war, darüber herrschte nicht einmal unter den Vertretern des Zentralstaates Einigkeit. Führende Bolschewiki wie Trockij, Zinovʼev, Kamenev oder Bucharin, die ­städtischen und jüdischen Schichten entstammten, sahen in der Revolution vor allem die Befreiung der urbanen Unterschichten; die nationale Frage ignorierten

3 Zitiert aus: W. I. Lenin, Werke. Band 30. September 1919–April 1920, Berlin 1961, S. 487. 4 Lenin’s Brief „An die Genossen Kommunisten Turkestans“ erschien vom 7. bis 10. November 1919 in Turkestanskij Kommunist, Izvestija CIK Sovetov Turkestanskoj Respubliki und Krasnyj Front. Der Text ist enthalten in: Ebd., S. 122. 5 Sergey Abashin u. a., Soviet Rule and the Delineation of Borders in the Ferghana Valley, 1917 – 1930, in: Frederick S. Starr u. a. (Hg.), Ferghana Valley. The Heart of Central Asia, Armonk, NY 2011, S. 94 – 118, hier S. 99 – 102. Für einen Insider-Bericht zur Basmači-Revolte: H. B. Paksoy, ­Basmachi Movement from Within. Account of Zeki Velidi Togan, in: Nationalities Papers 23 (1995), S. 373 – 399.

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sie weitgehend.6 Lenin selbst schenkte der nationalen Frage, die im Marxschen Denken eine untergeordnete Rolle spielte, ursprüng­lich keine große Beachtung. Auch hielt er zunächst nicht viel von einem föderalen Staatsaufbau und war erklärter Anhänger eines strikten Zentralismus. Vermut­lich schwenkte Lenin erst Mitte 1917 auf die föderalistische Linie ein, als es während der revolutionären Wirren zu Zerfallserscheinungen an den nichtrus­sisch besiedelten Rändern Russlands kam.7 Damit rückte auch die nationale Frage ins Zentrum seiner Politik. Mit Blick auf den Nordkaukasus lehnte die bolschewistische Führung Sezessions­ forderungen zwar ebenso entschieden ab wie die weißen Generäle. Die Bolschewiki erkannten aber, dass sie das Freiheitsstreben der Völker nicht ignorieren konnten. Gerade die nordkauka­sischen Völker hatten sich nicht aufgrund ideolo­gischer Überzeugungen auf eine Allianz mit den Bolschewiki eingelassen, sondern waren für konkrete Anliegen wie Land, Freiheit und die Achtung ihrer Religion in den Krieg gezogen. All dies hatte die neue sowjetische Regierung den Völkern nach der Oktober­revolution feier­lich versprochen. Und so verbanden viele Nord­kaukasier, aber auch andere nichtrus­sische Völker des früheren Reichs, den Sieg der Bolschewiki mit der Zerschlagung der Fesseln, die ihnen die Zarenmacht angelegt hatte. Nur in einem föderalen Staat, so argumentierte nun die bolschewistische Führung um Lenin, ließen sich nationale Begehren auffangen. Bereits an seiner ersten S ­ itzung im Februar 1920 erhob das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee (Vserossijskij centralʼnyj ispolnitelʼnyj komitet), das nominell die oberste gesetzgebende Behörde im neuen sozialistischen Russland darstellte,8 den Föderalismus zum Grundprinzip des Staatsaufbaus.9 Obwohl die Debatte über die Nationalitätenpolitik erst mit der Verabschiedung der ersten sowjetischen Verfassung von 1924 einen vorläufigen Abschluss fand, war mit dem Bekenntnis zum Föderalismus bereits Anfang 1920 klar, dass die administrative Einteilung der nichtrus­sisch besiedelten Peripherie gemäß ethnischen Grundsätzen erfolgen würde. Im Wesent­lichen folgte die Sowjetführung dabei einem Autonomiekonzept, wie es Stalin schon 1913 in der programmatischen Schrift „Marxismus und die nationale Frage“ definiert hatte. Laut Stalin war die Nation „eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen“, die sich durch „Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und

6 Jörg Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 195. 7 Margarete Wiese, Russlands schwacher Föderalismus und Parlamentarismus. Der Föderationsrat, Münster 2003, S. 52. 8 Das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee war von 1917 bis 1937 die oberste gesetzgebende, anordnende und kontrollierende Behörde der Staatsmacht in der RSFSR. 9 A. Ch. Daudov, Gorskaja ASSR (1921 – 1924 gg.). Očerki socialʼno-ėkonomičeskoj istorii, Sankt-­ Peterburg 1997, S. 36.

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der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart“ auszeichnete.10 Wo ethnische Minoritäten nicht in klar abgegrenzten Territorien siedelten, konnte kein Anspruch auf den Status einer Nation erhoben werden. Das Recht auf Selbstbestimmung war folg­lich immer an ein Territorium gebunden und konnte nur in Form territorialer Autonomie verwirk­licht werden.11 Dieser Gedanke war nicht neu, sondern lehnte sich an europäische Konzepte des 19. Jahrhunderts an. Revolutionär erschien die Umsetzung des Konzepts aber in einem Land, in dem die erste, in der Sowjetunion 1926 durchgeführte allgemeine Volkszählung rund 190 ethnische Gruppen aufführte. Die sowjetische Nationalitäten­ politik sollte in den 1920er-Jahren zwar durchaus von ernsthaften Bemühungen begleitet sein, die Errichtung autonomer Territorien nach den von Stalin vorgegebenen Kriterien vorzunehmen. Dies war aber allein schon deshalb eine schier unlösbare Aufgabe, weil oft nicht einmal klar war, welcher ethnischen Gruppe ein einzelnes Volk zuzuordnen war und w ­ elche der vielen ethnischen Gruppen als Nationen mit Anspruch auf ein eigenes Territorium galten. Die bolschewistische Führung setzte für diese Aufgabe ein Heer von Ethnographen ein, die sich bereits in der späten Zarenzeit mit der systematischen Erfassung der verschiedenen Völker, deren Sprachen, Sitten und Lebensweisen auseinandergesetzt hatten.12 Gleichzeitig blieb die Nationalitätenpolitik einem politischen Diktat unterworfen. In letzter Instanz entschieden die staat­lichen Machtträger im Moskauer Zentrum darüber, ­welche Völker in ­welchen Grenzen Anspruch auf ein Territorium hatten. Nie waren es rein ethnische Gesichtspunkte, nach denen die Grenzen eines Gebiets gezogen wurden, sondern es spielten immer auch wirtschaft­liche Überlegungen oder sicherheitspolitische Bedenken eine Rolle – und oft waren es persön­liche Präferenzen und die richtigen Beziehungen, die den Ausschlag für einen bestimmten Entscheid gaben. Entsprechend sollten sich auch die Zahl der offiziellen Nationen der Sowjetunion und deren administrativ-territoriale Konfiguration im Laufe der Zeit wiederholt ändern. Davon blieb auch der Nordkaukasus nicht verschont. In kaum einer anderen Region des Landes wurden die Grenzen unter den Völkern derart häufig neu gezogen. Gerade die Schaffung der Bergrepublik stellte in dieser Hinsicht zunächst eigent­lich eine Anomalie dar, weil ­dieses Gebilde gerade nicht nach rein ethnischen Kriterien geschaffen wurde, sondern dabei übergeordnete politische Überlegungen im Vordergrund standen.

10 Sein Aufsatz ist publiziert in: J. W. Stalin, Werke. Band 2. 1907 – 1913, Dortmund 1976, S. 266 – 333, hier S. 272. 11 Baberowski, Feind, S. 194. 12 Francine Hirsch, State and Evolution. Ethnographic Knowledge, Economic Expediency, and the Making of the Soviet USSR, 1917 – 1924, in: Burbank u. a. (Hg.), Russian Empire, S. 139 – 168; Hirsch, Empire of Nations, insbesondere S. 21 – 61.

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Eine führende Rolle beim Aufbau der Parteizellen und der staat­lichen Institutionen auf allen administrativen Ebenen kam dem Kauka­sischen Büro (Kavbüro – Kavbjuro) zu, das am 8. April 1920 gegründet wurde. Das Kavbüro war die bevollmächtigte Vertretung des Zentralkomitees der Russländischen Kommu­nistischen Partei der Bolschewiki (ZK RKP (b)). Erster Leiter des Kavbüros war Sergo ­Ordžonikidze, zu dessen Stellvertreter wurde Sergej Kirov ernannt. Das Kavbüro hatte seinen Sitz in der im Nordkaukasus gelegenen Stadt Rostov am Don und war für die Umsetzung der Direktiven aus Moskau in einer Region zuständig, die nebst dem Nordkaukasus (worunter außer Dagestan und dem Terek-Gebiet auch die rus­sisch und kosakisch besiedelten Gebiete im Don, im Kuban und in ­Stavropolʼ fielen) auch die unter bolschewistischer Kontrolle stehenden Gebiete süd­lich des Kaukasus umfasste.13 Die Idee, die Völker Dagestans und des Terek im Rahmen auto­nomer Territorien zu organisieren, stieß bei den ört­lichen Genossen zunächst auf wenig Gegenliebe. Als Ordžonikidze die leitenden Vertreter der ausführenden Staats- und Parteiorganisationen der verschiedenen nationalen Bezirke des Terek-­Gebiets nach Vladikavkaz berief, um über die Errichtung einer gemeinsamen Republik der Terek-Völker zu beraten, sprach sich die große Mehrheit der Teilnehmer des ­Treffens nach heftigen Debatten gegen eine Autonomie für die nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus aus. Als Grund nannten sie die Befürchtung, dass ein solches Projekt Sezessionsbestrebungen entfachen könnte. Denn mit der Schaffung einer Bergrepublik, so die Begründung, würde genau jenes Vorhaben realisiert, das die verschiedenen „konterrevolutionären“ Kräfte anstreben würden.14 Die bolschewistische Führung räsonierte genau umgekehrt. Noch im gleichen Monat entsandte die sowjetische Regierung den Volkskommissar für Nationalitäten­ fragen, Iosif Vissarionovič Stalin (eigent­lich Džugašvili, 1878 – 1953) in den Nordkaukasus, um die Situation vor Ort zu beurteilen und entsprechende Maßnahmen zu treffen. Stalin war damals bereits eine der mächtigsten Figuren innerhalb der Kommunistischen Partei. Er hatte aber noch nicht jene Machtfülle, die er sich in seiner Funktion als Generalsekretär der Partei ab 1922 aufzubauen begann und nach dem Tod Lenins 1924 weiter festigte. Als Vorsteher des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen, eines Postens, den er ab 1917 bis wenige Monate vor dessen Auflösung im April 1924 innehatte, war Stalin aber von Beginn weg maßgeb­lich für die Formulierung und Umsetzung der Politik gegenüber den nichtrus­sischen Völkern verantwort­lich.15

13 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 27. 14 Dzidzoev, Ot sojuza, S. 79. 15 Zu Stalins Aufstieg in den 1920er-Jahren: Robert Service, Stalin. A Biography, London 2004, insbesondere S. 240 – 250.

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Stalin musste rasch handeln. Während die Kommunisten in Vladikavkaz über die Zweckmäßigkeit der Errichtung einer Autonomie im Terek stritten, drohte der Sowjetmacht Gefahr aus den Bergen. Aus dem Exil in Georgien zurückgekehrt, organisierte Gocinskij im Sommer 1920 eine antisowjetische Bewegung, die unter dem Banner des Dschihad die Bildung eines auf der Scharia basierenden Staates anstrebte.16 Der Bewegung, die sich „Scharia-Armee der Bergvölker“ nannte und bis Anfang 1921 zu einem Heer von mehreren Tausend Mann anwuchs, schloss sich eine Reihe anderer namhafter dagestanischer Scheiche an.17 Militärisch gesehen war Gocinskijs Bewegung der Roten Armee zwar deut­lich unterlegen. Die Bolschewiki sahen den Aufstand aber als Teil einer umfassenderen Bedrohung. Nicht nur war die Sowjetmacht im Nordkaukasus mit weiteren Erhebungen von Kosaken und Überresten der Armee Denikins konfrontiert. Auch die internationale Lage erschien ihr bedroh­lich. Solange insbesondere das von einer menschewistischen Regierung kontrollierte Georgien nicht unter ihrer Kontrolle war, blieb die gesamte Südflanke ungeschützt. Damit waren auch potenzielle Verbindungslinien offen, über die Georgien und andere feind­lich gesinnte Regierungen sowie kauka­sische Emigranten den Aufständischen Unterstützung zu­ kommen lassen konnten. Bezeichnend dafür war etwa der Umstand, dass sich auch der 19-jährige Urenkel Šamils, Said Bek, aus der Türkei kommend den Aufständischen Gocinskijs anschloss, um mit seinem Namen das Prestige der Rebellion anzuheben.18 In einer Situation, in der sich die bolschewistische Herrschaft noch kaum auf die Berggebiete erstreckte, bestand zudem die reale Gefahr, dass gerade die nord­kauka­ sischen Grenzbezirke im Süden hätten versucht sein können, sich außenpolitisch Richtung Georgien zu orientieren, mit dem sie bereits während des Bürgerkriegs enge Beziehungen unterhalten hatten. Am 2. Juni 1920 schickte der Vorsteher des an Georgien angrenzenden Awarischen Bezirks in Dagestan, Kajtmaz A­lichanov, dem Außenminister der Demokratischen Republik Georgien während seines Aufenthalts in Tiflis einen Brief, in dem er die Mög­lichkeiten eines engen Bundes der rund 300.000 in Dagestan siedelnden Awaren (das heißt auch derjenigen, die nicht innerhalb der Grenzen des Bezirks Awarien lebten) mit Georgien bis hin zu einer vollständigen Einverleibung im Rahmen eines von Georgien autonomen Gebiets auszuloten suchte. Als Grund nannte er das „blutige Chaos“, das zunächst die ­Truppen der Freiwilligenarmee und danach die Bolschewiki über sein Volk brachten, und das Widerstreben der Bewohner Awariens, sich mit Russland, egal in welcher ideolo­gischen Erscheinung dieser Staat auftrat, zu vereinigen.19

16 Zum Gocinskij-Aufstand: Bennigsen Broxup, Last Ghazawat, S. 112 – 145. 17 Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 48; Sulaev, Musulʼmanskoe duchovenstvo, S. 142, 145. 18 Bennigsen Broxup, Last Ghazawat, S. 114. 19 Das Dokument findet sich im Zentralen Staat­lichen Historischen Archiv Georgiens (F. 1864, Op. 1, D. 25, Ll. 60 – 61) publiziert als Fotodokument in: Džavachišvili, Maloizvestnye stranicy, S. 383 – 385.

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Angesichts dieser Bedrohungslage, die den Bolschewiki durch Gocinskij und durch das Ärgernis des Bestehens einer unabhängigen geor­gischen Republik erwuchs, galt es schnell zu handeln und bei der Herrschaftssicherung kurzfristigen tak­tischen Kalkülen unbedingte Priorität einzuräumen. Da die Macht der Bolschewiki an den nichtrus­sischen Rändern des früheren Zarenreichs noch kaum gefestigt war, hielt sich die Führung des neuen Sowjetstaates an das Prinzip, die Umsetzung der Natio­nalitätenpolitik „elastisch“ vorzunehmen, das heißt, der jeweiligen Situation vor Ort anzupassen, wie dies Stalin in einem Grundsatzpapier zur Nationalitäten­ politik im Oktober 1920 formulierte.20 Die Vereinigung der nordkaukasichen Völker im Rahmen einer eigenständigen autonomen Republik, in der sogar islamisches Recht in Form von Scharia-Gerichten erlaubt sein sollte, erschien den Bolschewiki damals als bestes Mittel, um konkurrierenden Staatsbildungsprojekten, wie sie die exilierte Bergregierung in Tiflis oder Gocinskij in Form eines islamischen Gottesstaates anstrebten, die gesellschaft­liche Basis zu entziehen. So können die Staatsbildungsbemühungen der Bolschewiki durchaus als direkte Fortsetzung ihrer bolsche­wistischen Projekte während des Bürgerkriegs gesehen werden. Dabei suchten die Bolschewiki, wie schon 1918 im Rahmen ihrer kurzlebigen Tereker Sowjetrepublik, die Loyalität der nichtrus­sischen Bewohner auf Kosten der Kosaken zu gewinnen. In einem Telegramm an Lenin vom 26. Oktober 1920 zeigt sich Stalin voller Anerkennung für die nordkauka­sischen „Bergler“, die sich im Bürgerkrieg „von der besten Seite“ gezeigt hätten und auch danach „mit der Waffe in der Hand gemeinsam mit [den bolschewistischen] Verbänden gegen die Banditen vorgegangen“ wären. Auch mit der Arbeit des Kavbüros war Stalin zufrieden. Er rapportiert im selben Bericht, dass „(…) kein Zweifel [bestehe], dass das Kavbüro und Ordžonikidze [die bolschewistische] Politiklinie klug umgesetzt hätten, indem sie es verstanden [hätten], die Bergler an die Sowjetmacht zu binden (…)“.21 Dagegen hielt er die Kosaken für Feinde und meldete, einige Siedlungen seien wegen ihrer Beteiligung an antibolschewistischen Aufständen „exemplarisch bestraft“ worden.22 Tatsäch­lich sollte die Sowjetführung ab dem Frühjahr 1920 innert eines Jahres gegen 25.000 Kosaken, ein Zehntel der gesamten kosakisch-stämmigen Bevöl­ kerung des Terek-Gebiets, aus deren stanicy vertreiben; unter jenen befanden sich auch Gemeinschaften, die im Bürgerkrieg auf der Seite der Bolschewiki gekämpft

20 Der Aufsatz, den Stalin nach dem 10. Oktober 1920 verfasst hat, trägt den Titel „Die Sowjetmacht und die Nationalitätenfrage in Russland“ (Sovetskaja vlastʼ i nacionalʼnyj vopros v Rossii) und ist publiziert in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 39 – 41. 21 Telegramm Stalins an das ZK der Partei, 26. Oktober 1920, in: Rossijskij gosudarstvennyj archiv socialʼno-političeskoj istorii (RGASPI), F. 558, Op. 1, D. 1982, L. 7. 22 RGASPI, F. 558, Op. 1, D. 1982, L. 7.

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hatten.23 Betroffen von der Umsiedlung waren die Kosaken der stanicy Sunženskaja, Tarskaja, Voroncovskaja, des Gehöfts (chutor) Tarskij sowie der stanicy ­Romanovskaja, Ermolovskaja, Semaškinskaja und Michajlovskaja. Deren Land wurde Inguschen und Tsche­tschenen zur Besiedlung übergeben.24 Vor allem in Inguschetien führte die Aussiedlung der Kosaken zu einer Entschärfung der Landarmut in den Bergen. Zahlreiche inguschische Familien siedelten von den Bergen in die Ebene, um die freigewordenen Acker- und Weideflächen der Kosaken zu besetzen. Die Übergabe von Land muss insbesondere die Inguschen nachhaltig beeindruckt haben und machte „aus Inguschetien einen getreuen Unterstützer der sowjetischen Macht“, wie der Autor einer Quelle aus jener Zeit mit nicht geringem Enthusiasmus feststellt.25 Dagegen vermochte die Übergabe von Kosakenland an die Tsche­ tschenen deren Landarmut nicht wesent­lich zu lindern.26 Der Grund war darin zu sehen, dass eine geregelte Übergabe so lange nicht stattfinden konnte, wie in den Bergen Tsche­tscheniens der Aufstand von Gocinskij tobte. Erst im Herbst 1921, nach der Niederwerfung des Aufstands, kam es zu ersten größeren Umsiedlungen von Tsche­tschenen in die Ebene. Allerdings waren die Landflächen viel zu gering, als dass sie das Problem der Landarmut hätten entscheidend entschärfen können.27 Während sich die Rote Armee aufreibende Gefechte mit den Verbänden G ­ ocinskijs lieferte und anfäng­lich empfind­liche Verluste hinnehmen musste,28 bereiteten Stalin und das Kavbüro in aller Eile die Bildung zweier neuer Republiken vor. An Kirov 23 Die Zahl 70.000, wie sie in Teilen der Literatur angegeben wird, scheint dagegen zu hoch gegriffen: E. F. Župikova, Povstanskoe dviženie na Severnom Kavkaze v 1920 – 1925 godach, in: Akademija istoričeskich nauk. Sbornik trudov. Tom 1, Moskva 2007, S. 114 – 319, hier S. 156 – 157. 24 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 196, Ll. 18 – 19. 25 Bericht von N. Nosov an das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen der RSFSR über die Situation der Landverteilung und des Klassenkampfes in Tsche­tschenien und anderen Teilen der Bergrepublik, 17. Mai 1922, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 434 – 446, hier S. 438. 26 Die Tsche­tschenen erhielten die stanicy Romanovskaja, Ermolovskaja, Semaškinskaja und ­Michajlovskaja zugesprochen; die Übergabe fand im November 1920 statt: Daudov, Gorskaja ASSR, S. 24. 27 Nosov-Bericht, 17. Mai 1922, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 436 – 437. 28 Wie viele Tote die Kämpfe mit den Verbänden Gocinskijs, die sich etwa über 18 Monate ­erstreckten, forderten, ist unklar. Der dagestanische Abgeordnete Dželalėddin A. Korkmasov behauptete anläss­ lich seiner Rede an der 4. Konferenz des ZKs der RKP (b), die vom 9.–12. Juni 1923 in Moskau tagte, dass in diesen Kämpfen rund 10.000 Rotarmisten gefallen wären. Die Rede ­Korkmasovs ist enthalten in: Četvёrtoe soveščanie CK RKP s otvetstvennymi rabotnikami ­nacional’nych ­respublik i oblastej v Moskve 9 – 12 ijunja 1923 v g. Moskve (stenografičeskij otčёt), Moskva, Bjuro Sekretariata CK RKP, 1923, S. 156 – 163, hier S. 159. Die Publikation war in der Sowjetzeit ­klassifiziert und ist einsehbar in: RGASPI, F. 17, Op. 165, D. 10. Unterdessen liegt auch eine Fassung in pub­ lizierter Buchform vor: Tajny nacional’noj politiki CK RKP. Četvёrtoe soveščanie CK RKP s otvetstvennymi rabotnikami nacional’nych respublik i oblastej v Moskve 9 – 12 ijunja 1923 v g. Moskve (stenografičeskij otčёt), Moskva 1992.

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erging der Auftrag, eine Verfassung für die künftige Bergrepublik auszuarbeiten. V. M. Kvirkelija, der Vorsitzende des Exekutivkomitees (ispolnitelʼyj komitet – ispolkom) des Terek-Gebiets, erhielt den Auftrag, für Mitte November 1920 eine Sitzung der Völker des Terek einzuberufen, auf der die Gründung der Bergrepublik beschlossen werden sollte.29 An Versammlungen der Räte der verschiedenen nationalen Bezirke des Terek-Gebiets wurden die Delegierten für ­dieses Treffen gewählt. Rund 500 Delegierte – einer pro 5000 Einwohner – fanden sich schließ­lich am 17. November 1920 im Theater von Vladikavkaz ein, um feier­lich die Autonome Sozialistische Sowjetische Bergrepublik (Gorskaja Avtonomnaja Socialističeskaja Sovetskaja Respublika – Gorskaja ASSR ) zu proklamieren.30 Bereits vier Tage zuvor hatten 300 aus allen Teilen Dagestans angereiste Delegierte im Hauptort Temir-Chan-Šura (ab 1922 Bujnaksk) die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik Dagestan (Dagestanskaja ASSR) ausgerufen.31 Hauptredner auf beiden Sitzungen war Stalin, dem vor allem daran gelegen war, den Delegierten die Bedeutung der Autonomie aufzuzeigen.32 Dabei bekräftigte er, dass die Autonomie nicht mit dem Recht auf eine Loslösung von Russland verbunden, sondern dazu gedacht sei, den Völkern jene Freiheiten zurückzugeben, die ihnen die zaristischen „Blutsauger“ gestohlen hätten.33 Die Autonomie, so Stalin, beinhalte das Recht, interne Angelegenheiten „im Rahmen der all­gemeinen Verfassung Russlands“ gemäß den jeweiligen Lebensweisen, Sitten und G ­ ebräuchen zu ­gestalten, wozu er ausdrück­lich auch die Scharia zählte, denn „[d]ie Sowjetmacht“, so Stalin, „denk[e] nicht daran, [der] Scharia den Krieg zu er­­klären“.34 Dabei bestehe der „Sinn der Autonomie“ darin, jede Volksgruppe auf allen Stufen der Verwaltung durch „eigene Leute“ vertreten zu lassen, die „[deren] Sprache, [deren] Lebensweise“ kennen würden: „Die Autonomie soll [euch] lehren, auf eigenen Füssen zu stehen – das ist das Ziel der Autonomie.“ 35 Stalin machte kein Hehl daraus, dass die Sowjetmacht als Gegenleistung für die Gewährung der Autonomie unbedingte Loyalität und Verbundenheit mit dem sowjetischen Gesamtstaat verlangte. An­­ gesichts der akuten Bedrohungslage erklärte der Volkskommissar vor den dages­ tanischen Delegierten, dass die Unterstützung im Kampf gegen Gocinskijs Truppen 29 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 41. 30 Ebd., S. 42. 31 Dzidzoev, Ot sojuza, S. 83. Siehe zur administrativ-territorialen Gliederung des Kaukasus in dieser Zeit auch Karte 6 in ­diesem Buch. 32 Die Rede Stalins vor dem Kongress der Völker des Terek-Gebiets vom 17. November 1920 ist publiziert in: J. W. Stalin, Werke. Band 4. November 1917 – 1920, Dortmund 1976, S. 352 – 359. Seine Rede vor dem Kongress der Völker Dagestans vom 13. November findet sich in: Ebd., S. 347 – 351. 33 Ebd., S. 354. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 358.

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als Vertrauensbeweis gegenüber der Sowjetmacht zu deuten sei, die ihnen die Autonomie geschenkt habe: „Wenn [ihr] Go[c]inski[j], den Feind der Werk­tätigen [Dagestans] verjag[t], so rechtfertig[t] [ihr] damit das Vertrauen, das [euch] die höchste Sowjetmacht dadurch erweist, dass sie [Dagestan] Autonomie gewährt.“ 36 Die Bolschewiki wollten zudem deut­lich machen, dass es sich bei der Auto­ nomie nicht um die Wiedererrichtung jener Bergrepublik handelte, die von Ver­ tretern der nordkauka­sischen Intelligenzija im Frühjahr 1918 ausgerufen worden war. In ­diesem Sinne rief Ordžonikidze in seiner Rede den Zuhörern in Vladikavkaz am 17. November zu: Sicher, viele von euch wissen gar nicht, um was es sich bei der autonomen Bergrepublik handelt, und glauben, man könne Personen wie Calikov, Džabagiev oder Kocev zurückholen, die euch immer in den schwierigsten Stunden auf verräterische Art und Weise verlassen hatten, die euch immer betrogen hatten und die danach streben, die Macht nicht in eure Händen zu legen (…), sondern in ihre eigenen.37

Am 20. Januar 1921 machte das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee die Gründung der beiden neuen Republiken per Dekret rechtskräftig.38 In administrativer Hinsicht wurde die Bergrepublik in sechs nationale Bezirke (okruga) unterteilt: in je einen für die Inguschen, die Tsche­tschenen, die Osseten, die Kabardiner, die Balkaren und die Karatschajer. Die Kosaken wurden auf die verschiedenen natio­nalen Bezirke aufgeteilt, nur ein Teil von ihnen, die Kosaken an der Sunža, erhielten einen eigenen Bezirk (Sunženskij kazačij okrug).39 Hauptstadt der neuen Republik wurde Vladikavkaz. Als Erdölzentrum von nationaler Bedeutung erhielt die Stadt Groznyj einen eigenen administrativen Status im Rahmen der Bergrepublik zu­­gesprochen. War der bürokratische Zentralapparat der Bergrepublik von Anfang an von Russen und Osseten dominiert, so setzte sich ihre politische Führung paritätisch aus An­­ gehörigen aller Volksgruppen zusammen. Als offizielle Amtssprachen galten neben Rus­sisch die Sprachen der jeweiligen Volksgruppen.40 Auch hielt sich die Republikführung mindestens nominell an die Zusage ­Stalins hinsicht­lich der Scharia. An ihrer ersten konstituierenden Versammlung in Vladikavkaz, die zwischen Ende März und Anfang April 1921 stattfand und an der die



36 Ebd., S. 350. 37 Ordžonikidze zitiert bei: Dzidzoev, Ot sojuza, S. 90. 38 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 44. 39 Die Errichtung eines Kosakenkreises war im Dekret genauso wenig vorgesehen wie die Schaffung des von Osseten besiedelten Digorskij-Kreises, der von Januar bis April 1921 ebenfalls als Teil der Bergrepublik bestand: Ebd., S. 182. 40 Ebd., S. 44 – 45; Dzidzoev, Ot sojuza, S. 94 – 95.

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Mitglieder des ausführenden Komitees gewählt wurden, wurde den Muslimen der Republik nochmals ausdrück­lich das Recht auf Scharia-Gerichte zugesichert. ­Darüber hinaus erließ die Versammlung auch die Bestimmung, dass alle Bürger der Repu­ blik, unter ihnen auch „Mullahs“, die sich als „aktive Revolutionäre und Verfechter der Interessen der arbeitenden Massen“ hervorgetan hätten, das Wahlrecht hätten.41 Dies stand in Einklang mit Weisungen der sowjetischen Regierung, so auch mit jenen des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen, das die ört­lichen Be­hörden aufforderte, von repressiven Maßnahmen gegen Angehörige der isla­mischen Geist­lichkeit abzusehen (was darauf schließen lässt, dass es in der Praxis oft zu Übergriffen kam) und Predigten in Moscheen oder Privathäusern zu erlauben.42 Während Dagestan als eigene Republik bestehen blieb, war die Existenz der Berg­republik nur von kurzer Dauer. Der Auflösungsprozess ging dabei aber nicht von Moskau, sondern von der Peripherie aus. Bereits im Mai 1921 drängte der Vorsitzende des Exekutivkomitees des kabardinischen Bezirks, Betal Edykovič Kalmykov (1893 – 1940), auf die Ausgliederung des von den Kabardinern bewohnten Bezirks und die Schaffung eines autonomen Gebiets. Dagegen sah er die Anbindung an Vladikavkaz, mit dem die Kabarda „nichts gemeinsam“ habe, als Hindernis für eine erfolgreiche wirtschaft­liche und kulturelle Entwicklung.43 Dass Kalmykov gerade zu d ­ iesem Zeitpunkt seine Unzufriedenheit äußerte, war kein Zufall, hatte sich die Sicherheitslage aus Sicht der Bolschewiki nach der Niederschlagung des Gocinskij-Aufstands und anderer antibolschewistischer Formationen sowie der Einverleibung der transkauka­sischen Länder Armenien, Aserbaidschan und Georgien doch deut­lich verbessert. In den Aussprachen, die im Juni 1921 innerhalb der Bergrepublik um den Austritt des Bezirks Kabarda geführt wurden, gab Kalmykov zu verstehen, dass die Kabarda bereits zwischen 1918 und 1920 eine Eigenständigkeit im Rahmen einer Autonomie angestrebt habe, die Umstände des Kriegs dies aber verhindert hätten. Nach dem Ende des Kriegs hätten sich die kabardinischen Delegierten nur deshalb für eine Beteiligung an der Bergrepublik ausgesprochen, weil dieser Vorschlag vom Zentrum ausgegangen sei und die äußeren Umstände angesichts der Lage in Georgien und der Kämpfe gegen die Überreste der von Pëtr Nikolaevič Vrangelʼ (1878 – 1928) angeführten Freiwilligen­armee wiederum nicht günstig gewesen seien.44 Tatsäch­lich nahm sich die bolschewistische Führung angesichts der akuten Bedrohungslage, die sie für den Nordkaukasus registrierte, weder die nötige Zeit 41 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 53 – 54. 42 Zirkularschreiben des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen, 16. Dezember 1922, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 90. 43 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 165. 44 Ebd., S. 169.

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noch verfügte sie über die Mittel, um vorab abzuklären, inwiefern diese Gebilde überhaupt den Interessen der einzelnen Völker beziehungsweise deren Repräsentanten entsprachen. Wie stark die Bildung der Bergrepublik von kurzfristigen poli­ tischen Erwägungen bestimmt war, geht aus einer Unterredung hervor, die Stalin mit dem ossetisch-stämmigen Bolschewiken Nikolaj Ivanovič Dzedziev (1889 – 1941), dem damaligen Parteisekretär der Bergrepublik, im Rahmen der Diskussionen um die Ausgliederung der Kabarda im Sommer 1921 führte. Zwar wich Stalin einer eindeutigen Stellungnahme zur Frage eines Austritts der Kabarda zunächst aus, machte dann aber deut­lich, dass nach der Gründung der Geor­gischen SSR (die am 25. Februar 1921, nach der Eroberung Georgiens durch die Rote Armee, ausgerufen worden war) das Bestehen einer gemeinsamen Autonomie im Rahmen der Berg­ republik keine besondere Wichtigkeit mehr habe. Der Volkskommissar erklärte aber: „[W]enn die Arbeiter der Kabarda [den Austritt] wollen, dann soll ­diesem Wunsch auch entsprochen werden.“ 45 Mit der veränderten Bedrohungslage im Frühjahr 1921 wurde somit auch das Ende der Bergrepublik eingeläutet. Die Kabarda war von ihrem landwirtschaft­lichen Potenzial her sowohl das bedeutendste Gebiet der Republik als auch, nebst dem tsche­tschenischen Bezirk, deren flächenmäßig größtes Territorium. Weil sie zentral gelegen war, musste der Bezirk der Karatschajer bei einer Ausgliederung vom Rest der Republik praktisch abgeschnitten werden. Weil zudem die Grenzen zwischen den einzelnen Bezirken nicht endgültig festgelegt und die Landbesitz­verhältnisse unter den einzelnen ethnischen Gemeinschaften oft noch nicht ge­­regelt waren, musste ein Austritt der Kabarda unweiger­lich auch Grenz- und Land­konflikte nach sich ziehen. Vor d­ iesem Hintergrund stemmten sich die leitenden Partei- und Staatsgremien der Bergrepublik zunächst vehement gegen einen Austritt der Kabarda. Sie befürchteten nicht nur ein Anschwellen der Konflikte innerhalb der Region, sondern auch eine Signalwirkung für Austrittsbestrebungen in den anderen nationalen Bezirken. Als sich das Kavbüro in dieser Auseinandersetzung hinter die Forderungen der Kabarda stellte, war die Sache jedoch praktisch besiegelt. Gestützt auf einen Bericht des Kavbüros empfahl das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen die Ausgliederung der Kabarda, die das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee am 1. September 1921 per Dekret rechtskräftig machte. Gleichzeitig wurde die Kabarda zu einem autonomen Gebiet (avtonomnaja oblastʼ – AO) erklärt.46 Noch bevor der Austritt formell erfolgt war, kam es im Grenzgebiet der Kabarda mit der Karatschaj zu blutigen Landkonflikten zwischen einzelnen Siedlungen, worauf sogar eine Spezialeinheit der Roten Armee entsandt wurde, um die feind­lichen

45 Zitiert bei: Ebd., S. 171. 46 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 173.

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Parteien zu trennen. Auch zwischen anderen Gebietseinheiten sollte es wiederholt zu Streitigkeiten um Land und Grenzen kommen, ­welche die verschiedenen Schiedskommissionen, die das Zentrum ins Leben rief, nicht immer entschärfen konnten.47 Allein im Zusammenhang mit den Landstreitigkeiten zwischen der Kabarda und ihren Nachbarn bildete das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee bis zum Sommer 1923 fünf Kommissionen, die ihre Aufgaben aber nicht zufriedenstellend erfüllten. Die ört­lichen Kommunisten rügten Moskau, dass es Kommissionen einsetze, die mit der Situation vor Ort nicht vertraut seien und deshalb Fehlentscheide fällen würden.48 Nicht nur die Landfrage spitzte sich mit dem Austritt der Kabarda zu. Auch trat nun der erwartete Dominoeffekt ein. Die Karatschajer, die Balkaren, aber auch die im angrenzenden Gebiet Kubano-Černomorsk siedelnden Tscherkessen drängten auf die Schaffung autonomer Gebiete. Sie sandten Delegationen in die Hauptstadt Moskau, um ihre Anliegen direkt dem Volkskommissariat für Nationalitätenfragen vorzubringen. Die auf Initiative des Volkskommissariats gebildeten K ­ ommissionen, die sich mit diesen Anliegen auseinanderzusetzen hatten, waren zwar nicht prinzipiell gegen die Autonomie dieser Völker. Doch sie hielten die Bildung von autonomen Territorien für winzige Völker nicht für zweckmäßig. Der Bezirk der Karatschaj zählte 1921 rund 41.500 Bewohner, die Mehrheit davon ethnische Karatschajer. Gleiches galt für den balkarischen Bezirk, in dem gerade einmal 35.000 Menschen lebten. Beide Völker siedelten zudem vorwiegend im Gebirge und waren für ihr wirtschaft­liches Überleben auf Handels- und Austauschbeziehungen mit der Ebene angewiesen.49 Die Lösung des Problems sah das Volkskommissariat im Zusammenschluss von Völkern. Als das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee per Dekret vom 12. Januar 1922 den Austritt der Karatschaj aus der Bergrepublik bekanntgab, konstituierte sich jene mit Teilen des von Tscherkessen besiedelten Gebiets Kubano-Černomorsk zu einem autonomen Gebiet (das aber bereits 1926 aufgrund ethnischer Spannungen wieder zerfallen sollte). Vier Tage später zogen die Balkaren nach und schlossen sich mit den Kabardinern zum Autonomen Gebiet

47 Ebd., S. 174. 48 RGASPI, F. 74, Op. 2, D. 53, L. 43. 49 Die Bevölkerungszahlen basieren auf Angaben zu den einzelnen Bezirken innerhalb der Berg­ republik aus dem Jahr 1921 und stammen aus: K. S. Butaev, Političeskoe i ėkonomičeskoe položenie Gorskoj republiki (doklad na 2-j Gorskoj oblastnoj konferencii RKP (b) 23 avgusta 1921 goda, Vladikavkaz 1921, S. 13, zitiert bei: Dzizdoev, Ot sojuza, S. 118. Basierend auf den Resultaten der Volkszählung von 1926 lebten auf dem Territorium der gesamten UdSSR 55.123 Karatschajer und 33.307 ­Balkaren. Die Daten der Erhebung von 1926 (basierend auf den publizierten Angaben in: Vsesojuznaja perepisʼ naselenija 1926, Moskva 1928 – 1929) finden sich in einer Zusammen­stellung auf: http://demoscope.ru/weekly/ssp/ussr_nac_26.php [6.2.2013].

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Kabardino-Balkarien zusammen. Auch dort prägten wiederholt S ­ pannungen die Beziehungen unter den Völkern, wobei eine besondere Schwierigkeit darin bestand, einen von allen Seiten als gerecht empfundenen Schlüssel für die Zusammen­ setzung der Regierung zu finden. Obwohl die Kabardiner eine deut­liche Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, einigten sich die beiden Völker auf Druck des Volkskommissariats auf eine paritätische Zusammensetzung des 15-köpfigen Exekutivorgans, das zu je einem Drittel aus Kabardinern, Balkaren und Russen gebildet wurde.50 Die nächste Etappe im Auflösungsprozess der Bergrepublik bildete die Ausgliederung Tsche­tscheniens, das am 30. November 1922 ebenfalls den Status eines autonomen Gebiets zugesprochen erhielt. Groznyj wurde zum Sitz der tsche­ tschenischen Regierung erklärt, die Stadt selbst jedoch aus der Berg­republik ausgegliedert und als eigenständige administrative Einheit direkt der ­Russ­­­­­­län­dischen Sozialistischen Föderativen Sowjetischen Republik (RSFSR) unterstellt (erst 1929 wurde Groznyj mit Tsche­tschenien in einem gemeinsamen adminstrativen Gebiet zusammengeführt).51 In einem letzten Schritt wurde schließ­lich der Rest der Bergrepublik auf­gelöst. Dieser Prozess zog sich deshalb noch weit bis ins Jahr 1924 hinein, weil sich die Inguschen und die Osseten nicht auf eine Aufteilung der Stadt Vladikavkaz ­einigen konnten, die beide Völker für sich beanspruchten. Als die Berg­republik am 7. Juli 1924 formell aufgelöst wurde, blieb die mehrheit­lich von Russen bewohnte Stadt zwar das administrative Zentrum für die Inguschen und die Osseten, bildete aber – wie Groznyj – zunächst eine eigene administrative Einheit, die direkt dem Moskauer Zentrum unterstellt war. Auf dem Gebiet der ehemaligen Rumpf­ republik entstanden die autonomen Gebiete der Osseten und der Inguschen. Einer Vereinigung zwischen Nordossetien und den in Georgien siedelnden Südosseten stand Stalin zunächst zwar positiv gegenüber, er änderte danach aber seine Meinung und lehnte die Vereinigung ab.52 Die Kosaken der Sunža behielten ihren autonomen Bezirk bis 1929, als dieser zusammen mit ­Groznyj ebenfalls Tsche­ tschenien zugeschlagen wurde.53

50 Daudov, Gorskaja ASSR, S. 182. 51 Ebd., S. 186; siehe dazu auch das 8. Kapitel in ­diesem Buch. 52 Die entsprechenden Dokumente finden sich in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 283, 286 – 287, 297 – 298. 53 Zur Schaffung des Sunženskij-Bezirks: Daudov, Gorskaja ASSR, S. 149 – 157.

Autonomie für die Tschetschenen

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7. 2   Aut o nom ie f ü r d ie Ts che ­t s che ne n Die Schaffung eines autonomen Gebiets für die Tsche­tschenen stand zunächst auf keiner Agenda. Anders als in der Kabarda, in Balkarien und in der Karatschaj trat die tsche­tschenische Führung unter Taštemir Ėlʼdarchanov, dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees des tsche­tschenischen nationalen Bezirks, nicht mit Auto­ nomie­­forderungen ans Moskauer Zentrum heran. Ėlʼdarchanov sah Tsche­tschenien innerhalb der Bergrepublik offenbar besser aufgehoben als außerhalb. Das Gebiet war bei seiner wirtschaft­lichen Entwicklung vor allem auf die Anbindung an die Stadt Groznyj, eine damals boomende Industriestadt mit rund 23.000 Arbeitern, angewiesen.54 Einen wesent­lichen Teil seines Budgets finanzierte Tsche­tschenien über die Dotationen, w ­ elche die Bergrepublik vom Erdölunternehmen Grozneftʼ erhielt. Tsche­tschenien hatte überwiegend länd­lichen Charakter, es verfügte über keine einzige Stadt und keine eigene Industrie, die als Motor einer Modernisierung hätte dienen können. Entsprechend musste die Vorstellung, dass Tsche­tschenien als eigenständiges autonomes Gebiet existieren könnte, eher abwegig erscheinen. Tatsäch­lich fassten auch die Vertreter des Zentralstaates die Errichtung eines autonomen tsche­tschenischen Gebiets zunächst nicht ins Auge. Für sie standen andere Fragen im Vordergrund, nament­lich jene, wie dem Anstieg des Banditen­ wesens Einhalt geboten werden konnte. Tsche­tschenien bereitete den Bolschewiki nach dem Ende des Bürgerkriegs zunächst nicht mehr oder weniger Kopf­zerbrechen als die anderen Gebiete des Nordkaukasus. Bewaffnete Banden trieben hier genauso wie anderswo ihr Unwesen, und außer in einzelnen größeren Ortschaften hatten sich auf dem Land noch keine regulär gewählten Räte etablieren können. ­Ansonsten aber galten die Beziehungen zwischen den Vertretern der Sowjetmacht und den Tsche­tschenen als eher unproblematisch. Schließ­lich hatten die Tsche­tschenen im rus­sischen Bürgerkrieg mehrheit­lich Seite an Seite mit den Bolschewiki gegen die Weißen gekämpft. Ab 1922 erreichten Moskau jedoch immer häufiger schlechte Nachrichten aus Tsche­tschenien. Besorgniserregend war der Umstand, dass sich Überfälle von Tsche­tschenen offenbar nicht mehr nur gegen Kosakensiedlungen richteten, wie dies früher wiederholt vorgekommen war. Immer öfter überfielen Tsche­tschenen auch die Eisenbahnlinie. Sie töteten Soldaten der Roten Armee und führten sogar Anschläge auf die Erdölanlagen bei Groznyj aus.55 Nicht selten beteiligten sich

54 Ebd., S. 187. 55 Siehe dazu den Bericht Mikojans an das ZK der Partei vom 1. Oktober 1922 über die Situation in der Bergrepublik: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 84 – 87, hier S. 85; zur Zunahme von Überfällen von tsche­tschenischen Banden im Herbst 1922 zudem: Ebd., S. 87 – 88.

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tsche­tschenische Milizen, die mit einem Mandat der Bergregierung zur Bekämpfung von Banditen ausgestattet waren, selbst an Übergriffen.56 Deshalb war es kaum verwunder­lich, dass Angehörige der nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus nur in Ausnahmefällen in die Rote Armee aufgenommen wurden. Im Frühjahr 1923 erließ Moskau sogar Restriktionen für die Aufnahme von Einheimischen in die ört­lichen Polizeieinheiten, weil befürchtet wurde, die dafür ausgehändigten Waffen könnten in die Hände von Banditen fallen. Nur diejenigen sollten in der Miliz zugelassen werden, die als prosowjetisch galten.57 Allerdings wurde die Bestimmung für die Aufnahme von Tsche­tschenen in die Miliz später wieder aufgehoben, diejenige für die Rote Armee sollte aber bis 1939 bestehen bleiben.58 Auch die Geheimpolizei zeigte sich zunehmend alarmiert über die Lage in Tsche­tschenien. Karl Ivanovič Lander (1883 – 1937), der zu ­diesem Zeitpunkt im Nordkaukasus die staat­liche Geheimpolizei repräsentierte, hielt in einem Bericht von Anfang 1922 fest, dass es unter den „Berglern“, die „[ihnen] bisher wohl­gesinnt [gewesen seien], etwa die Tsche­tschenen, die Kabardiner und ein Teil der Karatschajer“, zunehmend zu Unruhen komme und die Tsche­tschenen angefangen hätten, Überfälle auf die Erdölanlagen bei Groznyj durchzuführen, „was bis jetzt nicht der Fall [gewesen sei]“.59 Das bereitete dem Berichterstatter deshalb Sorgen, weil er die Situation im Inneren mit einer noch immer als bedroh­lich empfundenen Lage im Äußeren verband. Auch nach der Eroberung Georgiens sah er Russland von Feinden bedroht, zu denen er nament­lich die Staaten der Entente, ­Großbritannien und Frankreich, zählte. Diese, so Lander, würden mit Agenten aus den Reihen der Weißen und der kauka­sischen Diaspora einen „Angriff auf den Nordkaukasus“ planen und nebst den Terek-Kosaken auch die „Bergler“ gegen die Sowjetmacht aufzuwiegeln versuchen.60 Vor ­diesem Hintergrund sah der Geheimpolizist den ganzen Nordkaukasus am Rande einer „Katastrophe“, die nur abgewendet werden könne, falls rigorose Maßnahmen ergriffen würden, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.61 Weshalb gerade die Errichtung eines autonomen tsche­tschenischen Gebiets ­dieses Problem hätte lindern sollen, leuchtete vielen Bolschewiki vor Ort nicht

56 Ebd., S. 87. 57 Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, in: Voenno-istoričeskij archiv 2 (1997), S. 135 – 168, hier S. 124 – 126; P. M. Poljan, Sovetizacija po-vajnachskij, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 447 – 461, hier S. 449 – 450. 58 Dazu Kapitel 10 in ­diesem Buch. 59 Der Bericht von Lander an das ZK der Partei wurde vor dem 11. Februar 1922 verfasst und ist publiziert in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 60 – 64, hier S. 61. 60 Ebd., S. 61. 61 Ebd., S. 64.

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Abb. 7: MichaiI Kalinin (zweiter von links), Vorsitzender des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees, beim Gespräch mit Terek-Kosaken während des Besuchs einer Kaserne der Roten Armee im Nordkaukasus. Aufnahme von 1921.

ein. Im Gegenteil erkannte etwa Lander in den „Autonomisten sowjetischen Typs“, zu denen er nament­lich Ordžonikidze und die Vertreter des Kavbüros zählte, eine Gefahr für die Region, da diese Leute über ihre Autonomieprojekte in die Hände der konterrevolutionären Kräfte spielen würden, die auf eine Abspaltung des Kaukasus von Russland hinarbeiten würden. Lander forderte sogar die Absetzung Ordžonikidzes und schlug ein anderes Vorgehen vor, um die Lage im Nordkaukasus zu stabilisieren und die Loyalität der nichtrus­sischen Bewohner zu gewinnen. So sollten insbesondere die Kosaken allesamt ausgesiedelt werden. Damit hätte die Sowjetmacht sich nicht nur eines ihr feind­lich gesinnten Bevölkerungssegments entledigt, sondern auch die Landforderungen der Tsche­tschenen endgültig befriedigt. Um den Einfluss konterrevolutionärer Kräfte effektiv zu unterbinden, sollten zudem die an Georgien angrenzenden Gebiete der Region einer direkten Kontrolle durch das Militär unterstellt werden. Gleichzeitig sollten dorthin „verantwort­liche Arbeiter“ abkommandiert werden, um den Aufbau von Partei- und Staats­strukturen voranzutreiben. Schließ­lich schlug Lander vor, die fortschritt­lichsten Kräfte der nichtrus­sischen Bevölkerung ihrer bisherigen administrativen Funktionen zu entheben und zur „Politarbeit“ in die Berge zu entsenden. Ihre Posten sollten Russen

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besetzen, was gemäß Lander einer Forderung der „Bergler“ selbst entsprechen würde, die „den Ihrigen nicht vertrauen“ würden.62 Die sowjetische Führung folgte den Vorschlägen Landers nicht. Zu weiteren großflächigen und systematischen Umsiedlungen von Kosaken sollte es zunächst nicht mehr kommen. Im Gegenteil normalisierten sich in den 1920er-Jahren die Beziehungen der Sowjetmacht mit den Kosaken schrittweise. Die Bolschewiki erlaubten diesen Minderheiten eigene Bezirke innerhalb der jeweiligen nationalen Gebiete und kamen ihnen auch in symbo­lischer Hinsicht entgegen, indem sie ihnen das Tragen ihrer Trachten erlaubten und ihnen zugestanden, ihre Dörfer wieder stanicy nennen zu dürfen.63 Doch eine aktive Politarbeit, die diesen Namen verdient hätte, blieb im Nordkaukasus zunächst weitgehend aus. Stattdessen verschlechterte sich die Lage in Tsche­tschenien bis zum Herbst 1922 weiter. Für verbreiteten Missmut unter der Bevölkerung sorgte vor allem die Naturalsteuer (prodnalog), ­welche die Bauern zwang, einen beträcht­lichen Teil ihrer Agrarerzeugnisse an den Staat abzuliefern. Diese Praxis, ­welche die Bolschewiki bereits im Frühjahr 1921 im Rahmen ihrer Neuen Ökonomischen Politik im ganzen Land eingeführt hatten und die eigent­lich die noch harschere Maßnahme der staat­lichen Konfiskation von Getreide (prodrazvёrstka) während der Zeit des Kriegskommunismus ersetzen sollte, führte zu großen Unruhen. Weil sich Teile der Bauernschaft weigerten, diese Steuer zu entrichten, und sich die ört­lichen Behörden auch Willkürakten schuldig machten, kam es erneut zu Unruhen und blutigen Zusammenstößen zwischen Tsche­tschenen und Angehörigen der Roten Armee.64 Sowjetische Quellen berichten von einer Situation, die außer Kontrolle ge­­raten zu sein schien. So soll es in dieser Zeit in Tsche­tschenien, aber auch in ­Teilen Dagestans, zur Bildung von Selbstverteidigungseinheiten in Form sogenannter Scharia-­ Regimentern gekommen sein, wobei diese anscheinend oft entlang von Clanbeziehungen formiert wurden.65 Die Bolschewiki erkannten darin eine Stärkung der „reaktionären“ Elemente im Dorf, der „Kulaken, Hochstapler und Mullahs“, die so

62 Ebd., S. 63. 63 Dabei war es vermut­lich nament­lich Mikojan, der die Anliegen der kosakischen Bevölkerung aufnahm und sich für deren Interessen stark machte. Siehe dazu den Bericht Mikojans zuhanden Molotovs (undatiert, vermut­lich Ende 1924 verfasst): RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 172, Ll. 73 – 78; A. I. Mikojan, Tak bylo. Razmyšlenija o minuvšem, Moskva 1999, S. 224 – 226; sowie seine un­ publizierten Aufzeichnungen von 1971: RGASPI, F. 84, Op. 3, D. 120, Ll. 53 – 61. Dazu ebenfalls: N. F. Bugaj / D. Ch. Mekulov, Narody i vlastʼ. „Socialističeskij ėksperiment“ (20-e gody), Majkop 1994, S. 49. 64 Bericht der Südostabteilung der GPU , Gosinfsvodka, Nr. 1, 6. Januar 1923, in: N. M. Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934). Tom 1. Častʼ 2. 1922 – 1923 g., Moskva 2001, S. 563 – 564. 65 Nosov-Bericht, 17. Mai 1922, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 442.

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Abb. 8: Anastas Mikojan, Iosif Stalin und Grigorij Ordžonikidze (von links nach rechts). Moskau 1926.

ihre Machtpositionen gegenüber den armen Bevölkerungsteilen zu festigen suchten.66 Tatsäch­lich kam darin aber wohl eine Form der Selbsthilfe zum Ausdruck. Angesichts nicht existierender oder nicht funktionierender staat­licher Strukturen und der als ungerecht empfundenen Eingriffe des Staates in Form von Steuereintreibungen, suchten die gesellschaftlichen Führer sich selbst zu helfen, indem sie ein eigenes Gerichtswesen auf der Grundlage der Scharia errichteten und bewaffnete Abteilungen zum Schutz der Dörfer und zur Bekämpfung des Banditen­wesens schufen. Dass sie sich dabei die Beziehungen innerhalb der Großfamilien und der Clans zunutze zu machen suchten, lag angesichts der Tatsache, dass jene noch immer maßgeb­liche Bezugspunkte dieser traditionellen Gesellschaften bildeten, auf der Hand. Die sowjetische Parteiführung musste aktiv werden. Auf Begehren der ört­ lichen Behörden berief das Südostbüro (Jugovostočnyj bjuro – Jugovostbjuro) des Zentralkomitees der RKP (b) eine Kommission ins Leben, w ­ elche die Lage in Tsche­tschenien untersuchen sollte. Das Südostbüro war im März 1921 aus dem Kavbüro ausgegliedert worden und stand unter der Leitung von Anastas M ­ ikojan. Das Büro, das seinen Sitz ebenfalls in Rostov am Don hatte, bestand bis Mai 1924 und übernahm im Wesent­lichen die Arbeit des Kavbüros, das am 22. Februar 1922 aufgelöst worden war, nachdem es seine Funktionen auch im Südkaukasus an eine neu gegründete Institution – das Südkauka­sische Kreiskomitee der RKP (b) – abgetreten hatte.

66 Ebd.

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Das Südostbüro machte sich für ein konsequentes Durchgreifen in Tsche­tschenien stark. In seinem Bericht vom 1. Oktober 1922 ans Moskauer Zentralkomitee ging Mikojan sogar über diese Forderungen hinaus, wie sie etwa auch Lander unter­breitet hatte, wobei er für ein militärisches Vorgehen in Tsche­tschenien plädierte. Zwar sah der Bericht auch andere Maßnahmen vor, zum Beispiel die Überprüfung der Naturalsteuer, doch war nach Ansicht Mikojans eine großangelegte Militäraktion unabdingbare Voraussetzung für eine Normalisierung der Lage in Tsche­tschenien.67 Neben dem Ziel, die bewaffneten Banden zu zerschlagen, sollte auch die Bevöl­ kerung entwaffnet werden. Mikojan schätzte, dass sich in Tsche­tschenien und Inguschetien noch immer rund 70.000 Gewehre in Besitz der Einheimischen befanden. Um das Einbringen der Herbsternte nicht zu gefährden, sollte die Rote Armee Mitte November 1922 einrücken und die Aktion bis spätestens Januar/Februar 1923 und damit vor Beginn der Bestellung der Felder im Frühjahr beenden.68 Mikojan hält in seinen viel später publizierten Memoiren fest, dass er für eine tolerante Linie gegenüber den Tsche­tschenen eingetreten sei. Wenn die Tsche­tschenen erst einmal an die Macht gekommen wären, so gibt er sich in seinen Memoiren überzeugt, würde sich die Lage von alleine stabilisieren.69 Dass er damals aber tatsäch­lich so dachte, muss bezweifelt werden. In seinem Bericht vom 1. Oktober 1922 trat Mikojan jedenfalls unumwunden für eine harte Linie ein, wobei er die bisherige „friedliebende Politik“ verurteilte, ­welche die Banditen straflos davonkommen ließ. Ausdrück­lich machte er diese Politik für eine Lage verantwort­lich, die seiner Meinung nach nicht nur die Stabilität Tsche­tscheniens, sondern auch jene der angrenzenden Gebiete, insbesondere Dagestans, gefährdete.70 Zwar sollte eine Aktion zur Entwaffnung Tsche­tscheniens tatsäch­lich durchgeführt werden, allerdings erst im Spätsommer 1925. Zunächst entschied sich die Politik für einen anderen Kurs. Basierend auf dem Mikojan-Bericht wurde die Lage der Bergrepublik auf der Sitzung des Organisationsbüros (Orgbüro) am 9. Oktober 1922 diskutiert. Das Orgbüro des Zentralkomitees der RKP (b) war 1919 gegründet worden und setzte sich aus Mitgliedern des Zentralkomitees zusammen. Als Führungsgremium der Partei war es mit ähn­lichen Aufgaben betraut wie das Sekre­ tariat des Zentralkomitees und dessen Politisches Büro (Politbüro). Zwar existierte das Orgbüro noch bis 1952, gegenüber den anderen beiden Gremien verlor es aber

67 Bericht Mikojans, 1. Oktober 1922, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 84 – 87. 68 Ebd., S. 85. 69 Mikojan, Tak bylo, S. 229. 70 Bericht Mikojans, 1. Oktober 1922, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 84 – 87, hier S. 85.

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Abb. 9: Michail Kalinin, Oga-Maly-Ogly und Taštemir Ėlʼdarchanov (von links nach rechts) während der Arbeit der 3. Sitzung der 12. Versammlung des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees. Moskau, November 1926.

rasch an Bedeutung. Einzelne Mitglieder des Orgbüros, unter ihnen Stalin, saßen zeitweise in allen drei Gremien.71 Mit großer Wahrschein­lichkeit zogen die Bolschewiki erstmals an der Sitzung des Orgbüros vom 9. Oktober 1922 die Errichtung eines autonomen tsche­tschenischen Gebiets in Erwägung. Um die Frage zu prüfen, beschloss das Büro, eine ­Kommission zu bilden, der nebst Mikojan auch Kliment Efremovič Vorošilov (1881 – 1969), der Oberkommandierende der Streitkräfte im Nordkaukasuskreis, und Kirov, der Erste Sekretär des aserbaidschanischen Zentralkomitees der RKP (b), angehörten. Bis die Frage einer Ausgliederung endgültig geklärt war, sollte ausdrück­lich auf alle repressiven Maßnahmen gegenüber den Tsche­tschenen verzichtet werden.72 Mikojan schreibt in seinen publizierten Erinnerungen, dass die Idee der ­Schaffung eines nationalen Gebiets für die Tsche­tschenen auf ihn zurückgehe. Er habe die Idee zunächst mit Feliks Ėdmundovič Dzeržinskij (1877 – 1926), dem Gründer und Leiter der staat­lichen Geheimpolizei, besprochen und sei mit dem Vorschlag danach an Stalin herangetreten, der dem Plan wohlwollend gegenübergestanden habe.73 Im Quellentext, der den Beschluss des Orgbüros vom 9. Oktober 1922 enthält, findet sich jedoch kein Hinweis darauf, dass die 71 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 213; John Löwenhardt, The Soviet Politburo, ­Edinburgh 1982, S. 78 – 80. 72 Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 87 (Anmerkung 9). 73 Mikojan, Tak bylo, S. 229.

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Idee von Mikojan kam. Hingegen steht dort nur, dass Stalin auf der Sitzung die „neue Frage hinsicht­lich der Mög­lichkeit einer Ausgliederung Tsche­tscheniens in Form eines autonomen Gebiets“ vorbrachte.74 Wahrschein­lich wurden die Tsche­tschenen erst nach dieser Sitzung erstmals konsultiert. Nach Rücksprache mit ihnen stellte die Kommission bereits am 22. Oktober eine Liste der künftigen 13-köpfigen tsche­tschenischen Regierung vor, die als Revolutionäres Komitee (Revkom) gebildet werden sollte. S ­ olche zum Teil noch während des Bürgerkriegs ins Leben gerufenen Institutionen waren ursprüng­ lich als außerordent­liche Regierungsinstrumente für eine Übergangszeit gedacht, bis sie durch gewählte Räte abgelöst werden sollten. Aufgrund der Schwierigkeiten, re­­guläre Wahlen in die Räte durchzuführen, bestanden R ­ evkoms in Tsche­ tschenien mit Unterbrechungen jedoch noch bis in die Mitte der 1920er-Jahre, zum Teil ­parallel zu den Exekutivkomitees der Räte.75 Neben Ėlʼdarchanov, der im Revkom den Vorsitz zugesprochen bekam, umfasste die Regierung zehn weitere Tsche­tschenen, darunter allerdings nur drei Kommunisten. Die beiden NichtTsche­tschenen waren beide Kommunisten.76 Damit war mutmaß­lich ein großer Teil der tsche­tschenischen Kommunisten, die es damals in Tsche­tschenien gab, in die Regierung eingebunden.77 Aus dem Sitzungsprotokoll der Kommission geht nicht hervor, inwiefern der Beschluss, Groznyj nicht mit Tsche­tschenien zusammenzuführen, zu Unstimmigkeiten mit den tsche­tschenischen Vertretern führte. Immerhin sah der Kommissions­ bericht nicht nur umfassende finanzielle Hilfe für Tsche­tschenien vor, sondern auch Budgetbeiträge aus den Einkünften der Erdölindustrie bei Groznyj – wobei die genaue Höhe der Beiträge erst später festgelegt werden sollte. Zudem sollte rund die Hälfte der an den Staat abgetretenen Naturalsteuer an die Tsche­tschenen zurück­ gehen.78 Das Orgbüro akzeptierte den Vorschlag der Kommission in w ­ eitgehend unveränderter Form und empfahl am 10. November 1922 die Schaffung eines 74 Dies schließt nicht aus, dass die Idee dennoch auf Mikojan zurückging: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 87 (Anmerkung 9). 75 Bugaj / Mekulov, Narody i vlastʼ, S. 71. 76 Protokoll der Kommission des ZKs der RKP (b) zur Frage der Ausgliederung Tsche­tscheniens aus der Bergrepublik, 22. Oktober 1922, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 88 – 89. 77 Mikojan spricht in seinem Bericht vom 1. Oktober 1922 von insgesamt zehn tsche­tschenischen Kommunisten, die es damals in Tsche­tschenien gegeben haben soll: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 84; Ėlʼdarchanov erwähnt anläss­lich seines Auftritts an der 4. Konferenz des ZKs der RKP (b), die vom 9.–12. Juni 1923 in Moskau abgehalten wurde, dass es in Tsche­tschenien „fast keine Kommunisten“ gebe: Tajny nacional’noj politiki CK RKP, S. 167 – 169, hier S. 169. 78 Protokoll der Kommission des ZKs der RKP (b) zur Frage der Ausgliederung Tsche­tscheniens aus der Bergrepublik, 22. Oktober 1922, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 88 – 89.

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autonomen tsche­tschenischen Gebiets. Nach d­ iesem Parteibeschluss war das weitere Prozedere nur noch Formsache. Per Dekret des Allrussländischen Zentralen Exekutiv­komitees vom 20. November 1922 wurde Tsche­tschenien aus der Berg­ republik herausgelöst, um schließ­lich per Dekret vom 30. November 1922 den Status eines autonomen Gebiets zu erhalten.79 Wie lässt sich der Gesinnungswandel der bolschewistischen Führungsspitze erklären? Weshalb wurde von einer Militäraktion abgesehen? Wenn davon ausgegangen werden kann, dass sich Stalin selbst für die Schaffung eines autonomen Tsche­tschenien stark machte und er womög­lich sogar dessen Initiant war, dann widerspiegelt dieser Entscheid auch seine grundlegenden Ansichten hinsicht­lich der Nationalitätenfrage. Als kompakt siedelnde Gemeinschaft mit damals rund 290.000 Angehörigen, die durch eine Sprache, ein Territorium und ein gemeinsames Wirtschafts- und Kulturleben miteinander verbunden waren, erfüllten die Tsche­tschenen die Kriterien für die Erlangung eines autonomen Gebiets zur Genüge.80 Darüber hinaus muss das Interesse Stalins wohl auch vor dem Hintergrund des innenpolitischen Machtkampfs gesehen werden. Im Fall Tsche­ tscheniens sah er erneut eine Mög­lichkeit, durch das Bekenntnis zu Autonomie die Attraktivität der Sowjetmacht und damit seiner eigenen Person als Vorsteher des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen in den Augen der Nichtrussen zu steigern. Das war vor dem Hintergrund seiner persön­lichen Macht­ambitionen nicht unwichtig. Zu Recht weist der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg B ­ aberowski darauf hin, dass bei der Beurteilung des politischen Aufstiegs von Stalin stets übersehen worden sei, dass die Anbindung der nichtrus­sischen Peripherie ein zentraler Faktor im Machtkampf gegen innerpartei­liche Gegner wie Trockij, Zinovʼev, Kamenev, Bucharin oder Rykov gewesen sei. Ohne die Unterstützung der Nichtrussen hätte Stalin vielleicht nicht nur sein Autonomiekonzept nicht erfolgreich durchsetzen können, sondern wäre auch im innenpolitischen Ringen mit seinen Gegnern unterlegen.81 Doch auch die besonders schwierige Lage in Tsche­tschenien beeinflusste die Überlegungen zur Gewährung der Autonomie. Anstatt durch eine Militäraktion, wie sie Mikojan empfohlen hatte, Gefahr zu laufen, die Bevölkerung noch stärker gegen die Sowjetmacht aufzubringen und womög­lich eine Ausweitung der Unruhen zu riskieren, 79 Ebd., S. 89 (Anmerkung 2). 80 Die Angabe 290.000 beruht auf der Volkszählung von 1926 und schließt über 90 Prozent der Tsche­ tschenen ein; die rest­liche Bevölkerung siedelte in den Nachbargebieten, davon mehrheit­lich in Dagestan (knapp 7 Prozent). Insgesamt lebten gemäß den Daten der Erhebung von 1926 318.522 Tsche­tschenen auf dem Gebiet der UdSSR: http://demoscope.ru/weekly/ssp/ussr_nac_26.php [6.2.2013]; dazu ebenfalls: N. F. Bugaj / A. M. Gonov, Kavkaz. Narody v ėšelonach (20 – 60-e gody), Moskva 1998, S. 58. 81 Baberowski, Feind, S. 199.

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zogen es die Bolschewiki vor, die Verantwortung zunächst den Tsche­tschenen selbst zu übertragen. Die Gewährung des Autonomiestatus war denn auch an Bedingungen geknüpft. Punkt 7 des Kommissionsberichts vom 22. Oktober 1922 forderte das tsche­ tschenische Revkom unmissverständ­lich auf, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um „Angriffe der Tsche­tschenen auf Angehörige der Roten Armee, die Industrie­anlagen [und] die Bahnverbindungen“ zu unterbinden. Autonomie bedeutete somit auch, dass fortan eine klare Schuldzuweisung mög­lich war, denn „[f]ür jeden Verstoß gegen die Ordnung im autonomen Tsche­tschenien“, so der Wortlaut des Berichts, „sollte die Verantwortung das tsche­tschenische Revkom tragen“.82 Die Bolschewiki nahmen sich so selbst aus der Schusslinie und hielten sich gleichzeitig die Option offen, das Revkom im Fall von Schwierigkeiten an den Pranger zu stellen. Kaum jemand, der damals mit der Situation in Tsche­tschenien vertraut war, rechnete damit, dass es dem Revkom unter Ėlʼdarchanov aus eigener Kraft gelingen könnte, die Situation rasch zu stabilisieren und die Voraussetzungen für einen geordneten politischen Prozess und für Wahlen in die Räte zu ­schaffen. Die Loyalitäten in der tsche­tschenischen Gesellschaft galten noch immer in e­ rster Linie der Familie sowie den jeweiligen Clans und Dorfgemeinschaften und orientierten sich darüber hinaus an einzelnen charismatischen Geist­lichen. Als ethnischer Tsche­tschene mag Ėlʼdarchanov durchaus Sympathien bei der Bevölkerung genossen haben, doch dies garantierte ihm noch nicht die Autorität, die nötig war, um die neuen Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. Der Aufbau dieser Autorität war ohne Einbeziehung der Geist­lichkeit nicht zu bewerkstelligen. Als sich Anfang 1923 eine Abordnung der sowjetischen Regierung unter der Leitung von Mikojan in den Aul Urus-Martan aufmachte, um den Tsche­ tschenen den Beschluss Moskaus hinsicht­lich der Schaffung eines autonomen tsche­ tschenischen Gebiets zu überbringen, war es diese Einsicht, w ­ elche die Delegation schließ­lich dazu bewog, einer der damals einflussreichsten Autoritäten, Ali Mitaev, den Vorschlag zu unterbreiten, Mitglied der tsche­tschenischen Regierung zu werden.

7. 3  Rei s e n a ch Ur u s - M a r t a n Am 15. Januar 1923 reisten Mikojan und andere hochrangige Vertreter des Südost­ büros, darunter Kliment Vorošilov und Semёn Michajlovič Budёnnyj (1883 – 1973), der stellvertretende Kommandant des Nordkaukas­us-Militärkreises, nach Urus-Martan,

82 Protokoll der Kommission des ZKs der RKP (b) zur Frage der Ausgliederung Tsche­tscheniens aus der Bergrepublik, 22. Oktober 1922, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 89.

Reise nach Urus-Martan

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dem damals größten tsche­tschenischen Aul mit rund 30.000 Einwohnern.83 Vonseiten des tsche­tschenischen Revkoms schlossen sich der Dele­gation Ėlʼdarchanov und ­weitere Regierungsvertreter an. Weil die Bolschewiki davon ausgingen, dass eine Reise ins Innere Tsche­tscheniens nicht ungefähr­lich war, sie gegenüber der Bevölkerung jedoch nicht als feind­liche Macht auf­treten wollten, verzichteten sie auf eine mili­tärische Eskorte. Sie nahmen offenbar auf Vorschlag Budёnnyjs aber zwei Soldaten­orchester mit, deren Musiker Waffen unter ihren Röcken versteckt hielten.84 Übereinstimmend berichten Mikojan, Budёnnyj und Vorošilov in ihren schrift­ lichen Aufzeichnungen von einem freund­lichen Empfang durch die Tsche­tschenen. Gemäß Vorošilov wurde die Delegation auf ihrer letzten Wegstrecke von 2000 bis 3000 Reitern begleitet, und in Urus-Martan sollen zwischen 7000 und 8000 ­Menschen, unter ihnen Vertreter der verschiedenen tsche­tschenischen Aule, an­­ wesend gewesen sein.85 Deut­lich wurde den Bolschewiki beim Zusammentreffen mit den Tsche­tschenen vor Augen geführt, dass diese Moskau beim Wort nahmen: Die Tsche­tschenen verstanden die Gewährung der Autonomie als Anerkennung dafür, dass sie im Bürgerkrieg für die Sowjetmacht gekämpft hatten. Entsprechend selbstbewusst traten sie an der Versammlung auf. Sie beschränkten sich nicht darauf, den Bolschewiki für die Gewährung eines autonomen Gebiets zu danken, sondern erhoben selbst Forderungen. Seine Eindrücke der Reise nach Tsche­tschenien hielt Vorošilov in einem vom 21. Januar 1923 datierten Schreiben an Stalin fest. Demgemäß trat Scheich ­Bilo-Chadži, einer der „gescheitesten tsche­tschenischen Mullahs“, nachdem er sich im Namen des tsche­tschenischen Volks für die „Rechte und Freiheiten“ bedankt hatte, mit fünf konkreten Forderungen an die Delegierten heran: Die neue Macht sollte „ehr­lich“ sein und das Volk „nicht bestehlen“; sie sollte dafür sorgen, dass eine „starke und ehr­liche Polizei“ organisiert werde; sie sollte das „Bestehen der Scharia-Gerichtsbarkeit“ erlauben, weil diese „keinen Feind, sondern einen Freund der Sowjetmacht“ darstelle und das „Vertrauen der Bevölkerung“ genieße; sie sollte mit „eiserner Hand gegen das Banditenwesen, [gegen] Raub und Überfälle“ vorgehen; und schließ­lich sollte eine Kommission gebildet werden, w ­ elche die als ungerecht empfundene Praxis der Naturalsteuer, einer Abgabe, die vom einfachen Bauern mehr verlange als vom reichen, untersuchen sollte.86

83 Angabe Vorošilovs aus seinem Schreiben an Stalin über die Reise nach Tsche­tschenien, 21. Januar 1923, in: Ebd., S. 94 – 96, hier S. 94. 84 S. M. Budënnyj, Projdënnyj putʼ. Kniga tretʼja, Moskva 1973, S. 305 – 306. 85 Schreiben Vorošilovs an Stalin, 21. Januar 1923, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 94. 86 Ebd., S. 95.

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Vorošilov zeigte sich von den Forderungen des Scheichs nicht sonder­lich be­­ eindruckt, da er sie als „weiß Gott nicht so groß“ erachtete. Die Wünsche hinsicht­lich der Scharia-Gerichte störten ihn zwar offensicht­lich, doch auch hier waren die Bolschewiki zu Zugeständnissen bereit, um die Gunst der Tsche­tschenen zu gewinnen. Sie wussten, dass viele Tsche­tschenen und Muslime gemeinhin die Sowjetmacht über die Scharia identifizierten und dies auch wiederholt unmissverständ­lich zum Ausdruck brachten. Gegenüber MichaiI Ivanovič Kalinin (1875 – 1946), der Tsche­tschenien in seiner Funktion als Vorsitzender des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees auf einer Reise durch den Nordkaukasus nur wenige Monate später, Mitte Mai 1923, besuchte, sollen die Tsche­tschenen deklariert haben: „Die Sowjetmacht hat uns die Scharia gegeben, deshalb unterstützen wir die sowje­tische Macht.“ 87 Um die Fragen rund um die Autonomie im Detail zu besprechen, luden die Bolschewiki die Tsche­tschenen nach dem Treffen in Urus-Martan nach Groznyj ein. Unter den bis zu 400 Tsche­tschenen, die sich in Groznyj einfanden, waren rund 200 gewählte Delegierte, worunter sich gemäß Vorošilov auch 35 Mullahs be­­ fanden, der Rest setzte sich aus Kaufleuten und Landwirten zusammen.88 Vorošilov zeigte sich von der starken Präsenz der Geist­lichkeit nicht überrascht. Er kannte die Verhältnisse im Nordkaukasus bereits aus seiner Zeit als Militärkommandant im rus­sischen Bürgerkrieg und wusste, welch großen Einfluss Geist­liche gerade in Tsche­tschenien hatten: Die Tsche­tschenen sind nicht besser oder schlechter als die anderen Bergler. Mullahs, Scheiche und andere Teufeleien [čertovščiny] gibt es hier aber mehr als bei den anderen, zum Beispiel bei den Karatschajern und sogar bei den Kabardinern. Der Fanatismus, die Rückständigkeit und die Einfältigkeit sind außergewöhn­lich. Der Einfluss der Mullahs und Scheichs kennt keine Grenzen (…) Unser Einfluss ist keinen Pfifferling wert. (…) Ganz Tsche­tschenien ist bewaffnet und das ziem­lich gut.89

Wie andere führende Bolschewiki war auch Vorošilov von der Vorstellung, mit den geist­lichen Führern zu kooperieren, nicht sonder­lich angetan, und er machte in seinem Bericht aus der abschätzigen Haltung diesen gegenüber kein Hehl. Anstatt sich die Geist­lichkeit zum Gegner zu machen, sah er zum Zweck einer vorübergehenden Stabilisierung zunächst keinen Weg um sie herum. In einem anderen Entwurf seines Briefs an Stalin (es finden sich in den Archivbeständen verschiedene Versionen) bringt Vorošilov seine Vorstellungen unverblümt zum Ausdruck: 87 Zitiert aus dem Bericht des Militärkommissars R. N. Sokolov über die Situation in Tsche­tschenien, verfasst vor dem 20. Juli 1923, in: Ebd., S. 133 – 135, hier S. 134. 88 Schreiben Vorošilovs an Stalin, 21. Januar 1923, in: Ebd., S. 95. 89 Ebd., S. 94.

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Bis es uns nicht gelingt, in Tsche­tschenien ein uns loyal ergebenes Kader zu schaffen, das Tsche­tschenien (…) kennt, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit den Mullahs abzugeben. Die Mullahs sind ein durchtriebenes Volk und es wird nicht viel brauchen, sie in unserem Sinn zu beeinflussen.90

Dagegen bezeichnet Vorošilov jene als „Dummköpfe“, die glaubten, dass sich in der traditionellen tsche­tschenischen Gesellschaft, in welcher der Einzelne in „­patriarcha­lisch-clanhafte Beziehungen“ eingebunden sei und in der „jeder ­bednjak [Kleinbauer] den Mullah und Heiligen hundertmal mehr [verehre] als den ­Kulaken“, ein Klassenkampf führen ließe.91 Eine Zusammenarbeit mit den geist­lichen Autoritäten konnte aber nur dann Früchte tragen, wenn es gelang, diese auch für die sowjetische Sache zu ge­­winnen. Grundsätz­lich war dies nicht schwierig, denn viele dieser Persön­lichkeiten standen im Bürgerkrieg auf der Seite der Bolschewiki und pflegten auch danach ein gutes Verhältnis zu diesen. Nicht selten wurden Vertreter der Geist­lichkeit in die ört­lichen Räte beziehungsweise in die ört­lichen Revkoms einbezogen, was das Gesetz zunächst nicht ausdrück­lich untersagte. Einige Geist­liche besetzten nach dem Sieg der Roten Armee sogar hohe Regierungsämter, so etwa der einfluss­ reichste Scheich Dagestans, Ali-Chadži Akušinskij, der zum Volkskommissar für Scharia-Angelegenheiten ernannt wurde, einen Posten, den er bis Dezember 1921 innehatte. Vor allem während des Aufstands von Gocinskij 1920/21 suchten die Kommunisten Dagestans die Unterstützung Akušinskijs, um die Bevöl­ kerung gegen den Imam zu mobilisieren.92 Auch in anderen islamisch ­dominierten Gebieten war die Kooptation von Muslimen in Regierungsämter und sogar in die Partei keine Seltenheit. In Buchara etwa zählte das elfköpfige regionale Revkom 1923 mindestens einen „Mullah“.93 Im Zentralkomitee Turkestans soll zu Anfang der 1920er Jahre eine Mehrheit Muslime gewesen sein,94 und bei der

90 Ebd., S. 96 (Anmerkung 4). 91 Ebd. 92 I. Ch. Sulaev, Stranicy žizni Ali-Chadži Akušinskogo, in: Vozroždenie 4 (1999), http://www.odnoselchane.ru/?sect=1499&page=article&id=1121&com=articles [7.1.2013]; Vladimir Bobrovnikov, Waqf Endowments in Daghestani Village Communities. From the 1917 Revo­lution to the Collectivization, in: Die Welt des Islams 50 (2010), S. 477 – 502, hier S. 481. 93 Diese Angabe ist gemäß Stalin, der darauf in seiner Rede anläss­lich der 4. Konferenz des ZKs der RKP (b), hinweist, die vom 9.–12. Juni 1923 in Moskau stattfand: Tajny nacional’noj politiki CK RKP, S. 262. 94 Die meisten dieser Muslime gehörten der reformistischen „Dschadidismus“-Bewegung an, die eine Ko-Existenz von Islam und Sozialismus befürwortete: Adeeb Khalid, The Politics of Muslim Cultural Reform. Jadidism in Central Asia, Berkeley 1998, S. 298.

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Hälfte der kommunistischen Parteimitglieder Turkestans handelte es sich offenbar um muslimische Gläubige.95 Auf der Sitzung in Urus-Martan registrierten die sowjetischen Delegierten unter den Vertretern der tsche­tschenischen Geist­lichkeit eine grundsätz­lich wohlgesinnte Stimmung. Einer dieser Geist­lichen muss aber für Aufruhr gesorgt haben: Ali Mitaev. Mitaev war damals eine der einflussreichsten Persön­lichkeiten Tsche­ tscheniens mit einer großen Anhängerschaft in seinem Heimatbezirk Vedeno im südöst­lich ­gelegenen Vorgebirge Tsche­tscheniens. Dass er am Treffen selbst eine Rede hielt, in der er vor übereilten Schritten warnte und die Menschen zu Zurückhaltung gegenüber den sowjetischen Vertretern aufrief, wie dies die neuere tsche­ tschenische Geschichtsschreibung behauptet, ist eher unwahrschein­lich.96 Eher war Mitaev an einem Ausgleich mit der neuen Macht interessiert, weshalb er auch nach Urus-Martan reiste. Der junge Mitaev, der an der Versammlung mit einer statt­lichen Zahl bewaffneter Reiter erschien, muss den anwesenden sowjetischen Delegierten Eindruck gemacht haben. Vorošilov nennt ihn in seinem Schreiben an Stalin einen „teuf­lisch gescheiten und schlauen“ Mann und porträtiert ihn als Gegenentwurf zu ­Ėlʼdarchanov, den er als „charakterlosen, willensschwachen, dummen und hochnäsigen alten Knacker“ bezeichnet.97 Die sowjetischen Vertreter luden Mitaev noch am Abend nach der Versammlung zu einer langen Unterredung ein und einigten sich darauf, ihn zu einem regulären Mitglied des tsche­tschenischen Revkoms zu machen, um ihn so für die sowjetische Sache zu gewinnen und mit seiner Hilfe das Banditenwesen zu bekämpfen.98 Am 1. Februar 1923 telegrafierte Vorošilov nach Moskau, dass ­Mitaev „kürz­lich (…) mit [dem] GPU in Groznyj ein Abkommen zur Be­­wachung der Eisenbahnlinie Chasvjurt’-Groznyj“ abgeschlossen habe: „Alles spricht dafür, dass sich das tsche­tschenische Banditenwesen [čečbanditizm] mithilfe der tsche­tschenischen

95 Dieser Hinweis findet sich bei Sultanbek Chodžanov, der Delegierte Turkestans, in seiner Rede an der 4. Konferenz des ZKs der RKP (b) vom 9.–12. Juni 1923 in Moskau: Tajny nacional’noj politiki CK RKP, S. 111. 96 Weder in den Aufzeichnungen Mikojans noch bei Vorošilov oder Budёnnyj findet sich ein ent­ sprechender Hinweis darauf, dass Mitaev am Treffen in Urus-Martan gegen die Sowjetmacht eine Rede gehalten hätte. Von einer Rede Mitaevs berichten dagegen zahlreiche tsche­tschenische Historiker. So zitiert etwa Musa Gešaev in seinem Buchkapitel zu Ali Mitaev den Wortlaut der angeb­ lichen Rede Mitaevs, ohne jedoch eine Quelle anzugeben. Danach verweist er auf die publizierten Erinnerungen Mikojans (A. I. Mikojan, Iz vospominanij, in: Junostʼ (1967) H. 3, S. 44 – 56), in der dieser von der Wirkung der Rede Mitaevs auf die Zuhörer b­ erichtet haben soll. Allerdings findet sich keine ­solche Textstelle bei Mikojan: Gešaev, Znamenitye čečency (Band 2), S. 495 – 525, hier S. 513 – 514. 97 Schreiben Vorošilovs an Stalin, 21. Januar 1923, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 95. 98 Mikojan, Iz vospominanij, S. 53.

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Banditen selbst beenden lässt.“ 99 Moskau segnete den Vorschlag des Südostbüros ab. Am 12. April 1923 wurde Mitaev offiziell zum Mitglied des Revkoms ernannt. Eine Hundertschaft seiner Mjuriden stand fortan im Sold der sowjetischen Regierung und schützte Züge und Bahnhöfe vor Überfällen.100 Beide Seiten hatten damals ein grundlegendes Interesse an einer Zusammen­ arbeit: Die Bolschewiki sahen darin einen taktischen Schachzug, um mithilfe einer der einflussreichsten Scheiche Einfluss auf die Lage in Tsche­tschenien zu gewinnen. Mitaev selbst war vor allem daran interessiert, seinen Einfluss in seinem Bezirk aufrechterhalten und seine Abteilung loyaler Anhänger behalten zu können, wie er dies gegenüber den sowjetischen Vertretern beim Treffen in Urus-Martan auch un­­verblümt mitteilte.101 Ob Mitaev an die konkrete Mög­lichkeit, Mitglied des ­Revkoms zu werden, gedacht hatte, ist unklar. Gemäss Mikojan hatte ihn der Vorschlag überrascht.102 Wäre er der Sowjetmacht grundsätz­lich so feind­lich gesinnt gewesen, wie dies einige postsowjetische tsche­tschenische Historiker glaubhaft machen wollen, dann wäre er kaum in Urus-Martan erschienen und hätte er sich wohl auch nicht interessiert gezeigt, mit den Bolschewiki zu verhandeln. Vorošilov notiert in seinem Bericht sogar, dass Mitaev mit dem Angebot, der Sowjet­macht zu dienen, auf diese zugekommen sei.103 Auch bei Budënnyj, der Mitaev in seinen Erinnerungen als Anführer einer tsche­tschenischen Banditengruppe charakterisiert, lässt sich nachlesen, dass der junge Tsche­tschene mit dem Angebot an die Delegation heran­getreten sei, die Waffen niederzulegen, „wenn die Russen ihn zum Mitglied der ört­lichen Staatsmacht“ machen würden.104 Mitaevs Einzug ins tsche­tschenische Revkom schien den gewünschten Effekt zu zeitigen. Nicht nur ging die Zahl der Überfälle auf die Eisenbahnlinie zurück, auch das Banditenwesen insgesamt schrumpfte innert kurzer Zeit. Die Scharia-­ Gerichte funktionierten und gaben den Menschen ein Gefühl von Ordnung und Rechts­sicherheit. Doch die Stabilität, die sich in Teilen Tsche­tscheniens einstellte, war letzt­lich nicht im Sinne ihrer Erfinder. Viele Bolschewiki beobachteten mit Argwohn, dass mit dem Einzug einer gewissen Ordnung auch Mitaevs persön­ licher Einfluss wuchs – nicht aber jener des tsche­tschenischen Revkoms oder der 99 Zitiert aus: Duėl 50 (1998) H. 3, http://www.duel.ru/199803/?3_6_4 [9.1.2013]. 100 Gemäß Ėlʼdarchanov wurden 98 Personen für die Bewachung der Bahnstrecke delegiert. Dies geht aus einem von ihm verfassten Bericht über die wirtschaft­liche und sozio-politische Situation in Tsche­tschenien vom 25. August 1923 hervor, publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 482 – 503, hier S. 484. 101 Dies berichtet Mikojan in seinen Erinnerungen: Mikojan, Iz vospominanij, S. 53. 102 Ebd. 103 Schreiben Vorošilovs an Stalin, 21. Januar 1923, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 95. 104 Budënnyj, Projdënnyj putʼ, S. 312.

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Kommunistischen Partei. „Die Tsche­tschenienfrage“, so liest sich in einem Bericht Vorošilovs an Stalin im November 1923, „ist eine besondere Frage und über diese werden wir erneut und deut­lich in einer grundlegenden Art sprechen müssen“.105 Tatsäch­lich war die Geheimpolizei damals bereits dabei, das Problem auf ihre eigene Art zu lösen, indem sie versuchte, Mitaev zu Fall zu bringen.

7.4  S cheich A l i M it a ev Über Ali Mitaev war bis zur Öffnung der ehemaligen sowjetischen Archive nur wenig bekannt. Anders als etwa bei Gocinskij, der dank der Publikationen, die seine Gegner noch in den 1920er-Jahren veröffent­licht hatten, auch in der west­ lichen Fachliteratur zum Nordkaukasus einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat,106 gelang es der sowjetischen Führung, Informationen über Mitaev weitgehend zu unterdrücken.107 Einzig bei Mikojan findet sich in seinen 1967 in der Zeitschrift Junostʼ publizierten Erinnerungen ein längerer Bericht zu Mitaev, in dem er von einem Zusammentreffen mit ­diesem anläss­lich der Versammlung in Urus-­Martan erzählt.108 Von den genauen Hintergründen, die zur Verhaftung durch die GPU geführt haben, ist aber auch von Mikojan wenig zu erfahren.109 Davon war erst in den 1983 publizierten Memoiren von Abdurachman Avtorchanov zu lesen, wobei dieser den zeit­lichen Ablauf und die genauen Umstände der Verhaftung und Ermordung

105 RGASPI, F. 74, Op. 2, D. 81, L. 135. 106 Informationen zu Gocinskij ließen sich insbesondere den Berichten von Aleksandr A. Todorskij, der die im Nordkaukasus stationierte 11. Rote Armee kommandierte, und den beiden führenden Kommunisten Dagestans während des Aufstandes, Nažmuddin P. Samurskij und Alibek ­Tacho-Godi, entnehmen: A. A. Tacho-Godi, Revoljucija i kontr-revoljucija v Dagestane, Machačkala 1927; A. Todorskij, Krasnaja Armija v gorach Dagestana. Dejstvija v Dagestane, Moskva 1924; N. Samurskij, Dagestan, Moskva, Leningrad 1925. Diese Hinweise finden sich bei: Bennigsen Broxup, Last ­Ghazawat, S. 117. 107 Die wenigen west­lichen Publikationen, die Mitaev erwähnen, liegen indes oft falsch. So schreiben Alexandre Bennigsen und S. Enders Wimbush in ihrem Buch Mystics and Commissars, Mitaev sei 1924 verhaftet und ein Jahr später in Rostov am Don erschossen worden (S. 22). An einer anderen Stelle (S. 27) nennen sie das Jahr 1927: Alexandre Bennigsen / S. Enders Wimbush, Mystics and Commissars. Sufism in the Soviet Union, Berkeley 1986. 108 Mikojan, Iz vospominanij, S. 53 – 56. Auch Budёnnyj widmet im 10. Kapitel seines Buches ­Projdënnyj putʼ der Begegnung mit Mitaev in seinen Erinnerungen einige wenige Sätze: Budënnyj, Projdënnyj putʼ, S. 311 – 312. 109 Mikojan gibt ledig­lich die Version wieder, wonach Mitaev auch nach seiner Aufnahme ins Revkom antisowjetisch eingestellt geblieben sei und Vorbereitungen für einen Aufstand gegen die Sowjetmacht getroffen habe. Dabei sei er auch Verbindungen mit Gocinskij eingegangen, worauf ihn die Geheimpolizei schließ­lich verhaftet habe: Mikojan, Iz Vospominanij, S. 54.

Scheich Ali Mitaev

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Mitaevs, wie neu deklassifizierte Quellen aus ehemaligen sowjetischen Archiven belegen, falsch wiedergibt.110 Erstmals bietet sich auf Grundlage neuer Dokumente die Gelegenheit, die Rolle Mitaevs eingehend zu analysieren. Die Informationslage bleibt allerdings auch nach Freigabe der deklassifizierten Quellen nicht nur lückenhaft, sondern oft auch widersprüch­lich. Je nachdem, ­welchen Aussagen man in den Quellen folgt, sehen sich sowohl jene bestätigt, die Mitaev zum „Patriot[en], Friedensstifter, Politiker, Genie“ verklären, wie dies etwa der Titel der Biographie aus der Feder des tsche­ tschenischen Historikers Maschud Zaurbekov suggeriert,111 als auch jene, die ihn je nachdem als Konterrevolutionär, islamischen Fanatiker, Panislamisten oder Politbanditen darstellen, wie dies konservative Historiker in Russland gestützt auf Berichte der Geheimpolizei aus der damaligen Zeit tun.112 Der Anspruch besteht an dieser Stelle nicht darin, zu einer abschließenden Be­­ urteilung der Person Mitaevs zu gelangen. Vielmehr sind die kontroversen Sichtweisen, die aus den zeitgenös­sischen Dokumenten sprechen, von Interesse für diese Analyse. Diese Interpretationen lassen nicht nur vertiefte Einblicke in das Denken und die Wahrnehmung der verschiedenen Machtträger jener Zeit zu, sondern machen auch verständ­lich, wer konkret am Wettstreit um Macht- und Herrschaftssicherung beteiligt war, wie die jeweiligen Seiten ihre Ansprüche durchzusetzen suchten und ­welche Interessen hinter der Formulierung und der Umsetzung bestimmter poli­ tischer Strategien standen. Geboren wurde Ali Mitaev in der Siedlung Avtury im damaligen Rajon Šali, vermut­lich um das Jahr 1891.113 Die Grundschule durchlief er in Groznyj, danach

110 So schreibt Avtorchanov, dass Mitaev in Groznyj unter falschen Versprechungen in einen Zug gelockt worden sei, der nach Rostov am Don fuhr, wo er verhaftet und kurze Zeit später ermordet worden sei. Seinen Mjuriden habe man gesagt, er sei nach Moskau gefahren, um Lenin persön­lich zu treffen. Um die Tsche­tschenen ruhig zu stellen, soll ihnen der Leichnam Mitaevs später übergeben worden sein. Die offizielle Version der GPU soll gelautet haben, er sei an einem Herzinfarkt gestorben: Avtorchanov, Memuary, S. 100 – 103. Einige west­liche Autoren haben die Version Avtorchanovs unkritisch übernommen. So etwa: Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 144 – 145; Mesxidze, Rolle des Islams, S. 477. 111 Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev. 112 So übernimmt etwa die Historikerin Elena Župikova weitgehend unkritisch die Meinung der OGPU-Berichte, wenn sie schreibt, dass Ali Mitaev 12.000 Mjuriden unterstanden, dass er für die Errichtung eines Scharia-Staates einstand und aktiv mit Gocinskij und anderen k­ onterrevolutionären Kräften im Kaukasus zusammenarbeite: Župikova, Povstanskoe dviženie, S. 169, 175. 113 In den Quellen finden sich verschiedene Jahreszahlen. Die Jahreszahl 1890 wird gemeinhin in den sowjetischen Dokumenten (z. B. der GPU) über Mitaev genannt: Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 1025. Die Jahreszahl 1887 nennt Zaurbekov in seiner Biographie zu Mitaev und stützt sich dabei auf Aussagen von Personen aus dem Umkreis von Mitaev und seiner Familie: Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 48. Die Jahreszahl 1881 nennt Musa Gešaev in seinem Kapitel zu Ali Mitaev: Gešaev, Znamenitye čečency (Band 2), S. 500.

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wurde er an einer islamischen Schule unterrichtet, wo er eine geist­liche Ausbildung erhielt. Neben Tsche­tschenisch und Arabisch soll er auch Rus­sisch gesprochen haben, wobei sich in den Quellen unterschied­liche Angaben darüber finden, ob und wie gut er letztere Sprache beherrschte.114 Ali stammte aus einer einflussreichen tsche­tschenischen Familie. Sein Vater war kein Geringerer als Scheich Bamat Girej Chadži Mitaev. Als Bamat Girej Chadži 1914 im Exil in Kaluga starb, trat sein erstgeborener Sohn Ali in seine Fussstapfen.115 Ali übernahm nicht nur die Mjuriden seines Vaters, sondern stärkte seine Gefolgschaft offenbar auch mit neuen Kräften. Er trat in seinem Bezirk als Bildungsförderer auf, indem er in seinem Heimatort Avtury 1913 eine rus­sische Schule errichten ließ.116 Für die Menschen war er ein Wohltäter, der „auf seine Kosten Schulen in den Dörfern“ und „Brücken für den Übergang und die Durchreise“ bauen ließ, „um den armen und rückständigen Bürgern zu helfen“.117 Er war nach dem Bürgerkrieg einer der Initianten von bewaffneten Selbstverteidigungsabteilungen und organisierte auch das Gerichtswesen auf der Basis der Scharia neu.118 Der Bolschewik und Schriftsteller Aleksej Efgravovič Kosterin (1896 – 1968),119 der in einer 1924 erschienenen Publikation von einer Reise zu den Mjuriden in Tsche­tschenien berichtet, schreibt, dass Ali Mitaevs

Der Autor ­dieses Buches neigt dazu, das Geburtsjahr auf Anfang der 1890er-Jahre zu legen. Dieses Datum deckt sich auch mit einem Dokument aus dem Jahr 1911, das die zaristische Verwaltung des Terek-­Gebiets im Vorfeld der Aussiedlung einer Reihe von namhaften Scheichen nach Kaluga anfertigen ließ. Bei den Angaben zu Scheich Bamat Girej Chadži Mitaev werden auch seine zwei Söhne, Ali und Umar (in anderen Quellen auch Omar), aufgeführt. Ali soll damals 20 Jahre alt und bereits mit seiner Frau Nabi verheiratet gewesen sein, Umar war gemäß diesen Angaben 16 Jahre alt und unverheiratet: GARF, F. 102, Op. 146, D. 635 – 2, Ll. 91 – 93, hier L. 92ob. 114 Mikojan gibt in seinen Erinnerungen an, dass Mitaev schlecht oder kein Rus­sisch sprach (RGASPI, F. 84, Op. 3, D. 117, L. 42; Mikojan, Iz vospominanij, S. 53). Budënnyj schreibt, dass sie sich in Urus-Martan mit Ali Mitaev mit Hilfe eines Übersetzers unterhalten hätten: Budënnyj, Projdënnyj putʼ, S. 311. Dies steht im Widerspruch zur Aussage von tsche­tschenischen Historikern wie etwa Musa Gešaev, der schreibt, dass Mitaev Tsche­tschenisch, Arabisch und Rus­sisch „beherrscht“ habe und zudem hervorragend bewandert auf den Gebieten der Philosophie, Religionskunde, Geschichte und Politik gewesen sei: Gešaev, Znamenitye čečency (Band 2), S. 500. 115 Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 38. 116 AUP ČR, F. 236, Op. 1, D. 343, Ll. 1 – 3. 117 Dies geht aus einem Protokoll des Dorfsowjets der Siedlung Cacan-Jurt vom 27. April 1925 hervor. Darin betonen die Bewohner die Verdienste Mitaevs, um so gegen seine Verhaftung zu protestieren: AUP ČR, F. R–1206, Op. 1ks, D. 31, Ll. 44 – 45, hier L. 44. 118 Gosinfsvodka, Nr. 1, 6. Januar 1923, in: Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 564. 119 Eine Kurzbiographie Kosterins findet sich auf: Chronos. Biografičeskij spravočnik, http://www. hrono.ru/biograf/bio_k/kosterin.html [7.3.2013].

Scheich Ali Mitaev

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Anhängerschaft am Ende 10.000 Mann oder mehr gezählt habe,120 eine Zahl, die in dieser Größenordnung auch später wiederholt auftaucht. 121 ­Kosterin kannte Tsche­tschenien nicht nur als Direktbeteiligter im Bürgerkrieg, sondern auch aus seiner Funktion als Volkskommissar für Verteidigung Anfang 1920 sowie aufgrund mehrerer Reisen, die er aus privatem Interesse unternommen hatte. Allerdings hieß dies nicht, dass Mitaev gleichsam eine Armee von 10.000 Mjuriden kommandiert hätte, wie sowjetische Geheimdienstberichte manchmal suggerieren. Er verfügte sicher über einige Hundertschaften gut bewaffneter Anhänger, die er jederzeit für koordinierte Aktionen einsetzen konnte. Bei der Mehrheit der Mjuriden handelte es sich aber eher um Sympathisanten, die nicht Teil einer eigent­ lichen Truppe waren. Als Mitaev im Oktober 1922 erstmals in einem Bericht der sowjetischen Geheimpolizei auftaucht, hält dieser ledig­lich fest, dass „[e]in gewisser Ali Bamat Girej Chadži [Mitaev], Anführer einer nationalistischen Organisation, der unter den Tsche­tschenen großes Ansehen genießt“, bestrebt sei, „die Macht an sich zu reißen“. Dabei habe er eine „Bande bestehend aus 600 ört­lichen Bewohnern“ gebildet, um die Ausreise von Russen und Tsche­tschenen aus der Festung bei Šatoj zu verhindern.122 Obwohl es sich bei den Bewohnern in der Mehrheit kaum um Mjuriden im eigent­lichen Sinne gehandelt haben dürfte, weist ­dieses Beispiel doch auf das große Mobilisierungspotenzial hin, das Mitaev in seinem Einfluss­ bereich gehabt haben muss. Als Jugend­licher erlebte Ali nicht nur die Verfolgung seiner Familie durch die Zarenbehörden, sondern auch die Repressionspolitik während der Kosaken­herrschaft. Gemäß seinen autobiographischen Aufzeichnungen, die er 1924 bis 1925 im ­Gefängnis verfasste, wurde er 1909 Augenzeuge der Bluttat an Tsche­tschenen in Gudermes, die sich Ataman Verbickij und seine Kosaken zu Schulden ­kommen ließen.123 Kein Wunder, sollten im rus­sischen Bürgerkrieg die weißen Generäle als Vertreter des alten Regimes

120 A. Kosterin, Po Čečne (putevye nabroski). U mjuridov v gostjach, in: A. Vеselij u. a. (Hg.), ­Pereval. Sbornik Nr. 2, Moskva 1924, S. 288 – 306, hier S. 288. 121 Bugaj / Mekulov, Narody i vlastʼ, S. 210; Župikova, Povstanskoe dviženie, S. 169. 122 Gosinfsvodka, Nr. 58, 23. Oktober 1922, in: N. M. Peremyšlennikova u. a. (Hg.): „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934). Tom 1. Častʼ 1. 1922 – 1923 g., Moskva 2001, S. 344 – 345, hier S. 345. 123 Archiv KGB Čečenskoj Respubliki (Archiv KGB ČR), F. 4971, Tom 2, S. 268, zitiert bei: Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 50. Gemäß offiziellem Brief vom 16. März 2012 (Nr. 67) des Leiters der Archivabteilung der Regierung der Republik Tsche­tschenien an den Autor ­dieses Buches sind die Aufzeichnungen Mitaevs nicht mehr auffindbar, weil die Bestände des KGB-Archivs – und weitere Archivbestände – in den Kriegen der 1990er-Jahre weitgehend zerstört wurden. Damit lassen sich die Zitate, die Zaurbekov, der ­dieses Dokument gemäß eigenen Angaben noch vor 1994 (dem Ausbruch des ersten Tsche­tschenienkriegs) einsehen konnte (Schreiben an den Autor vom 6. März 2012), nicht nachprüfen. Das Buch Zaurbekovs bleibt damit vorläufig die einzige Quelle für die Zitate aus der Autobiographie von Mitaev.

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in Ali Mitaev einen erbitterten Gegner vorfinden. Wie bedeutend dessen Anteil beim Sieg über Denikins Freiwilligenarmee war, lässt sich auf Grundlage der heute verfügbaren Quellen nicht endgültig sagen. Während die sowjetische Geschichtsschreibung die Rolle der Geist­lichkeit heruntergespielt oder gänz­lich verschwiegen hat, sucht die neuere tsche­tschenische Historiographie diese Sichtweise nach Mög­lichkeit umzudeuten. So schreibt Zaurbekov in seiner Bio­graphie, dass ­Mitaev eine viel wichtigere Rolle gespielt habe als etwa der Bolschewik Nikolaj Gikalo oder Aslanbek Šeripov, denen die sowjetische Geschichtsschreibung den Sieg der Kommunisten in Tsche­ tschenien gemeinhin zugeschrieben hat.124 Der Vergleich, den Zaurbekov mit Gikalo zieht, ist aber insofern problematisch, als Mitaevs Interessen stets vorwiegend lokal und darauf ausgerichtet waren, die ­Siedlungen in den von ihm kontrollierten Gebieten der tsche­tschenischen Ebene gegen die Truppen ­Denikins zu verteidigen. In seinem Territorium spielte er somit sicher eine wichtige Rolle beim Kampf gegen die Freiwilligenarmee Denikins. Darüber hinaus hatte er aber wohl eher eine untergeordnete Bedeutung. Denn wie viele andere tsche­tschenische Anführer war auch Mitaev kaum an Bündnissen interessiert, die nicht direkt seinen lokalen In­­teressen entsprachen. So ist wenig erstaun­lich, dass sich in den Quellen keine eindeutigen Hinweise auf eine Verbindung mit Usun-Chadži oder anderen einflussreichen dagestanischen Scheichen finden. Dass Ali Mitaev in Tsche­tschenien in den Jahren nach der Revolution großen Einfluss gehabt haben muss, geht aus den zeitgenös­sischen Dokumenten dagegen deut­lich hervor. Er war Mitglied des im März 1917 gewählten Tsche­tschenischen Nationalen Rats, er war sozialistischen Ideen gegenüber aufgeschlossen und stand ähn­lich gesinnten Mitgliedern des Rats wie Ėlʼdarchanov, Mutušev, Čermoev oder Ibragim Čulikov nahe.125 Vor allem in der tsche­tschenischen Ebene war es Mitaev, der in den Wirren nach der Revolution jene Macht verkörperte, die für ein „Mindest­ maß an Organisation“ sorgte, wie einem Bericht der weißen Streitkräfte über die Lage im Nordkaukasus von Anfang 1919 zu entnehmen ist.126 Bereits im Frühjahr 1917 organisierte Mitaev in seinem Gebiet bewaffnete Abteilungen, um gegen das Bandenwesen vorzugehen.127 124 Ebd., S. 49. 125 Mesxidze, Rolle des Islams, S. 466 – 467. Ein zeitgenös­sischer Beobachter, Aleksandr G. ­Šljapnikov (1884 – 1937), der auf Geheiß der sowjetischen Regierung 1918 in der Funktion als Kommissar für Arbeit in den Nordkaukasus entsandt wurde, berichtet in seinen Memoiren an mehreren ­Stellen von Ali Mitaev, den er anläss­lich der Sitzung der Terek-Völker in Mozdok im Januar/Februar 1918 getroffen hat. Er beschreibt diesen als „überzeugten Sozialisten“, der auf dieser Versammlung eine feurige Rede in tsche­tschenischer Sprache für die Sache der Revolution gehalten habe: A. G. Šljapnikov, Za chlebom i neft’ju, in: Voprosy istorii (2002) H. 12, S. 94 – 119, hier S. 108 – 111. 126 Bericht Lazarevs, vor dem 24. Januar 1918, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 288. 127 Muzaev, Sojuz gorcev, S. 107.

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Mitaev wurde aufgrund seiner politischen Orientierung und seiner Feindschaft gegenüber Denikin als natür­licher Verbündeter der Bolschewiki angesehen. Das hieß jedoch nicht, dass er Unterstützung von anderer Seite abgelehnt hätte. So unterhielt er gute Beziehungen zu den Mitgliedern der Bergregierung, insbesondere zu Tapa Čermoev, mit dem ihn gemäß Zaurbekov seit seiner Jugend eine Freundschaft verbunden habe.128 Dass er in gutem Einvernehmen mit der Bergregierung stand, bestätigt auch ein Bericht der Freiwilligenarmee vom 21. Februar 1919, wonach Mitaev von der Bergregierung Čermoevs Geld erhalten habe, um die Verteidigung seines Gebiets zu organisieren, die Mittel aber dafür verwendet habe, Kämpfer für „die Formierung der Roten Armee“ zu rekrutieren.129 Mitaev selbst gibt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen an, er habe nicht zuletzt dank der Bergregierung, die ihm Waffen und Munition zur Verfügung gestellt habe, seine Einheiten gut ausrüsten können. Dabei habe er in verschiedenen Kämpfen mit Verbänden Denikins nicht weniger als 365 Mann verloren.130 Dass Mitaev mit seinen Truppen aktiv gegen die Streitkräfte der Freiwilligenarmee gekämpft hat, steht außer Zweifel. Skepsis muss allerdings die hohe Zahl von Gefallenen hervorrufen.131 Die Berichte der Freiwilligenarmee zur Situation im Nordkaukasus, die in publizierter Form für das Jahr 1919 vorliegen, erwähnen die Person Ali Mitaev in Zusammenhang mit größeren Kampfhandlungen nicht.132 In einem Bericht der Freiwilligenarmee zur Lage im Nordkaukasus am 1. Mai 1919 liest sich nur, dass nach der Errichtung der tsche­tschenischen Verwaltung unter General Aliev der Einfluss Mitaevs, der „gegenüber [der Freiwilligenarmee] bisher feind­lich eingestellt“ gewesen sei, zurückgegangen sei, während der Widerstand in den Bergen anwachse.133

128 Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 49. 129 Dies geht aus einer Mitteilung des Oberkommandierenden der Armeen im Terek-dagestanischen Kreis, Generalleutnant Ljachov, hervor, in der dieser über die Resultate der Unterredungen mit Vertretern des tsche­tschenischen Volks und der Bergregierung informiert; die vom 21. Februar 1919 datierte Mitteilung ist an General A. M. Dragomirov adressiert und findet sich in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 305 – 307, hier S. 306; dazu außerdem: Cvetkov, ­Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 1, S. 35. 130 Archiv KGB ČR, F. 4971, Tom 2, S. 270; zitiert bei: Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 66. 131 Dazu ist zu bedenken, dass Mitaev sich zur Abfassung einer Autobiographie in der Gefangenschaft wohl nicht zuletzt deshalb entschied, um seinen Fall im Detail darzulegen. Er fügte diese Schrift seiner Anklageakte bei im Wissen, dass sie von den Behörden gelesen würde. Ich danke Maschud ­Zaurbekov für diesen Hinweis. 132 Die Berichte der Freiwilligenarmee zur Situation im Nordkaukasus und Tsche­tschenien für das Jahr 1919 sind enthalten in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, insbesondere S. 282 – 377. Auch Kosterin erwähnt Mitaev in seiner 1921 erschienen Publikation zum Bürgerkrieg (V gorach Kavkaza) kein einziges Mal. 133 Cvetkov, Dobrovolʼskaja armija (1999) H. 2, S. 59.

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Die Hinweise auf die Verdienste Mitaevs im Bürgerkrieg, die sich in verschiedenen, von tsche­tschenischer Seite verfassten Dokumenten aus der Zeit nach seiner Verhaftung durch die Geheimpolizei in den Archivbeständen finden, erwähnen zwar die Rolle ­Mitaevs im Kampf gegen die Freiwilligenarmee während der Zeit des Bürger­kriegs und sprechen wiederholt davon, dass der Krieg auch Opfer auf ihrer Seite gefordert habe. Doch muss dies nicht notwendigerweise immer das Resultat von direkten Kämpfen mit den weißen Truppen gewesen sein, sondern konnte auch aus Konflikten mit ört­ lichen Kosaken resultieren. So liest sich im Beschluss des Dorfsowjets der Siedlung Staro-Sunženskij vom 24. April 1925, in dem die Bewohner gegen die Verhaftung Mitaevs protestierten, dass „[ihnen] bekannt [sei] und [sie] gut [wüssten], dass M ­ itaev gegen die [sozialrevolutionäre Partei der] Kadetten eingestellt [gewesen sei] und er einen Angriff auf die stanica Petropavlovsk [unternommen habe] und in d­ iesem Kampf einige [ihrer] Bürger aus [ihrer] Siedlung getötet [worden seien]“.134 Mitaev war ein Feind Denikins, doch nicht notwendigerweise ein Freund der Bolschewiki. Wie brüchig die Allianzen waren, zeigte sich kurz nach dem Bürger­ krieg, als es vermut­lich bereits Anfang 1920 zum Zerwürfnis zwischen Mitaev und dem wichtigsten Vertreter der Bolschewiki in Tsche­tschenien, Nikolaj Gikalo, kam. Gemäß Zaurbekov organisierte Mitaev, offenbar ohne Gikalo vorgängig zu informieren, Ende März 1920 in seinem Geburtsort Avtury eigenmächtig eine Sitzung des tsche­tschenischen Volks. Was im politischen und gesellschaft­lichen Leben der Tsche­tschenen – und damit auch im Verständnis Mitaevs – normal war, das e­ mpfand Gikalo vermut­lich als Provokation. Auf der Sitzung, ­welche die Bolschewiki einige Tage später in Groznyj einberiefen und an der auch eine Delegation aus Avtury teilnahm, bezeichnete Gikalo Mitaev offen als Konterrevolutionär. ­Zaurbekov zitiert in seinem Buch Briefe Mitaevs, in denen dieser den Vorwürfen Gikalos aufs Heftigste widerspricht und sich als Verfechter der Sowjetmacht zu erkennen gibt.135 Obwohl sich der tsche­tschenische Historiker auf unsicherem Quellenfundament bewegt (oft fehlen für die von ihm angeführten Dokumente die Hinweise auf den genauen Archivbestand oder er beruft sich auf Erinnerungen von Zeitzeugen), decken sich seine Aussagen weitgehend mit den Eindrücken, die Vorošilov vom Treffen mit Mitaev im Januar 1923 überliefert hat. So soll Mitaev gemäß Vorošilov die bolschewistischen Abgeordneten selbst darum gebeten haben, so schnell wie mög­lich Maßnahmen zu ergreifen, um ihn vollständig zu rehabilitieren. Dabei habe er „auf alle Propheten geschworen, dass man ihn vor der Sowjetmacht verleumdet“ habe, was auf ein Zerwürfnis zwischen ihm und Gikalo hinweisen könnte.136 134 AUP ČR, F. 236, R–1206, Op. 1ks, D. 31, L. 38 – 39, hier L. 38. 135 Zaurbekov, Šejch Ali Mitaev, S. 70 – 76. 136 Schreiben Vorošilovs an Stalin, 21. Januar 1923, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 95.

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In jedem Fall muss es aus Sicht der Bolschewiki problematisch erschienen sein, dass sie, als es um die Stabilisierung Tsche­tscheniens nach dem Bürgerkrieg ging, nicht mehr auf die Hilfe Mitaevs als einem ihrer vormals wichtigsten Verbündeten zählen konnten. Dabei verhielt sich Ali Mitaev in der Folge nicht etwa passiv, sondern ergriff erst recht die Initiative. Während sich der Einfluss des tsche­tschenischen Revkoms praktisch auf den Kreis seiner Mitglieder beschränkte, verkörperte ­Mitaev über den Bezirk Vedeno hinausgehend in weiten Teilen der tsche­tschenischen Ebene die reale Macht (wogegen er nach übereinstimmenden Berichten keinen großen Einfluss in den Berggebieten hatte).137 Dabei kam ihm offenbar auch der wachsende Unmut vieler Tsche­tschenen über die Einführung der Naturalsteuer entgegen. Gemäß einem Geheimdienstbericht von Januar 1923 suchte Mitaev diese Situation „auszunutzen“, um „seine eigenen Ordnungen“ ins Leben zu rufen und in vielen Siedlungen mithilfe seiner Mjuriden „Scharia-­ Regimenter und Gerichte“ zu organisieren.138 Die staat­lichen Sicherheitsorgane waren auch deshalb über die ­Entwicklungen beunruhigt, weil sie befürchteten, dass es Mitaev letzt­lich um mehr als nur um lokale Anliegen gehen könnte. Dies geht etwa aus dem Schreiben hervor, das Gorodeckij, der Vorsteher der Abteilung zur „Bekämpfung des Banditen­wesens“ innerhalb des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees, Anfang 1923 ­Stalin zukommen ließ. Gorodeckij berichtete, Mitaev habe im September 1922 eine weitere große Sitzung mit rund 1000 Delegierten organisiert, hinter der die grund­ legende Idee einer „Loslösung Tsche­tscheniens und die Orientierung an die Türkei“ stehe.139 Inwiefern diese Einschätzung das politische Programm Mitaevs oder eher die Befürchtung des Berichterstatters widerspiegelte, muss an dieser Stelle offen bleiben. Versammlungen dieser Art muss es Anfang der 1920er-Jahre aber viele gegeben haben und Mitaev erscheint in den Quellen wieder­holt als einer der Hauptinitianten solcher Bevölkerungsaufmärsche.140 Bereits der Umstand, dass gesellschaft­liche Autoritäten wie Mitaev, un­­behelligt von der sowje­tischen Staatsmacht, ihre auf der Scharia basierenden ­Orga­­­­­­ni­sationsstrukturen ein­führen und Massenmanifestationen durchführen konnten, musste außenstehende B ­ eobachter verunsichern. Hinzu kam, dass sich all dies zu einer Zeit zutrug, in der der 137 Ebd.; RGASPI, F. 74, Op. 2, D. 81, L. 135. 138 Gosinfsvodka, Nr. 1, 6. Januar 1923, in: Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 564. 139 Zitiert bei: Bugaj / Mekulov, Narody i vlastʼ, S. 68 – 69. 140 Dies geht etwa auch aus einem am 25. April 1924 erstellten Protokoll eines Verhörs der Geheimpolizei mit einem türkischstämmigen Scheich aus Albanien (namens Scheich Muchamed Gusejn Jusuf Ėfendi) hervor, der sich offenbar auf Geheiß der Ostabteilung der OGPU (Sergej Mironov) in Rostov mehrere Male mit Ali Mitaev getroffen haben soll und mit der Situation in Tsche­tschenien gut vertraut schien: GARF, F. 65, Op. 1, D. 142, Ll. 24 – 24ob, hier L. 24ob.

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Nordkaukasus nach wie vor weitgehend außerhalb bolschewistischen Einflusses stand und noch immer bewaffnete Banden und Rebellengruppen durch das Land zogen. Mitaev geriet in der Folge immer stärker ins Visier der Geheimpolizei, die den jungen Scheich bereits ab Dezember 1922 unter dem Codenamen „Tichij“ („leise“) beobachten ließ. Anlass für die formelle Eröffnung des Dossiers zu Mitaev bot offenbar eine Meldung des Militärkommissars der 28. Bergdivision, eines Genossen Živin, wonach es sich bei Mitaev um den „Anführer der Scharia und der Scharia-Bewegung in Tsche­tschenien“ und den „reichsten, autoritärsten und populärsten aller Tsche­tschenen“ handeln würde.141 Als Mitaev Mitglied des Revkoms wurde, konnte dies denn auch kaum auf Zustimmung bei der ört­lichen Abteilung der Geheimpolizei stoßen. Es sollte deshalb wenig überraschen, dass diese Organisation fortan alles in ihrer Macht stehende unternahm, um diesen in der Folge zu Fall zu bringen.

7. 5   I m Vi sie r d e r G ehei m p ol i z ei Nur knapp zwei Wochen nach der offiziellen Bestätigung Mitaevs als Mitglied des tsche­tschenischen Revkoms erreichte das für den Nordkaukasus zu­­ständige Südostbüro der GPU ein Informationsschreiben von Sergej Naumovič ­Mironov (1894 – 1940). Dieser leitete innerhalb der Organisation die Ostabteilung mit Sitz in Rostov am Don.142 Hatte Vorošilov noch im Januar 1923 unzweideutig darauf hingewiesen, es wäre illusorisch zu glauben, die Lage in Tsche­tschenien lasse sich unter Umgehung der Geist­lichkeit und über die bednjaki, die armen ­Bauern, beeinflussen, so argumentierte Mironov Ende April 1923 genau umgekehrt: Die „Anarchie“, der „Anstieg des Banditenwesens und der Religiosität“, die er in Tsche­tschenien feststellen wollte, ließen sich seiner Meinung nach nur über eine konse­quente Schwächung der Scharia erfolgreich bekämpfen.143 Um die verarmte tsche­tschenische Unterschicht in den Bergen für sich zu gewinnen, sollte ihr Land zugewiesen werden. All diese Maßnahmen sollten aber nicht vom tsche­tschenischen Revkom, sondern von den Organen der Partei ergriffen werden, die um den Kern einer von Mironov nur ungenau definierten „kleinen Gruppe nationaler Kommunisten“ aufgebaut werden sollte; Ėlʼdarchanov sollte dagegen so rasch wie mög­lich ersetzt 141 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 26. 142 Zu Mironov: N. V. Petrov / K. V. Skorkin, Kto rukovodil NKVD. 1934 – 1941. Spravočik, Moskva 1999, http://www.memo.ru/history/NKVD/kto/biogr/index.htm [19.2.2013]. 143 Der Bericht Mironovs ist undatiert, wurde aber vor dem 21. April 1923 verfasst: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 588, Ll. 33 – 34.

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werden.144 Mironovs Bericht zielte auf den größtmög­lichen Effekt ab. Er erhob die Tsche­tschenienfrage zur wichtigsten Frage im Kaukasus: Die Ruhe im gesamten Kaukasus hängt von der Ruhe in Tsche­tschenien ab und das von uns beobachtete Wachstum der Religiosität (…) ist extrem gefähr­lich und ist ­symptomatisch für eine in der Geschichte verbürgte Tendenz, dass einem bewaffneten Aufstand der ­Bergler jeweils ein starker Aufschwung religiöser Stimmungen vorausgeht.145

Ali Mitaev stand für diese Negativerscheinungen. Um den Effekt seines Schreibens zu erhöhen, behauptete Mironov, Mitaev habe sich mit den Scheichen Gocinskij, Ėmin Ansaltinskij und Bilo-Chadži zu einer Art „höherem Scharia-Rat“ zusammengeschlossen, der kein geringeres Ziel als die Vorbereitung eines heiligen Kriegs gegen die Sowjetmacht verfolge.146 Der Bericht verfehlte seine Wirkung nicht. Noch am selben Tag, an dem ­Mironovs Schreiben in Rostov am Don eintraf, leitete der dortige Verantwort­liche, Jakob ­Christorovič Peters (1886 – 1938), die Post zuhanden Stalins ans Zentralkomitee der Partei in Moskau weiter.147 Wie Stalin darauf reagiert hat, ist nicht belegt, doch geriet Tsche­tschenien, dies zeigen die Dokumente deut­lich, in der Folge endgültig in den Fokus der hohen Politik. Unter der Federführung Mironovs und Efim Georgievič Evdokimovs (1891 – 1940),148 des bevollmächtigten Vertreters der Geheimpolizei im Nordkaukasus, arbeitete die Geheimpolizei weiter minutiös an ihrer Anklage gegen Ali Mitaev und schickte Bericht um Bericht an die Zentrale in Rostov am Don. Dabei beließ es die Geheimpolizei nicht dabei, nur allgemeine Vorwürfe zu erheben, sondern unternahm große Anstrengungen, um diese mit detaillierten Angaben zu unterlegen. Im Wesent­lichen verfolgten Mironov und sein Team zwei Argumentationsstränge: Einerseits sollte klargemacht werden, dass die Einbeziehung Mitaevs ins Revkom ein Fehler gewesen sei, weil dies nicht zur Stabilisierung der Lage geführt habe. So liest sich in einem GPU-Bericht für den Zeitraum von November bis Dezember 1923 von „40 Fällen von Banditenangriffen auf Industrieanlagen, die Eisenbahnlinie und Angehörige der Roten Armee“, wobei die Behörde all diesen Attacken „poli­tischen Charakter“ zuschrieb.149 Später sollte die ­Geheimpolizei sogar behaupten, dass

144 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 588, L. 33ob. 145 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 588, L. 34. 146 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 588, L. 33. 147 Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 113 (Anmerkung 6). 148 Zu Evdokimov: Stephen G. Wheatcroft, Agency and Terror. Evdokimov and Mass Killing in Stalinʼs Great Terror, in: Australian Journal of Political History 53 (2007), S. 20 – 43. 149 OGPU-Bericht zur politisch-ökonomischen Situation in der UdSSR im Zeitraum November–­ Dezember 1923, in: Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 973.

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Mitaevs Mjuriden an diesen Anschlägen selbst beteiligt ­gewesen seien.150 Andererseits suchte die Geheimpolizei zu beweisen, dass ­Mitaev einen Aufstand gegen die Sowjetmacht vorbereitete und in Kontakt mit ­anderen konter­revolutionären Kräften stand. Neben Gocinskij, mit dem er sich „am 9. oder 10. März 1923“ persön­lich getroffen haben soll,151 erwähnen die Berichte ­insbesondere auch Verbindungen zum geor­gischen Fürsten Kakuca Čelokaev (georg. Čolokašvili, 1888 – 1930, ein ehemaliger Oberst der zaristischen Armee), der mit seiner Gruppe von Aufstän­ dischen im Grenzgebiet zu Tsche­tschenien operierte. Dann wollte die Geheimpolizei auch Verbindungen Mitaevs zu General Rogošin, dem ­Anführer einer Gruppe von Kosaken­rebellen, zu Anhängern der panislamischen Partei „Ittichad-­Islam“ („ver­ einigter Islam“) mit Zentrum in Baku sowie zu türkischen und anderen auslän­­dischen Agenten feststellen. Dabei, so die Vertreter der Geheim­polizei, würde Mitaev nur den Zeitpunkt abwarten, bis die „äußere Front“ gegen die UdSSR aufgebaut sei, um loszuschlagen.152 Die engen Beziehungen zwischen Mitaev und Gocinskij suchten Mironov und Evdokimov noch mit angeb­lichen Original­briefen zu b ­ elegen, die sich die beiden hatten zukommen lassen und in denen von gegen­seitiger Unterstützung und von Waffenlieferungen mit Blick auf einen bevor­stehenden Aufstand die Rede war.153 Inwiefern sind diese Anschuldigungen von dritter Seite bestätigt worden? Was die Informationen zu den Anschlägen auf die Eisenbahnlinie und die Industrie­ anlagen betraf, so waren diese mit Sicherheit stark übertrieben. Mikojan wirft ­Mitaev in seinen in späteren Sowjetzeiten publizierten Erinnerungen zwar vor, er habe ein „doppeltes Spiel“ gespielt und sei der Sowjetmacht feind­lich gesinnt gewesen, doch gibt selbst er zu, dass nach der Aufnahme Mitaevs ins Revkom „eine gewisse Be­­ruhigung“ eingekehrt sei in Tsche­tschenien.154 Dies bestätigen auch die Berichte anderer Direktbeteiligter. So stellt etwa R. N. Sokolov, der Vertreter des Militär­kommissariats in Tsche­tschenien, in seinem Bericht vom Juli 1923 fest, dass sich die Lage nach der Einbeziehung Mitaevs ins Revkom deut­lich ver­bessert habe und das „Banditentum auf ein Minimum“ zurückgegangen sei.155 Auch der ­geor­gisch-stämmige Sekretär des Orgbüros des tsche­tschenischen Gebiets, 150 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 13 – 17. 151 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 26. 152 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, Ll. 26 – 33; OGPU-Bericht zur politisch-ökonomischen Situation in der UdSSR im Zeitraum November–Dezember 1923, in: Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 973, 979; OGPU-Bericht zur politisch-ökonomischen Situation in der UdSSR im Januar 1924, in: Dies. (Hg.), „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934). Tom 2. 1924 g., Moskva 2001, S. 33. 153 Rus­sische Übersetzungen dieser Briefe finden sich in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, Ll. 18 – 19. 154 Mikojan, Iz Vospominanij, S. 54. 155 Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 134.

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Asnarašvili, pflichtet in einem nur etwa drei Monate später verfassten Brief an den Sekretär des Südostbüros des Zentralkomitees der RKP (b), Mikojan, der Einschätzung bei, wonach die Überfälle auf die Bahnlinien nach der Aufnahme Mitaevs „schnell liquidiert“ worden seien.156 Erwähnt Sokolov die angeb­liche Verbindung zwischen Mitaev und Gocinskij in seinem Bericht mit keinem Wort, so geht Asnarašvili ausführ­lich darauf ein. Dabei muss er wohl den Bericht Mironovs gelesen haben, denn er zeigt sich in seinem Schreiben einverstanden mit ihm, dass eine ernsthafte Gefahr in einer allfälligen Vereinigung „dieser beiden Kräfte, der Ebene und der Berge“ bestehe. Ali Mitaev gesteht er immerhin die Eigenschaft zu, ein „höchst korrekter und makelloser“ Mensch zu sein, der als Erster seinen „Pflichten gegenüber dem Staat“ nachkomme. So habe er etwa die „Naturalsteuer vollumfäng­lich vor fünf Monaten“ abgeliefert. Doch das Bild vom „[ä]ußer­lich ehrbaren Bürger“ würde trügen, denn tatsäch­lich sei Mitaev „schlüpfrig wie eine Schlange“ und versuche dieser, seine neue Position innerhalb des Revkoms zu ­nutzen, um seinen Einfluss auszubauen und Ėlʼdarchanov von ihm abhängig zu machen.157 Das sei ihm unterdessen auch weitgehend gelungen. Unter ständiger Beobachtung durch die Geheimpolizei würde Mitaev zwar vorsichtig agieren und er habe sogar Gocinskij mindestens vorübergehend zum Verlassen Tsche­tscheniens bewegen können. Asnarašvili glaubte aber offenbar nicht, dass dies bedeutete, Mitaev habe sich von Gocinskij losgesagt. Dies würden nicht nur die häufigen Besuche von Anhängern Gocinskijs bei Mitaev, sondern auch der Umstand widerlegen, dass es sich bei Mitaev, wie schon bei dessen Vater, um einen Anhänger panislamischer Ideen handle, die jener mit Gocinskij im Grundsatz teile.158 Sokolov und Asnarašvili waren sich insofern einig, als beide die Entfernung Mitaevs befürworteten, dafür aber, anders als Mironov, den Weg über eine Stärkung Ėlʼdarchanovs und des tsche­tschenischen Revkoms vorschlugen.159 Bis die neue Generation einer „tsche­tschenischen Intelligenzija“ an sowjetischen Schulen herangezogen worden sei, so Asnarašvili, gelte es, Ėlʼdarchanov, zu dem es vorerst keine Alternative gebe, zu unterstützen und wieder auf den „früheren Weg“ zurückzuführen.160 Ėlʼdarchanov, dem die negative Berichterstattung über die Situation in seinem Gebiet nicht entgangen sein konnte, sah sich nun herausgefordert, die Sachlage aus seiner Sicht darzulegen. Er verfasste am 5. November 1923 ein Schreiben, das er 156 Der Brief wurde vermut­lich am 22. Oktober 1923 verfasst: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 59 – 65, hier L. 62. 157 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 63. 158 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 64. 159 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 13 – 14, 64. 160 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, LI. 63 – 64.

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dem Zentralkomitee der Partei zur Weiterleitung an Stalin zustellte.161 In d ­ iesem Brief distanziert er sich ausdrück­lich von „Banditen“ wie Čelokaev oder ­Gocinskij, die in der Bevölkerung nicht den geringsten Rückhalt genießen würden, räumt aber ein, dass sich die Sowjetmacht in der Abgeschiedenheit einiger Bergdörfer, vor allem in den Bezirken Vedeno und Šali, bisher nicht habe etablieren können, was mit den „objektiven Bedingungen der Lebensweise der dortigen Bevölkerung“ zusammen­hänge.162 Ansonsten aber, so Ėlʼdarchanov, habe die Bevölkerung eine „loyale Haltung“ zur Sowjetmacht.163 Wohl mit Bezug auf das Informations­schreiben von Mironov weist Ėlʼdarchanov den Vorwurf zurück, dass in Tsche­tschenien „Anarchie“ herrsche. Ein solcher Zustand habe „vor der Ausrufung der Autonomie“ bestanden, davon sei nun aber „keine Spur mehr vorhanden“.164 Mitaev findet im Schreiben Ėlʼdarchanovs keine explizite Erwähung, vielmehr schreibt er nur von den Maßnahmen des Revkoms, die dazu geführt hätten, dass es trotz noch vorhandener „Bandenelemente“ in Tsche­tschenien im Großen und Ganzen nun ruhig sei. Wohl wiederum mit Blick auf die ört­lichen Repräsentanten der GPU bezeichnet er jene als „Feinde des tsche­tschenischen autonomen Gebiets“, ­welche die ­Situation aufgrund „persön­licher Interessen und Ziele (…) in anderen Farben zeichnen“ ­würden. Diese Feinde würden unter der Bevölkerung „unsinnige Gerüchte über das Revkom“ verbreiten, das in seiner bisherigen Zusammensetzung bald aufgelöst und durch eine neue Führung unter Osman Achtachanov (1881 – 1932, Mitglied des Revkoms und Abgeordneter Tsche­tscheniens in Moskau beim Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR) ersetzt werden solle.165 Besonders heftig wehrte sich Ėlʼdarchanov gegen die Behauptung der GPU , dass Gocinskij und Mitaev einen aktiven Briefwechsel gepflegt hätten. Um dies zu widerlegen, leitete er nach der Verhaftung Mitaevs im Rahmen des Revkoms eine eigene Untersuchung ein. Laut verschiedenen Zeugen, die ihre Aussagen vor dem Revkom zu Protokoll gaben, handelte es sich beim Brief, den Gocinskij Mitaev zustellte und in dem er diesen zum Aufstand gegen die Sowjetmacht aufrief, um eine Fälschung. Dabei soll ein gewisser Osman Našaev, ein bekannter Urkundenfälscher, den Stempel angefertigt haben. Als Drahtzieher der Aktion wurde eine Gruppe um die Tsche­tschenen Kusi Bajgireev (ein Verwandter Našaevs), Maslak Ušaev 166 und Magomet Vačigov aus dem Dorf Dyšni-Vedenʼ genannt. Dabei sollte

161 Schreiben Ėlʼdarchanovs, 5. November 1923, in: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 38 – 38ob. 162 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 38. 163 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 38. 164 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 38ob. 165 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 38ob. 166 Maslak Ušaev (1897 – 1938) sollte später für den Geheimdienst Tsche­tscheno-Inguschetiens arbeiten und wurde in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR zum Vorsteher des Obersten Gerichts ernannt.

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es so aussehen, als wäre das Schreiben Gocinskijs von dieser Gruppe abgefangen und danach von Bajgireev nach Rostov am Don gebracht worden. Bajgireev, so die Zeugen, habe für diesen Dienst „15 Tscherwonzen“ (rus­sische Goldmünzen) erhalten, die er mit Maslak Ušaev teilte. Die Machenschaften der Gruppe kamen offenbar nur deshalb ans Tages­licht, weil der Dritte im Bund, Magomet Vačigov, der nur einen kleinen Teil des Geldes erhielt, beleidigt gewesen sein soll und anfing, den Leuten im Dorf von der Aktion zu erzählen.167 Ein Hinweis auf die Aktivitäten der Gruppe findet sich bereits in früheren Dokumenten, und vermut­lich wussten Ėlʼdarchanov und Mitaev über ihre Machenschaften und ihre Verbindungen zu den Geheimdienstbehörden in Rostov am Don ziem­lich genau Bescheid. Bereits am 4. November 1923 gab ein gewisser Alautdin Kuzaev aus dem Dorf Dyšni-Vedenʼ vor dem tsche­tschenischen Revkom zu Protokoll, dass eine ­Ėlʼdarchanov feind­lich gesinnte Gruppe um Bajgireev und Ušaev dabei sei, Verwandte und Gleichgesinnte gegen den Vorsitzenden des Revkoms aufzuwiegeln, und jenen, wenn er seine geplante Reise nach Vedeno unternehme, in einen Hinterhalt locken und ermorden wolle. Außerdem berichtete der Zeuge, dass Ušaev „vor zwei bis drei Tagen“ aus Rostov am Don gekommen sei und mit Bajgireev „wiederum lügenhafte Dokumente“ sammeln würde und dass er „offenbar erneut nach Rostov zurückkehren“ würde.168 Ob Mitaev tatsäch­lich Beziehungen zu antisowjetischen Rebellengruppen gepflegt hat und wie eng diese waren, lässt sich nicht abschließend klären. Was seine Verbindung zu Gocinskij betrifft, so dürfte er jedenfalls vorsichtig genug gewesen sein, keinen direkten Kontakt mit d­ iesem zu unterhalten. Nicht nur ­Asnarašvili, auch andere zeitgenössische Berichterstatter weisen darauf hin, dass sich ­Gocinskij spätestens ab dem Sommer 1923 außerhalb Tsche­tscheniens, vielleicht in Aserbaidschan, befunden haben könnte.169 Dass sich Mitaev unter Umständen aber mit In der postsowjetischen tsche­tschenischen Geschichtsschreibung ist er eine verhasste Figur. Auf der von Andrej Zelev zusammengestellten Online-Enzyklopädie zu bekannten Persön­lichkeiten Tsche­ tscheno-Inguschetiens erscheint er als „stalinistischer Tschekist-Sadist“: Znamenytie Čečency i inguši. Ėnciklopedija, http://www.proza.ru/avtor/zelev [11.1.2013]. Maslak Ušaev findet sich auf dem regierungskritischen tsche­tschenischen Internet-Blog „Chechen Traitors“ mit einem gesonderten Eintrag in der Sektion „Verräter und Henker des tsche­tschenischen Volks Maslak Ušaev“: http://­chechentraitors. blogspot.ch/2011/10/blog-post_7000.html [22.2.2013]. Der tsche­tschenische Schriftsteller Musa Beksultanov nennt ihn in einer seiner Erzählungen einen „Gottlosen, Denunzianten und Mörder“: Musa Beksultanow, Der Weg zurück zum Anfang. Erzählungen, Novellen, Gedichte in Prosa. Übersetzt von Marianne Herold und Ruslan Bazgiew, Klagenfurt 2012, S. 138, 157 (Anmerkung 5). 167 Dies stützt sich auf den Bericht eines gewissen Chakim Sataev, Bewohner des Dorfes Dyšni-Veden, vom 8. Mai 1924, enthalten in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 39. Weitere Berichte finden sich in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, Ll. 44 – 45. 168 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 41. 169 Siehe dazu etwa den Brief (zakrytoe pismo), datiert vom 25. Juli 1923, von Bolʼšakov, Sekretär des Groznyj Parteikomitees der RKP (b), an seine Genossen (mit Kopie an Lazarʼ M. Kaganovič, Leiter der Organisationsabteilung des Sekretariats des ZKs der Partei), enthalten in: RGASPI, F. 17,

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Personen traf, die Gocinskij oder anderen der Sowjetmacht feind­lich eingestellten Gruppen nahestanden, lässt sich auch nicht ausschließen. So berichten etwa auch geor­gische Quellen von einem Treffen zwischen Mitaev und dem Rebellenführer Čelokaev, das im Frühsommer 1923 stattgefunden haben soll.170 Im Zeitraum 1922/23 soll es überdies zu wiederholten Kontakten zwischen Mitaev und den Abgesandten ­Čelokaevs gekommen sein, nament­lich zu Kontakt mit Aleksandr Sulchanišvili, der seine Begegnungen mit Mitaev später in seinen Memoiren dokumentierte. Dabei stand aber offenbar nicht so sehr ein Aufstand in Tsche­tschenien selbst im Zentrum der Diskussionen, sondern die Frage, inwiefern die Georgier Hilfe von den Tsche­ tschenen bei der Vorbereitung ihres Aufstands (der schließ­lich im September 1924 ausbrechen sollte) erwarten konnten.171 Dass Mitaev Gäste empfing, die in offener Opposition zur Sowjetmacht standen, kann durchaus als Hinweis darauf verstanden werden, dass er wusste, dass seine Beziehung zum sowjetischen Staat und insbesondere zu dessen Sicherheitsorganen keineswegs stabil war, und er deshalb gut daran tat, auch Kontakte zu anderen Stellen zu pflegen, um sich im Fall einer Bedrohung vielleicht tatsäch­lich Unterstützung bei antisowjetisch eingestellten Gruppierungen zu holen. Die These, dass Mitaev zu dieser Zeit aktiv an Plänen für einen Aufstand gegen die Sowjetmacht gearbeitet habe, scheint jedoch eher abwegig. Denn Mitaev ging es in erster Linie immer darum, mithilfe der Mjuriden in seinem Einfluss­bereich für Recht und Ordnung zu sorgen, so wie dies bereits sein Vater und wie er dies selbst vor seiner Zeit als Mitglied des Revkoms getan hatten. Dabei kam ihm die Mitgliedschaft im Revkom insofern entgegen, als er dadurch seinen Einfluss auf die Bevölkerung seines Heimatgebiets festigen konnte. An einer selbst verursachten Gefährdung dieser Position kann Mitaev kein Interesse gehabt haben. Op. 67, D. 63, Ll. 32 – 36; die Passage zu Tsche­tschenien findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 63, Ll. 34 – 35. 170 N. G. Džavachišvili, Borʼba za svobodu Kavkaza. Iz istorii voenno-političeskogo sotrudničestva Gruzii i Severokavkazcev v pervoj polovine xx veka, in: Prometheus 8 (2011), S. 35 – 49, hier S. 47 – 49, http://chechen.org/archives/158 [10.6.2013]; ders., Borʼba za svobodu Kavkaza. Iz istorii voenno-političeskogo sotrudničestva Gruzii i Severo-kavkazcev v pervoj polovine xx veka. Okončanie, in: Prometheus 9 (2011), http://chechen.org/archives/162 [10.6.2013]. Der Autor zitiert dabei Quellen aus dem geor­gischen Präsidentenarchiv (nament­lich das Archiv Prezidenta Gruzii, F. 14, Op. 2, D. 28, Ll. 25 – 26), stützt sich auf publizierte Dokumente aus der damaligen Zeit (nament­lich eine Publikation mit dem Titel Delo Paritetnogo komiteta antisovetskich partij Gruzii (obvinitelʼnoe zaključenie), Tbilisi 1925), die publizierten Erinnerungen von Direktbeteiligten auf geor­gischer Seite und neuere geor­gische Sekundärliteratur. Weiterführend: N. G. Džavachišvili, Borʼba za svobodu Kavkaza (iz istorii voenno-političeskogo sotrudničestva gruzin i severo-­ kavkazcev v pervoj polivine XX veka), Tbilisi 2005. 171 Aleksandr Sulchanišvili, Moi vospominanija, San Francisco 1981, insbesondere S. 119, 121 (im Selbstverlag des Autors in geor­gischer Sprache erschienen; der Literaturhinweis findet sich bei: Džavachišvili, Borʼba za svobodu Kavkaza. Okončanie).

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Doch auch Ėlʼdarchanovs Verteidigung gilt es mit einer gewissen Vorsicht zu ge­­ nießen. Den Angriff der GPU auf Mitaev muss Ėlʼdarchanov als Angriff auf sich selbst verstanden haben. Denn nicht Mitaev, sondern das Revkom, dem dieser angehörte, war in letzter Instanz für die Lage in Tsche­tschenien verantwort­lich. Ėlʼdarchanov befand sich dabei in einer besonders heiklen Position: Er sah sich gezwungen, die Ein­beziehung Mitaevs ins Revkom zu rechtfertigen, durfte es gleichzeitig aber nach außen nicht so aussehen lassen, als hege er zu starke Sympathien für Mitaev oder als wäre er gar abhängig von ­diesem. Genauso vorsichtig musste Ėlʼdarchanov in der Frage agieren, wie es um Tsche­tschenien in Wirk­lichkeit bestellt war. Dabei durfte er die Situation weder zu stark beschönigen noch zu stark dramatisieren. Tsche­tschenien war beim Aufbau von Wirtschaft und Infrastruktur gänz­lich auf äußere Hilfe ­angewiesen. Um mehr Mittel zu erhalten, tendierten Ėlʼdarchanov und andere tsche­tschenische Abgeordnete jeweils dazu, auf die schwierige Situation in ihrem Gebiet hinzuweisen. So nutzte etwa Ėlʼdarchanov seinen Auftritt an der 4. Konferenz des ZKs der RKP (b), die vom 9.–12. Juni 1923 in Moskau stattfand, nicht nur, um den Ein­ bezug von Mitaev dahingehend zu rechtfertigen, dass dies im Sinne der Stabilität sei. Er erinnerte auch daran, dass Tsche­tschenien zwar Erdölbeiträge in der Höhe von 35.000 Goldrubel und die Hälfte der Einkünfte durch die Naturalsteuer erhalte, dies jedoch bei Weitem nicht ausreiche, da „68 Prozent aller dieser Beiträge und Dotationen“ für den Kampf gegen das „organisierte Banditenwesen“ verwendet würden.172 Gleichzeitig durfte Ėlʼdarchanov die Zustände aber auch nicht überzeichnen, denn er wollte unbedingt vermeiden, der Sowjetmacht einen Vorwand für eine offene Einmischung in Tsche­tschenien, etwa in Form einer Militäraktion, zu liefern. So stritt er die Existenz von Banditengruppen zwar nicht ab, unterstrich aber, dass die Probleme dank der guten Arbeit des einheimischen Revkoms weitgehend unter Kontrolle seien, das den Banditen „keine Ruhe“ geben würde.173 Ob die Beziehung zwischen Ėlʼdarchanov und Mitaev von persön­licher Freundschaft geprägt war, wie Asnarašvili in seinem Bericht mit dem Hinweis, die beiden ­hätten untereinander wertvolle Geschenke ausgetauscht, wissen wollte, geht aus anderen Dokumenten nicht eindeutig hervor.174 In jedem Fall war die Allianz für Ėlʼdarchanov von großer Wichtigkeit, nicht nur bezüg­lich der Sicherheitslage in Tsche­tschenien, sondern auch hinsicht­lich seiner Machtstellung gegenüber rivalisierenden Gruppen. Es sollte deshalb wenig erstaunen, dass Ėlʼdarchanov in der Folge alle Hebel in Bewegung setzen würde, um Mitaev, nachdem es der Geheimpolizei im Frühjahr 1924 schließ­ lich gelungen war, diesen zu verhaften, wieder freizubekommen.

172 Ėlʼdarchanov in: Tajny nacional’noj politiki CK RKP, S. 168 – 169. 173 Ebd., S. 167 – 168. 174 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 63.

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7.6   D e r Weg i n d e n of fe ne n M a cht k a m pf Aus Sicht der staat­lichen Sicherheitsdienste stellte Mitaev eine Gefahr dar. Im Weltbild der Geheimpolizei war der Staat permanent von Feinden bedroht. Geist­liche und gesellschaft­liche Führer wie Mitaev, die überdies über eine eigene, von der Sowjetmacht unabhängige Machtbasis verfügten, konnten am Ende nichts anderes als Gegner darstellen, die es über kurz oder lang zu vernichten galt. Ob sie nun als Banditen, Nationalisten, Panislamisten oder Konterrevolutionäre taxiert wurden – Etiketten, die sich für Mitaev in den GPU-Berichten allesamt wiederfinden –, war unerheb­lich. Ali Mitaev muss der Geheimpolizei allein schon aufgrund seines islamischen Glaubens suspekt gewesen sein. Bereits in einem tsche­tschenischen Massengebet in der Form des Zikr, das von lautem Singen begleitet wurde, ließ sich ein Beleg für die fanatische Einstellung oder die panislamische Orientierung der Tsche­tschenen, ja sogar für die Vorbereitung eines neuen „Gazawat“ finden.175 Diese Einschätzung nährte sich auch aus historisch gewachsenen Stereotypen, die in den muslimischen Völkern gemeinhin Fanatiker sahen, die nur darauf warteten, sich mithilfe fremder Mächte von Russland loszusagen. Dass sich die bolschewistische Führung des Nordkaukasuskreises mit Rückendeckung Moskaus dazu entschloss, eine Person wie Mitaev ins Revkom aufzunehmen, musste gerade noch deshalb für Unverständnis sorgen, weil die Position der Bolschewiki nach der Nieder­werfung des Gocinskij-Aufstands und der Unterdrückung der Basmači-Rebellion in Zentral­asien im Zeitraum 1921/22 wenn auch noch nicht gänz­lich gefestigt, dann doch immerhin nicht mehr akut bedroht schien. In dieser Situation befürworteten die Vertreter der Geheimpolizei eher ein rigoroseres Durchgreifen als Kompromisse. Darüber hinaus hatten die staat­lichen Sicherheitsorgane wohl auch ein insti­ tutionelles Interesse daran, die Situation bedroh­licher darzustellen, als sie es in Wirk­lichkeit war. Bei den Angehörigen der Geheimpolizei handelte es sich in der Mehrheit um gestählte Bolschewiki, die Erfahrungen im rus­sischen Bürgerkrieg gesammelt hatten. Bereits der Name ­dieses im Dezember 1917 von Lenin ­geschaffenen Geheimdienstes, der sich ursprüng­lich „ČK “ („Tscheka“) nannte, was als Abkürzung für „Außerordent­liche Allrussländische Kommission zur Be­­ kämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ steht, war Programm. Das änderte sich auch nicht wesent­lich, als die Tscheka im Februar 1922 formell aufgelöst wurde und neu unter dem Namen GPU in Erscheinung trat.176 Dabei handelte es sich bei den ört­lichen Ablegern der Geheimpolizei im Nordkaukasus

175 Z. B. Bericht von Mironov, verfasst vor dem 21. April 1923, in: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 588, Ll. 33 – 34. 176 Siehe dazu die Angaben in Anmerkung 1 in ­diesem Kapitel.

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insofern um einen besonderen Zweig der Behörde, als deren Repräsentanten in den 1920er-Jahren als „bevollmächtigte Vertreter“ (sing. polnomočnyj predstavitelʼ – PP ) wirkten. Dies war eine Funktion, w ­ elche die Geheimpolizei nur für bestimmte, als besonders schwierig eingestufte Gebiete der Sowjetunion zugesprochen erhielt. Anders als die Kollegen in den übrigen Landesteilen waren die bevollmächtigten Vertreter der GPU/OGPU im Nordkaukasus (aber auch in Zentralasien oder in der Ukraine) mit weitreichenden gesetz­lichen Vollmachten ausgestattet bis hin zum Recht, Todesstrafen auszusprechen.177 Der Terror, wie er sich in den frühen 1920er-Jahren an den Rändern Russlands manifestierte, war somit nicht Auswuchs, sondern Teil eines Systems, das sich durch die permanente Suche nach inneren und äußeren Feinden selbst am Leben erhielt. Solange die Organisation Feinde fand, rechtfertigte sie auch ihr Bestehen. Je besser die Resultate ausfielen, die sich in der Zahl monat­lich verhafteter und verurteilter Personen ausdrückte, desto unverzichtbarer suchte sich die Behörde in den Augen des Staates zu machen. An gute Resultate waren die konkreten Interessen der Mitarbeiter gebunden, die sich Auszeichnungen und Aufstiegsmög­lichkeiten ­erhofften. Der Nordkaukasus war eine jener Regionen, in denen Mitarbeiter staat­licher Sicherheitsdienste die Mög­lichkeit hatten, nach geleistetem Dienst mit einem Orden nach Hause zurückzukehren.178 Besonders eifrig muss dabei Evdokimov gewesen sein. So soll die Zahl der Exekutionen im Nordkaukasus in den 1920er-Jahren jeweils rapide angestiegen sein, wenn Evdokimov vor Ort wirkte.179 Insgesamt erhielt E ­ vdokimov 180 für seine „Verdienste“ im Nordkaukasus vier Orden. Zu Anfang der 1920er Jahre war es jedoch auch für den staat­lichen Geheimdienst keine leichte Aufgabe, eine Persön­lichkeit vom Kaliber eines Ali Mitaev zu verhaften. Aufs Land wagten sich die Repräsentanten der Geheimpolizei nur ungern. Doch auch in Groznyj war es schwierig, Mitaev festzunehmen, weil er zu den Sitzungen des Revkoms jeweils nur in Begleitung bewaffneter Anhänger ­reiste.181 Weil Mitaev mit einer Verhaftung durch die Geheimpolizei rechnen musste, war er auf der Hut. So auch am 16. April 1924, als er sich für eine Sitzung des Revkoms in Groznyj aufhielt und ihn das Gerücht erreichte, die Geheimpolizei würde versuchen, ihn festzunehmen. Noch in derselben Nacht verließ 177 Wheatcroft, Agency and Terror, S. 27. 178 So wurden etwa für die Verdienste bei der Verhaftung von Gocinskijs und weiteren „Konter­ revolutionären“ im Jahr 1925 insgesamt fünf Mitarbeiter der Geheimpolizei, darunter Sergej ­Mironov, mit dem prestigeträchtigen „Rotbannerorden“ (Orden Krasnogo Znameni) ausgezeichnet: GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1132, L. 3. Siehe dazu auch die Ausführungen bei: Avtorchanov, Memuary, S. 314. 179 Diesen Hinweis macht: Wheatcroft, Agency and Terror, S. 28. 180 Marshall, Caucasus, S. 232. 181 Mikojan, Iz Vospominanij, S. 54.

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er die Stadt, um der Verhaftung zu entgehen. Weil Mitaev sich danach weigerte, nach Groznyj zurückzukehren, be­auftragte das tsche­tschenische Orgbüro, der verlängerte Arm des Zentralkomitees der Partei, den Regierungsvorsitzenden Ėlʼdarchanov, alles zu unternehmen, um ­Mitaev zu einer Rückkehr in die Stadt zu bewegen. Ėlʼdarchanov wusste, dass Mitaev sich nur dann zu einem solchen Schritt verleiten ließ, wenn er eine entsprechende Sicherheitsgarantie erhielt. So stellte Ėlʼdarchanov ein Schreiben aus, das Mitaev Immunität versprach, und ließ ihm das Schreiben über seinen Bruder Omar Mitaev zukommen. Daraufhin kam Ali Mitaev am 18. April tatsäch­lich in die Stadt. An der Sitzung des Revkoms waren auch der Sekretär des Orgbüros und der stellvertretende Repräsentant der ört­lichen Geheimpolizei anwesend. Beide ver­sicherten, ein Mitglied des Komitees könne nicht verhaftet werden. Sie bezichtigten Mitaev aber der Feigheit und warfen ihm vor, er würde seine Bürgerrechte nicht kennen. Offenbar ließ sich Mitaev vor ­diesem Hintergrund nach Ende der Sitzung dazu bewegen, in die Zentrale der Geheimpolizei zu kommen, wohin er unter dem Vorwand ge­­ laden worden war, ein Formular auszufüllen. Als er dort in Begleitung des stell­ vertretenden Revkomvorsitzenden Zaurbek Šeripov, des Bruders des im Bürgerkrieg gefallenen Bolschewiki Aslanbek Šeripov, eintraf, wurde er verhaftet und noch am gleichen Tag nach Rostov am Don überstellt.182 Diese Schilderung der Ereignisse stützt sich auf ein Schreiben, das ­Ėlʼdarchanov am 20. Mai 1924 dem Zentralkomitee der Partei zuhanden Stalins zukommen ließ.183 Darin versichert Ėlʼdarchanov, dass er von den Plänen der Geheim­polizei nichts gewusst habe, und bittet Stalin um die sofortige Freilassung und Über­ stellung Mitaevs nach Tsche­tschenien. Dass Mitaev völlig schuldlos sei, behauptet ­Ėlʼdarchanov in seinem Schreiben nicht, doch sieht er in ihm auch keine Gefahr. Trotz seiner „Fehler und Verwirrungen“ sei Mitaev als Mitglied des Revkoms eine Unter­stützung gewesen, indem er mit seinen Leuten die Eisenbahnverbindungen bewacht hätte. Weil Mitaev in der Bevölkerung überaus populär sei, würde seine Beseitigung seine Autorität und seinen Status als „Märtyrer für die Religion“ nur noch erhöhen. Ėlʼdarchanov warnt im Brief sogar vor innertsche­tschenischen Konflikten, wenn er argumentiert, dass „gemäß ört­lichen Gebräuchen ein Tsche­tschene, der einen anderen Tsche­tschenen [verrate], zum Blutfeind des gesamten Clans des Opfers“ werde.184 Hier nun zeigte sich, wie stark Ėlʼdarchanovs Schicksal mit jenem Mitaevs verknüpft war: Weil Mitaev nur aufgrund eines Schreibens Ėlʼdarchanovs in die Stadt

182 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 66 – 67. 183 Brief Ėlʼdarchanovs an Stalin, 20. Mai 1924, in: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 66 – 67. 184 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 67.

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Abb. 10: Ali Mitaev nach seiner Verhaftung. Aufnahme undatiert, ca. 1924.

gekommen war, stand er unter dessen persön­lichem Schutz. Sollte es ­Ėlʼdarchanov nicht gelingen, Mitaev wieder freizubekommen, lief er aufgrund der perfiden Aktion der Geheimpolizei Gefahr, bei den Tsche­tschenen nicht nur den Ruf des Revkoms, sondern auch seine eigene Reputation zu diskreditieren, was er im Schreiben an ­Stalin auch beklagte.185 Was sich aus Ėlʼdarchanovs Zeilen herauslesen lässt, berührte den Kerngedanken des Autonomieprinzips: Denn wie konnte von Freiheit die Rede sein, wenn die Geheimpolizei in Tsche­tschenien willkür­lich und gegen den Willen der Regierung Amtsträger verhaftete? Moskau erhörte Ėlʼdarchanovs Anliegen nicht. Das Zentralkomitee leitete den Fall zunächst zur Behandlung an das Politbüro weiter, ­dieses wiederum übergab die Sache an das Orgbüro mit der Begründung, dessen Genossen seien besser mit dem Fall vertraut.186 An einer Sitzung vom 4. Juni 1924 entschieden die Mit­glieder ­dieses Gremiums, das „Begehren Ėlʼdarchanovs betreffend der Befreiung Ali ­Mitaevs abzulehnen“ und den Fall Mitaev „in der Kompetenz der OGPU“ zu be­­lassen.187 Die obersten Gremien des Staates waren somit genau unterrichtet über den Fall. Dass sie Ali Mitaev in den Händen der Sicherheits­organe beließen, konnte nur bedeuten, dass sie auch mit dessen eventueller Beseitigung einverstanden waren.

185 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 66ob. 186 Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 222 (Anmerkung 1). 187 Ebd., S. 222.

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Dabei hatte der staat­liche Sicherheitsdienst von Anfang an bezweckt, nicht nur Mitaev zu eliminieren, sondern auch Ėlʼdarchanov zu entfernen, den die Geheimdienstberichte als einen „Konterrevolutionären“ bezeichneten.188 Im Anschluss an die Verhaftung Mitaevs suchte die Geheimpolizei nun auch Ėlʼdarchanovs Stellung weiter zu untergraben. Im Mai 1924 erreichte das nordkauka­sische Kreisbüro der Partei in Rostov am Don ein besonders negativer Bericht zur Lage in Tsche­tschenien. Mironov und Evdokimov zeichneten ein Bild des tsche­tschenischen Revkoms, das von Fraktionskämpfen und Korruption innerhalb der Regierung und von Ausschweifungen seiner Mitarbeiter geprägt war. Die Gelder, die Tsche­tschenien vom Zentrum erhalte, würden falsch eingesetzt oder gar missbraucht, was zu einem Budgetdefizit von 400.000 Rubel geführt habe.189 Mironov ging in einem zweiten Schreiben noch weiter, indem er Ėlʼdarchanov direkt angriff und ihn bezichtigte, Gelder für persön­ liche Zwecke unterschlagen und damit den eigenen Clan bereichert zu haben.190 Ėlʼdarchanov aber gab sich nicht geschlagen und ging nun selbst in die Offensive. Er ließ zahlreiche Stellungnahmen und Erklärungen tsche­tschenischer Vertreter, darunter auch der Kunta-Chadži-Bruderschaft, protokollieren. Diese Protokolle sollten die große Unterstützung der Bevölkerung für seine Einschätzung im Fall Mitaev belegen. Kopien der Dokumente ließ er auch der Ostabteilung der OGPU in Rostov am Don zukommen.191 Nebst dieser „Missionierung unter der Bevölkerung“, wie die Geheimpolizei die Aktivitäten Ėlʼdarchanovs in einem ihrer Berichte beschreibt,192 ließ der tsche­tschenische Regierungsvorsitzende die Ver­treter der Geheimpolizei die Aufregung unter den Tsche­tschenen auch direkt spüren, als diese sich zur ersten Sitzung der Räte des tsche­tschenischen Gebiets einfanden. An dieser Sitzung, die unter dem Vorsitz Ėlʼdarchanovs vom 29. Juli bis 2. August 1924 in Groznyj stattfand, wurde das Revkom als Form der Übergangsregierung offiziell abgeschafft und durch ein regulär gewähltes ausführendes Gebiets­komitee (­oblastnyj ­ispolnitelʼnyj komitet – oblispolkom) ersetzt.193 Ohne dass er zuvor ­traktandiert worden wäre, wurde der Fall Mitaev zu einem Hauptthema der Sitzung. Zahl­reiche Redner forderten, die Brüder

188 Schreiben von Evdokimov an Mironov, Mai 1924, in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 52 – 61. 189 Schreiben Evdokimovs und Mironovs an das Kreisbüro der PKP (b), Mai 1924, in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 144, Ll. 3 – 10, hier L. 3. 190 Schreiben von Evdokimov an Mironov, Mai 1924, in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 52 – 61, hier L. 54. 191 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, Ll. 49 – 50. 192 Zitiert aus: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, L. 60. 193 Das Protokoll der Sitzung befindet sich in: GARF, F. R–1235, Op. 102, D. 495, hier insbesondere Ll. 2 – 2ob, 18 – 19. Eine Zusammenfassung der Sitzungen über den Zeitraum von vier Tagen aus der Feder Ėlʼdarchanovs ist in einer verkürzten Fassung publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 503 – 515.

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Mitaev (nebst Ali wurde auch sein Bruder Omar von der Geheimpolizei verhaftet) seien aus der Haft zu entlassen. Konfrontiert mit diesen Forderungen, versprach Mikojan, der am ersten Sitzungstag als Hauptredner auftrat, das Anliegen der Tsche­tschenen bei den zuständigen Instanzen vorzubringen. Auch versuchte er die ­Anwesenden zu besänftigen, indem er angab, die Haftbedingungen Mitaevs im Rostover Gefängnis seien besser als diejenigen der anderen Häftlinge. Gleichzeitig gab er zu verstehen, dass die Geheimpolizei die Verhaftung vorgenommen habe und der Fall deshalb außerhalb seiner Kompetenzen liege.194 Auch Evdokimov nahm an der Sitzung in Groznyj teil und erfuhr, wie stark die Verhaftung Mitaevs die Bevölkerung aufwühlte.195 Allen Bemühungen ­seiner Behörde zum Trotz sah es danach aus, als ob der Fall Mitaev die Position ­Ėlʼdarchanovs sogar noch stärken könnte. So sammelte die Geheimpolizei weiter belastendes Material gegen Mitaev. Sie baute ihre Anklage bis zum Herbst so aus, dass sie in einem Schreiben vom 28. November 1924 fordern konnte, es sei unbedingt not­wendig, Mitaev zu erschießen. Die Hinrichtung sollte der „reaktionären Scharia-Konterrevolution des gesamten Nordkaukasus“ einen Schlag versetzen und die Gefahr eindämmen, die von der „Mitaev-Sekte“ ausging.196 Allerdings gaben die Vertreter der Geheimpolizei auch zu bedenken, dass im Fall einer Erschießung Mitaevs mit Racheakten gegen eigene Mitarbeiter und gegen Ėlʼdarchanov zu rechnen wäre.197 Entsprechend strebte die Geheimpolizei danach, den Fall mög­lichst nicht öffent­ lich vor Gericht zu behandeln. Diese Einschätzung ließ sich die Geheimpolizei von der Prokuratur (Staatsanwaltschaft) des Nordkaukasuskreises bestätigen. Diese Behörde gelangte ebenfalls zum Schluss, dass die Erschießung Mitaevs nicht nur zu Blut­rache, sondern auch zu einem Anstieg des Banditenwesens führen könnte und eine öffent­liche Behandlung des Falls deshalb nicht zu empfehlen sei.198 Die oberste Parteiführung muss ­diesem Antrag zugestimmt haben, denn in der Tat blieb der Fall in der Folge in den Händen der Geheimpolizei. Deren oberstes Gremium, das OGPU-Kollegium, folgte dem Antrag der Kollegen im Nordkaukasus zunächst jedoch nicht und verurteilte Ali Mitaev am 19. Januar 1925 zu einer zehnjährigen Haftstrafe. Vermut­lich kurz danach muss Mitaev von Rostov am Don nach Moskau ins Gefängnis verlegt worden sein.199

194 Eine Zusammenfassung der Rede Mikojans findet sich in: Ebd., S. 505 – 506; der Hinweis ­Mikojans auf den Fall Mitaev in: Ebd. Siehe dazu auch: Mikojan, Iz Vospominanij, S. 56. 195 Der Name Mironov taucht auf der Mitgliederliste des Sitzungsprotokolls auf: GARF, F. R–1235, Op. 102, D. 495, L. 2ob. 196 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 89, Ll. 114 – 125. 197 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 89, L. 114. 198 RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 89, L. 115. 199 Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 1026.

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Wieso das Kollegium Mitaev am Leben ließ, geht aus den vorliegenden Dokumenten nicht hervor. Vielleicht ließ die Geheimpolizei in der Tat die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen von Mitaev-Anhängern vor d­ iesem Schritt zurück­schrecken. Glaubt man den Ausführungen im Bericht von Aleksej Kosterin, der sich Anfang Juli 1924 in Avtury, dem Geburtsort Mitaevs, aufhielt, dann muss unter den ­dortigen Einwohnern große Nervosität geherrscht haben. Die Mjuriden, mit denen K ­ osterin sich unterhielt, sollen bereit gewesen sein, sich zu rächen, sollte Mitaev ge­­tötet werden. Dazu sollen sie aufgrund des Treueschwurs, den sie Mitaev ge­­leistet ­hatten, ver­ pflichtet gewesen sein.200 Auch wurden in dieser Zeit in zahlreichen tsche­tschenischen Siedlungen auf Dorfversammlungen Petitionen zur Befreiung der Brüder Mitaev oder zur Minderung ihrer Haftstrafe unterschrieben. Abgesehen von einer Bittschrift, die sich direkt an Mikojan richtete und von den Frauen der Brüder Mitaev unterzeichnet war,201 waren diese Petitionen in Form von Beschlüssen der jeweiligen Dorfräte oder als Protokolle der dörf­lichen Rätesitzungen gehalten und mit einem Stempel des Sekretärs der tsche­tschenischen Regierung beglaubigt. Weil alle diese Dokumente im selben Zeitraum, zwischen dem 22. und dem 28. April 1925, verfasst wurden und die Petitionen im Wortlaut oft große Ähn­lichkeit aufweisen (bis hin zu wortgetreuen Wiederholungen ganzer Abschnitte), ist davon auszugehen, dass diese Aktion zentral gesteuert und orchestriert wurde, wobei als Initiant einer solch großangelegten Aktion eigent­lich nur die tsche­tschenische Regierung unter Ėlʼdarchanov infrage kommen konnte. Entsprechende Dokumente liegen für 16 Siedlungen der Bezirke Vedeno, Šali, Urus-Martan und Novo-Čečenskij vor.202 Gleichzeitig blieb Tsche­tschenien ein „Hort des Banditentums“, wie es ein Armeebericht vom 3. Oktober 1924 formulierte.203 Besonders problematisch war die Situation offenbar in der tsche­tschenisch-dagestanischen Grenzregion bei Gudermes sowie in den Bezirken Šali und Vedeno, wo zahlreiche bewaffnete Banden ihr Unwesen trieben. Diebesgut, darunter Waffen aus den Arsenalen der Roten Armee, wurde offen auf Basaren zum Kauf angeboten.204 In der politisch aufgeheizten Atmosphäre konnten die Bolschewiki auch öffent­liche Wahlen in die Räte nicht so manipulieren, dass nur ihnen genehme Personen Einsitz in diesen Institutionen ­hätten nehmen ­können. Ein Versuch, die Revkoms im Frühjahr 1924 abzuschaffen und die Regierung durch gewählte Räte 200 Kosterin, Po Čečne, S. 292. 201 AUP ČR, F. R–1206, Op. 1ks, D. 31, L. 32 – 33. 202 Dem Autor ­dieses Buches liegen Schreiben für die Siedlungen Gojty, Staro-Sunženskij, ­Berdykelʼskoe, Urus-Martan, Gechi, Alchan-Jurt, Šali, Mesker-Jurt, Ustar-Gordoj, Avtury, Belʼgatskij, Čečen-Aul, Novye Atagi, Kuraly, Cacan-Jurt und einer weiteren Siedlung (mit unleser­lichem Namen) vor. Die Dokumente sind enthalten in: AUP ČR, F. R–1206, Op. 1ks, D. 31, Ll. 21 – 62. 203 Der Armeebericht deckt den Zeitraum Juli bis September 1924 ab und ist publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 517 – 518, hier S. 517. 204 Ebd.

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zu bestellen, hatte zahlreiche Boykotte zur Folge. Dies führte dazu, dass das Revkom auf Gebietsstufe im Sommer 1924 zwar durch ein gewähltes Gebiets­komitee ersetzt wurde, in zahlreichen tsche­tschenischen Orten auf dem Land die R ­ evkoms aber weiter­ bestanden, weil keine regulären Wahlen in Räte stattfinden konnten.205 Schließ­lich beklagten sich auch die Nachbarn Tsche­tscheniens, an erster Stelle Dagestan, immer häufiger über die dortige Situation. So machten die damals führenden dagestanischen Politiker, Dželalėddin Aselʼderovič Korkmasov (1877 – 1937) und Nažmuddin Panachovič Samurskij (eigent­lich Ėfendiev, 1891 – 1938), wieder­ holt Tsche­tschenien und das tsche­tschenische Revkom für die schwierige Lage Dagestans verantwort­lich. Sie warfen Ėlʼdarchanov vor, zu wenig zu unternehmen, um das Banditenwesen auszumerzen, von dem eine Gefahr für das dagestanische Grenzgebiet ausgehe.206 Die politischen Führer Dagestans hegten auch deshalb einen besonderen Groll gegenüber ihrem Nachbarn, weil ihre Republik als Teil des von Rostov am Don verwalteten Nordkaukasuskreises ihres Erachtens zu Unrecht oft in den gleichen Topf wie der Problemfall Tsche­tschenien geworfen und pauschal als Banditenland abgestempelt wurde. Das brachten Korkmasov und Samurskij in einem Schreiben ans Moskauer Zentralkomitee im Juni 1924 unverblümt zum Ausdruck. Sie forderten den Austritt Dagestans aus dem Nordkaukasuskreis und die Aufnahme direkter Beziehungen zum Moskauer Zentrum, was sie zwar mit dem Tsche­tschenienproblem begründeten, sicher aber auch mit der Hoffnung verbanden, in den Genuss größerer materieller Unterstützung zu kommen.207 Insgesamt war die Situation in Tsche­tschenien in den Monaten nach der Verhaftung Mitaevs zwar angespannt, aber wohl nicht ganz so dramatisch wie dies die Geheimpolizei-Berichte vermuten lassen. So sollen etwa die Überfälle auf die Eisenbahn­ strecke, nachdem sie zunächst angestiegen waren, ab der zweiten Hälfte des Jahres 1924 bereits wieder deut­lich abgenommen haben, nachdem es offenbar Mikojan, der zu ­diesem Zweck nach Tsche­tschenien gereist war, gelungen war, erneut einer bewaffneten tsche­tschenischen Einheit unter der Führung eines „ehemaligen Anführers einer Bande“ die Bewachung der Bahn zu übertragen.208 Auch sollen große Erfolge im Kampf gegen das Banditenwesen überhaupt erzielt worden sein. Bis zu „500 Banditen“, so Mikojan, seien gefasst worden und fast alle Banditenführer hätten sich

205 Bugaj / Mekulov, Narody i vlastʼ, S. 71. 206 Diesen Vorwurf richteten die beiden dagestanischen Delegierten etwa während ihrer Auftritte an der 4. Moskauer Parteikonferenz im Juni 1923 an die Tsche­tschenen. Die entsprechenden Stellen finden sich in: Tajny nacional’noj politiki CK RKP, S. 161, 164. 207 Das Schreiben Samurskijs und Korkmasovs an das Orgbüro des ZKs der Partei, verfasst vor dem 9. im Juni 1924, ist publiziert in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 224 – 226, hier S. 225. 208 Mikojan, Iz vospominanij, S. 55.

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gestellt.209 Die Vertreter der Geheimpolizei sahen dies offenbar anders, wie Mikojan in einem unveröffent­lichten Diktat (diktovka) vom August 1971 beklagt: „[M]ir scheint, dass er [Dzeržinskij] und die Spitze der ČK [Tscheka] die Gefahr von Überfällen auf die Züge [in Tsche­tschenien] übertreibt. Denn zu d­ iesem Zeitpunkt hörten sie auf.“ 210 Ein Grund dafür, dass die Geheimpolizei nicht bereit war, ihr Negativbild in irgendeiner Weise zu korrigieren, ist wohl auch darin zu sehen, dass aufseiten der sowjetischen Führungsspitze in der Zwischenzeit endgültig der Gedanke herangereift war, in Tsche­tschenien eine Entwaffnungsaktion durchzuführen.211 Eine begrenzte Aktion hatten die Bolschewiki bereits im Frühjahr 1924 in Reaktion auf die Unruhen bei den Wahlen in die Räte durchgeführt.212 Die große Aktion folgte allerdings erst im Spätsommer 1925. Einschließ­lich Truppen der Roten Armee und bewaffneter Einheiten der OGPU beteiligten sich insgesamt über 7000 Mann an der Operation, die am 23. oder 25. August 1925 begann. Dabei gingen die Beteiligten immer nach dem gleichen Muster vor: Sie umstellten die jeweiligen Ortschaften und forderten die Bewohner ultimativ auf, ihre Waffen abzugeben. Kamen die Leute dem Befehl nicht nach, ließ die Armee die Dörfer beschießen. Dabei setzte sie punktuell auch Flugzeuge und schwere Artillerie ein. Laut einem Bericht des Armeestabs des Nordkaukasuskreises vom 19. September 1925 wurden im Laufe der zweiwöchigen Operation 25.299 Gewehre, 4319 Revolver, ein Maschinengewehr und rund 80.000 Schuss Munition eingezogen.213 Zwar gelang es den Tsche­tschenen, einen Teil ihrer Waffen und ihrer Munition zu verstecken. Trotzdem konnte die Armee im Laufe der Operation wohl den größeren Teil des tsche­tschenischen Arsenals konfiszieren.214 Der militärische Eingriff war nicht als Strafaktion gedacht und entsprechend hielten sich auch die Verluste in Grenzen. In ihrem Rapport sprach die Armeeführung von nur fünf gefallenen und von neun verwundeten Angehörigen der Roten Armee und der Geheimpolizei. Aufseiten der Bevölkerung soll es durch den Artillerie­beschuss sechs Tote und 30 Verwundete gegeben haben. Zwölf Aufstän­dische wurden ­ge­tötet, 300 Personen verhaftet, von diesen wurden kurz danach 105 erschossen.215 Die ­Geheimpolizei

209 Ebd. 210 RGASPI, F. 84, Op. 3, D. 120, L. 80. Diese Diktate dienten als Vorlage für seine später publizierten Memoiren. Die entsprechende Stelle findet sich in: Mikojan, Tak bylo, S. 232. 211 Gemäß Mikojans Aufzeichnungen, verfasst im August 1971: RGASPI, F. 84, op. 3, D. 120, Ll. 80 – 81. 212 Marshall, Caucasus, S. 171. 213 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1132, L. 8ob. 214 Pavel Aptekarʼ, Vtoroe pokorenie Kavkaza, in: Rodina (1995) H. 6, S. 43 – 48; A. Ju. Laškov, 1925 god. Specoperacija krasnoj Armii. Tri četverti veka nazad pravitelʼstvennye vojska uže priobretali opyt likvidacii čečenskich bandformirovanij, in: Nezavisimoe Voennoe obozrenie, 21. April 2000, http://nvo.ng.ru/history/2000-04-21/5_sp_ops.html [9.1.2013]. 215 Pavel Aptekarʼ, Vojna bez kraja i konca, in: Rodina (2000) H. 1 – 2, S. 161 – 165, hier S. 163; Marshall, Caucasus, S. 172 – 173.

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nennt in ihrem Bericht höhere Zahlen: Demzufolge wurden 800 Personen verhaftet, von denen (bis zum 12. Oktober 1924) 115 erschossen wurden.216 Als großen Erfolg werteten die Armeeführung und die Spitzen der Geheimpolizei die Verhaftung von Nažmuddin Gocinskij. Denn nebst der großflächigen Entwaffnung hatte die Operation zum Ziel, führende Mitglieder aufständischer Banden festzunehmen. Anfang September spürte eine Armeegruppe Gocinskij im Bezirk Šaroevskij auf, wobei sie die lokale Bevölkerung aufforderte, den Gesuchten auszuliefern. Als Druckmittel sollen die Soldaten 40 Älteste als ­Geiseln genommen haben. Als die Bevölkerung der Aufforderung nicht nachkam, ließ die Armee die Siedlungen des Gebiets zwei Tage lang bombardieren. Erst danach, am 5. September 1924, ergab sich Gocinskij, als offenbar gebrochener und schwerkranker Mann, der bei seiner Verhaftung keinerlei Widerstand leistete.217 Wie groß die Autorität des Imams gewesen sein muss, zeigt sich daran, dass sich ihm auf dem Weg nach Groznyj, so überliefert es Mikojan in seinen unpublizierten Erinnerungen, „die tsche­tschenische religiöse Bevölkerung“ zu Füßen warf und dass sie dabei sein Gewand küsste.218 Wohl auch deshalb wurde Gocinskij umgehend nach Rostov am Don gebracht und per Beschluss der OGPU des Nordkaukasuskreises am 15. Oktober 1925 zum Tod verurteilt. Zusammen mit ihm wurden auch sein 16-jähriger Sohn, zwei seiner Töchter und weitere Familienangehörige hingerichtet.219 Außer Gocinskij wurden im Laufe der Operation weitere Scheiche und Banden­ führer verhaftet, unter ihnen die einflussreichen Scheiche Bilo-Chadži, der sich damals in Urus-Martan aufhielt und den die Bevölkerung wiederum erst nach heftigem Artilleriebeschuss auslieferte, und Ėmin Ansaltinskij, der im Aul Daj auf­ gespürt wurde. Atabi Šamilev, einem engen Getreuen Gocinskijs, gelang zunächst die Flucht in die Berge, doch ergab er sich zwei Tage nach der Verhaftung G ­ ocinskijs ebenfalls.220 Da die Gefahr eines bewaffneten Aufstands somit gebannt schien, sahen die Vertreter der Geheimpolizei nun offenbar auch die Option einer Erschießung Mitaevs in einem anderen Licht. Aufgrund neuer Anschuldigungen, w ­ elche die OGPU-Zentrale in Rostov am Don den Kollegen in Moskau zustellte, hob das Kollegium der OGPU seinen früheren Beschluss auf. Es entschied am 26. Oktober 1925, Ali Mitaev erschießen zu lassen.221

216 RGASPI, F. 78, Op. 7, D. 54, Ll. 3 – 4. 217 Laškov, 1925 god. 218 RGASPI, F. 84, Op. 3, D. 171, L. 37. 219 Donogo, Nažmuddin Gocinskij, S. 54. 220 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1132, L. 8ob; Laškov, 1925 god. 221 Das genaue Datum der Hinrichtung ist nicht bekannt: Peremyšlennikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 1, Častʼ 2, S. 1026.

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Parallel zur Entwaffnungsaktion und der Liquidierung der geist­lichen Würden­ träger folgten politische Umwälzungen in der tsche­tschenischen Regierung.222 Nicht nur Ėlʼdarchanov wurde am 27. September 1925 seines Amtes enthoben, sondern auch zwei weitere Regierungsvertreter, Zaurbek Šeripov und Abas Gajsumov, mussten weichen, was darauf schließen lässt, dass die sowjetische Regierung in Tsche­tschenien einen Neustart anstrebte.223 Zum neuen Vorsitzenden des tsche­ tschenischen Gebietskomitees wurde der Tsche­tschene und Kommunist Daud ­Arsanukaev bestimmt, der bis zu ­diesem Zeitpunkt Mitglied der Regierung ge­­ wesen war.224 Ėlʼdarchanov wurde allerdings nicht verhaftet, sondern erhielt eine administrative Aufgabe im neuformierten Komitee der Kommunistischen Partei des Nordkaukasuskreises (Kavkrajkom) in Rostov am Don. 1929 kehrte er nach Groznyj zurück, um einen leitenden Posten im Erdölunternehmen Grozneftʼ zu übernehmen. Am 14. November 1934 starb Ėlʼdarchanov nach kurzer Krankheit.225

7.7   D a s E nd e d e r I l lu sio n Der politische und militärische Eingriff der Bolschewiki zeigte den Tsche­tschenen die Grenzen ihrer Freiheit auf. Noch mehr als die Absetzung Ėlʼdarchanovs markierte in dieser Hinsicht die Verhaftung Mitaevs einen Einschnitt im politischen Leben Tsche­tscheniens. Denn erst im folgenden, direkten Kräftemessen zwischen dem tsche­tschenischen Regierungsvorsitzenden, der Geheimpolizei sowie den Vertretern der Partei in Rostov am Don und Moskau wurde festgelegt, wie die Auto­nomie zu verstehen war und wo die Grenzen der Freiheit lagen, die den Tsche­tschenen im Rahmen der Selbstverwaltung versprochen worden waren. Die Rolle der lokalen Ableger der Geheimpolizei darf dabei nicht unterschätzt werden. Sie agierten im Nordkaukasus weitgehend unabhängig und einzelne Persön­ lichkeiten wie Mironov oder Evdokimov beeinflussten durch ihre negative Bericht­ erstattung die Meinungen in Rostov am Don und Moskau und damit die Entwicklung in Tsche­tschenien stark. Dabei standen ihre Auffassungen gelegent­lich im Widerspruch zu den Einschätzungen anderer hochrangiger sowjetischer Vertreter. Auch stießen ihre raubeinigen Methoden nicht immer bei allen Genossen auf Gegenliebe. Zwar erschien die Politik der Bolschewiki deshalb manchmal unkoordiniert und den Tsche­tschenen war wohl nicht immer klar, wer sich für ­welche Politik in ­letzter Instanz verantwort­lich zeichnete. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass 222 Gammer, The Lone Wolf and the Bear, S. 145. 223 RGASPI, F. 78, Op. 7, D. 54, L. 4. 224 Ebd. 225 Šaipov, Taštemir Ėlʼdarchanov, S. 24.

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die Politik dennoch beharr­lich auf ein Ziel zusteuerte: darauf, die Herrschaft der Bolschewiki mit allen Mitteln zu sichern. Wurde dabei Gewalt angewendet, so mag das nicht immer bei allen Beteiligten auf Zustimmung gestoßen sein, es erschien mit Blick auf das Ziel aber immer gerechtfertigt. Das Vorgehen der Geheimpolizei stand dabei durchaus im Einklang mit der bolschewistischen Politik gegenüber Muslimen, die sich im Zeitraum 1923 – 1925 zu verhärten begann. Nach der Niederschlagung von Aufständen im Nord­kaukasus und in Zentralasien fühlte man sich in Moskau offenbar sicher genug, um nun auch gegen muslimische Kommunisten vorzugehen: Im Mai 1923 ließ die Führung den bekannten tatarischen Kommunisten Mirsaid Sultan-Galiev (1892 – 1940) verhaften, der zwar selbst ein überzeugter Bolschewik war, jedoch eine Ko-Existenz von Islam und Sozialismus befürwortete und zudem anstatt für eine ethnische Auf­gliederung Zentralasiens für ein vereintes „Turkestan“ plädierte.226 Diese Verhaftung hatte insofern Signalwirkung, als das Zentralasiatische Büro des Zentral­komitees der Kommunistischen Partei danach erstmals umfassende Säuberungen von Staatsund Parteistrukturen in der Region veranlasste, um die Machtstellung der Geist­ lichkeit zu schwächen. So waren beispielsweise von den 202 Personen, die aus der Kommu­nistischen Partei Bucharas ausgeschlossen wurden, 12,4 Prozent islamische Geist­liche.227 Die Kooptierung Mitaevs in das tsche­tschenische Revkom fiel damit präzise in eine Zeit, da die bolschewistische Führung dabei war, eine Kursänderung in ihrer Politik gegenüber Muslimen vorzunehmen. Trotz der Dramatik, die den Fall Mitaev und die anschließenden politischen Umwälzungen charakterisierten, war der Eingriff der Bolschewiki ins politische Innenleben Tsche­tscheniens letzt­lich punktuell und nicht vergleichbar mit der Kollek­ tivierungskampagne von 1929/30 oder den stalinistischen Säuberungen Mitte der 1930er-Jahre. Auch die Entwaffnungsaktion von 1925, so massiv sie ausfiel, war eine Operation mit klar begrenzten militärischen und politischen Zielen. Schwer­ lich kann darin ein Vorspann eines „Ethnozids“, des Versuchs einer gezielten und systematischen Vernichtung des tsche­tschenischen Volks und seiner Kultur, gesehen werden, wie dies einzelne tsche­tschenische Historiker behaupten.228 Zudem stellte Tsche­tschenien im Kontext des Nordkaukasus sicher einen eigenen Fall, aber mitnichten einen Sonderfall dar. Ähn­liche Vorgänge ließen sich in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre auch anderswo beobachten. Wiederholt gingen Armee und

226 Sultan-Galiev spielte während Revolution und Bürgerkrieg im Wolgagebiet und in Zentralasien eine wichtige Rolle und war danach eine zentrale politische Figur im neuen Sowjetrussland: R. G. Landa, Mirsaid Sultan-Galiev, in: Voprosy istorii (1999) H. 8, S. 53 – 70. 227 Shoshana Keller, To Moscow, Not Mecca. The Soviet Campaign Against Islam in Central Asia, 1917 – 1941, Westport, Connecticut 2001, S. 74. 228 Gakaev, Očerki, S. 91.

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Polizeieinheiten gegen einzelne Ortschaften im Kaukasus vor, um die Bevölkerung zu entwaffnen oder lokale Aufstände niederzuschlagen. Bereits 1921/22 führte die Armee eine größere Entwaffnungsaktion in Karatschajewo-Tscherkessien durch, um die bewaffneten Zusammenstöße im Grenzgebiet zwischen der Karatschaj und der Kabarda zu unterbinden. Für diese Operation wurden auch lokale Truppen mobilisiert, unter denen sich auch eine tsche­tschenische Brigade und eine inguschische Kavallerieeinheit befanden.229 Größere Entwaffnungsaktionen führten die Bolschewiki im Zeitraum 1923 – 1926 auch in Aserbaidschan durch.230 Nach der aus sowjetischer Sicht erfolgreichen Militäraktion in Tsche­tschenien kam es im Herbst 1925 auch in Nordossetien und in Inguschetien zu Entwaffnungsaktionen. In beiden Fällen wurden mehrere Tausend Gewehre, Revolver sowie eine große Zahl von Granaten und Patronen eingezogen und jeweils Dutzende von Personen verhaftet.231 Danach wurden auch in einigen Berggegenden Tsche­tscheniens erneut Entwaffnungsaktionen durchgeführt.232 Die größte Aktion erfolgte jedoch in Dagestan, wo Geheimpolizei und Armee im September 1926 eine Entwaffnungsaktion starteten, die vom Umfang her noch größer war als jene in Tsche­tschenien. Rund 16.000 Soldaten waren am Einsatz beteiligt und stellten 39.000 Gewehre, 20.000 Revolver, 563 Granaten und neun Maschinengewehre im Laufe der Aktion sicher. Nur die ehemaligen „roten Partisanen“, Personen, die im Bürgerkrieg auf der Seite der Bolschewiki gekämpft hatten, durften ihre Revolver und Gewehre behalten; die Partei schätze diese Zahl auf insgesamt 15.000 Stück. Der übrigen Bevölkerung wurden höchstens ihre Dolche und Säbel belassen.233 Der Widerstand war in Dagestan allerdings schwächer als in Tsche­tschenien, weil sich die lokalen geist­lichen Würdenträger kooperativer zeigten, obwohl dies mit Widerwillen verbunden war. So mutmaßte die dagestanische Abteilung der OGPU, dass etwa Scheich Ali Chadži Akušinskij, der die Bevölkerung offenbar dazu aufgerufen hatte, die Entwaffnungsaktion nicht zu behindern, selbst nicht alle Waffen und Munition übergeben hatte. Bezeichnend für die angespannten Beziehungen zum Nachbarn Tsche­tschenien war der Umstand, dass die Bevölkerung einer Reihe dagestanischer Dörfer nahe der Grenze zu Tsche­tschenien 1926 während der Militäraktion ihre Waffen aus Furcht vor Überfällen tsche­tschenischer Banden nur widerwillig abgab.234 Bezüg­lich der zivilen und materiellen Verluste bewegten sich all diese Entwaffnungsaktionen in einer vergleichbaren Größenordnung – entsprechend brachte die 229 Marshall, Caucasus, S. 173. 230 Baberowski, Der Feind ist überall, S. 533. 231 Marshall, Caucasus, S. 173. 232 Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 132 – 135. 233 Bobrovnikov, Abreki i gosudarstvo, S. 37. 234 Marshall, Caucasus, S. 173 – 174.

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Entwaffnung der tsche­tschenischen Bevölkerung auch keine besonderen Ressen­ timents hervor. Die Vertreter der Geheimpolizei registrierten während der Entwaffnungsaktion in Dagestan im Gegenteil eine große Genugtuung unter den Tsche­ tschenen, die ihre Zufriedenheit darüber ausdrückten, dass „die sowjetischen Autoritäten alle gleich machen“ würden.235 Auch stellte Tsche­tschenien insofern keine Ausnahme dar, als die Bolschewiki ab Mitte der 1920er-Jahre überall im Nord­ kaukasus immer vehementer gegen die Scharia-Gerichte und deren Vertreter, wie Mitaev einer war, vorgingen.236 Scharia- und Adat-Gerichte waren bis 1927 in der Sowjetunion überall verboten.237 Bis Ende der 1920er-Jahre waren praktisch alle wichtigen Repräsentanten der islamischen Geistlickeit, unter ihnen in Dagestan auch Scheich Akušinskij und viele seiner Anhänger, verhaftet oder erschossen worden.238 Dass Ėlʼdarchanov seinen Posten räumen musste, hatte mit der spezifischen politischen Konstellation Tsche­tscheniens zu tun, war aber ebenfalls kein spe­ zifisch tsche­tschenisches Phänomen. Unter dem Vorwurf, lokalen Nationalismus anzuheizen, musste bereits 1922 Umar Džašuevič Aliev (1895 – 1937), der Vor­ sitzende des karatschajisch-tscherkes­sischen Revkoms, seinen Posten räumen. Andere n ­ ord­­­­kauka­sische Machtträger dagegen überlebten diese Phase politisch weitgehend unbeschadet, so etwa Betal Kalmykov in Kabardino-Balkarien, der bis 1937 leitende Posten in seinem Gebiet innehatte. Auch in Dagestan blieben – bis zur stalinis­tischen Säuberungs­welle in den 1930er Jahren – jene Machtträger auf ihren Posten, ­welche die politischen Geschicke bereits seit Anfang der 1920er-Jahre bestimmten.239 Wie andere muslimisch-stämmige „Nationalkommunisten“ 240 war auch ­Ėlʼdarchanov von den Bolschewiki angesichts fehlender Alternativen von Anfang an nur geduldet, war also nie ihr Wunschkandidat. Die Bolschewiki sahen in ihm und in anderen Abgeordneten Vertreter einer nationalistisch orientierten Intelligenzija, von denen keine radikalen Veränderungen zu erwarten waren. Erst die Verstrickung in den Fall Mitaev läutete Ėlʼdarchanovs politisches Ende ein. Anstatt sich nach der Verhaftung Mitaevs von ­diesem zu distanzieren, suchte er die tsche­tschenische

235 Ebd., S. 173 – 174. 236 Bobrovnikov, Musulʼmane Severnogo Kavkaza, S. 229. 237 Per Beschluss des Präsidiums des Zentralen Ausführenden Komitees der UdSSR vom 21. ­September 1927: Misrokov, Adat i Šariat, S. 149. 238 Mirotvorec Ali-Chadži Akušinskij, in: Dagestanskaja pravda, 27. Oktober 2009, http://­dagistanhistory. livejournal.com/8232.html [7.1.2013]. 239 Marshall, Caucasus, S. 173. 240 Der Begriff wurde eingeführt von Alexandre Bennigsen, um das große Spektrum an muslimischen Kommunisten in Sowjetrussland und der UdSSR zu beschreiben: Alexandre A. Bennigsen / S. Enders Wimbush, Muslim National Communism in the Soviet Union. A Revolutionary Strategy for the Colonial World, Chicago 1979.

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Gesellschaft für seine Anliegen zu mobilisieren. Das gelang ihm wohl nur bis zu einem gewissen Grad, denn zahlreiche Mullahs, vor allem in der Bergregion, sahen sich offenbar nie als Anhänger Mitaevs (und damit Ėlʼdarchanovs) und ­sollen den sowjetischen Behörden gar ihre aktive bewaffnete Unterstützung gegen die „konter­ revolutionären“ Kräfte angeboten haben.241 Die tsche­tschenische Gesellschaft stellte zu ­diesem Zeitpunkt ein zerklüftetes Gebilde dar und Ėlʼdarchanov musste deshalb während seiner Amtszeit versuchen, seine Position über Allianzen mit anderen gesellschaft­lich wichtigen Kräften und über die Positionierung von Familienmitgliedern an wichtigen Schaltstellen der Macht zu stärken.242 Was ihm seitens außenstehender Betrachter wie der Geheimpolizei den Vorwurf der Korruption und Vetternwirtschaft einbrachte, ist Ausdruck des Umstands, dass Ėlʼdarchanov immer auch ein Gefangener des politischen Partikularismus und des Clansystems war, ­welche die tsche­tschenische Gesellschaft auszeichneten. Diesen Sachzwängen konnte er nicht entrinnen. Der Eingriff der Bolschewiki und ihrer Sicherheitsorgane zog zwar große politische ­Veränderungen in Tsche­tschenien und im gesamten Nordkaukasus nach sich. Die Gesellschaft spürte davon aber noch wenig. Ihr stand der Umbruch erst noch bevor, für den sich die Bolschewiki nun zu wappnen begannen.

241 So liest sich dies im Schreiben von Evdokimov an Mironov, Mai 1924, in: RGASPI, F. 65, Op. 1, D. 142, hier Ll. 60 – 61. 242 Bericht Asnarašvilis an das ZK der Partei, verfasst vor dem 22. Oktober 1923, in: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538 Ll. 32 – 36, hier L. 32.

8.   S TA AT U N D G E S E L L S C H A F T Die Stadt Groznyj war zu Anfang der 1920er-Jahre Sitz zweier Regierungen. Am linken Ufer des Flusses Sunža lag das Regierungsgebäude der von Russen dominierten Stadtverwaltung, die für die Geschicke innerhalb der Stadt und der umliegenden Industriegebiete verantwort­lich war. Am rechten Ufer befand sich der Regierungssitz des Tsche­tschenischen Autonomen Gebiets, eines mehrheit­ lich von Tsche­tschenen kontrollierten Gremiums. Der Fluss markierte mehr als nur eine phy­sische Trennung, er symbolisierte das Nebeneinander zweier Welten, die sich trotz ihrer Nähe kaum berührten. Die Arbeiterschaft Groznyjs setzte sich fast ausschließ­lich aus Russen und anderen Slawen zusammen. Nur eine geringe Zahl tsche­tschenischer Arbeiter, die oft in prekären Verhältnissen am Stadtrand lebten, wurde zur Arbeit im staat­lichen Erdölunternehmen Grozneftʼ zugelassen oder für Bewachungs- und Sicherungsaufgaben der Industrieanlagen eingesetzt. Ansonsten besiedelten die Tsche­tschenen das weite Hinterland, die überwiegende Mehrheit war in der Landwirtschaft beschäftigt und nahm an den Verände­rungen, die das wirtschaft­liche und kulturelle Leben der Stadt auszeichneten, kaum teil. Doch nicht nur war das Land von den Modernisierungsprozessen der Stadt abgeschnitten, auch reichte die Macht des Staates kaum bis aufs Land hinaus. Die in Groznyj angesiedelte tsche­tschenische Regierung herrschte über einen Raum, den sie nicht kontrollierte, und repräsentierte eine Gesellschaft, die nach Gesetzen und Regeln funktionierte, die weit weg von den sowjetischen Modernisierungsvorstellungen lagen. Über die Entwaffnungs- und Verhaftungsaktionen Mitte der 1920er-Jahre sollten die Bedingungen dafür geschaffen werden, die Kluft zwischen Staat und Bevölkerung zu überwinden. Der Staat sollte Zugang zur Gesellschaft erhalten, um diejenigen Veränderungen anstoßen zu können, die für die Modernisierung und Umgestaltung des Landes im sozialistischen Sinn notwendig erschienen. Wie überall auf dem Land sollten gewählte Räte die archaischen Strukturen mit Dorfältesten und den Dorfversammlungen ablösen. In die neuen Institutionen sollten Repräsentanten der ärmeren Bauernschichten Einzug halten, um die Vertreter aus den Reihen der Geist­lichkeit und der wohlhabenderen Bauern zu verdrängen. Sowjetische Schulen sollten die religiösen zurückdrängen, islamische Institutionen durch welt­liche ersetzt werden. Die Menschen sollten zur Arbeit in die Fabriken der Stadt herangezogen werden, um sie aus ihren gewohnten Umgebungen herauszureißen und zu sozialistisch denkenden und handelnden Menschen umzuerziehen. Auf dem Land wurde der Aufbau kollektiv geführter Landwirtschaftsbetriebe versucht.

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Um bei der nichtrus­sischen Bevölkerung nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, es handle sich bei der Sowjetisierung um ein verkapptes Projekt einer von einem rus­sischen Zentrum gesteuerten Kolonialisierung,1 sollte die Umgestaltung von der Politik der korenizacija getragen werden. Diese sah die gezielte Förderung von Angehörigen der jeweiligen Titularnation und damit desjenigen Volks vor, nach dem ein jeweiliges ethnisch definiertes Territorium benannt wurde. Nicht Fremdstämmige, sondern die Einheimischen sollten mög­lichst alle Bereiche des politischen, gesellschaft­lichen, kulturellen und wirtschaft­lichen Lebens in ihren autonomen Territorien durchdringen. Diese Politik war mitnichten ein Selbstzweck, sondern wurde im theoretischen Diskurs der Bolschewiki damit begründet, dass die Schaffung von Nationen ein notwendiges Stadium im Übergang zum Sozialismus darstellen würde. Die Bolschewiki erklärten die Nation zu derjenigen Form, über ­welche die sozialistischen Inhalte vermittelt werden sollten. Dabei schrieben sie im Rahmen der korenizacija-Politik der Förderung der jeweiligen Volks­sprachen einen besonderen Stellenwert zu.2 Die Bolschewiki waren der Überzeugung, dass die Ideen des Sozialismus in der Sprache der jeweiligen Völker erst wirk­lich verständ­lich würden. Für die Volkssprachen selbst, für die oft erst ein Alphabet kreiert werden musste, wählten die Bolschewiki lateinische Lettern, um sie von der kyril­lischen Schrift, den Symbolen des Zarismus, abzugrenzen (erst im Laufe der 1930er-Jahre kehrte die sowjetische Führung in den nichtrus­sischen Gebieten systematisch ­wieder zum Kyril­lischen zurück).3 Dieser Anspruch war überaus ambitioniert. In kaum einem anderen Teil Sowjet­ russlands waren die sozialen Realitäten zu d­ iesem Zeitpunkt derart weit von bolschewistischen Ideen des gesellschaft­lichen Umbruchs entfernt wie im Nordkaukasus. So verzeichnete etwa Tsche­tschenien von allen Gebieten des Nordkaukasus nicht nur die meisten Analphabeten, sondern auch den niedrigsten Grad der Industrialisierung und eine überdurchschnitt­lich hohe Armutsrate. Nebst Dagestan waren in Tsche­tschenien der Stellenwert der Religion und der Einfluss der Geist­lichkeit auch nach der Verhaftungswelle im Zuge der Entwaffnungsaktion und der Zurückdrängung der Scharia aus dem öffent­lichen Leben noch immer groß. Veränderungen fanden zwar dem Anschein nach statt, wurden aber oft an die Realitäten der

1 Darauf hatte die Sowjetführung schon sehr früh hingewiesen, so etwa Stalin in seinem im Oktober 1920 verfassten Grundsatzpapier zur Nationalitätenfrage, publiziert in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b) – VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 39 – 41, hier S. 41. 2 Martin, Affirmative Action Empire, S. 10 – 12; Michael G. Smith, The Tenacity of Forms. Language, Nation, Stalin, in: Craig Brandist / Katya Chown (Hg.), Politics and the Theory of Language in the USSR, 1917 – 1938. The Birth of Sociological Linguistics, London 2010, S. 105 – 122. 3 Andreas Frings, Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941. Eine handlungstheoretische Analyse, Stuttgart 2007, insbesondere S. 342 – 348.

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dörf­lichen Verhältnisse angepasst. So fanden schließ­lich auch in Tsche­tschenien und in anderen Teilen des Nordkaukasus Wahlen in Räte statt. Dennoch blieben die traditionellen Sozialstrukturen mit ihren Ältesten- und Dorfversammlungen weiter bestehen. Sie bestimmten über die Fragen des gesellschaft­lichen und politischen Lebens. Das Dorf und die verwandtschaft­lichen Bande boten dem Einzelnen Schutz vor dem Zugriff der staat­lichen Sicherheitsdienste und entzogen ihn der sowjetischen Gerichtsbarkeit. Die islamische Geist­lichkeit unterhielt ein vom Staat unabhängiges Sozialsystem, das gesellschaft­lich Benachteiligte unterstützte und islamische Schulen finanzierte. Auch irrten sich die Bolschewiki, wenn sie glaubten, dass die sozialistische Umgestaltung bei der Bevölkerung eher auf Akzeptanz stoßen würde, wenn sie von den Einheimischen selbst getragen würde, wie sie dies im Rahmen ihrer ­korenizacija-Politik vorsahen. Insbesondere die tsche­tschenische Gesellschaft orientierte sich nicht an einer übergeordneten „nationalen“ Instanz, sondern noch immer in erster Linie an der Dorfgemeinschaft und der eigenen Sippe. Auf den niederen administrativen Stufen konnten die Angehörigen der Staats- und Parteiorgane nur dann das Vertrauen der Gesellschaft erwerben, wenn sie sich den gesellschaft­ lichen Bedingungen und den bestehenden Traditionen bis zu einem gewissen Grad anpassten. Oft schien es in dieser frühen Phase der Sowjetgeschichte, als ob nicht der Staat auf die Umgestaltungsprozesse in der Gesellschaft einwirkte, sondern die Gesellschaft das Verhalten eines Staates konditionierte, der sich im Vergleich zum brutalen Vorgehen, das die Kollektivierungskampagne ab Ende der 1920er-Jahre auszeichnen sollte, insgesamt noch sehr zöger­lich gab. Erstmals seit der rus­sischen Eroberung im 19. Jahrhundert wurden die nordkau­ ka­sischen Gesellschaften mit dem Anspruch einer Staatsmacht konfrontiert, die sich nicht mit Unterwerfung und Loyalität zufrieden gab, sondern auf eine um­­fassende Umgestaltung zielte und dabei die Beteiligung aller forderte. Dieses Kapitel zeichnet nach, wie die Menschen diesen Anspruch verstanden und wie sie darauf ­reagierten. Es beleuchtet die verschiedenen Herrschaftsstrategien, mit denen der Staat den Zugang zur Gesellschaft zu finden suchte. Die korenizacija-Politik und ihre viel­ fältigen Bedeutungen kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Versuche, die Kluft zwischen Stadt und Land im Rahmen verschiedener Kampagnen und administra­tiver Neuordnungen zu überwinden. Dabei zeigt gerade das Beispiel des schwie­rigen Verhältnisses zwischen Groznyj und Tsche­tschenien die Problematik dieser von den Bolschewiki angestrebten Modernisierung besonders deut­lich. Wiederum soll die Situation in Tsche­tschenien in den 1920er-Jahren durch die Einflechtung eines konkreten Einzelschicksals, diesmal desjenigen von Abdurachman ­Avtorchanov, beispielhaft dargestellt werden.

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8.1  D i le m m at a d e r Sow je t i sie r u ng Die Bolschewiki existierten für viele Menschen im Nordkaukasus nur als Begriff.4 Der Großteil der Bevölkerung kam mit ihnen im Laufe der 1920er-Jahre kaum in Berührung. Die neue Macht zeigte sich den Bewohnern auf dem Land nur sporadisch, und dann nament­lich in der Gestalt von staat­lichen Sicherheitsbeamten, Armee­ angehörigen oder Parteiinspektoren, manchmal auch in der Form von Vertretern der Steuerbehörden. Eher selten statteten die Vorsitzenden der nächsthöheren administrativen Stufen, der Gebietsbezirke oder des Gebiets selbst, den Dörfern Besuche ab. In abgelegenen Bergtälern existierten auch noch Ende der 1920er-Jahre Aule, ­welche die Repräsentanten des Staates noch nie zu Gesicht bekommen hatten.5 Und wenn diese auftraten, dann wurden sie oft nicht verstanden, denn für die Übersetzung in die jeweiligen Sprachen fehlten oft Übersetzer und für die Verbreitung von Texten mangelte es an Schreibmaschinen mit den neuen lateinischen Schriftzeichen. Die farbigen Propagandaplakate, w ­ elche die Partei über ihre Kreiszentrale in Rostov am Don an die ört­lichen Organe weiterleitete, verzierten in den Amtsgebäuden die Wand, doch lesen konnte sie niemand.6 Ähn­lich erging es den Zirkularschreiben, ­welche die jeweiligen Gebietsregierungen an die ört­lichen Behörden sandten: Sie landeten meist im Papierkorb.7 Auch Jahre nach Beginn der Sowjetisierung lagen keine Übersetzungen der zentralen Texte des Marxismus-Leninismus und wichtiger Parteidokumente vor.8 Oft dauerte es sehr lange, bis zentrale Beschlüsse, die sich

4 So äußerte sich etwa ein aus Dagestan stammender Aware in einem Interview Anfang der 1950er-­ Jahre: „The Bolsheviks were only a word among us, we did not see any of their acts. You understand, their hold on power was still weak. Until 1928, the bolsheviks were only feeling out the people. They bore themselves carefully towards each nationality (…).“ Zitat aus: HPSSS, Schedule A, Vol. 13, Case 159, S. 97. 5 So schreibt Aleksandr D. Kozickij, der den Kampfeinsatz leitete, den die Armee in Tsche­tschenien im Frühjahr 1930 durchführte, um Aufstände niederzuschlagen, die infolge der Kollektivierung ausbrachen (siehe Kapitel 9 in ­diesem Buch), dass es Aule gebe, w ­ elche noch keinen einzigen sowjetischen Vertreter zu Gesicht bekommen und von der Sowjetmacht eine ähn­liche Vorstellung hätten, wie er von der „Organisation des Verwaltungsgebiets Mississippi“: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 145 – 158, hier S. 146. 6 Kosterin, Po Čečne, S. 295. 7 Dies geht aus dem Bericht zur Tätigkeit des tsche­tschenischen ausführenden Komitees hervor, den die Behörden des Nordkaukasuskreises im Rahmen einer von D. Nagiev geleiteten Kommission erstellten. Der Bericht datiert vom 4. August 1928 und ist publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 542 – 561, hier S. 557. 8 Ein Untersuchungsbericht zur Situation in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus, der unter der Leitung von Georgij M. Karib vor dem 12. Juni 1929 verfasst wurde, brachte hervor, dass in Tsche­tschenien bis zu ­diesem Zeitpunkt 42 Bücher auf Tsche­tschenisch herausgegeben wurden, jedoch allesamt „zu wenig nütz­lichen“ Themen wie Märchen, Erzählungen oder Sprichwörtern. Kein einziges Buch sei dagegen zur Landwirtschaft oder Viehzucht erschienen oder befasse sich

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mit den Angelegenheiten eines entsprechenden Gebiets befassten, publiziert wurden. Als etwa das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei am 4. März 1927 eine Resolution zu Dagestan verabschiedete, verging ein ganzes Jahr, bis der Text im Krasnyj Dagestan, dem offiziellen Parteiorgan der Republik, erschienen war.9 Die Informationsverbreitung verzögerte sich auch dadurch, dass das Land noch kaum über Telefon- und Telegrafverbindungen erschlossen war und der Schriftenverkehr per Post die Empfänger in abgelegenen Gebieten wegen der schlechten Wege und Straßen oft nur mit großer Verzögerung erreichte. Viele Bergaule waren auch Ende der 1920er-Jahre nur sehr schwer erreichbar und im Winter von der Außenwelt manchmal über Wochen und Monate völlig abgeschnitten.10 Es waren aber nicht nur mangelnde Infrastruktur und Sprachkenntnisse, ­welche die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft erschwerten, sondern auch ein grundlegendes Missverständnis hinsicht­lich der Ziele und Absichten der sowjetischen Staatsbildung. Tsche­tschenen und andere Völker des Nordkaukasus begriffen sich nicht als Unterworfene, sondern als gleichwertige Alliierte, die den Bolschewiki im Kampf gegen Denikin zur Seite gestanden hatten. Ihre Konzeption der Beziehung zur Sowjetmacht basierte im Wesent­lichen auf der Vorstellung eines gleichberechtigten Verhältnisses. Im Gegenzug für ihre Loyalität erwarteten sie Gegenleistungen und glaubten, die Allianz mit der außenstehenden Macht aufkünden zu können, wenn jene nicht mehr ihren Interessen entsprach. Immerhin waren es die Bolschewiki selbst, die im Rahmen ihrer Propaganda von der Freiheit und Gleichberechtigung der Völker während der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre ein solches Verständnis geschaffen hatten. Demgegenüber basierte das Staatskonzept der Bolschewiki auf einem Verständnis, das weit mehr als nur eine lose Allianz vorsah. Bei ihren Versuchen, diese Vorstellungen zu vermitteln, stießen die Bolschewiki zunächst auf großes Unverständnis. Dies muss auch Michail Kalinin erfahren haben, als er am 16. Mai 1923 in ­seiner Funktion als Staatsoberhaupt der UdSSR zusammen mit weiteren hochrangigen sowje­ tischen Delegierten den tsche­tschenischen Aul Urus-Martan besuchte. Die Stimmung unter den Tsche­tschenen war gereizt. Ihre Erwartungshaltung, dass sie für ihre Unterstützung belohnt und ein besseres Leben führen würden, sahen sie auch nach der Gewährung der Autonomie nicht erfüllt. Deshalb nutzten sie das Zusammentreffen in Urus-Martan in erster Linie dazu, ihren Unmut kundzutun und Forderungen zu stellen. So klagte etwa auch ein gewisser Bis-Sultan Dokaev, dass die Tsche­tschenen im Krieg „die sowjetische Macht verteidigt und ihr Blut für sie gelassen [hätten]“.11 Und weiter: mit antireligiösen Themen. Nicht einmal die Statuten der Partei seien bislang auf Tsche­tschenisch publiziert worden: RGASPI, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, Ll. 86 – 59, hier L. 68. 9 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 657, Ll. 19 – 26, hier L. 19. 10 GARF, F. R–1235, Op. 105, D. 458, L. 313ob. 11 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, Ll. 40 – 41.

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[V]iele verloren ihre besten Söhne, ihre Aule wurden zerstört. Aufgrund dieser Unterstützung hatten die jungen Vertreter der Sowjetmacht erklärt, dass, wenn die Konter­ revolution niedergeschlagen wäre, sie ihnen Manufaktur und all diejenigen Erzeugnisse, die für das tsche­tschenische Leben notwendig sind, zur Verfügung stellen würden. (…) [D]och die sowjetische Macht hat die Versprechungen, die ihre jungen Vertreter gemacht hatten, bis jetzt nicht erfüllt. Ich bin ein Vertreter der armen Bevölkerung und sage offen, dass wir zu einem derart großen Elend gelangt sind, dass uns überhaupt keine Mittel mehr zur Verfügung stehen und wir nicht weiter existieren können.12

Andere Redner forderten die sowjetischen Repräsentanten auf, ihnen end­lich alles Kosakenland zu übergeben und die rest­lichen Kosakengemeinschaften auszu­siedeln. Den Einwand Kalinins, dass innerhalb Tsche­tscheniens ohnehin nur noch rund 6000 Kosaken leben würden und deren Aussiedlung das Problem der Landknappheit kaum nachhaltig entschärfen würde, ließen sie nicht gelten.13 Auch den Vorwurf des Banditenwesens, mit dem die sowjetischen Delegierten die Tsche­tschenen konfrontierten, lehnten sie ab. Ein gewisser Ata Šantukaev gab für die Raubzüge der Tsche­tschenen gegen Kosaken und ihre Nachbarn sogar der Sowjetmacht die Schuld. Diese hätte die Tsche­tschenen zu wenig unterstützt und deshalb wären die Tsche­tschenen zu solchen Aktionen gezwungen.14 Kliment Vorošilov, der als Begleitung Kalinins mitreiste, zeigte für die Forderungen der Tsche­tschenen wenig Verständnis und suchte den Anwesenden klar­ zumachen, dass niemand gesagt habe, es würde bei der Schaffung der Autonomie, die erst dreieinhalb Monate alt sei, gleich „goldene Berge“ regnen; die Tsche­tschenen sollten sich vielmehr glück­lich schätzen, dass sie nun selbst verantwort­lich für ihr Territorium wären. Sie hätten nun eine „reinblütige“ tsche­tschenische Regierung, die sie unterstützen sollten. Für das Gesamtwohl müssten sie arbeiten und sich gegenseitig helfen; denn „Glück – das bedeutet Arbeit“.15 Auch Kalinin forderte, die Tsche­tschenen sollten end­lich dazu übergehen, „den Leuten, die hier regieren [würden]“, zu helfen.16 Gleichzeitig suchte er klarzumachen, dass der Staat von der Bevölkerung mehr als nur Loyalität fordern würde. Kalinin war es „nicht genug“, dass die Tsche­tschenen bereit waren, für die Sowjetmacht zu sterben. Er verlangte eine Zusammenarbeit auf „ständiger Basis“.17 Die Option, dass „Tsche­tschenien vollständig unabhängig sein würde“, lehnte Kalinin mit dem Hinweis darauf ab,

12 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, L. 41. 13 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, Ll. 40, 46 – 47. 14 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, L. 48. 15 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, Ll. 50 – 53. 16 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, L. 53. 17 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, L. 53.

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dass „dann schon morgen die europäischen imperialistischen Staaten [die Tsche­ tschenen] erobern woll[t]en“. „[D]eshalb muss jeder Tsche­tschene nicht nur Bürger seines Tsche­tschenien, sondern auch Bürger seiner sowjetischen Föderation sein.“ 18 Die Vertreter der Sowjetmacht forderten von den Tsche­tschenen nicht nur, dass diese sich fortan als Mitglieder eines neuen Staates zu verstehen und aktiv an dessen Aufbau mitzuwirken hätten. Sie forderten auch Akzeptanz für ein Staatskonzept, das den Tsche­tschenen in dieser Form fremd war. Wenn die sowjetischen Repräsentanten davon sprachen, dass die Tsche­tschenen eine Regierung unterstützen sollten, die der Bevölkerung „nahestehen und in [deren] Sprache sprechen“ würde,19 dann setzten sie eine nationale Einheit unter den Tsche­tschenen voraus, die es zu ­diesem Zeitpunkt nicht gab, und erwarteten, dass die Bevölkerung eine übergeordnete Instanz aus einheimischen Vertretern guthieß, die sie nicht gewählt hatte.20 Am Treffen in Urus-Martan traten die anwesenden Tsche­tschenen Ėlʼdarchanov gegenüber zwar nicht mit offener Kritik entgegen. Doch dies bedeutete nicht, dass die Tsche­tschenen Ėlʼdarchanovs Autorität und die tsche­tschenische Regierung als übergeordnetes Gremium aller Tsche­tschenen anerkannt hätten. Ėlʼdarchanov kannte die tsche­ tschenischen Verhältnisse und wusste, dass er gegenüber den Tsche­tschenen einen solchen Machtanspruch gar nicht erheben konnte. Angesichts der unterschied­lichen Interessen der einzelnen Gemeinschaften und Clans konnte er nur einen Kompromiss anstreben und sich als Vermittler im Konfliktfall anbieten. Ėlʼdarchanov mochte in den Augen Moskaus der offizielle Vertreter Tsche­tscheniens sein. Aus Sicht der tsche­tschenischen Gesellschaft war er aber zunächst Angehöriger einer bestimmten Sippe, deren Interessen er zu verteidigen hatte, von der er aber auch Hilfe für die Festigung seiner eigenen Machtposition erwarten konnte. Erst in zweiter Linie erschien er als Repräsentant der Tsche­tschenen, die ihn und seine Regierung aber nie als ihren Vorsteher, sondern höchstens als Fürsprecher ihrer Anliegen gegenüber Drittparteien begriffen. Sein Ansehen in der Bevölkerung maß die Gesellschaft entsprechend daran, inwiefern es ihm und seiner Regierung gelang, die Anliegen der verschiedenen gesellschaft­lichen Gruppen auch tatsäch­lich durchzusetzen. Nicht von ungefähr galten Ėlʼdarchanov und seine Regierung denn auch ­vielen als schwach.21 Diese Schwäche trat auch dann für alle ersicht­lich hervor, als ­Ėlʼdarchanov 18 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, L. 44. 19 RGASPI, F. 78, Op. 1, D. 66, L. 51. 20 Die Mitglieder der tsche­tschenischen Regierung wurden erst anläss­lich der ersten Gebietssitzung der Räte gewählt, die vom 29. Juli bis 2. August 1924 in Groznyj tagte. Von einer freien Wahl konnte aber keine Rede sein, da die Mitglieder bereits vorher bestimmt und den Delegierten keine Alternativkandidaten präsentiert wurden: GARF, F. R–1235, Op. 102, D. 495, Ll. 18ob–19. 21 So zitiert der Sekretär des tsche­tschenischen Orgbüros, Asnarašvili, in einem am 22. Oktober 1923 verfassten Bericht, der sich mit der Situation in Tsche­tschenien befasst, einen Tsche­tschenen mit der Aussage: „Wir haben die Macht von Šamil erlebt, die Macht der rus­sischen Generäle, wir haben die

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beim Versuch, Mitaev freizubekommen, scheiterte, und er hilflos zusehen musste, wie die Rote Armee und die bewaffneten Abteilungen des Geheimdienstes im Spät­ sommer 1925 in Tsche­tschenien militärisch ­intervenierten. Als die tsche­tschenische Regierung an ihrer Sitzung am 25. September 1925 den Beschluss fasste, ­Ėlʼdarchanov abzusetzen, erklärte Sergej Mironov, der als Vertreter der OGPU an der Sitzung anwesend war, dass die tsche­tschenische Führungsspitze „keine Verbindung zur Masse der Bevölkerung“ gehabt habe und deshalb auch für die Intervention der Roten Armee verantwort­lich sei.22 Mironovs Aussage hätte z­ ynischer nicht sein können, da er und seine Agentur damals nichts unversucht gelassen hatten, ­Ėlʼdarchanovs Position zu untergraben. Wie wenig sich die Bevölkerung offenbar aber mit ihrem Vorsitzenden identifizierte, lässt sich daraus ersehen, dass die Ab­setzung Ėlʼdarchanovs und anderer Regierungsmitglieder offenbar keine namhaften Proteste nach sich zog – was im Gegensatz zur Empörung stand, ­welche die Verhaftung Mitaevs ausgelöst hatte, eines Mannes, der aufgrund seiner Ab­­stammung als Sohn eines berühmten Scheichs große gesellschaft­liche Autorität genoss. Einheimische Träger der Staatsmacht wie Ėlʼdarchanov befanden sich somit in einem Dilemma. Auch wenn sie selbst durchaus überzeugte Anhänger sozialrevolutionärer Ideen waren, konnten sie die entsprechenden Veränderungen selbst kaum vornehmen. Sie hatten weder die Autorität noch die Mittel dazu. Wollten sie das Vertrauen der Bevölkerung nicht vollends aufs Spiel setzen, dann war es ihnen kaum mög­lich, konsequent gegen bestehende Traditionen und Lebensweisen vorzugehen. Denn die Gesellschaft erwartete von ihren Vertretern gerade, dass diese ihre inneren Freiheiten gegenüber äußeren Machtansprüchen und Einflüssen ­schützen würden. Dies galt insbesondere für den Bereich des religiösen Lebens. Neben Tsche­ tschenien war es nament­lich im tiefreligiösen Dagestan keine Seltenheit, dass auf den niederen administrativen Stufen sogar Parteimitglieder Moscheen besuchten, insgeheim nach religiösen Riten heirateten oder gar mehrere Frauen hatten. Noch 1927 sollen in Teilen Dagestans zwischen 60 und 70 Prozent der Parteimitglieder regelmäßig Moscheen besucht haben, obwohl sie dafür eigent­lich aus der Partei hätten ausgeschlossen werden müssen.23 Wollten die einheimischen Machtträger gegenüber der Parteispitze nicht in Ungnade fallen, dann mussten sie Erfolge ausweisen können. Wie auch in anderen Gebieten des Nordkaukasus, führte dies im Fall Tsche­tscheniens letzt­lich dazu, dass die nationalen Gebietsregierungen es vorzogen, aus dem Schutz der Stadt hinaus zu Macht der Zaren gesehen, die Macht von Usun-Chadži, wir haben die Sowjetmacht kennen­gelernt, doch eine solch schwache Macht wie diejenige [des Revkoms] haben wir noch nicht gesehen.“ Zitiert aus: RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 32 – 36, hier L. 34. 22 GARF, F. R–1235, Op. 102, D. 495, L. 89ob. 23 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 270, Ll. 56 – 58.

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politisieren, anstatt die direkte Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zu suchen. Die Regierungsgremien übten sich in Aktionismus. Die Präsidien der Räte tagten regelmäßig, erließen Beschlüsse, verfassten Instruktionen und diskutierten, wie die bestehende Situation verbessert werden könnte. Sie schickten ihre Sitzungs­ protokolle und Berichte nach Rostov am Don und suchten in diesen mög­lichst ein Bild zu präsentieren, das den übergeordneten Instanzen genehm war. Allfällige Probleme beim Aufbau der Infrastruktur und der sowjetischen Institutionen führten die lokalen Behörden jeweils auf den großen Entwicklungsrückstand zurück, für den sie das Zarenjoch verantwort­lich machten, oder sie klagten, dass ihnen aus Rostov am Don oder Moskau zu wenig Mittel zukommen würden, um ihre Projekte schneller voranzutreiben. Auch die Bezirksvorsitzenden, die der tsche­tschenischen Regierung angehörten, pendelten lieber zwischen ihren jeweiligen Bezirkshaupt­ orten und der Gebietshauptstadt, als in ihren Dörfern nach dem Rechten zu schauen. Daran änderte auch wenig, als die tsche­tschenische Regierung im Juli 1928 die Instruktion an die ört­lichen Bezirksvorsteher erließ, dass diese sich an mindestens fünf Tagen pro Monat auf dem Land aufzuhalten hätten.24 Auch die Zentralbehörden in Rostov am Don und Moskau waren sich der Tatsache durchaus bewusst, dass für die Modernisierungsprojekte im rückständigen Nordkaukasus große Aufwendungen nötig waren. Doch die Umgestaltung, ­welche die Bolschewiki vornehmen wollten, war nicht nur ein Problem knapper finanzieller Mittel, sondern hing mit der korenizacija selbst zusammen. Nicht nur fehlte es an genügend ausgebildeten einheimischen Kräften, um die Modernisierung ohne Hilfe von außen zu ermög­lichen, auch ließen sich die Einheimischen kaum für Projekte einsetzen, bei denen sie von Anfang an Gefahr liefen, sich bei der Bevölkerung unpopulär zu machen oder die sie aufgrund ihrer eigenen verwandtschaft­lichen Verstrickungen nicht durchführen konnten. Die 1920er-Jahre sahen durchaus auch erfolgreiche Beispiele des Zusammenwirkens von korenizacija und wirtschaft­lichem Aufschwung; als Erfolgsmodell kann etwa das im hohen Norden Russlands ge­­ legene Karelien gelten.25 Doch insbesondere an den süd­lichen, islamisch geprägten Rändern des ehemaligen Imperiums hinkten die Entwicklungen weit hinterher, und ent­sprechend stieß die gemeinhin als „liberal“ taxierte sowjetische Nationalitäten­ politik in den Moskauer Politkreisen auf immer größere Kritik. Doch nicht nur die „revolutionäre Ungeduld“ wirkte der Moskauer korenizacija-Politik entgegen. Auch setzte sich zunehmend die Einsicht durch, die Sowjetmacht könne nur bestehen,

24 GARF, F. R–1235, Op. 105, D. 458, L. 301ob. 25 Pekka Kauppala, Sowjet-Karelien 1917 – 1941. Leistung und Schicksal eines sozialistischen Regional­ experiments. Diss., Philosophische Fakultät IV. Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau 1992 (elektronische Publikation im Jahr 2009), http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/6678/ [14.1.2013].

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wenn sie durch feste politische Kontrolle von oben zusammengehalten würde. Die Autonomie stand damit von Anfang an einem zentralistischen Gedanken gegenüber, der sich in institutioneller Hinsicht durch den Aufbau eines Machtsystems ausdrückte, das den nominell autonomen staat­lichen Strukturen an der Peripherie jeweils von der Kommunistischen Partei kontrollierte Organe gegenüberstellte. Man glaubte, die Ziele nur dann erreichen zu können, wenn die politische Macht an einer Stelle konzentriert war und Planung, Produktion und Allokation der ­Ressourcen zentral koordiniert wurden.26 Tatsäch­lich waren die Bolschewiki insbesondere im notorisch unruhigen Nordkaukasus von Anfang an bestrebt, ihre Macht nie gänz­lich an die Einheimischen abzugeben. Dabei waren in diesen nichtrus­sischen Gebieten nicht nur leitende Positionen innerhalb der regionalen Parteiorganisationen, sondern auch in den staat­lichen Organen oft von Außenstehenden dominiert. Dies traf nament­lich auf Tsche­tschenien zu, wo die Parteiführung die Kommunistische Partei Tsche­tscheniens einer strengen Kontrolle zu unterstellen suchte. Bereits im Dezember 1923 hatte das Südostbüro in Rostov am Don entschieden, Ėlʼdarchanov als Partei­vorsitzenden in Tsche­tschenien abzulösen, um sodann den balkarischen Kommunisten Magomed Alievič Ėneev (1897 – 1928) auf diesen Posten zu berufen. Im September 1925 sollte dieser ab­­ berufen und wiederum durch einen Nicht-Tsche­tschenen, den abcha­sisch-stämmigen Efrem Alekseevič Ėšba (1893 – 1939), ersetzt werden, der die Partei­organisation Tsche­tscheniens zwei Jahre lang leitete. Dafür waren die Parteisekretäre in den einzelnen tsche­tschenischen Gebietsbezirken meist Einheimische, deren Stellvertreter dagegen oft Russen.27 Eine weitere Besonderheit Tsche­tscheniens war die Tatsache, dass der Posten des stellvertretenden Regierungsvorsitzenden nach der Absetzung Ėlʼdarchanovs 1925 fortan nicht mehr mit einem Tsche­tschenen, sondern mit einem Auswärtigen besetzt wurde. Dass auf diesen Posten wiederum ein Kaukasier, der Georgier Georgij Joanisiani berufen wurde, weist im Nordkaukasus auf das schon in der Zarenzeit bekannte Phänomen hin, Machtpositionen vorzugsweise nicht mit Russen, sondern mit Angehörigen anderer kauka­sischer Nationalitäten zu besetzen. Auch in anderen nichtrus­sischen Gebieten strebten die Bolschewiki in den Führungspositionen immer einen Mix zwischen Einheimischen und Auswärtigen an. Allerdings stellte Tsche­tschenien insofern einen besonderen Fall dar, als der faktisch wichtigste Posten innerhalb ­dieses Gebiets, derjenige des Parteivorsitzenden, noch bis 1989 immer von einem Nicht-Tsche­tschenen bekleidet bleiben sollte, während

26 Heiko Haumann, Geschichte Russlands, Zürich 2003, S. 78. 27 Zur personellen Besetzung der höheren Partei- und Staatsämter in Tsche­tschenien 1921 – 1934 siehe die Angaben zur Tsche­tschenischen AO beziehungsweise der Tsche­tscheno-Inguschischen AO aus dem Online-Lexikon: Spravočnik po istorii Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza 1898 – 1991, hg. von Nafthali Hirschkowitz, http://www.knowbysight.info [14.1.2013].

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diese Funktion in den meisten anderen nichtrus­sischen Gebieten und Republiken in der Regel von einem Angehörigen der Titularnation wahrgenommen wurde – dafür war dessen Stellvertreter meist ein Auswärtiger.28 Wie schon zur Zarenzeit blieb der staat­liche Herrschaftsapparat in Dagestan auch während der Sowjetzeit im Vergleich zu demjenigen in Tsche­tschenien viel stärker von Vertretern ein­heimischer Ethnien dominiert. Die Bolschewiki suchten so ein Kontrollsystem aufzubauen, das ihnen über verschiedene Kanäle Zugang zu den Entwicklungen an der Peripherie ermög­ lichte. Dieses System sollte zudem sicherstellen, dass sich die Macht vor Ort nie in den Händen einer einzelnen Institution oder Person konzentrierte, sondern immer auf mehrere Behörden verteilt war. Diese künst­lich geschaffene Rivalität sollte gegenseitige Überwachung und Kontrolle ermög­lichen. Dabei achtete das Zentrum auch darauf, dass Auswärtige, wohl um eine Solidarisierung mit den Einheimischen zu vermeiden, auf ihren Posten relativ häufig rotierten. Damit erreichte es letzt­lich aber den gegenteiligen Effekt, näm­lich, dass dadurch Misstrauen geschürt wurde, was auf den niederen administrativen Stufen dazu führen konnte, dass die von Einheimischen dominierten staat­lichen Gremien sich gegen die von Außenstehenden kontrollierten Organisationen wandten und diese von ihrer Tätigkeit auszuschließen suchten. Die wohl wichtigste Institution, über w ­ elche die zentralstaat­lichen Behörden unmittelbaren Einfluss auf die Geschicke an der nordkauka­sischen Peripherie nahmen, war die Geheimpolizei. In Tsche­tschenien wurde die ört­liche Abteilung der Geheimpolizei immer von einem Nicht-Tsche­tschenen geleitet und auch die meisten Angehörigen dieser Abteilung setzten sich aus Nicht-Tsche­tschenen zusammen. Und gerade hier stellten die Vertreter des Zentrums ein „gestörtes“ Verhältnis fest: So sollen in einzelnen Bezirken Tsche­tscheniens die ört­lichen OGPU-Vertreter nicht einmal zu den Sitzungen der ispolkom zugelassen worden sein, auch wenn sie nominell Mitglieder der ört­lichen Bezirksregierung waren. So soll etwa im Bezirk Šali der dortige OGPU-Vertreter, ein gewisser Savenko, nicht zur Sitzung des ispolkom vom 6. Juli 1928 eingeladen worden sein, obwohl eine von Rostov am Don geleitete Kommission im Vorfeld eine diesbezüg­liche Warnung an den Bezirksvorsitzenden hatte ergehen lassen. Immerhin war der Partei­vertreter des Bezirks, ein ethnischer Tsche­tschene, an besagter Sitzung anwesend. Grundsätz­lich schienen sich aber die Parteiorganisationen und der Komsomol, die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, wenig in die Arbeit der staat­lichen Behörden in den Bezirken und Dörfern einzumischen. Nach Aussage eines Inspektorenberichts aus Rostov am Don fristeten sie ein weit­gehend

28 Anatol Lieven, Chechnya. Tombstone of Russian Power, New Haven 1998, S. 137.

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„isoliertes“ Dasein.29 Eine unter der Ägide des tsche­tschenischen ispolkom im selben Jahr durchgeführte Kampagne, w ­ elche die Rolle des Parteiaktivs in rund 10 Prozent aller Dörfer untersuchte, brachte zutage, dass die Partei­mitglieder nicht in ausreichendem Maße am politischen Geschehen teilnahmen, sei dies als Mitarbeiter der staat­lichen Behörden oder in Kommissionen.30 Angesichts der Tatsache, dass es 1928 nur rund 400 tsche­tschenische Kommunisten gab, fehlten dazu aber sch­lichtweg auch die Ressourcen.31 Die Bolschewiki mögen mit ihren Entwaffnungs- und Verhaftungsaktionen Mitte der 1920er-Jahre ihren Herrschaftsanspruch zwar äußer­lich demonstriert und den Nordkaukasiern die Grenzen ihrer Autonomie aufgezeigt haben. Damit stand ihr Sowje­ tisierungsprojekt aber erst am Anfang. Dessen Verlauf sollte in der Folge allerdings weniger den Vorstellungen der Bolschewiki, sondern mehr den bereits bestehenden sozialen und politischen Bedingungen folgen. Die Sowje­tisierung wurde zwar vielerorts der Form nach durchgeführt, doch die ört­lichen Macht­verhältnisse, Lebensweisen und Sozialstrukturen wurden dadurch nicht beseitigt. Im Gegenteil führten diese staatsbildenden Prozesse in d­ iesem frühen Stadium weniger zum Umsturz der Verhältnisse auf dem Land, sondern dazu, dass sich diese eher noch verfestigten.

8. 2  D ie d ör f l iche Welt z w i s che n St i l l s t a nd u nd Ve r ä nd e r u ng Die dörf­lichen Gesellschaften zeigten sich gegen Eingriffe von außen äußerst resistent. In vielen Aulen des Nordkaukasus, nament­lich aber in Tsche­tschenien, Inguschetien und in den dagestanischen Berggebieten, waren es nach wie vor Clans und Dorfgemeinschaften mit ihren jeweiligen Anführern und Ältesten, ­welche die Kernelemente der Sozialstruktur darstellten. Bei diesen handelte es sich meist um dieselben Personen, die auch vor 1917 die Macht in Händen hatten. Die Vorsteher einer jeweiligen Gemeinschaft trafen sich, um das ört­liche Leben zu regeln. Sie bestimmten über die Verteilung und Zuweisung von Land und sch­lichteten Streitigkeiten im Dorf oder zwischen den Dörfern nach dem Gewohnheitsrecht des Adat. Vor allem aber hatten sie als Vorsteher einer Gemeinschaft dafür zu sorgen, dass dem Einzelnen Schutz geboten wurde, wenn dieser in Not geriet. Nicht nur sicherte ihm die Gemeinschaft materielle Hilfe im Fall von Missernten, Feuer oder im Fall des Verendens von Vieh zu, sondern sie schützte ihn auch vor der Blutrache einer anderen Sippe oder der Verfolgung durch staat­liche Behörden.

29 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 558. 30 GARF, F. R–1235, Op. 105, D. 458, L. 178. 31 GARF, F. R–1235, Op. 105, D. 458, L. 306ob.

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An der gesellschaft­lichen Stellung der Ältesten und der Dorfversammlung änderten zunächst auch die Wahlen in die Räte nicht viel, die in Tsche­tschenien erstmalig flächendeckend nach der Entwaffnungsaktion zwischen 1925 und 1926 durchgeführt wurden. Das Ergebnis dieser ersten regulären Wahlen fiel aus Sicht der Bolschewiki ernüchternd aus. Offenbar gingen nicht einmal 40 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung. Die Wahlverordnungen des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees, die „antisowjetische Elemente“, darunter insbesondere Geist­liche und ehemalige Angehörige der Weißen Armee, von den Wahlen ausschlossen, wurden oft umgangen. Obwohl die Wahlkommission in Tsche­tschenien 1102 Personen von den Wahlen ausschloss, zogen in die Räte und Präsidien der Dörfer und Bezirke viele Personen ein, die den Zentralbehörden nicht genehm waren.32 Die Wiederholung der Wahlen 1927 brachte aus Sicht des Staates keine wesent­liche Verbesserung. Die Wahlbeteiligung war nur wenig höher, und obwohl diesmal viermal mehr Personen (4173 oder 2,8 Prozent der Wahlberechtigten) von den Wahlen ausgeschlossen wurden, war der sowjetische Apparat in der Lesart der Inspektoren aus Rostov am Don noch immer stark mit antisowjetischen Elementen „verunreinigt“.33 Auch in den anderen Gebieten des Nordkaukasus wurden Hunderte von Personen von den Wahlen ausgeschlossen, beklagten die staat­lichen Zentralbehörden niedrige Beteiligungen und Verstöße gegen die Wahlordnung. Doch nirgends erschien ihnen die Situation derart gravierend wie in Tsche­tschenien.34 Dabei lieferten die Wahlresultate kaum wirk­lichkeitsgetreue Aussagen zur sozialen Zusammensetzung der Abgeordneten. Erfolgreich waren für die Bolschewiki Wahlen dann, wenn mög­lichst viele Angehörige der „Unterschichten“ gewählt wurden. In der Stadt waren dies Angehörige der Arbeiterklasse, auf dem Land die bednjaki, zu denen die Bolschewiki gemeinhin Bauern zählten, die höchstens über ein Stück Vieh und über kein oder sehr wenig Land verfügten oder in einem Pachtverhältnis zu einem ­reicheren Bauern standen. Daneben gab es die bolschewistische Kategorie der Mittelbauern, die sogenannten serednjaki, die über mehrere Stück Vieh und ein­fache Landwirtschaftsmaschinen verfügten, und schließ­lich gab es die Kate­gorie der „Wohlhabenden [sing. zažitočnyj] und Kulaken“, zu denen Bauern mit eigenem Hof, mit Landarbeitern und Viehzucht zählten. Wer zu welcher Kate­gorie gehörte, wie der Landbesitz aufgeteilt war und wie sich die Abhängig­keiten unter den Bauern genau darstellten, darüber gab es zu ­diesem Zeitpunkt keine verläss­lichen Informationen. Die Datenbasis zu den Besitzverhältnissen auf dem Land stammte zum Teil aus dem Jahr 1864.35 Dabei hatten die Bauern oft selbst kein Interesse daran,

32 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 543. 33 Ebd., S. 543 – 544. 34 Ebd., S. 543. 35 RGASPI, F. 17, Op. 114, D. 245, L. 48.

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ihre tatsäch­lichen Besitzverhältnisse anzugeben. Sie meldeten den Behörden oft viel kleinere Landflächen und Viehbestände, als sie in Wirk­lichkeit hatten, um so die staat­liche Steuerlast zu verringern. Insbesondere in den Berggebieten, wo eine Kontrolle durch die Behörden schwierig war, war es keine Seltenheit, dass Bauern Besitzungen von 1,5 – 2 Desjatinen angaben, obwohl sie manchmal bis zu zehnmal mehr Land besaßen.36 Auch die lokalen staat­lichen ­Instanzen hatten mit Blick auf die Wahlresultate oft wenig Interesse, korrekte Zahlen zu liefern, weil sie gegenüber übergeordneten Instanzen in einem besseren Licht erschienen, wenn sie besonders viele bednjaki in ihren neu bestellten Räten vorweisen konnten. Die Geheim­polizei stellte in ­diesem Zusammenhang in einem im Frühjahr 1928 verfassten Bericht fest, dass die Behörden bei den Wahlen 1927 in Tsche­tschenien 67 Prozent bednjaki im sowjetischen Apparat deklariert hätten, sich später aber herausstellte, dass der tatsäch­liche Anteil bei 59 Prozent gelegen habe.37 Auch die Parteizentrale in Rostov am Don traute den Angaben der tsche­ tschenischen Behörden nicht. Eine Kommission, die mit dem Ziel gebildet wurde, die Situation in Tsche­tschenien und die Arbeit der verantwort­lichen Stellen auszuleuchten, suchte sich insbesondere auch ein genaueres Bild der sozialen Zusammensetzung der gewählten Abgeordneten zu machen. Sie überprüfte dazu die Resultate in zwei Bezirken Tsche­tscheniens, in Itum-Kalinskij und in Šali, und kam in ihrem Anfang August 1928 verfassten Bericht zum Ergebnis, dass sich rund 20 Prozent der gewählten Vertreter der Dorfräte und ein ähn­licher Prozentsatz der Präsidiums­ abgeordneten aus der Kategorie der „Wohlhabenden und Kulaken“ zusammen­ setzten. Die serednjaki machten rund ein Viertel der Abgeordneten aus, die bednjaki waren mit rund 40 Prozent vertreten. Der kleine Rest bestand aus Landarbeitern und Angestellten. Noch stärker dominierten die reichen und mittelständischen gegenüber den armen Bauern auf Bezirksebene, wo jene zusammen vier Fünftel der Abgeordneten stellten.38 Der relativ hohe Anteil armer Bauern in den Räten sagte oft wenig über ihre tatsäch­ liche Machtstellung aus. Weil viele von ihnen abhängig waren von r­ eicheren Bauern, die ihnen Land verpachteten, sahen sie sich auch gezwungen, in den Räten deren Interessen zu berücksichtigen, oder, um mit den Worten der Geheimpolizei zu sprechen, die Kulaken führten „ihre Politik mittels den bednjaki“.39 In vielen ­Fällen waren diese Bauern „Sprachrohre der Dorfobrigkeit“, wie dies etwa auch Jörg Baberowski für das aserbaidschanische Dorf feststellt.40 Darüber hinaus war es in Tsche­tschenien, aber

36 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 544. 37 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 52. 38 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 544 – 545. 39 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 52. 40 Baberowski, Feind, S. 575.

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Abb. 11: Awaren aus dem Aul Gimrač in Dagestan. Aufnahme von 1923.

auch in anderen nationalen Gebieten des N ­ ordkaukasus üb­lich, dass die Bevölkerung jeweils ihre eigenen Familienmitglieder und Clan-­Angehörigen in die Räte wählte, gleichzeitig aber auch Angehörige anderer ­Gruppen aus­zuschließen suchte. Gerade während der Wahlen ließen sich in den Dörfern manchmal Konflikte beobachten, die von den Verantwort­lichen nach außen als „Klassen­kampf“ deklariert wurden, in Wahrheit aber Machtkämpfe zwischen verfeindeten Clans waren. Entscheidend war in ­diesem Zusammenhang die Zusammensetzung der Wahlkommissionen in den jeweiligen Dörfern und Bezirken, w ­ elche die Listen der von den Wahlen ausgeschlossenen Personen erstellten. In einem Informationsschreiben der Geheimpolizei von 1928 liest sich, dass viele Wahl­kommissionen in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus, „insbesondere in Tsche­tschenien, in der Kabarda und in Ossetien“, mit Kulaken und antisowje­tischen Elementen durchsetzt seien, die ihre Position massiv missbraucht hätten. So wurden in einigen Dörfern der Kabarda offenbar 24 Prozent aller wahlberechtigen Personen als antisowjetische Elemente deklariert und von den Wahlen ausgeschlossen. Darin sah die Geheimpolizei nur einen Vorwand, die tatsäch­lichen Gründe zu vertuschen, die auf Scheidungen, verwandtschaft­liche Zwiste oder einfach nur auf „persön­liche Abrechnungen“ zurückzuführen waren. Dagegen registrierte die Geheimpolizei unzählige Fälle, in denen Wahlkommissionen „islamischen Geist­lichen und Kulaken“ das Wahlrecht erteilten.41 41 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1928, in: N. E. Bystrova u. a. (Hg.): „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.) Tom 6. 1928 g., Moskva 2002, S. 638.

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Abb. 12: Familiengruppe aus dem Aul Šaroj im Šaroevskij-Bezirk, Tsche­tschenien. Aufnahme von 1926.

Nicht selten kam es auch vor, dass Dorfvorsteher gleich auch den Vorsitz im neubestellten Dorfsowjet übernahmen oder aber sich die neugewählten Vorsitzenden weiterhin nach den Beschlüssen der Dorfversammlungen und Ältestenräte zu richten hatten. Denn auch nach den Wahlen lag die eigent­liche Macht bei den Volksversammlungen und Ältestenräten, die sich üb­licherweise nach dem Freitagsgebet in den Moscheen einfanden, um wichtige Anliegen zu beraten. Die Entscheide, die bei solchen Treffen gefällt wurden, konnten den Gang der ­Sowjetisierung nach­haltig beeinflussen. So wurde festgelegt, ob eine Gemeinschaft den Bau einer sowje­tischen Schule unterstützen und ihre Kinder in diese s­ chicken sollte oder ob junge Männer für die Arbeit an einem Kanal oder an einer Straße abkommandiert werden sollten. Die Beschlüsse dieser Versammlungen wurden oft von den Dorf­sowjets übernommen, die ihnen eine „offizielle“ Form gaben.42 Für die Niederschrift der entsprechenden Protokolle und Beschlüsse waren in der Regel die lese- und schreibkundigen Russen zuständig, die in der Funktion von Sekretären und Stellvertretern zwar eher technische Ämter besetzten, die jedoch dafür sorgten, dass der sowjetische Apparat auf dem Land der Form nach überhaupt funktionierte (wobei in vielen Bergaulen nicht einmal diese Form vorhanden war). Gemäß den Angaben des Nordkaukasus-Kreiskomitees sollen in

42 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 555.

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Abb. 13: Tsche­tschenen aus dem Aul Šaroj im Šaroevskij-Bezirk, Tsche­tschenien. Aufnahme von 1926.

den Dorfsowjets der nationalen Gebiete der Region 1928 bis zu 90 Prozent der Sekretäre Russen gewesen sein.43 Oft wurde in größeren Siedlungen der gesamte sowjetische Apparat von einem einzigen Clan kontrolliert. Was genau unter einem „Clan“ zu verstehen war, ­lassen die sowjetischen Dokumente aus jener Zeit gemeinhin offen. Sie verwenden dafür den sehr allgemeinen Begriff rod, was ein rus­sisches Wort für Großfamilie ist, allerdings verwenden sie nie explizit die Begriffe „Tejp“ oder „Tuchum“, was darauf hinweisen könnte, dass diese Bezeichnungen zu jenem Zeitpunkt ­mindestens den auswärtigen Berichtsverfassern nicht geläufig waren. Dies heißt aber nicht, dass es sich bei der Bezeichnung rod in manchen Fällen nicht doch um Angehörige eines Tejps oder um einen Tuchum im engeren Sinne handelte. Auffällig ist, dass der Begriff Tejp in sowjetischen Dokumenten aus den späten 1930er-Jahren, als das Moskauer Zentrum vor dem Hintergrund der internationalen Spannungen vermehrt daran ging, sich vertieft mit der Situation in Tsche­tschenien zu befassen, häufiger anzutreffen ist. Dies könnte darauf hinweisen, dass mindestens der Begriff Tejp von den Tsche­tschenen selbst durchaus verwendet wurde.44

43 Ebd.; RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 74, L. 2. 44 Siehe dazu auch Kapitel 10 in ­diesem Buch.

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So berichtet eine zeitgenös­sische Quelle, dass es 1927 im Aul Vedeno der Zejchanskij-Clan war, der die Geschicke weitgehend bestimmte und Außenstehende vom politischen Leben ausschloss. Dabei hatte etwa der aus Aserbaidschan stammende Parteisekretär, weil er ohne eigene Clan-Basis war, keine Mög­lichkeiten, auf das politische Geschehen im Aul Einfluss zu nehmen.45 Gleichermaßen konnte es vorkommen, dass Angehörige bestimmter Clans ihre Positionen in öffent­lichen Ämtern oder in der Partei zu ihrem Vorteil zu ­nutzen suchten; so offenbar etwa der Vorsitzende der tsche­tschenischen Komsomol-­Bewegung, die ihren Sitz in Groznyj hatte. Als es in Tsche­tschenien 1927 zur Wiederholung der Wahlen in die Räte kam, suchte dieser das Wahlbüro über Beziehungen zu seinen Angehörigen im Aul Šatoj ausschließ­lich mit Verwandten und Verbündeten zu besetzen.46 Was sich auf politischer Ebene beobachten ließ, das galt auch für das wirtschaft­ liche Leben auf dem Land. Auch hier führte die Sowjetisierung meist nur dem Schein nach zu denjenigen Neuerungen, w ­ elche die Bolschewiki anstrebten. Als Tsche­ tschenien die Schaffung von ersten kollektiv geführten Landwirtschafts­betrieben meldete, handelte es sich bei diesen in Tat und Wahrheit oft um Orga­nisationsformen, die wohl vor allem deshalb gebildet wurden, um staat­liche Kredite zu erhalten. Dabei war es keine Seltenheit, dass in den Kollektivfarmen (­Kolchosen) ausschließ­lich Angehörige eines oder zweier Clans arbeiteten, was bedeutete, dass der Gesamt­ besitz des Landes, den eine bestimmte Sippe kontrollierte, fortan als „Kolchose“ de­­klariert wurde, dabei aber die Landverteilung und die Art der Bewirtschaftung in der überwiegenden Zahl der Fälle dieselbe war wie vor der Schaffung der Kolchose.47 Entsprechend muss auch eine heillose Verwirrung darüber geherrscht haben, wie viele Kolchosen und genossenschaft­liche Betriebe in Tsche­tschenien in den 1920er Jahren überhaupt errichtet worden waren. Die verschiedenen Behörden machten zum Teil völlig unterschied­liche Angaben.48 Wenig glaubwürdig erscheint die Angabe der tsche­tschenischen Gebietsregierung, die in ihrem Tätigkeitsbericht für den Zeitraum März 1927 bis Oktober 1928 festhält, dass die Zahl aller gemeinschaft­lich geführten Betriebe von 26 im Oktober 1926 auf 56 im Mai 1928 angestiegen sei.49 Auch dem hohen Stellenwert der Religion tat die Sowjetisierung zunächst keinen Abbruch. Die Vertreter der islamischen Geist­lichkeit spielten eine aktive gesellschaft­ liche Rolle im Dorf und waren auf den Dorfversammlungen vertreten. Obwohl die Staatsmacht in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre ihre Repression gegenüber der Geist­ lichkeit verstärkte, hielten sich die staat­lichen Vertreter im Nordkaukasus mit offenen,

45 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 461, Ll. 26 – 28. 46 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 461, L. 28. 47 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 548 – 549. 48 Ebd., S. 549. 49 GARF, F. R–1235, Op. 105, D. 458, L. 331ob.

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Abb. 14: Blick auf den Aul Šaroj im Šaroevskij-Bezirk, Tsche­tschenien. Aufnahme von 1926.

antireligiösen Politikmaßnahmen zurück.50 Wohl nur deshalb war es mög­lich, dass es etwa in Tsche­tschenien auch im Jahr 1928 noch immer an die 40 verschiedene „Sekten“ gegeben haben soll, die sich um Scheiche und ihre jewei­ligen Anhängerschaften gruppierten und insgesamt mehrere Zehntausend Mjuriden umfassten.51 Darüber hinaus zählte Tsche­tschenien 675 öffent­liche Moscheen und vielleicht mehr als 2000 kleinere Quartiermoscheen, die in den privaten Häusern der Ältesten eingerichtet waren.52 Der religiöse Einfluss war auch im Bildungsbereich spürbar. Grundsätz­lich war der Unterricht islamischer Dogmen an welt­lichen Schulen im Sinne der Trennung von ­Kirche und Staat zwar nicht gestattet. Islamische Schulen wurden aber in einer Weisung des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen vom Mai 1924 ausdrück­ lich in den „von Usbeken besiedelten Teilen Turkestans und auch in Tsche­tschenien, Dagestan und Adžiristan 53“ erlaubt.54 Islamische Schulen waren auch in der zweiten



50 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 47; GARF, F. R–1235, Op. 105, D. 458, L. 333. 51 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 551. 52 Ebd. 53 Adžiristan (Adscharien) ist ein von Muslimen besiedelter Teil Georgiens, dessen Bewohner sich in ethnischer Hinsicht nicht von den Georgiern unterscheiden. 54 Weisung der OGPU an die bevollmächtigten Vertreter (PP OGPU) in den Gebietsabteilungen der öst­lichen Grenzgebiete über den islamischen Unterricht an den Schulen, verfasst vor dem

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Abb. 15: Nomadenhirte aus dem Darginskij-Bezirk (Dagestan) mit seinem Besitz. Aufnahme von 1926.

Hälfte der 1920er-Jahre nicht ausdrück­lich verboten, doch versuchten die Bolschewiki, ihnen die ökonomischen Grundlagen zu entziehen und sie durch die Er­­richtung sowjetischer Schulen zu konkurrieren und damit in die Belanglosigkeit zu treiben. Dies gelang zunächst nicht. In einem Bericht, der von der Parteizentrale in Rostov am Don in Auftrag gegeben wurde, liest sich, dass in Tsche­tschenien 1928 zwar 105 welt­liche Schulen mit über 6000 Schülern existieren würden (wobei die Mädchen deut­lich in der Unterzahl waren, da sie von ihren Familien aus tradi­tionellen Gründen oft nicht zu einer Ausbildung zugelassen wurden), daneben soll es aber mindestens 180 ara­bische Schulen mit rund 3000 Schülern gegeben haben.55 Ein Bericht der Geheimpolizei führt für Tsche­tschenien sogar noch dramatischere Zahlen an: So hätten die ara­bischen ­Schulen im Laufe des Jahres 1927 gegenüber den sowjetischen stark zu­­legen können; die Zahl der Koranschüler sei von 3000 auf 5000 angestiegen und die sowjetischen Schulen würden Massenaustritte vermelden.56 Nur in Dagestan stellte sich das Verhältnis zwi12. Mai 1924, in: Gatagova u. a. (Hg.), CK RKP (b)-VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 202 – 203, hier S. 202. 55 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 551. 56 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 47.

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Abb. 16: Familiengruppe im Aul Šali im Šalinskij-Bezirk, Tsche­tschenien. Aufnahme von 1926.

schen arabischen und sowjetischen Schulen noch extremer als in Tsche­tschenien dar: 1927 soll es noch immer bis zu 40.000 Koranschüler gegenüber 24.000 Schülern an welt­lichen Schulen gegeben haben.57 Dass mit der Zunahme welt­licher Schulen auch die Zahl islamischer anstieg, scheint kein Zufall gewesen zu sein, denn oft errichtete die Geist­lichkeit gerade dort, wo eine sowjetische Schule gebaut wurde, eine islamische Schule. In ­diesem Wettbewerb um Schüler waren es in den 1920er-Jahren oft die islamischen Schulen, die dank finanzieller Zuwendungen seitens der Gesellschaft die Oberhand behielten. So notiert ein sowjetischer Geheimdienstbericht für das Jahr 1927, dass etwa im dagestanischen Bezirk Chasavjurt nur eine Handvoll der 50 an der sowje­tischen Schule eingeschriebenen Schüler den Unterricht tatsäch­lich besuchen würde, die Medresse dagegen 60 Schüler verzeichnen würde.58 Die Trennung zwischen religiösen und welt­lichen Schulen war oft nicht so strikt, wie von der Partei gewünscht. Welche Schule ein Schüler besuchte, hing einmal 57 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 268, L. 45. 58 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juli 1927, in: Ju. L. Dʼjakov u. a. (Hg.): „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 7. 1929 g., Moskva 2004, S. 472.

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Abb. 17: Einwohner des Auls Nachču-Keloj im Čaberloevskij-Bezirk, Tsche­tschenien. Aufnahme von 1926.

vom Angebot ab. Gab es im Dorf beide Schulen, dann war es nicht selten, dass ein Schüler die welt­liche und die islamische Schule parallel besuchte oder einen Teil der Schulzeit an der arabischen, den anderen an der welt­lichen absolvierte. Auch auf Stufe der Lehrerschaft konnte der Übergang zwischen den beiden Schulwelten fließend sein. Angesichts des Mangels an einheimischen Fachkräften und Lehrern sowie des Fehlens einer breiten, jungen und sozialrevolutionär eingestellten Intelligenzija bestand das Problem von Anfang an darin, dass diejenigen Kräfte, die für die Umgestaltung eingesetzt wurden, noch immer weitgehend derjenigen Welt entstammten, die sie eigent­lich hätten abschaffen sollen. Um den Lehrermangel an den staat­lichen Schulen nicht nur durch den Zuzug von Russen auszugleichen, wurden Arabisten aus den islamischen Schulen in Schnellkursen umgebildet. Von den 252 Lehrern, die in Tsche­tschenien 1928 an allen staat­lichen Bildungseinrichtungen unterrichteten, waren 127 Russen, elf Angehörige anderer Nationalitäten und 114 Tsche­tschenen. Drei Viertel der tsche­tschenischen Lehrer sollen ursprüng­lich eine Ausbildung an einer islamischen Schule genossen haben. In einigen Fällen sollen tsche­tschenische Lehrer nach Unterrichtsende an der sowjetischen Schule an der islamischen Schule weiterunterrichtet haben.59

59 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 551.

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Abb. 18: Lezginer beim Gebet, Süddagestan. Aufnahme von 1929.

Die große Bedeutung der islamischen Geist­lichkeit und der Religion beschränkte sich nicht auf das geistige und das politische Leben, sondern war auch für das materielle Leben wichtig. Genauso wie die Ältesten innerhalb ihrer Gemeinschaften Abgaben erhoben, um für das Gemeinwohl sorgen zu können, verfügten die islamischen Würdenträger nament­lich durch die Erhebung des „Zakat“ (arab. zakāt, „Reinheit“) oder über den „Waqf“ über Mittel, die, in Finanzkraft umgerechnet, in ihrer Gesamtsumme die Höhe der gesamten staat­lichen Steuereinnahmen manchmal sogar übertrafen. Der Zakat, die Almosensteuer, stellte eine Verpflichtung dar, die vom Koran vorgeschrieben wurde. Jeder Muslim hatte den 40. Teil seiner jähr­lichen Einkünfte, die er aus Handel und Gewerbe erzielte, der Moschee abzugeben, die diese Mittel an Arme, Bedürftige und alleinstehende Frauen verteilte, damit aber auch Projekte wie islamische Schulen finanzieren konnte. Für Großgrundbesitzer und Viehzüchter konnte dieser Anteil sogar noch höher sein.60 Im Gegensatz dazu stellte der Waqf eine Abgabe an die Moschee dar, die nicht auf regelmäßiger Basis erfolgte, sondern eine einmalige Überweisung darstellte. Dabei handelte es sich in der Regel nicht um Geldbeträge, sondern um materielle Abgaben wie Landbesitz, landwirtschaft­liche Betriebe oder Gebäude.

60 Ebd., S. 550.

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Im weitesten Sinne sind Waqfs als eine Form von Stiftungen von Privatpersonen zu begreifen, aus deren Erträgen sich bestimmte Vorhaben, zum Beispiel die Einrichtung einer Schule, die Unterstützung von Armen oder der Bau einer B ­ rücke, ermög­lichen ließen.61 Angesichts der großen Zerstörung und der verbreiteten Armut, die auf den Bürger­ krieg im Nordkaukasus folgten, waren die Bolschewiki anfäng­lich zu g ­ ewissen Zugeständnissen gegenüber diesen traditionellen sozialen Einrichtungen bereit. Hilfslieferungen erreichten die Menschen zwar auch von außen, doch war dies bei Weitem nicht genug, um die zum Teil schlimmen Zustände in der Region zu ver­bessern. Anstatt den Zakat oder den Waqf zu verbieten – und damit allenfalls ­Rebellionen heraufzubeschwören, wie dies die Bolschewiki bei einem ähn­lichen Versuch Anfang der 1920er-Jahre im zentralasiatischen Teil der Sowjetunion erlebt hatten –, wollten sie diese Institutionen nach Mög­lichkeit für eigene Zwecke nutzbar machen. Im Nordkaukasus suchten sie etwa über die sogenannten Komitees der Bäuer­lichen Gegenseitigen Sozialen Hilfe (sing. Komitet krestʼjanskoj obščestvennoj vzaimopomošči – KKOV ), die bereits 1921 zur Entschärfung der sozialen Lage der armen Bauern eingeführt worden waren, die islamische Bevölkerung dazu zu bewegen, ihre Zakat-Abgaben neu an diese Komitees anstatt an die Moscheen zu überweisen. Vermeldeten die Behörden in einigen Fällen Erfolge, so etwa in der Kabarda, wo dem KKOV bereits 1924 große Mittel aus dem Zakat zuflossen, was den Kauf landwirtschaft­licher Maschinen und die Ausdehnung der Hilfe an die armen Bauern ermög­lichte, so schlug dieser Versuch in Tsche­tschenien weitgehend fehl.62 Noch in einem 1931 erstellten sowjetischen Bericht zu Tsche­tschenien liest sich vom „Kampf mit dem Zakat“.63 Problematisch stellte sich aus Sicht der Bolschewiki die Situation auch in Dagestan dar, wo Zakat und Waqf zunächst ebenfalls toleriert wurden. Als das Orgbüro unter der Leitung von Vjačeslav Michajlovič Molotov (1890 – 1986) im März 1927 zusammenkam, um mit führenden dagestanischen Politikern ver­ schiedene umstrittene Punkte einer Resolution zu Dagestan zu besprechen, drehte sich ein großer Teil der Diskussion um den Zakat. Dabei machte der dagesta­ nische Regierungsvorsitzende, Nažmuddin Samurskij, geltend, dass „unabhängig davon, w ­ elchen Beschluss [sie] fällen [würden], die gläubige Bevölkerung den Zakat weiterhin in die Moschee bringen [würde]“. Da jede Maßnahme gegen den Zakat von der Bevölkerung als antireligiöse Propaganda verstanden würde, 61 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 270, Ll. 55 – 56. 62 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 552 – 553. 63 Bericht eines anonymen Verfassers über die Untersuchung der Parteiorganisation in der Tsche­ tschenischen AO im Februar 1931, verfasst zwischen dem 7.–9. März 1931, publiziert in: Ebd., S. 583 – 618, hier S. 609.

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seien die Genossen in Dagestan zu einem Vorgehen gegen die Institution des Zakat noch nicht bereit.64 Deshalb riet Samurskij davon ab, den Zakat zu verbieten, wie dies von Außenstehenden manchmal gefordert wurde. Vielmehr sollte versucht werden, diese Mittel dem KKOV zuzuführen. Dies würde nicht nur die Stellung der Geist­lichkeit schwächen, sondern auch umfassende neue Mittel für den Staat bedeuten, denn immerhin, so gab Samurskij zu bedenken, handle es sich beim Zakat um eine Summe, die rund zwei Dritteln des staat­lichen Steuervolumens Dagestans entspreche.65 Molotov und den anderen Teilnehmern des Orgbüros widerstrebte es zwar sicht­ lich, eine religiöse Institution öffent­lich zu sanktionieren.66 Schließ­lich aber unterstützten sie das Anliegen der dagestanischen Genossen. Dem Antrag des Orgbüros folgend beschloss schließ­lich das Zentralkomitee der Partei, den Zakat wenigstens für eine Übergangszeit weiterhin zu erlauben, die Einkünfte daraus aber nach Mög­ lichkeit dem Fonds der KKOV zuzuführen.67 Hingegen beschloss das Zentralkomitee, den Waqf – und damit alle von Moscheen kontrollierten Stiftungen – vollständig dem KKOV zu übergeben. Entsprechende Entscheide zur Aufhebung des Waqf wurden bereits früher gefällt.68 Doch erst nach dem Beschluss des Zentralkomitees ging der Staat entschlossen daran, diese Maßnahmen auch umzusetzen. Bis zum November 1927 beschlagnahmte der Geheimdienst in Dagestan rund 7000 ­Desjatinen ­Waqf-Land, 42 Mühlen, 88 Häuser und fünf Medressen. Darüber hinaus zerstörte die Geheimpolizei zahlreiche, den Moscheen angegliederte Waqf-Bibliotheken.69 Bis 1930 wurden die Waqf-Besitzungen der Moscheen in der gesamten Sowjetunion vollständig nationalisiert.70 Mit dem Verbot dieser Institution wurde auch den islamischen Schulen eine wichtige wirtschaft­liche Basis entzogen.71 Die Sowjetisierung mag in der Betrachtung der von Rostov am Don oder Moskau ausgesandten Parteiinspektoren mangelhaft gewesen sein und den Ansprüchen der bolschewistischen Führung nicht genügt haben. Doch aus der Sicht der Menschen war dies anders. Die Schaffung neuer Institutionen und der Erlass neuer Regelungen



64 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 270, L. 51. 65 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 270, L. 52. 66 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 270, L. 50. 67 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 270, L. 10. 68 V. O. Bobrovnikov, Vakf v Dagestane. Iz včerašnego dnja v zavtrašnij, in: I. L. Babič / L. T. Solevʼeva (Hg.), Islam i pravo v Rossii. Materialy naučno-praktičeskogo seminara „­Musulʼmanskoe pravo v mire Rossii (Severnyj Kavkaz, Povolžʼe)“. Nojab. 2003. Tom 2, Мoskva 2004, S. 150 – 165. 69 Ebd. 70 Alexandre Bennigsen / Marie Broxup, The Islamic Threat to the Soviet State, London 1983, S. 47 – 48. 71 Bobrovnikov, Vakf v Dagestane.

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Staat und Gesellschaft

und Gesetze stellten die Menschen und Gemeinschaften immer wieder vor neue Herausforderungen – und forderten ihnen Entscheidungen ab. Die gesellschaft­lichen Reaktionen auf diese Neuerungen konnten ganz unterschied­lich motiviert sein, oft waren es aber zweckmäßig orientierte – und manchmal sehr banale – Gründe, die das Verhalten der Menschen beeinflussten: So erklärte etwa die OPGU die Tat­sache, dass viele junge Tsche­tschenen gerade nach der Entwaffnungsaktion von 1925 Interesse an einer Mitgliedschaft im Komsomol zeigten, damit, dass die jungen Kan­didaten sich erhofften, dadurch wieder Waffen tragen zu dürfen.72 Hinter den Motiven der Menschen, in die Partei oder den Staatsdienst einzutreten, ­konnten durchaus ehr­ liche Überzeugungen stehen; sicher aber suchten die Menschen dadurch auch die eigene Situation und Stellung innerhalb der Gesellschaft zu stärken, oder, wie es ein Tsche­tschene einmal ausdrückte, der (vergeb­lich) eine Mitgliedschaft im ört­ lichen Geheimdienst anstrebte, eine ­solche Position als Machtbasis dafür zu ­nutzen, um sich „an gewissen Personen zu rächen“.73 Dass sich die Gemeinschaften manchmal offen gegen sowjetische Neuerungsbestrebungen stellten, musste nicht notwendigerweise auf eine feindselige Haltung gegenüber der Sowjetmacht zurückgehen, sondern konnte sch­licht daraus resultieren, dass die Menschen ihre eigenen Institutionen kannten, diesen vertrauten und nicht einsahen, weshalb sie diese abschaffen sollten. Denn bei den nordkauka­sischen Dorfgemeinschaften handelte es sich um s­ oziale Organismen, die sich weitgehend selbst regulierten. Dennoch wäre es verfehlt, in der dörf­lichen Gemeinschaft eine idyl­lische Welt erkennen zu wollen. Das ausgeprägte Gemeinschaftswesen, das den markantesten sozialen Wesenszug bei Völkern wie den Tsche­tschenen, Inguschen oder den dagestanischen Berggemeinschaften bildete, stellte nicht nur eine Stärke, sondern auch eine Schwäche dar. Durch das Gemeinschaftswesen wurden näm­lich auch so archaische Auswüchse wie die Blutrache oder die ­Zwangsverheiratung von minderjährigen Mädchen konserviert. Blutfehden oder Landkonflikte unter einzelnen Gemeinschaften reichten manchmal Jahrzehnte zurück und waren oft derart vertrackt, dass sie für die Betroffenen kaum mehr lösbar schienen und das Zusammenleben belasteten. Die reicheren Bauern hatten in den Dörfern eine wichtige Funktion. Sie waren für das Funktionieren der gesamten dörf­lichen Wirtschaft wichtig; von ihnen erhielten die ärmeren Bauern dringend benötigte Kredite für Anschaffungen; auch konnten sie von ihnen Land pachten. In den abgelegenen Berggebieten der Bezirke Itum-­ Kalinskij und Šalinskij soll Ende der 1920er-Jahre die Hälfte der Bevölkerung 72 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1925, in: L. P. Kolodnikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934). Tom 3. Častʼ 2. 1925 g., Moskva 2002, S. 637. 73 HPSSS, Schedule A, Vol. 22, Case 434, S. 5.

Die dörfliche Welt zwischen Stillstand und Veränderung

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ab­­hängig gewesen sein von rund 20 wohlhabenden Bauern, die jeweils über mehrere Tausend Stück Vieh verfügten.74 Die Lage der ärmeren Bauern konnte aber auch ausgenutzt werden. Insbesondere war deren Situation dann prekär, wenn es sich um Neu­zuzügler handelte, die zwar manchmal schon vor 40 oder 50 Jahren in ein bestimmtes Gebiet gezogen waren, dennoch aber in die Kategorie der ­sogenannten „vorübergehend siedelnden“ Bauern fielen. Als Nicht-Angehörige der ört­lichen Sippen hatten sie kein Stimmrecht an den Versammlungen. Sie besaßen auch kein eigenes Land, sondern mussten d ­ ieses zu oftmals ungünstigen Bedingungen von den reicheren Bauern pachten.75 Die starken Clan- und Familienbande konnten für die Angehörigen der eigenen Sippe vorteilhaft, für andere aber dann nachteilig sein, wenn etwa ein Angehöriger eines bestimmten Clans seinen Amtsposten nur dafür einzusetzen versuchte, die Interessen der eigenen Angehörigen und Verbündeten durchzusetzen. So soll etwa im Bezirk Novo-Čečenskij der Leiter der Finanzabteilung, ein gewisser Korotaev, einen großen Teil seiner Angehörigen von der Steuer befreit haben. Der Vorsitzende des Dorfsowjets des Auls Staro-Sunženskoe, Chasuev, der selbst als wohlhabender Bauer galt, soll die ört­lichen Mullahs, die Ältesten und seine eigenen Angehörigen von den Steuern befreit und den dadurch entstandenen Fehlbetrag durch zusätz­ liche Steuererhebungen unter den einfachen Bauern ausgeg­lichen haben. Obwohl die tsche­tschenische Regierung von diesen beiden Fällen in Kenntnis gesetzt wurde, ging sie nicht konsequent dagegen vor und erteilte den betreffenden Personen nur eine Rüge.76 Angesichts dieser Missstände kann es nicht erstaunen, dass sich unter den Klagen, ­welche die Bevölkerung an die übergeordneten Instanzen in Rostov am Don oder Moskau richtete, nicht nur Beschwerden über das willkür­liche Verhalten der Geheim­ polizei, sondern auch über die eigenen lokalen Eliten finden.77 So trafen im Hebst 1928 zwei Schreiben beim Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitee in Moskau ein, die im Auftrag von Vertretern tsche­tschenischer Siedlungen aus dem Bezirk Šatojskij verfasst worden waren. In einem davon beklagten die Tsche­tschenen die schwierige Situation in Zusammenhang mit der Tätigkeit ihres Dorfvorstehers, eines gewissen Daud Bamatgireev, der noch von Ėlʼdarchanov, der offenbar mit ihm verwandt war, in diese Funktion berufen worden war und sich seither trotz Klagen wegen schlechter Amtsführung und des Vorwurfs von Wahlmanipulation und Unterschlagung von Geldmitteln dank seiner verwandtschaft­lichen Beziehungen an der Macht halten konnte. Weil die Tsche­tschenen bei den ört­lichen Behörden und Gerichten mit ihren Be­­schwerden

74 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, L. 83. 75 Nagiev-Bericht, 4. August 1928, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 546. 76 Ebd., S. 556. 77 RGASPI, F. 17, Op. 68, D. 190, Ll. 109 – 113ob.

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Staat und Gesellschaft

abgeblitzt waren, wandten sie sich nun an Moskau, „in der Hoffnung, dass [sie] end­ lich erhört [würden]“.78 Im anderen Schreiben beschwerten sich die Absender über das willkür­liche Verhalten der ört­lichen Behörden, die unter anderem arbeitsunfähige Personen wie Kinder und ältere Leute zum Straßenbau verpflichtet hätten. Auch hätte die Verpflichtung für den Straßenbau zur Folge gehabt, dass zu wenige Personen zur Verfügung gestanden hätten, um die Maisernte rechtzeitig einzubringen.79 Auch diese Tsche­tschenen beklagten, dass es verwandtschaft­liche Beziehungen wären, die es dem Einzelnen verunmög­lichen würden, zu seinem Recht zu kommen, denn „(…) dort, wo Verwandte [wären], dort [würde] das Recht [schweigen] und [würden] die herkömm­ lichen Bräuche [gelten]“.80 Die Kommission, die das Rostover Kreiszentrum der Partei im Auftrag von Moskau bildete, bestätigte die Vorwürfe gegen Bamatgireev, er wurde daraufhin seines Amtes enthoben. Für die tsche­tschenische Regierung und Rostov am Don war die Sache damit abgeschlossen. Mindestens für den Berichterstatter, der im Auftrag des Moskauer Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees den Fall verfolgte und darüber berichtete, blieb aber die Frage offen, inwiefern sich die Regierungsmitglieder im Bezirk Šatojskij, von denen viele in verwandtschaft­lichen Verbindungen untereinander und mit Bamatgireev standen, in d­ iesem Fall nicht mitschuldig gemacht hatten, da jene Bamatgireev geschützt und seine Vergehen offensicht­ lich zu ver­tuschen versucht hatten.81 Im zweiten Fall sah die Kommission keine grundsätz­lichen Verstöße gegen das Recht; sie urteilte, dass diese Klagen vonseiten wohl­habender Bauern stammen würden, die sich damit der Arbeit beziehungsweise dem Arbeitspflichtersatz im Umfang von 21 Rubel zu entziehen versuchen würden. Die Kommission gab jedoch zu, dass es in einem Fall zu einem Verstoß gekommen war, als ein Invalider zur Arbeit herangezogen wurde.82 Das Gemeinschaftswesen konnte seinen Mitgliedern Schutz und Hilfe bieten. Für den Einzelnen konnte es aber dann Zwang bedeuten, wenn sich dieser nicht den Entscheiden des Kollektivs oder den von der Gemeinschaft verord­neten Lebens- und Denkweisen unterordnen wollte – oder wenn er zu einer benach­teiligten ­sozialen Schicht gehörte. Oft suchte der Einzelne, wie das Beispiel der beiden tsche­tschenischen Klagen zeigt, vergeb­lich Hilfe bei den ört­lichen Gerichten und Behörden. Die Mög­lichkeit, sich an eine höhere Instanz in Rostov am Don oder direkt an Moskau zu wenden, bestand, doch war dies ein oft sehr lang­wieriges und umständ­liches Verfahren, das nicht unbedingt erfolgreich sein musste. Als Ausweg

78 GARF, F. R–1235, Op. 123, D. 168, Ll. 16 – 17ob. 79 GARF, F. R–1235, Op. 123, D. 168, Ll. 18 – 19. 80 GARF, F. R–1235, Op. 123, D. 168, L. 18ob. 81 GARF, F. R–1235, Op. 123, D. 168, L. 2. 82 GARF, F. R–1235, Op. 123, D. 168, L. 2.

Der Gegensatz von Stadt und Land

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blieb manchmal nur der Wegzug aus dem Dorf, eine Mög­lichkeit, die vor allem von Leuten der jüngeren Generation ins Auge gefasst wurde. Dazu entschloss sich im Sommer 1923 auch ein tsche­tschenischer Junge namens Abdurachman, der sich später den Nachnamen Avtorchanov zulegen sollte. Die Umstände seiner Flucht aus dem Heimatdorf und seine Erfahrungen in der Stadt Groznyj in den frühen 1920er-Jahren, die er in seinen Memoiren ausführ­lich beschreibt, mögen einen Eindruck davon geben, wie sich die damalige Situation aus der Perspektive des Einzelnen darstellte.

8. 3  D e r G ege n s at z vo n St a d t u nd L a nd Abdurachman Avtorchanov war als Historiker und Publizist eine im Westen bekannte Größe. Seine im Kalten Krieg unter dem Pseudonym „Aleksandr ­Uralov“ (auch „Alexandre Ouralov“) erschienen Schriften setzen sich äußerst kritisch mit dem Sowjetregime auseinander.83 In diesen und späteren Publikationen verschweigt Avtorchanov allerdings, dass er selbst ein Nutznießer des kommunistischen Systems war, das er – wie viele andere auch – zunächst begrüßte: Als Jugend­licher kam er in den Genuss einer säkularen Ausbildung, trat in die Kommunistische Partei ein, besetzte in Tsche­tschenien hohe Amtsposten und schloss sein Studium 1937 am prestigeträchtigen Institut der Roten Professur 84 in Moskau ab. Erst als er – wie viele andere sowjetische Bürger auch – in den späteren 1930er-Jahren in Konflikt mit dem System geriet, verhaftet und inhaftiert wurde und schließ­lich nach Ausbruch des Kriegs 1942 über die Front zu den Deutschen flüchtete, änderte sich seine Einstellung und damit auch sein Blick auf die Vergangenheit, die er fortan neu deutet.85 Mindestens für die frühen 1920er Jahre sind jedoch seine 1983 nur auf Rus­sisch publizierten Memoiren, die in der west­lichen Literatur noch kaum rezipiert wurden, insofern von großem Wert, als

83 Stellvertretend zu den bereits genannten Publikationen seien hier nur die in mehreren Auflagen erschienenen und in mehrere Sprachen übersetzten Werke „Stalin an der Macht“ und „Die Technologie der Macht“ erwähnt: A. Avtorchanov (d. i. Aleksandre Ouralov), Staline au pouvoir. Traduit du russe par Jaques Fondeur, Paris 1951; ders. (d. i. Aleksandr Uralov), Technologija vlasti. Process obrazovanija KPSS, München 1959. 84 Das Institut der Roten Professur (Institut krasnoj professury – IKP) war eine Bildungseinrichtung des ZKs der VKP (b) für die Ausbildung höherer Parteikader und Lehrer an akademischen Bildungseinrichtungen. Die Institution existierte von 1921 bis 1938. 85 In ­diesem Zusammenhang sind seine in der west­lichen Literatur kaum rezipierten Schriften zur tsche­tschenischen Geschichte interessant, die er in den frühen 1930er Jahren in offiziellem Auftrag verfasste und in denen er die Sowjetepoche glorifiziert: Avtorchanov, K osnovnym voprosam; ders., Kratkij istoriko-kulʼturnyj i ėkonomičeskij očerk o Čečne, Rostov na Donu 1931.

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Staat und Gesellschaft

Avtorchanov darin ein authentisch wirkendes Bild seiner Si­­tuation und von den damaligen Zuständen in Tsche­tschenien zeichnet.86 Das genaue Geburtsdatum von Abdurachman Avtorchanov ist nicht bekannt. Er selbst gibt in seinen schrift­lichen Erinnerungen an, dass er „Gott weiß wann genau ungefähr zwischen 1908 und 1910“ im tsche­tschenischen Dorf Lacha ­Nevrij (oder Nižnij Naur auf Rus­sisch) geboren wurde.87 Sein Urgroßvater soll noch gegen General Ermolov gekämpft haben, seinen Großvater bezeichnet Avtorchanov in seinen Memoiren als „fried­lichen Tsche­tschenen“, der sogar eine Ausbildung erhalten habe, was ihm das Lesen rus­sischer Zeitungen und Bücher erlaubt habe.88 Die Flucht aus dem Dorf ergriff Avtorchanov, als er etwa 14 Jahre alt war.89 Es war die Neugier auf Neues und die Begrenztheit der dörf­lichen Mög­lichkeiten, die Avtorchanov zum Weggang veranlassten. Der unmittelbare Auslöser war jedoch, dass ihn der ört­liche Mullah aus der Medresse ausschloss, nachdem dieser entdeckt hatte, dass sein junger Koranschüler heim­lich welt­liche Bücher in rus­sischer Sprache las. Rus­sisch lesen konnte Avtorchanov deshalb, weil er im Dorf zunächst die sowjetische Schule besucht hatte. Weil diese aber nur fünf Klassen anbot, soll ihm nichts anderes übrig geblieben sein, als seine Ausbildung an der arabischen Schule fortzusetzen, die sich im selben Dorf befand. Avtorchanov schreibt in seinen Aufzeichnungen, vom Vater zwar verprügelt worden zu sein, nachdem dieser vom Ausschluss seines Sohns aus der Medresse erfahren habe. Insgeheim soll dieser jedoch froh darüber gewesen sein, denn damit habe er seinen Sohn jeden Tag zur Arbeit auf dem Feld und zum Viehhüten heranziehen können. Damit sah sich Avtorchanov aber auch jeg­licher Perspektive auf eine weitere Ausbildung beraubt, einzig in der Stadt sah er eine Zukunft für sich.90 Weil der Weg nach Groznyj lang und nicht ungefähr­lich war, überredete er seinen um etwa sechs Jahre älteren Freund Mumad mitzukommen. Nach zwei Tagen Fußreise erreichten sie die in der Nähe Groznyjs gelegenen Erdölindustrieanlagen Starye Promysly, die den Flüchtigen nicht zuletzt wegen ihrer elektrischen Beleuchtung Eindruck machten.91 Avtorchanov entschied wohl deshalb, diese Episode seines Lebens mit dem Titel „Flucht aus dem Zuhause“ (Pobeg iz domu) zu versehen, weil er die Reise in die Stadt ohne Wissen und damit gegen den Willen des Vaters

86 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Avtorchanovs Schriften: Michael David-Fox, Memory, Archives, Politics. The Rise of Stalin in Avtorkhanovʼs Technology of Power, in: Slavic Review 54 (1995), S. 988 – 1003; Park / Brandenberger, Imagined Community?, insbesondere S. 545 – 554. 87 Avtorchanov, Memuary, S. 5. 88 Ebd., S. 70. 89 Ebd., S. 86. 90 Ebd., S. 71 – 75. 91 Ebd., S. 75 – 78.

Der Gegensatz von Stadt und Land

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unternommen hatte.92 Einmal in Groznyj angekommen, war an eine Rückkehr in sein Dorf denn auch nicht mehr zu denken. Um in Groznyj Aufnahme im einzigen tsche­tschenischen Internat zu finden, das aber nur Waisenkinder aufnahm, erklärte er nicht nur, dass er Waise und sein Vater verstorben sei. Wohl auch, damit ihn der Vater nicht mehr aufspüren konnte, gab er auf Rat Mumads, der ihn zur Schule begleitete, auch einen falschen Familiennamen an: „Avtorchan“ war nicht der Name seines Vaters, sondern seines Großvaters. Der Schulvorsteher, bei dem es sich gemäß seinen Memoiren um den aus dem Bürgerkrieg bekannten Tsche­tschenen Ibragim Čulikov handelte, machte daraus „Avtorchanov“, was die für rus­sische Namen üb­liche Schreibweise war.93 Diese Passage lässt erkennen, dass der Eintritt in eine neue Welt für den jungen Tsche­tschenen offenbar nur deshalb mög­lich war, weil er den Bruch mit dem Vater und damit auch mit seiner eigenen unmittelbaren Vergangenheit vollzog. Für Avtorchanov selbst war dies der Beginn einer langen Ausbildung und beruf­lichen Karriere, die ihn schließ­lich in die Kommunistische Partei, in verschiedene Ämter im staat­lichen Gebietsapparat Tsche­tscheniens und nach Moskau führen sollten. Von der tsche­tschenischen Wirk­lichkeit auf dem Land sollte Avtorchanov jedoch während seiner aktiven politischen Zeit weitgehend abgekoppelt bleiben. Zunächst aber erlebten Abdurachman und Mumad ihre Ankunft in der neuen Welt der Stadt so, wie sie damals wohl viele Tsche­tschenen erlebt haben müssen: Sie landeten sogleich auf dem Polizeiposten. Weil sie die letzte Strecke des Wegs von Starye Promysly nach Groznyj mit der Eisenbahn unternahmen, jedoch keine Fahrkarten besaßen, wurden sie von der Bahnpolizei verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Mumad wurde auch sein Revolver abgenommen, „was für ihn gleichkam mit dem Entzug seines halben Lebens“.94 Weil Mumad kein Rus­sisch sprach, wurde Avtorchanov beim Gerichtsverfahren gegen seinen älteren Freund als Übersetzer beigezogen. Seinen Erinnerungen zufolge sollen die Behörden Mumad während der Befragung misshandelt haben. Als junger, ungebildeter und bewaffneter Tsche­tschene war Mumad aus ihrer Sicht ein Synonym für den klas­sischen tsche­tschenischen Banditen. Entsprechend versuchten die Behörden aus ihm heraus­bekommen, zu welcher Verbrecherbande er gehörte. Die Befragung endete schließ­lich damit, dass Mumad die staat­lichen Beamten tät­lich angriff, worauf er in eine gesonderte Zelle überführt wurde.95 Als die beiden nach ein paar Tagen wieder vor Gericht erschienen, saß dort ein anderer Richter, der ihnen erklärte, dass sie entlassen würden. Dem Richter lag

92 Das Kapitel unter ­diesem Titel findet sich in: Ebd., S. 70 – 85. 93 Ebd., S. 84 – 85. 94 Ebd., S. 79. 95 Ebd., S. 80 – 81.

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Staat und Gesellschaft

eine Bescheinigung des für die beiden Tsche­tschenen zuständigen ausführenden Bezirkskomitees vor, die besagte, dass es sich bei den beiden nicht um Verbrecher handeln würde. Der vormalige Richter war gemäß Avtorchanov offenbar wegen seines beleidigenden Verhaltens gegenüber dem „tsche­tschenischen Volk“ abgesetzt worden.96 Mumad erhielt sogar seine Waffe wieder zurück. Bei der Entlassung wies der Richter sie darauf hin, dass sie sich an eine für Angehörige der nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus eingerichtete Institution in der Stadt, an das „Haus des Berglers“ (Dom gorca), wenden könnten, wo man ihnen weiterhelfen würde. Bald darauf wurde Mumad mithilfe seiner dortigen „neuen Freunde“ in die bei Groznyj stationierte tsche­tschenische Reitereskadron aufgenommen. Avtorchanov war es erlaubt, so lange bei ihm zu bleiben, bis er in der Stadt selbst Fuß fassen konnte.97 Ob sich dies tatsäch­lich so zugetragen hat, lässt sich nicht nachprüfen. Mög­ lich jedoch ist es. Schließ­lich fiel die Reise Avtorchanovs nach Groznyj in die Zeit, in der die bolschewistische Führung daran ging, die Angehörigen der einzelnen nichtrus­sischen Ethnien im Rahmen ihrer jeweiligen autonomen Territorien gezielt zu fördern und Auswüchse gegen bestimmte nichtrus­sische ethnische Gruppen zu unterbinden. Personen wie der von Avtorchanov erwähnte Richter wurden im Sog der korenizacija-Bestrebungen und der damaligen bolschewistischen Losung „Kampf dem Großmachtchauvinismus“ (Lenin) an den Pranger gestellt.98 So gesehen stand der erste Richter in Avtorchanovs Memoiren als Vertreter einer Richtung, die dieser Nationalitätenpolitik entgegenstand. Seine Absetzung erklärte Avtorchanov denn auch damit, dass „die tsche­tschenische ‚autonome‘ Regierung bei der Führung ­Groznyjs Protest gegen den Chauvinismus des Beamten“ eingelegt hätte, worauf diese es wohl vorgezogen hätte, jenen Richter zu ersetzen, und dass er und Mumad auch deshalb letzt­lich wieder auf freien Fuß gesetzt worden wären.99 Spannungen zwischen Russen und Tsche­tschenen, zwischen Stadt und Land, gab es tatsäch­lich und Avtorchanovs Ankunft in Groznyj fand zu genau jener Zeit statt, in der die Bolschewiki bestrebt waren, über Propagandamaßnahmen diese Situation zu entschärfen. So organisierte etwa die Groznyj-Parteiabteilung für Agitation und Propaganda (Agitrop) im November 1923 Feier­lichkeiten zum sechsten Jahrestag der Revolution, wobei sie diese unter die Losung: „Verbindung [smyčka 100] mit Tsche­tschenien

96 Ebd., S. 82. 97 Ebd., S. 81 – 82. 98 Brief Lenins an Kamenev „Über den Kampf mit dem Großmachtchauvinismus“ (O borʼbe s ­velikoderžavnym šovinizmom) vom 6. Oktober 1922, publiziert in: V. I. Lenin, Polnoe sobranie sočinenij. Tom 45. Mart 1922–mart 1923, Moskva 1970 (5. Auflage), S. 214. 99 Avtorchanov, Memuary, S. 82. 100 Der Begriff smyčka bringt das damalige ideolo­gische Programm der Bolschewiki zum Ausdruck, Arbeiterschaft und Bauern miteinander zu verschmelzen.

Der Gegensatz von Stadt und Land

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und dem Land“ stellte.101 In ­diesem Zusammenhang schickte die Partei 30 rus­sische ­Arbeiter als Vertreter der Stadt in verschiedene tsche­tschenische Aule, die Tsche­tschenen dagegen lud sie nach Groznyj ein, wo diese unter anderem an der Einweihung eines Denkmals zu Ehren des 1919 im Kampf gegen Denikin gefallenen tsche­tschenischen Revolutionärs Aslanbek Šeripov teilnahmen. Beim Akt der Denkmals­enthüllung sollen gemäß dem Bericht, den Agitrop später an Moskau schickte, „einige Tausend Personen“ teilgenommen haben, darunter die tsche­tschenischen Regierungsvertreter ­Groznyjs, die Angehörigen Šeripovs und junge tsche­tschenische Komsomolzen.102 Wohl nicht ohne Grund vermied es der Verfasser des Berichts, Angaben zur genauen Zahl der anwesenden Tsche­tschenen zu machen. Wie viele Familien­angehörige ­Šeripovs und Mitarbeiter des tsche­tschenischen Partei- und Staatsapparats in Groznyj zur Feier erschienen, lässt sich nur vermuten. Die tsche­tschenische Komsomol-Organisation zählte zu ­diesem Zeitpunkt jedenfalls nur gerade 22 Angehörige.103 Ob die Verantwort­lichen der Groznyj-Parteiorganisation tatsäch­lich ernsthaft um die Verbesserung der Beziehungen zwischen den Tsche­tschenen und den vorwiegend rus­sisch-stämmigen Arbeitern Groznyjs bemüht waren oder ob es ihnen vielmehr darum ging, sich in ihrem Bericht an Moskau in einem schmeichel­haften Licht zu präsentieren, muss dahingestellt bleiben. Große Wirkung hatte die Aktion jedenfalls nicht. Die Wirk­lichkeit zeigte ein Bild, das von gegenseitigem Misstrauen und tiefsitzenden Vorurteilen, ethnischen Spannungen und von einer D ­ iskriminierung der Tsche­tschenen innerhalb der Stadt und der Erdölindustrie bei Groznyj geprägt war. Die Tsche­tschenen beklagten sich über das grobe Verhalten der rus­sisch domi­nierten Polizei gegenüber tsche­tschenischen Händlern, die ihre Waren auf den ­Märkten ­Groznyjs abzusetzen suchten, über willkür­liche Verhaftungen, herab­lassendes Benehmen der städtischen Orga­nisationen gegenüber den Tsche­tschenen und über die allgemein miss­lichen Bedingungen der tsche­tschenischen Erdöl­arbeiter, die oft unter erbärm­ lichen Bedingungen am Stadtrand lebten und lange Wege zu Fuß in die Fabrik unter­ nehmen mussten.104 Als im Zuge einer der zahl­reichen Grenz­verschiebungen dem tsche­ tschenischen Gebiet Territorien bei Groznyj zu­­gesprochen wurden, auf denen auch rus­sische Industrie­arbeiter lebten, sollen diese aus Angst, dass ihre Siedlungen bald von „tsche­tschenischen ­Mullahs und Banditen“ bevölkert würden, den Tsche­tschenen nicht nur den Aufenthalt verweigert, sondern auch keinen einzigen Tsche­tschenen in

101 Der Bericht Agitrops (unterzeichnet vom Leiter der Groznyj-Abteilung, Miller), adressiert an das ZK RKP (b), datiert vom 18. Dezember 1923 und findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 60, D. 581, Ll. 34 – 37, hier L. 34. 102 RGASPI, F. 17, Op. 60, D. 581, Ll. 34 – 34ob. 103 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 1. 104 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 21; RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, Ll. 10 – 11; RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 41.

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Staat und Gesellschaft

ihre Wohnquartiere ge­­lassen haben, wie die OGPU in einem Situationsbericht für den Monat Oktober 1925 feststellt.105 Schlägereien und Zusammenstöße entlang ethnischer Linien waren in dieser Zeit häufig und nicht auf die Tsche­tschenen und Russen in und um Groznyj begrenzt. Oft sahen sich ­Russen, die im Staats- und Parteiapparat tsche­ tschenischer Sied­lungen arbeiteten, den Feindseligkeiten der Tsche­tschenen ausgesetzt. Auch in anderen Teilen des Nordkaukasus berichtete die Geheimpolizei von ethnischen Spannungen. Dabei hatte manchmal ein einziger Vorfall das Potenzial, in eine Massen­schlägerei zwischen Angehörigen der jeweiligen Volksgruppen auszuarten.106 Groznyj war für Tsche­tschenien nicht nur als administratives Zentrum und Marktplatz für den Umschlag von Handelswaren von Bedeutung. Die Stadt war der Ort, von dem die kulturelle Entwicklung Tsche­tscheniens ausgehen sollte. Hier befanden sich Schulen für tsche­tschenische Kinder und die höheren Ausbildungsstätten, aber auch die Druckereien, w ­ elche die Produktion von Schulbüchern in tsche­tschenischer Sprache ermög­lichten. Groznyj war mit seiner Industrie damals praktisch der einzige Ort, wo Tsche­tschenen ein Auskommen außerhalb der Agrarwirtschaft finden konnten. Die Stadt selbst war an einem Zustrom von Tsche­tschenen in einer Situation, in der die Bevölkerung aufgrund der wachsenden Bedeutung der Erdölindustrie aus allen Nähten platzte und die Infrastruktur völlig überlastet war, jedoch kaum interessiert. Nicht nur mussten für die Tsche­tschenen neue ­Wohnungen gebaut werden, auch waren sie aus Sicht des Erdölunternehmens Grozneftʼ ein Ärgernis, wenn es wegen ihnen zu Spannungen innerhalb der Arbeiterschaft kam. Die Geschichte der Sowjetisierung Tsche­tscheniens und des Nordkaukasus lässt sich auch als eine Geschichte des Versuchs begreifen, die Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Russen und Nichtrussen, zu überwinden. Dazu sollten die Einheimischen in die Fabriken der Stadt gebracht werden. Ein Unterfangen, dem im Fall Tsche­tschenens kein Erfolg beschieden sein sollte.

8.4  G e s cheit e r t e s Ex p e r i me nt: D ie S ch a f f u ng ei ne s t s che ­t s che n i s che n P r ole t a r iat s Die Rolle der Städte bei der Formierung von Kapitalismus und Sozialismus war in einem Land wie Russland, in dem bei Ausbruch der Revolution 1917 noch weit über 80 Prozent der Menschen ihr Auskommen in der Landwirtschaft fanden, von

105 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1925, in: Kolodnikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 3, Častʼ 2, S. 638. 106 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juli 1926, in: G. N. Sevostʼjanov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 4. Častʼ 1. 1926 g., Moskva 2001, S. 463.

Die Schaffung eines tschetschenischen Proletariats

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enormer Bedeutung. Städte sollten in der Vorstellung der Bolschewiki Motoren der Entwicklung und Modernisierung sein. Die Revolution ging von den Städten aus und wurde von der Arbeiterklasse getragen. Industrialisierung und Urba­nisierung brachten das Proletariat hervor, das nicht nur wirtschaft­lichen Fortschritt mög­lich machte, sondern essenziell war für die Realisierung des sowjetischen Umgestaltungsprojekts. Die führende Elite des neuen Staates rekrutierte sich im Wesent­lichen aus den Menschen der Stadt – und aus dieser heraus suchte sie das Land umzugestalten. Die Revolutionäre an der nordkauka­sischen Peripherie sahen dafür aber sch­licht keine Mög­lichkeit. So liest sich in einem zeitgenös­sischen Bericht zur Situation in der Bergrepublik und Tsche­tschenien vom Mai 1922, dass „angesichts einer ­solchen Entwicklung der sozialen Kräfte in den Bergdörfern [in denen die Macht bei den Kulaken und Geist­lichen konzentriert war] die aktive Ein­mischung des Pro­letariats in die Angelegenheiten der Bergler“ nicht mög­lich sei. Die kommu­nistische Organisation sei auf dem Land sch­licht zu schwach, um „starke Klassenkader in den Bergdörfern“ zu schaffen.107 Immerhin waren zu ­diesem Zeitpunkt die beiden größten Städte der Nord­ kaukasusregion, Vladikavkaz und Groznyj, mindestens in administrativer Hinsicht noch integrale Bestandteile einer gemeinsamen Bergrepublik. Nach dem Zerfall der Bergrepublik änderte sich dies jedoch. Abgesehen von Kabardino-Balkarien mit seinem Hauptort Nalʼčik (das im September 1921 den Status einer Stadt erhielt) war keine der neugeschaffenen autonomen Gebietseinheiten mit einem eigenen nationalen Zentrum ausgestattet. Die Regierungen residierten außerhalb ihres e­ igenen Gebiets in vornehm­lich rus­sisch besiedelten Ortschaften. Dies traf nicht nur auf Tsche­tschenien zu, dessen Regierung in Groznyj ansässig war, sondern ebenso für Inguschetien und Nordossetien, die beide von Vladikavkaz aus regiert wurden. Krasnodar (das ehemalige Ekaterinograd), das administrative Zentrum des Kubaner Kreises, beheimatete den Regierungssitz des ady­gischen (tscherkes­sischen) Gebiets, die Regierung der Karatschaj hatte ihren Sitz im rus­sisch besiedelten Batalpašinks. Keines dieser Gebiete verfügte auf seinen Territorien über Städte mit größerer Industrie, womit auch die Basis für die Bildung eines städtischen Proletariats fehlte.108 Die Zerstückelung des politischen Raums war die Folge einer Nationa­litätenpolitik, die bei der Schaffung von autonomen Territorien die Grenzziehungen hauptsäch­lich entlang ethnischer Merkmale zu ziehen suchte, darüber aber die Frage, inwiefern die neuen Gebiete in wirtschaft­licher Hinsicht überhaupt überlebensfähig waren, in den Hintergrund drängte. Dabei gab es bereits in den frühen 1920er-Jahren gewichtige Stimmen, die sich gegen diese Politik stellten. Als prominentester Gegner tat

107 Nosov-Bericht, 17. Mai 1922, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 443. 108 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, L. 58.

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sich das für Wirtschaftsplanung zuständige staat­liche Komitee Gosplan hervor, das sich Anfang der 1920er-Jahre mit großer Vehemenz, aber letzt­lich vergebens dafür einsetzte, dass die Sowjetunion nach wirtschaft­lichen und nicht ethno-nationalen Prinzipien einzuteilen sei.109 Als sich Vertreter dieser Behörde im Juni 1923 zu einer Sitzung trafen, um im Rahmen der Neugliederung der Sowjetunion über die Raumaufteilung (rajonirovanie) des Nordkaukasus zu diskutieren, beklagte deren Vorsitzender, Gleb Maksimilianovič Kržižanovskij (1872 – 1959), dass die Ideen des Wirtschaftskomitees bei den ört­lichen Behörden kaum Unterstützung fänden. Das Argument, dass der Nordkaukasus aufgrund seiner ethnischen Diversität nicht als einheit­liche Region zu betrachten sei, ließ er nicht gelten. Wenn so argumentiert werde, so Kržižanovskij, dann „[sei] es nicht nötig, dass [sie sich] überhaupt damit befassen [würden]“. Und: „Wir sind der festen Überzeugung, dass die einzige richtige Lösung der nationalen Frage in einer Gebietseinteilung nach wirtschaft­lichen Grundsätzen besteht (…).“ 110 Sein Appell zeitigte zunächst keine Wirkung. Denn nur ein Jahr danach sollte auch die Bergrepublik endgültig aufgelöst werden und in ihre Teile zerfallen. Mit der Schaffung des Nordkaukasuskreises mit Zentrum Rostov am Don wurde im September 1924 zwar eine übergeordnete administrative Einheit eingeführt, die unter anderem die wirtschaft­liche Gesamtentwicklung des Nordkaukasus ko­­ordinieren sollte. Dabei übernahm das Nordkaukasus-Kreiskomitee der Kommu­nistischen Partei (Severo-Kavkazskij kraevoj komitet VKP (b)) im Wesent­lichen die Funktionen des Südostbüros, das im Mai 1924 aufgelöst worden war. Die Kontinuität zwischen der alten und der neuen Institution drückte sich auch darin aus, dass der Vorsteher des Südostbüros, Anastas Mikojan, zum Vorsitzenden des Nord­kaukasusKreiskomitees ernannt wurde. Diesen Posten sollte er bis zum September 1926 besetzen. Das Problem des enormen Gefälles zwischen Stadt und Land ließ sich mit der Schaffung einer neuen, übergeordneten administrativen Einheit aber nicht beheben, zumal nie gänz­lich klar war, wie die Kompetenzen zwischen den Partei­ zentralen in Rostov am Don und Moskau mit Blick auf die nationalen Gebiete geregelt waren, denn mindestens per sowjetischer Verfassung hatten die autonomen Gebiete (ebenso wie die autonomen Republiken) Anspruch auf direkte Beziehungen zum Moskauer Zentrum. Die Kreiszentrale in Rostov am Don repräsentierte die Moskauer Parteizentrale und hatte darauf zu achten, dass deren Beschlüsse umgesetzt wurden – doch stellte diese Behörde nicht die Macht selbst dar, war sie doch wiederum von den Anweisungen Moskaus abhängig. Entsprechend strebten auch die jeweiligen Gebietsvertreter immer nach mög­lichst direkten Kontakten zu

109 Hirsch, Empire of Nations, S. 62 – 98. 110 RGASPI, F. 74, Op. 2, D. 53 L. 40 – 40ob.

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Moskau, wobei sie die Rostover Zentrale eher als Hindernis denn als Fürsprecherin ihrer Interessen empfanden. Dass bei der Auflösung der Bergrepublik die Stadt Vladikavkaz einen eigenen administrativen Status erhielt, war nament­lich auf Spannungen zwischen Inguschen und Osseten zurückzuführen, die beide die Stadt jeweils für sich b­ eanspruchten und sich nicht auf eine Aufteilung einigen konnten. Etwas anders lagen die Dinge im Fall von Groznyj. Hier war es vor allem die große Bedeutung der bei G ­ roznyj gelegenen Erdölindustrie, die den Ausschlag gab, die Stadt nicht mit dem tsche­ tschenischen Gebiet zu vereinigen. Die Erdölindustrie G ­ roznyjs gehörte mit derjenigen bei Baku bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den bedeutendsten Erdöl­förderzentren der Sowjetunion. Zusammen waren die beiden Staatsunternehmen G ­ rozneftʼ (bis Mai 1922 „Zentrale Erdölverwaltung von Groznyj“) und Azneftʼ damals für über 90 Prozent der landesweiten Produktion verantwort­lich. Der Bürgerkrieg zog die Erdölproduktion bei Groznyj zwar stark in Mitleidenschaft, was bis März 1920 zu einem markanten Produktionsrückgang führte.111 Bereits in den frühen 1920er-Jahren gelang es der Führung des Unternehmens aber, die Produktion zu stabilisieren und bis Ende 1923 wieder auf den Stand von vor der Revolution anzuheben. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre erlebten G ­ roznyj und seine Industrie eine rasante Entwicklung. Produzierte das Unternehmen G ­ rozneftʼ, das damals rund 18.000 Arbeiter beschäftigte,112 Mitte der 1920er-Jahre 28 Prozent der gesamten nationalen Erdölproduktion, so wuchs dieser Anteil bis Ende der 1920er-Jahre auf 37 Prozent an. Azneftʼ war zu ­diesem Zeitpunkt sogar für 57 Prozent der Erdölproduktion verantwort­lich.113 Dieser industrielle Boom drückte sich auch in den Bevölkerungszahlen der Stadt aus: Lebten in der Stadt Groznyj 1897 gemäß Volkszählung gerade einmal 15.564 Einwohner,114 so waren es 1921 bereits 45.185 Personen.115 Bis 1927 wohnten gemäß Angaben der Geheimpolizei sogar 97.000 Personen in der Stadt, da­runter allerdings nur rund 2700 Tsche­tschenen.116 Bis 1930 sollte die Einwohnerzahl ­Groznyjs auf knapp 150.000 anwachsen, was dem Trend der rasanten Urbanisierung entsprach, ­welche

111 Z. A. Zachiraeva, Razvitie Groznenskogo neftenosnogo rajona v 1916 – 1921 godach, in: Ibragimov / Tiškov (Hg.), Čečenskaja Respublika, S. 288 – 292. 112 Die Zahl von 18.000 Arbeitern beruht auf einer Angabe für das Jahr 1922: Nosov-Bericht, 17. Mai 1922, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 435. 113 A. K. Sokolov, Sovetskij „Neftesindikat“ na vnutrennem i meždunarodnych rynkach v 1920-e gg., in: L. I. Borodkina (Hg.), Ėkonomičeskaja istorija. Obozrenie. Tom 10, Мoskva 2005, S. 101 – 131, hier S. 104. 114 Golovlëv, Ėtapy i faktory, S. 75 – 76. 115 GARF, F. A–259, Op. 14, D. 173, L. 181. Gemäß Angaben der Geheimpolizei sollen 1920 34.000 Personen in Groznyj gelebt haben: RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 41. 116 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 41.

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die Sowjetunion in dieser Zeitspanne erlebte.117 Hatte die Zahl von Tsche­tschenen, die zu ­diesem Zeitpunkt in Groznyj wohnten, in absoluten Zahlen zwar leicht zugenommen, so lag der Anteil der Tsche­tschenen, die gemäß der Volkszählung von 1926 in Städten wohnten, bei ledig­lich 2 Prozent und damit unter der Marke der Resultate der Volkszählung von 1897.118 Als Tsche­tschenien im November 1922 aus der Bergrepublik ausgegliedert wurde, war es die Führung von Grozneftʼ, die sich ener­gisch dafür einsetzte, dass nicht nur die Stadt und die umliegende Industrie, sondern auch die Gebiete, auf denen die Industriearbeiter lebten, sowie dasjenige Land, das als potenzielles Erdölförder­ gebiet galt, auch wenn darauf vorwiegend Tsche­tschenen siedelten, dem ­erweiterten Stadtgebiet angeschlossen wurden. Ziel war, Groznyj und seine Erdölindustrie als einheit­lichen Gesamtkomplex zu wahren – denn: „[D]iese Stadt lebt nur dank dem Öl und für das Öl; mit der Einstellung der Förderung von Öl wird auch ­Groznyj als Stadt zu existieren aufhören und sich in ein einfaches Dorf umwandeln“, wie dies der damalige Vizedirektor des Unternehmens in einem vom 5. Dezember 1922 datierten Schreiben an die administrative Kommission des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees ausdrückte.119 Die von Moskau für die Festlegung der Grenzen zwischen dem Bezirk Groznyj und dem Gebiet Tsche­tschenien zuständige Kommission sollte zwar nicht auf alle Forderungen des Unternehmens eingehen, doch auch Moskau erkannte die enorme Bedeutung der Erdölindustrie für den noch schwachen Staat und seine Wirtschaft und sprach sich im Grundsatz für die Errichtung eines erweiterten einheit­lichen Industriekomplexes mit dazugehörigem Land aus. Tsche­tschenien erhielt einige kleinere Unternehmungen zugesprochen (darunter eine Mühle, eine Gerberei, eine Molkerei, eine Maschinenfabrik, eine Alkoholproduktion und eine Ziegelei), doch es musste auch Landstücke abtreten.120 Das tsche­tschenische Revkom nahm zwar zur Kenntnis, dass der Erhalt eines einheit­lichen Industriekomplexes höher einzustufen war als ethnisch-nationale Partikularinteressen, doch ließ es sich Ėlʼdarchanov nicht nehmen, seinen Unmut über die Landabtretungen kundzutun, die eine Reihe tsche­tschenischer Sied­lungen dem Kompetenzbereich der Stadt unterstellten. Dabei wusste Ėlʼdarchanov, ­welche 117 GARF, F. A–259, Op. 14, D. 173, L. 181. Zum Wachstum der Städte zwischen 1926 und 1939 in der Sowjetunion allgemein: Chauncy H. Harris, The Cities of the Soviet Union, in: Geographical Review 35 (1945), H. 1, S. 107 – 121. 118 Belozërov, Ėtničeskaja karta, S. 59. 119 Das Schreiben ist publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 463 – 464, hier S. 463. 120 Dies geht aus einem Beschluss der Kommission des Allrussländischen Zentralen Exekutiv­komitees vom 28. Februar 1923 hervor, der sich mit Fragen der Festlegung der Grenzen zwischen der Stadt Groznyj und Tsche­tschenien und der Übergabe einiger Unternehmungen an Tsche­tschenien befasst. Das Dokument ist publiziert in: Ebd., S. 473.

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Äußerungen die größtmög­lichen Effekte erzielten. So drohte er in einem Schreiben an das Präsidium des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees vom 14. September 1923, dass „[d]er Tsche­tschene, der sich bereits an seine autonomen Rechte gewöhnt [habe], den administrativen Einfluss des grozispolkom [der Stadt­ regierung von Groznyj] nicht verstehen [würde]“ und darin „einen Angriff auf seine Rechte“ und den „Anfang eines kolonisatorischen Einflusses“ sehen könnte, was „un­­erwünschte Komplikationen nach sich ziehen [könnte]“.121 Wenn es Ėlʼdarchanov schon nicht gelingen konnte, die Landübergabe in ­diesem Umfang zu verhindern, so wollte er mindestens für sein Gebiet Kapital heraus­ schlagen. Er forderte Kompensationen im Gegenzug für die Landnahme und erinnerte daran, dass sich Grozneftʼ an die Abmachung zu halten habe, Tsche­tschenien weiterhin Dotationen im Umfang von 35.000 Rubel pro Monat zu überweisen, so wie dies am 7. Mai 1923 zwischen Vertretern von Grozneftʼ und der tsche­tschenischen Regierung beschlossen worden sei.122 Denn diese Mittel, so betonte Ėlʼdarchanov, würden für die Bekämpfung des Banditentums eingesetzt – womit er andeutete, dass die Überweisung d ­ ieses Geldes an Tsche­tschenien letzt­lich ureigenen Interessen und Bedürfnissen von Grozneftʼ entsprechen würde.123 In dieser Situation, in der bei diesen Land- und Verteilungskonflikten jede Seite mög­lichst große Stücke für sich herauszuschlagen suchte, dachte noch niemand an eine Vereinigung zwischen Stadt und Land. Im Gegenteil: Im Sommer 1923 wurde die tsche­tschenische Seite mit einer Resolution vorstellig, die Stadt Groznyj in zwei Hälften zu teilen. Die rechte Uferseite der Sunža, wo das tsche­tschenische Regierungsgebäude und andere tsche­tschenische Einrichtungen situiert waren, sollte als Gesamtes an Tsche­tschenien abgetreten, das linke Ufer dem Bezirk der Stadt ­Groznyj belassen werden.124 Dazu sollte es nicht kommen. In der Folge sahen die Beziehungen zwischen Groznyj und Tsche­tschenien zwar wiederholte Grenzverschiebungen, doch die Stadt und ihre Industrie blieben zunächst als eigene administrativ-territoriale Einheit losgelöst von Tsche­tschenien bestehen. Die Beziehung der Tsche­tschenen zur Stadt

121 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, Ll. 54 – 55ob, hier L. 54ob. 122 Am 7. Mai 1923 einigten sich Vertreter von Grozneftʼ und der tsche­tschenischen Regierung darauf, dass Tsche­tschenien von Grozneftʼ Dotationen in der Höhe von 35.000 Goldrubel pro Monat erhielt, die dem Umfang von 150.000 Pud (rund 2457 Tonnen) Erdöl bei einem Preis von 21,5 Kopeken pro Pud entsprachen. Ebenfalls einigten sich die beiden Seiten darauf, dass Tsche­tschenien die Mög­ lichkeit zugesprochen wurde, Erdölprodukte um 25 Prozent verbilligt zu beziehen. Im Gegenzug verpflichtete sich Tsche­tschenien, die Bewachung der Anlagen sicherzustellen. Für Schäden hatte das tsche­tschenische Revkom aufzukommen: GARF, F. R–1235, Op. 121, D. 119, Ll. 9 – 9ob; GARF, F. R–1318, Op. 1, D. 476, Ll. 88 – 88ob. 123 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 55ob. 124 RGASPI, F. 17, Op. 84, D. 538, L. 21.

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gestaltete sich aber weiterhin sehr schwierig, auch nicht zuletzt deshalb, weil die Leitung von Grozneftʼ kaum an den tsche­tschenischen Arbeitern interessiert war. Ihr erschienen diese Menschen für die Arbeit in der Industrie – ganz im Gegensatz zu den Zuzüglern aus dem Inneren Russlands und aus der Wolgaregion – gemeinhin wenig geeignet, wie dies auch der erste Direktor von Grozneftʼ, Iosif Vikentʼevič Kozior (1893 – 1937), unverblümt in einem Schreiben an das Präsidium von ­Gosplan vom Oktober 1922 zum Ausdruck brachte.125 Wiederholt wurde die Leitung des Erdölunternehmens bei der tsche­tschenischen Regierung mit Klagen vorstellig, dass tsche­tschenische Arbeiter Fabrikeigentum gestohlen hätten. Ėlʼdarchanov zeigte sich in solchen Fällen wenig kooperations­ bereit. Als sich die tsche­tschenische Regierung an einer Sitzung im November 1924 mit einem entsprechenden Vorwurf von Grozneftʼ befasste, behauptete Ėlʼdarchanov, dass dafür nicht Tsche­tschenen, sondern inguschische Arbeiter verantwort­lich zu machen wären.126 Ein Ausdruck der Abneigung, die den Tsche­tschenen vonseiten der städtischen Arbeiterschaft entgegengeschlagen haben muss, zeigte sich im Zuge der Entwaffnungsaktion im Spätsommer 1925, als gemäß Geheimpolizei-Angaben vonseiten der Grozneftʼ-Arbeiterschaft offenbar die Forderung erging, alle tsche­ tschenischen Arbeiter zu entlassen. Dabei arbeiteten zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal 300 Tsche­tschenen in der Erdölindustrie.127 Sicher waren es auch s­ olche Vorfälle, aber auch wiederholte Überfälle tsche­ tschenischer Banden auf das Unternehmen, die dazu führten, dass bewaffnete Kräfte der Geheimpolizei auch die Bewachung der Erdölanlagen übernahmen, für die gemäß der Übereinkunft vom 7. Mai 1923 bislang die tsche­tschenische Regierung verantwort­lich gewesen war, die dazu einheimische bewaffnete Sicherheitskräfte einsetzte.128 Und vielleicht war dies mit ein Grund dafür, dass sich die Leitung von Grozneftʼ danach nicht mehr an die Abmachung halten wollte, dem tsche­tschenischen Gebiet Dotationen zu leisten, die das Unternehmen auch früher nur mit großem Widerwillen ausgezahlt hatte. So warf der neue tsche­tschenische Regierungs­vorsitzende Daud Arsanukaev dem Unternehmen im Februar 1926 vor, dass ­dieses seit dem 1. Oktober 1925 keine Überweisungen mehr an das tsche­ tschenische Budget geleistet habe; er drohte, dass seine Regierung für den Fall,

125 Dieser Hinweis findet sich bei: A. A. Igolkin, Neftjanaja politika SSSR v 1928 – 1940-m godach, Moskva 2005, S. 86. 126 GARF, F. R–1235, Op. 102, D. 495, L. 100ob. 127 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1925, in: Kolodnikova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 3, Častʼ 2, S. 638. Mikojans Hinweis, dass damals bereits 800 Tsche­tschenen in den Fabriken bei Groznyj gearbeitet hätten, ist wohl als übertrieben anzusehen: Mikojan, Tak bylo, S. 230. 128 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1132, L. 7.

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dass die Zahlungen weiter ausbleiben würden, „Schulen, Spitäler und Kinder­ stätten“ schließen müsste.129 Erst nach der Intervention der Rostover Behörden willigte ­Grozneftʼ ein, sich an die früheren Abmachungen zu halten und weiterhin Zahlungen im gleichen Umfang zu tätigen.130 Die Parteispitzen von Groznyj und Tsche­tschenien trafen sich zwar regelmäßig zu gemeinsamen Sitzungen, um über Fragen zu diskutieren, die für beide Seiten von Belang waren. Insbesondere die städtischen Vertreter schienen aber an einer vertieften und ernsthaften Zusammenarbeit mit den Tsche­tschenen kaum Interesse zu haben und suchten die Probleme jeweils herunterzuspielen oder schlugen Scheinmaßnahmen vor, um die Situation zu verbessern. So taten etwa die Vertreter des Groznyj-Parteikomitees anläss­lich einer Sitzung mit den tsche­tschenischen Genossen im November 1927 die Tatsache, dass die Tsche­tschenen nicht in größerer Zahl in Groznyj leben würden, mit Hinweisen darauf ab, dass diese ohnehin nicht gerne in der Stadt leben würden, weil sie das Leben in der Stadt nicht gewohnt wären, höhere Steuern zahlen müssten und ihnen in der Stadt zudem das Tragen von Waffen nicht erlaubt wäre.131 Die Geheimpolizei unterstellte in ihren Berichten den städtischen Parteibehörden gar, dass bestimmte Maßnahmen, wie etwa die Ernennung eines Tsche­tschenen zum Stellvertreter der städtischen administrativen Abteilung, der Einschluss eines tsche­tschenischen Arbeiters in den „Bund der Bergleute“ oder die Aufnahme von 40 Tsche­tschenen in die städtische Polizei nur „Manöver“ darstellen würden, um tsche­tschenischen Forderungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.132 Auch die Maßnahmen, die beschlossen wurden, um den Anteil der Tsche­tschenen in der Industrie zu erhöhen, blieben weitgehend auf dem Papier bestehen. So einigten sich zwar die Parteispitzen auf einer gemeinsamen Sitzung 1926 auf einen Plan, um den Anteil der Tsche­tschenen im Unternehmen Grozneftʼ innerhalb von fünf Jahren auf 2000 Arbeiter zu erhöhen.133 Doch ­diesem Unterfangen war kein Erfolg beschieden: Beschäftigte das Unternehmen per 1. Oktober 1926 339 Tsche­tschenen, so wuchs diese Zahl innerhalb eines Jahres zwar auf 645 Personen an, fiel aber bis zum 1. Mai 1928 wieder auf 507 Personen zurück.134 Das städtische Parteibüro sah die Schuld dafür aber nicht bei sich, sondern führte den Rückgang auf Restrukturierungsmaßnahmen zurück, die Grozneftʼ im Zeitraum 1927/28 durchgeführt und dabei 3000 Arbeiter entlassen hatte. In ­diesem Sinn wertete das städtische Parteibüro die Tatsache, dass trotz dieser Massenentlassungen die Mehrheit der Tsche­tschenen 129 GARF, F. R–1235, Op. 121, D. 119, L. 30. 130 GARF, F. R–1235, Op. 121, D. 119, Ll. 2, 11. 131 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, Ll. 12 – 14. 132 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, L. 41. 133 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, L. 90. 134 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, L. 17.

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Abb. 19: Arbeiter der Brigade Demidov vor einem Ölfeld bei Groznyj, Tsche­tscheno-Inguschetien. Aufnahme von 1934.

ihren Arbeitsplatz behalten konnte, in einer schrift­lichen Stellungnahme sogar als Verdienst seiner Politik, die sich dem Druck der rus­sischen Arbeiter­schaft und der Unternehmensführung widersetzt und so eine Massen­entlassung von Tsche­tschenen verhindert habe.135 Die geringe Zahl tsche­tschenischer Arbeiter suchte der Bericht auch dadurch zu relativieren, indem er angab, es handle sich bei mehr als der Hälfte der 507 tsche­tschenischen Arbeiter um qualifizierte Kräfte, worunter auch ­solche fallen würden, die in den Genuss einer Ausbildung innerhalb des Unternehmens kämen.136 Auch das Ausmaß der ethnischen Spannungen spielte die städtische Parteileitung herunter, indem sie generell keine Probleme feststellen wollte, und wenn, dann nicht zwischen Russen und Tsche­tschenen, sondern zwischen Kosaken und Tsche­tschenen, wobei sie Probleme dieser Art nur in einer einzigen Fabrikeinheit orten wollte.137 Auslöser dafür, dass sich das städtische Parteibüro des Groznyj-Bezirks überhaupt zu einer ausführ­lichen Stellungnahme veranlasst sah, waren Vorwürfe, die vonseiten des Instruktors des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Georgij Markarovič Karib (eigent­lich Tovmasʼjan, 1896 – 1938),138 erhoben wurden. Karib, 135 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, Ll. 3 – 7, hier L. 5. 136 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, L. 5. 137 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, L. 6. 138 Spravočnik po istorii Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza 1898 – 1991, http://www.knowbysight.info/KKK/09160.asp [12.4.2013].

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Abb. 20: Bohrtürme des Unternehmens Grozneftʼ im Rajon Oktjabrʼskij der Stadt Groznyj, ­Tsche­tscheno-Inguschetien. Aufnahme von 1935.

ein gebürtiger Armenier, war verantwort­lich für eine großangelegte Untersuchung der nationalen Gebiete des Nordkaukasuskreises, die das Zentralkomitee am 7. Mai 1928 lancierte und die alle Bereiche der Sowjetisierung, von der wirtschaft­lichen und kulturellen Entwicklung und den Fortschritten der korenizacija bis hin zur S ­ i­­tuation innerhalb der Parteiorganisationen in den einzelnen autonomen ­Gebieten und zum Zustand der ört­lichen Sowjets, studieren sollte.139 In verschiedenen Stellung­nahmen und Berichten wies Karib immer wieder auch auf die schwierige ­Situation zwischen Groznyj und Tsche­tschenien hin. Dabei machte er wiederholt auch ex­­plizit die s­ tädtische Parteiorganisation verantwort­lich, der er „Großmachttendenzen“ vorwarf. Karib beklagte insbesondere auch die negative Berichterstattung in der ­rus­sisch­­­sprachigen Presse von Groznyj  – insbesondere im Groznenskij rabočyj – zu Tsche­tschenien, die oft weniger von Errungenschaften, sondern vielmehr von Überfällen und Verbrechen der Tsche­tschenen schreiben und so die Abneigung der Städter zusätz­lich anheizen würde.140 Karib machte nament­lich den Sekretär der städtischen Partei des Groznyj-Bezirks, Ljapin, für die gespannte Atmosphäre zwischen den Russen und Tsche­tschenen verantwort­lich. Er warf ­diesem vor, nichts 139 Die Resolution vom 7. Mai 1928 findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 620, Ll. 11 – 16. Der Hauptbericht, den Karib am 12. Juni 1929 vorlegte, ist enthalten in: GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, Ll. 86 – 59. 140 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, L. 58; RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, L. 5.

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für die Verbesserung der Situation tun zu wollen. Als der Instruktor aus Moskau ihn im direkten Gespräch aufforderte, ihn über die Entwicklungen hinsicht­lich der Einbeziehung von Tsche­tschenen in die Industrie von Groznyj zu informieren, soll sich Ljapin gemäß den Angaben Karibs sogar geweigert haben, überhaupt Stellung dazu zu nehmen, wobei er diesen in unfreund­licher Weise aufgefordert habe, diese Angaben doch beim Parteikomitee des Nordkaukasuskreises einzuholen, da er „nicht verpflichtet“ sei „jedem Beliebigen“ Bericht zu erstatten – ein Versäumnis, das er mit der erwähnten schrift­lichen Stellungnahme später nachholte.141 Wohl auch der Kritik von Karib und seinen Berichten ist es zuzuschreiben, dass das Kreisbüro in Rostov am Don sich einschaltete und Grozneftʼ in einer Resolution vom 22. Mai 1928 aufforderte, sich an die frühere Direktive zu halten und den Prozentsatz tsche­tschenischer Arbeiter schrittweise zu erhöhen.142 Darauf verabschiedete Grozneftʼ einen neuen Fünfjahresplan, der vorsah, den Anteil der Tsche­tschenen bis 1933 auf 10 Prozent oder um 1306 Personen zu erhöhen.143 Doch die Situation blieb auch in den folgenden Jahren schwierig, und daran sollte auch die Ende der 1920er Jahre erfolgte Vereinigung der Stadt Groznyj mit dem tsche­ tschenischen Gebiet wenig ändern.

8. 5  K a m pf u m R ä u me West­liche Historiker haben den vielfachen administrativ-territorialen Neu- und Umordnungen im Nordkaukasus, aber auch in anderen Regionen der Sowjetunion, bisher wenig Beachtung geschenkt. In einem Land, in dem die Macht bei der Partei­ organisation und nicht bei den staat­lichen Institutionen lag, schrieben sie internen Grenzverschiebungen, den Beziehungen unter staat­lich-administrativen Gebiets­ einheiten oder Statusänderungen wenig Bedeutung zu; und wenn, dann sahen sie in den wiederholten administrativ-territorialen Re-Konfigurationen die lange Hand Moskaus, die einer vermeint­lichen „Teile und Herrsche“-Politik folgend Eingriffe vorgenommen habe, ohne jeweils auf die ört­lichen Befind­lichkeiten Rücksicht zu nehmen. Moskaus Rolle war in Fragen der administrativ-territorialen Ordnung am Schluss zwar immer entscheidend, doch auf ört­liche Befind­lichkeiten, gerade in ­nicht­­­­­­rus­sischen und ethnisch durchmischten Grenzgebieten, hatte auch die sowje­ tische Führung Rücksicht zu nehmen. Denn im Sinne politischer Stabilität war auch

141 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 473. Ll. 1 – 3. 142 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, Ll. 96 – 98, hier L. 98. 143 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, L. 89.

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Moskau letzt­lich daran interessiert, über die administrativ-territorialen Formen optimale Gefäße für die Verwirk­lichung ihrer Modernisierungs- und Umgestaltungsvorstellungen zu finden. Die häufigen administrativ-territorialen Veränderungen im Nordkaukasus reflektierten aus der Sicht Moskaus im Grunde genommen nur die Suche nach Modellen der Vereinbarkeit ört­licher nationaler Interessen mit gesamtstaat­lichen Zielsetzungen.144 Nachdem zu Beginn der 1920er-Jahre über die administrativen Grenz­ziehungen im Nordkaukasus die jeweiligen ethnischen Partikularinteressen bedient werden sollten, um so Stabilität in einer noch immer als unruhig angesehenen Region zu erreichen, verschoben sich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die Prio­ ritäten, indem ­solche Veränderungen nun auch vermehrt wirtschaft­liche und gesamtgesellschaft­liche Aspekte einbeziehen sollten. Die räum­liche Zer­stückelung Anfang der 1920er-Jahre sollte im Zuge einer neuen, nach wirtschaft­lichen Kriterien folgenden Raumeinteilung revidiert werden. Kleinste Territorial­einheiten wie Gouvernements (gubernija, ein Status, den ursprüng­lich die Stadt G ­ roznyj hatte), autonome Bezirke (sing. avtonomnyj okrug, wie etwa derjenige der Kosaken an der Sunža) oder Rajons, die außerhalb eines Gebiets lagen (zum Beispiel der Batalpašinskij-Rajon zwischen der Karatschaj und Tscherkessien), sollten verschwinden und in größeren autonomen Gebieten oder autonomen ­Republiken aufgehen, die dann als wirtschaft­liche Einheiten funktionieren konnten. Das ­rus­sische beziehungsweise slawische Element sollte dabei die Rolle eines Entwicklungsmotors spielen.145 Im Zuge dieser territorialen Neuorganisationen ging der Anteil der jeweiligen Titularnationen prozentual gesehen zwar zurück,146 doch wäre es falsch, deswegen von einer Umkehr der korenizacija zu sprechen. Nach wie vor blieb die Förderung von Angehörigen der Titularnationen ein erklärtes Ziel der sowjetischen Politik. In der Praxis stellte sich die administrative Neuordnung des Raums in der nordkauka­sischen Vielvölkerregion auch deshalb äußerst komplex dar, weil die Betroffenen diesen Veränderungen eine enorme Bedeutung zuschrieben. Gerade im Fall der Vereinigung länd­licher und unterentwickelter Regionen mit entwickelten städtischen Gebieten hatten Grenzverschiebungen nicht nur eine symbo­lische, sondern auch eine reale machtpolitische und wirtschaft­liche Bedeutung. Dadurch vergrößerten sich auf einen Schlag nicht nur das Budget, sondern auch die Entwicklungsmög­lichkeiten eines Gebiets schlechthin. Auch die lokalen Eliten selbst hatten daran ein Interesse, erweiterte sich dadurch doch 144 Siehe zu den Veränderungen der administrativ-territorialen Gliederung des Kaukasus in den 1920er Jahren auch Karten 6, 7 und 8 in ­diesem Buch. 145 Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 10. 146 Angaben zu den prozentualen Verschiebungen finden sich in: Cuciev, Atlas, S. 73.

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nicht nur ihr Zugang zu Ressourcen und damit auch ihre eigene Machtbasis, es eröffneten sich allenfalls auch neue Karriereperspektiven. Insbesondere konnte die Vergrößerung eines Territoriums und seiner Bevölkerungszahl auch eine Statusänderung nach sich ziehen. Ein bevölkerungsreiches autonomes Gebiet hatte eher die Chance, zu einer autonomen Republik aufgewertet zu werden. Über die reine Symbolkraft eines solchen Akts hinaus konnte dies wiederum eine sehr konkrete politische und wirtschaft­liche Bedeutung haben. Die Statusaufwertung ermög­lichte den jeweiligen Eliten einen direkteren Zugang zu den Zentren der Macht in Moskau und damit auch größere Mitsprachemög­lichkeiten bei der Allokation von Ressourcen. Die ört­lichen Führungseliten und Vertreter der jeweiligen Volksgruppen waren sich dieser Tatsachen sehr wohl bewusst. Die gesamten 1920er-Jahre beschreiben im Nordkaukasus eine Zeit, in der jede Seite gegenüber den übergeordneten Instanzen ihre Interessen durchzusetzen suchte, dabei jeweils auf historisches Unrecht während der Zarenzeit verwies und im Rahmen der neuen Nationalitätenpolitik nun eine Wiedergutmachung forderte. Gerade weil im ethnisch durchmischten Nord­ kaukasus die Ansprüche der einzelnen Völkerschaften oft diametral entgegengesetzt waren, gestalteten sich auch Eingriffe in die administrativ-territoriale Konfiguration jeweils als sehr heikel. Solche Eingriffe konnten dabei manchmal eine Tragweite haben, die zum Zeitpunkt eines bestimmten Entscheids noch kaum absehbar war. Dies zeigt das Beispiel der Vereinigung von Groznyj und Tsche­tschenien, wird aber noch mehr im Fall von Vladikavkaz deut­lich, der sich nicht zuletzt deshalb als ungleich komplexer darstellte, weil hier die Interessen von drei Parteien involviert waren: die Interessen der mehrheit­lich rus­sischen Städter, der Osseten und der Inguschen. Die Motive, die diese Vereinigungen antrieben, waren zwar ähn­lich; die Entscheidungsprozesse und die Reaktionen aber sehr verschieden. Die Vereinigung von Groznyj und Tsche­tschenien zeichnete sich spätestens ab dem Zeitpunkt ab, als Karib das Moskauer Zentralkomitee über die unmög­lichen Zustände im Verhältnis zwischen der städtischen und der tsche­tschenischen Partei­ organisationen und über die Probleme bei der Heranziehung von Tsche­tschenen in die Industrie unterrichtete. Die Federführung im Vereinigungsprozess übernahm das nordkauka­sische Kreiskomitee der Partei in Rostov am Don. Wohl auf dessen An­­weisung entschied das vereinigte Plenum des tsche­tschenischen und des Groznyj-­ Parteikomitees Anfang September 1928, vorbereitende Maßnahmen hinsicht­lich einer Vereinigung zu treffen.147 Auf ihrer Sitzung vom 12. Oktober fasste die Partei­führung des Nordkaukasus-Kreises den formellen Beschluss, G ­ roznyj mit Tsche­tschenien zu vereinigen, und begründete dies mit der Notwendigkeit, die „­kulturell-politische und

147 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 463, L. 2.

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wirtschaft­liche Entwicklung“ Tsche­tscheniens voran­zutreiben.148 Mit exakt derselben Begründung fasste dasselbe Führungsgremium auf seiner Sitzung am nächsten Tag noch einen Entscheid: die Vereinigung der Stadt Vladikavkaz mit Nordossetien.149 Im Fall von Groznyj fielen die Reaktionen unter den Tsche­tschenen und ­Russen erwartungsgemäß sehr unterschied­lich aus. Wie aus einer damaligen Ein­schätzung der Geheimpolizei hervorgeht, soll die tsche­tschenische Führungselite die Ver­ einigung bejubelt haben, die Russen der Stadt Groznyj dagegen waren zurückhaltend. Unter der rus­sischen Arbeiterschaft und Intelligenzija sollen Befürchtung einer zu­­nehmenden „Tsche­tschenisierung“ der Industrie ebenso zirkuliert haben wie die Angst vor steigender Arbeitslosigkeit. Dabei befürchteten viele eine Verschlechterung der allgemeinen Situation in der Stadt, die ihrer Meinung nach dann entstehen konnte, wenn wichtige Führungsfunktionen an unerfahrene Tsche­tschenen übergingen. Die tsche­tschenischen Bauern, wenn sie von den Vorgängen überhaupt Kenntnis hatten, sollen der Vereinigung gemäß Berichten der Geheimpolizei ebenfalls positiv gegenübergestanden haben. Sie erhofften sich davon Steuersenkungen und sahen in der Vereinigung ein ­­Zeichen, dass „den Tsche­tschenen nun end­lich Beachtung“ geschenkt werde.150 Ganz im Gegensatz zur vorangekündigten Absicht, Tsche­tschenien mit ­Groznyj zu vereinigen, fällte die Rostover Parteispitze den Entscheid zur Eingliederung von Vladikavkaz in Nordossetien offenbar gänz­lich ohne vorherige Abstimmung mit den ört­lichen Parteigremien. Zeigten sich die Osseten positiv überrascht, so löste der Entscheid bei den Inguschen einen Sturm der Entrüstung aus. Bereits am 16. Oktober 1928 verfasste das unter der Leitung von Idris Bejsultanovič ­Zjazikov (1896 – 1938) stehende inguschische Parteibüro eine Resolution, die aufs Schärfste gegen diesen Entscheid protestierte. Dabei orteten die Inguschen das Haupt­problem des Entscheids darin, dass dem inguschischen Gebiet damit nicht nur das einzige wirtschaft­liche und kulturelle Zentrum weggenommen wurde, sondern dass ihnen auch keine Perspektiven für die weitere Entwicklung aufgezeigt wurden. Die Inguschen suchten gleichzeitig den Anspruch Inguschetiens auf Vladikavkaz noch dadurch zu untermauern, indem sie ausführten, das Gebiet weise im kulturellen Bereich ein engeres Verhältnis zu Vladikavkaz auf als Nord­ossetien. Die Tatsache, dass damals mehr Osseten als Inguschen in der Stadt lebten, ließen sie nicht gelten, weil dies als Resultat des Bürgerkriegs zustande gekommen sei, in dessen Verlauf

148 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 671, L. 174. Dazu ebenfalls: Bugaj u. a., Nacionalʼno-gosudarstvennoe stroitelʼstvo, S. 228 – 229. 149 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 671, Ll. 176 – 177. 150 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 462, L. 12. Zu den Reaktionen ebenfalls: OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 538.

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„die Allianz der kosakisch-ossetischen weißen Garde“ die Inguschen aus der Stadt vertrieben und deren Wirtschaft zerstört habe. Schließ­lich schrieben sie in das Dokument noch die unverblümte Drohung hinein, dass der Zeitpunkt ­dieses Entscheids auch deshalb ungünstig sei, weil dies im Lichte von „nationalen Streitigkeiten zwischen Osseten und Inguschen“ den „antisowjetischen Kräften“ Vorschub leisten und die nationalen Beziehungen verschlechtern könnte. Um sicherzugehen, dass ihr Protest die Verantwort­lichen in Moskau auch erreichte, beauftragte das Büro den Vorsitzenden des inguschischen ispolkom, Ali Isaevič Gorčchanov (1898 – 1954), die Resolution dem Zentralkomitee in Moskau direkt zuzustellen. Gleichzeitig sollte an Stalin persön­lich ein Telegramm geschickt werden, um „gegen den Entscheid des Kreisbüros“ zu protestieren.151 Noch bevor die Empörung der Inguschen Moskau erreicht hatte, lag den Mit­ gliedern des Politbüros das vom 13. Oktober 1928 datierte Telegramm des Sekretärs des Parteikomitees des Nordkaukasuskreises, Andrej Andreevič Andreev (1895 – 1971), vor, in dem ihnen dieser die Vereinigung von Vladikavkaz und Nord­ ossetien sowie von Groznyj und Tsche­tschenien empfahl. Abgesehen von Molotov, der auf dem Dokument die Anmerkung anbrachte, diese Fragen im Rahmen des Orgbüros zu behandeln, brachten alle ihre Zustimmung zum Ausdruck. Nur der Ukrainer Valerian Vladimirovič Kujbyšev (1888 – 1935) kritzelte den Hinweis auf das Telegramm, dass ihm die Vereinigung von Groznyj und Tsche­tschenien „nicht zweckmäßig“ erscheine. Zur Frage von Vladikavkaz ist keine Stellungnahme der Politbüromitglieder dokumentiert.152 Als das Orgbüro dem Antrag Molotovs folgend am 22. Oktober zusammentrat, lag ihm der Protest der Inguschen vor, der seine Mitglieder dazu gebracht haben muss, diese Frage nochmals zu überdenken. Dem Antrag des Orgbüros folgend entschied das Zentral­komitee am 25. Oktober, nur der Vereinigung Tsche­tscheniens mit ­Groznyj zuzustimmen, die Frage der Eingliederung von Vladikavkaz in das nord­ossetische Gebiet aber zur Begutachtung an die staat­lichen Behörden und danach zur Sanktio­ nierung an das Orgbüro zu übergeben. Dafür setzte Stalin eine zweiwöchige Frist.153 Am 1. April 1929 beschloss das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee schließ­ lich die Vereinigung zwischen dem Bezirk Groznyj und dem Tsche­tschenischen Autonomen Gebiet, dem auch der Kosakenbezirk der Sunža (Sunženskij kazačij okrug) ­zugeschlagen wurde.154 Dagegen sollte sich die Ver­einigung von Nordossetien und

151 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 671, Ll. 178 – 179. 152 RGASPI, F. 585, Op. 11, D. 63, L. 43. 153 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 671, Ll. 172 – 173; RGASPI, F. 17, Op. 3, D. 710, Punkt 1. 154 Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 614 (Anmerkung 110); E. I. Kobzeva, Kratkaja istoričeskaja spravka ob administrativno-territorialʼnom delenii čečeno-ingušskoj ASSR 1785 – 1946 gg., Groznyj 1957, S. 9, 12; auch online unter: http://akka.ru/?type=info&cat=12&subcat=111 [25.2.2013].

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Vladikavkaz verzögern. Denn in der Zwischenzeit liefen die Entwicklungen in d­ iesem Teil des Nordkaukasus Gefahr, völlig außer Kontrolle zu geraten. Die Geheimpolizei rapportierte, dass die Nachricht des Entscheids des Kreisbüros sich sehr schnell über die Parteigrenzen hinaus verbreitet hätte. Die Osseten feierten den Entscheid als Triumph und ­­Zeichen dafür, dass Moskau end­lich etwas gegen die von Kosaken getragene „Russifizierung“ Ossetiens tun würde. Unter der natio­nalen ­Intelligenzija soll der Entscheid Hoffnungen geweckt haben auf die Vereinigung der Osseten von Mozdok und im Südkaukasus im Rahmen eines künftigen „Groß­ ossetiens“, das dann mit 300.000 Einwohnern zu einem Gebiet von statt­licher Größe heran­gewachsen wäre, dessen Interessen nicht mehr einfach übergangen werden könnten. Auch meldete die Geheimpolizei in einem ihrer Berichte, dass sich Stimmen ver­ nehmen ließen, die vorschlugen, Vladikavkaz in „Iran“ umzubenennen, um damit der iranischen Abstammung der Osseten Rechnung zu tragen.155 Gleichzeitig berichtete die Geheimpolizei von einer abschätzigen Haltung der Osseten gegenüber den Inguschen, die jenen als kulturell minderwertig gelten würden, aber auch von der Angst, die sich unter den Osseten wegen eines mög­lichen Konflikts mit den Inguschen verbreite.156 Solche Ängste waren durchaus gerechtfertigt. Während Vertreter der i­ nguschischen Führungselite offen damit drohten, ihr Recht notfalls mit Waffengewalt ein­­­­zu­ fordern,157 entluden sich auf den Straßen von Vladikavkaz die ethnischen Spannungen in Schlägereien zwischen Osseten und Inguschen.158 Die rus­sisch-stämmigen Bewohner der Stadt beobachteten die Entwicklungen mit Sorge. Der Einschätzung der Geheimpolizei zufolge waren sie in der Mehrheit gegen eine Vereinigung. Wie schon im Fall der Russen von Groznyj bangten sie um ihre Arbeitsplätze. Sie befürchteten eine „Ossetisierung“ der Stadt und verbanden damit die Sorge, in ­diesem Fall gezwungen zu sein, Ossetisch lernen zu müssen. Dabei ging die Geheimpolizei davon aus, dass in einem künftigen inguschisch-ossetischen Konflikt die Mehrheit der rus­sischen Bevölkerung mit den Inguschen sympathisieren würde.159 Die Geheimpolizei zeichnete in ihren Berichten ein Bild, das den Verantwort­ lichen in Moskau Sorge bereitet haben muss. Vielleicht waren es ­solche und ähn­ liche Einschätzungen, die schließ­lich die Mitglieder des Präsidiums des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees an dessen Sitzung vom 3. Dezember 1928

155 Die ossetische Sprache gehört zu den iranischen Sprachen. Siehe zur ethnisch-linguistischen ­Si­tuation des Kaukasus auch Karte 2 in ­diesem Buch. 156 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 462, Ll. 3 – 4. Zu den Reaktionen von Osseten, der Städter von ­Vladikavkaz und Inguschen, siehe außerdem den OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 535 – 537. 157 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 462, L. 7. 158 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 462, L. 28. 159 RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 462, L. 9 – 10.

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zur Stellungnahme bewogen, den Beschluss des Nordkaukasus-Kreiskomitees und des Politbüros nicht zu unterstützen. Das ist insofern bemerkenswert, weil damit deut­lich wird, dass ­dieses nominell höchste staat­liche Regierungsgremium die Beschlüsse der Parteispitze offenbar nicht immer automatisch nachzuvollziehen gewillt war. Als Begründung gab das Präsidium an, dass es ­dieses Projekt „unter den gegebenen Bedingungen, sowohl mit Blick auf die Regelung der nationalen Beziehungen als auch der weiteren kulturellen und wirtschaft­lichen Entwicklung des Inguschischen Autonomen Gebiets“, nicht für „zweckmäßig“ halten würde. Darauf gab das Präsidium den Fall wie vorgesehen an das Orgbüro zurück.160 Zwei Wochen später entschied ­das Orgbüro, die „Frage von Vladikavkaz von der Tagesordnung“ zu nehmen. Gleichzeitig erteilte dieses Gremium den Genossen in Rostov am Don den Auftrag, „die Frage der Vereinigung des tsche­tschenischen Gebiets und Inguschetiens“ auszuarbeiten.161 Damit versuchten sie wiedergutzumachen, was bisher versäumt worden war: eine Lösung für Inguschetien im Fall einer Vereinigung zwischen Nord­ossetien und Vladikavkaz zu finden. Die einzige mög­liche Alternative bestand darin, die Inguschen für eine Umorientierung Richtung Groznyj – und damit Richtung Tsche­ tschenien – zu gewinnen. Der ganze Prozess sollte allerdings noch mehrere Jahre dauern. Erst im Juli 1933 wurde Vladikavkaz, das zu Ehren von Sergo Ordžonikidze noch 1931 in „Ordžonikidze“ umbenannt worden war, schließ­lich mit Nordossetien vereinigt. Am 15. Januar 1934 wurde Inguschetien mit Tsche­tschenien per Beschluss des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees zum Tsche­tscheno-Inguschischen Autonomen Gebiet (Čečeno-Ingušskaja Avtonomnaja Oblast’) zusammengefasst. Am 5. Dezember 1936 wurde dessen Status zu dem­jenigen einer autonomen Republik (ASSR) innerhalb der RSFSR aufgewertet.162 Bereits früher ließen sich zwischen Inguschetien und Tsche­tschenien Ver­ einigungsbestrebungen ausmachen. Diese scheinen aber nie hauptsäch­lich von einem gemeinsamen ethnischen Bewusstsein oder einer sprach­lichen Verbundenheit angetrieben worden zu sein, sondern resultierten aus dem politischen I­ nteresse, dass im Fall einer Vereinigung das Gebiet größere politische Unabhängigkeit erlangen würde und sich damit auch die Chancen auf die Eingliederung der Städte G ­ roznyj und Vladikavkaz erhöhen würden. Gleichzeitig wäre es einem vereinigten tsche­tscheno-inguschischen

160 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 686, L. 140. 161 RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 686, L. 138. 162 Der Beschluss des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees vom 15. Januar 1934 ist pub­ liziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 623. Der Beschluss zur Aufwertung zur Republik vom 5. Dezember 1936 ist enthalten in: Ebd., S. 1006 (Anmerkung 63). Dazu auch: Kobzeva, Spravka, S. 13 – 18. Siehe zur administrativ-territorialen Situation des Kaukasus in den 1930er Jahren auch Karten 9 und 10 in ­diesem Buch.

Tschetschenien Ende der 1920er Jahre

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Gebiet auch eher mög­lich, unter Umgehung der Partei­zentrale in Rostov am Don direkte Kontakte zu Moskau herzustellen, um so seine Interessen vertreten zu können.163 Nach der Vereinigung von Tsche­tschenien mit Groznyj und dem verlorenen Kampf der Inguschen um Vladikavkaz änderte sich insbesondere die Haltung der Inguschen: Sie sahen sich in ihren Interessen letzt­lich übergangen und gingen die Verbindung mit Tsche­tschenien mit wenig Enthusiasmus ein.164 Die Tsche­tschenen standen der Vereinigung zwar offen gegenüber, doch sie schienen Ende der 1920er-Jahre noch mehr Interesse an einer Vereinigung mit dem kornreichen Chasavjurt-Bezirk in Dagestan gehabt zu haben. Im Bezirk Chasavjurt siedelte in Grenznähe zum tsche­tschenischen Gebiet eine große tsche­tschenische Minderheit (fünf Aule mit rund 17.000 Menschen). Wiederholt kam es aufgrund tsche­tschenischer Ansprüche in den 1920er-Jahren gerade in ­diesem Grenzgebiet zu gewaltsamen Konflikten und Kleinkriegen, die das Verhältnis zwischen Tsche­tschenien und Dagestan stark belasteten.165 Eine Einverleibung des Bezirks Chasavjurt wäre für Tsche­tschenien nicht nur wirtschaft­lich interessant gewesen, sondern auch territorialen Ansprüchen der Tsche­tschenen im Grenz­konflikt mit Dagestan entgegengekommen.

8.6  Ts che ­t s che n ie n E nd e d e r 1920 e r Ja h r e Die Vereinigung von Groznyj und Tsche­tschenien verlief zwar weit weniger emotional und baute kein solches Gewaltpotenzial auf wie im Fall von Vladikavkaz. Dennoch stellte sich schon bald Ernüchterung ein. Das Projekt lieferte nicht die gewünschten Resultate. Rein statistisch gesehen sollte der Anteil der Tsche­tschenen im Unternehmen Grozneftʼ nach der Union zwar tatsäch­lich etwas ansteigen, doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diejenigen Tsche­tschenen, die bei ­Grozneftʼ beschäftigt waren, oft gar nicht in der Produktion, sondern als „Kuriere, für Bewachungsaufgaben oder als Teeträger“ eingesetzt wurden, wie dies etwa Semёn Markovič Dimanštejn (1886 – 1938), ein bekannter Revolutionär und Kommunist, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1930 feststellt.166 163 Dies geht aus dem Schreiben des Vorstehers der OGPU-Informationsabteilung an das ZK der Partei über die politisch-wirtschaft­liche Situation in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus hervor. Der Bericht wurde nicht vor dem 13. April 1928 verfasst und ist enthalten in: RGASPI, F. 17, Op. 67, D. 460, Ll. 32 – 59. 164 GARF, F. R–1235, Op. 141, D. 220, Ll. 1 – 10. 165 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 538; OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Mai 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 256. 166 S. M. Dimanštejn, Socialističeskoe stroitelʼstvo i nacionalʼnaja politika partii, in: Revoljucija i nacionalʼnosti (1930) H. 6, S. 3 – 12, hier S. 8.

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Als Dimanštejn seinen Aufsatz publizierte, arbeiteten gerade einmal 773 Tsche­ tschenen bei Grozneftʼ und tatsäch­lich nahmen nur wenige von ihnen zu d­ iesem Zeitpunkt Kaderpositionen ein.167 Auch ließ sich das Phänomen beobachten, dass viele Tsche­tschenen ihren Arbeitsplatz, kurz nachdem sie angestellt worden waren, wieder verließen. Dies galt nicht nur für Grozneftʼ, sondern gemeinhin für Fabriken im Nordkaukasus. In den 32 Betrieben, die im Auftrag des Nord­ kaukasus-Kreiszentrums untersucht wurden, verließen von 903 „Nationalen“ (wie die Bolschewiki die Angehörigen der jeweiligen nichtrus­sischen Titular­ nationen in ihren Berichten nannten), die im Zuge einer 1929/30 durchgeführten Kampagne zur verstärkten Einbeziehung von Nichtrussen eingestellt worden waren, 536 Personen oder knapp 60 Prozent ihren Arbeitsplatz bis Anfang 1931 wieder.168 Gründe dafür konnten S ­ pannungen unter der Arbeiterschaft gewesen sein, aber auch mangelnde Anstrengungen vonseiten der Unternehmensführung, Angehörige nordkauka­sischer Völker in den Betrieb zu integrieren und an das Fabrikleben zu gewöhnen. Gleichfalls blieben trotz Vereinigung die Beziehungen zwischen den Russen und Tsche­tschenen auch innerhalb der Partei an­­ gespannt und nur verhältnismäßig wenige Tsche­tschenen wurden ins Parteiaktiv der Stadt aufgenommen. Auch in den folgenden Jahren sollte es den Bolschewiki somit nur ansatzweise gelingen, ein städtisches Arbeiterproletariat aus Angehörigen nichtrus­sischer Nordkaukasusvölker herauszubilden. In Tsche­tschenien scheiterte ­dieses Experiment sogar kläg­lich. Die Arbeiterzahlen wuchsen nur bescheiden und der Anteil tsche­ tschenischer Kräfte blieb auch noch bis weit in die 1930-Jahre sehr gering. Als Kontrast zur Situation von Grozneftʼ mögen die Entwicklungen bei Azneftʼ dienen: Hier gelang es, den Anteil der aserbaidschanischen Arbeiter gegenüber dem Anteil der rus­sischen Arbeiter bis Ende der 1920er-Jahre auf rund 30 Prozent zu erhöhen. Allerdings waren die Voraussetzungen in der Erdölindustrie von Baku von Beginn weg anders als in derjenigen von Groznyj. Arbeiteten vor der Revolution kaum Tsche­tschenen in der Groznyj-Erdölindustrie, so machte in Baku der Anteil türkisch-­stämmiger Arbeiter (wie die Aserbaidschaner vor der Revolution genannt wurden) bereits damals rund 9 Prozent aus.169 Die Aussage eines tsche­tschenischen Historikers, dass in Tsche­tschenien in den 1920er- und 1930er-Jahren nicht nur die „Ziele der Industrialisierung“ erreicht worden wären, sondern sich in ­diesem Zeitraum auch eine „zahlreiche und multi­nationale Arbeiterklasse“ formiert hätte, entspricht somit s­ ch­licht nicht

167 Igolkin, Neftjanaja politika, S. 87. 168 RGASPI, F. 17, Op. 114, D. 245, Ll. 59 – 60. 169 Igolkin, Neftjanaja politika, S. 83.

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den Tatsachen.170 Die Vorstellung, dass Städte wie Groznyj die „Basis für die Herausbildung eines Kaders von Proletariern und gesellschaftspolitischen Arbeitern“ darstellen sollten, von denen die Umgestaltung des gesamten natio­nalen Gebiets ausgehen sollte, wie dies Karib einmal äußerte, ließ sich vorerst nicht r­ ealisieren.171 Die Stadt Groznyj blieb für die große Mehrheit der Tsche­tschenen nach wie vor fremd und als die tsche­tschenische Gebietsregierung 1930 den Antrag stellte, ­Groznyj in „Nočchi“ umzubenennen, kann dies durchaus auch als Versuch gelesen werden, diese Fremdheit zu überwinden. Formell begründeten die Tsche­tschenen den Wunsch nach einer Namensänderung damit, dass die Bezeichnung „Groznyj“ bei vielen negative Assoziationen mit der zaristischen Eroberung auslösen würde. Von der Rostover Parteizentrale wurde ­dieses Begehren unterstützt, von Moskau allerdings abgelehnt.172 Nicht nur sahen sich die Bolschewiki großen Problemen bei der Herausbildung eines tsche­tschenischen Proletariats in den Städten gegenübergestellt, auch das Land war ihrem Zugriff bis zu ­diesem Zeitpunkt weitgehend entzogen. Und so war es aus der Perspektive der Bolschewiki eigent­lich nur folgerichtig, dass sie Ende der 1920er-Jahre im Rahmen ihrer Kollektivierungskampagne zum Großangriff auf das Land ansetzten, um ihre sozialistischen Umgestaltungsziele zu verwirk­ lichen. Anders als alle bisherigen Versuche des Staates, die Gesellschaft im Sinne ihrer sozialistischen Vorstellungen zu mobilisieren, setzten die Bolschewiki beim Experiment der Kollektivierung erstmals auf massive Gewalt. Die Folge war ein Flächenbrand, der große Teile des Nordkaukasus ins Chaos stürzen sollte. Dabei sollte das Experiment der Kollektivierung in Tsche­tschenien und anderen natio­nalen Gebieten des Nordkaukasus jedoch erneut weitgehend scheitern.

170 T. U. Ėlʼbuzdukaeva, Promyšlennoe razvitie Čečni v 20 – 30-e gody XX veka, in: Ibragimov / Tiškov (Hg.), Čečenskaja Respublika, S. 295 – 300, hier S. 299. 171 GARF, F. R–1235, Op. 140, D. 1149, L. 58. 172 GARF, F. R–1235, Op. 75, D. 190, Ll. 1 – 5, 10 – 11, 20 – 21.

9.  KO L L E K T I V I E RU N G U N D R E B E L L I O N E N Mitte November 1929 beschloss die bolschewistische Führung die „vollständige Kollektivierung“ (sploščnaja kollektivizacija). Damit startete der Staat einen Frontal­angriff auf die bäuer­liche Wirtschafts- und Lebensweise des ganzen Landes. Das Dorf in seiner ursprüng­lichen Form sollte abgeschafft werden. Die Dorfversammlungen mit ihren Ältestenräten, die über die Fragen des sozialen und politischen Lebens, über die Landverteilung und die Bewirtschaftung der Böden entschieden, wurden verboten. Nur die Dorfsowjets waren fortan noch erlaubt. Aus Bauern sollten Proletarier werden, die in Massen zur Arbeit in kollektiv geführten Landwirtschafts­betrieben, den Kolchosen, herangezogen werden sollten. Mittels dieser Maß­nahmen versprach sich der Staat direkten Zugang zur Bevölkerung, die herausgelöst aus ihrer gewohnten Umgebung mit den Ideen des Sozialismus vertraut gemacht werden sollte. Über die Errichtung von Kolchosen sollte aber auch eine effizientere Kontrolle der landwirtschaft­lichen Produktion erreicht werden. Die Steigerung der Erträge war aus Sicht der Bolschewiki deshalb überlebensnotwendig, weil sie mit Getreideexporten die Industrialisierung finanzierten. Die landwirtschaft­liche Produktion musste so rasch wie mög­lich vorangetrieben werden, wollte das Land den Anschluss an das sich modernisierende Europa nicht verlieren. Bereits im Mai 1929 verabschiedete der Volksdeputiertenkongress den ersten Fünfjahresplan, der äußerst ehrgeizige Wachstumsziele vorsah. Um den „großen Umbruch“ zu er­­reichen, den Stalin in einem Pravda-Artikel am 7. November 1929 ankündigte, war ein end­gültiger „Sieg an der Getreidefront“ Voraussetzung.1 Mit Beginn der Kollektivierungskampagne stürzte das Land ins Chaos. Die Bolschewiki hatten keine genaue Vorstellung davon, wie die Maßnahmen umzusetzen waren, und befassten sich auch nicht mit den mög­lichen Konsequenzen der Kampagne. Zeit für Detailanalysen gaben sie sich nicht und sie hielten es auch nicht für nötig, sich mit ört­lichen Besonderheiten auseinanderzusetzen. Sie begriffen das Land und seine Bevölkerung als Ressourcenpotenzial, das es auszuschöpfen galt. Die länd­liche Welt und Kultur verabscheuten sie, da diese in ihren Augen Rückständigkeit schlechthin symbolisierten, die es mög­lichst rasch zu überwinden galt.



1 I. Stalin, God velikogo pereloma, in: Pravda, Nr. 259, 7. November 1929, S. 2. Auszüge aus ­diesem Kapitel habe ich als Aufsatz veröffent­licht in: Jeronim Perović, Highland Rebels. The North Caucasus During the Stalinist Collectivization Campaign, in: Journal of Contemporary History, 20. März 2015, DOI: 10.1177 / 0022009414562821. Für eine Gesamtdarstellung zur Kollektivierung: Lynne Viola, Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York 1996, hier S. 13 – 14.

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Laut der Propaganda der sowjetischen Führung sollte der Eintritt in die Kolchose auf freiwilliger Basis erfolgen. Tatsäch­lich aber gingen die ört­lichen Behörden und die Mitglieder der „Brigaden“, die sich vorwiegend aus Arbeitern und jungen Komsomolzen der Städte zusammensetzten, oft äußerst rabiat vor. Sie schüchterten die Bauern ein und nahmen manchmal auch Gewalt zu Hilfe, um die Menschen zum Eintritt in die Kolchosen zu bringen. Zu Exzessen kam es bei der Kampagne gegen die wohlhabenden Bauern, einer Maßnahme, die einen Teil des staat­lichen Angriffs auf das Land darstellte. Unter der Losung der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“, die Stalin am 27. Dezember 1929 verkündete, wurden diesen Bauern Land und Hof weggenommen, der Besitz wurde sodann an die Kolchosen übergeben. In der Folge wurden Hunderttausende von Bauern buchstäb­lich ausgeraubt, in Arbeitslager geschickt oder mitsamt ihren Familien in andere Landesteile deportiert. Der Eintritt in die Kolchosen, selbst wenn s­ olche Bauern das wünschten, wurde ihnen strikt untersagt; schließ­lich sollten die Kolchosen frei von ihrem schäd­lichen Einfluss bleiben.2 In einigen Fällen wurde das Land ­ausgesiedelter Kulaken in Kolchosen zusammengefasst, die direkt von der Roten Armee über­nommen und betrieben wurden.3 Um die Aktivitäten zu koordinieren, wurden überall auf dem Land sogenannte Trojkas geschaffen, die den Ersten Parteisekretär, den Vorsteher des Exekutivkomitees und den Leiter der Geheimpolizei vor Ort umfassten. Der Vertreter der Prokuratur sollte als Aufsichts­ instanz beigezogen werden.4 Die staat­lichen Maßnahmen gegen die Bauern verraten nicht nur den Terror­ charakter und die Menschenverachtung eines nach totalitärer Kontrolle strebenden Regimes, sondern es äußert sich darin auch der Wesenszug eines Systems, das kontinuier­lich nach inneren und äußeren Feinden suchte, um sich selbst zu erhalten. Zum gefähr­lichsten Gegner des Fortschritts und zum Volksfeind schlechthin wurde der Kulake stilisiert, der allerdings oft erst erfunden werden musste, weil es ihn Ende der 1920er-Jahre in der k­lischeehaften Vorstellung des reichen Großbauern und Gutbesitzers kaum noch gab.5 Denn bereits in den J­ ahren

2 Jörg Baberowski, Stalinismus „von oben“. Kulakendeportationen in der Sowjetunion 1929 – 1933, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 572 – 595. 3 Andrea Romano, Contadini in uniforme. LʼArmata rossa e la collettivizzazione delle campagne nellʼURSS, Firenze 1999, S. 224 – 238. 4 Entwurf des Beschlusses des nordkauka­sischen Kreisbüros der VKP (b) über die Aussiedlung von Kulakenhöfen, nicht vor dem 8. Januar 1930, publiziert in: V. Danilov u. a. (Hg.), Tragedija ­sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach. 1927 – 1939. Tom 2. Nojabrʼ 1929–dekabrʼ 1930, Moskva 2000, S. 100 – 103, hier S. 102. 5 Alexander Heinert, Das Feindbild „Kulak“. Die politisch-gesellschaft­liche Crux 1925 bis 1930, in: Silke Satjukow / Rainer Gries (Hg.)., Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 363 – 386.

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zuvor waren die zum Teil mit außergericht­lichen Vollmachten ausgestatteten ört­ lichen Geheimdienstbehörden verstärkt gegen wohlhabende Bauern vorgegangen, als der Staat, mit einer Versorgungskrise konfrontiert, bei den Kampagnen zur Getreide­gewinnung (chlebozogatovka) zunehmend zu harscheren Methoden überging. Dabei zwangen die Behörden die Kulaken zu hohen Getreideabgaben, konfiszierten mitunter deren gesamte Ernte, führten Enteignungsaktionen durch und zwangen sie ver­einzelt auch ins Exil. Die Kollektivierungskampagne richtete sich zwar gegen die Klasse der wohlhabenden Bauern, tatsäch­lich aber artete sie in einen eigent­lichen Feldzug gegen die Landbevölkerung aus. Gemäß einem Beschluss vom 30. Januar 1930 teilte das Politbüro die Kulaken in drei Kategorien ein: Zur ersten und gefähr­lichsten Kategorie wurden wohlhabende Dorfbewohner gezählt, denen eine konter­­­­­­revo­ lutionäre Gesinnung unterstellt wurde. Die Geheimpolizei wurde angewiesen, d­ ieses „­Kulaken-Aktiv“ sofort „auf dem Weg der Einschließung in Konzen­trationslager“ zu liquidieren und dabei „höchste repressive Maßnahmen“ anzuwenden. Das bedeutete, dass die Geheimpolizei diese Menschen ohne formales Verfahren erschießen konnte, was in der Folge tausendfach geschehen sollte. In die zweite Kategorie ­fielen die reichsten Kulaken und Halb-Gutsbesitzer (polupomeščniki), aber auch die Familienangehörigen von Kulaken der ersten Kategorie, die in abgelegene Orte des Landes außerhalb ihrer angestammten Region deportiert werden sollten. Schließ­lich sollten Kulaken der dritten Kategorie innerhalb ihrer Gebiete dorthin umgesiedelt werden, wo noch keine Kolchosen bestanden.6 Die Gesamtquoten der zu deportierenden Kulaken hatte das Politbüro ebenfalls festgelegt: Landesweit sollten 60.000 Kulaken der ersten Kategorie und 150.000 der zweiten deportiert werden.7 Dabei oblag es weitgehend den ört­lichen Behörden beziehungsweise den Trojkas, die Kulakenhöfe zu identifizieren und festzulegen, wer in ­welche Kategorie fiel. Weil sich oft gar nicht genug reiche Bauern fanden, die zu den Kulaken gezählt werden konnten, wurden auch viele Mittelbauern, manchmal aber auch die armen Bauern, zu Opfern einer Politik, die maßgeb­lich der Willkür der Behörden vor Ort unterlag, die danach trachteten, die staat­lichen Vorgaben zu übertreffen. Die wenigen individuellen Bauernwirtschaften, die der Staat zunächst beließ, wurden mit derart hohen Steuern belegt, dass sich ihre Besitzer oft ­gezwungen sahen, sich selbst zu entkulakisieren, indem sie ihr Vieh und ihr Land abstießen. Die Kollektivierung war ein Kulturkrieg.8 Zu Beginn der Kollektivierungs­ kampagne hielt sich Moskau mit offener antireligiöser Rhetorik zwar zurück. 6 Der Politbüro-Beschluss vom 30. Januar 1930 ist publiziert in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 126 – 130; zur Festlegung der Kategorien: Ebd., S. 126 – 127. 7 Ebd., S. 127. 8 Viola, Peasant Rebels, S. 38 – 44.

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Propagiert als „sozialistische Umgestaltung des Landes“,9 richtete sich die Kollek­ tivierungskampagne aber auch gezielt gegen religiöse Institutionen, deren Träger und Symbole. Die geist­lichen Vertreter aller Religionsgemeinschaften hatten sich bereits früher Verfolgungen und Repressionen ausgesetzt gesehen. Betroffen waren davon vor allem höhere geist­liche Autoritäten und kirch­liche Oberhäupter. Die Menschen in den Dörfern spürten davon noch wenig. Erst als die städtischen ­Brigaden bei ihrem Zug durch das Land massenweise K ­ irchen und Moscheen schlossen, Geist­liche drangsalierten, Ikonen verbrannten und Kirchenglocken einschmelzen ließen, nahm die Kollektivierung den Charakter einer offen antireligiösen Kampagne an, die bei vielen Menschen das Gefühl weckte, die Apokalypse, das Ende der Welt, sei gekommen.10 Ein solcher Angriff auf breitester Front musste Widerstand wecken. Dieser äußerte sich in verschiedenen Formen: von Protestschreiben der Bauern an die Partei- und Staatszentrale über die freiwillige Massentötung von Vieh und das Abtreten von Land und Habe bis hin zur millionenfachen Abwanderung von Bauern in urbane Zen­ tren. Dass überwiegend jüngere Männer die Dörfer verließen und jene damit für die Arbeit in den Kolchosen nicht zur Verfügung standen, war für die landwirtschaft­liche Produktivität in den rus­sisch besiedelten Gebieten verheerend. Zurück blieben Alte, Schwache, Frauen und Kinder. Der Widerstand äußerte sich dann gewalttätig, wenn die Bauern sich gegen die Repression der staat­lichen Repräsentanten zur Wehr setzten. In der aufgeheizten Atmosphäre kam es überall im Land zu Übergriffen von Bauern auf lokale Amtsträger und zu Fällen von Lynchjustiz. Um alte Fehden zu begleichen, oder auch nur aus purem Neid, denunzierten sich Nachbarn unter­einander oder sie nutzten die Gunst der Stunde für Plünderungen oder Diebstähle.11 Viele Bauern gaben dem massiven Druck nach und traten schließ­lich resigniert in die Kolchosen ein. Eine substanzielle Minderheit, unter ihnen viele Bauern, die als Kulaken eingestuft worden waren, sah aber keinen anderen Ausweg, als in die Wälder, Berge oder Steppen zu flüchten, wo sich die Betroffenen manchmal zu bewaffneten Banden zusammenschlossen. Wegen Unruhen und Bauern­ rebellionen mussten wiederholt reguläre Einheiten der Roten Armee ausrücken, um den Truppen der Geheimpolizei bei der Niederschlagung von Aufständen zu 9 Zitat aus der Rede Grigorij Naumovič Kaminskijs (1895 – 1938) vor dem November-Plenum der Kommunistischen Partei am 14. November 1929; Kaminskij war als Vorsitzender des Allruss­ ländischen Verbands der landwirtschaft­lichen Produktionsgenossenschaften (Kolchozcentr) in den Jahren 1928 und 1929 maßgeb­lich für die Kollektivierung verantwort­lich: V. Danilov u. a. (Hg.), Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach. 1927 – 1939. Tom 1. Maj 1927–nojabrʼ 1929, Moskva 1999, S. 746 – 758, hier S. 752. 10 Viola, Peasant Rebels, S. 45 – 66. 11 N. E. Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 8. Častʼ 1. 1930 g., Moskva 2008, S. 29.

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helfen. Überall im Land berichteten Geheimdienstvertreter von Gewaltakten, doch besondere Sorge bereitete der Führung die Situation in den ethnisch ­durchmischten west­lichen und süd­lichen Grenzregionen, die von großflächigen Rebellionen erschüttert wurden. Hier zeigte sich die bäuer­liche Bevölkerung aus Sicht der Behörden besonders widerspenstig. Verwandtschaft­liche Bande und traditionelle Clanstrukturen trugen vor allem in den islamischen Gebieten im Kaukasus und in Zentralasien zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und zur Solidarisierung unter den Gemeinschaften bei. Umgekehrt heizten die Sicherheitskräfte vor Ort mit ihrem oft rüden Vorgehen die ohnehin angespannte Situation in diesen Teilen der Sowjetunion noch zusätz­lich an. Angesichts der massiven inneren Unruhen Anfang 1930 war die sowjetische Armeespitze ernsthaft um die Verteidigungsfähigkeit des Landes besorgt. Als die Unruhen im Februar und März 1930 derart große Ausmaße annahmen, dass die Aussaat im Frühjahr gefährdet war und mit dem Kollaps der gesamten Landwirtschaft gerechnet werden musste, blieb dem Regime nichts anderes übrig, als korrigierend in die Politik einzugreifen. Um sich selbst und die Parteispitze aus der Kritik zu nehmen, bot es sich an, die Schuldigen in den niederen Parteirängen zu orten. So warf Stalin in einem Artikel in der Pravda vom 2. März 1930 den ört­lichen Behörden vor, sie hätten sich bei der Durchführung der Kollektivierung „schwindlig vor Erfolg“ zu Fehlern hinreißen lassen.12 Entsprechend war die Kollektivierungs­kampagne in den frühen 1930er-Jahren von wiederholten Säuberungen der ört­lichen Partei- und Staatsapparate begleitet. Viele Bauern lasen Stalins Pravda-Artikel dagegen wie ein Manifest. Sie wollten tatsäch­lich glauben, dass die Kollektivierung in dieser Form gegen den Willen der Staatsführung durchgeführt worden war, und verließen die Kolchosen in Massen. Insbesondere die „Papierkolchosen“ zerfielen so schnell, wie sie errichtet worden waren. Vielerorts kam es zu Racheakten von Geschädigten an ihren Peinigern. Die Gewalt ging zunächst unvermindert weiter. Stalins Aufruf zur Zurückhaltung bedeutete keinesfalls, dass die bolschewistische Führung die Kollektivierung an sich infrage gestellt hätte. Die Parteileitung ging nur zu einer etwas differenzierteren Strategie über. Angesichts der besonders schwierigen Lage in den nichtrus­sischen und ökonomisch rückständigen Grenzgebieten befand das Politbüro bereits Ende Januar 1930, dass zwar die Schließung von ­Kirchen und anderen Gebetshäusern unumgäng­lich sei, es empfahl jedoch ein vorsichtiges Vorgehen.13 Am 20. Februar 1930 fasste das oberste Parteigremium zudem den Beschluss, in Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Dagestan, Usbekistan, 12 I. Stalin, Golovokruženie ot uspechov. K voprosam kolchosnogo dviženija, in: Pravda, Nr. 60, 2. März 1930, S. 1; ebenfalls: Stefan Creuzberger, Stalin. Machtpolitiker und Ideologe, Stuttgart 2009, S. 122. 13 Baberowski, Stalinismus „von oben“, S. 586.

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Turkmenistan, Kirgistan, Burjato-Mongolien, Kasachstan und Jakutien bei der Kollek­tivierung ein behutsameres Tempo einzuschlagen.14 Problematisch muss sich aus Moskauer Sicht auch die Situation in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus dargestellt haben. Bereits fünf Tage später, am 25. Februar 1930, beschloss das Politbüro auf Antrag Stalins, auch Tsche­tschenien, Inguschetien und die Kabarda in die Liste jener Gebiete aufzunehmen, in denen die ursprüng­lichen Ziele im Hinblick auf die umfassende Kollektivierung mindestens vorübergehend revidiert werden sollten.15 Hier war die Situation aus Sicht des ­Staates durch zum Teil flächendeckende Aufstände derart außer Kontrolle geraten, dass der Stabilisierung dieser Gebiete nun unbedingte Priorität einzuräumen war. Das hieß aber auch, dass Rebellionen konsequent und falls nötig mit Hilfe der Roten Armee niedergeschlagen werden sollten. Die west­liche Literatur hat mittlerweile zwar einige Studien zur Lage in den islamischen Regionen der Sowjetunion zur Zeit der Kollektivierung hervorgebracht, ist dabei aber vor allem auf Aserbaidschan und Zentralasien eingegangen und nicht auf die Entwicklungen in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus.16 Wenn vom Nordkaukasus die Rede war, dann hat die west­liche Geschichtsschreibung bislang weitgehend unkritisch die Version Avtorchanovs übernommen, dessen Darstellung der Ereignisse mit Blick auf die Kollektivierung aber mit Vorsicht zu genießen ist.17 Avtorchanov hielt sich während der Kollektivierungskampagne 1929/30 in Tsche­ tschenien auf, wo er die Organisationsabteilung innerhalb des ­Gebietskomitees der Partei leitete.18 Er hatte in dieser Zeit Zugang zu gewissen Informationen über

14 Beschluss des Politbüros des ZKs der VKP (b) „Über die Kollektivierung und den Kampf mit dem Kulakentum in den nationalen, wirtschaft­lich zurückgebliebenen Rajons“, 20. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 251 – 256. In den Baumwollgebieten Aserbaidschans und Usbekistans sollte die Totalkollektivierung jedoch weiterhin angestrebt werden: Baberowski, Stalinismus „von oben“, S. 586. 15 Aus dem Protokoll Nr. 118 der Sitzung des Politbüros des ZKs der VKP (b) bezüg­lich Fragen der Kollektivierung und Entkulakisierung, 25. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 260. 16 Siehe dazu etwa die Studien von Jörg Baberowski zu Aserbaidschan (Baberowski, Feind, S. 669 – 752), Adrienne Edgar zu Turkmenistan (Adrienne Lynn Edgar, Tribal nation. The Making of Soviet Turkmenistan, Princeton, NJ 2004, S. 197 – 220) und Niccolò Pianciola zu Kasachstan (Niccolò Pianciola, Stalinismo di frontiera. Colonizzazione agricola, stermino dei nomadi e costruzione statale in Asia centrale (1905 – 1936), Roma 2009, S. 347 – 396). 17 Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 146 – 194, zur Kollektivierung und den bewaffneten Aufständen S. 157 – 161. 18 Dort arbeitete er eng mit dem Ersten Sekretär der Partei, Solomon A. Chasman, zusammen, der aber bereits Anfang 1930 ersetzt wurde. Der Nachfolger Chasmans, Georgij M. Karib, der ­dieses Amt von Januar 1930 bis zu seiner Versetzung im August 1932 innehatte, soll Avtorchanov daraufhin den Posten als Erster Parteisekretär im Bezirk Urus-Martan angeboten haben, was dieser aber nach eigenen Angaben abgelehnt haben soll: Avtorchanov, Memuary, S. 157 – 197, zum Vorschlag Karibs S. 179.

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die Situation im tsche­tschenischen Gebiet, wobei er sich im Wesent­lichen auf die monat­lichen Berichte der Geheimpolizei, die sogenannten svodki (sing. svodka), gestützt haben dürfte, für die sich damals G. G. Kraft verantwort­lich zeichnete. Kraft war von November 1929 bis September 1932 Leiter der tsche­tschenischen Abteilung der OGPU.19 Nach eigenen Angaben las Avtorchanov diese svodki regelmäßig.20 Nur dies erklärt auch sein großes Detailwissen über die Situation, denn wie andere Tsche­tschenen, die damals im zentralen Staats- und Parteiapparat des ­tsche­tscheno-inguschischen Gebiets arbeiteten, war auch Avtorchanov weitgehend isoliert von den Ereignissen, die sich auf dem Land zutrugen.21 Damit stützt sich Avtorchanov einerseits auf Berichte, die er selbst für ­un­zulässig hält, weil sie zu Übertreibungen neigen würden, wie er dies in seinen Memoiren schreibt.22 Andererseits macht der Vergleich mit den heute zugäng­lichen Berichten deut­lich, dass Avtorchanov diese Informationen in seinen publizierten E ­ rinnerungen nicht immer korrekt wiedergibt, falsche Orte und Daten nennt oder selbst zu Übertreibungen neigt, wenn er etwa von den Kämpfen in Tsche­tschenien berichtet.23 Zwar besteht bis heute das Problem darin, dass von den nordkauka­sischen Aufständischen jener Zeit nicht zuletzt deshalb kaum schrift­liche Zeugnisse vorliegen, weil die meisten von ihnen im Zuge von Militäroperationen verhaftet oder getötet wurden. Doch immerhin erlaubt die Veröffent­lichung von Dokumenten der Geheimpolizei (die sich im Fall Tsche­tscheniens nicht immer nur auf die svodki von Kraft stützen), von Berichten der Roten Armee und von anderen offiziellen Dokumenten erstmals eine Überprüfung von Avtorchanovs Aussagen und damit einen neuen Blick auf die Ereignisse sowohl in Tsche­tschenien als auch in anderen Teilen des Nordkaukasus während der Phase der Kollektivierung und Entkulakisierung. Dass der Nordkaukasus bisher kaum im Fokus der west­lichen Literatur zur Kollek­tivierung gestanden hat, erstaunt auch deshalb, als das Politbüro gerade diese

19 Organy VČK-GPU-OGPU na Severnom Kavkaze i v Zakavkaze (1918 – 1934 gg.). Priloženija k itogovomu otčёtu po proektu „Rabota s obščestvennym mnenim Rossii dlja sozdanija obʼʼ­ektivnoj i sbalansirovannoj ocenki dejstvij Rossii na Severnom Kavkaze i Kavkaze v celom, hg. von Meždu­ narodnoe obščestvo „Memorial“. Internet-SMI „Kavkazskij uzël“, Juli 2004, http://www.­kavkazuzel.ru/system/attachments/0000/3107/Органы_ВЧК-ГПУ-ОГПУ_на_Северном_Кавказе_и_в_ Закавказье__1918-1934_гг._.pdf [16.11.2011]. 20 Avtorchanov, Memuary, S. 167, 207. 21 Park / Brandenberger, Imagined Community?, S. 551. 22 Avtorchanov, Memuary, S. 167. 23 Falsche Angaben zu Zeitpunkt und Ort macht er etwa, wenn er über die Ermordung des Sekretärs des inguschischen ausführenden Gebietskomitees der Partei, Iosif Moiseevič Černoglaz, berichtet. Auch die Angaben hinsicht­lich des Anführers der tsche­tschenischen Aufständischen, Šita Istamulov, müssen stark in Zweifel gezogen werden. Die entsprechenden Stellen (einschließ­lich der Angaben zu den Kämpfen in Tsche­tschenien) finden sich in: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 157 – 160, 164 – 165.

Vorspann zur Tragödie: Der Aufstand von Baksan

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Region zum Pilotprojekt ihres Kollektivierungsplans erklärte.24 Bis im ­Sommer 1930, so gab sich Molotov im Rahmen des Novemberplenums 1929 persön­lich überzeugt, sollte „die Kollektivierung im Nordkaukasus im Großen und Ganzen“ abgeschlossen sein.25 Molotov, der damals innerhalb des Zentralkomitees für das Kollektivierungsprojekt auf dem Land zuständig war, konnte oder wollte nicht voraussehen, dass das Unterfangen in einem Fiasko enden würde. Er hatte einzig den gedrängten Zeitplan vor Augen. Nur rund vier Monate blieben den Bolschewiki noch bis zur Aussaat auf den Feldern und bis dann mussten die Kolchosen funk­ tionieren und produzieren.26 Nach dem Beschluss zur flächendeckenden Kollektivierung wurde der Nordkaukasus somit zum Experimentierfeld der staat­lichen Politik. Die Partei sah in der Region nur einen weiteren Getreidelieferanten und verschwendete kaum einen Gedanken an allfällige Schwierigkeiten, die sich aus der konfliktträchtigen ethnischen Durchmischung mit ihren tief verwurzelten Traditionen und aus der viel­fältigen Landes­natur mit ihren verschiedenen Typen landwirtschaft­licher Nutzungszonen ergeben sollten. Dabei hätten die Bolschewiki die Schwierigkeiten durchaus voraussehen können, die sich im Fall der Kollektivierung gerade in den nationalen ­Gebieten des Nordkaukasus stellen sollten. Denn zu einem ersten größeren Aufstand war es in Zusammenhang mit der Forcierung der staat­lichen Getreide­kampagne bereits Mitte Juni 1928 im okrug Baksan in Kabardino-Balkarien gekommen. Dabei ließ bereits diese Rebellion jene Muster des Widerstands erkennen, die sich später in ihren jeweiligen lokalen Ausprägungen in den weit heftigeren Unruhen zu Beginn der Kollektivierungskampagne wiederfinden ließen.

9.1  Vor s p a n n z u r Tr a gö d ie: D e r Au f s t a nd vo n Ba k s a n Als der Aufstand im Bezirk Baksan ausbrauch, war die Situation in vielen Dörfern Kabardino-Balkariens schon seit Längerem angespannt. Im Zuge wiederholter Getreidekrisen hatte der Staat seine Kampagne zur Konfiszierung von Getreide wohlhabender Bauern intensiviert. Allein während der Erntezeit im Jahr 1928 ­litten in Kabardino-Balkarien weit über 200 Siedlungen unter staat­lichen Zwangs­maßnahmen. Die mehrheit­lich von ungebildeten Parteiaktivisten angeführten Expeditionen aufs Land waren dabei oft begleitet von Enteignungen wohlhabender Bauern, aber auch von 24 Auch die einschlägige Studie von Lynne Viola (Peasant Rebels) geht nicht gesondert auf die Entwicklungen in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus sein. 25 Die Rede Molotovs vom 15. November 1929 ist in Auszügen publiziert in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 1, S. 758 – 761, hier S. 759. 26 Ebd.

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antireligiösen Aktionen wie der Schließung von Moscheen und M ­ edressen.27 Unmut erregte auch der Zwang zu unbezahlter Arbeit an staat­lichen Infra­strukturprojekten wie Straßen oder Kanälen, weil die Zwangsarbeit die Leute von der Arbeit auf ihren Feldern abhielt.28 Auslöser des Aufstands war ein Vorfall in der Siedlung Kizburun II., die nur wenige Kilometer vom Bezirkshauptort Baksan entfernt lag. Gemäß dem detaillierten Bericht über den Baksan-Aufstand, den die Informationsabteilung der OGPU zuhanden der bolschewistischen Parteileitung wenige Wochen nach dessen Nieder­ schlagung erstellte, soll sich der Funke am 8. Juni 1928 entzündet haben, als die Bauern erneut mit der Forderung konfrontiert wurden, im Laufe des Monats Juni 4000 Pud Getreide (1 Pud = 16,38 kg) bereitzustellen.29 Nachdem die Menschen nach dem Freitagsgebet die Moschee verlassen hatten, berief ein gewisser Urusov, ein wohlhabender Mittelbauer und Mitglied des Dorfsowjets, zusammen mit einem weiteren Bauern kurzfristig eine Versammlung ein, an der er die Dorfbewohner eindring­lich vor einer Hungersnot warnte, sollten die wohlhabenderen Bauern erneut große Teile ihrer Getreidevorräte an den Staat abtreten müssen.30 Sicher­lich gab es daneben noch weitere Gründe, die Urusov und seinen Mitstreiter veranlassten, zu einer von den Behörden nicht genehmigten Versammlung aufzurufen. So liest sich in einer anderen Version, dass der unmittelbare Grund in der Weigerung Urusovs und des erwähnten Bauern zu sehen war, beim Bau eines Entwässerungskanals weiterhin Fronarbeit zu leisten.31 Jedenfalls trafen aufgrund der Unruhen noch am selben Abend die Vertreter des ispolkom, des ausführenden Komitees, des Baksan-Bezirks mit Einheiten der Miliz im Dorf ein, um nach dem Rechten zu sehen. Sie zeigten sich gegenüber den aufgebrachten Menschen unversöhn­lich und bestanden auf der Forderung, wonach die Bauern die Getreideabgaben in der vom Staat festgelegten Höhe zu leisten hätten. Sie ließen Urusov und eine weitere Person, offenbar ein Bauer aus den Reihen der bednjaki, verhaften. Tags darauf, am 9. Juni, versammelten sich gegen 200 Verwandte und Bewohner des Dorfs. Sie machten sich nach Baksan auf, wo es ihnen gelang, die Freilassung der Gefangenen mit fried­lichen Mitteln 27 G.Ch. Mambetov / Z. G. Mambetov, Socialʼnye protivorečija v kabardino-balkarskoj derevne v 20 – 30-e gody, Nalʼčik 1999, S. 30. 28 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 340. 29 Der Bericht (inkl. Anhang) findet sich als Teil des von der Informationsabteilung der OGPU erstellten monat­lichen Überblicks über die politische Situation in der UdSSR im Juni 1928 und ist publiziert in: Ebd., S. 339 – 342, 365 – 366. 30 Ebd., S. 340, 365. 31 O. O. Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija v Kabardino-Balkarii v period kollektivizacii selʼskogo chozjajstva, Nalʼčik 2009, http://vosstaniya.ucoz.ru/ [18.1.2013].

Vorspann zur Tragödie: Der Aufstand von Baksan

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zu erwirken. Am selben Abend trafen die Bezirksbehörden mit ihren bewaffneten Milizen erneut in Kizburun II. ein, ließen den eben freigelassenen Bauern und mit ihm fünf weitere Personen verhaften und überstellten die Festgenommenen nach Baksan. Urusov dagegen, der dem Bericht der Geheimpolizei zufolge einer Verhaftung entgehen konnte, veranlasste danach die Verhaftung des Vorsitzenden des Dorfsowjets von Kizburun II., von dessen Stellvertreter und von weiteren dörf­lichen Amtspersonen.32 Der eigent­liche Aufstand begann am 10. Juni 1928. Mit dem Ziel, die ­Gefangenen zu befreien, versammelten sich in Kizburun II. in den frühen Morgenstunden Hunderte von Dorfbewohnern. In Tänzen und angefeuert von den Zurufen der versammelten Frauen machten sie sich vor ihrem Aufbruch nach Baksan Mut.33 Die Führung der rund 1500-köpfigen Menschenmenge, die mit „Mistgabeln, Stangen und Spitzhacken“ bewaffnet war, übernahm gemäß dem Geheimpolizei-Bericht Urusov.34 In Baksan angekommen, begab sich die Menge zum Amtsgebäude der Bezirksregierung, wo sie die Freilassung der Gefangenen forderte. Nachdem die Verhandlungen mit den Behörden gescheitert waren, eröffnete die Miliz mit einem Maschinengewehr das Feuer auf die Menschen. Der Menge gelang es allerdings, die Polizisten zu überwältigen und ihnen die Waffen abzunehmen. Sie ­verprügelten den Vorsteher der Bezirksbehörde und die Angehörigen der Polizei, wobei sie einen Polizisten sowie den ört­lichen Staatsbeamten schwer verletzten. Darauf stürmte die Menge das Gefängnis, wo sie die Insassen befreite und ins Waffendepot eindrang. Dort erbeutete sie zwei weitere Maschinengewehre, 13 Gewehre und 2500 Schuss Munition.35 Danach löste sich die Ansammlung auf, viele kehrten nach Hause zurück. Die Verbliebenen sollen die aus Nalʼčik angereisten Vertreter der Gebietsregierung, darunter den Vorsitzenden des ausführenden Gebietskomitees, Betal Kalmykov, und Artur Ivanovič Michelʼson (1898 – 1939), den Leiter der für Kabardino-Balkarien zuständigen OGPU -Abteilung,36 zwar beschimpft, aber kei 32 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 340, 365. 33 Ebd., S. 365. 34 In der postsowjetischen Literatur, die sich vornehm­lich auf Quellen aus den lokalen Archiven stützt, wird Urusov allerdings nicht als Anführer erwähnt, weil er noch am 9. Juni zusammen mit den anderen Bauern verhaftet worden sein soll: Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija, S. 2. 35 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 340 – 341. Gemäß anderen Darstellungen beteiligten sich am Angriff auch mehrere Hundert Reiter und auch die Zahl der erbeuten Waffen soll höher gewesen sein: Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija, S. 3; N. F. Bugaj / A. M. Gonov, V Kazachstan i Kirgiziju iz Priėlʼbrusʼja (20-e – 50-e gody), Nalʼčik 1997, S. 22. 36 Michelʼson leitete die ört­liche OGPU-Abteilung in Kabardino-Balkarien vom 30. November 1923 bis zum 26. Juni 1928 und wurde danach von M. G. Raev abgelöst: Organy VČK-GPU-OGPU na Severnom Kavkaze i v Zakavkaze, S. 25; Petrov / Skorkin, Kto rukovodil NKVD.

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nen aktiven Widerstand geleistet haben. Sie gaben einen Teil der erbeuteten ­Waffen zurück und händigten den Behörden widerwillig einige jener Leute aus, die sie zuvor aus dem ­Gefängnis befreit hatten.37 Allerdings weigerten sich die Menschen, die Anführer des Aufstands, die sich noch vor der Ankunft der Regierungsvertreter zurückgezogen ­hatten, zu verraten. Sie solidarisierten sich mit jenen und erklärten, sie alle wären als „schuldig“ anzusehen.38 Kalmykov und der ört­liche Geheimpolizei-Vertreter trafen tags darauf, am 11. Juni, in Kizburun II. ein, um die Menge zu überreden, die Anführer der Bewegung auszuliefern. Auch forderte Kalmykov die Menschen auf, nicht zuzulassen, dass sich Personen aus anderen Dörfern in die Angelegenheit von Kizburun II. einmischten. Daraufhin wählten die Bewohner einen neuen Dorfsowjet; auch zeigten sie sich Kalmykov gegenüber reuig.39 Doch die Bemühungen des Gebietsvorstehers sollten sich als weitgehend fruchtlos erweisen. Bereits hatten die Aufständischen von ­Kizburun II. Boten in die umliegenden Dörfer ausgesandt, um die dortigen Bewohner um Unterstützung zu bitten. Am Abend des 11. Juni soll es in Kizburun II. zu einer großen Versammlung gekommen sein, an der sich rund 3000 Menschen beteiligten, unter ihnen rund ein Drittel aus den Nachbardörfern.40 Die Leitung des Aufstands übernahm nun ein „aufständischer Stab“, der sich dem Geheim­polizei-Bericht zufolge ausschließ­lich aus Vertretern von Kulaken und Anhängern der Scharia zusammensetzte.41 Dieser Stab soll zwölf Repräsentanten aus zwölf verschiedenen Siedlungen umfasst haben.42 Auf der Versammlung in Kizburun II. erhoben die Aufständischen nun F ­ orderungen, die über das Verlangen nach sofortiger Einstellung der Getreide­kampagne weit hinausgingen. Konkret sollen sie einen Beschluss gefasst haben, der nebst der Forderung nach Einstellung der Getreidekampagne auch die Punkte „Wieder­herstellung der Scharia“, „Öffnung der geschlossenen Medressen“, „Religions­freiheit“, „Einstellung der Organisation von [staat­lichen] Kinderkrippen“ und ein „korrektes

37 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 341; Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija, S. 2. 38 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 341. 39 Bugaj / Gonov, V Kazachstan i Kirgiziju, S. 23; Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija, S. 3. 40 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 341. Andere Quellen berichten davon, dass ­dieses Treffen erst am 12. Juni stattgefunden haben soll: Bugaj / Gonov, V Kazachstan i Kirgiziju, S. 23; Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija, S. 3. 41 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 341. 42 Bugaj / Gonov, V Kazachstan i Kirgiziju, S. 24.

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Verhalten der ört­lichen Machthaber“ enthalten haben soll.43 Gleichzeitig meldete die Geheimpolizei auch Unruhen in anderen Teilen Kabardino-­Balkariens, darunter auch w ­ elche in einem von Balkaren besiedelten Dorf und in einer K ­ osaken-stanica im angrenzenden Tereker Bezirk, ­welche die Geheimpolizei in enge Verbindung mit den Ereignissen in Baksan stellte. Die Geheimdienstbehörden gaben an, dass auf Versammlungen die Ereignisse von Baksan diskutiert und ähn­liche Forderungen erhoben worden seien. Die Geheimpolizei berichtete von zahlreichen nicht bewilligten Versammlungen sowie von Drohungen gegen und Übergriffen auf Kommunisten und Angehörige des sowjetischen Apparats.44 Blieb die Situation in Kabardino-Balkarien insgesamt ruhig, so sollte die Lage im Bezirk Baksan eskalieren. Folgenreich für die weitere Entwicklung war der Entscheid der Aufständischen von Kizburun II., am 12. Juni erneut nach Baksan zu marschieren. Weshalb sie sich dazu entschlossen, geht aus dem Bericht der OGPU-Informationsabteilung nicht hervor. Einer in der postsowjetischen Lite­ratur vertretenen Version zufolge war es ein Reiter aus Baksan, der die Menschen in ­Kizburun II. darüber unterrichtete, die Ortschaften Pjatigorsk und Kislovodsk seien bereits gefallen und befänden sich in den Händen von Aufständischen. Der Reiter rief die Einwohner auf, unverzüg­lich aktiv zu werden. Sie sollten ­zusammen mit Gleich­gesinnten aus den anderen Dörfern sofort nach Baksan ziehen, ­Waffen erbeuten und dann zu­­sammen mit den Aufständischen aus anderen Teilen K ­ abardino-Balkariens die Gebietshauptstadt Nalʼčik erobern.45 Jedenfalls zogen schließ­lich am 12. Juni gegen 3000 Personen nach Baksan, wobei einige diesmal auch mit Schusswaffen ausgerüstet gewesen sein sollen.46 Dort angekommen, umstellte die Menge das Gebäude, in dem sich 45 OGPU-Angehörige und Teile der nationalen Kavalleriedivision (einer aus Einheimischen zusammengesetzten Armeeeinheit) befanden. Die Menschen forderten diese auf, ihre Waffen herauszugeben. Als auch Warnschüsse die Menge nicht zu zerstreuen vermochten, eröffneten die Sicherheitskräfte das Feuer. Sie töteten nach eigenen Angaben acht Menschen und verletzten 20 Personen.47 Erst jetzt löste sich die Demonstration auf. In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni trafen frische

43 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 366. 44 Ebd., S. 342, 366. 45 Mambetov / Mambetov, Socialʼnye protivorečija, S. 72 – 75. 46 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 341. Andere Versionen nennen sogar 5000 Personen, darunter 500 Reiter, die sich auf Baksan zubewegten: Mambetov / Mambetov, Socialʼnye protivorečija, S. 76 – 77. 47 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 339 – 341. Andere Quellen sprechen von sieben Toten und zwölf Verwundeten: Mambetov / Mambetov, Socialʼnye protivorečija, S. 76 – 77.

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Truppen der Geheimpolizei unter dem Kommando von Michelʼson ein und tags darauf kamen Einheiten der Roten Armee hinzu, w ­ elche die gesamte Ortschaft und deren Umgebung absicherten.48 Der Aufstand war damit nieder­geschlagen. Gemäß dem Bericht der Spezialkommission, die am 17. Juni vom Parteibüro Kabardino-­ Balkariens einberufen wurde, um die Ereignisse von Baksan zu untersuchen, ­sollen in jenen blutigen Juni-Tagen insgesamt 20 Aufständische getötet worden sein.49 Nach der Niederschlagung des Aufstands gingen die Sicherheitskräfte zum Gegenangriff über. In den folgenden Tagen führten sie in den Dörfern der Um­­ gebung großangelegte Verhaftungs- und Säuberungsaktionen durch. Dem Geheimpolizei-Bericht zufolge wurden bis zu 160 Personen in Gewahrsam genommen.50 Davon wurden 118 noch im Juni 1928 im Schnellverfahren verurteilt. Elf Personen, unter ihnen vermut­lich die meisten Mitglieder des Stabs der Aufständischen, wurden erschossen.51 Die anderen Verurteilten wurden in Arbeitslager geschickt und mit zum Teil langjährigen Freiheitsstrafen belegt. Die einzelnen Fälle wurden dabei nicht über die Prokuratur und damit über den regulären gericht­lichen Weg behandelt, sondern vom Kollegium der OGPU, dem höchsten Organ der Geheimpolizei, entschieden und vollstreckt.52 Insgesamt erscheint der Bericht der Geheimpolizei, auf den sich diese Schilderung der Ereignisse im Wesent­lichen stützt, in der Darstellung der Abfolge der Ereignisse von Baksan zwar nahe an den Tatsachen. Auch was die Benennung der unmittelbaren Gründe für den Aufstand angeht, machen die Berichterstatter kein Hehl daraus, dass vorwiegend der Unmut großer Teile der Bevölkerung, die gegen die Getreidekampagne, die Willkürakte der ört­lichen Behörden und die anti­religiösen Maßnahmen aufbegehrten, den Nährboden für den Aufstand bereitete. Danach aber zeichnet der Bericht den Aufstand als eine von feind­lichen ­Elementen gesteuerte Bewegung, indem er nament­lich „das Kulakentum, die islamische Geist­lichkeit und andere antisowjetische Elemente des kabardinischen Auls“ als jene Gruppen iden­tifiziert, ­welche die angespannte Lage innerhalb der Bevölkerung skrupellos für ihre eigenen Interessen zu ­nutzen suchten. Somit anerkennen die Bericht­ erstatter zwar den Massencharakter der Bewegung, porträtieren diese aber als Opfer der Mani­pulation einer konterrevolutionär eingestellten Schicht von Kulaken und

48 Bugaj / Gonov, V Kazachstan i Kirgiziju, S. 25. 49 Der Kommissionsbericht findet sich im FSB-Archiv der Republik Kabardino-Balkarien (F. 10, Op. 1, D. 61, Ll. 2 – 10) und wird zitiert in: Ebd., S. 28. 50 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 339 – 341. 51 Bugaj / Gonov, V Kazachstan i Kirgiziju, S. 28. Über das weitere Schicksal des Bauern Urusov geben die Quellen keine Auskunft. 52 Ajšaev, Krestʼjanskie vosstanija, S. 3.

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Anhängern der Scharia, die es sich zum Ziel gemacht hätte, die bestehende Ordnung der Kommunisten zu stürzen und ihre eigene, auf der Scharia basierende Ordnung einzuführen.53 Den Ruf nach einer Wiederherstellung der Scharia wollten die Aufständischen mindestens zu ­diesem Zeitpunkt nicht als Forderung nach einer Alternative zur sowje­ tischen Ordnung verstanden wissen. Denn Sowjetmacht und Scharia ­schlossen sich in der Vorstellung der Bevölkerung gegenseitig nicht aus. Im Gegenteil war es in den muslimisch besiedelten Teilen des Nordkaukasus gerade die Wieder­einführung der Scharia nach dem gewonnenen Bürgerkrieg, die dem bolsche­wistischen Projekt in den Augen vieler Menschen Anerkennung verschaffte. Eine Reihe bekannter Bolschewiki im Nordkaukasus, die im Bürgerkrieg für die sowjetische Sache gekämpft hatten, waren erklärte Anhänger der Scharia. Sie genossen hohes Ansehen in der Bevölkerung und hielten im neuen sozialistischen Staat in ihren Gebieten zunächst wichtige Posten besetzt. Was der Geheimpolizei-Bericht nicht ausdrück­ lich erwähnt, ist der Umstand, dass der Aufstand von Baksan auch eine innenpolitische Dimension hatte, die sich im Ringen zwischen zwei ­verfeindeten Gruppen ausdrückte: einerseits zwischen der aufstrebenden politischen Elite um Betal Kalmykov, einem ethnischen Kabardiner und erklärten Atheisten, andererseits den Sozialrevolutionären und S ­ charia-Anhängern aus der Zeit des Bürgerkriegs und der frühen Sowjetjahre. Diesen Aspekt streifen die Berichterstatter der Geheim­polizeiBerichte höchstens indirekt, wenn sie erwähnen, dass es kein Zufall gewesen sei, dass die Aufstän­dischen genau das Dorf Kizburun II . zum Ausgangspunkt ihrer Bewegung gewählt hätten, da diese Siedlung bereits in der Vergangenheit Zentrum einer antisowjetischen Gruppierung um den „bekannten Schariatisten der Kabarda, Kasim Šogencukov“, gewesen sei. Obwohl dessen Organisation bereits im April 1928 zerschlagen worden war, blieb gemäß der Geheimpolizei im Dorf ein aktiver Kern von Kulaken bestehen, darunter waren auch Personen wie Aschad Salechovič Šogencukov (1868 – 1928), der Bruder von Kasim, der im Geheimpolizei-Bericht als einer der zentralen Figuren des Aufstands in Erscheinung tritt.54 Wenn der Geheimpolizei-Bericht wiederholt davon spricht, dass die Aufstän­ dischen mit der Forderung nach der Freilassung von Gefangenen an die Gebietsbehörden herangetreten seien, dann forderten die Menschen vielleicht nicht nur die Freilassung der verhafteten Bauern aus dem eigenen Dorf, sondern auch jener Persön­lichkeiten, die bereits früher verfolgt und eingekerkert worden waren. Mit

53 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 340. 54 Ebd.; eine Kurzbiographie Aschad S. Šogencukovs findet sich in der Liste politischer Opfer des Stalinregimes, das die russländische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ zusammengestellt hat: Memorial. Žertvy političeskogo terrora v SSSR, http://lists.memo.ru/index.htm [18.1.2013].

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keinem Wort erwähnt der Geheimpolizei-Bericht allerdings den prominentesten Gefangenen: Nazir Adilʼgireevič Katchanov (1891 – 1928), ein Bolschewik der ersten Stunde, der im Bürgerkrieg das sogenannte Scharia-Regiment gegen die ­Weißen angeführt und entscheidend zum Sieg der Bolschewiki in Kabardino-­Balkarien beigetragen hatte. Dass Katchanov, der ebenfalls aus dem Bezirk Baksan stammte, wegen s­ einer Verdienste im Bürgerkrieg weit über das Gebiet Kabardino-­Balkariens hinaus Ansehen genossen haben muss, zeigt sich darin, dass die Vertreter der autonomen Gebiete von Inguschetien, Tsche­tschenien, Adygien, Nordossetien und der Karatschaj ihn noch am 13. März 1928 in einem Schreiben an Vorošilov für den prestigeträch­tigen „Rotbannerorden“ (Orden Krasnogo ­Znameni) vorgeschlagen hatten. Die Tatsache, dass Betal Kalmykov als Vertreter Kabardino-­Balkariens nicht zu den Unterzeichnern zählte, war angesichts seiner Feindschaft zu Nasir Katchanov ebenso kein Zufall wie der Umstand, dass dieser noch im April 1928 in Moskau verhaftet und nach Nalʼčik überstellt wurde. Aufgrund des Vorwurfs, einen Aufstand gegen die Sowjetmacht geplant und Verbindungen zu konterrevolutionären und terroristischen Gruppierungen unterhalten zu haben, fällte das Kollegium der OGPU am 3. August 1928, am selben Tag, an dem die am Aufstand von Baksan beteiligten Personen verurteilt wurden, auch das Todesurteil gegen Katchanov.55 Wie sich die Ereignisse aus Sicht eines Direktbeteiligten darstellten und w ­ elche Interessen aufseiten der Bevölkerung im Vordergrund gestanden haben könnten, wird aus einer Erzählung deut­lich, die ein ethnischer Kabardiner hinterlassen hat, der seine Erinnerungen ein Vierteljahrhundert später zu Protokoll gab, nur wenige Jahre, nachdem er sich im Zweiten Weltkrieg in den Westen abgesetzt hatte:56 Ich bin ein Kabardiner und ein Moslem. Ich wurde 1908 als Sohn eines wohlhabenden Bauern geboren, der Pferde, Vieh und eine Bienenzucht besaß. Meine Eltern verschwanden 1918, als eine Bande Bolschewiki kam und sie ihres Wohlstands beraubte. Ich war zu ­diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt und [beim Überfall] nicht zu Hause, weil ich in einem [anderen] Dorf zur Schule ging. [Später] besuchte ich eine vorbereitende technische Schule in Vladikavkaz (…) und wurde 1927 von dort verwiesen, als man herausgefunden hatte, dass ich der Sohn eines Kulaken war. Darauf zog ich in ein Dorf in Kabardino-Balkarien; aber 1928 kam es zu einem Aufstand in Baksan (…). Die Bauern erhoben sich gegen die Kollektivierung beziehungsweise gegen die Entkulakisierung

55 Aleksandr Sacharov, Repressii vo vlastnych strukturach, in: Materialy naučno-praktičeskoj ­konferencii „Političeskie repressii v Kabardino-Balkarii v 1918 – 1930-e gody. Informacionno-­ analitičeskij bjulleten“, Nalʼčik, 11. Mai 2007, S. 12 – 19, hier S. 13. 56 Das nachfolgende Zitat ist eine Übersetzung des Autors aus dem Eng­lischen und im Original enthalten in: HPSSS, Schedule B, Vol. 8, Case 354, S. 1 – 4.

Vorspann zur Tragödie: Der Aufstand von Baksan

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und die Verhaftungen, die als Vorbereitung auf die Kollektivierung durchgeführt wurden. Die Balkaren rebellierten zu d­ iesem Zeitpunkt nicht. Viele Menschen, einschließ­ lich Frauen und Kindern, wurden während der Rebellion getötet. Viele beteiligten sich an ­diesem Aufstand von 1928; der nörd­liche und öst­liche Teil der Kabarda wurde [von Aufständischen] besetzt und vom 7. bis zum 13. Juni gehalten. Insgesamt erhoben sich 15.000 Personen, Frauen und Kinder mit eingeschlossen. Kalmykov schickte daraufhin Abgesandte zu uns, die uns versicherten, dass wir uns täuschen würden und dass keine Verhaftungen und keine Kollektivierung vorgesehen seien; aber es gab Zweifel an [Kalmykovs] Aufrichtigkeit und die Rebellen ließen ihm ausrichten, er solle persön­lich zu ihnen kommen. Weil wir bereit waren, nach Nalʼčik, dem Hauptort der Republik [damals noch ein Gebiet] zu marschieren, tat [Kalmykov] dies. Er sagte, dass uns keine Schuld treffen würde, sondern nur einige unserer politischen Verantwort­lichen. [Bei seinem Besuch] in Baksan versprach er uns persön­lich, dass es keine Verhaftungen und keine Kollektivierung geben würde; aber wir verlangten von ihm, dass er diejenigen, die er verhaftet hatte, auf freien Fuß setzen sollte. Dies schloss Nasir Katchanov ein, einen Bolschewiken, der gegen die Methoden des Terrors war (…). Zu dieser Zeit saß er in einem Gefängnis in Moskau. (…) [Kalmykov] sagte, er würde Moskau bitten, Katchanov zurück in die Kabarda zu ­schicken, wenn die Unruhen sich gelegt hätten und alle nach Hause gegangen wären. Er versprach auch, dass er alle diejenigen entlassen würde, die in Nalʼčik im Gefängnis [sitzen würden], sobald er von Baksan zurückgekehrt [sei]. [Tatsäch­lich] befreite er sie und die Rebellen kehrten im Vertrauen auf die Worte Kalmykovs nach Hause zurück. Katchanov und seine Verbündeten wurden allerdings zur selben Zeit erschossen. Ein paar Tage später, nachdem die Bauern ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten, kehrte Dačko,57 der polpred 58 der GPU-Truppen im Kreis Rostov [gemeint ist der Nordkaukasuskreis], mit frischen Einheiten von außerhalb zurück, weil die kleine Garnison, die die GPU in Nalʼčik unterhielt, sich nicht imstande zeigte, mit den Rebellen fertigzuwerden. Kalmykov rief das Kriegsrecht aus und ordnete an, dass alle zuhause bleiben sollten. Dačko schickte Truppen in die Region von Baksan; er selbst und sein Stab kamen nach Nalʼčik. Dačko wollte 20.000 Rebellen – Kulaken, Mullahs usw. – verhaften. Für jedes Dorf wurden Quoten von Personen erstellt, die verhaftet werden sollten. Ich sollte später auch verhaftet werden, hielt mich zu d­ iesem Zeitpunkt aber in den Wäldern zusammen mit anderen [Rebellen] versteckt. So viele wurden verhaftet, dass die männ­liche Bevölkerung einen deut­lichen Rückgang verzeichnete. Die GPU führte Verhöre unter den Gefangenen durch, aber niemand verriet mich. Der

57 Es ist unklar, um wen es sich hier handelte. Der PP der OGPU im Nordkaukasus war zu ­diesem Zeitpunkt Efim G. Evdokimov, der in dieser Funktion zwischen Juli 1924 und Oktober 1929 im Nordkaukasus waltete: Organy VČK-GPU-OGPU na Severnom Kavkaze i v Zakavkaze, S. 29. 58 Mit polpred ist der PP der OGPU gemeint.

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lokale Parteisekretär [meines] Dorfs jedoch wusste, dass ich am Aufstand beteiligt war. Als er aus dem Rajon-Zentrum zurückkehrte [gemeint ist Baksan], b­ eschlossen meine zwei Gefährten und ich, ihn zu töten. Wir lauerten ihm am 9. Juli 1928 auf der Straße auf, aber es gelang uns nur, ihn zu verwunden. Diese ganze Zeit über hielten wir uns im Wald versteckt. Dann fingen sie an, deswegen meine Verwandten zu verhaften, und mein Onkel riet mir, mich zu stellen. Ich tat dies; nachdem ich mich dem rajispolkom in Baksan gestellt hatte [gemeint ist das ausführende Komitee des Baksan-Bezirks], wurde ich nach Nalʼčik überwiesen. Ich sollte zum Tod ver­urteilt werden. Von den 20.000 verhafteten Personen wollte Dačko 25 Prozent erschießen, 50 Prozent für zehn Jahre in Lager ­schicken und 25 Prozent eine Freiheitsstrafe zwischen drei und fünf Jahren auferlegen. Es gab kein [reguläres] Gerichtsverfahren; die GPU wickelte alles selbst ab. Ich saß alleine in einer Einzelzelle, die keine Fenster hatte; sie hatte einen Zement­ boden und kein Bett. Ich musste auf dem Boden schlafen. Ich wurde immer in der Nacht verhört. Weil ich mich schuldig bekannte und meine Beteiligung an der Rebellion zugab, folterten sie mich nie; aber ich stand unter großem Druck, denn ich musste jederzeit mit der Verhängung der Todesstrafe rechnen. Nach einem Monat wurde ich verurteilt und in die Todeszelle verlegt; es gab kein Licht und sie hielten mich dort zwei Wochen lang gefangen, erschossen mich aber nicht. Ich konnte nichts essen außer Suppe; ich trank Wasser. Schließ­lich wurde ich herausgelassen; man teilte mir mit, dass aufgrund meiner Jugend das Verdikt in eine zehnjährige Freiheitsstrafe umgewandelt worden sei. Ich war zu ­diesem Zeitpunkt erst 20 Jahre alt.

Die Ausführungen des Zeitzeugen ergänzen und korrigieren das Bild, das uns der Geheimdienst in seinem Bericht präsentiert, in einigen wesent­lichen Punkten: Sucht die Geheimpolizei den Aufstand als Machenschaft antisowjetischer Elemente darzustellen, so nehmen sich im Zeitzeugenbericht sowohl der Aufstand als auch die anschließende Repression als Kampf der Bevölkerung gegen den Staat aus. Dass sich am Aufstand bis zu 15.000 Personen beteiligten, eine Zahl, die auch die Geheim­ polizei in einem ihrer Berichte nennt,59 ist durchaus mög­lich, wenn Frauen und Kinder mitgezählt werden. Die Angaben über das Ausmaß der Verhaftungen, die auf die Niederschlagung des Aufstands folgten, sind wohl zu hoch gegriffen, machen aber deut­lich, dass es zu einer massiven Welle der Repression kam, die sich nicht nur punktuell gegen Anführer und aktive Mitstreiter, sondern auch gegen weitere Bevölkerungskreise gerichtet haben muss, unter anderem auch gegen Angehörige jener Personen, die sich am Aufstand beteiligt hatten.

59 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Juni 1928, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 6, S. 366.

Vorspann zur Tragödie: Der Aufstand von Baksan

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Auch die religiöse Dimension findet sich in den schrift­lichen Erinnerungen wieder, allerdings weit weniger prominent als im Geheimpolizei-Bericht. Der Zeitzeuge identifiziert sich ganz zu Beginn als „Kabardiner und Moslem“, doch von der Einführung der Scharia als übergeordnetem Ziel des Aufstands ist im gesamten Protokoll seiner schrift­lichen Erinnerungen keine Rede. Der Widerstand des Verfassers dürfte kaum religiös motiviert gewesen sein. Der Zeitzeuge wurde zunächst wohl eher zufällig in die Sache involviert, weil er damals in einem Dorf im Baksan-­Bezirk lebte. Spätestens nachdem ihn der ört­liche Parteisekretär verraten hatte, nahm sein Widerstand die Form einer persön­lichen Vendetta an, die in einem missglückten Mordanschlag gipfelte. Außerdem kommen im Bericht auch politische Aspekte zur Sprache, wenn etwa von der Forderung nach Freilassung prominenter Gefangener, vor allem von Nasir Katchanov, die Rede ist. Ob Katchanov und seine Gesinnungsgenossen zum Zeitpunkt des Aufstands tatsäch­lich in Moskau im Gefängnis saßen, wie sich im Zeitzeugen-Bericht liest, muss allerdings bezweifelt werden. Folgt man den Darstellungen der rus­sischsprachigen Literatur, wurde Katchanov bereits nach seiner Verhaftung zunächst nach Nalʼčik und danach nach Rostov am Don zur Verurteilung und Hinrichtung überstellt. Geht man davon aus, dass Katchanov sich zum Zeitpunkt des Aufstands nicht in Nalʼčik befand, dann hatte Kalmykov tatsäch­lich auch keinen großen Einfluss mehr auf sein Schicksal. Ohnehin ist nicht anzunehmen, dass sich der Gebietsvorsitzende jemals ehr­lich um die Freilassung Katchanovs bemüht hatte.60 Welche Merkmale charakterisieren den Aufstand von Baksan? Entscheidend dafür, dass sich die Bevölkerung überhaupt zum Aufstand in Form einer Massenbewegung entschlossen hat, scheint einmal der hohe Grad der Solidarität unter den Dorfbewohnern gewesen zu sein. Die sozialen Beziehungen waren zwar auch im nordkauka­sischen Aul bei Weitem nicht immer harmonisch, und zu Beginn der Kollek­tivierung fanden sich auch in dieser Region besonders unter den armen Bevölkerungsteilen und den sozial Benachteiligten Personen, die den staat­lichen Behörden und Brigaden bei der Durchführung ihres Vorhabens Hand boten. Doch gemeinhin war der s­ oziale Zusammenhalt in den nordkauka­sischen Gemeinschaften stärker als in den rus­sischen Dörfern und entsprechend bot sich da auch eher die Mög­lichkeit, Widerstand in einem größeren Verbund zu leisten. Die Gemeinschaft stellte sich schützend vor ihre „Kulaken“, da es sich bei diesen genau wie bei den Mullahs oder den Scheichen oft um angesehene Persön­lichkeiten handelte, die wichtige Figuren im Leben des Dorfs und für die dörf­liche Wirtschaft darstellten. Umgekehrt waren es auch diese Figuren, ­welche die Bevölkerung als natür­liche

60 Sacharov, Repressii, S. 13; A. Ch. Abaev / T. A. Karov, Lafiševo – Šariatskoe – Psychurej, in: Archivy i obščestvo (2011) H. 4, http://archivesjournal.ru/?p=719 [18.1.2013].

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Kollektivierung und Rebellionen

Autoritäten für einen Aufstand überhaupt erst mobilisieren konnten. Dies erkannte auch die Geheimpolizei und entsprechend entschlossen nahm sich die Orga­nisation im Anschluss an den Aufstand die phy­sische Vernichtung dieser Personen vor. Ein weiterer Wesenszug ist darin zu sehen, dass der Aufstand innert kurzer Zeit größere Ausmaße annahm. Nur einen Tag nach dem ersten Marsch nach Baksan, am 10. Juni, schlossen sich den Menschen des Dorfs Kizburun II. auch Bewohner aus einer Reihe anderer Siedlungen an. Die Kommunikation zwischen den Dörfern wurde über Reiter sichergestellt, die Nachrichten rasch weiterleiteten. Dabei war die gegenseitige Hilfe nicht nur deshalb mög­lich, weil sich die Dörfer in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander befanden und die Leute sich offenbar auch persön­lich kannten, sondern die Unterstützung dürfte auch dadurch erleichtert worden sein, dass alle am Aufstand beteiligten Dörfer in von Kabardinern besiedelten Gebieten lagen. Auswirkungen hatten die Ereignisse aber auch auf andere Teile des Gebiets. Allein die Nachricht vom Aufstand in Baksan scheint ausgereicht zu haben, um den Funken in anderen Siedlungen zu zünden, wo die Menschen ebenfalls unter staat­ lichen Zwangsmaßnahmen zu leiden hatten. Dass sich Nachrichten, die nur von Mund zu Mund weitergegeben wurden, schnell zu wilden Gerüchten auswachsen konnten, zeigt das Beispiel der Falschmeldung darüber, dass nicht nur in Baksan, sondern auch in anderen Orten des Gebiets Aufstände ausgebrochen wären und die Rebellen Erfolge verzeichnen würden. Wer mit welcher Absicht d­ ieses Gerücht in Umlauf setzte, ist unklar. Dass ein solches Gerücht zirkulieren konnte und Anklang fand, lässt Rückschlüsse auf die Stimmungslage zu: Die Menschen im Dorf Kizburun II. waren offenbar bereit, einem solchen Gerücht zu glauben, weil es sie in ihrem eigenen Vorhaben bestärkte. Gerüchte ähn­licher Natur sollten Aufständischen auch später immer wieder als Motivation für ihre Aktionen dienen. Dass es zu keiner aktiven Beteiligung weiterer Bevölkerungskreise am Aufstand von Baksan kam, hatte vor allem praktische Gründe. Der Aufstand war nicht von langer Hand geplant und erfolgte spontan. Die Aufständischen verfügten kaum über Waffen und sie konnten auch nicht auf ein Netzwerk zurückgreifen, über das sich eine größere Aktion hätte koordinieren lassen. Für den Aufbau einer schlagkräftigen Organisation fehlte zudem die Zeit. Begonnen als Protestmarsch am 10. Juni, erfuhr die Bewegung bereits zwei Tage später ein blutiges Ende. Der Zeitzeuge nennt in seinen schrift­lichen Erinnerungen zwar eine längere Dauer, doch im Wesent­lichen blieb der Aufstand auf wenige Tage beschränkt. Dass die Geheimpolizei in ihrem Bericht der Analyse von Ereignissen über den Bezirk Baksan hinaus dennoch sehr viel Platz einräumt, weist kaum darauf hin, dass sie mit einem massenhaften und koordinierten Aufstand des gesamten Gebiets rechnete. Eher kam darin die unterschwellige Furcht zum Ausdruck, dass die Entwicklung in dieser historisch un­­ ruhigen Region mit ihren erst schwach entwickelten staat­lichen Strukturen schnell außer Kontrolle geraten könnte und die Parteispitze deshalb gut beraten war, den

Vorspann zur Tragödie: Der Aufstand von Baksan

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dortigen Vorgängen große Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Unbehagen wurde sicher auch durch überkommene Stereotype des fanatischen Muslims geschürt, welcher der Staatsmacht grundsätz­lich suspekt erschien. Weiter zeigt das Beispiel des Baksan-Aufstands, dass neben dem Dorfsowjet als parallele Machtstruktur nach wie vor die Dorfversammlung bestand, die sich nach dem Freitagsgebet spontan konstituieren ließ und der offenbar auch einige Mitglieder der gewählten Sowjetstrukturen angehörten. Die Institution der Dorf­ versammlung diente den Anführern des Aufstands als lokales Organisationsgefäß für die Mobilisierung der Bevölkerung. Erfolgreich war diese Form des Widerstands allerdings nicht. Die Aufständischen waren den Sicherheitskräften waffentechnisch und organisatorisch weit unterlegen. Dass jene sich dennoch zum Widerstand entschlossen, könnte einmal darauf zurückzuführen sein, dass sie wohl nicht ein derart rücksichtsloses Verhalten der Sicherheitskräfte erwarteten und sich angesichts ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit Chancen ausrechneten. Dann lässt sich das Verhalten der Aufständischen aber auch als Ausdruck von Resignation verstehen. Offenbar sahen sie keine wirk­lichen Alternativen zur direkten Konfrontation. Nach der Verhaftung einer Reihe von Autoritätspersonen im Frühjahr 1928 sah sich die Gesellschaft mindestens in d ­ iesem Teil Kabardino-Balkariens ihrer politischen Stimme beraubt. Betal Kalmykov sahen die Menschen nicht als einen der ihren an, sie vertrauten ihm nicht, weshalb sie die nötigen Veränderungen auf andere Art zu erwirken versuchten. Der Griff zur Waffe als im Nordkaukasus häufige Methode, Konflikte aus­zutragen, erklärt sich nicht nur aus der bewaffneten Tradition der Nordkaukasusvölker, sondern auch daraus, dass die bäuer­liche Bevölkerung, die in der Mehrheit weder lesen noch schreiben konnte, sich in ihren Protestmög­lichkeiten ein­geschränkt sah. Vor allem für die Zeit nach Beginn der Kollektivierungskampagne fällt auf, dass sich in den zentralen Archiven kaum Protestbriefe von Angehörigen nordkauka­sischer Völker finden, dagegen aber eine Flut von Protestschreiben ­rus­sischer Bauern, die sich oft direkt an die Spitzen des Staates, an Stalin oder Kalinin wandten, um ihre Klagen vorzubringen. Im Zeitraum Ende 1929 bis Frühjahr 1930 soll Stalin 50.000 Protestschreiben von Bauern erhalten haben, Kalinin, das formelle Staatsoberhaupt der Sowjetunion, sogar 85.000.61 Auch die Abwanderung in urbane Zentren, die bei den rus­sischen Bauern eine weitere, häufige Form des passiven Widerstands darstellte und wodurch dem zunehmenden staat­lichen Druck ausgewichen werden konnte, fiel als Mög­lichkeit im Nordkaukasus weitgehend weg. Denn in den ­rus­sisch besiedelten Städten wehte den nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus oft ein rauer Wind entgegen und ohne Kenntnisse der rus­sischen Sprache fanden

61 Viola, Peasant Rebels, S. 92.

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sie sich in den urbanen Zentren nicht zurecht. Noch mehr als auf die Bewohner von Kabardino-Balkarien traf dies auf Völker wie die Tsche­tschenen oder die Inguschen zu, denen in den Städten Groznyj beziehungsweise Vladikavkaz zum Teil offene Ablehnung vonseiten der rus­sisch dominierten Arbeiterschaft und Partei entgegenschlug. Anders als die Nomaden Zentralasiens, die dem Druck der Kollektivierung durch massenhafte Abwanderung in die Nachbarländer teilweise ausweichen sollten, war ­dieses Phänomen bei den Völkern des Nordkaukasus zu Beginn der Kampagne ebenfalls weit weniger häufig zu beobachten. Die Menschen zogen sich vor allem in die Berge und Wälder zurück und formierten sich dort zu bewaffneten Banden. Das alles hatte zur Folge, dass im Gegensatz zum rus­sischen Dorf, das die jungen Männer nach Beginn der Kollektivierung in Scharen verließen, viele Menschen im Nordkaukasus vor Ort blieben und Widerstand leisteten. Dabei war die aktive und bewaffnete Form des Widerstands im Nordkaukasus auch deshalb so häufig anzutreffen, weil die Bevölkerung noch immer relativ gut bewaffnet war. Für die Bewohner von Kizburun II. traf dies zwar nicht zu; sie mussten ihre Waffen erst erbeuten. Doch in anderen Teilen der Region, insbesondere in Tsche­tschenien, Inguschetien und Dagestan, hatten viele Menschen bei den Entwaffnungsaktionen Mitte der 1920er-Jahre nur einen Teil ihrer Waffen abgegeben; den Rest hatten sie versteckt oder sie hatten kurz nach der Entwaffnungsaktion Waffen aus jenen Gebieten bezogen, denen diese Aktion noch bevorstand. So hatten sich die Tsche­ tschenen ihre Waffen nament­lich aus dem Südkaukasus beschafft, über die kaum kontrollierte Grenze in Richtung Georgien und Dagestan.62 Dass die Entwicklungen in den nichtrus­sischen Teilen des Nordkaukasus jeweils schnell in Gewalt umschlagen konnten, war auch auf eine besondere Herrschaftsform zurückzuführen, die in der nichtrus­sisch besiedelten Peripherie stärker als anderswo von der Geheimpolizei dominiert war, die mit Truppen sofort zur Stelle war. Wie stark die Geheimpolizei präsent war, geht aus dem Zeitzeugenbericht besonders deut­lich hervor. Noch deut­licher zeigte sich bei Beginn der Kollek­ tivierung, dass die Geheimpolizei zur eigent­lichen Drehscheibe der Macht wurde. Besonders in den gebirgigen Regionen waren es oft die Vertreter der Geheim­ polizei, die auch in die entferntesten Aule gelangten und die in einigen Fällen die Sowjetmacht sogar offiziell repräsentierten. Vertreter anderer Institutionen stießen nur sehr selten in abgelegene Aule vor. Dass diese Behörde vor allem von Russen und anderen Außenstehenden dominiert war, verstärkte zu Beginn der bewaffneten Ausein­andersetzungen die Wahrnehmung, es handle sich dabei um eine Konfron­ tation zwischen Russen und Einheimischen. Dabei waren es sowohl die Willkürakte

62 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 498 – 499.

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dieser Sicherheitsbehörde als auch die Vergeltungsaktionen der Einheimischen, die in der Vergangenheit genügend Hasspotenzial aufgestaut hatten, um zu Beginn der Kollektivierungskampagne in äußerst gewaltsamer Form auszubrechen. Als die Parteispitze die flächendeckende Kollektivierung einleitete, waren alle Zutaten für die nachfolgenden Konflikte angerührt.

9. 2  D e r Weg i n d ie E s k a l at io n Mit seinen fruchtbaren Schwarzerdeböden in der Ebene des Kuban und des Terek sowie dem vorteilhaften Klima zählte der Nordkaukasus nebst der Ukraine, den Schwarzerdegebieten Zentralrusslands und der Unteren Wolga zu den Korn­kammern des Landes. Bereits am 4. Juli 1928 legte Andrej Andreev, der Parteisekretär des Nordkaukasuskreises, dem Politbüro einen ausführ­lichen Bericht zur Lage in dieser getreidereichen Region mit Blick auf die Mög­lichkeiten einer umfassenden „sozialis­tischen Umgestaltung“ vor.63 Zu d­ iesem Zeitpunkt waren die Ziele allerdings noch vage formuliert. Wie schnell und in welchem Umfang die Kollek­tivierung durchgeführt werden sollte, ließ der Bericht offen. Auch über die genaue Form der Kolchose herrschte zunächst keine Einigkeit. Bezeichnend war aber, dass der Aufstand von Baksan, der damals nur knapp drei Wochen zurücklag, weder im Andreev-Bericht noch in den anschließenden Diskussionen unter den Mitgliedern des Politbüros auch nur mit einem Wort erwähnt wurde. Dabei signalisierten auch die Entwicklungen in anderen nichtrus­sisch besiedelten Teilen des Nordkaukasus, dass die Idee der Kolchose bei den Bauern kaum Anklang fand. Die staat­lichen Getreidekampagnen in den Jahren zuvor, die Enteignungen von Kulaken, die Beschlagnahmung von Waqf-Land, die Erhöhung von Steuern auf individuelle Bauernwirtschaften sowie die zunehmende Repression gegenüber Geist­lichen und Ältesten schürten in der Landbevölkerung den Unmut gegenüber dem Staat und dessen Vertretern. Noch vor dem Beginn der Totalkollektivierung registrierten die ört­lichen Behörden im gesamten Nordkaukasus denn auch einen markanten Anstieg „terroristischer Aktivitäten“.64 Von allen Gebieten des Nord­ kaukasus zeichneten die Berichte der Geheimpolizei vor allem den nordöst­lichen, 63 Der Bericht Andreevs, einschließ­lich die anschließenden Diskussionen, sind publiziert in: L. P. Košeleva u. a. (Hg.), Stenogrammy zasedanij Politbjuro CK RKP (b) – VKP (b). 1923 – 1938 gg. V trёch tomach. Tom 3. 1928 – 1938 gg., Moskva 2007, S. 83 – 108. 64 Gemäß der Geheimpolizei soll die Situation im Nordkaukasus nach der Entwaffnungsaktion von 1925 zwar ruhiger gewesen sein; ab 1928 hätten die Bandenbewegungen aber wieder zugenommen. Alleine im Zeitraum Januar bis August 1929 rapportierte die OGPU 35 Überfälle in Tsche­tschenien und 64 in Inguschetien: OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 498 – 499.

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von Inguschen, Tsche­tschenen und Dagestanern besiedelten Teil des Nordkaukasus als Zone ständiger Kleinkonflikte, in der die Truppen der Geheimpolizei wiederholt auch Militärexpeditionen gegen einzelne Aule unternahmen, um Verhaftungen durchzuführen und Waffen zu beschlagnahmen. So etwa im Mai 1929, als die Truppen der Geheimpolizei im dagestanischen Aul Kadyr (im heutigen ­Sergokalinskij Rajon) eine Operation gegen eine angeb­lich aus 17 Personen bestehende „antisowjetische Kulaken-Gruppierung“ durchführten. Gemäß der Darstellung der Geheimpolizei wurde die Gruppierung vom Aul-Vorsitzenden angeführt, der im entsprechenden Bericht als „mächtiger Kulake“ bezeichnet wird.65 Den Behörden muss die Situation in d­ iesem von Darginern bewohnten Aul deshalb ein Dorn im Auge gewesen sein, weil die Mitglieder der Gruppierung, w ­ elche die wichtigsten Staatsämter besetzt hielten und so „das gesamte politische Leben“ kontrollierten, den Aufbau einer Parteiorganisation, von Komsomol-Zellen und Kolchosen verhinderten. Dabei war die Situation im Aul für die Geheimdienst­ behörden exemplarisch für eine insgesamt bedroh­liche Lage, die sich durch eine als gefähr­lich einzustufende Zunahme konterrevolutionärer und religiöser Akti­ vitäten auszeichnete. Als Indiz dafür genügte den Autoren des Berichts bereits der Hinweis auf ein angeb­liches Schreiben von Scheich Akušinskij an den Aul Kadyr, in dem der Geist­liche den Bewohnern dafür dankt, als einer der letzten Aule die Religion und die Gesetze des Adat hochzuhalten.66 Anzeichen für einen „Anstieg der Religiosität“ sahen die Vertreter der Geheimpolizei etwa auch in Tsche­tschenien, wo sie von Massengebeten auf den Gräbern von „Heiligen“ oder religiösen Prozessionen berichteten.67 Dass die Geheimpolizei im Fall des Auls Kadyr nicht nur zehn Personen verhaftete, sondern bei der Durchsuchung des Dorfs auch rund 100 Waffen verschiedenen Typs beschlagnahmte, wobei allein beim Aul-Vorsitzenden offenbar ein Dutzend Gewehre gefunden wurden, passte zur Vorstellung, dass hier ein größerer Aufstand in Vorbereitung war.68 Solche und ähn­liche Berichte finden sich für den Nordkaukasus häufig. Augenfällig ist dabei, dass bereits damals die Mög­lichkeit von Aufständen angesprochen und die „Religiosität“ als eine zentrale Triebkraft identifiziert wird. Dass Geist­liche tatsäch­lich aktiver wurden und die Menschen an Versammlungen oder in Schreiben zum Widerstand aufriefen, ist jedoch nicht notwendigerweise als Anstieg der Frömmigkeit zu sehen, sondern könnte im Gegenteil auf die schwindende Bedeutung der Religion im öffent­lichen Leben zurückzuführen sein. In ­diesem Sinn lässt sich auch das Schreiben Akušinskijs an die Bewohner Kadyrs verstehen und in

65 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Mai 1929, in: Ebd., S. 254. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 253 – 254. 68 Ebd., S. 254 – 255.

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dieselbe Richtung zielen auch andere, von Geist­lichen verfasste Flugblätter, wenn sie den Niedergang der Religion, den Rückgang des Einflusses der Geist­lichen und Ältesten sowie das Fehlen von „Anführern der Tariqa und der Scharia“, ­welche die Menschen im Kampf für den Islam hätten leiten und einen können, beklagen. Dabei beschwören diese Schreiben manchmal nicht weniger als das Ende der Welt herauf, um die Bevölkerung aufzurütteln.69 Insbesondere in Tsche­tschenien soll im Vorfeld der Kollektivierung das Gerücht zirkuliert sein, dass die Türkei und deren Verbündete planten, den Kaukasus zu erobern und den Islam wiederherzustellen. Indizien für eine sich abzeichnende Kriegshysterie unter der Bevölkerung erkannte der Geheimdienst in seinen Berichten darin, dass viele Menschen Vorbereitungen für den Notfall treffen sowie Vorräte und Waffen anschaffen würden. Daneben kursierten gemäß der Geheimpolizei auch Gerüchte über großflächige Aufstände in den muslimischen Teilen Zentralasiens, über Ausbrüche von Hungersnöten und einen unmittelbar bevorstehenden Fall der Sowjetmacht.70 Im tsche­tschenischen Bezirk Nožaj-Jurt, in dem die Geheim­ polizei im Frühjahr 1929 das „größte Ausmass an Aktivitäten antisowjetischer Elemente“ beobachtete, wollte sie in den zunehmenden Angriffen von Tsche­tschenen auf Spezialisten von Grozneftʼ und sowjetische Arbeiter auch eine gegen Russen gerichtete Propaganda erkennen.71 Entsprechend rechtfertigten sich aus Sicht der Behörden auch die harschen Gegenmaßnahmen: In zwölf Gemeinden des Bezirks konfiszierte die Geheimpolizei 850 Gewehre, fünf Revolver und eine halbdefekte Kanone. Insgesamt wurden 16 Personen verhaftet, 15 weitere sollen sich frei­willig gestellt haben.72 Dabei stellte die Geheimpolizei in ihren Berichten die lokalen ­Vorkommnisse immer auch als Teile einer größeren Bedrohung dar, wenn sie zum Beispiel eine Verbindung zwischen den konterrevolutionären Bewegungen weißer Generäle in ­Ossetien, Unruhen in den Kosakengebieten des Terek und der Sunža sowie den Akti­vitäten antisowjetischer Gruppierungen in Inguschetien, Tsche­tschenien und ­Dagestan suggerierten.73 All dies, so liest sich in einem Bericht der Geheim­ polizei vom Oktober 1929, „diktier[e] die Notwendigkeit der Durch­führung einer Entwaffnungs­aktion und der Ausschaltung von konterrevolutionären Banden­ elementen in Tsche­tschenien und Inguschetien“.74 Bis zum 5. November 1929 beschlagnahmten die Sicherheitskräfte in einer großangelegten Operation in

69 Siehe Texte von Flugblättern in: Ebd., S. 276 – 278. 70 Ebd., S. 253. 71 Ebd., S. 255. 72 Ebd. 73 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1929, in: Ebd., S. 499 – 500. 74 Ebd.

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Tsche­tschenien und Inguschetien insgesamt 12.475 Waffen (was deut­lich darauf hinweist, dass die Entwaffnungsaktion von 1925 nur bedingt erfolgreich war), liquidierten mehrere Banden, verhafteten eine Reihe von Bandenführern sowie Dutzende von Banditen und Kulaken sowie andere „konterrevolutionäre Elemente“. In Tsche­tschenien konzentrierte sich die Entwaffnungsaktion im Wesent­lichen auf drei Bezirke in den Berggebieten – Itum-­Kalinskij, Nožaj-Jurtskij und Galančožskij –, die den Militärkommandanten schon von früheren Operationen, nament­lich gegen die Truppen Gocinskijs, bekannt waren.75 Gleichzeitig ging die Geheimpolizei auch an die „Liquidierung konter­ revolutionärer Organisationen“ in den dagestanischen Bezirken Andijskij, Avarskij und Chasav-Jurtskij, die in früheren Jahren ebenfalls traditionelle Rückzugs­gebiete von Aufständischen gewesen waren. Sicher­lich handelte es sich dabei auch um Vergeltungsaktionen, fielen in diesen Gebieten doch wiederholt auch Vertreter der Geheimpolizei Mordanschlägen zum Opfer.76 So wurde im Vorfeld der Entwaffnungsaktion in Tsche­tschenien im August 1929 im Itum-Kalinksij-Bezirk der bevollmächtigte OGPU-Vertreter für Tsche­tschenien getötet. Auch im Nožaj-­Jurtskij-Bezirk waren Rebellen in der Vergangenheit gezielt gegen Vertreter der Staatsmacht vorgegangen, wobei sie diese auch als Geiseln im Austausch gegen eigene Gefangene einzusetzen versucht hatten.77 Die Entwaffnungsaktion hatte zwar vorwiegend die Berggebiete im Visier, doch den Druck im Zusammenhang mit der staat­lichen Getreidekampagne spürten vor allem die Bauern in der Ebene. Gemäß Angaben des Volkskommissariats für Außen- und Binnenhandel (Narkomtorg) hatten die Gebiete der Ebene das vom Staat vorgeschriebene Soll der Getreideproduktion für 1929 nur zu einem Viertel erfüllt und damit die mit Abstand niedrigste Rate aller nationalen Gebiete des Nordkaukasus vorzuweisen.78 Mit dem Ziel, der Politik des „Diebstahls und der Gewalt“ des ört­lichen Apparats entgegenzutreten, waren es in Tsche­tschenien im November 1929 nament­lich die in der Ebene gelegenen Siedlungen Gojty im Urus-Martanskij-Bezirk und Avtury im Šalinskij-Bezirk, aus denen die Geheimpolizei Massenversammlungen und Ausschreitungen meldete, die sich gelegent­ lich in gewaltsamen Zusammenstößen mit ört­lichen Milizen äußerten. Vereinzelt

75 Ebd., S. 500 – 501. 76 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im November 1929, in: Ebd., S. 550 – 551. 77 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Oktober 1929, in: Ebd., S. 524 – 525. 78 Mit Ausnahme von Tscherkessien und Adygien, die die Ziele zu 135,9 Prozent beziehungsweise zu 197,3 Prozent erfüllt haben sollen, wiesen Ossetien und die Kabarda immerhin offizielle Raten von 74,1 beziehungsweise 54,1 Prozent aus. Inguschetien fiel dagegen mit 47 Prozent bereits weit zurück. Zu Dagestan enthält die Statistik keine Angaben: Bericht der Informationsabteilung der OGPU über den Verlauf der Getreidegewinnung im Nordkaukasus, nicht vor dem 29. Dezember 1929, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 89 – 92, hier S. 92.

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kam es aber auch in Berggebieten zu Unruhen. So soll etwa im Dorf Benoj im Nožaj-Jurtskij-Bezirk eine aufgebrachte Menschenmenge alle Mitglieder des Dorfsowjets vertrieben haben.79 Die großen Unruhen, die in Teilen des Nordkaukasus auf die Verkündung der flächendeckenden Kollektivierung Mitte November 1929 folgten, waren somit nur eine weitere Eskalationsstufe in einer Entwicklung, die bereits seit ­Monaten angespannt war. Der eigent­liche Aufstand in der tsche­tschenischen Ebene begann am 7. Dezember 1929, als Angehörige zweier Tejps im Aul Gojty ihre Wohnquartiere durch eigene Wachen abriegeln ließen und damit faktisch die Macht übernahmen.80 Ähn­liches trug sich tags darauf in der Siedlung Šali zu, wo Bewohner in Reaktion auf den Versuch der Behörden, Kulaken zu enteignen, die ört­liche Miliz entwaffneten. Als Anführer der Ereignisse von Šali iden­tifizierte der Geheimdienst Šita Istamulov (Geburtsjahr unbekannt, † 1930), der in einem OGPU-Bericht als maßgeb­licher „Ideologe im Kampf der Tsche­tschenen gegen die Sowjetmacht“ und wichtigster „geist­licher Anführer“ bezeichnet wird. Dabei soll Istamulov nicht nur den Widerstand in Šali angeführt, sondern auch versucht haben, die umliegenden Siedlungen aufzuwiegeln, „mit dem Ziel, einen größeren bewaffneten Aufstand zu organisieren“.81 Istamulov war den Sicherheitsorganen bekannt. Er hatte sich bereits im Bürgerkrieg im Kampf gegen die Weißen einen Namen gemacht und im kurzlebigen Emirat Usun-Chadžis als Minister gedient. Danach fiel er bei den Bolschewiki jedoch in Ungnade, er wurde vom Geheimdienst verfolgt und stellte sich ­diesem schließ­lich freiwillig. Im Zuge des Bestrebens der Bolschewiki, abtrünnige Tsche­tschenen und ehemalige „Banditen“ auf die Seite der Sowjetmacht zu ziehen, wurde Istamulov die Leitung der Überwachung des Eisenbahnabschnitts Vladikavkaz-Chasavjurt übertragen. Nach der Entwaffnungsaktion im Herbst 1925 wurde er jedoch seines Postens enthoben, worauf er sich nach Šali zurückzog.82 Die Geheimpolizei reagierte auf die Vorkommnisse in den beiden S ­ iedlungen umgehend. Bereits am 8. Dezember 1929 stellte sie einen Antrag auf Unter­stützung durch die Rote Armee, worauf die Vladikavkazer Infanterieschule und das 82. Infanterieregiment in Kampfbereitschaft versetzt wurden. Am 10. ­Dezember

79 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im November 1929, in: Ebd., S. 549 – 550, 560 – 562. 80 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1929, in: Dʼjakov u. a., „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 585. 81 Ebd., S. 585 – 586. 82 Eine Kurzbiographie Istamulovs findet sich in: A. Berelovič / V. Danilov (Hg.), Sovetskaja ­derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Tom 3. Kniga 2. 1932 – 1934, Moskva 2005, S. 708.

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forderte der bevollmächtigte Vertreter der OGPU im Nordkaukasus offiziell Verstärkung für den Kampf gegen die Aufständischen an. Darauf stellte die Armeeführung des Nordkaukasuskreises in aller Eile in Groznyj eine Kampftruppe be­stehend aus zwei Kompanien der Vladikavkazer Infanterieschule, einer Kompanie des 82. Infanterieregiments, einem Geschwader der 28. Kauka­sischen Infan­ teriedivision und einer Bergbatterie zusammen. Bereits am 11. Dezember stießen diese Armeeeinheiten mit den bewaffneten Abteilungen der Geheim­polizei aus zwei Richtungen nach Gojty und Šali vor, sie mussten aber um­­gehend Verstärkung anfordern, nachdem es ihnen aufgrund heftiger Gegenwehr nicht gelungen war, die Ortschaften einzunehmen. Insgesamt setzten schließ­lich fast 2000 Mann, ausgerüstet mit rund einem Dutzend schwerer Artillerie­kanonen und von sieben Flugzeugen unterstützt, zum Großangriff auf die beiden O ­ rtschaften an. Die Truppen nahmen Šali im Laufe des 11. Dezembers sowie Gojty am Morgen des 12. Dezembers ein. Die wichtigsten Anführer des Aufstands, unter ihnen Istamulov, konnten sich mit ihren bewaffneten Anhängern in die Berge absetzen. Während sich Einheiten der Geheimpolizei und Teile der Armee in der Folge weitere Gefechte mit Banden süd­lich von Gojty lieferten, stießen andere Truppen in den gebirgigen, südöst­lichen Nožaj-Jurtskij-Bezirk vor, wo neue Unruhen gemeldet wurden und wo sie im Zeitraum vom 20. bis 27. Dezember eine weitere größere Militäroperation durchführten. Auch diesmal gelang es nicht, die Anführer zu fassen. Dafür war der Blutzoll auf beiden Seiten hoch: So sollen gemäß Armeebericht im Laufe der gesamten Operation bis zu 60 Tsche­tschenen getötet oder verwundet worden sein. Die Armee beklagte 21 Tote und 22 Verwundete. Insgesamt wurden 450 Personen verhaftet. Erneut konfiszierten die Sicherheitskräfte Hunderte von Waffen.83 Insgesamt gelang es den Sicherheitskräften mit ihren Operationen, die in der kurzen Zeit nur schlecht vorbereitet worden waren, nicht, die Situation zu ent­ spannen und der Anführer des Aufstands habhaft zu werden. Die Konfrontation führte im Gegenteil nur zu einer weiteren Verhärtung der Fronten und stellte sich im Rückblick als Prolog für die folgenden, noch schwereren Unruhen dar, die Tsche­ tschenien und weitere Teile des Nordkaukasus erfassen sollten.

83 Der entsprechende (undatierte) Armeebericht ist publiziert in: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 135 – 136. Gemäß Geheimpolizei-Angaben wurden alleine in Šali 220 Menschen, in Gojty 144 Menschen verhaftet: OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 585. Übertrieben scheint die Behauptung Avtorchanovs, dass die Tsche­tschenen beim Aufstand im Dezember 1929 vor Beginn der eigent­lichen Militäroperation eine 150-köpfige Einheit der Geheimpolizei fast gänz­lich ausradiert hätten: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 159.

Tschetschenien: Kollektivierung zwischen Utopie und Gewalt

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9. 3  Ts che­t s che n ie n: Kol le k t iv ie r u ng z w i s che n Ut o pie u nd G e wa lt Der offiziellen Parteilinie folgend stellte das Parteibüro des Nordkaukasus­ kreises unter der Leitung von Andreev die umfassende Kollektivierung und Ent­kulakisierung damals nicht infrage. Immerhin scheint Andreev aber spätestens nach den schweren Unruhen in Tsche­tschenien erkannt zu haben, dass die Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung je nach Gebiet verschieden waren. Nicht nur r­ us­sische und nichtrus­sische Gebiete galt es zu unterscheiden, es sollte auch zwischen den einzelnen nationalen Gebieten differenziert werden. Anläss­lich des dritten ­Plenums des Nordkaukasus-Kreiskomitees vom 13. Januar 1930 erklärte Andreev dazu, dass etwa die Bedingungen in Ossetien eher mit jenen im rus­sisch besiedelten Kuban als mit denen in Tsche­tschenien, Inguschetien, in der Karatschaj oder in Balkarien zu vergleichen seien, in denen noch „vor­kapitalistische“ und auf „Clan- und patriarcha­lischen Formen“ basierende Landwirtschaftsstrukturen, aber auch ein starker „religiöser Aberglaube“ herrschen würden.84 Eine Kollektivierung, die mithilfe von Rotarmisten und der Ent­ sendung von „Brigaden bestehend aus unseren rus­sischen Genossen“ durchgeführt würde, tauge nichts; sie müsse nationalen Parteikadern übertragen werden, die in Tsche­tschenien und anderen nationalen Gebieten aber fehlen würden. Anstatt die Totalkollektivierung anzustreben, wie dies die tsche­tschenische Parteispitze für die Bezirke Gudermesskij und Šalinskij Mitte ­Dezember 1929 beschlossen hatte,85 forderte Andreev die Genossen in Tsche­tschenien auf, „ein bisschen zuzuwarten“ und zunächst „die elementaren Voraussetzungen für die Kollek­ tivierung zu schaffen“. Dabei versicherte ihnen Andreev, sie würden nicht dafür gerügt werden, wenn sie bei der Kollektivierung etwas zurückbleiben würden.86 Der letzte Punkt muss sich für die aus Tsche­tschenien angereisten ­Delegierten zynisch angehört haben. Denn nach den Aufständen im Dezember, die auf die desaströs durchgeführte Kollektivierungs- und Entkulakisierungskampagne gefolgt waren, wurde Anfang 1930 die gesamte tsche­tschenische Führung ausgewechselt. Nebst dem Ersten Parteisekretär Solomon Abramovič Chasman (* 1886, Todesjahr unbekannt), der erst im Jahr zuvor in d­ ieses Amt berufen worden war, wurde auch 84 RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 99, L. 25 – 26. 85 Die tsche­tschenische Parteiführung beschloss bereits am 10. Dezember, das heißt, noch während die Kämpfe in vollem Gange waren, die Kollektivierung ganz Tsche­tscheniens innerhalb eines Zeitraums von nur eineinhalb Jahren. Am 18. Dezember entschied das tsche­tschenische Partei­komitee die Totalkollektivierung der Kreise Gudermesskij und Šalinskij, die bereits im Frühjahr 1930 vollendet sein sollte. Mechdin Baj-Alievič Ėlʼžurkaev, Kollektivizacija selʼskogo ­chozjajstva v Čečeno-Ingušetii. Uroki istorii (1927 – 1937 gg.), Machačkala 2000, S. 73, 76. 86 RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 99, L. 26, 28.

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der Vorsitzende des ausführenden Gebietskomitees, Daud Arsanukaev, abgesetzt. Auch danach war die Situation auf Führungsebene starken Fluktuationen unterworfen. Sollte der Nachfolger Arsanukaevs, der Tsche­tschene Ch. R. Mamaev, nur gerade ein halbes Jahr im Amt walten, so blieb der Nachfolger Chasmans, Georgij M. Karib, immerhin bis August 1932 auf seinem Posten. Auch in den einzelnen Unruhegebieten kam es wiederholt zu Säuberungen des Partei- und Staatsapparats.87 Wohlgemerkt plädierte Andreev mit seinem Aufruf zur Zurückhaltung bei der Kollektivierung keineswegs für Milde und Nachsicht. Vielmehr rief er zum entschlossenen Kampf gegen die Kulaken auf: In den nationalen Gebieten gibt es ebenso Kulaken wie in den rus­sischen Bezirken. Dieser Kulak muss dort aber zuerst gefunden werden. Das Wichtigste ist, dass der Kulak gefunden wird, bevor wir mit der Kollektivierung beginnen; und ich versichere Ihnen, Genossen, dass unsere Parteiorganisationen dort den Kulaken noch nicht kennen. (…) Und in Tsche­tschenien haben wir den Kulaken erst mithilfe der Armee aufgespürt (…). 88

Dass die Kulaken unbedingt „gefunden“ werden mussten, war aus der Sicht Andreevs auch deshalb nötig, weil verhindert werden sollte, dass die Kulaken bei einer späteren Kollektivierung in die Kolchosen eintraten und diese dann „regier[t]en“.89 In welchem Umfang Kulaken aus den verschiedenen Gebieten und B ­ ezirken des Nordkaukasus deportiert werden sollten, definierte der Beschluss des Nord­ kaukasus-Kreiskomitees vom 8. Januar 1930. Zusätz­lich zu den Kulaken der ersten Kategorie sollten insgesamt 20.000 Kulakenhöfe der zweiten Kategorie aus dem Nord­kaukasus ausgesiedelt werden.90 Auf die nationalen Gebiete entfielen dabei 1500 – 2000 Kulakenfamilien: 200 in Adygien (150 tscherkes­sische und 50 rus­sische), 50 in der Karatschaj, 75 in Kabardino-Balkarien, 350 in Nord­ ossetien, 150 in Inguschetien und 500 in Tsche­tschenien.91 Diese Zahlen flossen in den erwähnten Beschluss des Politbüros vom 30. Januar 1930 ein, der für

87 Ėlʼžurkaev, Kollektivizacija, S. 99, 122. Zu den einzelnen Personen und den Ämter­besetzungen siehe die Angaben bei: Spravočnik po istorii Kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza 1898 – 1991, http://www.knowbysight.info/ [12.4.2013]. 88 Der unterstrichene Satz im Zitat ist im Originaltext von Hand durchgestrichen und findet sich in späteren Versionen nicht mehr: RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 99, L. 27. 89 Ebd. 90 In ­diesem Dokument, das nicht vor dem 8. Januar 1930 verfasst wurde (siehe dazu die Angaben in Anmerkung 4 in ­diesem Kapitel), finden sich keine konkreten Zahlen zu den Kulaken der ­ersten Kategorie: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 100 – 103 (inklusive Anmerkung 40 auf S. 819). Der Beschluss des Politbüros vom 30. Januar 1930 nennt die Zahl von 6000 – 8000 Personen: Ebd., S. 151 – 155. 91 Ebd., S. 101.

Tschetschenien: Kollektivierung zwischen Utopie und Gewalt

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jeden Landesteil die Kontingente der zu Deportierenden vorschrieb.92 Daraufhin erstellte die Geheimpolizei einen ehrgeizigen Zeitplan. Früher als anderswo sollte die Operation im Nordkaukasus und im Gebiet der Mittleren und Unteren Wolga bereits am 10. Februar beginnen. Am 15. Februar sollten sich die Kulaken an designierten Sammelstellen einfinden, von wo aus sie mit Zügen in andere Landesteile deportiert werden sollten.93 Sehr bald zeigte sich jedoch, dass sich die Liquidierung des Kulakentums in der von der Parteiführung ­angestrebten „geordneten Weise“ aufgrund der massiven Unruhen im Nordkaukasus nicht wie geplant durchführen ließ.94 Wie in anderen Landesteilen war auch die Parteiführung in Tsche­tschenien danach bestrebt, die Kollektivierung und Entkulakisierung auf einen Schlag zu lösen und dabei mög­lichst schnell mög­lichst gute Resultate zu erzielen. Von Zurückhaltung konnte keine Rede sein. Die Parteiführung wollte im Gegenteil unbedingt verhindern, dass Tsche­tschenien in der Statistik gegenüber den ­anderen Gebieten abfiel. Schon kurz nach Beginn der offiziellen Kollektivierungs­kampagne meldete das tsche­tschenische ausführende Gebietskomitee be­­eindruckende ­Zahlen: Bereits Mitte Februar 1930 sollen die Bezirke Šalinskij zu 97 Prozent und ­Gudermesskij zu 83 Prozent kollektiviert gewesen sein. Zwei Wochen ­später soll die Kollektivierung in diesen Bezirken sogar vollständig abgeschlossen gewesen sein, wobei der Bezirk Šalinskij den Plan gar zu 103 Prozent und damit „übererfüllt“ haben soll. Die tsche­tschenische Ebene soll nach ­offiziellen Angaben bis Mitte März bereits zu 80 Prozent kollektiviert gewesen sein.95 Gleichzeitig nahmen die ört­lichen Behörden massenhaft Bauern in die Liste der Kulaken auf. Allein in den Bezirken Gudermesskij, Šalinskij und Nožaj-Jurtskij ­identifizierten die ört­lichen Trojkas nicht weniger als 1500 Kulakenhöfe.96 Bis Anfang Mai 1930 entzog die Partei 11.274 Personen das Wahlrecht, was 8 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung entsprach. In manchen Bezirken wurde bis zu einem Drittel der Menschen das Wahlrecht aberkannt, was nur bedeuten konnte, dass sich unter diesen Personen auch viele serednjaki und bednjaki befanden. Für Inguschetien stellte der für die Kollektivierung Verantwort­liche in einem Bericht vom 20. Januar 1930 fest, dass in den Kulakenlisten 47 Prozent ­serednjaki erfasst worden wären. So soll auch ein gewisser Musliev nur deswegen in die Liste

92 Ebd., S. 151 – 155. 93 Von den insgesamt rund 28.000 Kulaken und ihren Familien (die Summe der Kulaken der ersten und zweiten Kategorie) sollten 23.000 in den Ural und 5000 nach Kasachstan deportiert werden: Ebd., S. 151 – 155. 94 Ebd., S. 126. 95 Ėlʼžurkaev, Kollektivizacija, S. 76 – 77. 96 Ebd., S. 81.

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aufgenommen worden sein, da ihn jemand bei den Behörden angezeigt hatte, weil er Kartoffeln verkauft hatte.97 Die erstaun­lichen Kollektivierungsraten waren einerseits deshalb mög­lich, weil in vielen Aulen kurzfristig „flächendeckende Kolchosen“ errichtet wurden, die – wie etwa im Fall der Ortschaften Gojty und Urus-Martan – manchmal bis zu 1500 Höfe umfassten. Diese Kollektivierung im Schnelltempo bedeutete, dass kollektiviert wurde, ohne dass vorher die Landnutzung und die Land­zuweisung re­­organisiert worden wären. In vielen Fällen galten ganze Landstriche bereits dann als kollektiviert, wenn die Bauern an Versammlungen dem Eintritt in eine Kolchose, die zu d­ iesem Zeitpunkt noch gar nicht existierte, formell zustimmten. Diese Form der Kollektivierungskampagne ließ sich so sehr schnell und mit geringem ­personellem Aufwand durchführen.98 Andererseits wurde auch in Tsche­tschenien vonseiten der ört­lichen Behörden Druck ausgeübt bei der Kollektivierungs­kampagne, was die ohnehin angespannte Stimmung zusätz­lich anheizte. Immer häufiger gab es Berichte von Anschlägen von Banden auf staat­liche Einrichtungen und von Zusammen­stößen mit der Geheimpolizei, die jeweils Tote und Verletzte forderten.99 Alle Vorstöße innerhalb der Kommunistischen Partei Tsche­tscheniens, das Vorgehen bei der Kollek­ tivierung zu überdenken und sich bei der Errichtung von ­Kolchosen stattdessen den gesellschaft­lichen Einfluss der geist­lichen Führer nutzbar zu machen, lehnte die Parteiführung als „rechte opportunistische Abweichung“ ab.100 Nicht viel besser stellte sich die Lage in den Nachbargebieten Tsche­tscheniens dar. Am 3. Februar 1930 führten Rebellen in Inguschetien einen aufsehen­erregenden Anschlag aus. Auf dem Weg ins Dorf Surchachi überfielen sie das Fahrzeug, in dem sich der erst seit September 1929 amtende Sekretär des inguschischen ausführenden Gebietskomitees der Partei, Iosif Moiseevič Černoglaz (1894 – 1930), befand. Sie ermordeten ihn sowie den Vorsitzenden des ört­lichen Rajon-Komitees und den Chauffeur des Wagens. Bei der anschließenden Vergeltungsaktion tötete die Geheimpolizei mehrere „Banditen“; auch verhaftete sie rund 200 Personen, da­­ runter offenbar auch den Mörder von Černoglaz.101 Ähn­liche Vorfälle mit zahlreichen Toten rapportierten die staat­lichen Sicherheitsorgane auch aus anderen nationalen 97 Ebd., S. 83. 98 Ebd., S. 77, 85 – 86. 99 Operativer Bericht der OGPU, Nr. 1, 6. Februar 1930, in: A. Berelovič / V. Danilov (Hg.), Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Tom 3. Kniga 1. 1930 – 1931, Moskva 2003, S. 144 – 147. 100 Ėlʼžurkaev, Kollektivizacija, S. 82. 101 Operativer Bericht der OGPU, Nr. 1, 6. Februar 1930, in: Berelovič / Danilov (Hg.), Sovetskaja ­d­­erevnja, Tom 3, Kniga 1, S. 146; Mitteilung des Armeestabs des Nordkauka­sischen Militärbezirks über Bauern­ unruhen im Nordkaukasus, 8. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 192. Gemäß Avtorchanov fand die Ermordung von Černoglaz im Herbst 1930 in der Nähe des Dorfes Galaški statt.

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Gebieten.102 Um die Unruhen in der Kabarda, in der sich offenbar Hunderte von bewaffneten Aufständischen zu großen Banden zusammengeschlossen hatten, unter Kontrolle zu bringen, wurde Mitte Februar 1930 sogar die Armee aktiviert, welche die Truppen der Geheimpolizei unterstützen sollten.103 Gemäß der Geheimpolizei wurde damit der Plan der Aufständischen vereitelt, die Ortschaft Nalʼčik einzunehmen.104 Das Hauptaugenmerk galt aus Sicht der Geheimpolizei jedoch der Situation in Tsche­tschenien und Dagestan. Zwar sollen in Tsche­tschenien Anfang 1930 nur etwa zehn „rein politische Banden“ operiert haben, doch diese bildeten nach Meinung des Geheimdienstes die Rekrutierungsbasis für die Organisation eines großen Aufstands, der von Istamulov zusammen mit „seinen engsten Vertrauten Ganuko Mulla und ­Kagirmanov“ vorbereitet werde. So liest sich in einem ausführ­lichen Bericht der Geheimpolizei vom 26. Februar 1930: „Istamulov bereist die Ortschaften, führt Treffen mit Geist­lichen und [anderen] Autoritäten durch mit dem Auftrag, Anfang März loszuschlagen.“ 105 Außer vor Istamulov warnte der Geheimdienst im selben Bericht auch vor den Anhängern der „Ali-Mitaev-Sekte“, die sich auf der Basis ihres „Fanatismus und der Familien- und Clanbeziehungen“ ebenfalls auf einen Aufstand vorbereiten würden.106 Gestützt auf Gerüchte, die damals in der Bevölkerung angeb­lich ­zirkulierten, porträtierte der Geheimdienst Istamulov nicht nur als Anführer der Rebellen aus Šali, sondern schrieb ihm sogar das Potenzial zu, ein „nationaler Held“ und „Kämpfer für die Befreiung Tsche­tscheniens von der rus­sischen Gewaltherrschaft“ zu werden.107 Gefahr sah der Geheimdienst in der Vereinigung der verschiedenen tsche­tschenischen Gruppierungen, aber auch im Zusammenschluss von nordkauka­sischen Gruppen. So soll Istamulov enge Verbindungen sowohl zu dagestanischen Banden als auch zu den Kosaken aus dem Bezirk Kizljar unterhalten haben.108

Alle Berichte der Geheimpolizei sprechen aber vom 3. Februar 1930 und nennen das Dorf Surchachi, das in einem anderen Rajon Inguschetiens liegt: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 165. 102 Bericht der Politabteilung des Nordkauka­sischen Militärbezirks über die Situation im Nord­kaukasus, 18. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 235 – 239. 103 Ebd. 104 Operativer Bericht der OGPU, Nr. 4, nicht vor dem 17. Februar 1930, in: Berelovič / Danilov (Hg.), Sovetskaja derevnja, Tom 3, Kniga 1, S. 181. 105 Bericht von Genosse Rudʼ an Evdokimov über die Verschärfung der politischen Situation in Tsche­tschenien, verfasst am 26. Februar 1930; der Bericht wurde weitergesandt an Stalin und ­Vorošilov: N. E. Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 8. Častʼ 2. 1930 g., Moskva 2008, S. 1249 – 1250, hier S. 1249. 106 Ebd. 107 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 586. 108 OGPU-Bericht über die Verschärfung der politischen Situation in Tsche­tschenien, verfasst von Genosse Rudʼ zuhanden Evdokimovs, 26. Februar 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1249 – 1250.

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Wie bedroh­lich die Lage war und ob die Aufständischen untereinander tatsäch­ lich in Verbindung standen, lässt sich auf Grundlage der Quellen nicht eindeutig sagen. Sicher aber hatten die Geheimdienste ein Interesse daran, die Situation in den düstersten Farben zu malen, um ihre Präsenz im Kaukasus zu rechtfertigen und von der Armee maximale Unterstützung bei der Durchführung allfälliger Militär­ operationen zu erhalten. Denn diesmal wollten die Sicherheitskräfte besser vor­ bereitet sein als im Dezember 1929. Die Vorkehrungen aufseiten der Armee, für den Fall von Unruhen eine ­solche Unterstützung zu leisten, waren zu d­ iesem Zeitpunkt bereits angelaufen. So liest sich in einem Armeebericht vom 8. Februar 1930: Für den Fall von Aufständen in Dagestan und Tsche­tschenien zu dem Zeitpunkt, da dort gegen die Kulaken vorgegangen wird (was voraussicht­lich Ende Februar der Fall sein wird) (…), [halten] es die Kreisbehörden für unabdingbar, dass die Armee die ­Festungen Chunsach, Gunib, Vedeno und Šatoj [befestigt]. Die 28. Division unternimmt die entsprechenden Vorbereitungen.109

Dem Bericht beigefügt ist ein detaillierter Plan des militärischen Ober­kom­ mandierenden im Nordkaukasuskreis, General Ivan Panfilovič Belovs (1893 – 1938), in dem dieser darlegt, wie die Armee im Fall weiterer „innerer Komplikationen“ auf dem Territorium des Nordkaukasuskreises vorgehen wollte.110 Auch Andreev meldete sich zu Wort. In einem Schreiben an die Parteispitzen der nationalen Gebiete vom 17. Februar 1930 kritisierte er, diese würden die Direktiven nicht beachten und die Kollektivierung in den Berggebieten sogar weiter f­ orcieren. Erneut beanstandete er, dass für die Arbeit in den Aulen Brigaden bestückt mit ­rus­sischen Kommunisten vorgeschickt würden, was die einheimischen Kader seiner Ansicht nach deshalb unterstützen würden, um im Fall von Problemen die Verantwortung von sich schieben zu können. Gleichzeitig machte Andreev auch klar, dass die ört­lichen Parteiorganisationen von einer Entkulakisierung mittels „­nackter administrativer Maßnahmen“ ohne vorherige Vorbereitung und Aufklärung der Bevölkerung absehen sollten. Dies alles geschah seines Erachtens auch deshalb zu einem höchst ungünstigen Zeitpunkt, weil das Augenmerk auf die Aussaat g­ erichtet werden sollte, die durch die derzeitige Lage stark gefährdet sei.111 Dabei würde sich ein enteigneter Kulak nur den Banditen in den Bergen anschließen, was „die natio­ nalen Parteiorganisationen keine Minute lang vergessen sollten“. Deshalb sollte 109 Mitteilung des Armeestabs des Nordkauka­sischen Militärbezirks über Bauernunruhen im Nordkaukasus, 8. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 191 – 194, hier S. 192. 110 Ebd., S. 193 – 194; eine Kurzbiographie Belovs findet sich in: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 172 – 173. 111 RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 97, Ll. 26 – 27, hier L. 26.

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der Schwerpunkt auf den „Kampf gegen die Überreste des Banditentums“ gelegt werden. Weil der Bandit von seinen Bekannten in den Aulen geschützt werde, gelte es, ­dieses „Helfersystem“ zu zerstören.112 Andreevs Kritik macht deut­lich, dass zu d ­ iesem Zeitpunkt nicht die Kollek­ tivierung, sondern die entschiedene Bekämpfung des Banditentums beziehungsweise die militärische Unterdrückung mög­licher Aufstände im Fokus der Politik stehen sollten. Mit den eingangs erwähnten Beschlüssen vom 20. und 25. Februar 1930 sanktionierte das Politbüro diese Haltung. Mit Blick auf die Situation in Tsche­tschenien beschloss das oberste Parteigremium nun auch offiziell die Verlegung von Armeeteilen. So hielt das Politbüro im dritten Punkt seiner Bestimmungen vom 25. Februar 1930 fest, dass „mit dem Ziel einer entschiedenen und schnellen Liquidierung des Banditentums“ eine „genügend große Zahl bewaffneter Streitkräfte“ nach Tsche­tschenien entsandt werden sollte.113 Darauf beantragte der bevollmächtigte Vertreter der OGPU im Nordkaukasus zwei Tage später bei der Armeeführung des Nordkaukasuskreises, größere Verbände nach Tsche­tschenien zu verlegen.114 Andreev und die Spitzen von Geheimpolizei und Armee einigten sich darauf, den Beginn der Operation mit dem Namen „Ugroza“ (wörtl. „Bedrohung“) auf den 10. März festzulegen. Dazu sollten eine Infanteriedivision, eine Brigade sowie alle Kräfte in den Garnisonen mobilisiert werden. Zudem ging die Armee daran, die Grenzen zwischen Tsche­tschenien und Inguschetien mit zusätz­lichen Kräften zu verstärken. Ziel der Operation war nicht nur, die Banden zu zer­schlagen und deren Anführer zu liquidieren, sondern auch die gefähr­lichsten Kulaken und konterrevolutionären Elemente zu verhaften sowie erneut eine umfassende Entwaffnungsaktion durchzuführen.115 Anders als noch bei der ersten Operation waren die Sicherheitsdienste diesmal danach bestrebt, „in jeder mög­lichen Weise“ auch die Hilfe „loyaler Autoritäten aus den Reihen der Scheiche“ in Anspruch zu nehmen und allfällige Zwiste innerhalb der tsche­tschenischen Gesellschaften für die Zwecke ihrer Militär­mission zu n ­ utzen. Dazu stellten die ört­lichen Ableger der Geheimpolizei Kontakte zu verschiedenen Persön­lichkeiten und Mittelsmännern her, unter anderem auch zu einem ­gewissen Magomedov, der „seine Dienste für die Liquidierung Istamulovs 112 RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 97, L. 27. 113 Aus dem Protokoll Nr. 118 der Sitzung des Politbüros des ZKs der VKP (b) bezüg­lich Fragen der Kollektivierung und Entkulakisierung, 25. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 260. 114 Dies geht aus dem (undatierten) Armeebericht zur zweiten Militäroperation in Tsche­tschenien hervor, die im März 1930 durchgeführt wurde. Der Bericht ist enthalten in: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 144 – 145, hier S. 145. 115 OGPU-Bericht über die Verschärfung der politischen Situation in Tsche­tschenien, 26. Februar 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1250.

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und dessen engste Verbündete“ angeboten haben soll.116 Ähn­liche Anstrengungen sollen auch über andere Verbindungsmänner und Gruppierungen erfolgt sein, wobei insbesondere einige Anhänger aus der Gefolgschaft Mitaevs, offenbar nachdem diese vom Geheimdienst unter Druck gesetzt worden waren, ihre Hilfe bei der Verfolgung tsche­tschenischer Bandenführer angeboten haben sollen.117 Die tsche­tschenische Führung wurde über die Operation nur per Direktive informiert, in den Entscheid und in die Vorbereitungen aber nicht einbezogen. Dem ausführenden Gebietskomitee Tsche­tscheno-Inguschetiens wurde ledig­lich die Aufgabe übertragen, seine Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung zu verbessern.118 Während die Vorbereitungen für die Militäroperation liefen, Armeeteile verlegt und die Garnisonen in den Bergen mit Truppen verstärkt wurden, entwarf die tsche­tschenische Regierung einen detaillierten Plan zur Durchführung von Massen­veranstaltungen in den von Unruhen betroffenen tsche­tschenischen Aulen – Anlässe, die in der ersten Märzhälfte veranstaltet wurden und die Bevölkerung über das Wesen des Banditentums aufklären sollten.119 Als Grundlage für die Propaganda­arbeit diente der Regierung ein Merkblatt, das die Bevölkerung in 13 Punkten über das Banditenwesen unterrichten und dabei insbesondere erklären sollte, weshalb Šita Istamulov und seine Getreuen Feinde des Volks und deshalb mit aller Entschlossenheit zu vernichten seien:120 Was ist das Banditentum [banditizm] und woher kam es zu uns [otkuda vzjalsja u nas]? 1.  Das Banditentum ist eine besondere Form des politischen Kampfs des Kulakentums gegen die Sowjetmacht. 2.  Die Arbeiterschaft, die bednjaki und serednjaki des Auls müssen wissen, dass das Banditentum niemals und nirgendwo ein revolutionäres Mittel im Kampf für Freiheit und die Revolution sein kann (…). 3.  Das Banditentum war und wird immer eine ausgeprägte Waffe in den Händen des Kulakentums sein; das Banditentum ist (…) eine konterrevolutionäre, gegen das Volk gerichtete [antinarodnoe] und antisowjetische Erscheinung. 4.  Manchmal landen einzelne bednjaki und serednjaki in Banden, weil sie von den Kulaken und deren Propaganda dazu verführt wurden. 5.  Die Sowjetmacht kümmert sich um das Wohlergehen der armen Bauern und der Mittelbauern, sie sorgt sich um deren kulturelle und wirtschaft­liche Entwicklung auf Grundlage des Sozialismus. Das Banditentum ist gegen dies. Der Bandit ist ein Feind des Volks. 116 Ebd., S. 1249. 117 Ebd., S. 1249 – 1250. 118 Ebd., S. 1250. 119 GARF, F. R–1235, Op. 109, D. 114, L. 524. 120 Das Pamphlet findet sich in: GARF, F. R–1235, Op. 109, D. 114, L. 525.

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6.  Es stimmt nicht, dass das Banditentum als eine Folge der Anwesenheit [naličie] der Staatsmacht, einschließ­lich der Sowjetmacht, zu verstehen ist – eine ­solche Ansicht gründet entweder in einer naiven Vorstellung eines Klassenbewusstseins oder geht auf eine Täuschung des Volks zurück, die von den Kulaken (…) initiiert wurde – den Feinden des Volks. 7.  Aufgrund der begangenen Fehler und der Exzesse [peregiby] bei der Auf­erlegung und der Eintreibung von Steuern, die einzelne Arbeiter und sogar einzelne Partei- und Sowjetorganisationen verschuldet hatten, haben sich einige bednjaki und serednjaki aus Angst versteckt, womit sie die Formierung von Bandengruppen selbst ermög­lichen. Wir berichtigen unsere Fehler. Wir gehen gegen die Schuldigen für die Exzesse gericht­lich vor. Die bednjaki und serednjaki müssen zur fried­lichen Arbeit zurückkehren. (…) 8.  Šita Istamulov ist der niederträchtigste [samyj gnusnyj] Feind des Volks, der Feind der Sowjetmacht. Er ist nicht mehr und nicht weniger als ein Knecht der Kulaken und steht im Dienst ihrer Interessen. Er hat sich gegen die Sowjetmacht zu einem Zeitpunkt erhoben, als die Sowjetmacht und die Kommunistische Partei Maßnahmen ergriffen, um die Arbeit des Getreidebauern im Aul zu erleichtern durch die Bereitstellung (…) von Traktoren [und] neuen Landwirtschaftsgeräten, die Eröffnung von Schulen, [die Einrichtung] des Radios usw. 9.  Um Šita Istamulov sammeln sich Kulaken, Reaktionäre und Verbrecher. Er versucht die bednjaki und serednjaki auf seine Seite zu ziehen. Das gelingt ihm nicht. Er verängstigt das Volk mit seinen Provokationen und allen mög­lichen Erfindungen – das Volk folgt keinem Dummen, Hinterhältigen und Diener des Kulakentums. 10.  Die Sowjetmacht ist stark. Deshalb ist sie großmütig und vergibt denjenigen, die vom Agenten der Kulaken – Istamulov – in die Irre geführt wurden, die die Banden verlassen und zur fried­lichen Arbeit zurückkehren. 11.  Der Frühling naht. Wir alle bereiten uns auf das Pflügen der Felder vor. (…) Das ganze Land bereitet sich auf die eine große Sache – die AUSSAAT – vor. 12.  Und womit ist Istamulov beschäftigt, dieser feige Hund kulakischen Auswurfs [ėtot truslivyj pes kulackich otbrosov], dieser Betrüger und Feind des Volks? Er bereitet sich auf Überfälle, Raubzüge und Morde vor. Seine Banditen überfallen Kooperativen, töten Arbeiter wie Sulejmanov. Soll das Volk zulassen, dass Istamulov in noch größerem Ausmaß Unheil über die Arbeitenden in den Aulen bringt? (…) 13.  An die Kommunisten, Komsomolzen und das Aktiv der armen Bauern und der Mittel­bauern des roten Tsche­tschenien: Wenn ihr die Interessen der arbeitenden Bevöl­ kerung nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten ­schützen wollt, wenn ihr mutig und tapfer seid – dann auf in den Kampf gegen das Banditentum und gegen Istamulov! Tod den Anhängern Istamulovs (…), den Räubern und Feinden des Volks! Zertrümmert sein Nest und vernichtet seine Begleiter und Mithelfer [spodvižniki i posobniki]!121

121 GARF, F. R–1235, Op. 109, D. 114, L. 525.

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Obwohl der Aufstand im Dezember lokal begrenzt geblieben und es Istamulov nicht einmal gelungen war, die Nachbarsiedlungen zum gemeinsamen Widerstand zu orga­ nisieren, stellte die Tatsache, dass bewaffnete Banden weitgehend un­­behelligt Anschläge ausführen konnten, nicht nur bloß ein Ärgernis dar. Denn Istamulov präsentierte den einfachen Bauern eine Alternative zum Eintritt in die Kolchose und den Kulaken eine Mög­lichkeit, einer Deportation zu entgehen. Konfrontiert mit der Macht des Staates, war der Einzelne nicht auf sich selbst gestellt, sondern hatte die Wahl, sich bestehenden Banden anzuschließen. Mit anderen Worten: Istamulov symbolisierte die Alternative schlechthin – und dagegen versuchten die Bolschewiki mit allen Mitteln anzugehen. Insgesamt zog die Armeeführung bis Mitte März 1930 fast 4000 Soldaten zu­ sammen, die wiederum mit schweren Waffen ausgerüstet und von einer Staffel der Luftwaffe unterstützt wurden. Bezüg­lich Charakter und Zielsetzung g­lich diese Operation einer militärischen Invasion, um Feindesland zu besetzen. Mindestens im Bewusstsein der Beteiligten stellte sich dies so dar. So liest sich im Brief eines Rotarmisten, der an der Operation beteiligt war: Bei uns ist die Situation sehr kritisch, wir befinden uns im Kriegszustand. In Inguschetien und Tsche­tschenien sind Aufstände im Gange, dort wurden viele Banden organisiert und die ziehen unter der Losung „Nieder mit der Sowjetmacht“ gegen uns. Wir rücken aus, diese Banden zu vernichten. – [Unterzeichnet] „K“, Nackavškola, SKK.122

Die Truppen konzentrierten sich dabei auf zwei Operationsgebiete: auf den Galančožskij-Bezirk in Südtsche­tschenien und auf den Raum an der Schnittstelle der Bezirke Itum-Kalinskij, Gudermesskij, Vedenskij und Nožaj-Jurtskij.123 Als die Sicherheitskräfte schließ­lich am 16. März vorrückten, trafen sie nicht überall auf gleich starken Widerstand. Am heftigsten war die Gegenwehr im Galančožskij-­ Bezirk, wo sich den Truppen gemäß Armeebericht rund 500 Bewaffnete entgegenstellten. Nach hartnäckigen Gefechten gelang es der Armee, den Widerstand bis zum 19. März zu brechen, worauf „die Truppen die vorgesehenen Rajons ­besetzten“.124 Anders stellte sich die Lage im zweiten Operationsgebiet dar, wo die Armee „nur auf den Widerstand einzelner Bandengruppen“ traf. Bis zu ­diesem Zeitpunkt hielten sich die Verluste aufseiten der Sicherheitskräfte denn auch in Grenzen: Im Armeebericht ist von fünf Gefallenen und 20 Verletzten die Rede. Keine Angaben finden sich zur Zahl der gefallenen Tsche­tschenen.125 122 Der (undatierte) Brief ist publiziert in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1222. 123 Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 144. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 145.

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Eine Erklärung für die unterschied­lichen Reaktionen der Tsche­tschenen ­liefert Efim Evdokimov in einem Bericht vom 23. März 1930.126 Evdokimov war damals nicht mehr als bevollmächtigter Vertreter der OGPU im Nordkaukasus tätig, sondern noch im Oktober 1929 zum Mitglied des OGPU-Kollegiums und Leiter der dortigen Geheim-Operativen Abteilung (Sekretno-operativnoe ­upravlenie – SOU) ernannt worden. Er war damit maßgeb­lich für die Organisation und Durchführung der Entkulakisierung zuständig. Nach eigenen Angaben begab er sich um den 20. März höchstpersön­lich in den Nordkaukasus, weil seiner Meinung nach die Genossen in Rostov am Don „schlecht orientiert“ seien und er sich selbst ein Bild von der Lage machen wolle.127 Gemäß Evdokimov traf die Armee im ersten Operations­ gebiet deshalb auf großen Widerstand, weil unter der dortigen Bevölkerung, die er im Bericht als „extrem rückständig“ und „religiös fanatisch“ bezeichnet, die entsprechende Aufklärungsarbeit stark vernachlässigt worden war.128 Im ­zweiten Operationsgebiet stellte sich die Situation insofern günstiger dar, als die Partei hier im Vorfeld der Operation offenbar erfolgreiche Propaganda unter der Bevölkerung betrieben hatte. In Geheimverhandlungen mit den wichtigsten An­­führern der Mi­taev-Bewegung, die diesen Teil Tsche­tscheniens maßgeb­lich k­ ontrollierten, war es gelungen, sich deren Loyalität zu sichern. Nicht Sympathie für die Behörden oder die Sicherheitskräfte, sondern die Einsicht, dass die Felder bestellt werden ­müssten, hätten gemäß Evdokimov den Ausschlag dafür gegeben, dass sich einzelne Bandenführer und Kulaken nach entsprechenden Ultimaten zur Rückkehr aus den Bergen bewegen ließen.129 Zur Beruhigung der Lage trug sicher auch die vom Zentrum verordnete Politik bei, von weiteren Versuchen der Kollektivierung in den Unruhegebieten des Nordkau­kasus unbedingt abzusehen. Während die Militäroperation in Tsche­tschenien in vollem Gange war, wies Andreev an der Sitzung des Parteiaktivs des Nord­ kaukasuskreises, die vom 18. bis 20. März 1930 tagte, die nationalen Führungen erneut an, strikt von der Organisation von Kolchosen in den Berggebieten abzusehen. Wenn überhaupt, dann sollten Kolchosen nur in der Ebene und vorzugsweise in Form der sogenannten Genossenschaft für die gemeinsame Bearbeitung des Landes (­Tovariščestvo po sovmestnoj obrabotke zemli – TOZ) errichtet werden. Anders als

126 Bericht Evdokimovs vom 23. März 1930 über die politische Situation im Nordkaukasus zuhanden des stellvertretenden Leiters der OGPU in Moskau, Genrich Grigorʼevič Jagoda (eigent­lich Enon Geršonovič Ieguda, 1891 – 1938). Jagoda leitete den Bericht am selben Tag an Stalin weiter. Sein Bericht ist enthalten in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1347 – 1349. 127 Wheatcroft, Agency and Terror, S. 31; Bericht Evdokimovs, 23. März 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1349. 128 Ebd., S. 1348. 129 Ebd.

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im artelʼ, ­welche die Parteiführung bei der Totalkollektivierung zur vorherrschenden Form der Kolchose erklärte, blieben im Fall der TOZ die landwirtschaft­lichen Geräte und Mittel (darunter auch die Pferde), ­welche die Bauern für die gemeinsame Arbeit auf dem Kolchosland einsetzten, im Besitz der Bauern.130

9.4  F l ä che nb r a nd Was Evdokimov beunruhigte, war nicht nur die Lage in Tsche­tschenien, wo noch immer einzelne bewaffnete Banden, darunter auch jene Istamulovs, operierten, sondern auch die Situation in den Nachbargebieten, auf die sich die Ereignisse in Tsche­tschenien destabilisierend auswirkten. So hatten Teile der Bevölkerung des Galančožskij-Bezirks nach dem Vorstoß der Armee ihre Aule Richtung ­Inguschetien verlassen, wo sie sich mit ört­lichen Milizen Gefechte lieferten. Offenbar soll es später jedoch gelungen sein, über Verhandlungen mit einflussreichen Autoritäten aus dem Umfeld der Kunta-Chadži-Bewegung auch die Lage im Galančožskij-­Bezirk etwas zu beruhigen.131 Positiv dürfte sich auch der Umstand ausgewirkt haben, dass die Bevölkerung im Galančožskij-Bezirk in den Genuss von staat­lichen Mais­lieferungen kam, was die prekäre Versorgungslage entspannte.132 Schwieriger stellte sich die Situation in den an Tsche­tschenien angrenzenden Gebieten Dagestans dar, wo die Geheimdienste bereits nach dem ersten großen Aufstand in Tsche­tschenien Ende 1929 Unruhen verzeichnet hatten.133 In den Siedlungen im Didoevskij-Abschnitt des Bezirks Andijskij kam es nach Versuchen der Kollektivierung Mitte März zu einer großen Erhebung, in deren Folge die ört­lichen sowjetischen Strukturen abgeschafft und durch Scharia-Räte und Gerichte ersetzt wurden.134 Als Anführer identifizierte die Geheimpolizei einen gewissen Vali ­Dojgaev,

130 RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 83, Ll. 100, 102; RGASPI, F. 73, Op. 1, D. 102, L. 27. Im Gegensatz zu den TOZ sah das artelʼ die Vergemeinschaft­lichung des meisten Landes, des Viehs und der Landwirtschaftsgeräte vor. Für den ausschließ­lich privaten Gebrauch wurden den Bauern ein kleines Stück Land und eine begrenzte Zahl von Vieh erlaubt, worauf der Staat allerdings Steuern erhob. Damit stellte das artelʼ zwar eine weniger radikale Variante als die Kommune dar, die kein ­privates Eigentum kannte, trotzdem war es eine weit radikalere Form als die bis zu d­ iesem Zeitpunkt dominierenden TOZ. 131 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 587 – 588. 132 Bis zum Juni 1930 wurden 6000 Pud Mais für 6000 Personen im Galančožskij Kreis eingeführt. Aus dem OGPU-Bericht vom 23. Juni 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 977 – 981, hier S. 978. 133 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 587 – 588. 134 Auch in ihren Berichten über die Rebellionen im Zuge der Kollektivierungskampagne wird die Geheimpolizei immer wieder darauf hinweisen, dass sich die Aufstände im muslimisch besiedelten Teil des

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der im Namen der Aufständischen mit ähn­lichen Forderungen an die Bezirks­behörden herantrat, wie sie damals auch Aufständische in Tsche­tschenien und in anderen islamisch besiedelten Teilen gestellt hatten: Die Kollektivierung sollte abgebrochen, das vom Staat konfiszierte Waqf-Land den Moscheen zurückgegeben und die Ver­ folgung der Geist­lichkeit eingestellt werden.135 Zu größeren Konfrontationen kam es in Dagestan bis Ende März 1930 zwar nicht. Doch die Verhandlungen, ­welche die Vertreter der Geheimpolizei mit den Anführern der aufständischen Bewegung um Dojgaev führten, trugen keine Früchte.136 Die Gewalt in Zentraldagestan eskalierte schließ­lich im April 1930. Außer der Region um Didoevskij wurden auch andere Teile Dagestans von Unruhen erfasst. Noch im Mai 1930 rapportierte die Geheimpolizei schwere Gefechte in Süddagestan.137 Als „gravierendsten Ort hinsicht­lich des Banditentums“ bezeichnete Evdokimov in seinem Schreiben jedoch die Karatschaj, wo praktisch das ganze von K ­ aratschajern besiedelte Territorium „vom Aufstand erfasst“ sei. Auch eine tscherkes­sische Bande soll dabei in der Karatschaj operiert haben. Um die Truppen der Geheimpolizei zu verstärken und dem Vorstoß von Hunderten bewaffneter Aufständischer in Richtung Gebietshauptstadt Mikojan-Šachar und andere größere Ortschaften entgegenzutreten, wurden kurzfristig reguläre Armeeeinheiten aus Tsche­tschenien abgezogen und in die Karatschaj verlegt.138 Sollte es nicht gelingen, die Situation dort schnell unter Kontrolle zu bringen, so die Befürchtung Evdokimovs, würde sich dies ­destabilisierend auf die Kabarda auswirken, wo die Sicherheitskräfte erst wenige Tage zuvor eine große Erhebung niedergerungen hätten, bei der „mehr als 100 Menschen“ ums Leben gekommen und Hunderte verhaftet worden seien.139 Wie viele Menschen im Frühjahr 1930 insgesamt ihr Leben ließen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zweifelsohne forderten aber vor allem die Konflikte in der ­Karatschaj und in Tsche­tschenien eine sehr große Zahl von Opfern. Gemäß einem Bericht der Geheimpolizei töteten die Sicherheitskräfte in der Karatschaj in zehn

Nordkaukasus gerade dadurch auszeichneten, dass die Aufständischen nach Absetzung der ört­lichen Sowjets ihre eigenen, auf der Scharia basierenden Ordnungen und Rechtssysteme einführen würden. 135 OGPU-Bericht über „konterrevolutionäre Aufstände im Didoevskij-Abschnitt des Bezirks ­Andijskij in Dagestan“, 4. April 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1350 – 1351. 136 Ebd. 137 Bericht des Armeestabs des Nordkauka­sischen Militärbezirks über die militärisch-politische ­Situation in den nationalen Rajons des Nordkaukasuskreises, 6. Mai 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 430 – 432. 138 Bericht Evdokimovs, 23. März 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1349; Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 145. 139 Bericht Evdokimovs, 23. März 1930, in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1349.

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Tagen intensiver Kampfhandlungen gegen 200 „Banditen“. Hunderte wurden verhaftet oder ergaben sich.140 Der Befehlshaber der Armee des Nordkaukasus-Militärkreises, General Belov, rapportierte im April 1930, dass bei Kämpfen in der Karatschaj und in Tsche­tschenien aufseiten der Sicherheitskräfte 24 Gefallene und 34 Verwundete zu beklagen gewesen seien, bei der Mehrheit habe es sich um Rotarmisten ge­­handelt. Insgesamt sollen in der Karatschaj 417 „Banditen“ getötet worden sein. Die Zahl der getöteten Tsche­tschenen gibt der Bericht Belovs mit 19 an, er vermerkt aber, dass die Zahl um ein Vielfaches höher sein dürfte, weil die Tsche­tschenen ihre Gefallenen oft mitnehmen und diese nur zurücklassen würden, „wenn sie unter dem Druck von Armee und Luftwaffe in Panik flüchten [würden]“.141 Allerdings dürften die Verluste aufseiten von Geheimpolizei und Armee ebenfalls höher gewesen sein. Die Armee berichtet in einem Orientierungsschreiben über Kämpfe im süd­lichen Teil Dagestans Ende April und Anfang Mai von insgesamt 46 Toten aufseiten der Aufständischen und von nur fünf Verwundeten in den eigenen Reihen.142 Dass dies kaum der Wirk­ lichkeit entsprochen haben dürfte, geht aus dem Brief eines Soldaten hervor, der an den Kämpfen in Süddagestan im Mai 1930 direkt teilnahm: Wir fuhren zur Liquidierung von Banden [nach] Dagestan. Die Schlacht dauerte vier Tage, es war sehr schwierig. In unserer Kompanie waren 40 Leute, von denen 18 von den Banditen getötet wurden; viele stürzten in die Schlucht. – [Unterzeichnet] „K“, 2. Infanterieregiment, Südkaukasus.143

Dass die Armeeführung für das tsche­tschenische Kampfgebiet relativ große Verluste in den eigenen Reihen einräumte, dürfte darauf hinweisen, dass die tatsäch­ liche Zahl der Opfer ebenfalls nach oben korrigiert werden muss. Dabei verzeichneten sowohl die Tsche­tschenen als auch die Sicherheitskräfte die meisten Toten vermut­lich nicht in der ersten Phase der Militäroperation Mitte März, sondern erst in den anschließenden Gefechten, die sich die sich zurückziehenden Banden mit den Sicherheitskräften bis in den April hinein lieferten.144 Völlig übertrieben

140 Operativer Bericht der OGPU, Nr. 9, 1. April 1930, in: Berelovič / Danilov (Hg.), Sovetskaja derevnja, Tom 3, Kniga 1, S. 270. 141 Der Bericht Belovs ist publiziert in: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 137 – 143, hier S. 142. 142 Bericht des Armeestabs, 6. Mai 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 430 – 432. 143 Das (undatierte) Schreiben ist publiziert in: Bystrova u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 8, Častʼ 2, S. 1222. 144 Gemäß einem Geheimpolizei-Bericht vom 28. März 1930 sollen alleine zwischen dem 20. und 26. März 35 Aufständische getötet und 58 festgenommen worden sein. 223 hätten sich freiwillig ergeben. Unter den Toten sollen sich auch Anführer wichtiger Banden (Malʼsagov und Temirgoev) befunden haben, andere (Chadži-Murat) wurden verhaftet. Aufseiten der Sicherheitskräfte soll es in

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erscheint dagegen die auch von der west­lichen Literatur unkritisch übernommene Behauptung Avtorchanovs, dass die Tsche­tschenen im Zuge von Gefechten mit den Sicherheitsorganen im Frühjahr 1930 bei Gojty das ganze 82. Infanterie­regiment und bei Šali sogar eine „ganze Division“ unter dem Kommando von General Belov ausgelöscht hätten. Über die Verluste der Tsche­tschenen verliert Avtorchanov da­ gegen kein Wort.145 Was die Angaben zur Zahl der bewaffneten Aufständischen und Banditen angeht, so sprechen sogar die Geheimpolizei-Berichte, die dafür bekannt sind, dass sie zu starken Übertreibungen neigen, immer nur von Hunderten, nie aber von ­Tausenden von Bewaffneten. Doch auch dies dürfte zu hoch gegriffen gewesen sein. Die Tendenz der Geheimpolizei zur Übertreibung muss selbst die Armeeführung irritiert haben, die bei der Planung ihrer Operationen auf die nachricht­lichen Dienste der Geheimpolizei angewiesen war. In seiner persön­lichen Analyse der Kampfhandlungen in Tsche­tschenien im Frühjahr 1930 schreibt der Kommandant der 28. Gebirgsinfanteriedivision, Aleksandr Dmitrievič Kozickij (1891 – 1937),146 dass die Geheimpolizei in ihren svodki vom 17. und 19. März 600 Banditen gemeldet habe, er schließ­lich aber nur 40 angetroffen habe; an einem anderen Ort sollten ihn gemäß Geheimpolizei 300 Banditen erwarten – er stieß mit seiner Abteilung aber nur auf zehn Personen.147 Auch das schwierige Terrain und die Tatsache, dass die Banditen jeweils schnell in den Siedlungen unter­tauchten, ­machten es für die Sicherheitskräfte nicht einfacher, mit einer bestimmten S ­ ituation schnell zurechtzukommen.

9. 5  Na chwehe n ei ne s b r ut a le n K r ieg s Die Niederschlagung der Aufstände in Tsche­tschenien und Dagestan im Laufe des Frühjahrs 1930 war ein vorläufiger Schlussstrich unter die Zeit der großen Aufstandsbewegungen im Nordkaukasus. Nachdem die Sicherheitskräfte die Widerstandsbasen Istamulovs bereits im Laufe ihrer März-Operation weitgehend zerstört hatten, gelang es der tsche­tschenischen Abteilung der Geheimpolizei im Rahmen einer Spezialoperation, ihn am 20. Juni 1930 in der Nähe des Auls Šali aufzuspüren

d­ iesem Zeitraum acht Tote und 18 Verwundete gegeben haben. Ein Teil einer operativen Einheit der Roten Armee unter der Leitung eines gewissen Čigirin, der während der Gefechte getötet worden war, soll von den Tsche­tschenen gefangen genommen worden sein: Operativer Bericht der OGPU, Nr. 9, 1. April 1930, in: Berelovič / Danilov (Hg.), Sovetskaja derevnja, Tom 3, Kniga 1, S. 271. 145 Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 159. 146 Ein Kurzprofil Kozickijs findet sich in: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 174. 147 Der Bericht Kozickijs datiert vom 9. April 1930 und ist publiziert in: Ebd., S. 145 – 158, hier S. 155.

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und zu töten.148 Das Banditenwesen war damit nicht gänz­lich zerschlagen. Auch Šitas Bruder Husein blieb auf freiem Fuß und führte den Widerstand bis Mitte der 1930er-Jahre weiter. Dass die Berggebiete Tsche­tscheniens und Dagestans gefähr­liche Zonen waren, war auch den einfachen Menschen durchaus bewusst. So auch Stepan ­Stepanovič ­Torbin, der sich Anfang der 1930er-Jahre in der dagestanischen Hauptstadt ­Machačkala (ehemals Petrovsk-Port) am Kaspischen Meer aufhielt. In seinen nicht publizierten Erinnerungen bezeichnet er das Leben in Dagestan um das Jahr 1931 als „leichter und reicher“ als in anderen Gebieten Russlands, weil „[m]an sich nicht so sehr um den morgigen Tag [sorgen musste]. Wenn jemand kein Fleisch hatte, dann hatte er Fisch“. Torbin wusste, dass das Leben in Dagestan besser war, wenn er die ausgehungerten Menschen sah, die aus anderen Teilen Russlands Richtung Süden zogen und manchmal völlig erschöpft auf den Straßen starben. Über diese Menschen müssen Torbin auch die „Nachrichten von der gewaltsamen Kollek­ tivierung, der Zerstörung von Siedlungen und Dörfern und der Ausraubung von Bauern­familien“ erreicht haben. Genauso war ihm aber auch bewusst, dass es damals in den Berggebieten des Kaukasus „nicht ruhig“ war: „Unzufrieden mit ihrer Rechtlosigkeit, dem Terror und der Repression organisierten die Bergler in den Bergen Banden und lenkten die an ihnen verübte blutige Beleidigung gegen die unschuldigen Russen, aber auch diejenigen, die ihnen zufällig in die Hände fielen.“ Weil sich in den Bergen „Banden von Nationalisten“ formierten“, organisierte man in der Stadt „­Detachements zum Selbstschutz, die ‚Partisanendetachements von 1932‘. Nach 9 – 10 Uhr abends riskierte niemand mehr, das Haus zu verlassen“.149 Torbin beschreibt hier nichts anderes als die Nachwehen eines Konflikts, der äußerst brutal geführt wurde. So liest sich in einem Armeebericht, dass „Banditen“ bei Zusammenstößen in der Kabarda im Februar 1930 Angehörige der Sicherheitskräfte brutal ermordet und ihnen „Köpfe und Hände“ abgeschnitten hätten.150 Aber

148 Berelovič / Danilov (Hg.), Sovetskaja derevnja, Tom 3, Kniga 2, S. 708. Diese Angabe deckt sich wiederum nicht mit der Version Avtorchanovs, der angibt, dass Istamulov erst im Herbst 1931 getötet worden sei, nachdem er unter der falschen Versprechung, Moskau hätte ihm eine Amnestie versprochen, vom Chef der ört­lichen Abteilung der GPU, Baklalov, in sein Büro gelockt und dort angeschossen worden sei. Obwohl stark verwundet, soll es Istamulov noch gelungen sein, ­Baklalov niederzustechen, bevor er von einer Wache getötet worden sei: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 160. 149 Archiv der internationalen Gesellschaft „Memorial“, F. 2, Op. 2, D. 91, Ll. 13 – 14, 27 (Aufzeichnungen von Stepan S. Torbin). Torbin verfasste seine Erinnerungen (insgesamt 309 Seiten) im Zeitraum zwischen dem 8. Januar und 5. Juni 1964. Er lebte zu diesem Zeitpunkt in der UdSSR. 150 Aus dem Bericht der Politabteilung des Nordkauka­sischen Militärbezirks über die Situation im Nordkaukasus, 18. Februar 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 239. Auch ­Avtorchanov berichtet in Zusammenhang mit der Ermordung von Černoglaz davon, dass Banditen ihn „kopflos“ zurückgelassen hätten: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 165. In den Geheimdienstberichten wird dies allerdings nicht bestätigt.

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auch die Sicherheitskräfte dürften nicht zimper­lich vorgegangen sein. So kritisiert selbst Belov in seinem im April 1930 verfassten Militärbericht, dass die Geheim­ polizei mit ihrem groben Vorgehen, so etwa auch dem Verbrennen und Enthaupten von Leichen, die Bevölkerung unnötig anstacheln würde.151 Eine schnelle Versöhnung war damit kaum mög­lich und Racheakte waren vorprogrammiert. Dabei verschärften die massive Repression und die Verhaftungen durch die Geheimpolizei, die nach den Aufständen durchgeführt wurden, die Spannungen. Dieses Vorgehen war wohl einer der Gründe dafür, dass es in Tsche­tschenien im März 1932 erneut zu einem größeren Aufstand kam, der wiederum erst mithilfe regulärer Truppen der Roten Armee nieder­geschlagen werden konnte. Allerdings war dieser Aufstand weitgehend auf den an Dagestan angrenzenden Nožaj-Jurtskij-Rajon beschränkt, weshalb es den Sicherheitskräften auch gelang, die Aufständischen, die unter der Führung eines gewissen Imam Mucu Šamiliev aus dem Aul Šuani standen, in relativ kurzer Zeit niederzuringen.152 Auch diesmal war der Blutzoll hoch: Die Armee gab die Zahl der getöteten Banditen mit 24 an, neun sollen verwundet worden sein. Auf ihrer Seite meldete die Armee dagegen nur einen Gefallenen und zwei Verwundete.153 Was den Charakter der Aufstände zur Zeit der Kollektivierung im Nord­kaukasus angeht, so berichten die Quellen übereinstimmend, dass die Aufstände jeweils flächendeckend gewesen seien, wobei sich manchmal die gesamte Bevölkerung eines bestimmten Bezirks am Widerstand beteiligt hätte. So liest sich im erwähnten Bericht Belovs: „In Tsche­tschenien, wie auch in der Karatschaj, hatten wir es nicht mit einzelnen konterrevolutionären Erhebungen von Banditen zu tun, sondern mit eigent­ lichen Aufständen ganzer Rajons (Galančožskij), in denen fast die gesamte Bevölkerung an der bewaffneten Erhebung teilnahm.“ 154 Zu keinem Zeitpunkt nach Beginn der Kollektivierung aber war „ganz Tsche­tschenien explodiert“, wie Avtorchanov behauptet.155 Die Unruhen konzentrierten sich vielmehr immer auf einzelne Gegenden. Die große Zahl von Truppen und die Menge von Militärgerät, w ­ elche die Armeeführung im März 1930 zusammengezogen hatte, um gegen Aufständische in Tsche­ tschenien vorzugehen, stand in keinem Verhältnis zur tatsäch­lichen Bedrohung, die von den einzelnen bewaffneten Banden ausging. An den Grenzen der einzelnen Gebiete gab es sicher auch unter den aufständischen Gruppierungen Kontakte,

151 Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 140. 152 Andere Quellen berichten davon, dass der Aufstand von Husein Istamulov, dem Bruder Šitas, organisiert worden sei: OGPU-Bericht, nicht vor dem 1. April 1932, in: Berelovič / Danilov (Hg.), Sovetskaja derevnja, Tom 3, Kniga 2, S. 77. 153 Der Bericht datiert vom 31. März 1932 und ist publiziert in: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 161 – 166, hier S. 164. 154 Ebd., S. 137. 155 Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 157.

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doch diese waren eher spontan und wenig koordiniert. Es gab keine gemeinsame Führung, und sogar innerhalb Tsche­tscheniens hatte auch der bekannteste An­führer, Šita ­Istamulov, offenbar zu wenig Rückhalt, als dass er über seinen eigenen Einflussbereich bei Šali hinaus größere Teile Tsche­tscheniens für den Aufstand hätte mobilisieren können. Auch der Aufruf zum „Gazawat“, der in den Geheimpolizei-Berichten wiederholt als Slogan der Aufständischen zitiert wird, scheint höchstens lokal eine gewisse Wirkung entfaltet zu haben. Als einigendes Moment spielte er keine Rolle. Dass insbesondere die Tsche­tschenen keine nationale Einheit bildeten, lässt sich auch daran erkennen, dass sich verschiedene tsche­tschenische Gruppierungen für die Festnahme Istamulovs anheuern ließen. Bezeichnend für den Aufstand von 1932 ist, dass sich die Bevölkerung der an den Nožaj-Jurtskij Rajon angrenzenden Siedlungen offenbar weigerte, sich dem Widerstand anzuschließen. In ihrem Bericht zum Aufstand von 1932 lobt die Armeeführung ausdrück­lich die gute Moral der „natio­ nalen Teile“ der Roten Armee, darunter auch die in der Truppe dienenden Tsche­ tschenen und Inguschen, von denen im Vorfeld der Operation nur zwei desertiert seien, aber nicht ein einziger während der Operation selbst.156 Die Aufständischen kämpften nicht für Unabhängigkeit, sondern wehrten sich gegen Eingriffe in ihre Traditionen und herkömm­lichen Rechte. Sie lehnten sich auf gegen die Willkürpolitik und Gewalt der ört­lichen Behörden. Hier unterschieden sich die Nordkaukasier nicht wesent­lich von den Bauern Zentralrusslands. Dass die Behörden insbesondere in den Berggebieten Tsche­tscheniens und in anderen Teilen des Nordkaukasus oft in Gestalt einer von Russen dominierten Geheimpolizei auftraten, verlieh der Auseinandersetzung jedoch eine ethnische Komponente, die in Zentralrussland fehlte. In d­ iesem Zusammenhang sind auch die Bemerkungen Andreevs zu verstehen, der das mangelnde Engagement einheimischer Staats- und Parteikader kritisierte. Für die Kollektivierung wurden oft Arbeiterbrigaden aus den Städten ausgeschickt, die Verhaftung von Kulaken nahmen Angehörige der rus­sisch dominierten Geheimpolizei vor. Die einheimischen Kader hatten nicht nur wenig Interesse, sich durch unpopuläre Aktionen Feinde auf dem Land zu machen, sie wurden in zentrale Entscheide auch gar nicht einbezogen.157 Vor Militär­ operationen schickte man sie als Vermittler vor oder man ließ sie die Propaganda des Staates unter der lokalen Bevölkerung verbreiten. Niederen Staatsbeamten und Angehörigen ört­licher Milizen blieb im Konfliktfall nur die Wahl, sich den Aufständischen anzuschließen oder zu flüchten; Neutralität war in dieser Situation schwierig. Wiederholt finden sich in Berichten Hinweise darauf, dass gerade die

156 Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 165. 157 Dies kritisiert auch Belov in seinem Bericht vom April 1930: Ebd., S. 139.

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ört­lichen, aus Einheimischen gebildeten Milizen kein Interesse gehabt hätten, den Sicherheitskräften zu helfen. Oft überließen sie den Aufständischen ihre Waffen, manchmal schlossen sie sich ihnen sogar an.158 Die Konflikte dürften während der Zeit der Kollektivierung somit kaum zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Russen und Tsche­tschenen beigetragen haben. So rapportierte die Geheimpolizei in Zusammenhang mit dem Dezember-Aufstand in Gojty und Šali, dass sich unter der städtischen Arbeiterschaft von Groznyj Stimmen vernehmen ließen, die forderten, nun endgültig mit all jenen Tsche­tschenen abzurechnen, w ­ elche die Russen bekämpfen würden.159 Auch wird aus den Berichten der Armee und der Geheimpolizei deut­lich, dass sich die Wahrnehmung zentralstaat­licher Akteure gegenüber den nordkauka­sischen Völkern kaum verändert hatte. Dem Oberkommando der Armee galten diese als wenig verläss­liche Alliierte, die nach den Gesetzen des Stärkeren lebten und die Obrigkeiten nur dann akzeptierten, wenn diese mit der nötigen Härte vorgingen. So jedenfalls liest sich dies auch in der persön­lichen Analyse Kozickijs zu den Kampfhandlungen in Tsche­tschenien im Frühjahr 1930: Einige Worte über die Methoden des Kampfs im Kaukasus. Die weichen Maßnahmen, die wir anwenden, haben auf die Bergler nicht die gleiche Wirkung wie auf kulturell entwickelte Völker. Im Gegenteil verstärkt dies bei ihnen die Ansicht, dass wir schwach seien. Dies entspricht dem Wesen der Bergler. (…) Nehmen wir zum Beispiel den Fall der Verstümmelung eines Rotarmisten der 28. Reitereskadron in Tsche­tschenien, als die Bevölkerung der Siedlung, die den Rotarmisten gefoltert hatte, nicht gebührend bestraft wurde, sondern nur nach denjenigen Schuldigen gesucht wurde, die das Dorf versteckt hielt. Diesen Fall erklären sie sich mit unserer Humanität [gumannostʼ], die sie entsprechend ihren Sitten und Gebräuchen (die Nichtbefolgung der Gesetze der Blutrache entehrt den ganzen Clan) nicht verstehen.160

Archaische Traditionen wie die Blutrache und der Gedanke der Kollektivhaftung ­hatten in den dörf­lichen und auf Familienbeziehungen basierenden Strukturen der tsche­tschenischen Gesellschaft sicher nach wie vor eine große Bedeutung. Daraus aber zu schließen, dass dem Bergler Mensch­lichkeit fremd sei (dagegen ­müssen sich die rus­sischen Armeekommandeure offenbar als Träger dieser Mensch­ lichkeit ge­­sehen haben), basierte auf ähn­lich undifferenzierten Stereotypen, wie sie für die ­rus­sischen Eroberer während der Kolonialkriege der Zarenzeit typisch waren. In d­ iesem Sinn könnten die Zeilen Kozickijs durchaus auch aus der Feder 158 Ebd., S. 141, 164. 159 OGPU-Bericht zur politischen Situation in der UdSSR im Dezember 1929, in: Dʼjakov u. a. (Hg.), „Soveršenno sekretno“, Tom 7, S. 586. 160 Zitiert aus: Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, S. 158.

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eines am Kaukasus­feldzug beteiligten rus­sischen Kommandanten des 19. Jahrhunderts ­stammen. Wenn der Widerstand zur Zeit der Kollektivierung als Fortsetzung einer kolonialen Unterwerfung gelesen werden soll, wie dies einige Historiker betonen,161 dann muss mindestens berücksichtigt werden, dass die Bolschewiki nicht nur den Nordkaukasus, sondern die gesamte, als rückständig erachtete bäuer­liche Wirtschaft als eine Art „innere Kolonie“ behandelten, die sie auszubeuten und schließ­lich auszurotten suchten.162 Die Militäroperationen waren nicht als eine gegen die nordkauka­sischen Völker gerichtete Unterwerfungskampagne gedacht, obwohl dies die Betroffenen manchmal so wahrnahmen, sondern müssen als Teil eines Feldzugs gegen die gesamte bäuer­liche Bevölkerung der Sowjetunion gesehen werden. Erstaun­lich ist dabei nicht, dass der Sowjetstaat Militäroperationen zur Nieder­ werfung von bewaffneten Aufständen befahl, sondern, dass er schließ­lich davon absehen sollte, die Kampagne in Teilen des nichtrus­sischen Nordkaukasus bis zum Ende zu führen. Aufgrund der heftigen Unruhen wurde die Kollek­tivierung im Frühjahr 1930 im ganzen Land vorübergehend ausgesetzt. Doch während die Kollektivierungskampagne bereits wenige Monate später in den meisten Landes­ teilen wieder aufgenommen und mit gleicher Vehemenz weitergeführt wurde, ist sie für die Berggebiete Tsche­tscheniens, Inguschetiens, der Karatschaj und in Teilen Dagestans faktisch gestoppt und erst Mitte der 1930er Jahre wieder aufgenommen worden.163 Die vom Zentrum verordnete Zurückhaltung (an die sich die ört­lichen Behörden auch in der Folge nicht immer halten sollten) drückte sich in den offiziellen Kollek­tivierungsraten aus, die für die einzelnen nationalen Gebiete des Nordkaukasus Anfang der 1930er Jahre sehr unterschied­lich ausfielen. So wies die offizielle Statistik im April 1931 Adygien, Nordossetien und die Kabarda als fast vollständig kollektivierte Gebiete aus. Tscherkessien war zu ­diesem Zeitpunkt zu 65 Prozent kollektiviert. Am unteren Ende der Liste figurierten Tsche­tschenien,

161 So nennt etwa Avtorchanov den Widerstand zur Zeit der Kollektivierung in einem Atemzug mit den Freiheitskämpfen unter Mansur, Gazi Muhammad oder Šamil: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 159. 162 Viola, Peasant Rebels, S. 20. 163 Im Mai 1934 erteilte die Parteiführung des Nordkaukasuskreises der Parteispitze des tsche­ tscheno-inguschischen Gebiets die Direktive, die Totalkollektivierung einzuleiten: Ėlʼžurkaev, Kollektivizacija selʼskogo chozjajstva v Čečeno-Ingušetii, S. 160. Bereits zwei Jahre später, am 5. Juni 1936, erklärte Ali Gorčchanov, der Vorsitzende des ausführenden Gebietskomitees Tsche­ tscheno-Inguschetiens, dass die „Kollektivierung der Berggebiete zu 85 Prozent abgeschlossen“ sei: Rede Gorčchanovs während der Sitzung des Präsidiums des Nationalitätenrats des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR, 5. Juni 1936, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vainachi i imperskaja vlastʼ, S. 627 – 629, hier S. 627.

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Inguschetien und die Karatschaj, deren offizielle Kollektivierungsraten zu jenem Zeitpunkt ledig­lich zwischen 18 und 32 Prozent lagen.164 Ebenso wurde hier auch die Deportation der Kulaken nicht mit der gleichen Systematik wie in den rus­sisch und kosakisch besiedelten Gebieten durchgeführt. Bezeichnend ist, dass sich angesichts der anhaltenden Konflikte in den Dokumenten der Geheimpolizei für das Jahr 1930 keine Aufstellung darüber findet, wie viele Kulakenhöfe aus den nationalen Gebieten ausgesiedelt wurden.165 Die Konflikte, die auf den gescheiterten Versuch der Kollektivierung und Entkulakisierung in Tsche­tschenien und in anderen nationalen Gebieten des Nord­ kaukasus folgten, sollten den Menschen zwar als traumatische Ereignisse in Erinnerung bleiben. Doch im Endeffekt zog die staat­liche Kampagne hier weit weniger tiefgreifende wirtschaft­liche und gesellschaft­liche Umwälzungen nach sich als in den von Russen und Kosaken besiedelten Teilen der Region. Sie war auch ­weniger umfassend als in Nordossetien, in Teilen Dagestans, in der Kabarda, in Tscher­ kessien oder in Adygien, wo die bäuer­liche Wirtschafts- und Lebensweise durch die Zwangseinführung von Kolchosen und die Massendeportation von Kulaken zum Teil nachhaltig verändert werden sollte. Die Tsche­tschenen und andere Völker des Nordkaukasus nahmen am großen stalinistischen Umgestaltungsprojekt somit weiterhin nur sehr begrenzt teil. Zwar fand in Tsche­tschenien und in anderen Bergregionen des Nordkaukasus vorläufig keine flächendeckende Kollektivierung statt, doch damit waren die großen Probleme insbesondere in den Berggebieten nicht behoben. Nicht nur blieb das Problem der Landarmut und der Versorgungsknappheit bestehen. Auch fehlte es in diesen Gegenden oft an grundlegender Infrastruktur wie medizinischer Ver­sorgung,

164 Nicht erwähnt sind in dieser Aufzählung die Balkaren: OGPU-Bericht zur Situation in den nationalen Gebieten des Nordkaukasus, 18. Mai 1931, in: V. Danilov u. a. (Hg.), Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach. 1927 – 1939. Tom 3. Konec 1930 – 1933, Moskva 2001, S. 124 – 129, hier S. 125. 165 Der ursprüng­liche Plan, 20.000 Kulakenfamilien auszusiedeln, wurde bereits wenig später revidiert und auf 10.000 reduziert. Die Operation begann am 11. Februar und war bis am 15. April 1930 abgeschlossen. Dabei muss es sich aber vornehm­lich um Kulaken aus den von Kosaken und Russen besiedelten Gebieten des Nordkaukasus gehandelt haben, wo die Kollektivierung im Laufe des Jahres 1930 ohne große Abstriche durchgeführt und die Kulaken mitsamt ihren Familien zu Tausenden deportiert wurden. Am 6. Mai 1930 berichtete die Geheimpolizei in einer Aufstellung, sie hätten insgesamt 10.595 Familien aus dem Nordkaukasus in den Ural deportiert, was einer Gesamtzahl von 51.577 Männern, Frauen und Kindern entsprach. Darin enthalten waren keine Kulaken aus Dagestan, die gemäß dem Bericht erst zu einem späteren Zeitpunkt deportiert werden sollten. Keine Angaben finden sich in ­diesem und späteren Dokumenten zu Angehörigen der einheimischen Bevölkerungsgruppen aus den anderen nationalen Gebieten des Nord­kaukasus. Aus dem Bericht der operativen Gruppe der OGPU über die Aussiedlung von Kulaken der zweiten Kategorie, 6. Mai 1930, in: Danilov u. a. (Hg.), Tragedija, Tom 2, S. 409 – 430, insbesondere S. 412 – 413.

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Schulen oder Straßen. Ethnische Spannungen und Landstreitigkeiten schürten weiter­ hin Konflikte und auch das Banditenwesen konnte nie ganz unterdrückt werden. Umsiedlungen von Familien aus den Bergen in die Ebene wurden auch in dieser Zeit wiederholt versucht, doch oft scheiterten ­solche Projekte daran, dass für die Menschen nach dem Umzug ungenügend vorgesorgt war und deshalb viele wieder in ihre Bergdörfer zurückkehrten.166 Das „Bergproblem“, wie es ein aus Rostov am Don ausgesandter Instruktor in einem Bericht vom Juni 1931 bezeichnet, war damit noch längst nicht gelöst.167

166 Im Zusammenhang mit der Neuverteilung von Land fanden Umsiedlungen Ende der 1920er-Jahre auch in anderen Gebieten des Nordkaukasus statt: So wurden 20.000 Menschen in Nordossetien und 31.500 in Tscherkessien umgesiedelt. RGASPI, F. 17, Op. 114, D. 245, Ll. 48 – 49. Nebst Tsche­ tschenien war die Situation insbesondere in Dagestan dramatisch, wo sich mehr als drei Viertel der Bevölkerung in den Berggebieten konzentrierte, diese aber nur ein Viertel des nutzbaren Landes bestellten. Der Plan zur Umsiedlung von rund 200.000 Personen, den die dagestanische Führung bereits 1928 einleitete, ließ sich aufgrund unzureichender Mittel, mangelnder Organisation und Widerständen der lokalen Bevölkerung nicht wie vorgesehen realisieren. RGASPI, F. 17, Op. 113, D. 657, Ll. 35 – 40, 41 – 42. Weiterführend: A. Osmanov, Agrarnye preobrazovanija v Dagestane i pereselenie gorcev na ravninu (20 – 70-e gody XX veka), Machačkala 2000. 167 RGASPI, F. 17, Op. 114, D. 245, Ll. 64 – 65.

10.   A M R A N D D E R M O B I L I S I E RU N G S G E S E L L S C H A F T Eine Pressemeldung löste den Sturm aus. Am 11. April 1939 berichtete die Wochenzeitung Bezbožnik über einen „wüsten Vorfall“, der sich im Dorf Valerik im Rajon Ačchoj-Martanskij der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR zugetragen hatte. Ein gewisser Magomed 1 Janarsaev aus dem Dorf Valerik heiratete Rachat Dašaeva aus dem Nachbardorf Zakan-Jurt. Die Brüder der Braut waren über diese Heirat „nicht glück­lich“ und verlangten von Magomed Janarsaev die Zahlung eines Brautgelds (kalym). Sollte der Bräutigam dieser Forderung nicht nachkommen, drohten ihm die Brüder Rachat Dašaevas mit dem Tod. Auch nachdem Magomed Janarsaev das Brautgeld bezahlt hatte, waren die Brüder offenbar unzufrieden und sollen „mit unverschämten Forderungen“ an dessen Frau herangetreten sein. Um den Konflikt zu lösen, wurde die Meinung der Dorfältesten herangezogen, die sich auf die Seite der Brüder Rachat Dašaevas stellten.2 Aufgrund dieses Zeitungsberichts verlangte die Prokuratur der UdSSR, dass die ört­lichen Behörden Tsche­tscheno-Inguschetiens den Vorfall untersuchen ­sollten. Sowohl die Staatsanwaltschaft der tsche­tscheno-inguschischen Republik als auch jene des Rajons Ačchoj-Martanskij kamen nach Befragungen der Beteiligten zum Schluss, dass „die Bürgerin Rachat Dašaeva den Bürger Janarsaev Magomed freiwillig geheiratet“ habe und der als „Brautraub“ bezeichnete Vorfall „ledig­lich inszeniert“ gewesen sei. Die Behauptung, die Brüder Rachats hätten Geldforderungen gegenüber dem Bräutigam erhoben und zudem noch die Frau seines Bruders als Gegenleistung verlangt, sahen die Untersuchungsbehörden nicht bestätigt. Außerdem gaben sie an, dass weder die Braut noch der Bräutigam Brüder hätten, womit sie die Glaubwürdigkeit der im Bezbožnik verbreiteten Version zusätz­lich infrage stellten. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden der Prokuratur der UdSSR übermittelt, die sich mit dem Bericht einverstanden erklärte.3 Der Fall war für die Staatsanwaltschaft damit abgeschlossen. Nicht aber für den Bezbožnik. Dessen Redaktionsleitung entschied sich, ihren ­Sonderkorrespondenten, V. Pomerancev, vor Ort zu entsenden. Dies geschah nicht, um die „Ehre der Zeitung zu s­ chützen“, wie Pomerancev dies später in einem Brief an die Redaktion erklärte, sondern um festzustellen, ob nicht die Prokuratur von den Beteiligten vor

1 Der Zeitungsbericht schreibt ihn „Magomet“. 2 Obuzdatʼ zarvašujusja popovščinu!, in: Bezbožnik, Nr. 11, 11. April 1939, S. 3. 3 Das vom 29. Mai 1939 datierte Schreiben findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 96.

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Ort in die Irre geführt worden war.4 Und tatsäch­lich sollte Pomerancev bei seinen Nach­forschungen feststellen, dass die Untersuchung der Prokuratur „von Anfang bis zum Ende nicht richtig durchgeführt“ wurde.5 Dass sich der Zwist, der durch die Heirat zwischen Magomed Janarsaev und Rachat Dašaeva 6 unter den Clans der jeweiligen Parteien ausgelöst worden war, schließ­lich ohne Blutvergießen regeln liess, war laut Pomerancev nur deshalb mög­lich, weil der Vorsteher jenes Clans, dem Magomed Janarsaev angehörte, einwilligte, seine eigene Frau den Verwandten aus dem Clan Rachat Dašaevas zum Beischlaf zu entsenden. Offenbar sei ihnen diese aber nicht gut genug gewesen, und sie verlangten nach einer „schöneren“ Frau. Dieser Forderung soll der Clan Janarsaevs ebenfalls nachgekommen sein. Bevor die Frau zurückkehrte, soll ihr vom verfeindeten Clan als ­­Zeichen der Schande noch ein Stück ihres Hemdes herausgeschnitten worden sein, was sie für alle sichtbar stigmatisierte. Erst danach sei der Friede zwischen den beiden Clans wiederhergestellt gewesen.7 Das größte Übel ortete Pomerancev bei den Dorfältesten, diesen „religiösen Fanatikern“, vor denen sich alle im Dorf fürchten würden, und die darüber wachten, dass solch archaische Regeln, wonach „Frauen wie Waren“ gehandelt wurden und „Mord ein Mittel der Vergeltung“ war, eingehalten würden.8 Es waren gemäß Pomerancev denn auch diese Ältesten, die den Behörden im Fall der Heirat von Magomed Janarsaev und Rachat Dašaeva bewusst falsche Angaben geliefert hätten, um die Angelegenheit nach eigenen Sitten und Gebräuchen regeln zu können.9 Vorwürfe machte Pomerancev aber auch dem Sekretär der kommunistischen Parteiorganisation des Auls Valerik, der von den Vorfällen gewusst, aber nichts dagegen unternommen habe.10 Während seines dreiwöchigen Aufenthalts in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR, den der Moskauer Journalist offenbar größtenteils im gebirgigen Rajon Ačchoj-Martanskij verbrachte,11 traf er auf eine Welt, die ihm nicht nur fremd war, sondern die er auch entschieden ablehnte. Dies verwundert kaum. Als Ver­treter von Bezbožnik, einer Wochenzeitung, die mit einer Auflage von rund 500.000

4 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 91. 5 Der entsprechende Bericht Pomerancevs, der in der Form eines Briefes an die Zeitungs­redaktion überliefert ist, wurde im Juli 1939 erstellt (genaues Datum ist unbekannt) und findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 90 – 95, hier L. 92. 6 Pomerancev nennt sie in seinem Bericht „Dušaeva“. 7 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 93 – 94. 8 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 91. 9 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 91 – 92. 10 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 92. 11 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 117.

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Exemplaren erschien und vom Organ des Zentralrats des „Verbands der mili­tanten Gottlosen“ herausgegeben wurde, gehörte Pomerancev einer Organisation an, die sich den Kampf gegen die Religion und die Traditionen in all ihren Formen auf die Fahne geschrieben hatte.12 Verständnis für besondere Sitten und Bräuche der nichtrus­sischen Bewohner des Nordkaukasus war gerade von ihm nicht zu erwarten. Dabei erschienen Pomerancev die gesellschaft­lichen Verhältnisse in Tsche­tscheno-Inguschetien wie nirgendwo sonst in der UdSSR von „Ungutem und Reaktionärem“ geprägt.13 In der tsche­tschenischen Gesellschaft erkannte er eine undurchdring­liche „Front“, die sich nicht beeinflussen ließ und im Innern nach Regeln funktionierte, die ihm „barbarisch“ erschienen. Eine wichtige Funktion spielten dabei nach Meinung P ­ omerancevs die Tejps, über die sich der Einzelne identifizierte und denen der rus­sische Journalist einen „enorm hohen Grad an Geschlossenheit“ nachsagte.14 Pomerantsev porträtiert in seinem Bericht eine Gesellschaft, die von der Sowje­ tisierung nur dem äußeren Anschein nach erfasst worden war und weiterhin nach ähn­lichen Regeln und Normen wie früher zu funktionieren schien. Offiziell galt zwar auch Tsche­tscheno-Inguschetien ab Mitte der 1930er-Jahre als fast vollständig kollektiviert, doch erkannte der Moskauer Journalist in den Kolchosen Tsche­ tscheniens reine „Fiktionen“. Nach wie vor seien es die dörf­lichen ­Gemeinschaften mit ihren Ältestenvertretungen, die über Landverteilung und Organisation der Arbeit entscheiden würden. Die Bauern würden in den Gemeinschaftsbetrieben oft gar nicht zur Arbeit erscheinen, sondern sich in erster Linie um ihre eigenen Höfe kümmern. Sie würden sich zu ­diesem Zweck manchmal des Kolchosinventars bedienen oder gar Kolchosland für den privaten Anbau ­nutzen. Männer sollen die Feldarbeit ohnehin gescheut haben, weil diese Art der Tätigkeit gemäß den Weisungen des Adat „schänd­lich“ sei.15

12 Der „Verband der militanten Gottlosen“ (Sojuz voinstvujuščich bezbožnikov) war ein zwischen 1929 und 1947 existierender atheistischer Verein in der UdSSR. Er war auf Grundlage des seit 1925 in Moskau existierenden „Verbands der Gottlosen“ (Sojuz bezbožnikov) gegründet worden, der seinerseits aus der „Gesellschaft der Freunde der Zeitung Bezbožnik“ hervorging, einer wöchent­lich erscheinenden Zeitung, die bereits 1922 gegründet worden war. Die Zeitung Bezbožnik erschien 1922 – 1934 und 1938 – 1941 und hatte Ende 1929 eine Auflage von 500.000 Exemplaren. Als weiteres Propaganda­organ der Orga­nisation erschien zwischen 1925 bis 1941 die Zeitschrift Bezbožnik, die monat­lich (zwischenzeit­lich auch zweimal pro Monat) publiziert wurde. Daneben verlegte die Organisation weitere rus­sischsprachige und nicht-rus­sischsprachige Publikationen. Anfang 1941 hatte die Organisation 3,5 Millionen Mitglieder aus 100 Nationen. Daniel Peris, Storming the Heavens. The Soviet League of the Militant Godless, Ithaca 1998; zur Zeitung Bezbožnik: Ebd., S. 73. 13 Dieser Bericht in Briefform, der vor dem 21. Juli 1939 verfasst wurde, findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 82 – 89, hier L. 82. 14 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 82. 15 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 86.

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Abb. 21: Versöhnung zweier blutsverfeindeter Familien, Tsche­tscheno-Inguschetien. Aufnahme von 1936.

Dasselbe galt gemäß Pomerancev auch für den sowjetischen Staatsaufbau und die Parteiorganisationen, die zwar überall der Form nach existierten. Mindestens auf dem Land sollen sich tsche­tschenische Kommunisten und staat­liche Amts­ träger jedoch kaum gegen überkommene Sitten gewehrt haben. Im Gegenteil stellt ­Pomerancevs Bericht fest, dass sich Kommissare, die aufs Land fuhren, den Adat-­ Regeln unterwerfen würden, indem sie lokale Trachten und teure Dolche tragen und die Dorfältesten achten würden, in deren Präsenz sie sich nicht hinsetzen würden. Die Religion werde zwar nicht nach außen zelebriert, doch innerhalb der Clans und Familien werde sie hochgehalten. Sogar Bestattungen von Kommunisten fänden nach islamischen Traditionen statt. Und weil die Berge und die kleinen Gehöfte der Gegend als Stützpunkte von „Banditen“ galten, sollen sich rus­sische Arbeiter vor Reisen ins Hinterland gefürchtet haben.16 Überhaupt beschreibt Pomerancev die Berge als jenen Ort, an dem sich die ­sowjetische Moderne zwei Jahrzehnte lang die Zähne ausgebissen habe. Und dies nur, weil sich die sowjetische Politik in den vergangenen zwei Dekaden von einer ihm unverständ­lich erscheinenden „Rücksicht auf ört­liche Gegebenheiten“ habe leiten lassen. Dabei habe sich die Nachsicht gegenüber „wildesten Überbleibseln aus dem Mittelalter“ nicht ausbezahlt, sondern im Gegenteil dazu

16 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 82 – 89.

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Abb. 22: Studenten des Groznyj-Erdölinstituts während eines Treffens. Groznyj, Tsche­tschenoInguschetien, 1936.

geführt, dass heute „viele Bergler nicht willig [seien], sich sowjetischen Bedingungen anzupassen“.17 Aus seiner Sicht folgerichtig rief Pomerancev denn auch dazu auf, end­lich die „Angst vor ‚den Bergen‘“ abzulegen und radikale Maßnahmen zu ergreifen, um die Lage zu ändern: Die kleinen Gehöfte sollten liquidiert, die Menschen in größere Siedlungen zusammengezogen und die Berggebiete mit N ­ icht­­­tsche­tschenen besiedelt werden. Im Gegenzug sollten junge Tsche­tschenen zur Arbeit in der Industrie der Städte abgezogen werden, denn am großen Umgestaltungs- und Mobilisierungsprojekt der Moderne, das die Sowjetunion in den 1930er-­Jahren beim Übergang vom Bauern- zum Industriestaat durchlaufe, würden Tsche­tschenen und andere Völker des Nordkaukasus noch kaum teilnehmen: „Wenn es uns gelingt, 10.000 – 15.000 Tsche­tschenen in der Produktion zu beschäftigen (…), dann ­hätten wir sehr viel gewonnen.“ Daneben müsse die Partei Anstrengungen unternehmen, das sowjetische Recht gegenüber den Adat-Traditionen zu stärken, und auch in der Presse solle intensive Propaganda gegen die Tejps betrieben ­werden, um deren Macht zu brechen.18

17 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 88. 18 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 88.

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Abb. 23: Der Stellvertreter des Vorsitzenden einer Kolchose im Šalinskij Rajon gibt der Brigade Anweisungen. Šalinskij Rajon, Tsche­tscheno-Inguschetien, 1936.

10.1   Te r r or, Ba nd it e n u nd d ie A mbiva le n z d e r Mo d e r ne Der Bericht Pomerancevs mutet stellenweise überzeichnet an. Dennoch weist er auf etwas hin, was sich damals nicht nur in Tsche­tscheno-Inguschetien, sondern überhaupt in länd­lichen und nichtrus­sisch besiedelten Gebieten des sowjetischen Vielvölkerreichs beobachten ließ – näm­lich, dass es den Bolschewiki im Rahmen ihres sozialistischen Umgestaltungsprojekts auch bis Ende der 1930er-Jahre offenbar nicht oder nur unvollständig gelungen war, wirtschaft­liche Lebensweisen, Rechtstraditionen und ursprüng­liche s­ oziale Bindungen zu überwinden. Im Gegenteil funktionierten diese als zum Teil gut erkennbare Parallelstrukturen, w ­ elche die öffent­lichen, sowjetischen Strukturen beeinflussten und manchmal sogar dominierten. Was Pomerancev feststellt, mochte zwar für sowjetische Verhältnisse extrem, an sich aber nicht außergewöhn­lich gewesen sein.19 Der sowjetische Journalist 19 Dass der nach totaler Kontrolle strebende Staat trotz Massenterror die Menschen abseits der großen Städte und Industriezentren nie vollständig zu erreichen vermochte, das weiß die Forschung seit den Arbeiten zum rus­sischen Dorf. Etwa: Helmut Altrichter, Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem rus­sischen Dorf zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984; Sheila Fitzpatrick, Stalinʼs Peasants. Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York 1994; dies., Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times. Soviet Russia in the 1930s, New York 1999. Dabei war es der 1986 erschienene Aufsatz von Sheila Fitzpatrick in der Zeitschrift Russian Review, der einen unter US-Historikern scharf

Terror, Banditen und die Ambivalenz der Moderne

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Abb. 24: Unterricht im Feldlager der Kolchose „Weg Lenins“ der Mitglieder der Brigade des Ordensträgers Ali Čučigov. Urus-Martanovskij Rajon, Tsche­tscheno-Inguschetien, 1936.

beschreibt im Grunde nur die Machtlosigkeit eines Regimes, dem es trotz seines totalitären Anspruchs nie geglückt war, vollständige Kontrolle über die zahlreichen Gesellschaften und deren Lebensweisen auszuüben.20 Bemerkenswert erscheint mit Blick auf Tsche­tscheno-Inguschetien die Bedeutung der Tejps, die in sowjetischen Berichten früherer Jahre kaum so prominent Er­­wähnung finden. Dem Bericht Pomerancevs lässt sich entnehmen, dass Tejps offenbar eine Doppelfunktion innehatten, wobei sie dem Einzelnen einerseits Schutz vor ä­ ußeren Zugriffen (sei dies durch den Staat oder durch Mitglieder eines anderen Tejps) boten und andererseits als Klientelsystem funktionierten, das seinen Mit­ gliedern zu Aufstiegsmög­lichkeiten und anderen Vorteilen verhalf.21 Der Zusammen­ halt innerhalb der Tejps mochte zwar stark sein, doch bedeutete dies keinesfalls, dass es unter den Mitgliedern nicht auch zu Konflikten und Blutfehden kommen geführten Streit um ihre als „revisionistisch“ taxierte Sicht auf den Stalinismus als ein Phänomen „von unten“ auslöste: Dies., New Perspectives on Stalinism, in: Russian Review 45 (1986), S. 357 – 373. Zur Debatte: Stefan Plaggenborg, Die wichtigsten Herangehensweisen an den Stalinismus in der west­lichen Forschung, in: Ders. (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 13 – 33. 20 Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 18. 21 Es ist zwar unklar, ob Pomerancev, wenn er von Tejps spricht, eine genaue Vorstellung von diesen hatte. Er definiert sie allgemein als Clans (rod), was eine sehr allgemeine Bedeutung hat: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 82.

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Abb. 25: Bewohner Dagestans beim Nationaltanz. Aufnahme von 1936.

konnte.22 Sicher aber stellten ­solche traditionellen sozialen Bindungen für den Einzelnen nebst seiner Familie und seinen Verwandten wichtige Identifikationsquellen dar.23 Dass die Tejps in den 1930er-Jahren sogar an Bedeutung gewonnen haben könnten, dafür finden sich nicht nur bei Pomerancev Belege, sondern dies ergibt sich auch aus der Durchsicht weiterer sowjetischer Berichte aus der zweiten Hälfte des Jahrzehnts.24 Das muss zunächst insofern erstaunen, als die sowjetische Gesellschaft in der Vergangenheit wiederholt massiven Säuberungen unterzogen worden war, die gerade auch dazu hätten dienen sollen, Traditionen und ursprüng­liche ­soziale Bindungen auszuradieren. Besonders brutal äußerte sich dabei die Terrorkampagne, ­welche die Parteispitze im Frühjahr 1937 anordnete und ­welche die Gesellschaft endgültig in die neue sozialistische Lebensordnung führen sollte, auch wenn, wie dies selbst Molotov einmal rückblickend zugab, dafür große Opfer abverlangt wurden und bei 22 Siehe dazu die Lebensgeschichte von Hasan Israilov im 11. Kapitel ­dieses Buches. 23 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 82. 24 Die Berichte nennen die Tejp-Strukturen fast ausnahmslos in negativen Konnotationen. Siehe dazu etwa den Bericht des damaligen Sekretärs des tsche­tscheno-inguschischen Gebietskomitees, Vassilij Grigorʼevič Egorov (1899 – 1950), an Stalin, Andreev und Malenkov über das angeb­liche „konterrevolutionäre Zentrum“ in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR vom 29. Juli 1937; darin spricht Egorov unter anderem von der „Infizierung“ der Parteiorganisation durch die Tejps. Der Bericht Egorovs ist publiziert in: Gatagova u. a. (Hg.), CK VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 272 – 275, hier S. 273.

Terror, Banditen und die Ambivalenz der Moderne

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Abb. 26: Abgeordneter des Obersten Rats der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR im Gespräch mit Angehörigen der Traktor-Brigade der Kolchose „1. August“. Tsche­tscheno-Inguschetien, 1938.

der Verfolgung von Feinden irrtüm­licherweise auch viele „ehr­liche Kommunisten“ ihr Leben ließen.25 In einer beispiellosen Gewaltwelle löschte das Regime in relativ kurzer Zeit mithilfe der Geheimpolizei praktisch die gesamte Führungsspitze von Partei, Staat und Armee aus. Es kam zu einer Massentötung von Kulaken, Geist­lichen, Angehörigen der vormaligen revolutionären Elite, Kriminellen und Lager­häftlingen sowie zur Verhaftung und Tötung von Ausländern und Ange­hörigen ethnischer Mino­ ritäten.26 Insgesamt wurden in der Zeit des sogenannten Großen Terrors, der auf seinem Höhepunkt zwischen Juli 1937 und November 1938 wütete, rund 1,5 Millionen Menschen verhaftet und davon 700.000 erschossen.27 Todeslisten mit den Namen von 40.000 Personen hatte Stalin dabei nachweis­lich selbst unterzeichnet.28 Auch

25 Zitat Molotovs aus seinen mit dem sowjetischen Journalisten Feliks Čuev geführten und von ­diesem aufgezeichneten Interviews aus den späten 1960er / frühen 1970er-Jahren: F. Čuev, Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Čueva, Moskva 1991, S. 392 – 393. 26 Jörg Baberowski, Der rote Terror, München 2003, S. 139 – 140. 27 Diese Angabe bezieht sich auf die Jahre 1937 und 1938 und findet sich in: V. N. Chaustov u. a. (Hg.), Lubjanka. Stalin i Glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD. Archiv Stalina. Dokumenty vyšich organov partijnoj i gosudarstvennoj vlasti, 1937 – 1938, Moskva 2004, S. 6. Dazu weiterführend: Nicolas Werth, The Mechanism of Mass Crime. The Great Terror in the Soviet Union 1937 – 1938, in: Robert Gellately / Ben Kiernan (Hg.), The Specter of Genocide. Mass Murder in Historical Perspective, New York 2003, S. 215 – 239. 28 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 22.

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Tsche­tscheno-Inguschetien wurde von der staat­lich initiierten Operation zur „Repression von ehemaligen Kulaken, Kriminellen und anderen antisowjetischen Elementen“ erfasst.29 Bis zum 15. Januar 1938 verhaftete die Geheimpolizei in dieser Republik 5610 Personen. Die eigens dazu gebildeten Trojkas verurteilten im Schnellverfahren 2408 Menschen zum Tod durch Erschießen, 3202 ließ sie in Arbeitslager verbannen.30 Unter den Erschossenen und Deportierten befanden sich praktisch die gesamte politische Führungsschicht der Republik sowie viele Intellektuelle und Geist­liche.31 Der Terror von 1937/38 dezimierte zwar die Elite empfind­lich und hatte in nichtrus­sischen Gebieten wie etwa Tsche­tscheno-Inguschetien noch zur Folge, dass (abgesehen von Russen und anderen Slawen) genau jene Personen getroffen wurden, die sich aus der ohnehin schmalen nationalkommunistischen Schicht rekrutierten und als Träger sozialistischen Gedankenguts durchaus zu einer begrenzten Assimilation bereit waren.32 Allerdings bedeutete der Terror keine Abkehr von der Nationalitäten­politik, denn er richtete sich nicht spezifisch gegen Nichtrussen, obwohl Vertreter der einheimischen Führungsschicht, die zum Ziel der S ­ äuberungen wurden, diesen Verdacht manchmal äußerten (und manche Darstellungen, die sich mit der sowje­tischen Nationalitätenpolitik befassen, fälsch­licherweise diesen Anschein erwecken).33 Die Nationalitätenpolitik hatte zum Ziel, sowjetische

29 Dies bezieht sich auf den Titel des operativen NKVD-Befehls Nr. 00447 vom 30. Juli 1937 (unterzeichnet von Innenminister Nikolaj Ivanovič Ežov, 1895 – 1940). Der Befehl wurde am 31. Juli 1937 vom Politbüro bestätigt und bildete den Auftakt zur anschließenden Terrorwelle im Land. Das Dokument ist publiziert in: Chaustov u. a. (Hg.), Lubjanka, S. 273 – 281. 30 Diese Angaben entstammen einer detaillierten Aufstellung in einem Bericht der Geheimpolizei vom 15. Januar 1948, publiziert in: A. Berelovič / V. Danilov (Hg.): Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Tom 4. 1935 – 1939, Moskva 2012, S. 575 – 580, hier S. 577. Zu den Zahlen ebenfalls: Marshall, Caucasus, S. 236 – 237. Unglaubwürdig ist dagegen die Behauptung Avtorchanovs, dass in nur einer Nacht (vom 31. Juli auf den 1. August 1937) 14.000 Menschen (3 Prozent der Gesamtbevölkerung) verhaftet worden seien: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 174 – 175. Die Angaben Avtorchanovs wurden auch von west­lichen Historikern weitgehend unkritisch übernommen: Dunlop, Russia Confronts Chechnya, S. 55; Robert W. Schaefer, The Insurgency in Chechnya and the North Caucasus. From Gazavat to Jihad, Santa Barbara, Calif. 2010, S. 99. Gemeinhin ist dieser Abschnitt der tsche­tschenischen Geschichte noch ungenügend erforscht. Eine bessere Dokumentation besteht mit Blick auf die Repressionen der 1930er Jahre etwa für die Republik Dagestan: G. I. Kakagasanov u. a. (Hg.), Repressii 30-ch godov v ­Dagestane. Dokumenty i materialy, Machačkala 1997, insbesondere S. 133 – 409. 31 Eine Liste namhafter Persön­lichkeiten, die 1937/38 in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR verhaftet und erschossen wurden, findet sich auf: Memorial, Stalinskie rasstrelʼnye spiski, http://stalin. memo.ru/regions/regi69.htm [14.4.2013]. 32 Dasselbe stellt Baberowski für Aserbaidschan fest: Baberowski, Feind, S. 828. 33 Siehe dazu etwa die Äußerung von Ch. G. Vachaev, Zweiter Sekretär des tsche­tscheno-inguschischen Gebietskomitees, der sich über das Vorgehen gegenüber den nationalen Kadern im Zuge der ­Säuberungen beschwert (Vachaev sollte am 29. September 1937 von seinem Posten entfernt werden): Gatagova u. a. (Hg.), CK VKP (b) i nacionalʼnyj vopros, S. 274. Der tsche­tschenische ­Historiker Džabrail Gakaev

Terror, Banditen und die Ambivalenz der Moderne

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Abb. 27: Die Komsomolzin-Aktivistin I. Razachanova macht die Kolchosbauern des Dorfes Chpedž in Dagestan mit den Ereignissen im ­Fernen Osten bekannt. Aufnahme von 1938.

Inhalte in n ­ ationaler Form zu vermitteln. Kaum jemand aber konnte voraussehen, dass damit gleichzeitig eine Tür geöffnet wurde, durch die traditionelle ­Machtstrukturen und Wertvor­stellungen Einzug ins politische Leben hielten. Das sowjetische Staats­bildungsprojekt transportierte Moderne nicht nur in eine Richtung, sondern wurde umgekehrt auch von jenen Einflüssen geprägt, die über die Rekrutierung ein­heimischer Bevölkerungsschichten einsickerten. Noch weniger Einfluss hatten die Säuberungen auf die Verhältnisse auf dem Land. So liest sich in einem Bericht, den der damals amtende Erste Parteisekretär Tsche­ tscheno-Inguschetiens, Fëdor Petrovič Bykov (1901 – 1980), im Juli 1938 zuhanden von Stalin und anderen hohen Parteifunktionären verfasste, dass 60 aktive Banden liquidiert und bis zu 800 flüchtige „Kulaken-Banditen“, 300 Mullahs sowie 300 „Anführer und Aktive muslimischer Sekten“ verhaftet worden seien.34 Allerdings gab Bykov auch zu verstehen, dass der Schlag gegen das Banditenwesen kaum Wirkung zeitigte. Im selben Bericht heißt es, dass die Berggebiete wegen des Vorgehens der Sicherheitsorgane einen markanten Anstieg von ­Bandenüberfällen verzeichneten. Die vielen Terrorakte, die sich in der Republik feststellen ließen, seien dabei nicht als „Gazawat“ gegen bezeichnet die Säuberungen von 1937/38 sogar als Teil einer gezielten ­Genozid-Politik des Sowjet­ regimes gegen das tsche­tscheno-inguschische Volk: Gakaev, Očerki, S. 96. 34 Der Bericht Bykovs zuhanden von Stalin, Andreev und Ežov vom 13. Juli 1938 findet sich in: RGANI, F. 89, Op. 73, D. 147, Ll. 1 – 8, hier L. 1.

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Abb. 28: Brigadeführer S. Sagaev der Kolchose „Dämmerung des Ostens“ (Zarja Vostoka) macht die Mitglieder seiner Brigade mit den Regeln des Baumwollpflückens bekannt. Gudermesskij Rajon, Tsche­tscheno-Inguschetien, 1938.

Russland zu verstehen, sondern würden sich in erster Linie gegen tsche­tschenische „Verräter“ richten, unter die tsche­tschenisch-stämmige Staats­angestellte, Lehrer oder Leiter von Kolchosen fielen.35 Entsprechend trat Bykov in seinem Bericht an das Moskauer Zentralkomitee mit der Bitte heran, die Durchführung einer auf vier bis fünf Monate angelegten Großoperation zu erlauben, um das Banditen­wesen auszumerzen. Zudem beantragte er die Schaffung einer 15 Kilometer breiten Sicherheitszone rund um die Stadt Groznyj, um die Erdöl­anlagen und die dazugehörige Infrastruktur vor Sabotage­akten und Bandenüberfällen besser s­ chützen zu können.36 Der Zentralstaat sollte den Anspruch auf vollständige Kontrolle zwar nie auf­ geben, schwenkte aber spätestens Ende der 1930er-Jahre auf eine pragmatischere Linie ein, indem er die Bereitschaft erkennen ließ, die Autorität von Clanführern, das Klientelwesen und die private Schattenwirtschaft als letzt­lich unausweich­lich in Kauf zu nehmen.37 Im Gegenzug erwartete der Staat aber, dass die Planziele, sei dies bei der landwirtschaft­lichen Produktion, der Herstellung von Industriegütern oder (ab

35 RGANI, F. 89, Op. 73, D. 147, L. 3. 36 RGANI, F. 89, Op. 73, D. 147, L. 8. 37 Baberowski, Feind, S. 828.

Terror, Banditen und die Ambivalenz der Moderne

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Abb. 29: Brigadenführer der Kolchose „Dämmerung des Ostens“ (Zarja Vostoka) A. Sagaev im Gespräch mit der Stachanow-Baumwollpflückerbrigade. Gudermeskij Rajon, Tsche­tschenoInguschetien, 1938.

Herbst 1939) bei der Rekrutierung und Entsendung von Soldaten in die Rote Armee, erreicht wurden. Dieser Paradigmenwechsel erklärt sich hauptsäch­lich daraus, dass der Staat erkennen musste, dass trotz aller Anstrengungen auch die Säuberungen der Jahre 1937/38 nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt hatten. Dann war es auch die internationale Lage, die diesen Gesinnungswandel nach sich zog: Der Staat musste die sozialistische Umgestaltung zurückstellen, weil in Europa mit dem Machtzuwachs Deutschlands die Z ­­ eichen unmissverständ­lich auf Krieg standen und die Sowjetführung mehr als zuvor auf Stabilität im Innern angewiesen war. Daraus folgte, dass Moskau nun auch von jenem Teil seiner Bevölkerung unbedingte Loyalität verlangte, den die sowjetische Moderne bisher kaum mehr als gestreift hatte. Nament­lich für die Tsche­tschenen sollte dies jedoch eine Überforderung ­darstellen. Die Teilnahme an der Mobilisierung, die Ausdruck dieser Loyalität war, konnten sie in dem vom Staat vorgesehenen Umfang nicht leisten. Hier nun zeichnete sich im Grunde genommen bereits der Anfang jener Entwicklung ab, die nur wenige Jahre später in die Tragödie der Deportation münden sollte.

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Abb. 30: Hirte Šerip Suliev aus der Kolchose „20 Jahre Rote Armee“ der Ortschaft Vedeno mit ­seinen Zuchtbullen. Vedenskij Rajon, Tsche­tscheno-Inguschetien, 1940.

10. 2   I m Bl ick feld Mo s k a u s Moskau hatte sich über die gesamte frühe Sowjetzeit gesehen für die n­ ord­­kauka­sische Randregion im Grunde genommen nur wenig interessiert. Das Politbüro, das mächtigste Regierungsorgan des Sowjetstaates, befasste sich nur selten mit Angelegenheiten im Nordkaukasus. Auch standen die dort lebenden Völker nicht im Fokus von Massenrepressionen, die sich in den 1930er-Jahren wiederholt gegen einzelne ethnische Gruppen richteten. So ließ die Sowjetführung bereits 1933 Kosaken zu Zehntausenden aus dem Kuban aussiedeln als Strafe dafür, dass diese sich der Kollektivierung widersetzt ­hatten. 1935/36 richtete sich der Staatsterror nament­lich gegen Deutsche, Letten, Esten und Finnen, die in und um Leningrad lebten und präventiv, für den Fall eines Kriegs mit Nazideutschland, nach Zentral­asien deportiert wurden. Auch in Weißrussland und in der Ukraine wurden damals Zehntausende von Deutschen und Polen verfolgt und ausgeschafft. Im Zuge der Repressionskampagne von 1937/38 gerieten die Kurden im sowjetisch-türkischen Grenzgebiet, die ­Koreaner im Fernen Osten und die Nomaden an der Grenze zu Afghanistan ins Visier des Staates. Sie galten, wie die anderen deportierten Völker auch, als potenziell ­illoyal und im Kriegsfall als fünfte Kolonnen – und wurden deshalb ausgesiedelt oder

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eingesperrt.38 Die Tsche­tschenen und andere Völker des Kaukasus dagegen fielen seinerzeit nicht in die Kategorie von Feindesnationen. Die Frage nach ihrer Loyalität stellte sich aus der Sicht Moskaus deshalb noch nicht, weil es dafür zunächst keinen zwingenden Anlass gab. Gegen Ende der 1930er-Jahre, vor dem Hintergrund der wachsenden Kriegs­ gefahr in Europa, rückte auch der Kaukasus stärker in den Fokus der hohen Politik. Die Region, in der sich auch in der Vergangenheit wiederholt Großmacht­interessen gefähr­lich gekreuzt hatten, war aus Sicht Moskaus auch deshalb verwundbar, weil die Industrien bei Majkop, Groznyj und Baku zusammen mehr als 90 Prozent des sowje­tischen Erdöls produzierten. Es war der Kaukasus, der den Treibstoff für sowje­tische Panzer, Flugzeuge und Motorfahrzeuge produzierte.39 Nur eine Woche vor dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939, der den Zweiten Weltkrieg auslöste, glaubte Moskau noch, durch Abschließen eines Nichtangriffspakts mit Berlin seine Westflanke vor einem deutschen Angriff längerfristig geschützt zu haben. Stalin rechnete in der Folge zwar nicht mit einer Attacke Deutschlands (was sich als schwerwiegende Fehleinschätzung erweisen sollte), doch änderte dies nichts daran, dass die Sowjetunion ihre Streitkräfte in einem noch nie dagewesenen Ausmaß mobilisierte und modernisierte: Von 1939 bis 1941 wuchs der Bestand der Roten Armee von zwei auf fünf Millionen Mann an.40 Wie in den geheimen deutsch-sowjetischen Zusatzprotokollen vorgesehen, die eine weitgehende Aufteilung Osteuropas zwischen Deutschland und der Sowjetunion regelten, griff die Rote Armee am 17. September 1939 Polen an und eroberte dessen öst­liche Hälfte. Am 30. November desselben ­Jahres startete die UdSSR ihren Angriff auf Finnland, das sich allerdings weit heftiger als von Moskau erwartet zur Wehr setzte. Die Sowjetunion befand sich nun im Krieg. Und als wichtigster erdölproduzierender und erdölverarbeitender Region kam dem Kaukasus eine Schlüsselrolle bei diesen mechanisierten Militäroperationen zu. In der Zeit, in der Pomerancev seine Beobachtungen zu Blatt brachte, veränderte sich auch die Bedrohungswahrnehmung seitens des sowjetischen Regimes. Vor dem Hintergrund der Kriegsgefahr begann Moskau, die Berichte aus der Kaukasus­region – und nament­lich aus jenen Gebieten, wo Öl produziert und verarbeitet wurde – sorgfältiger zu studieren. Ohne dass Pomerancev dies wohl beabsichtigt hatte, war es in einer Situation, in der Moskau seinen Blick ohnehin verstärkt auf die süd­liche

38 Baberowski, Terror, S. 139 – 140; ders., Verbrannte Erde, S. 348 – 349; Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 81 – 117; Pavel Polian, Against their Will. The History and Geography of Forced Migrations in the USSR, Budapest 2004, S. 115 – 123. 39 Zur sowjetischen Erdölpolitik und Erdölwirtschaft in der frühen Sowjetzeit: Igolkin, ­Neftjanaja ­politika. 40 A. Ju. Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza i Krasnaja Armija, 1918 – 1945 gody, Moskva 2007, S. 140.

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Grenzregion richtete, auch sein negativer Bericht zu Tsche­tscheno-Inguschetien, der am Anfang einer Kette von Entwicklungen stand, die schließ­lich im Frühjahr 1940 sogar in die Absetzung des Ersten Parteisekretärs, Bykov, münden sollten. Es verstand sich von selbst, dass Pomerancevs Schreiben an die Redaktion von Bezbožnik in dieser Form nicht der Öffent­lichkeit zugemutet werden konnte.41 Der Journalist beschrieb darin eine Situation, die in starkem Kontrast zum Bild der sowjetischen Propaganda stand. Die Tsche­tschenen, die Inguschen und andere nordkauka­sische Völker galten laut offizieller Lesart als „freiheitsliebende Völker“, deren Geschichte von einem jahrzehntelangen Kampf gegen die zaristischen Kolonisatoren und die nationale Bourgeoisie gezeichnet war, bis sie unter der Sowjet­ herrschaft end­lich zu ihrem Recht kamen. Seither hätten sich diese Völker kulturell und wirtschaft­lich in einer Weise entwickelt, die sie „bis zur Unkennt­lichkeit“ verändert hätte. So zumindest konnten dies die Menschen in der Sowjetunion in einem Artikel nachlesen, den die Tageszeitung Izvestija am 15. Januar 1939 anläss­ lich des fünfjährigen Bestehens der vereinigten Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR publizierte.42 Pomerancevs Geschichte wurde zwar der Öffent­lichkeit vorenthalten, sie war damit aber noch längst nicht zu Ende. Emelʼjan Michailovič Jaroslavskij (eigent­lich Minej Izrailevič Gibelʼman, 1878 – 1943), der Vorsitzende des Verbands der mili­ tanten Gottlosen und Herausgeber der Zeitung Bezbožnik, war der Überzeugung, dass „das, was [Pomerancev] über Tsche­tscheno-Inguschetien bericht[e], die allergrößte Aufmerksamkeit verlang[e]“, und entschied sich, eine Kopie des Berichts seines Mitarbeiters am 21. Juli 1939 an das Politbüromitglied Andrej Andreev zu senden.43 Und Moskau reagierte prompt: Bereits vier Tage später leitete das Sekretariat der Moskauer Parteizentrale den Bericht Pomerancevs an das tsche­tschenoinguschische Parteibüro mit der Aufforderung zu einer Stellungnahme weiter.44 Kritik an der Partei war im stalinistischen System Teil einer ritualisierten kommu­ nikativen Praxis. Kritik sollte zu Selbstkritik anregen. Sie sollte reinigend wirken, indem Fehler erkannt und ausgemerzt, Schuldige identifiziert und wenn nötig

41 Dafür berichtete Bezbožnik im Anschluss an ihre Untersuchungen aber weiterhin kritisch über die Situation in den Bergregionen Tsche­tscheno-Inguschetiens, nicht nur in der Zeitungsversion, sondern auch in der Zeitschrift Bezbožnik: M. Vladimirov, Zakony gor (putevye zametki), in: Bezbožnik, Nr. 8, August 1939, S. 11 – 12. Die Veröffent­lichungen Bezbožniks veranlassten die Staatsanwaltschaft Tsche­tscheno-Inguschetiens aber immerhin dazu, den Fall im Dorf Valerik neu aufzurollen: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 95. 42 Pjatiletie Čečeno-Ingušetii, in: Izvestija, Nr. 12, 15. Januar 1939, S. 4. 43 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 81. Jaroslavskij stellte Andreev am 21. Juli 1939 vermut­lich nur den allgemeineren Bericht Pomerancevs zur Situation in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR zu. Enthalten in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 82 – 89. 44 RGASPI, F. 17, Op. 116, D. 11, L. 39.

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eliminiert wurden.45 Dass auch das tsche­tscheno-inguschische Parteibüro auf den von außen herangetragenen Tadel schließ­lich mit einem Schuldbekenntnis ­reagieren sollte, war keine Überraschung. Dennoch sollten vier Monate verstreichen, bis sich die Parteispitze der kleinen Kaukasusrepublik unter der Leitung Bykovs zusammen­ fand, um ein solches Schuldbekenntnis abzulegen. Im entsprechenden Bericht vom 22. November 1939 stellte Bykov einen zehn Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vor, der vor allem eines signalisieren sollte: die Bereitschaft der Partei, die Probleme anzupacken. Die Parteizellen auf Stufe der Republik und in den einzelnen Rajons, die Komsomol-Organisationen, die Presse, die Prokuratur und die staat­ lichen Behörden – alle waren sie angehalten, den Kampf gegen Adat und Religion aufzunehmen beziehungsweise Vorschläge für die Beseitigung von Auswüchsen aus der Vergangenheit zu unterbreiten.46 Um die Frauen besser zu ­schützen, sollte Artikel 89 der Verfassung der tsche­ tscheno-inguschischen Republik, der die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau festschrieb, erweitert werden; unter Strafe gestellt wurde fortan auch „Widerstand gegen die tatsäch­liche Emanzipation der Frauen“, worunter nament­ lich die „Zwangsverheiratung von Minderjährigen, die Polygamie, das Brautgeld oder die Organisation von Widerstand gegen die Zulassung von Frauen zur Bildung, landwirtschaft­lichen Arbeit, in die Industrie, in den Staatsdienst oder zum gesellschaft­lich-politischen Leben“ fielen.47 Nebst diesen deklarativen Maß­nahmen zeigte die Parteiführung aber auch auf anderer Ebene, dass sie durchgreifen wollte: So wurden bis Ende 1939 die Hälfte aller Kolchosvorsteher der Republik, insgesamt 230 Personen, und 21 von 24 Vorsitzenden der ausführenden Komitees der Rajons (rajispolkom) abgesetzt. Gegen zahlreiche dieser Personen wurde ein Gerichts­ verfahren eröffnet.48 Wenn die Behörden vor Ort damit ihre Schuldigkeit gegenüber Moskau getan zu haben glaubten, dann hieß dies nicht, dass sie mit der Kritik Pomerancevs auch einverstanden gewesen wären. Dies bringt ein ausführ­licher Bericht zum Ausdruck, der unter der Ägide des tsche­tscheno-inguschischen Parteisekretärs N. Michajlenko im Vorfeld der Parteibeschlüsse vom 22. November angefertigt wurde.49 Genau wie 45 Lorenz Erren, Selbstkritik und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917 – 1953), München 2008, insbesondere S. 93 – 133. 46 Der Beschluss vom 22. November 1939 (ohne Anhänge) findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 92 – 94. 47 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 93; Wortlaut des Verfassungsartikels: RGASPI, F. 17, Op. 119, D. 1253, L. 105. Ob der Artikel tatsäch­lich und in ­diesem Wortlaut in die Verfassung der Tsche­ tscheno-Inguschischen ASSR aufgenommen wurde, ist unklar. 48 RGASPI, F. 17, Op. 3, D. 1022, L. 131; RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, L. 86. 49 Sein Bericht (undatiert, aber vor dem 22. November 1939 verfasst) findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 107 – 117.

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dem tsche­tscheno-inguschischen Parteibüro blieb auch Michajlenko zunächst nichts anderes übrig, als mit Pomerancev einig zu gehen, dass das Vorgehen der Partei gegen Tejp- und Adat-Traditionen ungenügend und die im Brief ­geäußerten Vorwürfe „im Wesent­lichen richtig“ seien.50 Jedoch sucht Michajlenko das äußerst negative Bild des rus­sischen Journalisten aufzupolieren und die Schuld für all­fällige Versäumnisse nach Mög­lichkeit auf die früheren Amtsinhaber abzuschieben.51 In seinem Rapport geht Michajlenko zunächst Punkt für Punkt auf die Vorwürfe Pomerancevs ein – einige davon akzeptiert er vorbehaltlos, andere berichtigt er oder schlägt er ab, um dem Journalisten danach vorzuwerfen, in seinem Bericht nur auf Versäumnisse hinzuweisen, hingegen kein Wort darüber zu verlieren, welch große Fortschritte bei der Überwindung „der alten reaktionären Ordnung“ erzielt worden seien.52 Michajlenko lehnt die Wirk­lichkeiten, wie sie von Pomerancev gezeichnet werden, nicht einfach ab, doch er sucht sie nach Mög­lichkeit zu relativieren. So sieht er in seinem Bericht die Republik grundsätz­lich auf dem Weg in die Moderne. Im Adat und in den Tejp-Strukturen will er keinen unverrückbaren Zustand erkennen, sondern Überbleibsel einer Vergangenheit, deren Überwindung ledig­lich eine Frage der Zeit sei. Auch verneint er das Bestehen paralleler Welten nicht, doch widerstrebt es ihm offensicht­lich, strikt zwischen Russen und Tsche­tschenen beziehungsweise zwischen Bergen und Ebene zu trennen. Die Vorstellung von den Bergen als einem einzigen Hort von Banditen weist Michajlenko in seinem Bericht ebenso entschieden zurück wie die Feststellung, dass die Tsche­tschenen gegenüber den Russen eine „Front“ bilden würden und die Russen deshalb sogar Angst hätten, aufs Land zu ­fahren. Er sieht zwar Nachholbedarf bei der Einbeziehung von jungen Tsche­tschenen in die Industrie, doch wehrt er sich gegen den „eigenartigen, politisch schäd­lichen Vorschlag“, dort Nichttsche­tschenen in großem Umfang anzusiedeln. Eine ­solche Vorstellung erklärt Michajlenko in seinem Bericht damit, dass Pomerancev sich in einem Rajon in den Bergen aufgehalten habe, der nicht repräsentativ für die ­Situation in Tsche­tscheno-Inguschetien stehe.53 Für die Hindernisse auf dem Weg in die ­sowjetische Moderne macht Michajlenko Segmente der tsche­tschenischen Gesellschaft im Dunstkreis von „Kulaken, Mullahs und Bandenelementen“ verantwort­lich. Diese hätten lange Zeit Unterstützung von den „trotzkistisch-bucharistischen und bourgeoise-nationalistischen“ Kräften der Gesellschaft erhalten, die ein Interesse daran gehabt hätten, die alte Ordnung zu konservieren, um der Sache der Sowjetunion Schaden zuzufügen. Damit spricht er jene Führungsschicht der Republik an,



50 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 109. 51 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 108. 52 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 116. 53 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, L. 117.

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deren Vertreter im Rahmen der von der Parteispitze beschlossenen Säuberungen mehrheit­lich verhaftet und teilweise erschossen worden waren.54 Der tsche­tscheno-inguschischen Parteispitze sollte es trotz dieser ­Anstrengungen nicht gelingen, sich aus der Affäre zu ziehen. Denn nun setzte Moskau seine ­eigenen Instruktoren ein, um die Situation vor Ort zu untersuchen. Der Bericht der ­Instruktoren war wiederum äußerst negativ.55 Er gab der tsche­tscheno-inguschischen Parteiführung die alleinige Verantwortung für die rückläufigen Produktionsraten in der Erdölindustrie und der Landwirtschaft, attestierte ihr eine fehlerhafte Kaderpolitik und warf ihr vor, sich zu wenig um die korenizacija, die Ausbildung und Heranziehung von Angehörigen der Titularnationen, bemüht zu haben. So habe die Führung zwar in letzter Zeit eine große Zahl Tsche­tschenen und Inguschen in die Partei aufgenommen, doch, so vermuteten die Instruktoren, sei dies wohl vor allem der Statistik wegen geschehen, denn in Tat und Wahrheit kümmere sich niemand ernsthaft um deren politische Ausbildung.56 Zwar kämen heute viele Kinder in den Genuss einer schu­lischen Ausbildung, doch zähle die Republik noch immer verhältnismäßig viele Analphabeten, was auch darauf zurückzuführen sei, dass Väter ihren Kindern und vor allem ihren Töchtern in vielen Fällen generell verbieten würden, staat­liche Schulen zu besuchen; auch seien Tsche­tschenen und Inguschen in den höheren Bildungsinstitutionen gegenüber den Russen noch immer markant untervertreten; nach wie vor kaum oder nur vereinzelt präsent seien Angehörige dieser Völker am Erdölinstitut oder am Pädago­gischen Institut in Groznyj.57 Harsch war die Kritik der Instruktoren auch im Bereich der Erdölförderung. Dass die Vorgaben für die Erdölproduktion von Anfang an zu hoch angesetzt und rein schon aufgrund geolo­gischer Gegebenheiten nicht erfüllbar gewesen seien (die Erdölproduktion bei Groznyj hatte bereits Anfang der 1930er-Jahre ihren Peak erreicht), ließen die Berichterstatter nicht als Entschuldigung gelten.58 Sie bemängelten, die

54 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 26, Ll. 107 – 108. 55 Angesprochen ist der Bericht „Über die Arbeit des tsche­tscheno-inguschischen Obkoms der VKP (b)“, der vor dem 19. April 1940 zuhanden des Sekretärs des ZKs der VKP (b), Malenkov, erstellt wurde, und der die Basis für den Beschluss des Politbüros vom 26. April 1940 bildete. Bei den Autoren des Berichts (M. A. Šamberg und A. A. Savčenko) handelte es sich um Mitarbeiter der Organisations- und Instruktoren-Abteilung beziehungsweise der Abteilung für Kader­ administration innerhalb des ZKs der VKP (b). Der Bericht findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, Ll. 75 – 94. 56 Die tsche­tscheno-inguschische Abteilung der Kommunistischen Partei umfasste zu d­ iesem Zeitpunkt nicht mehr fast ausschließ­lich Russen und Slawen, sondern schloss nun auch eine statt­liche Zahl Tsche­tschenen und Inguschen ein, auch wenn diese im Staats- und Parteiapparat mit rund 20 Prozent noch immer eine deut­liche Minderheit stellten: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, Ll. 87 – 90. 57 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, L. 90. 58 Gemäß Angaben aus dem von Šamberg und Savčenko vor dem 19. April 1940 verfassten Instruk­ toren­­bericht produzierte die Erdölindustrie der Republik noch 1932 8064,5 t Erdöl und Erdgas,

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Partei habe ihre Führungsaufgaben nicht wahrgenommen, und belegen dies mit dem Hinweis auf die vielen Unfälle und Entlassungen, aber auch auf das massenhafte „­Schwänzen“ am Arbeitsplatz.59 Ebenso wenig berücksichtigten die Instruktoren im Bereich der korenizacija den Umstand, dass es sch­licht zu wenig gut ausgebildete Angehörige aus den Reihen der Titularnationen gab, um den Anteil der Tsche­tschenen und Inguschen im Staatsapparat und in der Partei im geforderten Maß zu erhöhen. Hier nun wirkte sich der Umstand negativ aus, dass Tausende von einheimischen Kommu­ nisten und Angehörigen der Intelligenzija den stalinistischen Säuberungen zum Opfer ge­­fallen waren und der Partei in der Folge nichts anderes übrig blieb, als diese Lücken entweder mit Russen oder minder gebildeten Tsche­tschenen und ­Inguschen aus länd­lichen Gebieten zu füllen (was zur Folge hatte, dass über diese Personen nun auch traditionelle Elemente noch häufiger als früher Einzug in die Politik hielten).60 Die Moskauer Parteispitze wollte ein Zeichen ­­ setzen und reagierte in d­ iesem Fall, wie sie immer reagierte: mit administrativen Maßnahmen. So überraschte wenig, dass das Politbüro in seinem Beschluss vom 26. April 1940 Bykov vorwarf, seiner Aufgabe nicht gewachsen zu sein, und ihn absetzte.61 Seine früheren Anstrengungen, nament­lich die massenhafte Entlassung von Kolchosleitern und Rajonvorstehern, würdigte das Politbüro nicht. Denn auch im Herbst 1939 war das Plansoll bei der Aussaat und der Ernte nicht erfüllt worden.62 Auffällig ist, dass das Politbüro in seinen Beschlüssen vom 26. April die Probleme mit den über­ kommenen Tejp-­Strukturen oder den Adat-Regelungen, auf die alle vorgängigen Berichte hingewiesen haben, mit keinem Wort mehr erwähnt. Gerade dies kann als Hinweis dafür gedeutet werden, dass die Parteiführung willig war, traditionelle Machtstrukturen und Sozial­verhältnisse als notwendige Übel zu akzeptieren, wenn dafür Stabilität und Loyalität garantiert waren und die Planziele erfüllt bereits 1933 aber nur noch 5160,9 t. 1939 fiel die Produktion auf 2288,9 t. Damit wurde die Vorgabe nur zu 76 Prozent erfüllt. War Grozneftʼ 1932 noch für 36,2 Prozent der gesamten ­sowjetischen Erdölproduktion verantwort­lich, so sank diese Rate bis 1937 auf 22 Prozent: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, L. 76. Dazu ebenfalls: Igolkin, Neftjanaja politika, S. 137. 59 So sollen 1939 6037 Arbeiter die Erdölindustrie von Groznyj verlassen haben, rund 5000 Personen wegen „Schwänzens“ (progul): RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, L. 81. 60 Dass die Partei schließ­lich massenweise Tsche­tschenen und Inguschen als neue Mitglieder der Partei aufnahm, nur um die Quoten zu erfüllen, wurde wiederholt kritisiert. So auch vom Nachfolger Bykovs, Viktor A. Ivanov, der sich in einem Schreiben an Malenkov vom 18. April 1942 darüber beschwert, dass von 522 Tsche­tschenen und Inguschen, die nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Partei eingetreten waren, die Mehrheit über keine höhere Ausbildung und keine Parteierfahrung verfüge; das Schreiben ist enthalten in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 313, Ll. 5 – 6. 61 Der Beschluss ist enthalten in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, Ll. 131 – 133. 62 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 87, L. 131.

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wurden. Dass Staat und Gesellschaft in Tsche­tscheno-Inguschetien dazu aber nur bedingt in der Lage waren, sollte sich in den gescheiterten Versuchen zeigen, die Kollektivierung in den Berggebieten voranzutreiben und die nordkauka­sischen Männer in die Rote Armee zu rekrutieren.

10. 3   S chwa che r St a at u nd s chw ie r ige Mobi l i sie r u ng Es war sicher kein Zufall, dass das Politbüro mit Viktor Aleksandrovič Ivanov (1903 – 1963) eine Person als neuen Ersten Sekretär der tsche­tscheno-inguschischen Republik einsetzte, die Erfahrungen aus der Erdölindustrie mitbrachte. Immerhin hatte Ivanov bis zu d ­ iesem Zeitpunkt die Erdölabteilung des tsche­tschenoinguschischen Parteibüros geleitet. Er sollte nun die Missstände in der Republik beheben und vor allem die Erdölproduktion wieder auf Kurs bringen. Und tatsäch­ lich verkündete Ivanov bereits Mitte November 1940 vor dem 4. Plenum des tsche­ tscheno-inguschischen Parteibüros, dass die „feind­liche Theorie“, wonach es bei Groznyj nicht genügend Erdöl gebe, durch eine Steigerung der Produktion bereits habe widerlegt werden können. Auch die erdölverarbeitende Industrie bei Groznyj, die damals rund ein Drittel des gesamten sowjetischen Erdöls verarbeitete, habe ihre Produktion stabilisieren können.63 Tatsäch­lich aber hatte Ivanov die Situation kaum eher unter Kontrolle als sein Vorgänger. Die Erdölindustrie mochte zwar einige marginale Erfolge verzeichnen, doch die Produktionszahlen, die etwa die Kolchosen auswiesen, hinkten nach wie vor weit hinter den Planzielen hinterher. Auch unter Ivanov blieben die Moskauer Instruktorenberichte bei ihrer Einschätzung, dass die Kolchosen der Republik weiter­hin „extrem schlecht“ funktionierten, weil die Bauern lieber ihre eigenen Felder bestellten als zur Arbeit in die Kolchosen zu gehen.64 Dass Bauern in der Sowjetunion nach der Kollektivierung kleine Parzellen Land und Kleinvieh für ausschließ­lich private Zwecke behalten durften, widersprach dem Gesetz zwar nicht.65 Die Berichte aus Tsche­tscheno-Inguschetien zeichneten aber ein anderes Bild. Demnach sollen Bauern insbesondere in den Bergregionen Land und Vieh noch immer in einem aus staat­licher Sicht exzessiven Maß privat genutzt haben.

63 Produzierten die Anlagen von Grozneftʼ im Juni 1940 gemäß Ivanov noch 5978 t Öl, so lag die Produktion im Oktober bereits bei 6820 t: RGASPI, F. 17, Op. 22, D. 3725, L. 2. 64 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, L. 38. 65 Im Fall Tsche­tscheno-Inguschetiens kam das Politbüro den Kolchoshöfen aber weiter entgegen als in anderen Landesteilen. Immerhin erlaubte das Politbüro im Fall Tsche­tscheno-Inguschetiens das Halten eines Pferds oder zweier Bullen im Privatbesitz: RGASPI, F. 17, Op. 163, D. 1141, Ll. 107 – 110, hier L. 110.

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Im Šatoevskij-Rajon etwa sollen von 9600 Hektaren Ackerland nur gerade 900 gemeinschaft­lich genutzt worden sein. Von den insgesamt 3443 Kolchosarbeitern des Rajons besassen 1300 Privatgrundstücke im Umfang von 2 bis 10 Hektaren.66 Alle Versuche des Staates, daran grundsätz­lich etwas zu ändern, scheiterten. Als die tsche­tscheno-inguschische Parteiführung ohne vorherige Rücksprache mit Moskau im Frühjahr 1940 in einzelnen Bergrajons durchsetzen wollte, dass große Teile jener Landflächen, die sich in individuellem Besitz von Kolchosarbeitern befanden, vergemeinschaftet und als Kolchosland genutzt wurden, führte dies zu gewaltsamen Ausschreitungen, was die Behörden veranlasste, den Plan aufzugeben. Noch im Herbst 1940 soll die Lage in den Berggebieten deswegen angespannt gewesen sein.67 Weil bei solchen Vorkommnissen am Ende immer die Partei ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, war Ivanov vorsichtig genug, Moskau über seine neuen Pläne bezüg­ lich der Beseitigung von Missständen in der Landwirtschaft genauestens zu informieren. Wohl um sich für den Fall abzusichern, dass auch seine Maßnahmen keine Früchte tragen sollten, suchte er die Situation in keiner Weise zu b­ eschönigen, sondern malte sie in den dunkelsten Farben. So war wohl auch sein Schreiben an die Parteispitze vom 7. November 1940 zu verstehen, in dem er um Erlaubnis bat, die Kollektivierung in den Berggebieten im Zeitraum 1941 – 1942 endgültig durchführen zu dürfen und dabei den Anteil der individuellen Land- und Viehnutzung massiv zu verkleinern (wozu es allerdings aufgrund der Kriegsaufnahme mit Deutschland am 22. Juni 1941 nicht mehr kommen sollte).68 Welche Mühe der Staat bekundete, Maßnahmen in geordneter und effektiver Weise durchzuführen, zeigte schließ­lich in aller Deut­lichkeit die Kampagne zur Mobilisierung und Entsendung von Männern in die Rote Armee. Am 1. ­September 1939 trat ein Gesetz in Kraft, das vorsah, alle wehrfähigen männ­lichen Bürger uneingeschränkt und unabhängig von ihrer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit zum Dienst in die Streitkräfte einzuziehen.69 Damit konnten erstmals in der Sowjetgeschichte auch Angehörige der nichtrus­sischen Bevölkerung des Nord­ kaukasus, die zuvor nur vereinzelt und freiwillig in der Roten Armee gedient hatten, regulär rekrutiert werden. Gleiches galt für andere nichtrus­sische Völker, die bisher nur in gesonderten „nationalen Regimentern“ dienen konnten.70 Diese Maßnahme des Staates war in Zusammenhang mit den bereits 1938 lancierten Bestrebungen

66 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, L. 38. 67 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, Ll. 49 – 50. 68 Der Bericht findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 203, Ll. 113 – 134, zum Vorschlag der ­Kollektivierung Ll. 130 – 134. 69 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza i Krasnaja Armija, S. 140. 70 Ebd., S. 135 – 136, 140.

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zur Schaffung einer Einheitsarmee zu verstehen, in der auch die Umgangssprache Rus­sisch sein sollte.71 Angesichts ihrer ausgeprägten Wehrtradition ließ sich den Nordkaukasiern nicht nachsagen, dass sie in der Vergangenheit ungern in Streitkräften gedient hätten, falls sie dazu die Mög­lichkeit erhielten. Wie bereits die Zarenadministratoren vor ihnen waren allerdings auch die Bolschewiki sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, Männer aus dem Kaukasus in großer Zahl zu bewaffnen und militärisch auszubilden. Schließ­lich waren die Bolschewiki noch bis weit in die 1920er-Jahre hinein damit beschäftigt gewesen, der nordkauka­sischen männ­lichen Bevölkerung die Waffen abzunehmen, um so das Potenzial für Aufstände zu verringern. Die nichtrus­sischen Angehörigen von Titularnationen wurden zwar gezielt im Rahmen der ­korenizacija gefördert. Wenn es aber um die nationale Sicherheit ging, dann kannte das Vertrauen der Führung in ihre eigenen Bürger enge Grenzen. In Tat und Wahrheit behandelte gerade in d­ iesem sensiblen Bereich die Sowjetführung die nichtrus­sischen Völker des Nordkaukasus nicht anders als die Zaren vor ihr: als inorodcy, als Fremdstämmige. Entsprechende Vorstöße, diese verstärkt in die Armee zu rekrutieren, hatte es in der frühen Sowjetzeit zwar wiederholt gegeben, doch waren sie bei den Verantwort­ lichen jeweils auf Ablehnung gestoßen.72 71 In ­diesem Licht war auch der Entscheid der Sowjetführung von Anfang 1938 zu verstehen, die ­rus­sische Sprache als Pflichtfach an allen Schulen des Landes einzuführen (wobei die ein­heimische Sprache als die allgemeine Unterrichtssprache beibehalten werden sollte) und die bei vielen isla­ mischen Völkern vorherrschenden lateinischen Schriftzeichen abzuschaffen und durch das ­Kyril­lische zu ersetzen. Dabei führte die Parteiführung im Wesent­lichen drei Punkte an, um ihren Entscheid gegenüber den regionalen Parteiführungen zu rechtfertigen: Erstens wurde anerkannt, dass im Kontext des multinationalen Staates die rus­sische Sprache als Bindemittel unter den Völkern unerläss­lich war. Zweitens hielt die Partei gute Kenntnisse der rus­sischen Sprache für die Ausbildung ­nationaler Kader in den Bereichen Wissenschaft und Technik für unabkömm­lich. Drittens schließ­lich sollte die Kenntnis der rus­sischen Sprache sicherstellen, dass die Kommunikation innerhalb der Roten Armee reibungslos funktionierte. Siehe dazu den Entwurf des entsprechenden Beschlusses des ZKs der VKP (b), verfasst von Andrej Ždanov zuhanden von Molotov (undatiert, aber vor dem 1. April 1938), in: RGASPI, F. 82, Op. 2, D. 920, Ll. 1 – 7. Dazu ebenfalls: Frings, Sowjetische Schrift­ politik, S. 342 – 348. 72 So war Kliment Vorošilov bereits im November 1923 in Schreiben an Stalin, Trocki und ­Antonov-Ovseenko mit dem Begehren herangetreten, mit Blick auf eine spätere Formierung ­nationaler Armeeabteilungen entsprechende Ausbildungskurse in Rostov am Don für Angehörige der „Bergvölker“ einzurichten: RGASPI, F. 74, Op. 2, D. 81, Ll. 134 – 141. Eine ­solche Schule wurde zwar tatsäch­lich eröffnet, allerdings wurden in der Folge verhältnismäßig wenig Angehörige von „Bergvölkern“ für den Militärdienst herangezogen. Dieser war auf freiwilliger Basis und die Angehörigen nordkauka­sischer Völker sollten vor allem außerhalb ihrer nationalen Gebiete dienen. Das mit Abstand größte Kontingent stellten dabei die Osseten (vor allem aus dem süd­lichen Teil Ossetiens). Im Zuge der Aufstände während der Kollektivierung wurde der Einbezug von Angehörigen nichtrus­sischer nordkauka­sischer Völker allerdings erneut stark reduziert und die Formierung einer nationalen, aus „Bergvölkern“ bestehenden Kavalleriedivision kam nicht zustande: Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza i Krasnaja Armija, S. 134 – 139.

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Die Grundlagen für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurden im Prinzip bereits mit der neuen sowjetischen Verfassung von 1936 gelegt, die in den Artikeln 132 und 133 festschrieb, dass „jeder Bürger der UdSSR“ die Pflicht habe, das Vaterland zu verteidigen.73 Bereits im selben Jahr ging die Armee­führung an die Vorbereitungen für den Aufbau einer kauka­sischen Brigade bestehend aus Angehörigen nordkauka­sischer Völker, die später in die Rote Armee integriert werden sollte – wobei sich Tsche­tschenen und Inguschen daran aber offenbar kaum beteiligten.74 Als die Rekrutierungskampagne nach Inkrafttreten des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht im Herbst 1939 schließ­lich lanciert wurde, waren nicht nur die verantwort­lichen Behörden vor Ort völlig überfordert. Auch die Bevöl­kerung, die bislang nicht zum Armeedienst zugelassen gewesen war, zeigte sich darauf nicht vorbereitet; Sinn und Zweck der Aushebung blieben ihr unverständ­lich. Dies galt offenbar besonders für Tsche­tscheno-Inguschetien, das im Zentrum einer Unter­ suchung stand, um den „Fakten der massenhaften Umgehung vom Dienst in der Roten Armee“ nachzugehen – eine Studie, die das Hauptquartier für Polit­propaganda der Roten Armee ein Jahr nach Beginn der Aushebung durchführen ließ.75 Gemäß dem Bericht wurden in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR im Rahmen der Aushebung von 1939 insgesamt 6246 Personen erfasst. Davon ­wurden 3325 direkt in die Rote Armee eingezogen. Die rest­lichen 2921 ­Personen, die zunächst in der Reserve dienten, wurden auf Befehl des Stabs des Nordkaukasus-­ Militärkreises im Februar und Juni 1940 ebenfalls für den Dienst in den Streitkräften auf­geboten. Von diesen sollen sich aber insgesamt 529 Personen einer Entsendung in die Armee entzogen haben, weil sie entweder von den Versammlungsorten der Armee oder aus den Transportzügen flüchteten oder gar nicht erst an den vor­gesehenen Standorten eintrafen. Von den in die Rote Armee Eingezogenen desertierten bis zum Herbst 1940 bereits 84 Soldaten. Bis zum 18. September 1940 konnten 180 Fahnen­flüchtige verhaftet werden.76

73 Ebd., S. 140. 74 Glaubt man den Ausführungen des tsche­tschenischen Parteiabgeordneten Supʼjan K. Mollaev, so war die fehlende Beteiligung nicht etwa auf mangelnden Willen seitens junger Tsche­tschenen und Inguschen zurückzuführen, sondern hatte damit zu tun, dass die Verantwort­lichen zu wenig unternahmen, um eine Beteiligung von Tsche­tschenen und Inguschen zu ermög­lichen. Rede Mollaevs an der tsche­tscheno-inguschischen Parteikonferenz, 29. Mai 1937, in: RGASPI, F. 17, Op. 21, D. 5728, Ll. 176 – 179. 75 Schreiben von Kuznecov, stellvertretender Vorsteher der Hauptabteilung für politische Propaganda der Roten Armee, an das ZK der Partei, Andreev und Malenkov, vom 7. Oktober 1940, „Über die Resultate der Untersuchung der Fakten massenhafter Umgehung der Aufgebotenen in der Tsche­ tscheno-Inguschischen ASSR vom Dienst in der Roten Armee“, in: RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, Ll. 31 – 39. 76 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, Ll. 31 – 32.

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Als maßgeb­lichen Grund verwiesen die Inspektoren auf die völlig ungenügende Arbeit, die vor der Mobilisierung und bei der Durchführung der Aushebung durch die Partei, den Komsomol und andere sowjetische und gesellschaft­liche Organisationen geleistet worden sei. In einzelnen Rajons sollen sogar Kommunisten Deserteure versteckt gehalten haben. Was die Berichterstatter aber noch stärker beunruhigte, war das Phänomen, dass die Behörden der Rajons und Dörfer massenweise falsche Altersangaben lieferten oder alle Arten gefälschter Zeugnisse ausstellten, um M ­ änner von der Wehrpflicht zu befreien. Dies führte dazu, dass die Statistik in einzelnen Rajons anstatt der erwarteten Tausende oft nur wenige Hundert Männer auswies, die für den Dienst in der Armee infrage kamen. Der Ačcho-Martanovskij-Rajon führte von insgesamt 4221 Personen im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 50 Jahren nur 643 auf der Liste zuhanden der Armee auf. Ein ähn­liches Bild bot sich im Nazranovskij-Rajon, wo von 3100 potenziell wehrfähigen Männern gerade einmal 852 auf der Armeeliste eingetragen waren. Im Šatoevskij-Rajon waren es 852 unter total 2892 Männern. Unvollständige Angaben und gefälschte Statistiken machten es kaum mög­lich, ein Bild der tatsäch­lichen Verhältnisse zu zeichnen. Die Berichterstatter schätzten jedoch, dass zwischen 60 und 70 Prozent aller Wehrpflichtigen der Republik nicht als s­ olche erfasst worden waren.77 Dass auch offensicht­liche Verstöße gegen das Gesetz, etwa massive Fälschungen von Altersangaben, nur schwierig zu ahnden waren, erklärten die Berichterstatter damit, dass in vielen Fällen verwandtschaft­liche Beziehungen und Bestechungsgelder eine große Rolle spielten, wenn es darum ging, Angehörige oder Bekannte zu s­ chützen. Dann schienen aber auch Tsche­tschenen, die der Partei angehörten, wenig Interesse daran zu haben, andere Tsche­tschenen für allfällige Vergehen anzuzeigen.78 Ein wichtiger Grund dafür war offenbar die Angst der Tsche­tschenen, sich deswegen eine Fehde mit einer anderen Partei einzuhandeln. Parteichef Ivanov selbst klagte in seinem Schreiben vom 7. November 1940, dass es wegen Furcht vor Racheakten oder aus Angst, gegen Adat-Regelungen zu verstoßen, kaum mög­lich sei, von tsche­tschenischen Parteiangehörigen Unterstützung bei der Verfolgung von Banditen zu erwarten, gerade dann nicht, wenn diese miteinander verwandt seien.79 Wie immer in solchen Fällen löste auch der Bericht, welcher der massenhaften Flucht vor dem Einzug in die Rote Armee nachging, weitere Untersuchungen aus, ­welche die Richtigkeit der Angaben nochmals überprüfen sollten. Im Grundtenor waren sich jedoch auch die Folgeberichte darin einig, dass die Behörden vor Ort die Hauptschuld an den Missständen tragen würden, da sie die Mobilisierung schlecht

77 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, Ll. 32 – 37. 78 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, L. 33. 79 RGASPI, F. 17, Op. 117, D. 203, L. 128.

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vorbereitet und fehlerhaft durchgeführt hätten. Dabei ließ einer dieser Instruk­ torenberichte nicht einmal die Erklärung gelten, dass die Mehrheit der Auf­gebotenen, die nicht an den Bestimmungsorten erschienen waren, absicht­lich desertiert sei; vielmehr seien die Aufgebotenen zu spät informiert worden und hätten gar nicht genügend Zeit gehabt, rechtzeitig an den designierten Treffpunkten zu erscheinen. Die verantwort­lichen Behörden hätten nicht einkalkuliert, dass die Reise aus den Berggebieten zu den Versammlungsorten oft drei bis vier Tage in Anspruch nehmen würde. Dennoch seien diese Personen danach fälsch­licherweise als Deserteure eingestuft und verhaftet worden.80 In der Folge entließ die Armee in neun Rajons die für die Aushebung zuständigen Militärkommissare. Als es 1940 erneut zu einer Aushebung kam, war diese offenbar bereits besser organisiert. Von den insgesamt 5463 Männern, die aufgeboten worden waren, erschienen 5442 tatsäch­lich an den Bestimmungsorten.81 Es fällt bei der Durchsicht all dieser Berichte auf, dass diese zwar im Detail über die Probleme der Rekrutierung und des Einzugs in die Armee informieren, sich aber über die Motive ausschweigen, weshalb viele Menschen sich etwa durch falsche Angaben dem Dienst zu entziehen suchten oder sogar die Flucht ergriffen. Dass et­liche Leute vielleicht deshalb den Dienst scheuten, weil sie nicht für a­ bstrakt erscheinende sowje­ tische Interessen irgendwo in Finnland ihr Leben riskieren wollten, wurde genauso wenig erwähnt wie die Mög­lichkeit, dass die Scheu vor der Armee vielleicht auch auf einem grundsätz­lichen Misstrauen vieler Menschen dem Staat gegenüber basierte.82 Solche Vorstellungen zu äußern, wäre damals bereits deshalb politisch riskant ge­­wesen, weil dies einer Kritik am Entscheid der Sowjet­führung, alle Bürger in der Frage des Militärdienstes gleich zu behandeln, entsprochen hätte. Nicht die Instruktoren, die ledig­lich die verschiedenen Behörden attackierten, sondern die oberste Sowjetführung selbst sollte schon bald wieder an d­ iesem Grundsatz rütteln. Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 das „Unternehmen Barbarossa“, den Angriff auf die Sowjetunion, startete, dienten bereits Zehntausende von Männern aus dem Nordkaukasus, unter ihnen Tausende von Tsche­tschenen und Inguschen, in den Reihen der Roten Armee und beteiligten sich in der Folge

80 Schreiben von M. A. Šamberg, stellvertretender Direktor der Organisation- und Instruktoren-­ Abteilung innerhalb des ZKs der VKP (b), an Andreev, Ždanov und Malenkov, 31. Oktober 1940, in: RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, Ll. 40 – 42. Das Schreiben Šambergs stellt die Ergebnisse der Untersuchung zur Überprüfung der „massenhaften Umgehung des Dienstes in der Roten Armee“ dar und basiert auf dem ausführ­lichen Bericht L. M. Achmatovs vom 30. Oktober 1940, enthalten in: RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, Ll. 44 – 54. 81 RGASPI, F. 17, Op. 122, D. 2, L. 41. 82 Lewis Siegelbaum / Andrei Sokolov, Stalinism as a Way of Life. A Narrative in Documents, New Haven 2000, S. 269.

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an verschiedenen Fronten an den Kriegshandlungen.83 Weniger als ein Jahr nach Kriegsbeginn wurden bereits elf Tsche­tschenen und ein Ingusche für ihre Verdienste am Vaterland mit Orden bedacht.84 Am 15. Januar 1943 zählte die Armeestatistik schon 60 Orden und Medaillen für Tsche­tschenen und deren zwölf für Inguschen.85 War es bis zu d­ iesem Zeitpunkt schwierig genug gewesen, An­­gehörige nichtrus­sischer Völker des Nordkaukasus für die Armee zu m ­ obilisieren, so stand der eigent­liche Test für diese Gesellschaften erst noch bevor. In d­ iesem Krieg, der sich für die Sowjetunion zunächst vor allem als Kampf um ihre staat­liche Existenz darstellte, sollte sich auch das Schicksal einzelner Nord­kaukasusvölker entscheiden.

83 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza i Krasnaja Armija, S. 292 – 293. 84 Über die genauen Zahlen der Tsche­tschenen und Inguschen, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs Dienst in der Roten Armee leisteten, finden sich in der Literatur widersprüch­liche An­­gaben, zumal die Armeeführung darüber keine genaue Statistik zu führen schien. Tsche­tschenischen Darstellungen zufolge sollen zu Beginn des Kriegs 17.000 Personen innerhalb Tsche­tschenoInguschetiens mobilisiert gewesen sein, davon rund 50 Prozent Tsche­tschenen und Inguschen. Insgesamt seien während des Kriegs 50.000 Personen mobilisiert worden, davon 30.000 Tsche­ tschenen: Ch. A. Gakaev, Čečency v bojach protiv nemecko-fašistskich ­zachvatčikov, in: Ju. A. Ajdaev (Hg.), Čečency. Istorija i sovremennost’, Moskva 1996, S. 235 – 242, hier S. 235; ders., Čečeno-Ingušetija v gody Velikoj Otečestvennoj Vojny, in: Ibragimov / Tiškov (Hg.), ­Čečenskaja Respublika, S. 329 – 341, hier S. 339. Vermut­lich sind diese Angaben, die sich zum Teil bereits in der späteren Sowjethistoriographie finden, aber deut­lich zu hoch. Eine Vorstellung mögen die Zahlen zu den Deportierten geben: Nach Angaben des sowjetischen Innenministeriums be­­fanden sich unter den nach Zentralasien deportierten Nordkaukasiern (Tsche­tschenen, Inguschen, Balkaren und Karatschajer), die aus der Roten Armee entlassen wurden, insgesamt 710 Offiziere, 1696 Unteroffiziere und 6488 Soldaten: N. F. Bugaj, L. Berija – I. Stalinu. „Posle Vašich ukazanij provedeno sledujuščee…“, Moskva 2011, S. 230 – 231. Nach neueren statistischen Berechnungen sollen rund 2300 Tsche­tschenen und Inguschen im Kampf gegen das ­faschistische Deutschland gefallen oder im Krieg verschwunden sein: G. F. Krivošeev (Hg.), Rossija i SSSR v vojnach XX veka. Poteri vooružennych sil. Statističeskoe issledovanie, Moskva 2001, S. 238 (Tabelle 121). 85 Allerdings nimmt sich diese Zahl eher bescheiden aus, wenn sie in das Verhältnis zur Gesamtzahl von 264.198 Orden und Medaillen gesetzt wird, die Angehörigen der Roten Armee für den Kampf gegen die deutschen Aggressoren bis Mitte Januar 1943 verliehen wurden. Von diesen gingen bis zu ­diesem Zeitpunkt 238.732 Auszeichnungen (90 Prozent) an Russen, Ukrainer und Weißrussen. Angeführt wurde die Liste der nicht-slawischen Nationalitäten von Juden (6767), Tataren (4384), Kasachen (1620), Mordwinern (1742), Tschuwaschen (1362), Georgiern (1322) und Armeniern (1306). Von den nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus erhielten Osseten (471) und Kabardiner (112) am meisten Auszeichnungen. Die entsprechende Zusammenstellung findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 125, D. 127, Ll. 144 – 145. Die totale Zahl der Orden und Medaillen sollte bis Kriegsende auf über eine Million anwachsen. Die entsprechende Aufstellung findet sich in: GARF, F. R–7523, Op. 17, D. 353, Ll. 11 – 12.

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10.4   D e r Nor d k a u k a s u s i m Zweit e n Welt k r ieg Wenn die neuere rus­sischsprachige Geschichtsschreibung Antworten auf die Frage zu geben sucht, weshalb Tsche­tschenen, Inguschen, Karatschajer und Balkaren 1943/44 nach Zentralasien deportiert wurden, dann ist dies immer auch eine Debatte darüber, wie viele Tsche­tschenen und andere Nordkaukasier im Zweiten Weltkrieg dienten, wie viele sich der Wehrpflicht entzogen und sich versteckt hielten und in welchem Umfang es während des Kriegs im Nordkaukasus zu anti­sowjetischen Aufständen kam. So verständ­lich gerade die Position postsowjetischer nordkauka­sischer Historiker erscheint, w ­ elche die Deportation als u ­ ngerechtfertigten Akt verurteilen, indem sie darauf hinweisen, dass letzt­lich Tausende von Tsche­tschenen, Inguschen und Angehörige anderer Nordkaukasusvölker Seite an Seite mit anderen Sowjetbürgern in den Krieg gezogen seien, so müßig ist diese Debatte letzt­lich, wenn die Entscheide Stalins und der Parteiführung nachvollzogen werden sollen. Denn ausschlaggebend war damals einzig und allein, wie die Moskauer Parteispitze die Situation wahrnahm und w ­ elche Konsequenzen sie daraus zog. Mit dem Angriff der deutschen Streitkräfte auf die Sowjetunion begann die größte und verheerendste militärische Auseinandersetzung, die das Land in seiner Geschichte je erlebt hatte. Der Krieg stellte sich für die Sowjetunion aber nicht nur als Abwehr eines äußeren Aggressors dar. Die Führung des Landes sah darin auch eine innenpolitische Zerreißprobe. Von Beginn weg sorgte sich Moskau um den Zusammenhalt der Nation und schenkte der mutmaß­lichen Bedrohung durch innere Feinde kaum weniger Aufmerksamkeit als der Bedrohung durch Deutschland. Bei seinem ersten öffent­lichen Auftritt nach Ausbruch des Kriegs am 3. Juli 1941 rief Stalin Volk und Armee nicht nur zur gemeinsamen Verteidigung des Vaterlands auf, sondern forderte auch unumwunden zum unversöhn­lichen Kampf gegen „Deserteure, Panikmacher, Verbreiter falscher Gerüchte (…) Spione [und] Saboteure“ im Innern auf.86 Noch deut­licher kam die Furcht vor dem eigenen Volk im Befehl des Verteidigungsministeriums vom 16. August 1941 zum Ausdruck, der in Deserteuren und Überläufern ein gefähr­liches Phänomen innerhalb der Armee ortete, das deren Kampfkraft schwächen konnte.87 Tatsäch­lich sah sich die Rote Armee an allen Fronten mit dem Problem von Überläufern und Deserteuren konfrontiert. Dass die Deutschen nicht nur Überläufer und Angehörige der Diaspora, sondern auch sowjetische Kriegsgefangene in großer

86 Die Radiobotschaft Stalins an die sowjetische Bevölkerung vom 3. Juli 1941 findet sich in: I. Stalin, O Velikoj Otečestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza, Moskva 1952 (5. Auflage), S. 9 – 17, hier S. 15. 87 Aleksej Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR v gody Velikoj ­Otečestvennoj vojne 1941 – 1945 gg., Stuttgart 2005, S. 65.

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Zahl rekrutierten (darunter schließ­lich auch Zehntausende Kaukasier 88), schürte in Moskau die Phobie vor dem Schreckgespenst des inneren Feindes und führte dazu, dass die Sowjetführung generell Armeeangehörige, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten, als Landesverräter betrachtete. Nur so ist zu verstehen, warum die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Soldaten, die aus deutscher Haft entlassen wurden und in die Heimat zurückkehrten, zu Hunderttausenden in den Gulag einsperren ließ.89 In ­diesem Kontext sind auch die repressiven Maßnahmen zu verstehen, ­welche die Armeeführung auf Geheiß der Parteiführung anordnete. Der Armee war es erlaubt, Deserteure noch vor Ort und ohne ordent­liches Verfahren zu erschießen. Dabei galt als Deserteur nicht nur, wer die Truppe verließ oder zum Gegner überlief, sondern unter Umständen auch einer, der vor einem Angriff z­ urückschreckte.90 In dieser aufgeladenen Atmosphäre, die aus der (zum Teil völlig übersteigerten) Angst vor inneren Feinden kombiniert mit der Verzweiflung ob der schweren Niederlagen in der Anfangsphase des Kriegs entstanden war, gerieten – wie oft in solchen Fällen – auch einzelne Völker ins Visier des staat­lichen Terrors. Um zum Ziel repressiver Maßnahmen zu werden, genügte es, einer der Sowjetunion feind­lich gesinnten

88 An die 100.000 Kaukasier aller Völker der Region, darunter nicht nur Überläufer, sondern auch Angehörige der kauka­sischen Diaspora und Kriegsgefangene, sollen sich in der deutschen Wehrmacht aktiv am Krieg gegen die Sowjetunion beteiligt haben. Noch mehr dienten in ­verschiedenen Bauund Hilfseinheiten der Deutschen: Albert Jeloschek u. a., Freiwillige vom Kaukasus. Georgier, Armenier, Aserbaidschaner, Tsche­tschenen u. a. auf deutscher Seite. Der „Sonderverband Bergmann“ und sein Gründer Theo Oberländer, Graz 2003. Für russische Sichtweisen: Ė. Abramjan, ­Kavkazcy v Abvere, Moskva 2006; S. I. Linec, Severnyj Kavkaz nakanune i v period nemecko-fašistskoj okkupacii. Sostojanie i osobennosti razvitija (ijulʼ 1942-oktjabrʼ 1943 gg.), Rostov-na-Donu 2003, S. 328 – 353. Allerdings scheinen die deutschen Truppen den Überläufern im Kaukasus nicht immer vertraut zu haben und setzten sie nicht an der unmittelbaren Frontlinie ein. Siehe dazu die (nicht publizierten) Aufzeichnungen (datiert vom 4. Juni 1947) mit dem Titel „Kampf in den kauka­sischen Wäldern und den Bergen im Herbst 1942 („Combat in the Caucasus Woods and Mountains During Autumn 1942”) von Generalmajor Paul Schulz, der am deutschen Ostfeldzug in Südrussland beteiligt war: Hoover Institution Archives, United States Army European Command, Historical Division Typescript Studies, 60 manuscript boxes, hier Box 33, D–254, S. 4 – 6 („The Russian Soldier in the Caucasus“): „In hopeless situations they surrendered without a last-ditch stand. Prisoners readily gave information. Some even volunteered to fight in our ranks – against the Bolsheviki, as they declared. Such offers were never accepted, at least not by the frontline troops, who regarded them with suspicion. Offers of that nature probably had their origin more in the robber’s instinct of the Russian soldier, and did not spring from conviction. Some of the men were pleased that captivity enabled them to escape further fighting.“ 89 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 462 – 465. 90 Darüber liest sich auch in deutschen Quellen, die Aussagen von Überläufern und Gefangenen enthalten. Siehe dazu etwa die am 6. Oktober 1942 rapportierte Gefangenenaussage: „Jedem Btl. [Bataillon] ist eine Sperrkompanie zugeteilt, die den Auftrag hat, die Soldaten, die beim Überlaufen gefasst werden, auf der Stelle zu erschießen. Trotzdem ist die Neigung zum Überlaufen vorhanden.“ Zitat aus: Bundesarchiv, RH 24 – 40 – 108, Blatt 78.

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Nation oder einer Minorität anzugehören, die ethnisch mit Völkern außerhalb des Staatsgebiets verwandt waren. Am krassesten kam dies in der Entscheidung des Präsidiums des Obersten Rats der Sowjetunion vom 28. August 1941 zum Ausdruck, ­welche die Auflösung der Republik der Wolgadeutschen und die Ausschaffung der gesamten deutschstämmigen Bevölkerung nach Zentralasien anordnete. Als Begründung führte das Präsidium an, dass es Hinweise gebe, wonach unter den Deutschen „Tausende und Zehntausende von Saboteuren und Spionen“ existierten, die nur auf das „Signal aus Deutschland“ warteten, um im Wolgagebiet ihre gegen die Sowjetunion gerichteten Aktionen zu starten. Weil die Bevölkerung der Sowjetmacht gegenüber bislang verschwiegen habe, dass eine ­solche große Zahl von „Feinden des sowjetischen Volks und des sowjetischen Staates“ im Wolgagebiet lebe, und diese ­schützen würde und um ein künftiges „Blutvergießen“ zu verhindern, sei es unumgäng­lich, „Strafmaßnahmen gegen die gesamte deutsche Bevölkerung“ durchzuführen.91 Andere Volksgruppen, die ethnische Verwandtschaften über die Landesgrenzen hinaus aufwiesen, wurden zwar nicht in jedem Fall gleich deportiert, jedoch nach Kriegsausbruch oft nicht mehr in die Rote Armee rekrutiert. Bereits in der Armee dienende Angehörige einer solchen Ethnie wurden entweder in die Reserve versetzt oder ganz aus der Armee ausgeschlossen. Ein solches Schicksal erlitten etwa die an der Grenze zur Türkei lebenden Adscharen (muslimische Georgier) oder die im Grenzgebiet zum Iran siedelnden Kurden. Betroffen waren aber auch andere, zahlen­ mäßig manchmal winzige Völkerschaften, etwa die in den geor­gischen Berggebieten lebenden Chewsuren oder die Swaneten. Trotz der Bestimmung vom 1. ­September 1939, alle Bürger gleich zu behandeln, unterlagen bestimmte Nationalitäten, darunter die in der Sowjetunion lebenden Deutschen, Türken, Japaner, Chinesen, Koreaner, Polen, Finnen, Balten und Bulgaren, nie der allgemeinen Wehrpflicht. Bei Kriegsausbruch wurden Armeeangehörige, die einer dieser Nationalitäten angehörten und auf freiwilliger Basis in der Armee dienten, aus den bewaffneten Streitkräften ausgegliedert.92

91 Aus dem Dekret zur Aussiedlung der Wolgadeutschen vom 28. August 1941, publiziert in: Istorija SSSR 1 (1991), S. 144 – 145. Dazu auch: Otto Pohl, Ethnic Cleansing in the USSR, 1937 – 1949, Westport, Connecticut 1999, S. 27 – 60. 92 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 63. Dass aber vermut­lich nie alle Angehörigen dieser Völker aus der Armee ausgegliedert wurden, zeigt die Armeestatistik zur Zahl der verliehenen Orden. Immerhin wurden bis zum 15. Januar 1943 301 Polen, 103 Finnen, 55 Bulgaren, 26 Deutsche und weitere Angehörige von „Feindesnationen“ mit Orden und Medaillen ausgezeichnet: RGASPI, F. 17, Op. 125, D. 127, Ll. 144 – 145. Allerdings finden in Statistiken, die nach Kriegsende erstellt wurden, Angehörige von Feindesnationen, darunter auch die verfemten Völker des Nordkaukasus, keine Erwähnung mehr in entsprechenden Medaillenstatistiken, sie wurden daraus entfernt: GARF, F. R–7523, Op. 17, D. 353, Ll. 11 – 12.

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Anstatt in der schwierigsten Phase des Kriegs ihre Kräfte voll und ganz zur Abwehr der deutschen Aggression einzusetzen und dafür mög­lichst jeden wehr­ fähigen Mann zu mobilisieren, ging die sowjetische Führung daran, alle ihr potenziell feind­lich erscheinenden oder für sie als unzuverlässig geltenden Völkerschaften aus der Armee auszuschließen. Nicht, weil sich diese damals in irgendeiner Form aktiv gegen die Sowjetunion gestellt hätten, sondern – wie bereits in den Fällen ethnischer Deportationen, die noch vor Kriegsausbruch angeordnet worden waren – im Sinne einer präventiven Maßnahme, um mög­lichen Allianzen zwischen äußeren Feinden und inneren Sympathisanten vorzubeugen. Allein der Nordkauka­sus-Militärkreis (ohne Nordossetien und Dagestan) zählte nach Angaben der Armee per 1. Februar 1942 75.000 wehrfähige Männer, die aus politischen Überlegungen nicht zum aktiven Dienst in die Armee berufen worden waren.93 In einem gewissen Sinn reflektierte die Rekrutierungs- und Mobilisierungspolitik der Sowjetführung in den Jahren des Zweiten Weltkriegs somit den Grad des Misstrauens, den Moskau gegenüber den einzelnen Ethnien des Landes zum Ausdruck brachte.94 Vor d ­ iesem Hintergrund muss zunächst erstaunen, dass bei Kriegsausbruch die Angehörigen der meisten nordkauka­sischen Völker zunächst weiterhin in der Armee geduldet wurden. Weil die Erwartungen der sowjetischen Führung aufgrund ihres tiefsitzenden Misstrauens gegenüber diesen Gesellschaften jedoch ohnehin nie hoch waren, konnte davon ausgegangen werden, dass jede noch so geringe negative Erscheinung, die aus dieser Region rapportiert wurde, Anlass dafür sein konnte, den regulären Einzug in die Armee mit Blick auf diese Völker zu unter­ binden. Und tatsäch­lich waren die Berichte aus der Region wenig positiv. So waren etwa die Mobilisierungskampagnen, die nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Kriegs durchgeführt wurden, vielerorts mit Schwierigkeiten verbunden. In Tsche­ tscheno-Inguschetien etwa wurden im Zuge einer ersten großen Mobilisierung im Spätsommer und Herbst 1941 zunächst 8000 und später nochmals 4733 Männer aufgeboten, von denen aber insgesamt 631 nicht am Bestimmungsort erschienen. In einer zweiten Mobilisierungswelle im Frühjahr 1942 wurden von 14.577 Personen, die der Wehrpflicht unterlagen, ledig­lich 4395 in die Armee eingezogen. Damals soll die Republik bereits 13.500 Deserteure gezählt haben.95 Vermut­lich ist es vor ­diesem Hintergrund zu verstehen, dass die Armeeführung auf Geheiß des 93 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 62. 94 Ebd., S. 67. 95 Dies geht aus dem vom 27. August 1956 datierten Informationsschreiben hervor, das der Vorsteher der Abteilung des Innenministeriums des Gebiets Groznyj, G. M. Dementʼev, über die wirtschaft­ liche und politische Situation der ehemaligen Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR für den Zeitraum 1937 – 1944 erstellt hat. Sein Bericht findet sich in: GARF, F. R–9479, Op. 1, D. 925, Ll. 3 – 20, hier L. 18. Eine edierte Version des Berichts ist publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 656 – 667.

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Verteidigungsministeriums am 14. April 1942 die Anweisung erließ, alle gewöhn­ lichen Soldaten und Unteroffiziere aus den Reihen der Tsche­tschenen und Inguschen in die Reserve zu versetzen.96 Der eigent­liche Umschwung bei der Rekrutierung von Nordkaukasiern erfolgte jedoch erst, als Hitler am 28. Juni 1942 den Befehl zur Eröffnung der Südfront gab und den Angriff Richtung Kaukasus lancierte.97 Bereits zwei Tage später erließ das von Stalin geleitete Staat­liche Verteidigungskomitee, das als eine Art Kriegskabinett die Gesamtverteidigung des Landes koordinierte,98 die Direktive, die Rekrutierung von Angehörigen nichtrus­sischer nordkauka­sischer Völker zu stoppen.99 Am 24. August wurde eine ­solche Direktive speziell für die An­­ gehörigen der dagestanischen Ethnien herausgegeben. Die Osseten wurden in diesen Direktiven zwar nicht ausdrück­lich erwähnt, waren aber faktisch ebenfalls von der Anordnung betroffen (erst später wurde der Rekrutierungsstopp formell auch auf Nordossetien ausgeweitet).100 Im Fall der im Westen des Nordkaukasus siedelnden Völker, darunter die Karatschajer, Tscherkessen und Adygen, löste sich die Rekrutierungsfrage insofern von selbst, als der Wehrmacht noch im Sommer 1942 die Besetzung dieser Gebiete gelang. Danach rückte die deutsche Armee bis vor die Grenzen Tsche­tscheno-Inguschetiens vor, womit von den nationalen Gebieten und Republiken des Nordkaukasus schließ­lich Adygien, die Karatschaj, Tscherkessien, Kabardino-Balkarien und der nörd­liche Teil Nordossetiens unter deutsche Kontrolle gerieten.101 Die Operation der Wehrmacht war jedoch insofern ein Misserfolg, als es ihr nicht gelang, die Erdölfelder Groznyjs und Bakus zu erobern, was ein erklärtes Kriegsziel Hitlers war (es gelang nur die Besetzung der zuvor von der Sowjetarmee zum Teil zerstörten Erdölanlagen bei Majkop in Adygien). Bereits Anfang 1943, nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad, begann die Wehrmacht, sich aus dem Kaukasus zurückzuziehen.102 Im Laufe der 96 Ebd.; Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 60 – 61. Siehe auch die Überläuferaussage von Sergej Samolow [Samolov], rapportiert am 22. Juni 1942, in: Bundesarchiv, RH 24 – 40 – 108, Blatt 121. 97 Joachim Hoffmann, Kaukasien 1942/43. Das deutsche Heer und die Orientvölker der Sowjetunion, Freiburg 1991, S. 59. 98 Im Staat­lichen Verteidigungskomitee (Gosudarstvennyj komitet oborony), das am 30. Juni 1941 gegründet wurde, konzentrierte sich während des Kriegs die politische, m ­ ilitärische und ökono­ mische Führung der UdSSR. Mitglieder des Komitees waren nebst Stalin, der den Vorsitz innehatte, Molotov, Vorošilov, Malenkov und Berija. Im Februar 1942 kamen Mikojan, ­Voznesenskij und Kaganovič hinzu, im November 1944 Bulganin, der Vorošilov ersetzte. 99 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 61. 100 Ebd. 101 Zum Vorstoß der Deutschen in den Nordkaukasus im Sommer 1942: Linec, Severnyj Kavkaz, S. 27 – 50. 102 Für eine Übersicht zum Kriegsverlauf: Hoffmann, Kaukasien 1942/43, S. 59 – 81.

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Monate Januar und Februar 1943 gelang der Roten Armee die Rückeroberung des gesamten Nordkaukasus.103 Der von der Moskauer Führung verordnete Rekrutierungsstopp bedeutete aber nicht, dass Männer aus dem Nordkaukasus grundsätz­lich von der Armee aus­ geschlossen wurden. Zum einen wurden nicht alle Angehörigen nordkauka­sischer Völker, die zum Zeitpunkt dieser Direktiven bereits in der Armee dienten, ent­lassen.104 Offenbar schied die Rote Armee jene aus, die im Kaukasus selbst dienten, nicht aber an verschiedenen Fronten außerhalb ihrer Heimat im Einsatz waren.105 Zum anderen ließ die Sowjetführung als Alternative zum regulären Dienst in der Armee nach dem Rekrutierungsstopp das sogenannte dobrovolʼstvo zu, die Mög­lichkeit einer Aushebung auf freiwilliger Basis. Die Institution des dobrovolʼstvo sollte als Filter wirken, um nur jene in der Armee dienen zu lassen, die das wünschten und bereit waren, ihr Leben für die sowjetische Sache zu lassen.106 Gleichzeitig erhielt die Rekrutierung so aber mehr denn je auch eine ideolo­gische Funktion. Aus der Zahl der Freiwilligen konnte die Sowjetführung nun noch deut­licher das Ausmaß des Patriotismus eines jeweiligen Volks ablesen. Dies wussten auch die lokalen Führungen sehr wohl, die mit dem Rekrutierungsstopp ohnehin unzufrieden waren und die im dobrovolʼstvo die Mög­lichkeit einer Kompensations­ leistung sahen. Die Aushebung in die Armee war zwar offiziell freiwillig, dennoch wurde sie wie eine reguläre Rekrutierungskampagne durchgeführt. Um dabei im Wettstreit mit anderen Gebieten des Nordkaukasus nicht zurückzustehen, griff die Führung Tsche­tscheno-Inguschetiens offenbar auch zu Zwangsmaßnahmen, indem sie Männer gegen ihren Willen einzogen und sie in bewachten Konvois in die Armee abführen ließen.107 Tatsäch­lich aber erreichten die Behörden damit das Gegenteil. Nicht nur desertierten nun noch mehr Tsche­tschenen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auch wartete Tsche­tscheno-Inguschetien im Vergleich zu anderen Gebieten, etwa zu Nordossetien oder Dagestan, mit deut­lich geringeren Zahlen auf. Von insgesamt 4208 Männern, die im Rahmen der Kampagne zur Mobilisierung von Freiwilligen bis Mitte März 1943 in Tsche­tscheno-Inguschetien ausgehoben wurden (in der Mehrheit Tsche­tschenen), konnten schließ­lich nur gerade 1850 in die Armee entsandt werden.108 In der Folge sah die Republikführung von weiteren Mobilisierungskampagnen ab.109

103 N. F. Bugaj, Pravda o deportacii čečenskogo i ingušskogo narodov, in: Voprosy istorii (1990) H. 7, S. 32 – 44, hier S. 38. 104 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 61 – 62. 105 Bundesarchiv, RH 24 – 40 – 108, Blatt 121. 106 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 81. 107 Ebd., S. 86. 108 Ebd., S. 82 – 86. 109 Ebd., S. 88.

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Wie viele Soldaten im Zuge der dobrovolʼstvo-Kampagne ausgehoben wurden, verfolgte Moskau genau. Und dass dabei einige Gebiete mehr, andere weniger erfolgreich waren, blieb vor allem dem Vorsteher des Innenministeriums und Mitglied des Staat­lichen Verteidigungskomitees, Lavrentij Pavlovič Berija (1899 – 1953), nicht verborgen.110 Während er die Osseten und die Völker Dagestans wiederholt für ihren aktiven Einsatz im Krieg lobte, erwähnte er die Verdienste der anderen Nordkaukasusvölker nicht.111 Im Rückblick kann dies vielleicht erklären, weshalb Osseten und Angehörige dagestanischer Völker, im Gegensatz zu anderen Nordkaukasusvölkern, später einer Deportation entgehen konnten. Nebst den Schwierigkeiten, Männer für die Armee zu mobilisieren, kam im Nordkaukasus, wie auch in anderen nichtrus­sisch besiedelten Randgebieten der Sowjetunion (nament­lich in der Westukraine), das Problem antisowjetischer Aufstandsbewegungen hinzu, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 besonders großen Zulauf erhielten, als die Wehrmacht ihren Angriff Richtung Süden lancierte. Eine Vorstellung vom Ausmaß dieser Aufstände mag sich daraus ergeben, dass die Einheiten des Innenministeriums, des NKVD ,112 nach eigenen Angaben allein im Jahr 1942 im Nordkaukasus nicht weniger als 42 Militäroperationen gegen Aufständische durchführten (die Operationen der Roten Armee nicht mitgezählt) und in ­diesem Zeitraum 2342 „Banditen“ liquidierten.113 Besonders ausgeprägt war das Banditenwesen wiederum in Tsche­tschenoInguschetien, wo sich auf dem Höhepunkt der Aufstandsbewegung im Sommer und Herbst 1942 mehrere Tausend Personen (in den zeitgenös­sischen Quellen finden sich dazu unterschied­liche Zahlen) den verschiedenen bewaffneten Banden und deren Anführern in den Bergen anschlossen.114 In manchen Berggebieten brachen die staat­lichen Strukturen im Laufe des Jahres 1942 weitgehend zusammen. Zahlreiche Kolchosvorsteher, staat­liche Funktionäre und Parteiangehörige tauchten unter oder schlossen sich sogar selbst den Aufständischen an. Einem sowjetischen Bericht ist zu entnehmen, dass mit dem Heranrücken der Front im August 1942 insgesamt 80 Partei- und Staatsangestellte Tsche­tscheno-Inguschetiens ihre Arbeit

110 Berija leitete das Volkskommisssariat für Inneres von 1938 bis 1945 und erneut für kurze Zeit 1953. Er wurde nach Stalins Tod verhaftet und hingerichtet. Für eine Biographie zu Berija: Amy Knight, Beria. Stalinʼs First Lieutenant, Princeton, NJ 1993. 111 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 88. 112 Dem NKVD (Narodnyj kommissariat vnutrennych del) unterstand auch die Geheimpolizei, die 1934 aus dem selbständigen Organ, der OGPU, in das Volkskommissariat für Inneres integriert worden war. Die Geheim­polizei funktionierte zwar als eigener Machtapparat, der formell dem Leiter des Innenministeriums unterstellt war, faktisch aber war sie Stalins wichtigstes Instrument, mit dem er oft an der Partei vorbei seine Politik umsetzte: Haumann, Geschichte Russlands, S. 420 – 421. 113 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 71 – 72. 114 Siehe dazu Kapitel 11 in ­diesem Buch.

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niedergelegt hätten und untergetaucht seien, darunter 16 führende Mitarbeiter im Partei­apparat der Rajons, acht leitende Angehörige in ausführenden Rajon-Komitees und 14 Kolchosvorsteher.115 Zwischen dem 30. September 1941 und dem 1. Juni 1943 ­sollen nach Angaben des NKVD allein in der tsche­tscheno-inguschischen Republik 55 Banden und 973 „Banditen“ liquidiert und insgesamt 5383 Personen ­verschiedenster antisowjetischer Prägung verhaftet worden sein.116 Dass Aufständische in Tsche­tscheno-Inguschetien zwar marginal, aber dennoch nachweis­lich Kontakte zu den Deutschen unterhielten, die sich zwischen August 1942 und August 1943 in kleinen Gruppen hinter die Front absetzten, um Sabotage­ akte und Erkundungsmissionen durchzuführen und um Kontakt zu aufständischen Gruppierungen aufzunehmen, machte das Bandenwesen in dieser Republik aus sowjetischer Sicht zu einem noch größeren Problem.117 Obwohl im Fall Tsche­ tscheno-Inguschetiens, dessen Gebiet abgesehen von einem kleinen Abschnitt bei Mozdok nie von den Deutschen besetzt wurde, sicher von Sympathie für die Deutschen, nicht aber von massenhafter Kollaboration mit dem Feind die Rede sein kann, nahm die Sowjetführung den Vorwurf des „Kollaborationismus“ später in den Katalog der Anschuldigungen auf, die als Vorwand dienten, Tsche­tschenen und andere Nordkaukasusvölker aus ihrer Heimat zu vertreiben.118 Eine weitere negative Entwicklung, die Moskau genau registrierte, war die Tat­ sache, dass mit dem Heranrücken der Front auch die landwirtschaft­liche Produktion in den nicht besetzten Teilen des Nordkaukasus, das heißt in Tsche­tschenoInguschetien und Dagestan, weitgehend einbrach und sich auch nach dem Rückzug der Deutschen nur langsam erholte. Besonders deut­lich zeigt sich dies etwa bei der Lektüre der Berichte der Parteikontrollkommission, die das höchste Kontroll- und Disziplinarorgan der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war.119 In einem

115 Dementʼev-Bericht, 27. August 1956, in: GARF, F. R–9479, Op. 1, D. 925, L. 16. 116 Das vom 26. Juli 1943 datierte NKVD-Dokument ist publiziert in: Istoričeskij archiv (2000) H. 3, S. 71 – 77. 117 Dementʼev spricht in seinem Bericht von acht Gruppen mit insgesamt 77 Mann, die sich in der Mehrheit aus Angehörigen nordkauka­sischer Diaspora-Nationalitäten zusammensetzten, die von den Deutschen im Vorfeld der Operationen rekrutiert und ausgebildet worden waren: GARF, F. R–9479, Op. 1, D. 925, L. 19; dazu auch: V. P. Galickij, „… dlja aktivnoj podryvnoj diversionnoj dejatelʼnosti v tylu u Krasnoj Armii“. O nacionalističeskich vystuplenijach v Čečeno-Ingušskoj ASSR v gody vojny i roli v ich organizacii fašistskich specslužb, in: Voenno-istoričeskij žurnal (2001) H. 1, S. 17 – 25, hier S. 24. 118 Von einer deutschlandfreund­lichen Haltung der Bevölkerung berichten die deutschen Fallschirmtruppen, die sich hinter der Front absetzten. Siehe dazu die verschiedenen Überläufer- und Gefangenenaussagen (Bundesarchiv, RH 24 – 40 – 108, Blätter 42, 57, 288) oder die Einsatzberichte zum Sonderunternehmen „Schamil“, verfasst im Zeitraum Januar–Mai 1943, enthalten in: Bundesarchiv, RW 49 – 143. 119 Die Parteikontrollkommission (Komitet partijnogo kontrolʼja pri CK VKP (b)) bestand unter ­diesem Namen zwischen 1934 und 1952. Deren Mitglieder wurden vom Sekretariat des ZKs der KPdSU

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Bericht zu Tsche­tscheno-Inguschetien vom 26. November 1942 ist etwa zu lesen, dass die Republikführung sich angesichts der äußeren Bedrohung zwar mit der Evakuation von Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) beschäftige, die Arbeit auf den Kolchosen aber völlig vernachlässigt habe. Dabei soll die landwirtschaft­ liche Tätigkeit in einigen Rajons der Republik sogar komplett eingestellt worden sein. Im Herbst wurden in der ganzen Republik gemäß den Zahlen der lokalen Parteikontrollkommission 58,2 Prozent der Sonnenblumenernte und gerade einmal 21,3 Prozent der Maisernte eingebracht.120 Die Berichte aus Dagestan waren ähn­lich negativ. Der Hunger soll viele Awaren von den Bergen in die Ebene getrieben haben. Häufiger als im Fall der Nachbarrepublik finden sich im Fall Dagestans zudem Meldungen über Diebstähle von Lebensmitteln aus Kolchosen.121 Aufgrund der Fehler bei der Nahrungsmittelpolitik beschloss die sowjetische Führung sogar, die dagestanische Parteispitze auszuwechseln, was sich offenbar positiv auf die Situation innerhalb der Republik und die Rekrutierung von Freiwilligen auswirkte.122 Es wäre nun aber eine Verzerrung der Realität, hinter all diesen Erscheinungen nur eine feind­liche Haltung von Teilen der Gesellschaft gegenüber der Sowjetunion erkennen zu wollen. Wie schon in den vorangegangenen Jahren waren auch die Gründe für die schwierigen Mobilisierungskampagnen 1941/42 auf mangelnde Organisation und Information zurückzuführen. Viele Menschen, die den Militärdienst mieden und sich in den Wäldern und Bergen versteckten, taten dies zunächst nicht mit der Absicht, aktiv auf den Fall der Sowjetmacht hinzuwirken, sondern weil sie nicht aus einem für sie unverständ­lichen Grund in den Krieg ziehen wollten. Viele scheuten den Dienst aber auch aus Furcht vor schlechter Behandlung in der Armee, für die es in vielen Fällen ausreichend Grund gab. Denn oft wurden Angehörige nichtrus­sischer Volksgruppen, gerade wenn sie, wie viele Tsche­tschenen, kein oder nur schlecht Rus­sisch sprachen, von rus­sischen Offizieren diskriminiert. Diese weigerten sich manchmal, Angehörige nichtrus­sischer Nordkaukasusvölker nach der regulären Rekrutierung überhaupt zu bewaffnen.123 Auch die Tatsache, dass in den Jahren 1942 und 1943 viele Fälle von Sabotage und Diebstähle von Lebensmitteln rapportiert wurden, hatte oft weniger damit zu tun, dass Menschen die Zwangslage, in welcher der Sowjetstaat nach dem Angriff Deutschlands geriet, für eigene Zwecke

(die unter der Leitung von Stalin stand) ernannt; der Vorsitzende der Partei­kontrollkommission war zwischen 1939 und 1952 Andrej A. Andreev, der gleichzeitig auch Mitglied des Politbüros war. 120 RGANI, F. 6, Op. 6, D. 62, Ll. 75 – 76. 121 RGANI, F. 6, Op. 6, D. 64, Ll. 53, 96; RGANI, F. 6, Op. 6, D. 65, L. 7ob; Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 166. 122 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 87. 123 HPSSS, Schedule A, Vol. 22, Case 434, S. 8.

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auszunutzen suchten. Eher waren darin Verzweiflungsaktionen einer Bevölkerung zu sehen, die aufgrund einer verfehlten Verteilungspolitik der ört­lichen Behörden, die zwar Essen für die Truppe, nicht aber für die Bevölkerung bereitstellte, Not und Hunger litt.124 Darüber hinaus verhielt sich die Rote Armee selbst gegenüber der Bevölkerung oft wenig zimper­lich und brachte durch ihre rücksichtslosen ­Aktionen die Menschen gegen sich auf. So liest sich im Gefangenenprotokoll mit Unter­ leutnant Ščerbakov, der im Oktober 1942 zu den Deutschen überlief: Nach dem Rückzug unserer Truppen [gemeint sind die sowjetischen Truppen] sollen in einem Tsche­tschenen-Dorf, nördl. des Terek, ostw. Ischerskaja, 200 Tsche­tschenen erschossen worden sein, weil sie sich nicht evakuieren ließen und die Deutschen freund­ schaft­lich behandelten.125

Die sowjetische Führung muss sich dieser Zusammenhänge durchaus bewusst gewesen sein. Hätte es sich im Fall der nordkauka­sischen „Banditen“ tatsäch­ lich nur um eingefleischte antisowjetische Kämpfer für eine freies Tsche­tschenien gehandelt, so wäre es der Sowjetführung kaum gelungen, viele von ihnen im Zuge von Amnestiekampagnen, die während des Kriegs wiederholt als Maßnahme im Kampf gegen das Banditenwesen durchgeführt wurden, zur freiwilligen Aufgabe des bewaffneten Widerstands zu bewegen.126 Wie sich die Situation vor Ort in Tsche­tscheno-Inguschetien Ende 1942 darstellte, verdeut­licht etwa ein vom 4. Dezember 1942 datierter Bericht, den die politische Abteilung der Roten Armee im Hinblick auf die Situation an der südkauka­sischen Front erstellen ließ.127 Der Verfasser des Berichts beschwert sich zuerst darüber, dass in der Armeeführung die Vorstellung verbreitet sei, die nichtrus­sischen ­Nationalitäten könnten oder wollten nicht kämpfen. Er kritisiert das oft herablassende Verhalten der rus­sisch dominierten Armeeführung gegenüber den Völkern des Kaukasus, die oft mit abschätzigen Namen wie „Schwarze“ (čërnye) bedacht würden. Besonders herablassend sei das Verhalten vor allem jenen Soldaten gegenüber, die kein Rus­sisch sprächen. Der Berichterstatter verschweigt zwar nicht die „negativen E ­ rscheinungen“ unter nichtrus­sischen Armeeangehörigen, unter die das zum Teil massenhafte Überlaufen zum Feind oder auch Fälle von Desertion fielen. Allerdings betont er, dass dies auch bei Russen, Ukrainern und Weißrussen vorkomme. Auch zeigten Beispiele von der Front, dass sich nichtrus­sische Divisionen sehr gut schlagen würden und es 124 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 69. 125 Bericht des Überläufers Schtscherbakow [Ščerbakov], rapportiert am 14. Oktober 1942, in: Bundes­ archiv, RH 24 – 40 – 108, Blatt 42. 126 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 71. 127 Der Bericht findet sich in: RGASPI, F. 17, Op. 125, D. 104, Ll. 200 – 203.

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ungerecht sei, aufgrund einzelner Vorkommnisse auf ein ganzes Volk zu schließen. Der Autor widmet sich zwar der Situation an der südkauka­sischen Front insgesamt, er befasst sich aber, wenn er vom Verhältnis zwischen Armee und ört­licher Bevölkerung schreibt, hauptsäch­lich mit Tsche­tscheno-Inguschetien, wo er zahlreiche gravierende Probleme ortet: Es lässt sich [in der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR] eine feind­liche Haltung gegenüber der Roten Armee feststellen („Weshalb sind sie hierher in unser Land gekommen – um zu kämpfen?“), es finden sich Tatsachen offener antisowjetischer Aussagen („Wir wollen keinen Krieg, wir sind neutral“). Es bestehen auch Fakten von feind­lichen Aktivitäten, Spionage der Deutschen, [illegaler] Erwerb von Waffen, Tötung von Armeeangehörigen, Formierung von antisowjetischen Gruppen mit Stützpunkten in den Bergen, vereinzelt auch die Äußerung des Wunsches, dass die Deutschen kommen sollen. Es versetzt die Männer [der Roten Armee] in Erstaunen, dass Tsche­tschenen und Inguschen, die hinter der Front anzutreffen sind, häufig gut und teuer gekleidet sind und rumhängen. Wenn die Motive, gemäß denen die männ­liche Bevölkerung [Tschetscheno-Inguschetiens] nicht in die Armee aufgenommen wird, dem Kämpfer immerhin noch erklärt werden (aber bei Weitem nicht immer und nicht überall), so ist es weit schwieriger zu erklären, weshalb der [lokalen] Bevölkerung das Recht zugestanden wird, dem Nichtstun zu frönen, wenn gleichzeitig die Ernte auf dem Feld nicht rechtzeitig eingezogen wird und wenn, damit die Ernte nicht verdirbt, Teile der Roten Armee [zur Feldarbeit] eingesetzt werden müssen und [wenn] von der heimischen Bevölkerung nur die Frauen arbeiten und so weiter. Die Soldaten stellen die Frage, weshalb die männ­liche Arbeitskraft nicht an anderer Stelle genutzt wird, wo sie dringend gebraucht würde, an der Arbeitsfront, beim Bau von Straßen, in den Fabriken etc.128

Trotz dieser kritischen Beobachtungen lehnt es der Berichterstatter ab, der ganzen Bevölkerung pauschal eine antisowjetische Einstellung zu unterstellen. Eine s­ olche lasse sich zwar bei Teilen der Bevölkerung feststellen, doch führt er dies auch auf das Verhalten der Roten Armee zurück, ­welche die Sitten und Lebensweisen der Einheimischen oft nicht achte. Daher sei verstärkte politische Aufklärung sowohl unter der einheimischen Bevölkerung als auch innerhalb der Roten Armee geboten. Dabei fordert der Autor nicht nur mehr Verständnis für lokale Sitten und Tradi­tionen, sondern schlägt sogar vor, diese im Kampf gegen die Deutschen zu ­nutzen. So sollte in der Bevölkerung eine Blutrache gegen die faschistischen Besetzer entfacht und über geist­liche Autoritäten zum „Gazawat“ gegen die Deutschen ausgerufen werden.129

128 RGASPI, F. 17, Op. 125, D. 104, Ll. 201ob–202. 129 RGASPI, F. 17, Op. 125, D. 104, L. 202.

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War eine gezielte Propaganda unter den Nichtrussen in der Roten Armee bis zu ­diesem Zeitpunkt weitgehend vernachlässigt worden, so operierten nun zum Beispiel Zeitungen gezielt mit heldenhaften Figuren und Bildern aus der Vergangenheit, indem sie den Freiheitskampf gegen das zaristische Russland im 19. Jahrhundert glorifizierten. Auch bedienten sie sich Stereotypen wie dem „furchtlosen Kaukasier“, den sie in Gegensatz zum „häss­lichen Deutschen“ stellten, um die Menschen für den gemeinsamen Kampf zu gewinnen. Die Propagandaabteilung, w ­ elche die Rote Armee unterhielt, suchte die Bevölkerung sogar gezielt über traditionelle Themen wie die Blutrache oder den „Gazawat“ gegen Deutsche im gemeinsamen Abwehrkampf zu mobilisieren.130 All dies änderte jedoch nichts daran, dass die Sowjetführung auf einem Verbot der regulären Einbeziehung von Nordkaukasiern bis zum Ende des Kriegs beharrte. Dabei war das Misstrauen der sowjetischen Führung gegenüber ihren ­nicht­­­­­­rus­sischen und nichtorthodoxen Bevölkerungsteilen enorm. Das zeigte sich in der Rekru­tierungspolitik nicht nur gegenüber den nordkauka­sischen Völkern, sondern auch gegenüber der nichtslawischen Bevölkerung überhaupt: So ordnete Moskau im Herbst 1943, nachdem der Angriff der Deutschen abgewehrt worden war und die Truppen der Roten Armee bereits Richtung Westen marschierten, einen Rekrutierungsstopp erstmals auch für die großen nichtrus­sischen Völker des Südkaukasus und Zentralasiens an.131 Stalin selbst sprach bei seinen öffent­lichen Auftritten das Nationalitätenproblem, das sich gerade in der Rekrutierungspolitik offenbarte, nie an. Er betonte während der gesamten Kriegszeit die „unzerstörbare Völkerfreundschaft“ und bezeichnete den Krieg als eine „gemeinsame Angelegenheit aller Arbeitenden ohne Unterschiede in der Nationalität oder der Religionszugehörigkeit“.132 Weil ein Nationalitäten­ problem damit offiziell nicht existierte, war Moskau denn auch vorsichtig genug, die entsprechenden Erlasse mit Blick auf die Rekrutierungseinschränkungen nicht im Detail zu begründen, und ging auf entsprechende Nachfragen vonseiten ört­ licher Behörden nicht ein.133

130 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 186 – 187. 131 Ebd., S. 89. 132 Zitiert aus der Rede Stalins anläss­lich des 26. Jahrestages der Oktoberrevolution am 6. November 1943: Stalin, O Velikoj Otečestvennoj vojne, S. 109 – 126, hier S. 118. 133 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza i Krasnaja Armija, S. 150 – 151, 169.

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10. 5   D ie Tr a gö d ie d e r D e p or t at io n Die Schwierigkeiten der Mobilisierung, die Desertionen, das Aufstands- und Banditen­wesen, die Sympathien und die punktuelle Kollaboration von Aufstän­ dischen mit den Deutschen, der Rückgang der Landwirtschaftsproduktion – all diese Faktoren spielten für den Entscheid der Sowjetführung, Tsche­tschenen und andere Nordkaukasusvölker zu deportieren, eine wichtige Rolle. Eine hin­reichende Erklärung sind sie jedoch nicht. Denn zumindest aus sicherheits­politischer Sicht stellten die übriggebliebenen Aufständischen nach dem Rückzug der Deutschen keine ernstzunehmende Gefahr für die Sowjetmacht mehr dar. Zwar hielten sich noch Tausende Bewaffneter in den Bergen versteckt und kam es auch im Laufe des Jahres 1943 wiederholt zu Überfällen und kleineren Aufständen. Doch die großen Banden waren bis Anfang 1943 allesamt zerschlagen worden. Auch die wirtschaft­liche Lage begann sich mit dem Rückzug der Wehrmacht in ­Tsche­tscheno-Inguschetien wieder etwas zu stabilisieren.134 Weshalb es zu den Vertreibungen kam, lässt sich nur im Kontext der außerordent­ lichen Kriegssituation verstehen. Die negativen Beobachtungen waren zwar Vorwand für die Deportation. Doch erst der Ausnahmezustand des Kriegs ließ diese Option als ­solche in den Blickpunkt der Sowjetführung rücken. Jetzt oder nie bot sich ihr die Gelegenheit, sich mittels Deportationen nicht nur Völker zu ent­ledigen, mit denen der Staat in der Vergangenheit Probleme bekundet hatte, sondern es eröffnete sich auch die Mög­lichkeit, ein für alle Mal Ordnung ins kaum überblickbare und schwierig zu kontrollierende kauka­sische Völkerdurcheinander zu bringen. Dabei war es für die Sowjetführung im Krieg leichter als in Friedenszeiten, die dafür notwendigen Truppen und die Infrastruktur (etwa in Form von Bahnwaggons) bereitzustellen, weil die Streitkräfte ohnehin mobilisiert waren. Die Deportation war ein in der rus­sischen und sowjetischen Geschichte vielfach erprobtes Mittel und musste nicht erst von Stalin erfunden werden. Dass die Vertreibung damals jedoch derart radikal und systematisch durchgeführt wurde (außer einigen wenigen Familien wurden alle Angehörigen eines zur Feindes­ nation erklärten Volks deportiert), hatte nicht nur mit dem Totalitätsanspruch des Staates zu tun, sondern war auch mit einem praktischen Umstand verbunden: Die Nationalität jedes Sowjetbürgers war (außer im Fall der Russen) in seinem Pass eingetragen und den entsprechenden Behörden gemeldet. Jeder Sowjetbürger war damit einer nationalen Kategorie zugeordnet. Anders als etwa bei den Kulaken, die erst identifiziert werden mussten, war die nationale Zugehörigkeit eindeutig und

134 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 79 – 80; Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 141.

Die Tragödie der Deportation

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absolut. Jede Person, auch wenn sie als Offizier in der Armee diente, konnte als Feind ausgemacht und entsprechend bestraft werden. Die Deportation war aber nicht nur von ihrer Totalität her anders als frühere Vertreibungen. Sie trug auch unverkennbar Züge eines Genozids. Denn obwohl das Ziel der Deportation nicht die phy­sische Vernichtung einer Volksgruppe war, so wurde doch in Kauf genommen, dass die Aktion viele Opfer forderte. Die ­Schätzungen darüber variieren. Vermut­lich starb jedoch mehr als ein Viertel aller exilierten Nordkaukasier noch während der Reise nach Zentralasien und in den ersten Jahren des Exils.135 Wann genau die Sowjetführung über die Deportationen der jeweiligen Völker entschied, ist nicht in jedem Fall eindeutig geklärt. Sicher aber waren die ­Aktionen nicht als von langer Hand geplante Unternehmen zu verstehen. Im Fall der im November 1943 deportierten Karatschajer bestehen in der postsowjetischen Forschung zwei unterschied­ liche Versionen: Gemäß den Historikern Nikolaj Bugaj und Askarbi Gonov wurden die Karatschajer (knapp 70.000 Menschen) erst deportiert, nachdem im Sommer 1943 der Versuch, die Situation in d­ iesem Gebiet durch die Aussiedlung von Bandenführern und deren Familienangehörigen zu stabilisieren, gescheitert und es insbesondere nicht gelungen war, das Bandenwesen zu eliminieren.136 Anders sieht dies Aleksej Bezugolʼnyj, der sich in seinen Untersuchungen eingehend mit der Frage der Rekrutierung von Kaukasiern in die Rote Armee während des Zweiten Weltkriegs beschäftigt hat. Er glaubt, der Entscheid, die Karatschajer zu deportieren, sei im Grundsatz bereits im Frühjahr 1943 gefallen, weil die Sowjetführung ab ­diesem Zeitpunkt die Einbeziehung von Angehörigen d­ ieses Volks in die Armee kategorisch untersagte und bereits dienende Karatschajer nach Hause entließ. Dies geschah nach Meinung Bezugolʼnyjs, um eine größtmög­liche Konzentration der Volksgruppe in deren Heimat sicherzustellen. Aus demselben Grund seien auch Angehörige von Banden legalisiert und zur Rückkehr in ihre Dörfer aufgefordert worden.137 Nicht eindeutig geklärt ist auch die Frage, wann genau der Entscheid zur Deportation der Tsche­tschenen und Inguschen gefallen war. Weil es sich hier immerhin um rund 490.000 Menschen handelte (damals zählte die sowjetische Statistik ca. 400.000 Tsche­tschenen und 90.000 Inguschen, von denen die meisten in der tsche­tschenoinguschischen Republik lebten, eine Minderheit aber auch in Nachbarrepubliken),

135 Wie viele Menschen während der mehrwöchigen Reise nach Zentralasien verstarben, ist statistisch nicht erfasst. Das NKVD nennt in einem Bericht vom März 1944 die Zahl von 1361 Menschen (oder 0,27 Prozent der deportierten Tsche­tschenen und Inguschen), ­welche die Reise nicht überlebten: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 710 – 711. Zu den Angaben für die im Exil verstorbenen Menschen siehe das 12. Kapitel in ­diesem Buch. 136 Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 125. 137 Bezugolʼnyj, Narody Kavkaza v Vooružënnych silach SSSR, S. 76 – 77.

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bedurfte es einer längeren Vorbereitungszeit, um die Deportation selbst, aber auch die Neuansiedlung dieser Menschen in Zentralasien zu organisieren. Im November 1943 reisten Vertreter des sowjetischen Innenministeriums in diejenigen Regionen Zentralasiens, in ­welche die Deportierten ausgesiedelt werden sollten, um mit den Behörden vor Ort die diesbezüg­lichen Abklärungen zu treffen. Der endgültige Plan zur Umsiedlung wurde vermut­lich Mitte Dezember 1943 gefasst.138 Genau dokumentiert ist inzwischen der Ablauf der mit dem Codenamen „Linse“ (Čečevica) bezeichneten Unternehmung. Am 29. Januar 1944 genehmigte Berija die „Richtlinien für die Durchführung der Aussiedlung der Tsche­tschenen und ­Inguschen“.139 Zwei Tage später wurde dieser Entscheid im Grundsatz vom Staat­ lichen Verteidigungskomitee bekräftigt.140 Am 11. Februar 1944 wurde die Frage im Politbüro behandelt. Über das grundsätz­liche Ziel der Vertreibung bestand unter den Mitgliedern Einigkeit, nur der Zeitpunkt führte zu Diskussionen. Molotov, ­Ždanov, Voznesenskij und Andreev sprachen sich für eine sofortige Durchführung aus, Vorošilov, Kaganovič, Chruščëv, Kalinin und Berija schlugen vor, die Depor­ tation erst nach der vollständigen Vertreibung der deutschen Truppen aus der UdSSR durchzuführen.141 Über die Meinung Stalins schweigen sich die Quellen wie oft in solchen Fällen aus. Weil das Vorhaben aber nur knapp zwei Wochen nach dem Politbürotreffen in die Tat umgesetzt wurde, liegt die Annahme nahe, dass Stalins Stimme den Ausschlag dafür gab, die Operation sofort zu starten.142 Berija, der in der Operation die Federführung hatte, reiste am 20. Februar 1944 persön­lich in die Region, um eine Aktion zu koordinieren, zu deren Durchführung bis zu 19.000 Angehörige verschiedener staat­licher Sicherheitsdienste (NKVD, NKGB,143 SMERŠ 144) und gegen 100.000 Truppen des Innenministeriums zusammen­gezogen wurden.145 Für die Durchführung wurden auch Angehörige der Nachbarvölker, rund 138 Bugaj, Pravda, S. 38. 139 P. M. Poljan, Operacija „Čečevica“. Nemcy na Kavkaze i deportacija vajnachov v marte 1944 g., in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 639 – 649, hier S. 644. 140 Bugaj, L. Berija – I. Stalinu, S. 228. 141 Rodina (1990) H. 6, S. 32. 142 Poljan, Operacija „Čečevica“, S. 644. 143 Das Volkskommissariat für Staatssicherheit (Narodnyj komissariat gosudarstvennoj bezopasnosti – NKGB) ging aus der Teilung des NKVD hervor und funktionierte von Februar bis Juli 1941 als eigenständiges Staatskommissariat. Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde es wieder direkt dem Innenministerium unterstellt. 1943 wurde es erneut aus dem NKVD ausgegliedert und als eigenständiges Staatskommissariat einem Ministerium gleichgestellt, das bis 1953 existierte. 144 Der SMERŠ war ein militärischer Nachrichtendienst der UdSSR im Zweiten Weltkrieg. Beim Wort selbst handelt es sich um die Zusammensetzung der Wörter „Tod“ (smertʼ) und „Spion“ (špion) und bedeutet demnach so viel wie „Tod den Spionen“ (smertʼ špionam). 145 Dies liest sich im Bericht Berijas an Stalin, 7. März 1944, in: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 2, in: Špion. Alʼmanach pisatelʼskogo i žurnalistskogo rassledovanija (1993) H. 2, S. 53 – 73, hier S. 72.

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3000 Osseten und 6000 – 7000 Dagestaner, herangezogen.146 Am 22. Februar traf sich Berija mit leitenden Partei- und Staatsangehörigen aus den Reihen der Tsche­ tschenen und Inguschen sowie mit mehreren geist­lichen Autoritäten, um sie über das geplante Unternehmen zu informieren. Der Vorsitzende des tsche­tscheno-inguschischen Minister­rats, der Tsche­tschene Supʼjan Kagirovič Mollaev, soll nach Angaben Berijas nach Erhalt dieser Nachricht in Tränen ausgebrochen sein, jedoch versprochen haben, den Anweisungen Moskaus Folge zu leisten.147 Dennoch lief die Operation nicht ohne Gewaltexzesse ab. Mehr als 2000 Personen wurden in den Tagen nach Beginn der Operation am 23. Februar verhaftet und 20.000 Waffen sichergestellt.148 In mindestens einem Fall kam es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Weil es NKVD -Truppen beim Aul Chajbach offenbar nicht gelungen war, den Transport der dortigen Bevölkerung zu organisieren, gab der verantwort­liche Kommandant den Befehl, die Menschen in eine Scheune zu treiben und das Gebäude anzuzünden. Mehrere Hundert Zivilisten (die Zahlen variieren je nach Quelle) sollen bei lebendigem Leib verbrannt sein.149 Trotz des Schneefalls, der verhinderte, dass alle Tsche­tschenen der Berggebiete im geplanten Zeitrahmen ausgesiedelt werden konnten (nament­lich im Galančožskij-­ Rajon wurden Teile der Bevölkerung erst am 2. März deportiert 150), konnte Berija am 29. Februar 1944 an Stalin rapportieren, dass bereits die große Mehrheit der Tsche­tschenen und Inguschen, insgesamt 478.479 Personen, deportiert worden seien. Von den 177 Zügen, die dazu zur Verfügung standen, sollen sich zu ­diesem Zeitpunkt 159 bereits auf dem Weg ins ferne Zentralasien, nach Kasachstan und Kirgistan, befunden haben.151

146 Schreiben Berijas an Stalin, 17. Februar 1944, in: Ebd., S. 68. 147 Schreiben Berijas an Stalin, 22. Februar 1944, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 668 – 670, hier S. 669. 148 Schreiben Berijas an Stalin, 29. Februar 1944, in: Ebd., S. 671 – 672, hier S. 671. 149 Poljan, Operacija „Čečevica“, S. 646. Die Tragödie von Chajbach nimmt in der kollektiven Erinnerung der Tsche­tschenen bis heute einen zentralen Platz ein und und ist auch in der Erinnerungsliteratur vielfach verarbeitet. Etwa: Khassan Baiev, The Oath. A Surgeon under Fire, New York 2003, S. 37; Sajd-Ėmin Bicoev, Chajbach – aul, kotorogo net, in: Ajdaev, Čečency, S. 275 – 277. Kürzere verschriftete Erinnerungen an die Deportation finden sich in der dreibändigen Sammlung: S. U. Alieva (Hg.), Tak ėto bylo. Nacionalʼnye repressii v SSSR 1919 – 1952 gody. V 3-tomach, Moskva 1993 (das Schickal der deportierten Nordaukasusvölker behandelt Band 2). 150 Poljan, Operacija „Čečevica“, S. 645. 151 Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 671 – 672; Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 147. Dass das NKVD bis auf die Ziffer genau anzugeben vermochte, wie viele Menschen deportiert worden waren und wie viele noch zu deportieren waren, muss in Zweifel gezogen werden; in erster Linie ging es Berija darum, Moskau zu signalisieren, dass der Geheimdienst die Lage vollständig unter Kontrolle hatte.

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In ­diesem Zeitraum bereitete Berija auch die Deportation der Balkaren vor. In einem Telegramm an Stalin vom 24. Februar 1944 legte er dar, dass die Balkaren genau wie die Karatschajer mit den Deutschen kollaboriert hätten und allein zwischen 1942 und 1943 insgesamt 1227 Personen wegen „antisowjetischer Arbeit und Banditentums“ verhaftet worden seien. Dabei hätten die Balkaren eine Union mit den Karatschajern angestrebt.152 Die Vorstellung einer Vereinigung dieser beiden turksprachigen Völker unter einem allfälligen türkischen Protektorat ließ sich auf sowjetischer Seite wiederholt vernehmen und reflektierte genau jene tiefsitzenden historischen Ängste, unter deren Einfluss Moskau die Situation an seinen Grenzen begutachtete. Damals erschien ein solches Szenario aber völlig unrealistisch. Wichtiger war wohl die Überlegung, dass durch die Aussiedlung der Balkaren auch jener Spannungsherd beseitigt werden konnte, der zwischen ­diesem, vorwiegend in den Gebirgszonen siedelnden Volk und dem größeren Volk der Kabardiner bestand und der in der Vergangenheit wiederholt für Konflikte gesorgt hatte. Dabei gab in ­diesem Fall mehr als alles andere der Umstand den Ausschlag, dass Berija die nötigen Truppen bereits vor Ort und damit die Mittel hatte, eine ­solche Aussiedlung vorzunehmen, was er Stalin am 25. Februar auch so mitteilte.153 Stalin war einverstanden. Und damit war der Weg frei für eine weitere Tragödie: Bereits am 11. März 1944 konnte Berija verkünden, dass 37.103 Balkaren nach Zentralasien deportiert worden seien.154 Die Namen der jeweiligen Territorien wurden umbenannt und die Grenzen neu gezogen. Teile der tsche­tscheno-inguschischen Republik wurden den Nachbar­ völkern, den Osseten, Dagestanern und Georgiern, zugeschlagen, der Rest unter dem neuen Namen Groznyj-Bezirk (Groznenskij okrug) zunächst in den Kreis ­Stavropolʼ eingeschlossen, doch schon am 22. März 1944 erhielt ­dieses Territorium den Status eines autonomen Gebiets und wurde noch um den Bezirk Kizljar und den Rajon Naurskij erweitert.155 Die ethnisch „gesäuberten“ Territorien wurden mit Menschen aus den Nachbargebieten, aber auch aus dem Inneren Russlands und der Ukraine besiedelt. Auf dem Territorium der ehemaligen tsche­tscheno-inguschischen Republik veranlasste der Staat die Änderung von Straßen- und Ortsnamen, er ließ Denkmäler und Archive zerstören, Bücher aus den Bibliotheken wegschaffen und Einträge zu diesen Völkern aus der Großen Sowjetischen Enzyklopädie löschen.156

152 Berija zitiert bei: Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 165 – 166. 153 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 450 – 451. 154 Bugaj, L. Berija – I. Stalinu, S. 237. 155 Cuciev, Atlas, S. 78. Siehe zur territorialen Gliederung des Kaukasus nach 1944 auch Karte 12 in ­diesem Buch. 156 In der zweiten Ausgabe der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, die zwischen 1949 und 1958 erschien, findet sich im Band 47, der den Buchstaben „Č“ (Ч) enthält, nur der Hinweis, dass genauere

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Die Gräber von Tsche­tschenen und Inguschen wurden systematisch zerstört und die Steine für den Bau von Häusern benutzt. Alle Denkmäler zu Ehren von Bürgerkriegshelden wurden vernichtet. In Groznyj beseitigten die Behörden das 1923 eingeweihte Monument zu Ehren Aslanbek Šeripovs. Jede Erinnerung an diese Völker sollte getilgt, ihr Beitrag im Bürgerkrieg und beim Aufbau des Sozialismus negiert werden.157 Dagegen wurde nun das Denkmal an General Ermolov in Groznyj wieder aufgestellt, das in der frühen Sowjetzeit entfernt worden war.158 Nicht alle Menschen gingen freiwillig ins Exil. Einige Tausend versteckten sich in den Bergen und ergaben sich erst nach Monaten, manchmal sogar erst nach Jahren. Viele Leute wurden im Zuge von Spezialoperationen, die NKVD-­Einheiten durchführten, verhaftet oder getötet. Auf dem Territorium der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR sollen die letzten Banden sogar erst 1953 vollständig liquidiert worden sein.159 Einer der schillerndsten Figuren des tsche­tschenischen Widerstands war Hasan Israilov, der bis zu seinem Tod im Dezember 1944 über zwei Jahre lang den bewaffneten Aufstand gegen das Sowjetregime angeführt hatte. Sein Lebensweg wird im nächsten Kapitel beschrieben.

Angaben zur Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR im Band 51 folgen würden. Dies deutet darauf hin, dass zum Zeitpunkt, da der Band in Druck ging (am 10. April 1957), kein solcher Eintrag geplant war, jedoch im Lichte der sich abzeichnenden Rehabilitierung der Nordkaukasusvölker mindestens dieser Kurzhinweis nachgetragen wurde: Bolʼšaja sovetskaja ėnciklopedia. Tom 47, Moskva 1957 (zweite Ausgabe), S. 342. Der Band 51, der am 28. April 1958 als Ergänzungsband in Druck ging (und somit bereits nach der Wiederherstellung der Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR), enthält einen ausführ­lichen Abschnitt zur Tsche­tscheno-Inguschischen ASSR und den Tsche­tschenen: Bolʼšaja sovetskaja ėnciklopedia. Tom 51, Moskva 1958 (zweite Ausgabe), S. 306 – 316. 157 Šnirelʼman, Bytʼ alanamy, S. 229 – 230. 158 Brian Glyn Williams, Commemorating „The Deportation“ in Post-Soviet Chechnya. The Role of Memorialization and Collective Memory in the 1994 – 1996 and 1999 – 2000 Russo-Chechen Wars, in: History and Memory 12 (2000) H. 1, S. 101 – 134, hier S. 116. 159 GARF, F. R–9479, Op. 1, D. 925, L. 20.

11.   A N PA S S U N G U N D R E B E L L I O N  – D E R FA L L H A S A N I S R A I L OV Anpassung und Widerstand sind keine absoluten Kategorien. Dass einem Außenbetrachter die tsche­tschenische Gesellschaft, die er Ende der 1930er-Jahre antraf, als widerspenstig und anpassungsunwillig vorkam, lag auf der Hand, wenn er die dortigen Verhältnisse mit jenen verg­lich, die er etwa in rus­sisch besiedelten Städten antraf. Die Betroffenen mussten das aber nicht notwendigerweise so empfunden haben. Sie wurden in zwei Jahrzehnten Sowjetherrschaft fast ununterbrochen mit neuen Anforderungen und Bedingungen konfrontiert, mussten Aktions- und Freiräume innerhalb des Systems immer wieder aufs Neue ausloten sowie Vor- und Nachteile einer jeweiligen Handlung abwägen. Was in der Außensicht als Widerstand gegen die Sowjetisierung erschien, konnte aus Sicht der Betroffenen auch eine spezifische Form der Anpassung und die Suche nach einem Arrangement bedeuten. Auch die tsche­tschenische Gesellschaft existierte nicht einfach in einem staatenlosen Raum. Vielmehr handelte es sich bei dem, was der Außenbetrachter wahrnahm, nur um die lokalspezifischen Formen, in denen sich das sowjetische Staatsbildungsprojekt an seiner süd­lichen Peripherie manifestierte. Wie wichtig es ist, Außenwahrnehmungen zu analysieren, hat das letzte Kapitel gezeigt. So kam der negativen Wahrnehmung vom nordkauka­sischen „Banditen“ und widerspenstigen „Bergler“ eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beim Entscheid der Sowjetführung zu, Tsche­tschenen und andere Nordkaukasus­völker 1943/44 zu deportieren. Diese Wahrnehmung äußerte sich in Berichten ab Ende der 1930er-Jahre, in einer Zeit, in der wegen der expansiven Politik Nazideutschlands die internationalen Spannungen zunahmen und die Kriegsgefahr wuchs. Bereits damals war die sowjetische Führung beunruhigt, sie richtete ihren Blick vermehrt auf eine Grenzregion wie den Kaukasus, die ihr nicht nur aufgrund der ethnisch gemischten Bevölkerungsstruktur mit ihren unsicheren Loyalitäten, sondern auch der strate­gisch wichtigen Erdölproduktion wegen als verwundbar galt. Dennoch lässt nur der Blick aus der Gesellschaft heraus verstehen, wie die Menschen selbst die Sowjetisierungsprozesse begriffen und weshalb sie sich zu bestimmten Handlungen entschieden. Erst die Beschäftigung mit konkreten Personen macht deut­lich, dass auch gewaltsamer Widerstand nie nur eindimensional, als direkte Gegenreaktion auf staat­liche Gewalt, zu verstehen war, sondern oft vielschichtige Gründe hatte, die auf der Verbindung äußerer Umstände mit spezifischen innergesellschaft­lichen Realitäten und persön­lichen Umständen beruhten.

Israilov im Spiegel der Geschichtsschreibung

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Dies lässt sich am Schicksal des Tsche­tschenen Hasan Israilov verdeut­lichen, der nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu einem der bekanntesten Anführer der antisowjetischen Widerstandsbewegung im Nordkaukasus wurde. Seine Tagebücher, die er mutmaß­lich im Zeitraum 1941 – 1943 verfasste, sind eines jener seltenen Selbstzeugnisse, die von einem Widerstandskämpfer aus der Region überliefert sind. Gerade am Beispiel Israilovs, eines Mannes, der in verschie­denen Abschnitten seines Lebens Koranschüler, Universitätsstudent, Parteimitglied, Häftling, Dichter und vielleicht sogar Mitarbeiter des sowjetischen Staatsicherheitsdienstes war, lässt sich aufzeigen, dass der Weg in den bewaffneten Widerstand nicht vorgezeichnet war. Um die Beweggründe zu verstehen, die Israilov zu ­diesem Entscheid führten, ist es unabdingbar, sich mit den Komplexitäten seines Lebenswegs auseinanderzusetzen.

11.1   I s r a i lov i m Spiegel d e r G e s ch icht s s ch r ei bu ng In den Darstellungen der sowjetischen Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg findet Hasan Israilov ebenso wenig Erwähnung wie andere antisowjetische Widerstandskämpfer oder Revolten, die in dieser Zeit im Kaukasus ausbrachen.1 Dies ist insofern nicht verwunder­lich, als dies kaum der damaligen offiziellen Sichtweise entsprochen hätte, wonach es nament­lich der Verbundenheit der verschiedenen Völker der Sowjetunion zu verdanken war, dass Nazideutschland im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg, dem laut offizieller sowjetischer Sichtweise wichtigsten Ereignis der sowjetischen Geschichte seit der bolschewistischen Revolution, in die Knie gezwungen werden konnte. Erst im Zuge nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen in den frühen 1990er-Jahren wurde in der Historiographie auch die Rolle des Widerstands erstmals öffent­lich thematisiert.2 Dabei tauchte im innertsche­ tschenischen Geschichtsdiskurs, wie er sich zu Beginn der 1990er-Jahre manifestierte, auch die Figur Hasan Israilovs auf, dessen Widerstand sich als Fixpunkt im Narrativ der tsche­tschenisch-rus­sischen Konfrontationsgeschichte anbot. Israilovs erklärtes Ziel, einen unabhängigen, säkular geprägten Staat zu errichten, passte zu

1 Der Sowjethistoriker V. I. Filʼkin lehnt in einer Publikation von 1960 die These ausdrück­lich ab, dass es in den Bergen Tsche­tscheniens im Zweiten Weltkrieg zu großflächigen Aufständen gekommen sei: V. I. Filʼkin, Čečeno-Ingušskaja partijnaja organizacija v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, Groznyj 1960, S. 42. Danach wurde das Thema der antisowjetischen Aufstände in der Sowjetliteratur der 1970er- und 1980er-Jahren vollständig tabuisiert und nicht mehr angesprochen. Stellvertretend für die spät­sowjetische Geschichtsschreibung zum Kampf um den Kaukasus: A. A. Grečko, Bitva za Kavkaz, Moskva 1973, insbesondere S. 83 – 215. 2 Erstmalige Erwähnung findet Hasan Israilov im 1990 publizierten Aufsatz von Nikolaj Bugaj: Bugaj, Pravda, S. 37.

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Anpassung und Rebellion – der Fall Hasan Israilov

den nationalen Zielen, wie sie der erste gewählte Präsident des nach Unabhängigkeit strebenden Tsche­tscheniens, Džochar Musaevič Dudaev (1944 – 1996), verfolgte.3 Dennoch erfuhr Israilov, der 1991 wie viele andere vom Sowjetregime Verfolgte offiziell rehabilitiert wurde,4 längst nicht jene Würdigung, die hätte erwartet werden können. Im Pantheon der tsche­tschenischen Erinnerungskultur ist er noch immer weit weniger präsent als etwa Imam Mansur, Bajsungur oder Zelimchan. Über ihn sind keine Epen verfasst worden und er wird in keinen Volksliedern besungen.5 Sein Name findet sich zudem seltener auf Listen berühmter Persön­lichkeiten, die auf einschlägigen tsche­tschenischen Internetseiten herumgeboten werden.6 ­Werden andere Tsche­tschenen, deren Existenz die Sowjethistoriographie zu verdrängen gesucht hat, als Nationalhelden gefeiert (unter ihnen Ali Mitaev, nach dem im heutigen Tsche­tschenien mehrere Straßen benannt sind 7), waren und sind tsche­tschenische ­Historiker im Fall Israilovs zurückhaltender. So widmet etwa Musa Gešaev in ­seiner Buchserie zum Leben bekannter Tsche­tschenen Hasan Israilov nicht einmal ein eigenes Kapitel.8 Er taucht kurz im Kapitel zu Chasucha ­Magomadov (1905 – 1976) auf, einem Gefährten Israilovs aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs (der zugleich als „letzter Abrek“ in die tsche­tschenische Geschichte eingehen sollte), der ihn als 3 So stellt Israilovs angeb­lich bereits im Februar 1940 errichtete antisowjetische „Übergangs­regierung“ einen wichtigen Fixpunkt in Dudaevs Narrativ vom 400-jährigen rus­sisch-tsche­tschenischen Krieg dar: Džochar Dudaev, Koncepcija nacionalʼno-gosudarstvennoj politiki Čečenskoj Respubliki Ičkerija [ohne Ort und Datum], S. 2, http://zhaina.com/history/258-koncepcija-­­nacionalno-­ gosudarstvennojj-politiki.html [3.2.2012]. 4 Informationen zu „Israilov Chasan Israilovič“ wurden dem Autor vom Zentralarchiv des Föde­ ralen Dienstes für Sicherheit der Russländischen Föderation (Centralʼnyj Archiv Federalʼnoj služby ­bezopasnosti Rossijskoj Federacii – CA FSB) per offiziellem Schreiben vom 5. Juni 2009 zu­­gestellt: CA FSB, Spravka, Nr. 10/A–2399, Ll. 1 – 2. 5 Naše vsë. Israilov Chasan, in: Echo Moskvy, 18. November 2007, Radiosendung zu Hasan Israilov unter der Leitung von Evgenij Kiselev mit Beteiligung von Sergej Arutjunov und Musa Muradov; Transkript unter: http://echo.msk.ru/programs/all/56324.phtml [1.8.2012]. 6 Siehe z. B. die Internetseite der tsche­tschenischen Opposition im Ausland: http://www.waynakh. com/eng/famous-chechens/names-from-chechen-history/ [1.8.2012]. Das bedeutet allerdings nicht, dass Hasan Israilov auf tsche­tschenischen Webportalen nicht durchaus wohlwollende Erwähnung finden würde. Etwa: http://nohchalla.com/lichnosti/hasan-israilov.html [28.1.2013]. Auch das von Lëma Gudaev betriebe Internet-Portal Čečeninfo führt Hasan Israilov in der Liste ­berühmter tsche­tschenischer Persön­lichkeiten: ŽZL. Israilov Chasan [Internetpublikation, ohne Datum], http://checheninfo.ru/18661-zhzl-israilov-hasan.html [10.6.2014]. Aus tsche­tschenischen Blogeinträgen der letzten Jahre lässt sich zudem die Tendenz erkennen, die Erinnerung an Israilov zu beleben und ihm als „vergessenen Helden“ einen würdigen Platz in der Leidensgeschichte des tsche­tschenischen Volks zu sichern. Siehe dazu etwa die entsprechenden Blogeinträge im Forum mit dem Titel „Hasan Israilov (Terloev) – der vergessene Held“ (Chasan Israilov (­Terloev) – zabytyj geroj), http://www.vedeno.net/forum/index.php?showtopic=2030 [28.1.2013]. 7 Nach Mitaev wurden Straßennamen etwa in Groznyj (ulica Šejch Ali Mitaeva) oder dem Heimatort Mitaevs in Avtury (ulica Ali-Mitaeva) benannt. 8 Gešaev, Znamenitye čečency.

Israilov im Spiegel der Geschichtsschreibung

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„heldenhaften“ Menschen und „hitzköpfigen Patrioten“ charakterisiert, der den Kampf gegen Stalins Unterdrückungsregime angeführt habe.9 Diese Zurückhaltung hat einen einfachen Grund. Hasan Israilovs antisowjetischer Widerstand steht nicht nur für eine Freiheitsbewegung, sondern auch für jenen „Verrat“, dessen Stalin und die Sowjetführung Tsche­tschenen und andere Nordkaukasier bezichtigte, um sie 1943/44 ins zentralasiatische Exil zu deportieren. Die wichtigsten Repräsentanten der national-patriotisch orientierten tsche­ tschenischen Geschichtsschreibung der frühen 1990er-Jahre, Džabrail Žokolaevič Gakaev (1942 – 2005) und Abdurachman Avtorchanov, leugnen in ihren ­Schriften nie die Tatsache des antisowjetischen Aufstands an sich, sondern den damit verbundenen Vorwurf, Israilov und andere Aufständische hätten den Aufstand in enger Abstimmung mit Nazideutschland unternommen und die Errichtung eines unabhängigen Staates unter deutschem Protektorat angestrebt.10 Diese Autoren sehen Israilovs Freiheitskampf nicht vordergründig als von äußeren Umständen und von Kollaboration mit Nazideutschland angetrieben, sondern erklären ihn in erster Linie aus der langen Geschichte der Unterdrückung des tsche­tschenischen Volks durch Russland. Avtorchanov, der Israilov seit seiner Kindheit gekannt haben will,11 sucht dies mit dem Hinweis zu belegen, dass der Aufstand Israilovs bereits im Winter 1940/41 begonnen habe und damit deut­lich vor dem Angriff Hitlers erfolgt sei.12 Gakaev und andere setzen den Zeitpunkt gar noch früher an.13 Hasan Israilov erscheint in ­diesem Freiheitskampf als integre Persön­lichkeit, als jemand, der sich trotz seiner Bildung und vielversprechender Aussichten auf eine Parteikarriere entschieden habe, sich ganz der Sache der Freiheit hinzugeben und „sein Volk“ in ­diesem „fast aussichtslosen Kampf“ anzuführen.14 Ein neuerer Strang der tsche­tschenischen Geschichtsschreibung argumentiert anders. So lehnt etwa Magomed Muzaev, der Direktor der Archivabteilung der 9 Das Kapitel zu Chasucha Magomadov aus Musa Gešaevs Buch (Znamenitye čečency) ist in der Form einer Serie von Artikeln publiziert in der von der Organisation Prague Watchdog herausgegebenen Zeitschrift Čečenskoe obščestvo segodnja in den Nummern 4/2006, 5/2006, 6/2006, 7/2006, 1/2007. Die entsprechende Stelle zu Israilov ist zitiert aus: Poslednij Abrek, in: Čečenskoe obščestvo segodnja 5 (2006), S. 10 – 11, http://www.watchdog.cz/edit/uploaded/docs/ChOS_5_2006. pdf [28.1.2013]. 10 Z. B. Gakaev, Očerki, S. 98; Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 181 – 183. 11 Avtorchanov, Memuary, S. 575. 12 Im Aufsatz von 1992 legt Avtorchanov das Datum des Aufstands auf den Winter 1940 fest: Avtorkhanov, The Chechens and Ingush, S. 181; in seinen Memoiren nennt er Januar 1941 als den Beginn des Aufstands: Avtorchanov, Memuary, S. 600. 13 Gemäß Džabrail Gakaev brach der Aufstand im Mai 1940 aus: Gakaev, Očerki, S. 99. Siehe ebenfalls: R. Karcha, Genocide in the Northern Caucasus, in: Caucasian Review (1956) H. 2, S. 74 – 84, hier S. 78. 14 Avtorkhanov, The Chechens and Ingush, S. 181.

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Anpassung und Rebellion – der Fall Hasan Israilov

Regierung der Republik Tsche­tschenien, die Vorstellung eines antisowjetischen Aufstands der Tsche­tschenen in den Berggebieten ab. Im Aufstand will er eine reine Fabrikation des NKVD sehen, dessen Interesse darin bestanden habe, die Ausmaße der antisowjetischen Widerstandsbewegung bewusst zu überzeichnen, um damit dem Regime einen Vorwand für die spätere Deportation der Tsche­ tschenen zu liefern.15 Einzelne tsche­tschenische Historiker gehen gar so weit zu behaupten, dass es sich bei Personen wie Israilov um Doppelagenten gehandelt habe, die Beziehungen zur Geheimpolizei unterhalten oder in deren Auftrag gehandelt hätten. So gesehen hätte Hasan Israilov seinem Volk unermess­liches und unentschuldbares Leid zugefügt.16 Dass bei den Tsche­tschenen Beziehungen zwischen Widerstandskämpfern und Angehörigen der Staatssicherheit bestanden, ist nicht auszuschließen, gerade dann nicht, wenn es sich bei den Beteiligten um Verwandte handelte, die an verschiedenen Fronten aktiv waren. Die pauschale Behauptung, Israilov sei ein Agent des sowjetischen Geheimdienstes gewesen oder habe sich von d­ iesem benutzen lassen, dient der Geschichtsschreibung aber auch dazu, die Mög­lichkeit eines Widerstands, der auf einer genuinen Ablehnung des Sowjetregimes und Sympathien für Nazideutschland basierte, zu vernied­lichen oder gar zu leugnen. Vertreter d­ ieses Stranges der tsche­tschenischen Geschichtsschreibung sehen sich seit dem Ende der Kriege mit Russland einer Meinung verpflichtet, wie die Führung der Russländischen Föderation unter Präsident Putin sie im Zuge einer forcierten Wieder­belebung des Mythosʼ um den Großen Vaterländischen Krieg wieder verstärkt fordert.17 Dabei soll der Beitrag der einzelnen Völker am Sieg mög­lichst betont, die Völkerfreundschaft aber nicht weiter kritisch hinterfragt werden. So gesehen ist es kein Zufall, dass viele Historiker es vorziehen, bei der Beschreibung 15 In d­ iesem Zusammenhang kritisiert Muzaev auch Avtorchanov, dem er vorwirft, von den tatsäch­ lichen Entwicklungen deshalb keine Kenntnisse gehabt haben zu können, weil er damals im Gefängnis saß: M. N. Muzaev, O načale i ėtapach podgotovki vyselenia čečencev i ingušej, in: A. A. Mankiev (Hg.), Deportacija Čečenskogo naroda. Posledstvija i puti ego reabilitacii. Materialy respublikanskoj naučno-praktičeskoj konferencii. 18 fevralja 2006 goda, g. Groznyj, Groznyj 2006, S. 74 – 88, online in sechs Teilen unter: http://www.deport-chr.ru/index.php/201102-16-05-33-08/36-5 [28.1.2013]. 16 Diese These findet sich etwa bei: Vachid Akaev, Stalinsko-berievskaja deportacija čečencev. Fakty, ideologemy, interpretacii. Duchovnoe upravlenie musulʼman Čečenskoj Respubliki [Internetpublikation, ohne Datum], http://www.islamtuday.com/статьи/вахид-акаев-2/ [28.1.2013]. Ebenfalls in diese Richtung zielen: M. M. Ibragimov / I. Z. Chatuev, Vklad čečenskogo naroda v pobedu nad fašizmom v gody Velikoj Otečestvennoj vojny. 1941 – 1945 gg., Groznyj 2005, http://www.chechen.org/history/218-vklad-chechenskogo-naroda-v-pobedu-nad-fashizmom.html [28.1.2013]. 17 Zur Wiederbelebung des Mythosʼ des Großen Vaterländischen Kriegs: Ivo Mijnssen, An Old Myth for a New Society, in: Philipp Casula / Jeronim Perovic (Hg.), Identities and Politics During the Putin Presidency. The Foundations of Russiaʼs Stability, Stuttgart 2009, S. 270 – 291.

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der Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Nordkaukasus den antisowjetischen Widerstand gar nicht mehr zu thematisieren.18 Schließ­lich lässt sich noch ein dritter Strang in der postsowjetischen Geschichtsschreibung ausmachen. Dieser ist zwar eher dem populärwissenschaft­lichen Genre zuzuordnen, erfreut sich aber gegenwärtig der größten Verbreitung: Jene Publizisten innerhalb Russlands, die im antisowjetischen Aufstand Hasan Israilovs den Beleg dafür sehen wollen, dass es sich bei Völkern wie den Tsche­tschenen, damals wie heute, um wenig loyale, abtrünnige Gesellschaften handle, die dem sowjetischen beziehungsweise dem russländischen Staat in einer Zeit äußerster Not jeweils in den Rücken fallen würden. Entsprechend verhehlen diese Autoren auch kaum ihre Sympathien für Stalins Entscheid, diese Völker zu deportieren, und zeigen ebensolches Verständnis für die massiven Militärinterventionen Russlands in den 1990er und 2000er Jahren. Dabei suchen diese Autoren ihre Argumente im Fall der antisowjetischen Aufstände im Zweiten Weltkrieg mit genau jenen Dokumenten aus sowjetischen Archiven zu belegen, die tsche­tschenische (aber auch andere) Historiker mit dem Hinweis ablehnen, dass die sowjetischen Sicherheitsorgane hier absicht­lich Unwahrheiten über die tatsäch­liche Lage verbreitet hätten, um die Tsche­tschenen zu diffamieren.19 Tatsäch­lich ist die Geschichtsschreibung in Russland nach der Teilöffnung der ehemaligen sowjetischen Archive, w ­ elche die Dokumentenlage erweitert hat, einer sach­lichen Aufarbeitung d ­ ieses zentralen Abschnitts der Sowjetgeschichte kaum näher gekommen. Im Gegenteil setzen die verschiedenen Seiten die Dokumente als Beweismittel ein, um ihre jeweiligen Positionen zu untermauern und um mög­ lichst eindeutige „Wahrheiten“ zu konstruieren. Dies gilt im Fall Hasan Israilovs und dessen antisowjetischen Aufstands insbesondere für jene Texte, die der Person

18 So lassen die Sammelbände, die anläss­lich der großen Jubiläen des Jahrestags des Sieges über Nazideutschland von 1945 erschienen, das Thema des Widerstands im Fall der Tsche­tschenen und Inguschen unerwähnt, dagegen wird nur deren großer Beitrag herausgestrichen. Zum 60-jährigen Jubiläum: Ch. A. Akaev, Čečency i inguši na frontach velikoj otečestvennoj vojny, in: G. I. Kakagasanov (Hg.), Narody Kavkaza v Velikoj Otečestvennoj vojne 1941 – 1945 gg. Materialy Meždunarodnoj naučnoj konferencii, posvjaščennoj 60-letiju Pobedy sovetskogo naroda v Velikoj Otečestvennoj vojne 1941 – 1945 gg., Machačkala 2005, S. 92 – 112; zum 65-jährigen Jubiläum: N. F. Bugaj, Repressirovannye graždane na zaščite Otečestva, in: Narod i vojna. Očerki istorii Velikoj Otečestvennoj vojny 1941 – 1945 gg., Moskva 2010, S. 272 – 294; V.Ch. Magomaev, ­Patriotizm narodov Severnogo Kavkaza v gody Velikoj Otečestvennoj vojny, in: Vestnik ­Akademii nauk Čečenskoj Respubliki 12 (2010) H. 1, S. 132 – 141; Ch. A. Gakaev, 65-letie velikoj pobedy nad fašistskoj Germaniej, in: Vestnik Akademii nauk Čečenskoj Respubliki 11 (2009) H. 2, S. 78 – 83. 19 Stellvertretend für die konservative Sichtweise in der rus­sischsprachigen Literatur: Sergej Čuev, Severnyj Kavkaz 1941 – 1945. Vojna v tylu. Borʼba s bandformirovanijami, in: Obozrevatelʼ-­Observer (2002) H. 2, S. 104 – 111, http://www.rau.su/observer/N02_2002/2_15.htm [28.1.2012]; Pychalov, Za čto, insbesondere S. 144 – 318.

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Israilovs direkt zugeschrieben werden, nament­lich für seine Tagebücher, die er während der Zeit des aktiven Widerstands verfasst haben soll. Diese Tagebücher wurden offenbar unter recht abenteuer­lichen Bedingungen aufgespürt: So sollen sie NKVD-Einheiten bei der Verfolgung der Bande Israilovs Ende August 1943 zufällig gefunden haben. In Israilovs Versteck sollen sich fünf Hefte (insgesamt rund 680 Seiten) befunden haben, die von ihm beziehungsweise im Namen seiner Aufstandsorganisation verfasst worden waren. Daneben soll das NKVD auch Munition, Waffen, Uniformen, Geld sowie einen Koran sicher­gestellt haben. So mindestens liest es sich im Bericht des Vorstehers der geor­gischen Abteilung des Innenministeriums, Grigorij T. Karanadze (1902 – 1970), dem diejenigen NKVD-Einheiten unterstanden, w ­ elche Israilovs Bande aufgespürt hatten. K ­ aranadze wertete die Dokumente aus, ließ von Teilen der Texte Abschriften erstellen und verfasste einen neunseitigen Bericht, der die wichtigsten Informationen aus den Tagebüchern zusammenfasste. Sein Schreiben schickte er zusammen mit den kopierten Dokumenten am 18. September 1943 an den Vorsteher des sowjetischen Innenministeriums, Lavrentij Berija.20 Sehen manche tsche­tschenische Historiker in diesen Abschriften ein reines, vom NKVD angefertigtes „Kompromat“ (zusammengesetzt aus k­ ompromitirujuščij material – kompromittierendes Material), um die Tsche­tschenen mit Blick auf die spätere Deportation zu diskreditieren, so verwenden konservative Historiker in Russland Aussagen daraus als authentische Belege für die tsche­tschenische Kollaboration mit den Deutschen und den Massencharakter der antisowjetischen 20 Die Hefte trugen gemäß Karanadze folgende Aufschriften: 1. „Geschichte des Letzteren [gemeint ist Israilov] unter dem Sowjetregime, Aufstand in Tsche­tscheno-Inguschetien“ (Istorija poslednego, pri Sovetskoj vlasti, vosstanija v Čečeno-Ingušetii im Umfang von 150 Seiten); 2. „Wichtige Episoden aus dem Tagebuch des Winters 1941 – 1942“ (Važnye ėpizody dnevnika zimy 1941 – 1942 gg. im Umfang von 381 Seiten); 3. „Verfassung der Besonderen Partei Kauka­ sischer Brüder (OPKB) (Ustav Osoboj partii kavkazskich bratʼev (OPKB) im Umfang von 40 Seiten); 4. „Schluss­folgerungen des ZKs der Tsche­tscheno-Inguschischen Besonderen Partei Kauka­sischer Brüder (OPKB) über die Gründe der ununterbrochenen Verfolgung des Terloev Hasan seitens der bolschewistischen Staatsorgane (Vyvody CK Čečeno-Ingušskoj Osoboj partii kavkazskich bratʼev (OPKB) o principach nepereryvnogo presledovanija Terloeva Chasana so storony bolʼševistskich vlastej im Umfang von 59 Seiten); 5. „Befehl Nr. des ZKs der OPKB bezüg­lich des Berichts des Herren Chamzaev Kudus (Prikaz Nr. CK OPKB po otčёtu dejatelʼnosti gospodina Chamzaeva Kudusa im Umfang von 48 Seiten). Auszüge aus dem Schreiben Karanadzes (GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55, Ll. 1 – 9) sind publiziert in: Iz dokladnych materialov Narkoma vnutrennich del Gruzinskoj SSR Gr. Karanadze na imja L. Berija. 18 sentjabrja 1943 g., in: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 1, in: Špion. Alʼmanach pisatelʼskogo i žurnalistskogo rassledovanija (1993) H. 1, S. 16 – 33, hier S. 19; Raznica vo vremeni. Operacija „Čečevica“, in: Radio Svoboda, 3. August 2003 (Radiosendung unter der Leitung von Vladimir Tolc mit der Beteiligung von Pavel Poljan; Transkript unter: http://www.svobodanews.ru/content/transcript/24204195.html [3.8.2012]). Andere Teile des Berichts von Karanadze liegen dem Autor in einer transkribierten Form vor. Der Bericht selbst findet sich nicht mehr im Archiv.

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Aufstands­bewegung.21 Um die Authentizität der Abschriften eindeutig verifizieren zu können, müssten die Kopien mit den Originaldokumenten verg­lichen werden. Dies ist aber nicht mög­lich, weil die Originale nicht auffindbar sind.22 Doch auch die kopierten Tagebuchauszüge Israilovs sowie andere Dokumente aus demselben Bestand (darunter der Bericht Karanadzes) lassen sich derzeit nicht überprüfen, weil sie aus dem Russländischen Staatsarchiv entfernt worden und nicht mehr einsehbar sind.23 Da dem Autor ­dieses Buches längere Auszüge aus drei Heften des Tagebuches in einer transkribierten Form vorliegen, ist es – immer unter der Voraussetzung, dass diese auf authentischen Quellen basieren – jedoch mög­lich, ein umfassendes Bild der Person Hasan Israilovs zu zeichnen und seinen langen Weg in den antisowjetischen Widerstand zu verfolgen.24 Dabei wird deut­lich, dass viele der in der Literatur zitierten Angaben verzerrte Sichtweisen widerspiegeln, weil sie den größeren Kontext von Israilovs Werdegang und die Motive seines Widerstands außer Acht lassen. Diese werden nur durch eine vergleichende Betrachtung der Tagebücher und weiterer Dokumente zu Israilov und zum antisowjetischen Aufstand verständ­lich. Es ist unwahrschein­lich, dass es sich bei den Tagebucheinträgen Hasan I­ srailovs um frei erfundene Geschichten aus der Feder des NKVD handelt, um diesen zu kompromittieren. Israilov selbst war als Journalist und Schriftsteller tätig. Er schrieb

21 Stellvertretend für die rus­sische Seite: Pychalov, Za čto; Čuev, Severnyj Kavkaz. Stellvertretend für die tsche­tschenische Seite: Adlan Beno, Chasan Israilov. „Primu prisjagu, i gotovʼ sebja dlja raja!“ [Internetpublikation, ohne Datum], http://www.adamalla.com/archive/index.php/t-447.html [10.6.2014]. 22 Der Autor hat entsprechende Recherchen nicht nur in russländischen Archiven, sondern auch im geor­gischen Zentralarchiv durchgeführt. Dass in den geor­gischen Archiven die Tagebücher, aber auch der Bericht Karanadzes, nicht auffindbar sind, kann damit zu tun haben, dass rund 80 Prozent der Bestände des geor­gischen Komitees für Staatssicherheit (KGB) bei einem Feuer Anfang der 1990er-Jahre zerstört wurden. Siehe dazu die Informationen auf: „The Archive of the Ministry of Internal Affairs of Georgia“, http://archive.security.gov.ge/history.html [15.4.2013]. 23 Das Tagebuch Israilovs (das in der Version von Karanadze als „Tagebuch des Hasan Terloev (­Israilov)“ erscheint) und weitere Dokumente fanden sich ursprüng­lich im Russländischen Staatsarchiv im Fonds der Abteilung des NKVD der UdSSR für den Kampf mit dem Banditentum (Otdel NKVD SSSR po borʼbe s banditizmom; GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55). Recherchen des Autors vor Ort haben ergeben, dass die Dokumente zu Israilov aus ­diesem Fonds bereits vor 2009 entfernt und dem FSB-Zentral­ archiv übergeben worden waren; so mindestens lautete der Vermerk, der sich im entsprechenden Delo (D. 55) fand. Auf schrift­liche Anfrage des Autors konnte das CA FSB (Schreiben vom 6. März 2012 mit Nr. 10/A–1055) den Erhalt dieser Dokumente jedoch nicht bestätigen. Die Direktion des Russländischen Staatsarchivs dagegen gibt mit Schreiben an den Autor vom 3. Juli 2012 (Nr. 6776-V) an, dass sich das Tagebuch Israilovs im entsprechenden Bestand nicht finden lässt. 24 Dem Autor liegen in einer transkribierten Form Auszüge der Hefte Nr. 1, 2 und 4 des Tagebuches vor (GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55, Ll. 55 – 78 und 103 – 141). Weil der Text der Transkription und der Brief Karanadzes nicht mit den Originalseiten des Dokuments übereinstimmt, werden beim Verweis keine Seitenzahlen, sondern nur die jeweilige Heft­nummer des Tagebuches von Israilov genannt.

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für Zeitungen und verfasste Gedichte.25 Auch finden sich in den Quellen Hinweise darauf, dass er während seiner Zeit im Widerstand Tagebuch führte.26 Schließlich erscheint eine Fälschung d­ ieses Ausmaßes insofern unwahrschein­lich, als es sich auch bei den kopierten Aufzeichnungen zwar um Auszüge, aber dennoch um eine statt­liche Anzahl Seiten handelt, die das NKVD innert kürzester Zeit hätte anfertigen müssen. Die Errichtung eines reinen Fantasiegebildes wäre nur dann denkbar ge­­ wesen, wenn das NKVD die ganze Fälschungsaktion bereits viel früher und äußerst sorgfältig vorbereitet hätte. Die Tagebuchaufzeichnungen sind reich an Details und Ereignissen und es finden sich zahlreiche Namen von Personen, die Israilov im Laufe seines Lebens getroffen hatte. Eine ­solche Fiktion hätte nur von jemandem fabriziert werden können, der Israilov und dessen Umfeld sehr gut kannte und mit den Verhältnissen in Tsche­tschenien aufs Engste vertraut war. Mehr noch: Geht man davon aus, dass die sowjetische Führung die Mög­lichkeit einer Deportation von Tsche­tschenen und anderen Nordkaukasusvölkern im Grundsatz erst im Spätherbst 1943 geprüft hat,27 dann stützt dieser Umstand die These ebenfalls nicht, wonach diese Dokumente bereits mit Blick auf die Deportation verfasst worden waren, um die Tsche­tschenen zu diffamieren. Von zentraler Bedeutung scheint in d ­ iesem Zusammenhang jedoch, dass die Tagebücher kein kohärentes Bild der Person Hasan Israilovs und seines Widerstands zeichnen. Darauf weist schon Karanadze in seinem Bericht an Berija hin, wenn er schreibt, dass er überzeugt sei, dass es sich beim Autor um Hasan Israilov handle, „[a]llerdings darauf hingewiesen werden müsse, dass diese Dokumente (…) zahlreiche widersprüch­liche Angaben sowie wenig überzeugende und unwahrschein­ liche Fakten“ enthalten würden. Unrealistisch erschienen Karanadze insbesondere 25 Avtorchanov schreibt, dass Israilov ein fester Angestellter der sowjetischen Massenzeitung Krestʼjanskaja gazeta gewesen sein soll und während eines längeren Gefängnisaufenthaltes zwei Gedichtbände in rus­sischer Sprache verfasst habe: Avtorchanov, Memuary, S. 575; Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 182. Israilov selbst erwähnt die Krestʼjanskaja gazeta in den dem Autor vorliegenden Tagebuchauszügen nie und spricht auch nie davon, dass er zwei Bücher publiziert habe (die nicht auffindbar sind). Dass er aber Artikel und Gedichte geschrieben und auch publiziert hatte, darauf weist er mehrmals in seinen Tagebuchaufzeichnungen hin: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 26 Darauf verweist auch sein Bruder, Husein Israilov, der zunächst Mitglied der Bande war, sich dem NKVD im Juli 1943 aber freiwillig stellte. Der Hinweis auf die Tagebücher findet sich in einem vom NKVD aufgezeichneten Verhör mit Israilov: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 1, S. 29. Die Quellen berichten außerdem davon, dass die Truppen des Innenministeriums Mitte Februar 1944 bei der Verfolgung von Israilovs Bande erneut auf sein Versteck gestoßen seien, wo sie w ­ iederum umfangreiches Material, darunter „Originalaufzeichnungen von Hasan Israilov“ mit einem „Gewicht von ungefähr zwei Kilogramm“ aufgefunden haben sollen. Der entsprechende Bericht von Ivan Aleksandrovič Serov (1905 – 1990) an die Adresse von Lavrentij Berija findet sich in: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 2, S. 66 – 67. 27 Siehe Kapitel 10 in ­diesem Buch.

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die Angaben Israilovs zur Gesamtstärke der Aufständischen (an einer Stelle nennt ­Israilov 25.000 Mann, an anderen Stellen 5000) oder auch die Behauptung, dass das sowjetische Innenministerium, um den Aufstand Israilovs zu be­­kämpfen, 45.000 Soldaten in Tsche­tscheno-Inguschetien stationiert habe und gegen die Aufstän­ dischen Kampfflugzeuge habe einsetzen müssen.28 Das NKVD war bekannt dafür, dass es in seinen Berichten zur Zahl und Stärke von Banden zu Übertreibungen neigte. Doch weshalb hätte Karanadze mit Blick auf diese spezifischen Dokumente Angaben fälschen sollen, die er selbst infrage stellte? Karanadze vertritt in seinem Schreiben die Ansicht, Israilovs „fabelhafte“ Angaben seien damit zu erklären, dass er seine „Popularität bei den Massen und seine Rolle im Kampf mit der Sowjetmacht“ hervorzuheben suchte. Die Aufzeichnungen, die den „heldenhaften“ Kampf Israilovs dokumentieren sollten, seien an die Adresse der Deutschen gerichtet gewesen, damit sich dieser ihnen bei einer allfälligen Besetzung des Kaukasus als führende Autorität anbieten konnte.29 Tatsäch­lich zeigt eine inhalt­liche Auswertung, dass es sich bei zwei der drei vorliegenden Tagebuchhefte tatsäch­lich um Propagandaschriften gehandelt haben könnte, die sich offenbar nicht nur an ein einheimisches Publikum, sondern vor allem an die vorrückenden Deutschen richteten.30 Hasan Israilov skizziert in diesen Heften das Bild einer streng geführten Widerstandsorganisation, der er ein Statut und eine hierarchisch organisierte Struktur zugrunde gelegt hat.31 Seine Organisation mit Namen „Besondere Partei Kauka­sischer Brüder“ (die in den Dokumenten manchmal auch unter anderen Namen erscheint 32) soll demnach von einem Organisationsbüro geleitet worden sein, das Aktionen in fünf aufständischen Bezirken mit angeb­lich 28 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55, Ll. 1 – 9 (Karanadze-Bericht). Die Angabe der Truppenstärke im Umfang von 24.970 Mann findet sich in: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55, L. 13; der Auszug der entsprechenden Stelle ist publiziert in: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 1, S. 19. Angaben zu Truppenzahlen und getöteten Feinden macht Israilov vor allem im 2. Heft seines Tagebuches: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 2). Einen Eindruck vom Ausmass der Aufstandsbewegung vermag der von den Deutschen erstellte „Einsatzplan“ zum Sonderunternehmen „Schamil“ vom 5. Januar 1943 zu vermitteln, der Angaben zu Aufstandsgebieten und Schätzungen zur Zahl der Aufständischen enthält. Die Karte befindet sich im Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blatt 1/36, und ist abgedrucht als Karte 11 in ­diesem Buch. 29 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55, Ll. 1 – 9 (Karanadze-Bericht). 30 Es handelt sich um die Hefte Nr. 2 („Wichtige Episoden aus dem Tagebuch des Winters 1941/42“) und Nr. 4 („Schlussfolgerungen des ZKs der Tsche­tscheno-Inguschischen Besonderen Partei Kauka­ sischer Brüder (OPKB) über die Gründe der ununterbrochenen Verfolgung des Terloev Hasan seitens der bolschewistischen Staatsorgane“). 31 Auszüge aus dem Statut finden sich in: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55, Ll. 87 – 88, zitiert in: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 1, S. 23. 32 In der rus­sischen Bezeichnung nannte sich seine Partei „Besondere Partei Kauka­sischer Brüder“ (Osobaja partija kavkazskich bratʼev – OPKB) oder „Vereinigte Partei Kauka­sischer Brüder“ (Obʼʼedinënnaja partija kavkazskich bratʼev). Dabei finden sich in den Quellen aber auch andere

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jeweils Tausenden von Kämpfern koordinierte.33 Israilov selbst erscheint in diesen beiden Tagebüchern als unumstrittener Führer. Er schildert darin eine Biografie, die seit frühester Jugend von Unterdrückung und vom Kampf gegen das Sowjetregime geprägt war. Dass sich Israilov in diesen Aufzeichnungen auch als Vertreter der Rassentheorie der Nazis zu positionieren sucht, indem er Juden gemeinhin als Feinde und Kaukasier als reinblutige Arier bezeichnet, nährt ebenfalls die Annahme, dass er sich den Deutschen als Autorität eines künftigen unabhängigen Tsche­tscheniens anpreisen wollte.34 Vielleicht um nicht den Verdacht zu erwecken, er selbst könnte aufgrund seines Namens „Israilov“ (von „Israil“ beziehungsweise „Israel“) Jude sein, nennt er sich weit öfter Hasan Terloev, nach „Terloj“, dem Namen seines Tejps. Dabei hat er allerdings nicht alle Tagebuchhefte in Propagandaform verfasst. Im Heft mit dem Titel „Geschichte des Letzteren [gemeint ist Israilov] unter dem Sowjet­ regime, Aufstand in Tsche­tscheno-Inguschetien“, erzählt Israilov eine Geschichte seines Werdegangs, die weit weniger zum Bild eines Helden und Führers passt. Vielmehr beschreibt er darin gesellschaft­liche Verhältnisse, die gekennzeichnet waren von Blutfehden, Morden, Korruption, Kleinkriminalität und langen Gefängnis­ strafen. Auch stimmen einzelne Fakten, die Israilov in d­ iesem Heft nennt, nicht mit jenen anderer Tagebuchaufzeichnungen überein. Auch gemäss d­ iesem Tagebuch führte der Weg Israilovs am Ende in den Widerstand, doch war dieser chaotisch und schlecht organisiert. Israilov behauptet zwar auch in dieser Schrift, 5000 Mann hätten einen Eid auf seine Widerstandsorganisation geleistet. Doch beteiligte sich letzt­lich nur eine kleine Zahl, nur wenige hundert Bewaffnete, aktiv am Aufstand, der zum Leidwesen Israilovs nicht erfolgreich verlief.35 Die Tatsache, dass der antisowjetische Widerstand in Tsche­tschenien offenbar sehr schlecht organisiert war, ein Umstand, den Israilov in dieser Schrift widerholt beklagt, blieb auch den deutschen Sondertruppen nicht verborgen, die sich im Sommer 1942 mit den Aufständischen trafen. Als diese Waffen an rund 300 – 350 Männer aus ihrem Nachschub verteilten, sollen die „Banditen, Namen für seine Widerstandsorganisation, etwa „Nationalsozialistische Partei Kauka­sischer Brüder“ (Nacional-socialističeskaja partija kavkazskich bratʼev). 33 Der franzö­sische Sowjethistoriker Nicolas Werth glaubt, dass der Name von Israilovs Widerstands­ organisation (aber auch der Widerstandsorganisation anderer Gruppierungen) vom NKVD erfunden worden seien: Nicholas Werth, The „Chechen“ Problem. Handling an Awkward Legacy, 1918 – 1958, in: Contemporary European History 15 (2006), S. 347 – 366, hier S. 355. Hier darf aber nicht vergessen werden, dass Israilov als ehemaliger Parteiangehöriger mit dem Vokabular der Bolschewiki und den sowjetischen Organisationsformen gut vertraut war. Zum antisowjetischen Widerstand in Tsche­tschenien 1942 – 1944 ebenfalls: Jeffrey Burds, The Soviet War against „Fifth Columnists“. The Case of Chechnya, in: Journal of Contemporary History 42 (2007), S. 267 – 314; zu Israilov: Ebd., S. 292 – 296. 34 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 2). 35 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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nachdem sie ihre Waffen empfangen hatten“, umgehend wieder „in ihre Dörfer“ zurückgekehrt sein, „ohne dass man sie richtig organisatorisch hätte erfassen können“. Zudem sei „[e]in Großteil der Männer“ (…) nicht im Waffengebrauch ausgebildet“ gewesen.36 Dass sich in ­diesem Tagebuch Episoden aus dem Leben Israilovs finden, die von organisatorischem Versagen und Delikten des Protagonisten berichten – und so dessen Autorität, die er als Führer der Widerstandsbewegung hätte anstreben müssen, im Grunde genommen untergraben –, weist vielleicht darauf hin, dass ­dieses Heft ein persön­liches Zeugnis darstellt. Unter ­welchen Umständen und wann genau Israilov ­dieses Tagebuch verfasst hat, ist unklar. Vielleicht aber trugen auch die Trennung von der Gesellschaft während der Zeit im Widerstand und das ständige Wissen darum, dass jeder Tag sein letzter sein könnte, dazu bei, dass er in dieser Schrift relativ offen über sein Leben berichtet. Tatsäch­ lich trägt d ­ ieses Tagebuch die Züge eines Testaments, und die Schilderungen fragwürdiger Episoden seines Lebens erscheinen als eine Art Schuldbekenntnis. So zumindest ließe sich der Hinweis verstehen, den Israilov als Vorbemerkung seinem Lebensbericht beifügt, dass „der Mensch in seiner Perfektion Schuld [trage]“ und es noch nie einen Menschen auf der Welt gegeben habe, der „frei von Sünde“ sei: „Deshalb lohnt es sich nicht, sich über meine negative Haltung [otricatelʼnostʼ], meine Fehler und meine Sünden zu wundern, wenn ich diese in einigen Episoden beschreibe.“ 37 Aufgrund der unvollständigen Informationslage, vor allem aber auch aufgrund der Tatsache, dass die Originale der Tagebücher nicht auffindbar sind, kann die Mög­ lichkeit einer Fälschung oder zumindest einer Manipulation nicht ausgeschlossen werden. Dies soll aber kein Anlass dafür sein, sich nicht kritisch mit diesen Texten auseinanderzusetzen und nach den Wirk­lichkeiten zu fragen, die aus ihnen sprechen. Dabei muss die Mög­lichkeit verschiedener Wahrheiten offengelassen werden. Das Beispiel Hasan Israilovs zeigt, dass Menschen nie nur nach einer Wahrheit leben und Realitäten sich nicht in jene vereinfachten Denkschemen pressen lassen, in die sie die Geschichtsschreibung oft zwingt.

36 Bericht des Freiwilligen Zagolow [Zagolov], Angehöriger der von Unteroffizier Reckert g­ eführten Einsatzgruppe im Sonderunternehmen „Schamil“, verfasst am 8. März 1943, in: Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blätter 2/3 – 10, hier Blatt 2/5. Russische Miliärhistoriker haben in ­diesem Zusammenhang unkritisch die Version in den sowjetischen Geheimdienstberichten übernommen, die behaupten, dass Reckert, nachdem er mit seiner Gruppe Falschirmjäger hinter der Front in Tsche­tschenien abgesetzt worden sei, bis zu 400 Mann bewaffnet und in entsprechenden Gruppen organisiert hätte: Galickij, „… dlja aktivnoj“, S. 24. 37 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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11. 2   Vom Kor a n s chü le r z u m Wid e r s t a nd s k ä m pfe r Hasan Israilov stammte aus dem im Süden Tsche­tscheniens gelegenen Gebirgsdorf Nikaroj im späteren Galančožskij-Rajon (heute der Itum-Kalinskij-Rajon) der Tsche­ tscheno-Inguschischen ASSR. Zu seinem Geburtsdatum finden sich unterschied­ liche Angaben. Avtorchanov nennt als Geburtsjahr 1910.38 Gemäß einem Geheimdienstbericht des Volkskommissariats für Staatssicherheit soll Israilov 1903 geboren sein.39 Folgt man allerdings den Angaben in Israilovs eigenem Tagebuch, so kam er 1907 zur Welt.40 In Israilovs Tagebüchern finden sich zwei verschiedene Versionen seines Werdegangs. In einem der Tagebücher mit Propagandacharakter erscheinen seine Lebensabschnitte nur als Etappen in einem vorbestimmten Kampf gegen das Regime.41 Dabei lesen sich die entsprechenden Passagen des Lebenslaufs wie ein Bewerbungsschreiben. Demgemäß besuchte Israilov von 1914 bis 1923 arabische und von 1923 bis 1927 sowjetische ­Schulen in der Stadt Groznyj. In dieser Zeit wurde er Mitglied des Komsomol, danach der Kommunistischen Partei. Er diente im sowjetischen Staatsapparat: als Richter, als Staatsanwalt und sogar als Bevollmächtigter des Geheimdienstes. Er behauptet, bereits jung, zwischen 17 und 18 Jahren, zu einem „bekannten Feind der sowjetischen Staatsmacht“ geworden zu sein und Beziehungen zu praktisch allen damals bekannten Figuren Tsche­tscheniens unterhalten zu haben, sowohl zu religiös motivierten Widerstandskämpfern wie Nažmuddin Gocinskij als auch zu national orientierten tsche­tschenischen Führern wie Taštemir Ėlʼdarchanov. Wegen Banditentums, Überfällen, Morden an einem Beamten und einem Korres­ pondenten, der Verbreitung antisowjetischer Propaganda sowie Verbindungen zu antisowjetischen Gruppen sei er bereits 1925 erstmals zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, jedoch schnell wieder freigekommen. 1926 will er in An­­erkennung seiner antisowjetischen Aktivitäten Mitglied eines nicht näher definierten „ausführenden Komitees“ einer antisowjetischen Untergrundorganisation geworden sein, die in Tsche­tschenien operierte. Gleichzeitig soll es ihm gelungen sein, das 38 Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 181. 39 Der entsprechende Bericht findet sich bei: Čuev, Severnyj Kavkaz. 40 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 4). Dieses Geburtsjahr deckt sich auch mit den Informationen zur Person Israilov aus dem FSB-Zentralarchiv: CA FSB, Spravka, Nr. 10/A– 2399, Ll. 1 – 2. 41 Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich nachfolgende Ausführungen auf das Heft Nr. 4 seiner Tagebücher mit dem Titel „Schlussfolgerungen des ZKs der Tsche­tscheno-Inguschischen Besonderen Partei Kauka­sischer Brüder (OPKB) über die Gründe der ununterbrochenen Verfolgung des Terloev Hasan seitens der bolschewistischen Staatsorgane“, enthalten in: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 4).

Vom Koranschüler zum Widerstandskämpfer

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Vertrauen der Bolschewiki und der Partei zu gewinnen, die ihn als einen der ihren betrachteten. 1927 wurde er erneut zusammen mit seinem Bruder verhaftet, soll aber auch diesmal vorzeitig entlassen worden sein. Überhaupt weist Israilov, der in ­diesem Bericht in der dritten Person von sich schreibt, darauf hin, dass seine Gefängnisaufenthalte nie lange gedauert hätten. Er sei in seinem Leben insgesamt viermal verhaftet worden, doch sei es ihm wie keinem anderen gelungen, die Behörden jeweils mit falschen Angaben in die Irre zu führen und sich so immer wieder erfolgreich aus der Affäre zu ziehen. Die 1930er-Jahre lässt Israilov in ­diesem Tagebuch aus, um ins Jahr 1940 zu springen, als er endgültig seine „Maske“ abgelegt und den Bolschewiki sein wahres „feind­ liches Gesicht“ gezeigt habe. Bereits im Januar/Februar 1940 will er einen ersten Aufstand bei der Ortschaft Childerachoj in Südtsche­tschenien organisiert haben. Danach findet sich eine lange Liste weiterer Revolten und wichtiger Kämpfe, die er seinem Konto gutschreibt. Hasan Israilov legt in ­diesem Zeugnis Wert darauf, seinen Widerstand nicht als opportunistischen Akt aussehen zu lassen, der erst mit dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion begann. Dies sucht er mit vielen Hinweisen auf seine Widerstandsaktivitäten während der Sowjetzeit bis hin zum ersten von ihm organisierten Aufstand Anfang 1940, also noch über ein Jahr vor dem Einfall der Wehrmacht in die Sowjetunion, zu verdeut­lichen. Sein sowjetisches Leben, die Mitgliedschaft im Komsomol und der Kommunistischen Partei und die vielfältigen Aktivitäten im Dienst des Staates, stellt er als Teil eines bewusst inszenierten Doppellebens dar. Dies alles sollte wohl beweisen, dass er mit den Mechanismen des Regimes vertraut war und darin eine wichtige Rolle spielte. Doch macht Israilov klar, dass der Staatsdienst nur kaschieren sollte, was er wirk­lich fühlte und im Untergrund von langer Hand plante: den Umsturz des ihm verhassten Regimes. Den Hass auf das Regime charakterisiert er dabei nicht einfach als momentane Erscheinung, sondern als etwas, das von jenen „Fakten der Geschichte“ genährt wurde, die den langen Kampf der „freiheitsliebenden Völker des Kaukasus“ gegen Russland beschreiben. Diese Auseinandersetzung stellt Israilov als persön­lichen Krieg dar: In einem Unterkapitel über die „Historischen Wurzeln des Hasses des Herrn Terloev gegenüber der rus­sischen Versklavung des Kaukasus“ verweist er auf seinen Urgroßvater, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts an der Seite von Imam Mansur gegen die „rus­sischen Kolonisatoren“ gekämpft habe. Dann erwähnt er seinen Großvater, der 23 Jahre lang unter Imam Šamil gedient habe und dessen Taten in tsche­tschenischen Liedern bis heute besungen würden. Schließ­lich nennt er seinen eigenen Vater, der sich nach der Einverleibung Tsche­tscheniens in das Russländische Imperium der Bande des bekannten tsche­tschenischen Abreken Zelimchan angeschlossen habe. Dabei soll sein Vater noch in jungen Jahren an den Folgen einer Schussverletzung gestorben sein, die ihm während des Überfalls

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auf das Schatzamt von Kizljar zugefügt worden sei. Israilov sucht sich so in die Dynastie großer Helden einzureihen, um damit selbst einen Platz als nationaler Führer zu beanspruchen. Und es ist im Grunde genommen diese Lesart der Person Israilovs, ­welche die national orientierte tsche­tschenische Geschichtsschreibung übernommen und die zumindest teilweise Eingang in die tsche­tschenische Erinnerungskultur gefunden hat. Eine ganz andere Version seines Werdegangs schildert Israilov nun aber in seinem Tagebuch mit dem Titel „Geschichte des Letzteren unter dem Sowjetregime, Aufstand in Tsche­tscheno-Inguschetien“.42 Unter den Gründen, die ihn dazu be­­ wogen hätten, aktiv auf den Fall der Sowjetmacht hinzuwirken, führt er im ersten allgemeinen Teil des Tagebuches die Ungerechtigkeiten und Gewaltakte an, unter denen er und sein Volk zu leiden hätten. An erster Stelle nennt er die Kampagne zur Errichtung von Kolchosen, ­welche die Bauern „schlimmer als Gräber“ empfanden, die Auferlegung von Steuern sowie die Willkür der Geheimpolizei, die Tsche­ tschenen ohne ordent­liches Gerichtsverfahren erschießen ließ. Dann verurteilt er auch das Verhalten des Sowjetregimes gegenüber den „kleinen Nationalitäten“ des Kaukasus, die sich noch immer als „Sklaven des großrus­sischen Volks“ fühlten, und prangert das Verhalten der Russen an, sich gegenüber den Einheimischen nach wie vor wie ein Herrenvolk aufzuführen. Danach wendet sich Israilov seiner eigenen Biografie zu, wobei er die „Qualen“ aufzeigen will, die ihm das Sowjetregime zugefügt habe und die ihn schließ­lich dazu bewogen hätten, in den Widerstand zu gehen. Im Zentrum der Aufzeichnungen, ­welche die einzelnen Stationen von Israilovs Leben nachzeichnen, steht nun aber nicht die Auseinandersetzung mit Russen oder einem rus­sisch dominierten Unterdrückerstaat. Vielmehr sind es die gesellschaft­lichen Verhältnisse in Tsche­tschenien und seine eigene schwierige Situation, die am meisten Raum einnehmen. Israilov porträtiert einen Lebensweg, der keineswegs so gradlinig verlaufen war, wie er dies in seiner Propagandaschrift glaubhaft machen will. Der Zeitraum 1925 – 1927, die erste Etappe in Israilovs Vita, war nicht von antisowjetischen Aktivitäten und einem Leben im Untergrund geprägt. Vielmehr beschreibt Israilov eine Situation, die allein mit Ereignissen in seinem Heimatbezirk zu tun hatte: In den Jahren 1925 – 1927 gelang [es] mir dank meiner harten Arbeit zusammen mit meinem jüngeren Bruder und durch alljähr­liche Anwerbung einer bestimmten Zahl von Arbeitern (…) einen anständigen landwirtschaft­lichen Betrieb auf die Beine zu stellen und zu einem wohlhabenden Mann zu werden, der über ausreichende ­Mengen an Brot, Fleisch und Land

42 Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich nachfolgende Abschnitte auf das Heft Nr. 1 der Tagebücher Israilovs, in: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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Abb. 31: Hasan Israilov (links im Bild). Aufnahme undatiert.

verfügte. Ich war damals 19 – 20 Jahre alt, mein Bruder 17 – 18 Jahre.43 (…) Uns wurden 1927 zwei Ochsen gestohlen. Nach intensiver Suche fand ich die Diebe. Es handelte sich um einen gewissen Azigov und um einen g­ ewissen Musaev, die sich weigerten, [uns] unsere Ochsen zurückzugeben. Wir haben sie bei der Bezirksmiliz des Galančožskij-Rajons angezeigt; weil es sich jedoch beim Vorsteher der Miliz und dem Inspektor der Kriminalpolizei sowie dem Vorsitzenden des ausführenden Bezirkskomitees [okrispolkom] um enge Verwandte der Diebe handelte, wurde das Verfahren gegen sie eingestellt, gegen uns aber ein Strafverfahren wegen Verleumdung „anständiger Leute“ eingeleitet. Mein Bruder tauchte unter und ich wurde deswegen zu zwei Jahren Haft verurteilt. Mir gelang jedoch die Flucht aus der Zelle der Untersuchungshaft der Bezirksmiliz. Zusammen mit meinem Bruder raubte ich daraufhin Azigov dessen einzige Kuh und Musaev stahlen wir drei Ochsen. Danach eröffnete man gegen uns ein großes Strafverfahren; alle Viehdiebstähle und das gesamte als

43 Avtorchanov liegt wohl auch hier falsch, wenn er angibt, dass Israilov der jüngste in einer Familie mit sechs Brüdern gewesen sei. Аvtorchanov, Ubijstvo čečeno-ingušskogo naroda, S. 43 (nach der 1991 publizierten Auflage; http://zhaina.com/history/149-ubijjstvo-­checheno-­ingushskogonaroda.html [4.2.2013]). In seinen Tagebuchaufzeichnungen erwähnt Israilov nebst Husein nur noch einen weiteren Bruder namens Atabaev: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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vermisst gemeldete Vieh im Gebiet des gebirgigen Teils des [Bezirks] schrieb man uns zu und erklärte uns zu großen Vieh- und Pferdedieben. Zusätz­lich zur Schande, die wir bereits über Musaevs Familie gebracht hatten, vergewaltigte mein Bruder daraufhin dessen M ­ utter, eine alte Frau, und ich zupfte dem Vater der ­Familie das Barthaar aus; s­ olche Vergehen gelten gemäß den in den Bergen herrschenden Gewohnheitsrechten als weit schlimmer und schänd­licher als eine Mordtat. Gegen uns wurden nun zahlreiche Strafverfahren eingeleitet, nach uns wurde gefahndet; infolge all dessen ging unser Landwirtschaftsbetrieb zugrunde. [Die Behörden] nahmen unsere Mutter als Geisel und uns blieb nichts anderes übrig, als uns freiwillig zu stellen. Man hielt uns eine ziem­lich lange Zeit in Untersuchungshaft und erst nach der Veräußerung des gesamten Hofs, den wir als Schmiermittel einsetzten, k­ onnten wir eine Einstellung der Strafverfahren erwirken.44

Nach ­diesem ersten, schweren Schicksalsschlag arbeitete Hasan Israilov 1928 als Lehrer und Sekretär im Dorfsowjet von Nikaroj. Davon, dass er bereits Mitglied der Partei war oder sogar beim Geheimdienst arbeitete, ist in diesen Auf­zeichnungen nichts zu lesen. Auch scheint er bis zu d ­ iesem Zeitpunkt nicht einmal eine welt­ liche Schule besucht zu haben. Vielmehr schreibt er, dass er sich sein Wissen selbst beigebracht habe, da er zuvor nur arabische Schulen besucht habe.45 Auch in dieser Phase seines Lebens war er offenbar weiterhin ausschließ­lich mit lokalen Ange­ legenheiten beschäftigt und darauf konzentriert, Rache an seinen Peinigern zu ­nehmen und sich gesellschaft­lich zu rehabilitieren: Ich hegte Groll gegen diejenigen Beamten im Galančožskij-Rajon, die uns Brüder schikaniert hatten, und ich fing an, mich an ihnen auf alle mög­lichen Arten zu rächen. Meine Ver­geltungsaktionen fügten ihnen empfind­liche Schläge zu, doch ihnen, die die Macht des Staates auf ihrer Seite wussten, gelang es, dass wir in die Liste der Kulaken und Grundbesitzer eingetragen wurden, und sie beantragten an einer Sitzung, die sich mit der Säuberung des Sowjetapparats befasste, mich auf Lebzeiten aus dem sowjetischen Dienst zu suspendieren; darauf fasste die für die Säuberungen zuständige Kommission (…) einen entsprechenden Beschluss, der in der Gebietszeitung veröffent­licht wurde. Erst nachdem ich mich hart­ näckig mit entsprechenden Beweisen [meiner Unschuld], die ich bis nach Moskau getragen hatte, gewehrt hatte, gelang mir die Wiederherstellung meiner Rechte, sowohl des Rechts auf Ausbildung als auch auf Ausübung einer Tätigkeit im Staatsdienst, und ich wurde aus der Liste der Kulaken und der geist­lichen Elemente entfernt.46

44 Zitiert aus: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 45 Sein Bruder sollte später zu Protokoll geben, dass sie beide von ihrem Onkel unterrichtet wurden: Iz protokola doprosa Israilova Chusejna Israiloviča. 10 – 15 ijulja 1943g., in: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 2, S. 63 – 64, hier S. 64. 46 Zitiert aus: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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Erst jetzt begann Hasan Israilov seine eigent­liche sowjetische Ausbildung in der Kreishauptstadt Rostov am Don.47 An der dortigen Nordkauka­sischen Kommunistischen Universität belegte er Kurse in Rechtswissenschaften und schloss sein Studium mit Auszeichnung ab. Vermut­lich wurde er in dieser Zeit auch Mitglied der Kommunistischen Partei.48 Im Zuge der korenizacija-Politik, die Nichtrussen bei der Besetzung von staat­lichen Ämtern verstärkt berücksichtigte, erhielt er eine Stelle bei der Prokuratur für Verkehrswesen des Nordkaukasus-Kreises. Dabei soll er vom Vorsteher der Prokuratur speziell gefördert worden sein, einem Juden, der nicht nur deswegen Sympathien für Israilov hegte, weil er in ihm offenbar einen fähigen Juristen erkannte, sondern weil er von Israilov im falschen Glauben ge­­ lassen wurde, er sei ein Angehöriger der Minorität der nordkauka­sischen Berg­ juden. Dabei versuchte Israilov seine jüdische Herkunft mit dem Hinweis auf seinen Namen „Israil“ zu belegen. Dieser stand aber, wie er schreibt, nicht mit einer Zugehörigkeit zum Judentum in Zusammenhang, sondern war sch­licht darauf zurückzuführen, dass sich sein Vater diesen Namen zugelegt hatte.49 Aus Gründen, die Israilov nicht weiter ausführt, soll es jedoch auch da zu einem Verfahren gegen ihn gekommen sein. Er wurde seines Postens enthoben und sollte erneut eingesperrt werden, was er allerdings abwenden konnte, indem er nach Moskau reiste, um die Dinge selbst zu regeln.50 Nach seiner Rückkehr aus Moskau wurde Hasan Israilov 1930 zum Volks­ richter des 1. und 2. Abschnitts (učastok) der Stadt Groznyj ernannt. Und offenbar 47 Aus dem Protokoll des Bruders, Husein Israilov, geht hervor, dass sie beide im Jahr 1929 an der Kommunistischen Universität (Komvuz) in Rostov am Don mit dem Studium begonnen hätten: Iz ­protokola doprosa Israilova Chusejna Israiloviča. 10 – 15 ijulja 1943g., in: Čečency i inguši. Paket ­dokumentov Nr. 2, S. 64. Avtorchanov schreibt in seinen Memoiren, dass Israilov in Rostov am Don studiert und 1929 dort die Mittelschule abgeschlossen habe. Аvtorchanov, Ubijstvo čečeno-­ ingušskogo naroda, S. 43. 48 Israilov gibt in diesen Aufzeichnungen nicht explizit an, wann/ob er Mitglied dieser Organi­sationen war; an verschiedenen Stellen scheint er dies aber mindestens zu implizieren. Avtorchanov ­behauptet, Israilov sei 1929 in die Partei eingetreten, nachdem er vorher schon Mitglied der Komsomol ge­­ wesen sei: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 181. 49 Die Tatsache, dass er überhaupt seine falsche jüdische Abstammung in d­ iesem Tagebuch diskutiert und den Familiennamen seines Vaters preisgibt, spricht wiederum dafür, dass es sich bei ­diesem Tagebuch eher um eine persön­liche Schrift gehandelt haben dürfte, die nicht als Propaganda für die Deutschen gedacht war. Bezeichnenderweise nennt er seinen Vater, wenn er im Heft mit Propaganda­charakter von ihm als Mitglied der Bande Zelimchans schreibt, „Sadullaev Korail“, der auch als „Chicigov Isab“ bekannt gewesen sein soll. „Korail“ scheint hier einfach eine Ab­­ änderung von „Israil“ zu sein: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 4). Auch die entsprechende Information aus dem CA FSB identifiziert den Vater von Hasan Israilov jedoch eindeutig als „Israil“ beziehungsweise „Israilov“: CA FSB, Spravka, Nr. 10/A–2399, Ll. 1 – 2. Auch an anderen Stellen der Tagebücher gibt Israilov seinen Vatersnamen „Israilovič“ an. 50 Wie ihm dies genau gelang, erklärt Israilov nicht. Er schreibt nur davon, dass er deswegen nach Moskau gereist sei.

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erst dann wurde er erstmals politisch aktiv, als er sich näm­lich an der Organisation des Widerstands gegen die Kollektivierung beteiligte.51 Er gibt an, dass er zur Vor­ bereitung des Aufstands Verbindungen zu Personen aus seiner Heimatregion und zu Angehörigen desselben Tejps, aber auch zu geist­lichen Autoritäten aus anderen Berggebieten Tsche­tscheniens geknüpft habe. Der Aufstand, der schließ­lich im März 1930 ausbrach, wurde von der Roten Armee relativ schnell und brutal unterdrückt, worauf Israilov sich in die Tiefe der Berge zurückzog, um von dort aus zusammen mit anderen Aktivisten sporadisch an Terroraktionen und Überfällen teilzunehmen; in dieser Zeit soll er auch als Jurist in den Berggebieten tätig gewesen sein.52 Schließ­lich aber stellten eigene Leute – Personen, die mit Israilov Blutfehden offen hatten – eine neue Anklage im Umfang „von drei Bänden“ gegen ihn zu­­sammen. Im April 1931 wurde er mit einer Gruppe von 15 Personen verhaftet und aus der Partei ausgeschlossen.53 Darauf verbrachte er zwei Jahre im Gefängnis, eine Zeit, in der er gemäß eigenen Angaben in Einzelhaft sass, ohne Mög­lichkeit, Bücher oder Zeitungen zu lesen. In dieser Situation, die ihn „fast wahnsinnig“ werden ließ, versuchte Israilov, sich zweimal das Leben zu nehmen und das Gefängnis in Brand zu stecken; seine wiederholten Fluchtversuche scheiterten. Offenbar ermög­lichten erst massive Schmiergelder, die reichere Mithäftlinge für sich selbst und für ihn einsetzten, 1933 seine Freilassung und Rehabilitierung, worauf er erneut in die Partei aufgenommen wurde.54 Den Tagebuchaufzeichnungen zufolge blieb Israilov nach seiner Freilassung nur gute zwei Jahre auf freiem Fuß. Er war damals als Student an der Kommunistischen Universität für die Arbeiter des Ostens 55 in Moskau eingeschrieben, wo er in regem Kontakt mit anderen Angehörigen der tsche­tschenischen Intelligenzija stand, darunter an erster Stelle Abdurachman Avtorchanov, der ebenfalls in Moskau, am Institut 51 Dies deckt sich mit den Aussagen Avtorchanovs, der schreibt, dass Israilov bis zu d­ iesem Zeitpunkt politisch nicht aktiv gewesen sei und sich ausschließ­lich schriftstellerisch betätigt habe: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 182. 52 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 53 Auch Avtorchanov gibt an, dass Israilov 1931 verhaftet worden war: Avtorkhanov, The Chechens and the Ingush, S. 182. 54 Gemäß den Informationen aus dem CA FSB (CA FSB, Spravka, Nr. 10/A–2399, Ll. 1 – 2) wurde Hasan Israilov von der Bezirksmiliz (vermut­lich ist damit der Rajon Galančožskij gemeint) 1931 verhaftet und 1934 freigesprochen und aus der Haft entlassen. Avtorchanov schreibt in ­diesem Zusammenhang, dass Israilov auf „ener­gische Einmischung“ der Redaktion der Zeitung K ­ restʼjanskaja gazeta freigekommen sei: Аvtorchanov, Ubijstvo čečeno-ingušskogo naroda, S. 44. Israilov selbst bestätigt dies in seinen Tagebüchern nicht. 55 Diese Bildungseinrichtung (Kommunističeskij universitet trudjaščichsja Vostoka – KUTV) wurde 1921 ursprüng­lich von der Kommunistischen Internationalen (Komintern) für die Ausbildung kommu­ nistischer Kader nichtrus­sischer Herkunft eingerichtet. Diese stammten aus Europa, Amerika und den (ehemaligen) europäischen Kolonien in Afrika und Asien, aber auch aus den nicht­rus­sischen Gebieten der Sowjetunion selbst. Die Universität wurde 1938 geschlossen, die Aufgabe der Ausbildung von Nichtrussen an lokale Institutionen übertragen.

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der Roten Professur, studierte. Die Zeitspanne bis zu seiner neuer­lichen Verhaftung im April 1935 porträtiert Israilov als Versuch, die verschiedenen Kräfte innerhalb der tsche­tschenischen Gesellschaft im Kampf gegen das Sowjetregime zu vereinigen. Einerseits will er damals einzelne „Kampfgruppen“ an verschiedenen Orten Tsche­ tscheno-Inguschetiens organisiert haben, darunter auch w ­ elche zusammen mit seinen Brüdern Husein und Atabaev in seinem Heimatrajon Galančožskij. Andererseits will er um die Vereinigung aller Kräfte innerhalb der tsche­tschenischen Intelligenzija bemüht gewesen sein, ein Vorhaben, das gemäß Israilov allerdings deshalb nicht erfolgreich gewesen sein soll, weil die Tsche­tschenen „untereinander in politische und persön­liche Fehden verwickelt [gewesen seien], in jeder mög­lichen Weise gegeneinander in­trigierten und sogar Waffengewalt einsetzten, um ihre Feinde gänz­lich zu vernichten“.56 Dabei stellt sich Israilov selbst ins Zentrum des Geschehens, wenn er schreibt, dass der innertsche­tschenische Machtkampf im Wesent­lichen zwischen zwei ­Gruppierungen ausgetragen worden sei, näm­lich zwischen jener von ihm und Avtorchanov geleiteten Gruppe, die nament­lich Schriftsteller und Journalisten umfasste, und der seiner Gegenspieler, die sich aus hochrangigen tsche­tschenischen Parteifunktionären unter der Führung von Chasi Gajtukaevič Vachaev (* 1908, Todesjahr unbekannt), dem damaligen stellvertretenden Parteisekretär Tsche­tschenoInguschetiens, zusammensetzte.57 Dabei waren es laut Israilov nicht ideelle Differenzen, die einem Bündnis im Weg standen, sondern persön­liche Fehden: „[Die Gruppe um Vachaev] respektierte mich, weil ich gegen die Sowjetmacht war, sie stand mir feind­lich gegenüber und schlug mich, weil ich ihr persön­licher unerbitt­ licher Blutsfeind [krovnyj vrag] war.“ 58 Dass Vachaev und andere namhafte tsche­tschenische Parteivertreter demselben Tejp wie Israilov angehörten, spielte für die Blutfehde zwischen diesen nicht die geringste Rolle, wie Israilov in seinem Tagebuch beklagt. Jedenfalls endete die Auseinander­ setzung damit, dass die Gruppe um Vachaev, die aufgrund ihrer Machtposition innerhalb Tsche­tscheno-Inguschetiens über ungleich größere Mittel und Mög­lichkeiten verfügte, im April 1935 die Verhaftung Israilovs erwirken konnte, der bereits zuvor mit seinem Bruder Husein untergetaucht war. Kurz darauf stellte sich auch Husein freiwillig den Behörden. Beide Brüder sollen je fünf Jahre Haft erhalten haben, die sie in einem Arbeitslager in Westsibirien verbrachten. Israilov wurde frühzeitig, in der ersten Hälfe des Jahres 1938, entlassen, sein Bruder rund ein Jahr später.59

56 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 57 Zu Chasi G. Vachaev: Alʼmanach „Rossija. XX vek“. Archiv Aleksandra N. Jakovleva, ­biografičeskij slovarʼ, http://www.alexanderyakovlev.org/almanah/almanah-dict-bio/1006058/2 [4.2.2013]. 58 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 59 Wie lange Israilov genau in Haft war, ist unklar. Er selbst gibt an, dass er im April 1935 verhaftet wurde, fünf Jahre Haft erhielt, davon vier absitzen musste und bereits 1938 wieder auf freiem

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Nach der Entlassung gelang es Israilov, sich dank gefälschter Dokumente vollständig zu rehabilitierten. Bei seiner Rückkehr erhielt er den Posten des verantwort­ lichen Sekretärs des Rajon-Sowjets in seinem Heimatbezirk Galančožskij zu­­ gesprochen. Dabei dürfte sich günstig für ihn ausgewirkt haben, dass inzwischen das gesamte tsche­tscheno-inguschische Führungskader, darunter auch sein wichtigster Gegenspieler, Vachaev, im Zuge der stalinistischen Säuberungen von 1937/38 ihrer Posten enthoben worden waren. Auch Avtorchanov, der zur Verwunderung Israilovs trotz der Auseinandersetzung mit der Gruppe Vachaevs auf freiem Fuß geblieben war, wurde noch im Oktober 1937 verhaftet.60 Doch auch auf seiner neuen Position konnte Israilov sich nicht lange halten.61 Während eines Trinkgelages prügelte er sich mit einem hochrangigen Vertreter des tsche­tscheno-inguschischen Parteibüros, einem Russen, war wegen der Frau eines Freundes, des Parteivorsitzenden des Galančožskij-Rajons, in einen ­schweren Konflikt verwickelt und sah sich darauf gezwungen, zusammen mit Verwandten den Vorsteher des ört­lichen NKVD zu ermorden, der im Auftrag ­dieses Parteivorsitzenden dabei war, belastendes Material gegen Israilov zu sammeln, um dessen Verhaftung vorzubereiten. Nachdem er seines Postens enthoben worden war, begab sich Israilov nach Groznyj, wo er sich vermehrt publizistisch betätigte und mit Gleichgesinnten angesichts der sich zuspitzenden Kriegsgefahr über die „Wahrschein­lichkeit oder Unwahrschein­lichkeit“ des Falls der Sowjetmacht diskutierte. In Groznyj erkrankte er an Tuberkulose, worauf er zur Genesung wieder in seinen Heimatbezirk zurückkehrte. Anfang 1939 reiste er nach Westsibirien, um seinen Bruder Husein aus dem Gefängnis zu holen, nachdem es ihm zuvor gelungen war, für diesen auf dem­selben Weg gefälschten Dokumente zu besorgen, die bereits ihm eine vollständige Re­­ habilitierung ermög­licht hatten. Nachdem sich seine Gesundheit stabilisiert hatte, nahm Israilov, von Geldnöten geplagt, im Juni 1939 erneut eine Tätigkeit als Anwalt auf. Er war zuständig für die juristischen Belange der Berggebiete der tsche­tscheno-inguschischen Republik. Fuß war. Gemäß den Angaben aus dem FSB-Zentralarchiv wurde Hasan Israilov per Beschluss des NKVD-Sonderrats (Osoboe Soveščanie pri NKVD) vom 9. Dezember 1936 aufgrund „anti­ sowjetischer Agitation, als sozial gefähr­liches Element“ zu drei Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt (CA FSB, Spravka, Nr. 10/A–2399, Ll. 1 – 2). Sein Bruder Husein soll per Beschluss des NKVD-Sonderrats im Jahr 1937 zu drei Jahren Haft in einem Umerziehungs- und Arbeitslager verurteilt worden sein: Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 2, S. 63. 60 Gemäß den Angaben aus dem Zentralarchiv des Föderalen Dienstes für Sicherheit der Russ­ländischen Föderation wurde Avtorchanov am 10. Oktober 1937 verhaftet. Er kam am 25. März 1940 wieder frei, wurde am 24./25. Oktober 1941 jedoch erneut zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Am 10. März 1942 wurde die Strafe gegen ihn aufgehoben und er kam erneut frei: CA FSB, Spravka, Nr. 10/A–2399, Ll. 1 – 2. 61 Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich nachfolgende Abschnitte auf: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

Widerstand im Stalinismus

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Doch auch diese Jahre erscheinen als eher dunkles Kapitel in seinem Leben. Erneut berichtet er von vielen kleineren Vergehen, darunter Schlägereien, Trinkgelage und offenbar mindestens eine versuchte Vergewaltigung, die ihm im Zeitraum zwischen 1939 und 1941 in den Rajons Itum-Kalinskij, Galančožskij und Šatoevskij sowie in der Stadt Groznyj Strafverfahren eintrugen. In Groznyj saß er zudem zehn Tage im Gefängnis und kam offenbar nur dank der Hilfe von Verwandten wieder frei. Während ihm in der Folge die Einstellung der Verfahren in drei Fällen gelang, war der Prozess gegen ihn im Šatoevskij-Rajon noch hängig, als er das Tagebuch verfasste. Zuvor aber trat ein Ereignis ein, das dem Leben Israilovs noch einmal eine Wende geben sollte: der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Diese Attacke verschlechterte Israilovs Situation dramatisch, denn die Sowjet­ führung soll, wie er schreibt, „nach der Verkündigung der fröh­lichen Botschaft, des Angriffs Deutschlands auf die UdSSR, das Dekret [erlassen haben], mit allen unerwünschten Elementen, besonders aber mit denjenigen, die vom Gericht als gefähr­lich für die Gesellschaft eingestuft [worden waren], abzurechnen“.62 Ob ein solches Dekret tatsäch­lich erlassen wurde, ist ungewiss. Stalin wurde aber gerade in der Anfangsphase des Kriegs nicht müde, auf die Gefahr durch innere Feinde hinzuweisen, und ließ ­solche Gegner aktiv verfolgen. Israilov jedenfalls schien die Atmosphäre, in welcher der Staat unbedingte Loyalität von seinen Bürgern und eine Totalmobilisierung der Gesellschaft forderte, ungemüt­lich. Er schreibt, dass er und sein Bruder nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Kriegs darauf hätten achten müssen, sich nicht an „gefähr­lichen Orten“ zu zeigen. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt in den Untergrund und den bewaffneten Widerstand.

11. 3  Wid e r s t a nd i m St a l i n i s mu s Wie wahrheitsgetreu Hasan Israilov sein Leben in d ­ iesem persön­lichen Bericht schildert, ist im Detail schwierig zu überprüfen. Einzelne Episoden, insbesondere jene, die sich auf die 1920er-Jahre beziehen, könnten sich durchaus so zugetragen haben. Andere Passagen, die spätere Episoden nachzeichnen, erscheinen insofern weniger glaubwürdig, als sich Israilov eine Bedeutung zuschreibt, die er vermut­lich gar nie hatte. Denn letzt­lich ähnelte Israilovs Werdegang und Weg in den Widerstand viel eher demjenigen des klas­sischen Abreken als demjenigen des n­ ationalen Freiheits­kämpfers, als den er sich selbst darzustellen sucht. Die größten Zweifel weckt in ­diesem Zusammenhang jene Passage des Tage­ buches, die Israilovs Konflikt mit der Gruppe um Vachaev beschreibt. Dass er hier

62 Zitiert aus: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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seine eigene Rolle stark überzeichnet, wird spätestens dann ersicht­lich, wenn er behauptet, zur Sch­lichtung dieser Auseinandersetzung seien drei Kommissionen des Moskauer Zentralkomitees der Partei, der Prokuratur der RSFSR und der UdSSR sowie fünf Kommissionen des Nordkaukasus-Kreiskomitees der Partei aus Rostov am Don angereist. Zudem seien noch sieben Kommissionen aus dem Gebiets­komitee der Partei, der Prokuratur und dem tsche­tscheno-inguschischen NKVD formiert worden.63 Hätte sich der Konflikt tatsäch­lich in diesen Dimensionen abgespielt, dann müssten sich auch in anderen Quellen aus jener Zeit entsprechende Hinweise finden. Dies ist aber nicht der Fall. Avtorchanov, den Israilov in der Auseinandersetzung mit Vachaev auf seiner Seite glaubt, berichtet in seinen Memoiren ebenfalls nicht von solchen Differenzen. Im Gegenteil weiß Avtorchanov über Vachaev nur Positives zu berichten. Er beschreibt ihn als sympathischen Menschen mit Sinn für Humor, zu dem er offenbar eine sehr gute Beziehung unterhielt.64 In dieser Beschreibung zeigt sich ein psycholo­gisches Moment, dem eine Schlüssel­rolle zukommt, soll der Entscheid Israilovs, nach dem Angriff Deutschlands in den bewaffneten Widerstand zu treten, nachvollzogen werden: Israilov hatte in der politischen Landschaft Tsche­tscheno-Inguschetiens nie jene Bedeutung, die er gerne gehabt hätte. Er war weitgehend isoliert von der Politik und fand keine Aufnahme in die inneren Kreise jener Gruppen, die Einfluss auf das Geschehen ausübten. Bezeichnenderweise schreibt er im Zusammenhang mit seinem Konflikt mit Vachaev denn auch davon, dass er zusammen mit Avtorchanov „alles Mög­liche versucht [habe], um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Isolation [zu finden]“.65 Dass er in den 1930er-Jahren mindestens vier Jahre hinter Gittern verbrachte, muss zu seiner Isolation, wohl aber auch zu seiner wachsenden Verbitterung, zusätz­ lich beigetragen haben. Dabei bekleidete Israilov in den 1930er-Jahren durchaus höhere Ämter. Doch anstatt diese Chancen zu ­nutzen und sich zu profilieren, verstrickte er sich wiederholt in Kleinkonflikte, die ihm Strafverfahren und neue ­Feindschaften einbrachten. Israilov erklärt in seinen Schriften nicht, weshalb er sich jeweils zu diesen Handlungen hinreißen ließ. Stattdessen prangert er Russland und das Sowjetregime am Schluss der Beschreibung seines Lebens als jene an, die Schuld an seinen persön­ lichen Misserfolgen und Schicksalsschlägen hätten: „Das waren also die wesent­ lichen Gründe meines persön­lichen und mora­lischen Leidens unter dem Joch des Sowjetregimes. Deshalb konnte ich im Innersten [dušoj] nicht mit der Sowjetmacht zufrieden sein.“ 66

63 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 64 Avtorchanov, Memuary, S. 279 – 281, 584. 65 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 66 Zitiert aus: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1).

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Hier spricht Israilov zwar aus, was wohl viele Menschen in der damaligen Sowjet­ union dachten und fühlten. Doch er litt offenbar nicht nur aufgrund der Repressalien eines diktatorischen Regimes, sondern auch an sich selbst, an den überkommenen Traditionen und den vielschichtigen Spannungen, die in der tsche­tschenischen Gesellschaft angelegt waren. Und genau diese gesellschaft­lichen Bedingungen beschreibt Israilov in seinem Tagebuch als die eigent­lichen Triebkräfte seiner Geschichte. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion, ein Ereignis, das er wie eine ­Er­lösung angesehen haben muss, bot sich ihm nicht nur die Gelegenheit, das verhasste Sowjetregime zu stürzen. Auch ihm selbst erwies sich der Kriegsbeginn als Ausweg aus einer äußerst vertrackten persön­lichen Si­­tuation. Er sah die Chance auf einen Neuanfang und erkannte die Mög­lichkeit, end­lich jene historische Bedeutung zu erlangen, die ihm bisher versagt geblieben war. Hasan Israilovs Kampf richtete sich zwar offiziell gegen das Sowjetregime. Tatsäch­lich aber stellt sich seine Biografie vor allem als Ringen mit jenen Kräften der Gesellschaft dar, die seiner Vorstellung eines geeinten tsche­tschenischen Volks entgegenstanden. In der Passage, die seine Auseinandersetzung mit Vachaev beschreibt, beklagt er, dass sie beide im Grunde genommen dasselbe Ziel, den Sturz des Sowjetregimes, verfolgen würden, jedoch eine Blutfehde ein Bündnis verhinderte. Israilov erklärt zwar nicht, worin genau die Blutfehde bestand. Auch muss offen bleiben, inwiefern Vachaev damals überhaupt antisowjetisch eingestellt war. Dass er genau wie viele andere im Zuge der stalinistischen Säuberungen 1937/38 seines Postens enthoben und verhaftet worden war, erschien Israilov wohl Grund genug, ihm und der gesamten tsche­tschenischen Elite im Rückblick pauschal eine antisowjetische Haltung zu unterstellen. Zentral für das Verständnis dieser Passage ist aber, dass sich diese Lesart nahtlos in Israilovs Narrativ vom angeb­lich geeinten nationalen Wunsch der Tsche­tschenen, sich von Russlands Herrschaft zu lösen, einfügt. In Israilovs Lesart war es die Zerstrittenheit der Tsche­tschenen, die der Realisierung ­dieses Bestrebens entgegenstand. Das zeigt sich am Beispiel der offiziellen Losungen, die Hasan Israilov im Namen seiner Widerstandsorganisationen im Krieg herausgab. Die Losungen beinhalteten nicht nur die üb­lichen Anwürfe gegen das Sowjetregime, aber auch gegen Russen und Juden und für Religionsfreiheit, sondern skandierten auch „Nieder mit dem Gesetz der Blutrache!“ oder forderten das Ende der Raubzüge unter den kauka­ sischen „Brudervölkern“.67 Hasan Israilov erscheint hier insofern als „moderner“ Widerstandskämpfer, als er seinen Kampf auch als Sache für die Überwindung rückständiger Traditionen

67 Insgesamt lagen der Organisation Israilovs 46 Losungen zugrunde: GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 2).

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Anpassung und Rebellion – der Fall Hasan Israilov

und die nationale Einheit sieht. Dabei bezieht sich sein nationaler Gedanke nicht ausschließ­lich auf Forderungen nach Einheit der Tsche­tschenen, sondern er strebt nach Mög­lichkeit die Vereinigung der Völker des Kaukasus in einem föderalen Staatswesen an (wobei er die Kosaken und die südkauka­sischen Völker ausdrück­ lich mit einbezieht) und knüpft damit an Vorstellungen an, wie sie nament­lich in den säkular orientierten Einheitsbestrebungen kurz nach der rus­sischen Revolution existiert hatten.68 So ist es auch kaum verwunder­lich, dass sich Israilov der Aufgabe, eine Widerstandsorganisation aufzubauen, w ­ elche die Basis für ein späteres Staatswesen bilden sollte, nach Kriegsausbruch mit unbändiger Energie hingab. Er verfasste ein Parteiprogramm, er erließ in der Manier eines Staatsmannes Dekrete, schrieb Briefe an Hitler und reiste unermüd­lich von Aul zu Aul, um Kämpfer zu rekrutieren und Aktionen zu koordinieren. Auch suchte er wiederholt Kontakt zu aufständischen Gruppierungen in anderen Teilen des Kaukasus, sah er sich doch als künftiger Führer eines gesamtkauka­sischen Staates unter deutschem Protektorat. Dabei tat er sich mit dem Gedanken einer Macht­teilung offenbar schwer. Dies läßt sich darin erkennen, dass er sich zunächst nicht und Anfang 1942 eher unwillig zur Zusammenarbeit mit anderen Aufstands­bewegungen auf tsche­tschenisch-inguschischem Gebiet entschloss, darunter nament­lich die Gruppierung unter der Führung von Majrbek Šeripov, einem Bruder des Bürgerkriegshelden Aslanbek Šeripov.69 Dass die Situation innerhalb Tsche­tscheniens von großen Spannungen unter den verschiedenen Gruppen rund um ihre Anführer geprägt war, stellten auch die deutschen Sondereinheiten in Tsche­tschenien fest. So liest sich im Bericht von Oberleutnant Reinhard Lange, dem Leiter einer deutschen Fallschirmjägertruppe, die sich Ende August 1942 süd­lich von Groznyj hinter die Front absetzte und sich mit Aufständischen traf, dass es in Tsche­tschenien insgesamt sechs größere Banden gebe, wobei die von Israilov angeführte Organisation die zahlenmäßig größte sei: Die einzelnen Banditengruppen spielen gegeneinander ein Intrigenspiel. Ihre Orga­ nisation ist schlecht, ihre militärische Führung völlig ungeeignet, ihr Nachrichtendienst in keiner Weise ausgebaut. Die Angehörigen der Banden bestehen zum großen Teil aus kriminellen Subjekten, die in erster Linie auf Grund ihrer Viehräuberei in Gegensatz zur herrschenden Regierung geraten sind. Sie genießen deshalb bei der Bevölkerung ein geringes Ansehen und werden gegen jede Staatsgewalt eingestellt sein.70

68 GARF, F. R-9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 2). 69 Poljan, Operacija „Čečevica“, S. 643. Majrbek Šeripov wurde im Zuge einer Spezialoperation des NKVD am 7. November 1942 getötet: Galickij, „… dlja aktivnoj“, S. 20. 70 Bericht von Oberleutnant Lange zum Sonderunternehmen „Schamil“, verfasst am 5. Januar 1943, in: Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blätter 1/1 – 36, hier Blatt 1/28.

Widerstand im Stalinismus

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Dem stellt Langes Bericht die „politisch Verfemten“ gegenüber, die vom Regime verfolgt und die sich abseits dieser Banden halten und überall in der Bevölkerung Schutz finden würden.71 Israilov erscheint bei Lange als „Schwätzer“, der sich „seinen Anhang mit Brutalität zusammengetrieben“ habe. Dabei muss Lange aber unkritisch die Informationen Israilovs übernommen haben, wenn er schreibt, dass dessen Organisation, deren „Ziele im übrigen ganz verschwommen“ seien, „rund 32.000 Mitglieder“ zähle und in den Berggebieten Tsche­tscheniens und Inguschetiens ihre Anhängerschaft habe.72 Demgegenüber tritt Majrbek Šeripov, den Lange als den „intelligenteste[n] Führer“ der tsche­tschenischen Aufständischen bezeichnet, weit positiver in Erscheinung.73 Ob Israilov tatsäch­lich an seine Bedeutung und Bestimmung glaubte, muss dahingestellt bleiben. Er wusste aber sehr genau, dass er sich für einen Weg entschieden hatte, auf dem es kein Zurück mehr gab. Anders als viele seiner Gefährten, darunter sein Bruder Husein, die sich im Laufe des Jahres 1943 freiwillig stellten, als die Lage der Aufständischen nach dem Rückzug der Wehrmacht aus dem Kaukasus aussichtslos wurde, blieb Israilov seiner Sache treu. Wohlwissend, dass er kaum mit Gnade seitens der Sowjetmacht rechnen konnte, schlug er entsprechende Angebote des NKVD kategorisch aus.74 Hasan Israilovs bewaffneter Widerstand richtete sich am Ende seines Lebens direkt gegen das Regime und dessen Vertreter. Sein eigener Weg beinhaltete aber eine Aus­ einandersetzung mit innergesellschaft­lichen Widrigkeiten, mit denen er nicht zurechtkam und die ihn an seinem Fortkommen hinderten. Und so verwundert es kaum, dass ihn schließ­lich diese bitteren gesellschaft­lichen Realitäten am Ende seines Lebens einholen sollten. Als er in der Nacht vom 15. Dezember 1944 töd­lich verwundet wurde, handelte es sich bei den Tätern nicht etwa um rus­sische Soldaten, sondern um vom NKVD angeheuerte tsche­tschenische Banditen und Blutsfeinde Israilovs.75 Zwei Wochen darauf, am 29. Dezember, übergaben die noch verbliebenen Anhänger Israilovs Leichnam den ört­lichen Repräsentanten des NKVD. Nachdem diese Israilov identifiziert hatten, wurde er im Aul Urus-Martan begraben.76 Mit Israilov wurde ein Mensch liquidiert, der von Anfang an für eine verlorene Sache gekämpft hatte.

71 Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blatt 1/28. 72 Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blatt 1/11. 73 Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blatt 1/9. 74 GARF, F. R–9478, Op. 1, D. 55 (Israilov, Tagebuch, Heft 1). 75 Der tsche­tschenische Schriftsteller Musa Beksultanov schreibt in der Erzählung „Der Weg zurück zum Anfang“ von der Liquidation Israilovs, der „von seinen eigenen Gefährten“, neun Personen, offenbar Verwandte auf mütter­licher Seite, getötet worden sein soll: Beksultanow, Der Weg, S. 56 – 59. 76 Pavel Poljan, Operacija „Čečevica“. Deportacija vajnachov v marte 1944 goda, in: Zvezda 3 (2007), S. 167 – 174, hier S. 171; Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 1009 (Anmerkung 12).

12 .   G E S C H I C H T E , E R I N N E RU N G U N D K R I E G  – AU S B L I C K I N D I E G E G E N WA R T Erinnerungen sind immer nur selektive Ausschnitte aus der Vergangenheit. Sie reflektieren nie nur persön­lich Erlebtes, sondern verbinden auch politische und ideolo­ gische Wertvorstellung und Meinungen der jeweiligen Zeit. Bestimmten Ereignissen der Vergangenheit werden im Laufe der Zeit neue Bedeutungen zu­­geschrieben. Vergessen geglaubte Helden werden wiederentdeckt, andere verstoßen. Kein anderes Ereignis hat sich dabei derart traumatisch ins kollektive Gedächtnis der Menschen im Nordkaukasus eingebrannt wie die gewaltsamen Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg. Im Fall der Tsche­tschenen sollte es der schwierige Umgang mit dieser Erinnerung sein, die den Entwicklungsweg d­ ieses Volks maßgeblich bestimmte – um schließlich nach dem Zerfall der Sowjetunion in Unabhängigkeitsbestrebungen zu münden, die in der Tragödie der Kriege der 1990er- und 2000er-Jahre endeten. Die Deportationen zielten nicht nur darauf ab, Ordnung im Kaukasus zu s­ chaffen. Im Verständnis der sowjetischen Machthaber sollte die Entwurzelung ganzer Völker auch deren als rückständig erachtete Traditionen und Lebensweisen vernichten. Im Exil sollten Sowjetmenschen geschaffen werden. Deshalb war es auch kein Zufall, dass die „Sondersiedler“ (specpereselency), wie sie im NKVD -Jargon genannt wurden, im fernen Zentralasien in kleine Gruppen verstreut über große Territorien verteilt angesiedelt wurden. Dies sollte ­soziale Bindungen unter den Menschen zerschlagen. Die ört­lichen Sicherheitsorgane errichteten eine Kontrollherrschaft, die auf Repression und Einschüchterung beruhte. Den Sondersiedlern war es nicht erlaubt, sich mehr als drei Kilometer von ihrem Wohnort zu entfernen. Die für eine Gruppe von Sondersiedlern zuständigen Ältesten hatten alle zehn Tage vor dem ört­lichen NKVD-Kommandanten zum Rapport zu erscheinen. Vergehen wurden scharf geahndet.1 Die Menschen sollten zur Anpassung gezwungen werden. Nur wenn sie ihrer Arbeit in den staat­lichen Landwirtschafts- und Industriebetrieben oder der ört­ lichen Industrie nachkamen, erhielten sie auch ausreichende Nahrungsrationen zuge­sprochen.2 Dagegen regte sich insbesondere in den Anfangsjahren Widerstand. Für Gesellschaften, die sich bis zu d­ iesem Zeitpunkt vorwiegend mit Viehzucht in

1 V. A. Kozlov / M. E. Kozlova, Paternalističeskaja utopia i ėtničeskaja realʼnostʼ, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 679 – 710. 2 Siehe dazu etwa den Bericht des Innenministers der kasachischen ASSR, 16. Juli 1946, in: Ebd., S. 748 – 774, hier S. 751.

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den Bergen beschäftigt hatten, war die Arbeit auf den Feldern eine neue Tätigkeit, an die sie sich erst gewöhnen mussten. Wiederholt weigerten sich zu Beginn ganze Gruppen von Menschen, zur Arbeit auf den Äckern und Feldern der Kolchosen zu erscheinen.3 Viele Eltern stemmten sich anfäng­lich dagegen, ihre Kinder in die sowje­tischen Schulen zu s­ chicken.4 In einigen Fällen registrierten Eltern ihre K ­ inder 5 nach der Geburt nicht, um so den Schulzwang zu umgehen. Das Leben im Exil bedeutete unsäg­liches Leid. Hunger und Krankheiten rafften Tausende dahin. Von den 506.656 Nordkaukasiern, die 1943/44 in die kasachische ASSR deportiert wurden, starben bis zum 1. Juli 1946 73.681 Personen. Dem­gegenüber verzeichnete die Statistik im gleichen Zeitraum weniger als 8000 Geburten.6 Nicht besser stand es um die nordkauka­sischen Sondersiedler, die in die kirgi­sische ASSR ausgeschafft wurden. Von 135.932 Exilierten verstarb bis zum 1. Juli 1946 über ein Viertel aller Menschen.7 Erst ab 1949/50 stabilisierte sich die Situation und die Statistik verzeichnete wieder mehr Geburten als Todesfälle.8 Die Menschen halfen sich nach Mög­lichkeit untereinander, was die Not linderte. Auch zu den an­­sässigen ­kasachischen und kirgi­sischen Bevölkerungsteilen (nicht aber zu den Russen) ent­wickelten die Sondersiedler aus dem Nordkaukasus ein gutes Verhältnis.9 Der Tod Stalins 1953 führte zu einer Lockerung des Kontrollregimes. Die ­Repressionen gingen zurück. Am Status der Exilierten änderte sich zunächst jedoch nichts. Erst mehr als drei Jahre nach dem Tod des Diktators, am 16. Juli 1956, hob das Präsidium des Obersten Rats der UdSSR per Dekret die Einschränkungen auf, die der besondere Status den Exilierten auferlegte.10 Das Recht, in die Heimat zurückzukehren, wurde ihnen jedoch zu ­diesem Zeitpunkt nicht gewährt. Als danach

3 Kozlov / Kozlova, Paternalističeskaja utopia, S. 693. Eine Übersicht zur Zahl der nordkauka­ sischen Arbeiter, die per 1. Juli 1946 im kasachischen Exil in Kolchosen, Sovchosen und ört­lichen Industrien beschäftigt waren, sowie eine Aufstellung derjenigen, die sich der Arbeit verweigerten, finden sich in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 750. 4 Allerdings fehlten in den ersten Jahren des Exils die nötigen schu­lischen Einrichtungen, was dazu führte, dass zunächst nur rund ein Fünftel der Kinder die Schulen besuchen konnte: Ebd., S. 764. 5 Michaela Pohl, „It cannot be that our graves will be here“. The Survival of Chechen and Ingush Deportees in Kazakhstan, 1944 – 1957, in: Journal of Genocide Research 4 (2002), S. 401 – 430, hier S. 413. 6 Bericht des Innenministers der kasachischen ASSR, 16. Juli 1946, in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 749. Bis zum 1. Juli 1949 kletterte die Zahl der Todesfälle für die ­kasachische ASSR sogar auf über 100.000 Menschen an, was einem knappen Viertel aller Deportierten entsprach. Dies geht aus einem vor dem 1. Juli 1949 datierten Bericht hervor: Ebd., S. 798 – 799. 7 Bericht des Innenministers der kirgi­sischen ASSR, 18. Juli 1946, in: Ebd., S. 774 – 789. 8 Belozërov, Ėtničeskaja karta, S. 94. 9 Pohl, „It cannot be that our graves will be here“, S. 405. 10 V. A. Kozlov, Sindrom vozvraščenija, in: Ders. u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 837 – 862, hier S. 845.

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dennoch Tausende auf eigene Faust in die Heimat zurückströmten, beschloss das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei am 24. November 1956, den Völkern die Rückkehr zu erlauben und die nationalen Territorien wiederherzustellen.11 Die Präsidien der Obersten Räte der UdSSR und der RSFSR bestätigten diesen Beschluss am 9. Januar 1957.12 Bis Anfang der 1960er-Jahre kehrte die Mehrheit der Vertriebenen in den Kaukasus zurück. Mehrere Zehntausend Tsche­tschenen und Inguschen aber blieben in Zentralasien, wo sie eine neue Heimat fanden.13 Die Jahre im Exil hatten die Menschen verändert. Erstmals kam der größte Teil der tsche­tschenischen Kinder, darunter nun auch viele Mädchen, in den Genuss einer welt­lichen Ausbildung und erlernte die rus­sische Sprache, ­welche die meisten vorher nicht beherrschten (die nordkauka­sischen Sprachen wurden an den staat­lichen Schulen im Exil nicht unterrichtet).14 Erstmals arbeiteten Männer und Frauen in staat­lichen Betrieben und wurden mit modernen Techniken der Landwirtschaft und den Arbeitsmechanismen in der Industrie vertraut gemacht. Im öffent­lichen Alltag des Exils verschwanden zwar diejenigen Attribute und Manifestationen, w ­ elche die kauka­sischen und islamischen Traditionen und Lebensweisen auszeichneten. Gleichzeitig erfuhr im Leben fern der Heimat das Bewusstsein um die Volkszugehörigkeit aber eine Stärkung. Im engen Kreis der Familie versuchten die Menschen ihre Traditionen und ihre Religion zu bewahren. Dagegen wuchsen Misstrauen und Ablehnung gegenüber Russland und dem sowjetischen Staat, dem viele Menschen die Schuld an ihrer Situation zuschrieben. Als in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre Tsche­tschenen und Inguschen in Massen in den Kaukasus zurückkehrten, manifestierte sich dies auch in zum Teil heftigen ethnischen Auseinandersetzungen. So kam es in dieser Zeit nament­lich in der Stadt Groznyj wiederholt zu Schlägereien zwischen Tsche­tschenen und städtischen Bewohnern, die manchmal in größere Unruhen ausarteten, so etwa am 26. August 1958, als Groznyj nach dem Mord an einem Russen von schweren, pogromartigen Ausschreitungen erschüttert wurde, in deren Folge zahlreiche Menschen getötet und verletzt wurden.15

11 Der Beschluss ist enthalten in: RGANI, F. 89, Op. 61, D. 13, Ll. 1 – 7. Siehe zur administrativen Gliederung des Kaukasus nach 1957 auch Karte 13 in ­diesem Buch. 12 Kozlov, Sindrom vozvraščenija, S. 845. Das Dekret des Präsidiums der RSFSR vom 9. Januar 1957 ist publiziert in: Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 875 – 876. 13 Bis Ende 1961 kehrten 469.000 Tsche­tschenen und Inguschen in die tsche­tscheno-inguschische Republik zurück; 28.000 Tsche­tschenen migrierten in ihre ursprüng­liche Heimat in Dagestan, 8000 Inguschen kehrten nach Nordossetien zurück; 56.000 Tsche­tschenen und Inguschen blieben in Zentralasien: Belozërov, Ėtničeskaja karta, S. 95. 14 Birgit Brauer, Chechens and the Survival of their Cultural Identity in Exile, in: Journal of Genocide Research 4 (2002), S. 387 – 400, hier S. 393; Kozlov u. a. (Hg.), Vajnachi i imperskaja vlastʼ, S. 764. 15 Kozlov, Sindrom vozvraščenija, S. 860; ders., Massovye besporjadki v SSSR pri Chruščëve i Brežneve (1953-načalo 1980-ch gg), Novosibirsk 1999, S. 120 – 154.

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Verschiedent­lich erlebte auch das Land Kleinkonflikte zwischen Rückkehrern und Menschen, die nach den Vertreibungen aus den Nachbarrepubliken neu angesiedelt worden waren.16 Diese Konflikte resultierten daraus, dass die Rückkehr schlecht organisiert war und bereits 1957/58 weit mehr Tsche­tschenen und Inguschen in die Heimat zurückreisten als geplant. Tausende von Awaren, Darginern und Laken, die nach der Vertreibung der Tsche­tschenen in die entleerten Gegenden um­­gesiedelt worden waren, mussten nun wieder in ihre ursprüng­lichen Siedlungsgebiete in Dagestan zurückkehren.17 Es kam auch deshalb zu Siedlungskonflikten, weil die Grenzen der wieder errichteten nationalen Körperschaften nicht in jedem Fall mit denjenigen der ursprüng­lich bestehenden Territorien zusammenfielen. Es waren diese ungelösten Grenzfragen, die auch danach wiederholt zu Spannungen unter den Völkern führen sollten, um schließ­lich in den frühen 1990er-Jahren in zum Teil gewaltsame Konflikte auszuarten. Im Nordkaukasus entlud sich der blutigste Konflikt dieser Art 1992 zwischen Inguschen und Osseten um den ­Prigorodnyj-Rajon. Er kostete rund 550 Menschen das Leben. In dessen Folge wurden fast alle Inguschen aus dem Gebiet vertrieben.18 Im Gegensatz zur konfliktreichen Heimkehr der Tsche­tschenen und Inguschen verlief die Rückführung anderer Nordkaukasusvölker ohne größere Probleme. So war etwa die Rückkehr der Balkaren nicht nur besser organisiert; auch sollen die Menschen bei ihrer Ankunft am Bahnhof von den anderen dort lebenden Einwohnern, darunter Russen, Kabardiner und Bergjuden, willkommen geheißen ­worden sein.19 Bis Anfang der 1960er-Jahre schien sich die Situation jedoch auch in der tsche­tscheno-inguschischen Republik weitgehend stabilisiert zu haben. Dazu beigetragen hatte wohl auch das Engagement des sowjetischen Staates mit seinen Anfang der 1960er-Jahre initiierten Programmen zur Förderung von Wirtschaft und Bildung.20 Insgesamt erlebte die Republik einen Aufschwung, der sich äußer­ lich auch in einer regen Bautätigkeit in Städten wie Groznyj, in einer verstärkten Industrialisierung und in der Modernisierung der Infrastruktur bemerkbar machte. In den langen Jahren der Amtszeit von Leonid Ilʼič Brežnev (er lebte von 1907 bis 1982 und hatte von 1964 bis zum seinem Tod den Posten des Parteichefs der KPdSU inne) stellte sich erstmals eine gewisse Normalität im Alltag der Menschen ein, was

16 Rodina (2000) H. 1 – 2, S. 186 – 187. 17 Valerii A. Tishkov, Chechnya. Life in a War-Torn Society, Berkeley 2004, S. 33. 18 Der Konflikt forderte bis zum Herbst 1992 rund 550 Menschenleben. Rund 100 Personen wurden in anschließenden Auseinandersetzungen getötet, die sich noch bis in die Mitte der 1990er-Jahre hinzogen: Svante Cornell, Small Nations and Great Powers. A Study of Ethnopolitical Conflict in the Caucasus, Richmond 2001, S. 251 – 262. 19 Marshall, Caucasus, S. 288 – 289. 20 Kozlov, Sindrom vozvraščenija, S. 861 – 862.

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sich bei Tsche­tschenen und Inguschen auch in einer überdurchschnitt­lich hohen Geburtenrate bemerkbar machte.21 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tsche­tschenen und Inguschen in der späten Sowjetzeit gegenüber der rus­sischen Bevölkerung diskriminiert blieben. Die Tsche­tschenen stellten gemäß der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 zwar 57,8 Prozent der Bevölkerung der Republik (der Anteil der Inguschen machte 12,9 Prozent aus, derjenige der Russen 23,1 Prozent), doch nur rund ein Viertel von ihnen lebte in Städten. Die Tsche­tschenen wiesen damit im Vergleich zu den anderen größeren nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus den tiefsten Anteil an der städtischen Bevölkerung auf (dagegen lebten 1989 35,4 Prozent der Inguschen, 43 Prozent der Kabardiner, 59,2 Prozent der Balkaren und 63,9 Prozent der ­Osseten in Städten).22 Nach wie vor waren es Russen, ­welche die Mehrheit der höheren Ämter im Regierungs- und Parteiapparat besetzten und die führenden Positionen in der Wirtschaft und den Industriebetrieben einnahmen. Erst 1989 wurde mit Doku Gapurovič Zavgaev erstmals ein Tsche­tschene auf den Posten des ­Ersten Partei­ sekretärs der Republik berufen.23 Dagegen waren die Tsche­tschenen eher als Arbeiter und in der Landwirtschaft tätig, hatten niedere Beamten­funktionen inne und lebten mehrheit­lich in den weniger schmucken Außenbezirken der Stadt ­Groznyj und in Dörfern.24 Die Industrie boomte, doch Tsche­tschenen waren dort noch immer kaum tätig. Unter den rund 50.000 Arbeitern, ­welche die beiden größten ­petrochemischen Unternehmungen der Republik, Grozneftʼ und Orgsintes, beschäftigten, befanden sich ledig­lich einige Hundert Tsche­tschenen.25 Weil die Behörden der Republik viel zu wenig taten, um Tsche­tschenen in die Industrie einzubeziehen, hatte dies zur Folge, dass Zehntausende junger tsche­tschenischer Männer in den 1980er-Jahren ohne Anstellung waren. Viele wanderten in dieser Zeit nach Moskau und in andere Städte der UdSSR ab, um ein Auskommen zu finden. Manche schlossen sich kriminellen Banden an und verdienten ihr Geld mit illegalen Aktivitäten – und es war nament­lich diese Generation junger Männer, die später den Kern des bewaffneten Widerstands gegen Russland bilden sollte.26 Zwar wies die Statistik eine seit den 1960er-Jahren stark steigende Zahl von Tsche­tschenen aus, die über einen Schulabschluss verfügten. Dennoch blieb die

21 Dunlop, Russia Confronts Chechnya, S. 86. 22 Der Anteil der städtischen Bevölkerung im gesamten Nordkaukasus lag 1989 bei 57 Prozent: Belozërov, Ėtničeskaja karta, S. 237, 247; Tishkov, Chechnya, S. 41. 23 Cornell, Small Nations, S. 203. 24 Georgi M. Derluguian, Bourdieuʼs Secret Admirer in the Caucasus. A World-System Biography, Chicago 2005, S. 244. 25 Tishkov, Chechnya, S. 41. 26 Ebd.

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Ausbildung gerade in den länd­lichen Gebieten oft mangelhaft. Es fehlte an Lehrern und viele Kinder besuchten die Schule unregelmäßig. Weil die rus­sische Sprache an den höheren Bildungseinrichtungen dominierte, waren Tsche­tschenen gegenüber rus­sischen Schülern aufgrund ihrer schlechteren Kenntnisse des Rus­sischen im Nachteil.27 Bis 1989 verfügten nur gerade rund 5 Prozent der Tsche­tschenen über einen höheren Schulabschluss; 15 Prozent hatten zu ­diesem Zeitpunkt offenbar keine Schulbildung.28 Die Ergebnisse der Volkszählung von 1989 zeigen, dass unter allen autonomen Gebieten und Republiken der UdSSR Tsche­tscheno-Inguschetien das niedrigste Bildungsniveau auswies.29 Gerade in Städten wie Groznyj hatten viele Tsche­tschenen das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein.30 Dabei wurde ihr Unmut insbesondere dadurch verstärkt, dass während der gesamten späten Sowjetzeit über die Ungerechtigkeit, die den Tsche­tschenen und anderen Nordkaukasusvölkern durch die staat­lich angeordnete Deportation widerfahren war, nicht offen gesprochen werden durfte. Nicht nur wurde an ­dieses Ereignis mit keiner einzigen Gedenktafel erinnert; auch existierte in der späten Sowjetzeit nicht ein Denkmal, das tsche­tschenischen oder ­inguschischen Helden der Revolution und des Bürgerkriegs gewidmet war. Dagegen blieb die Statue General Ermolovs in Groznyj auch nach der Rückkehr der Nordkaukasier aus dem Exil unangetastet.31 Sowjethistoriker, die sich mit der Geschichte Tsche­ tscheno-Inguschetiens befassten, verschwiegen die Tragödie der Deportation weitgehend. Nur in einer kurzen Phase in den frühen 1960er-Jahren war es Historikern gestattet, mindestens die Tatsache der Deportation und die Auflösung der tsche­ tscheno-inguschischen Republik zu erwähnen. Über die tatsäch­lichen Hintergründe der Vertreibung und die große Not der Menschen ist jedoch auch in den Texten dieser Historiker nichts zu lesen.32 Bereits in der späten Sowjetzeit war es die Erinnerung an die Geschichte, an der sich der Unmut der Tsche­tschenen entzünden sollte. Als Anfang der 1980er-Jahre in Groznyj unter der Ägide des rus­sisch-stämmigen Ersten Parteisekretärs der Republik, M. A. Suslov, Feier­lichkeiten stattfanden, um des 200-jährigen „fried­lichen Anschlusses“ Tsche­tscheniens an Russland zu gedenken, reagierte eine Gruppe

27 Ebd., S. 45. 28 Cornell, Small Nations, S. 201 – 205. 29 Šnirelʼman, Bytʼ alanami, S. 339. 30 Tishkov, Chechnya, S. 52. 31 Šnirelʼman, Bytʼ alanami, S. 318. 32 So schob etwa der Historiker V. I. Filʼkin, einer der wenigen, der die Deportation in seiner Pub­ likation von 1960 erwähnt, die Schuld pauschal Berija zu, dem „Feind der Partei und des Volks“, der in der Atmosphäre der Kriegssituation und eines übertriebenen Persön­lichkeitskultes um die Figur von Stalin die Republik der Tsche­tschenen und Inguschen auflöste und die Völker ­deportieren ließ: Filʼkin, Čečeno-Ingušskaja partijnaja organizacija, S. 143.

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Intellektueller um den tsche­tschenischen Historiker und späteren Archivvorsteher der Republik Tsche­tschenien, Magomed Muzaev, mit einer Protestnote. Darin verurteilte die Gruppe die Auslegung der Geschichte, wie sie seit den frühen 1970er-Jahren in den Geschichtsbüchern propagiert wurde, als Geschichtsfälschung. Dafür wurden Muzaev und andere Teilnehmer der Aktion von der ört­lichen Geheimpolizei verfolgt, mit einem Rede- und Publikationsverbot belegt und ihrer Ämter enthoben.33 Die Situation änderte sich erst in den späten 1980er-Jahren mit den vom ­sowjetischen Parteisekretär Michail Sergeevič Gorbačëv eingeleiteten Libera­lisierungsmaßnahmen. Im Rahmen der neuen Offenheit stellte die Abrechnung mit der stalinistischen Vergangenheit ein zentrales Anliegen der Reformen Gorbačëvs dar. Am 14. November 1989 erklärte der Oberste Rat der UdSSR die gewaltsame Vertreibung von Völkern, darunter nament­lich der „Balkaren, Inguschen, Kalmyken, Karatschajer, Krimtataren, Deutschen, meschetinischen Türken und Tsche­tschenen“, als „illegalen und krimi­nellen“ Akt des „barbarischen“ stalinistischen Regimes.34 Der Oberste Rat der RSFSR unter ihrem Vorsitzenden Boris Nikolaevič Elʼcin (1931 – 2007) folgte den Unions­beschlüssen und erklärte in Artikel 2 des Gesetzesbeschlusses vom 26. April 1991 die Vertreibungen unter Stalin sogar explizit als „Politik der Verleumdung und des Genozids“.35 Zeitungsartikel berichteten bereits in den späten 1980er-Jahren von den Verbrechen Stalins.36 Anfang der 1990er-Jahre erschienen erste Beiträge in Fachzeitschriften, die sich auf Geheimdienstakten aus den sowjetischen Archiven stützen.37 Nicht nur ganze Volksgruppen, sondern auch einzelne Menschen, die in den Stalin­ jahren politischen Repressionen ausgesetzt gewesen waren, wurden reha­bilitiert. Bis 1990 waren dies bereits 800.000 Personen, darunter Tausende Angehöriger nordkauka­ sischer Nationalitäten.38 Moskau beteiligte sich Anfang der 1990er-Jahre auch vor 33 Dunlop, Russia Confronts Chechnya, S. 82; Timur Muzaev, Čečenskaja Respublika Ičkerija. Obščij obzor, Moskva 1997, http://igpi.ru/monitoring/1047645476/oct_97/chechen.html [8.2.2013]. 34 Die Erklärung findet sich in: N. F. Bugaj u. a. (Hg.), Reabilitacija narodov Rossii. Sbornik dokumentov, Moskva 2000, S. 42. 35 Das Gesetz „O reabilitacii repressirovannych narodov“ vom 26. April 1991 ist publiziert in: Ebd., S. 74 – 76. 36 Glyn Williams, Commemorating, S. 119 – 121. 37 Dabei war es der Historiker Nikolaj Bugaj, der die Geschichte der Deportation der Tsche­ tschenen und Inguschen als Erster auf Grundlage sowjetischer Archivdokumente untersuchte und die Resultate 1990 publizierte: Bugaj, Pravda, S. 32 – 44. Eine erste kommentierte Dokumentensammlung zu den Deportationen unter Stalin erschien 1992: N. F. Bugaj, Iosif Stalin – Lavrentiju Berii. „Ich nado deportirovat’“. Dokumenty, fakty, kommentarii, Moskva 1992. Zur historiographischen Aufarbeitung der Geschichte der Deportation ab den späten 1980er-Jahren: Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 5 – 52. Eine Eigentüm­lichkeit dieser frühen Publikationen ist darin zu sehen, dass erstmals zwar Dokumente aus bislang streng geheimen Beständen eingesehen und publiziert werden konnten, die entsprechenden Angaben zum genauen Standort der jeweiligen Quelle im Archiv jedoch oft fehlen. 38 Bugaj / Gonov, Kavkaz, S. 36.

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Ort an der konkreten Aufarbeitung der Tragödie. Die von Stalin unterdrückten Nord­ kaukasusvölker erhielten Anfang der 1990er-Jahre Mittel aus der föderalen Staatskasse für die Errichtung von Denkmälern zugesprochen, die an die Opfer der Deportation erinnern sollten. Auch unterstützte Moskau die Produktion von Filmen und die Publikation von Sammelbänden, die Informationen zur Deportation der einzelnen Völker zugäng­lich machen und verbreiten sollten.39 Von allen Nordkaukasusvölkern ließ der Kreml in dieser Zeit nament­lich den Inguschen, die sich im Oktober 1991 von den Tsche­tschenen getrennt hatten und fortan eine eigene Republik bildeten, finanzielle Unterstützung zukommen.40 In den betroffenen Republiken des Nordkaukasus fand die Politik der Offenheit kräftigen Widerhall. In Tsche­tschenien wurde die Deportation nun zu einem vieldiskutierten Thema, das in Erzählungen, aber auch musika­lisch und in Gedichten verarbeitet wurde.41 Zu jenem Zeitpunkt hätte durchaus die Chance für eine echte Aussöhnung mit Russland und der Geschichte bestanden. Dass von allen Völkern des Nordkaukasus einzig Tsche­tscheniens Weg im Jahr 1994 in eine derart heftige, direkte mili­ tärische Auseinandersetzung mit Russland münden sollte, war damals nicht vorhersehbar. Erkennbar war aber bereits in den späten 1980er-Jahren, dass ein Teil der national-orientierten tsche­tschenischen Elite eine konfrontative Haltung gegenüber Russland einnahm. Der 23. Februar, der Tag der Vertreibung, den die Führungen Tsche­tscheniens und Inguschetiens zum offiziellen Volkstrauertag erklärten,42 wurde von der nationale Elite Tsche­tscheniens nicht als ein isoliertes Ereignis betrachtet, sondern in den größeren Zusammenhang eines seit Jahrhunderten währenden Konflikts mit Russland gestellt. Mit ­diesem Narrativ stellte sich Tsche­tschenien gegen die sowjetische Propaganda der Völkerfreundschaft und der fried­lichen Angliederung Tsche­tscheniens an Russland. Zum Ausdruck kam dies etwa darin, dass Ende 1989 ein tsche­tschenischer Volkskongress forderte, dem rus­sisch-stämmigen Historiker V. B. Vinogradov, dem wichtigsten Vertreter der These der fried­lichen Angliederung, alle akademischen Titel und die Staatsbürgerschaft der Republik abzuerkennen. Vor dem Haus Vinogradovs versammelten sich Demonstranten, die ihn als „Feind des tsche­tschenischen Volks“ beschimpften.43

39 Ebd., S. 37. 40 Der Oberste Rat der RSFSR machte die Trennung Inguschetiens von Tsche­tschenien und die Bildung einer eigenständigen inguschischen Republik per Gesetz vom 4. Juni 1992 rechtskräftig. Der Text findet sich in: Bugaj u. a. (Hg.), Reabilitacija, S. 117 – 118. Die Unterstützung Inguschetiens durch Russland war insofern wohl kein Zufall, als Moskau hoffte, dadurch eine ähn­liche Entwicklung wie in Tsche­tschenien zu vermeiden. 41 Tishkov, Chechnya, S. 30. 42 Glyn Williams, Commemorating, S. 121. 43 Marshall, Caucasus, S. 296 – 297.

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Das Narrativ der langen Widerstandstradition lässt sich zwar schon vor der Deportation, etwa in den Schriften Hasan Israilovs aus den frühen 1940er-­Jahren, deut­lich erkennen.44 Die These des Dauerkonflikts in Form eines 300- oder gar 400-jährigen rus­sisch-tsche­tschenischen Kriegs war jedoch insofern neu, als hier erstmals radikal mit denjenigen historischen Erinnerungslinien gebrochen wurde, w ­ elche die tsche­tschenische Geschichte auch als Teil der rus­sländischimperialen und sowjetischen verstanden, indem manchmal nicht ohne einen gewissen Stolz auf die Verdienste tsche­tschenischer Offiziere in der Zarenarmee oder auf die bedeutende Rolle von Tsche­tschenen für den Sieg der Bolschewiki im rus­sischen Bürgerkrieg verwiesen wurde.45 Damit wurden aber auch die Grundlagen für das Weiterbestehen von Tsche­tschenien innerhalb des föderalen Staatsverbandes der Russländischen Föderation demontiert. Denn das Narrativ des Dauerkonflikts wurde gleichsam zum Symbol für Tsche­tscheniens Drang nach Unabhängigkeit und sollte den anschließenden bewaffneten Widerstand gegen Russland legi­timieren. Zum lautstarken Führer der Unabhängigkeitsforderungen, wie sie damals nicht nur die Tsche­tschenen, sondern auch viele andere Völker der Sowjetunion in der Atmosphäre des allgemeinen nationalen Aufbruchs Ende der 1980er-Jahre erhoben, machte sich ab dem Frühjahr 1990 Džochar Dudaev, ein ehemaliger Offizier der sowjetischen Luftstreitkräfte, der sich gewaltsam an die Macht putschte und im Oktober 1991 in umstrittenen Wahlen zum ersten Präsidenten der sogenannten Tsche­tschenischen Republik Ičkerija gewählt wurde.46 Als das Parlament der Russländischen Föderation die Rechtmäßigkeit der Wahl Dudaevs anzweifelte, stellte dieser nicht nur die Jurisdiktion Russlands über Tsche­tschenien infrage, sondern verlangte als ersten Schritt die Unterzeichnung eines Friedensvertrags zwischen Russland und Tsche­tschenien, um den, wie er es nannte, „300-jährigen Krieg zwischen dem Russländischen Imperium und dem tsche­tschenischen Volk“ zu beenden.47 Mit der zunehmenden Spannung zwischen Russland und Tsche­tschenien verschärfte sich auch Dudaevs Rhetorik. Er bezeichnete die Deportation der Nordkaukasier unumwunden als Akt eines Genozids, der 400.000 oder sogar 600.000 Menschenleben gefordert habe.48 Dabei stellte Dudaev diesen Akt in eine lange Liste von Verbrechen, die sich der rus­sisch dominierte Staat 44 Siehe dazu Kapitel 11 in ­diesem Buch. 45 Tishkov, Chechnya, S. 21. 46 Zu Dudaev und seinem politischem Aufstieg in Tsche­tschenien: James Hughes, Chechnya. From Nationalism to Jihad, Philadelphia 2007, S. 21 – 29. 47 Dudaev zitiert bei: Marshall, Caucasus, S. 297 – 298. 48 Die Zahl 400.000 nennt Dudaev in seiner vermut­lich Anfang 1995 verfassten Schrift: Dudaev, Koncepcija, S. 2. Die Angabe von 600.000 Toten machte Dudaev anläss­lich seiner Rede zum 50-jährigen Gedenken an die Opfer der Deportation am 23. Februar 1994 in Groznyj. Die Rede Dudaevs findet sich auf: http://www.youtube.com/watch?v=_ZiF0k7XPJM [8.2.2013].

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nicht erst unter Stalin, sondern seit dem erstmaligen militärischen Auftreten Russlands im 16. Jahrhundert habe ­zuschulden kommen lassen. Als „maßgeb­liche Quelle der Gewalt“ am tsche­tschenischen Volk identifizierte Dudaev denn auch den „Russismus“ und dessen „menschenverachtende Ideologie“.49 Die Loslösung Tsche­tscheniens von Russland, ­welche der Erste All­tschetschenische Kongress noch in der Endphase der Sowjetunion Ende November 1990 im Grundsatz beschlossen hatte,50 war dieser Deutung entsprechend ein legitimer Befreiungsakt von einer als unrechtmäßig angesehenen „Okkupation“ Tsche­tscheniens, zunächst durch Russlands Militär in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, danach durch den „russländischen Bolschewismus“ 1920.51 In dieser aufgeheizten Atmosphäre erwies sich die Entscheidung der Führung unter dem damaligen Präsidenten Elʼcin, Tsche­tscheniens Weg in die Unab­hängigkeit mit brachialer Militärgewalt zu unterbinden, als schwerwiegender Fehler. Denn als ob die damalige dominante tsche­tschenische Interpretation der Geschichte noch eine weitere Bestätigung gebraucht hätte, ordnete Moskau im Dezember 1994 die militärische Invasion an und ließ Zehntausende von Soldaten in die kleine Kaukasus­republik einmarschieren.52 Dass sich die Tsche­tschenen jetzt wie auch in den Jahrhunderten zuvor so entschlossen zur Wehr setzten, erklärte Dudaev in einem Interview einmal damit, dass das tsche­tschenische Volk nicht für Sklaverei geschaffen [sei]. Aufgrund der geographischen Situation des Kaukasus besteh[e] kein Zweifel, dass [diese Region] den Ursprung der Zivilisation der Menschheit [darstelle]. Das mentale Potenzial, das mora­lische Potenzial sowie das Potenzial an natür­lichen Ressourcen – all dies verunmög­lich[e] es den Tsche­tschenen, dem tsche­tschenischen Volk als einer ethnischen Gruppe des Kaukasus, Sklaven zu sein.53

Die anfäng­lichen Erfolge der Tsche­tschenen über die Armee Russlands hatten allerdings nicht nur mit der Entschlossenheit des Widerstands zu tun, sondern hingen auch damit zusammen, dass die sowjetischen Truppen bei ihrem Rückzug aus den Garnisonen Tsche­tscheniens bis 1992 zahlreiche Waffen und große Munitionsbestände

49 Dudaev, Koncepcija, S. 2. 50 Die Unabhängigkeitserklärung erfolgte anläss­lich des Ersten Alltsche­tschenischen Kongresses vom 23.–25. November 1990. Tsche­tschenien erklärte seinen Austritt aus der RSFSR und erhob damit Anspruch auf einen gleichberechtigen Status als Unionsrepublik innerhalb der Sowjetunion. An der zweiten Sitzung des tsche­tschenischen Volkskongresses vom 8.–9. Juni 1991 erklärte sich Tsche­tschenien schließ­lich zur souveränen Republik und stellte sich damit außerhalb Russlands: Šnirelʼman, Bytʼ alanami, S. 342 – 343. 51 Dudaev, Koncepcija, S. 2. 52 Zum ersten Tsche­tschenienkrieg: Gall / Waal, Chechnya; Lieven, Chechnya. 53 Džochar Dudaev, Video-Interview [ohne Datum, vermut­lich 1995], http://www.youtube.com/ watch?v=5WHEA55YWUM [15.2.2013].

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Geschichte, Erinnerung und Krieg

hinterlassen hatten, die in die Hände der Armee Dudaevs fielen und ihr überhaupt ermög­lichten, den Angriff Russlands zu kontern.54 Nach dem Abschluss eines Waffenstillstands im August 1996 und dem Rückzug der föderalen Truppen schlitterte Tsche­tschenien in eine chaotische, von poli­ tischen Richtungskämpfen und Bandenkriegen geprägte Phase, w ­ elche die kurze Zeit seiner faktischen staat­lichen Unabhängigkeit ausmachte. Diese Phase wurde zwei Jahre später beendet, als Russland im August 1999 erneut mit Truppen inter­ venierte. Auslöser war der Einfall tsche­tschenischer Islamisten unter dem Kommando des Rebellenkommandanten Šamil Basaev (1965 – 2006) in dagestanische Grenz­dörfer.55 Nach langen und verlustreichen Kämpfen erklärte Russlands Prä­ sident Putin am 31. Januar 2006 die „Anti-Terror-Operation“ in Tsche­tschenien für offiziell be­­endet.56 Der Krieg setzte sich danach allerdings unvermindert fort und am 16. April 2009 erklärte Putin erneut das Ende der Militäroperation, auch wenn zu ­diesem Zeitpunkt noch immer nicht alle Guerillakämpfer besiegt waren.57 Doch während sich in Tsche­tschenien die Situation allmäh­lich zu stabilisieren begann, hatte der Konflikt längst auf die Nachbarrepubliken ausgegriffen. Nament­lich Inguschetien und Dagestan – punktuell aber auch Kabardino-Balkarien und andere Nordkaukasusrepubliken – bildeten zusammen mit Tsche­tschenien nun eine einzige große nordkauka­sische Krisenzone, in der es fast täg­lich irgendwo zu Terrorakten, Bandenüberfällen und Auseinandersetzungen zwischen staat­lichen Sicherheits­ organen und bewaffneten Untergrundkräften kam.58 Die beiden Kriege, die Russland zwischen 1994 und 1996 und erneut nach 1999 gegen Tsche­tschenien führte, forderten nicht nur Zehntausende von Menschen­leben und trieben Hunderttausende in die Flucht, sondern gingen in Tsche­tschenien auch mit der Vernichtung einer eigenständigen nationalen Identität und Kultur einher. Insbesondere im ersten Tsche­tschenienkrieg zerstörte die Armee gezielt Archive, Bibliotheken, Museen und Denkmäler. Besonders verheerend war die Zerstörung

54 Marshall, Caucasus, S. 299. 55 Stellvertretend für die umfassende Literatur zu den beiden Tsche­tschenienkriegen: Dmitri V. Trenin / Aleksei V. Malashenko, Russiaʼs Restless Frontier. The Chechnya Factor in post-Soviet Russia, Washington, DC 2004. 56 Vladimir Putin, Stenogramma press-konferencii dlja rossijskich i inostrannych ­žurnalistov, Moskva, Kremlʼ, Kruglyj zal, 31. Januar 2006, http://archive.kremlin.ru/text/­appears/2006/01/100848.shtml [8.2.2013]. Die Truppen Russlands blieben aber auch danach in Tsche­tschenien und im Nordkaukasus stationiert und führten wiederholt Militäroperationen gegen Aufständische durch. 57 Russia „Ends Chechnya Operation“, BBC News, 16. April 2009, http://news.bbc.co.uk/2/hi/ europe/8001495.stm [20.1.2011]. 58 Jeronim Perović, Am Abgrund. Fehlentwicklungen im Nordkaukasus, in: Osteuropa 56 (2006) H. 7, S. 33 – 53; Uwe Halbach, Russlands inneres Ausland. Der Nordkaukasus als Notstandszone am Rande Europas. SWP-Studien S 27, Berlin 2010.

Ausblick in die Gegenwart

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des tsche­tschenischen Nationalarchivs: 80 Prozent der darin auf­bewahrten Dokumente, darunter auch die Aufzeichnungen der Deportierten, wurden infolge eines Angriffs der Luftwaffe Russlands Opfer der Flammen.59 Aus Sicht der Betroffenen war das rücksichtslose Vorgehen Russlands denn auch einzig vergleichbar mit dem Terror der Stalinzeit. Viele Tsche­tschenen sahen sich nun erst recht in ihrer Meinung bestärkt, dass die tsche­tschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen als Ausbruch des aufgestauten Zorns eines Volks anzusehen waren, das „die Macht loswerden [wollte], die es jahrhundertelang drangsaliert, unterdrückt und beraubt hatte“, wie dies etwa der tsche­tschenische Schriftsteller Sultan Jašurkaev, der den ersten Tsche­ tschenienkrieg in Groznyj miterlebte, in seinen Erinnerungen zum Ausdruck bringt.60 Ohne die Macht bestimmter geschicht­licher Mythen lässt sich der Weg in die rus­sisch-tsche­tschenische Konfrontation der 1990er Jahre kaum verstehen. Mythen sind nicht einfach als falsche oder gar phantastische Erzählweisen zu betrachten, sondern sie konstituieren sich durch die Bedeutungen, die Personen und Gesellschaften ihnen zuschreiben. Der Mythos ist, in den Worten von Roland Barthes, eine Rede, ein System der Kommunikation, das immer eine klare Botschaft enthält.61 Mythen machen noch keine Kriege. Sie sind aber eine zentrale Voraussetzung dafür, dass sich Gesellschaften für Kriege mobilisieren lassen. Die Souveränisierungswelle, ­welche die nichtrus­sischen Ränder der Sowjetunion Ende der 1980er- / Anfang der 1990er-Jahre erfasste, sahen die Tsche­tschenen, wie andere Völker auch, als Mög­lichkeit, die sie für sich zu n­ utzen suchten. Doch ohne den Mythos des tsche­ tschenisch-rus­sischen Dauerkonflikts, wie er erstmals in der radikalen Variante Dudaevs propagiert wurde, hätten sich die Tsche­tschenen nicht in d ­ iesem Maß für das Ziel der Unabhängigkeit und den Krieg gegen Russland gewinnen lassen.62 Dass der Mythos des Dauerkonflikts Anfang der 1990er-Jahre gerade in Tsche­ tschenien einen gesellschaft­lichen Nährboden fand, lässt sich somit kaum mit „objektiven“ Gründen wie der Deportation oder den wiederholten Konflikten und Aufständen unter russländisch-imperialer und sowjetischer Herrschaft erklären. Denn im Nordkaukasus können viele Völker auf eine Tradition des bewaffneten Widerstands gegen Russland zurückblicken, und nicht nur die Tsche­tschenen haben während der Zaren- und Sowjetzeit traumatische Erfahrungen in Form von

59 Šnirelʼman, Bytʼ alanami, S. 349 – 351. 60 Sultan Jaschurkaew, Auf Splitter gekratzt. Grosny 1995. Tagebuch aus Tsche­tschenien. Übersetzt von Marianne Herold und Ruslan Bazgiew, Klagenfurt 2008, S. 47. 61 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 251. 62 Der US-Politologe Stuart Kaufman sieht in Mythen eine relevante Grundlage für den Ausbruch ethnischer Kriege; sie erst schaffen den Nährboden, um die Bevölkerung gegen einen Feind mobilisieren zu können: Stuart J. Kaufman, Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War, Ithaca 2001, S. 30 – 31, 34.

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Geschichte, Erinnerung und Krieg

Umsiedlungen und Deportationen gemacht. Auch gab es im Nordkaukasus in den 1990er-Jahren zahlreiche weitere ethnische Konflikte und Spannungen, die ohne das Vorhandensein bestimmter Geschichtsmythen nicht denkbar gewesen wären. Eine Voraussetzung dafür, dass es nur im Fall von Tsche­tschenien zu einer militärischen Konfrontation mit Russland gekommen ist, ist somit auch darin zu sehen, dass zumindest ein Teil der Bevölkerung bereit war, dem Mythos des Dauerkonflikts mit Russland, der über charismatische Führerfiguren wie Dudaev transportiert wurde, eine derart große Symbolkraft zuzugestehen.63 Gerade in Umbruchsphasen sind Mythen umkämpft, sie werden für politische Zwecke manipuliert, mit neuen Deutungen versehen und verändern sich über die Zeit. Das zeigen auch die jüngsten Entwicklungen in Tsche­tschenien. Ramzan Kadyrov, der die Republik seit 2007 mit eiserner Hand und von Russlands Gnaden regiert, hat die Tragödie der Deportation zwar nie offen abgestritten. Er ­vermeidet es aber, bei der Frage nach Schuld und Verantwortung konkrete Gründe oder Personen zu nennen.64 Am Gedenken an die Deportation hält zwar auch Kadyrov nominell fest, doch hat er im Frühjahr 2011 kurzerhand angeordnet, das Datum vom 23. ­Februar auf den 10. Mai zu verschieben. Neu soll der Deportation im Rahmen eines all­gemeinen „Tags der Erinnerung und der Scham der Völker Tsche­tscheniens“ gedacht werden. Erinnert werden soll an d­ iesem Tag aber nicht nur an das Leid der Tsche­tschenen, sondern vor allem an Kadyrovs am 9. Mai 2004 ermordeten Vater, Achmat Kadyrov (1951 – 2004). Dieser bekämpfte wie alle Tsche­tschenen im ersten Krieg zunächst die föderalen Truppen, wechselte später aber die Seite, um dann von Moskau als Oberhaupt von Tsche­tschenien eingesetzt zu werden. In dieser Lesart beginnt die Geschichte Tsche­tscheniens als autonome Republik nicht mit Džochar Dudaev, sondern mit Achmat Kadyrov. Weil dessen Todestag mit dem nationalen Feiertag vom 9. Mai, dem „Tag des Sieges über den Faschismus“, kollidierte, ordnete Ramzan an, den Gedenktag auf den 10. Mai zu verlegen.65

63 Dies bedeutet nicht, dass diese Komponente nicht auch in anderen Konflikten eine Rolle gespielt hätte. So sahen etwa die Abchasen den Krieg gegen Georgien Anfang der 1990er Jahre ebenfalls als eine Abwehr des imperialen geor­gischen Anspruchs. 64 So meinte Kadyrov in einer Ansprache an die Bevölkerung im Rahmen des neuen, vom ihm ein­ geführten „Tags der Erinnerung und der Scham der Völker Tsche­tscheniens“ am 10. Mai 2011: „Es ist bekannt, dass es immer irgendwelche Leute sind, die durch Fehler oder vorsätz­liches Handeln Verantwortung für eine s­ olche Volkstrauer tragen. Uns geht es heute aber nicht darum, irgend­welche Namen zu nennen.“ Zit. aus: Ramzan Kadyrov, Obraščenie Glavy Čečenskoj Republiki R. A. Kadyrova v svjazi s Dnëm pamjati i skorbi narodov ČR, [ohne Ort] 10. Mai 2011, http://www.ramzan-kadyrov.ru/press.php?releases&press_id=3563 [5.2.2012]. 65 Ramzan Kadyrov, V ČR učreždën edinyj Denʼ pamjati i skorbi narodov Čečenskoj Respubliki, [ohne Ort] 9. April 2011, http://www.ramzan-kadyrov.ru/press.php?releases&press_id=3524 [5.2.2012].

Ausblick in die Gegenwart

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Mit seinem Entscheid knüpft Kadyrov im Grunde genommen an sowjetische Auffassungen von Völkerfreundschaft an, wie sie gegenwärtig auch von der Kreml­ führung zelebriert werden. Dies mag im Sinne eines Bestrebens nach Stabilisierung der Beziehungen zwischen Tsche­tschenien und Russland zu verstehen sein. Die jüngsten geschicht­lichen Entwicklungen haben aber gerade im Fall von Tsche­ tschenien gezeigt, welch großes Konfliktpotenzial ­solche politisch motivierten Auslegungen der Geschichte in sich bergen. Denn die Geschichte ist damit noch immer nicht aufgearbeitet. Sie ist nicht vergessen. Und nicht abgeschlossen.

13.   FA Z I T: P R E K Ä R E H E R R S C H A F T U N D U M K Ä M P F T E L OYA L I TÄT E N Die Untersuchung der Geschichte des Nordkaukasus im Kontext des russländisch­imperialen und sowjetischen Herrschaftsprojekts hat Merkmale erkennbar werden lassen, die auch die Entwicklungen in anderen Landesteilen, nament­lich in den islamisch geprägten Regionen des Südkaukasus und Zentralasiens, charakterisieren. Allerdings präsentiert sich die Situation im Nordkaukasus jeweils in Extremen: Nicht nur stieß das expandierende Zarenreich im 19. Jahrhundert in dieser ethnisch und religiös durchmischten Region, die im Einzugsbiet konkurrierender Großmächte und Kulturen lag, auf besonders zähen Widerstand der einheimischen nichtrus­sischen Bevölkerung; insbesondere der von Tsche­tschenen und Dagestanern besiedelte nordöst­liche Kaukasus zeichnete sich auch danach als der unruhigste Teil des Russländischen Imperiums und der späteren Sowjetunion aus. Von einem militärstrate­gischen Gesichtspunkt aus betrachtet ging von den Völkern der Region zwar nach Abschluss der zaristischen Eroberungen im 19. Jahrhundert keine ernsthafte Gefahr mehr aus. Doch weder den Zaren noch den B ­ olschewiki gelang jemals die Herstellung von Herrschaftsbeziehungen, die jeg­liche Mög­ lichkeiten für bewaffnete Opposition und Veränderungen hätten gänz­lich be­­seitigen können. Die hohe Renitenz der nordkauka­sischen Gesellschaften zeigte sich besonders dann, wenn der Staat versuchte, die inneren Freiheiten und Lebensweisen dieser Völker zu beschneiden. Sowohl der große Aufstand von 1877 als auch die Massenerhebungen während der Kollektivierung 1929/30 erfolgten letzt­lich beides Mal in Reaktion auf staat­liche Eingriffe. Der Zentralstaat trat den nichtrus­sischen Völkern der Region in der Geschichte somit wiederholt als Fremdmacht und Besatzer in Erscheinung, wenn Rebellionen mit brachialer Militärgewalt niedergerungen wurden. Allerdings wäre es verfehlt, alle Unruhen im Nordkaukasus direkt mit der Politik des Zentralstaates in Verbindung zu setzen. Oft waren sie das Resultat der Unzufriedenheit über die Herrschaftspraxen der lokalen Verwalter. Zudem hat diese Untersuchung gezeigt, wie wichtig es ist, Gewalt auch als ein innerkauka­sisches, in den gesellschaft­lichen Strukturen und Traditionen angelegtes Phänomen zu begreifen. Ausein­andersetzungen um Land, Gut und Ehre konnten dann eine größere Dynamik erfahren, wenn sich der Staat in ­solche gesellschaft­lichen Dispute einmischte. Dass die nordkauka­sischen Gesellschaften schnell bereit waren, mit der Waffe in der Hand Widerstand zu leisten, lässt sich auch damit erklären, dass die Menschen in der dörf­lichen Bergwelt und über die Clanstrukturen noch bis weit in die Sowjezeit hinein Orientierungsmög­lichkeiten

Prekäre Herrschaft und umkämpfte Loyalitäten

489

hatten, die in den städtischen Zentren oder der rus­sisch-slawisch dominierten Ebene weit schwächer ausgeprägt waren. Zudem hat diese Untersuchung gezeigt, dass es irreführend wäre, das Verhältnis des Zentralstaates zur nichtrus­sischen Bevölkerung des Nordkaukasus nur als eine von Spannungen und gewaltsamen Konflikten beladene Beziehung zu verstehen. Dass es über längere Zeitabschnitte zu keinen größeren Aufständen kam und sich auch nie alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen an Rebellionen beteiligten, weist darauf hin, dass die Arrangements zwischen Staat und Gesellschaft auch in dieser Region letzt­lich von einem relativ hohen Maß an Stabilität gekennzeichnet waren. Diese Stabilität war gerade nicht darauf zurückzuführen, dass der Staat jemals in der Lage gewesen wäre, Macht vollständig zu monopolisieren. Zwar verengte sich im Laufe der Zeit der Freiraum, den die staat­lichen Machthaber der Bevölkerung und deren lokalen Traditionen und herkömm­lichen sozialen Ordnungen zuzugestehen bereit waren. Genügte in der eher informellen Form der Herrschaft, wie sie die zaristischen Verwalter im Kaukasus ausübten, bereits passives Stillhalten als Loyalitätsbeweis, so forderten die Bolschewiki die bedingungslose und aktive Anteilnahme am sozialistischen Mobilisierungsprozess und die radikale Umgestaltung sozialer Verhältnisse. Dabei griff der Staat über seine Behörden vor Ort, über gesetz­liche Verordnungen oder die Festlegung von administrativen Grenzen direkt in lokale Verhältnisse ein und versuchte, Herrschaftsverhältnisse in seinem Sinne festzulegen. Doch auch der nach totalitärer Kontrolle strebende Sowjetstaat sah sich angesichts gesellschaft­lichen Widerstands zu Kompromissen gezwungen und ließ Arrangements zu, die das Weiterbestehen bestimmter Traditionen und Lebensweisen mög­lich machten. Dies war keinesfalls als Ausdruck einer Toleranz der Bolschewiki gegenüber den nordkauka­sischen Völkern und ihrer Kultur zu verstehen. Um diese historisch als unruhig geltende Periphere zu stabilisieren, waren die staat­ lichen Machtträger in der Praxis aber bereit, im Gegenzug für Loyalität zumindest vorübergehend gewisse s­ oziale Bedingungen als unausweich­lich in Kauf zu nehmen. Stabilisierend wirkte sich auch der Umstand aus, dass die Einführung neuer Ordnungen ­soziale Aufstiegsmög­lichkeiten eröffnete, die nicht wenige begrüßten und als Chance für sich verstanden. Im Unterschied zum Zarenreich bemühten sich die Bolschewiki noch viel stärker um die Kooptation der gesellschaft­lichen Eliten und waren zudem bestrebt, über ihre Politik der korenizacija, die gezielte Förderung der nichtrus­sischen Bevölkerung, auch der breiten Masse der Gesellschaft neue Perspektiven zu eröffnen. Über die Errichtung von ethnisch definierten autonomen Territorien gelang die Herstellung von Loyalitäten, die immerhin stabil genug waren, dass sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sogar in Tsche­tschenien Tausende für den Kampf gegen Nazideutschland mobilisieren ließen. Zum immer ­entscheidenderen Gegensatz wurde im Laufe der Zeit nicht derjenige zwischen den nichtrus­sischen Völkern des Nordkaukasus und dem Zentralstaat, sondern zwischen der Moderne,

490

Fazit

die in den Städten mit ihren Bildungseinrichtungen und Industriezentren zu finden war, und dem Land, das aus bolschewistischer Sicht diejenige Rückständigkeit verkörperte, die über kurz oder lang unbedingt überwunden werden sollte. Weder der Zaren- noch der Sowjetstaat verfolgten damit nur eine auf Unter­ drückung basierende Politik, um diese Region zu kontrollieren und die n­ icht­­­­rus­sische Bevölkerung an sich zu binden. Ohnehin konstituierte sich staat­liche Herrschaft nie alleine im Spannungsfeld einer Zentrum-Peripherie-Beziehung. Vielmehr beschrieb sie ein Geflecht von Machtbeziehungen, in das viele eingebunden waren und in dem sich die Abhängigkeitsverhältnisse unter den gesellschaft­lichen Machtträgern wiederholt veränderten, um sich anschließend neu zu konfigurieren. Der Staat war dabei immer nur eine, wenn auch zentrale, machtpolitische Größe, die mit anderen gesellschaft­lichen Akteuren und sozialen Institutionen konkurrierte, mit diesen aber auch auf vielfältige Weise verflochten war. In diesen Herrschaftsverhältnissen erschien die Gesellschaft nicht einfach als eine vom Staat unterdrückte und von d­ iesem manipulierte Größe. Sie trat auch als eigenständige Akteurin in Erscheinung, die an den Staatsbildungsprozessen an der Peripherie teilnahm und diese mitbestimmte. Entsprechend hat es sich als gewinnbringend gezeigt, im Nordkaukasus nicht nur nach starren Frontlinien zu suchen, sondern die Region als Grenzland, als frontier, zu begreifen, in der klare FreundFeind-Bilder verschwammen und sich vermeint­lich feste Allianzen vor allem durch ihre Unstetigkeit auszeichneten. Die Errichtung staat­licher Herrschaft ließe sich für die nordkauka­sische Geschichte als ein permanentes Verhandeln von Arrangements unter den verschiedenen Machtträgern innerhalb einer Gesamtgesellschaft begreifen. Dass sich s­ olche Arrangements manchmal auch abrupt verändern konnten, zeigte sich dann, wenn diese durch machtvolle Ereignisse wie Kriege und Revolutionen – und damit einhergehend zentralstaat­licher Machtzerfall – erschüttert wurden. Erst ­solche Einschnitte ließen jeweils auch die gesellschaft­lichen Identitäten und Loyalitäten sichtbar werden. Wie umkämpft diese waren, zeigte sich insbesondere im Zuge des auf die Oktoberrevolution folgenden Bürgerkriegs. War die Dynamik in den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg zunächst von einem nordkauka­sischen Einheitsgedanken, aber nicht von einer gegen Russland gerichteten Bewegung getragen, so ließ der Zerfall der zentralstaat­lichen Ordnung nach der Oktoberrevolution eine politische Konstellation entstehen, die weitest­ gehend von den unterschied­lichen Interessen der verschiedenen Volksgruppen bestimmt war. Einigungsbestrebungen unter Nordkaukasiern auf säkularer oder auf theokratischer Grundlage kamen dabei ebenso zum Vorschein wie ­Bestrebungen, Allianzen mit den verschiedenen militärischen Kräften innerhalb Russlands als auch äußeren Mächten einzugehen. Die wiederholt wechselnden Allianzen in der nordkauka­sischen Akteurslandschaft bestimmten die Machtkonstellationen noch bis weit in die 1920er Jahre hinein. Erst ab Mitte der 1920er Jahre, nach der

Prekäre Herrschaft und umkämpfte Loyalitäten

491

Niederwerfung letzter großer bewaffneter Aufstände, der Verhaftung namhafter religiöser Autoritäten und den flächendeckenden Entwaffnungsaktionen, wurde schließ­lich der bolschewistische Staat zur dominierenden Macht. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Auftreten Nazideutschlands als neuem Machtfaktor in der Region erlebte der Nordkaukasus abermals massive ­soziale Erschütterungen. Dass sich besonders in Tsche­tschenien viele Menschen nicht am Krieg gegen Deutschland beteiligen wollten, war allerdings nicht immer nur einer antisowjetischen Haltung der Bevölkerung zuzuschreiben, sondern konnte auch daraus resultieren, dass die Informationslage unklar war, die Mobilisierungs­ kampagnen schlecht durchgeführt wurden und innerhalb der Roten Armee eine abschätzige Haltung gegenüber Kaukasiern bestand. Komplex waren auch die Umstände, die dazu führen konnten, dass sich Menschen schließ­lich zum bewaffneten Kampf gegen den Sowjetstaat entschlossen. Die Beschäftigung mit Einzelschicksalen hat für alle Phasen der in d­ iesem Buch behandelten Geschichte deut­lich gemacht, dass ein Mensch verschiedene Identitäten vereinigen konnte und entsprechend seinen jeweiligen konkreten Lebensumständen auch seine Beziehung zu der ihn um­­gebenden Welt definierte. Der Entscheid der sowjetischen Führung, Tsche­tschenen und andere nord­­­­­­ kauka­sische Völker 1943/44 zu deportieren, lässt sich als Maßnahme begreifen, den Widerstand dieser Völker gegen das stalinistische Mobilisierungsprojekt endgültig zu brechen. Es beschreibt aber vor allem die Handlung eines im Kern schwachen Staates, dessen Herrschaft im Nordkaukasus immer prekär war und der mit der Deportation zu einer letzten, radikalen Maßnahme griff, um seinen Machtanspruch durchzusetzen. Dass es dem Staat jedoch auch in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten nie wirk­lich gelingen sollte, seine Herrschaft zu festigen, zeigte sich im Fall der Tsche­tschenen dann besonders krass, als diese im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion gegen Russland aufbegehrten und die Unabhängigkeit erzwingen wollten.

14.  K A R T E N

42°

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Soči

Majkop

Karte 1: Der Kaukasus: Phy­sische Übersicht mit heutigen Staatsgrenzen.

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

Čerkessk

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Suchumi

A b ch a z ija

Türkei

Adžž a r ij a Ad

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4090 m

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J u ž n aj a O s etij a Cchinvali

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Šali

Argun

Čečenskaja Respulika

Respublika Ingušetija Groznyj Sunža Nazran‘

Mozdok

Respublika Urus-Martan Severnaja Osetija-- Vladikavkaz Alanija

Nal‘čik

Prochladnij

Pjatigorsk

Ka b a r d i n o B a l ka r s kaj a Re s p u b l i ka

Kislovodsk

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F ö d e r a t i o n ma Ku

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Ka r a č a evoČ e r ke s s kaj a Re s pu b l i ka Karačaevsk

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Baku

Kaspisc he s Meer

Hauptstadt Stadt > 100 000 Einwohner Stadt < 100 000 Einwohner

Staatsgrenze administrative Grenze sonstige Grenze

Grenzen

Berg

> 4000 3000 - 4000 2000 - 3000 1000 - 2000 100 - 1000 < 100

Landhöhen (in m)

Physische Übersicht

Aserbaidschan

Respulika Dagestan

Bujnaksk

Sulak Chasavjurt

48°

Karten 495

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

0

1

26, 1

Abchasen

26

2

100 km

41

25

34

40

Georgier

42

40

Kabard

39

iner

5

40

30

33 32

33

33

35

30

30

5

33

40

33

43

30

40

6

30

en

Staatsgrenze administrative Grenze

Grenzen 1926

45

44

43

42

41

40

39

37

36

35

30 26

33

44

ma Ku

ch

34

30

2

Karatschaier

44

45

us 7

44

25 30

30

12

34

30

30

33

11

39

ier

44

Sulak

25

10

Awaren

10

43

Russen

Armen

40

10

Terek 12

Tschetschenen

Georgier

9

30

Nogaier

18

14

40

39

19

13

Darginer

43

n ke

Griechen Greki Osseten Osetiny Kurden Kurdy Jesiden Jezidy Taten Taty Bergjuden Gorskie evrei Armenier Armjane Aserbaidschanische Türken [Aserbaidschaner] Azerbajdžanskie tjurki [azerbajdžancy] Karatschajer Karačaevcy Balkaren Balkarcy Kumyken Kumyki Nogajer Nogajcy Turkmenen Turkmeny

Abchasen

1

3

3

Russen

Ing my

33

32

30

Tscherkessen

45

Ku

32

25

ja el a

Schw arze s Mee r

3

39

Tscherkessen

Kub an‘

‘ Ku b a n L a ba B

30, 45

15

16

24 21

40

39

36

22

15

31

30

29

26

25

21 30

36

40

40

Ka s p i s ch es M eer

Abchasen Abchazy Beskesek-Abasen [Abasinen] Beskesek-abaza [abaziny] Tscherkessen [Adygejer] Čerkesy [adygejcy] Kabardiner Kabardincy Inguschen Inguši Tschetschenen Čečency Inguschen [Kisten] Inguši [kistiny] Awaren Avarcy Andier [Völker der andischen Gruppe] Andii [narody andijskoj gruppy] Didoer [Völker der tsesischen Gruppe] Didoi [narody cezckoj gruppy] Darginer Dargincy Laken Lakcy Lesgier Lezgi Tabassaranen Tabasarany Agulier Aguly Zachuren Cachury Rutulen Rutul‘cy Krysen Kryzy Budugen Budugcy Chinalugen Chinalugcy Georgier, Imeretier, Adscharen Gruziny, imeretiny, adžarcy Mingrelier Megrely georgische Juden Gruzinskie evrei Russen und Ukrainer Russkie i ukraincy Deutsche Nemcy

Aserbaidschanische Türken

15

17

43

24

22

21

19

18

17

16

15

14

13

12

11

10

9

7

6

5

3

2

1

Ethnische Gruppen 1926

496 Karten

Karte 2: Ethnische Gruppen im Kaukasus (basierend auf den Resultaten der Volkszählung von 1926).

0

‘ Ku b a n L a ba B

Batum (1883)

Karte 3: Administrative Gliederung des Kaukasus im Russländischen Imperium, 1903 – 1914.

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

I m p e r i u m

Oni

Kars (1899)

Kagyzman

Oni

Elisavetpol‘

Gjandža

Agdaš

Nucha

Zakatal‘y Zakatal‘y

Dagestanskaja oblast‘

Šemacha

Baku

(1883)

K aspisc he s Meer

Bakinskaja gubernija

Geokčaj

Derbent

Kuba

Petrovsk (1894) Temir-Chan-Šura

Sulak

Staatsgrenze gubernija- und oblast‘Grenze von 1914 administrative Grenze Grenze von 1903 Poti Stadt (Jahr der Anbindung (1872) an das Eisenbahnnetz)

Grenzen

Administrative Gliederung 1903 - 1914

Kizljar (1915)

Groznyj

Signach

Telav

Nov. Bajazet Zrivanskaja gubernija

Ėrivan‘ (1902)

Tiflis

Dušet

(1872) Tiflisskaja gubernija

Gori

Vladikavkaz (1875)

Aleksandropol‘

Achalcich

Karsskaja oblast‘

Ozurgety

Kutais

Kutaisskaja gubernija

ma Ku

o b l a s t '

Mozdok

T e r s k a j a

Kislovodsk (1894)

Georgievsk Pjatigorsk

Sv. Kresta

Stavropol'skaja gubernija Stavropol‘ (1897)

Batumskij okrug

Poti (1872)

Suchumskij okrug

Osmanisches Reich

Suchum

Majkop (1910)

S chw a rze s Me er

Soči

Armavir

Kubanskaja oblast‘

Černomorskaja gubernija

Tuapse (1915)

(1887)

Ekaterinodar

Kub an‘

ja el a Terek

R u s s l ä n d i s c h e s

Karten 497

Sočinskij okrug

Karte 4: Bürgerkrieg, ausländische Interventionen und Staatsgebilde im Kaukasus 1918.

0

Batum

100 km

Kutais

Mozdok

Južnaja Osetija

Osetija

Vladikavkaz

Sowjetrepublik Terek (März 1918 - Februar 1919)

Kabarda

Bolschewiki/Rote Armee

Kagyzman

Kars

Lori

čalo

Ėrivan‘

Čečnja

Šamšadil‘

Kazach

Tiflis

Armenische Republik

Aleksandropol‘

Bor

Sardarabad

Džavachetija

Kizljar

Nucha

Derbent

Petrovsk

Šemacha

Nagornyj Karabach

Baku

Administrativ-territoriale Formationen, die im Zuge der Sowjetisierung des Norkaukasus ins Leben gerufen wurden

Staatsgebilde, die 1918 im Nordkaukasus entstanden

von Georgien von Juli - Aug. 1918 besetzte Gebiete (von der Freiwilligenarmee/Dobrovol‘českaja Armija von Sep. 1918 Feb. 1919 besetzt)

unter den südkaukasischen Republiken umstrittene Gebiete

von Armenien und Georgien zugunsten der Türkei aufgegebene Gebiete (gem. Verträgen von Batum, Juni 1918)

Republik Armenien/Republik Ararat (ab Mai 1918)

Aserbaidschanische Republik

Gjandža

Zakataly

Dagestan

Bergrepublik (Mai 1918 - Mai 1919)

Temir-Chan-Šura

Sulak

von der Bakuer Kommune kontrolliertes Gebiet (Nov. 1917 - Juli 1918), besetzt von türkischen und aserbaidschanischen Truppen und in Aserbaidschanische Republik integriert

Aserbaidschanische Republik (ab 28. Mai 1918)

Abchasien (ab Juni 1918, unter georgischer Kontrolle)

Georgische Demokratische Republik (ab 26. Mai 1918)

Gebiete der Südkaukasischen demokratischen föderativen Republik (April - Mai 1918)

Bürgerkrieg, ausländische Interventionen und Staatsgebilde im Kaukasus 1918

Bund der Bergvölker (Mai 1917 - November 1919) Bergrepublik (November 1917 - März 1918)

Terek

Sowjetische Republik Stavropol' (Januar 1918 - Juli 1918)

ma Ku

Georgische Demokratische Republik

Adžaristan

Poti

Karačaj

Türkische Intervention (April - November 1918)

Osmanisches Reich

Staatsgrenze 1914 Russländisch-türkische Grenze gemäß Vertrag von Brest-Litovsk (März 1918)

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

Grenzen

Suchum

Abchazija

Deutsche Intervention (Mai - November 1918)

Sc hw arze s M e er

Soči

Stavropol‘

R S F S R

Nordkaukasische Sowjetrepublik (Juli 1918 - Dezember 1918)

Sowjetische Republik Kubano-Černomorsk (April/Mai 1918 - Juli 1918)

Ekaterinodar

‘ Ku b a n L a ba B

Vorstoss der Freiwilligenarmee

ban‘

ja el a

Ku

Kubaner Rada (ab Januar 1918)

498 Karten

Kuban‘ ‘ Ku b a n L a ba B

Karte 5: Bürgerkrieg und Bergrepublik im Kaukasus 1918.

0

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

1 Teile des Sunženskij okrug der Terekkosaken-Armee 2 Inguschetien 3 Teil Tschetscheniens oberhalb des Tereks

S c h wa rze s M ee r

Sočinskij okrug

Ekaterinodar

Poti

Balkarija 1

Osetija

Vladikavkaz

1

Kabarda

Kagyzman

Kars

Lori

Borčalo

2

Sunža

Ėrivan‘

Sulak

Gjandža Šemacha

(Türkische Besatzungszone)

Nucha

Staatsgrenze des Russischen Reiches 1914 Republiksgrenze administrative Grenze Grenze der Bergrepublik Russisch-türkische Grenze gem. Vertrag von BrestLitovsk (März 1918)

Baku

K a sp isc h e s Meer

Türkische Intervention (Oktober-November 1918) und Installierung der Führung der Bergrepublik

Gebiete, die durch die Ausrufung der Bergrepublik/der Republik der Bergvölker des Nordkaukasus zu Teilen deren Territoriums wurden Gebiete mit zu diesem Zeitpunkt überwiegend christlicher Bevölkerung Gebiete unter deutscher oder türkischer Besetzung im Südkaukasus (Herbst 1918)

Grenzen

Bergrepublik1918 Bürgerkrieg

Aserbaidschanische Republik

Zakataly

Dagestan Derbent

Petrovsk

Temir-Chan-Šura

NagornyjKarabach

Kachetija

Čečnja

Groznyj

Šamšadil‘

Kazach

Tiflis

Armenische Republik

Aleksandropol‘

Sardarabad

Džavachetija

Meschetija

(Deutsche Besatzungszone)

1

Georgische Demokratische Republik

1

2

3

Mozdok

Kizljar

Nogajer Steppe Ausrufung der sowjetischen Republik Terek (März 1918)

ma Ku

Georgische Intervention (ab Juni 1918) Južnaja Osetija Kutais

Svanetija

Karačaj

Adžaristan

Batum

Türkei

Suchum

Abchazija

Denikins Freiwilligenarmee (ab Februar/März 1919)

Stavropol‘

Unter Verwaltung der „Streitkräfte Südrusslands“ (Februar 1919-Februar/März 1920)

Kub an‘

ja el a

Terek

R u s s l a n d

Karten 499

0

Majkop

‘ Ku b a n L a ba B

Armavir

Karte 6: Sowjetischer Kaukasus 1921.

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

S ch wa r z e s M e e r

Soči

Türkei

Batum

1 2

3

5

Vladikavkaz

Beslan

(umstrittenes Territorium)

Cchinval

9

6

7

Tiflis

Armenische Sowjetrepublik Ėrivan‘

7

8

Terek

Bujnaksk

Sulak Chasavjurt

Nagornyj Karabach

(umstrittenes Territorium)

Staatsgrenze Republiksgrenze administrative Grenze

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Baku

Ka sp isch es Meer

Karačaevskij okrug (okrug = Bezirk) Balkarskij okrug Nal'čikskij (Kabardinskij) okrug Digorskij okrug Vladikavkazskij (Osetinskij) okrug Nazranovskij (Ingušskij) okrug Sunženskij (Kasačij) okrug Groznenskij (čečenskij) okrug Vladikavkaz Stadt Groznyj Stadt

Bezirke der autonomen Bergrepublik (Gorskaja avtonomnaja respublika, Stand: 1. September 1921)

Grenzen

Aserbaidschanische Sowjetrepublik

Derbent

Kaspijsk

Machačkala

Dagestanskaja sovetskaja respublika

Argun

Šali Urus-Martan

Nazran‘ Groznyj

10

Terskaja gubernija Mozdok

Južnaja Osetija

4

Nal‘čik

Prochladnaja

Georgievsk Pjatigorsk

S F S R

Georgische Sowjetrepublik

Karačaevsk

Kislovodsk

ma Ku

Stavropol‘skaja gubernija

Batalpašinskaja

Nevinnomysskaja

Stavropol‘

R u s s l ä n d i s c h e

Adžarskaja avtonomnaja respublika

Abchazskaja Suchum sovetskaja respublika

Kubano-Černomorskaja oblast‘

Krasnodar

ja el a

Kub an‘

Sowjetischer Kaukasus 1921

500 Karten

5

3

3

5

Soči

Karte 7: Administrative Gliederung des Kaukasus, 1922 – 1928.

Staatsgrenze Republiksgrenze administrative Grenze Bezirksgrenze Gebiet der 1926 aufgelösten KaratschaierTscherkessischen autonomen Oblast (KaračaevoČerkesskaja AO) Gebiet der 1924 aufgelösten sowjetischen Bergrepublik (Gorskaja ASSR)

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

Grenzen

0

Batum

100 km

Türkei

ASSR Adžaristana

ma Ku

8

Mozdok

13

Ačikulakskij rajon (ab 16.11.1922 Teil der Dagestanskaja ASSR) Kizljarskij okrug (Teil der Dagestanskaja ASSR ab 16.11.1922)

S F S R

Jugo-Osetinskaja AO

Tiflis

Ėrivan‘

Armenische SSR

Georgische SSR

Cchinvali

Derbent

Avtonomnaja oblast‘ Nagornogo Karabacha

Baku

Ka s p i s c h e s Me e r

Das autonome Gebiet Nagornyj Karabach wird in den Grenzen von 1923, die nationalen Regionen des Severo-Kavkazskij kraj in den Grenzen von 1932 dargestellt.

Anmerkungen:

11 Chasaut – Teil der Karačaevo-Čerkesskaja AO ab 1924 12 Allago – Teil der Čečenskaja AO ab 1927 13 Projektierter deutscher Rajon Stepnovskij (Zentrum: Solomenskoe)

Weitere Territorien:

Šapsugskij rajon (dt.: Schapsugischer rajon) innerhalb des Černomorskij okrugs. Gegründet im September 1925, Zentrum: Tuapse 4 Turkmenskij rajon (dt.: turkmenischer rajon) innerhalb des Stavropolskij okrug. Ab Juni 1925, Letnjaja Stavka 5 Armjanskij rajon (dt.: armenischer Rajon) innerhalb des Majkopskij okrug. Ab August 1925, Elisavetpol’skoe 6 Nemeckij rajon Vannovskij (dt.: deutscher Rajon Vannovskij) innerhalb des Armavirskij okrug. Ab Februar 1928, Vannovskoe/Ėigenfeld 7 Russkij batalpašinskij rajon innerhalb der Karačaevo-Čerkesskaja AO. Zentrum: Batalpašinsk 8 Kazačij rajon (dt.: kosakischer Rajon) innerhalb der Kabardino-Balkarskaja AO. Majskoe 9 Priterečnyj rajon innerhalb der SeveroOsetinskaja AO. Ardonskaja 10 Petropavlovskij rajon innerhalb der Čečenskaja AO. Petropavlovskaja

3

Aserbaidschanische SSR

Dagestanskaja ASSR

Stadt Vladikavkaz (mit Bezirksstatus) Stadt Groznyj (mit Bezirksstatus)

Nationale Rajons des Nordkaukasuskreises:

1 2

Administrative Gliederung 1922 -1928

Zur Dag. ASSR Sunženskij ab 04.01.1923 okrug Tere k Groznyj 10 Sulak Nazran‘ Argun 9 Beslan Chasavjurt 2 9 Šali IngušMachačkala Vladikavkaz skaja Urus-Martan Severo- 1 Čečenskaja AO AO Kaspijsk Osetinskaja Bujnaksk 12 AO

Nal‘čik

Prochladnaja

Pjatigorsk

Terskij okrug

KabardinoBalkarskaja AO

Kislovodsk

Batalpašinsk

Nevinnomysskaja

Stavropol‘skij okrug

Stavropol‘

11 Mikojan-Šachar Karačaevskaja AO

7

Čerkesskaja AO

Abchazskaja Dogovornaja SSR Suchum

Majkopskij okrug

S c h w a r z e s Me e r

Černomorskij okrug

3

Majkop

4

R u s s l ä n d i s c h e

‘ 6 Ku b a n L a ba B Adygejskaja (Čerkesskaja) Armavir AO Armavirskij okrug

ja el a

Kub an‘

Krasnodar

Kubanskij okrug

Karten 501

Karte 8: Autonomes Gebiet Tsche­tschenien 1928.

Čmu

Cno

Kazbek

Lars

Kmosti

Džuty

Bier

Mecchal

Blo

Nelch

Cori

Carch

Ingušskaja AO (1934 Vereinigung mit der Čečenskaja AO zur Čečeno-Ingušskaja AO)

Alkun

Gunjuški

Petropavlovskij okrug

Merebžoj

Čamga

Šatoj

Itum-kale

Kesel

Zivirchi

Chimoj Čadyri

Bosochoj

Buni

Makažoj

Čeberloevskij okrug

Alak

Botlich

Agvali

Konada

Ansalty

Choj

Andi

Charačoj

Vedenskij okrug

Kurčali Dargo

Datach

Sajasan

0

10 km

Tloch

Metlel‘

Almak

Zandak

Tad-Magitl‘

Karata

Zilo

Rikuani

Gagatl‘

Nožaj-Jurtovskij okrug

Bil‘ti Gurdali

Šuany

Mosketi

Nožaj-Jurt

Alleroj

Džugurty

Centaroj

Nojberdy

Istisu

Ėngel'-Jurt Kadi-Jurt

N. Aksaj

Šelkozavodskaja

Gudermesskij okrug Gerzel'aul

Vedeno

Ėrsenoj

Guni

Kurembij

Alistant

Čubjachkineroj

Sanoi

Šaro-Argyn

Bokaze

Avtury Ėrsenoj

Achecegon

Agišty

Chatuni

Šaroevskij okrug

Kebosa

Lamerchoj

Šaroj

Baschoj Nž. Nachčikeloj

Šali Šalinskij okrug

Machkety

Chaankale Denkal

Charsenoj

Čir-Jurt Duba-Jurt

Šatoevskij okrug

Ardžali

Itum-Kalinskij okrug

Šundy

Ošni

Cekaroj

Mel‘chesta

Kij

Otty

Galančož Kežvengu

Ardom

Gurš Jalchoroj

Gojty

Germenčuk

Ojsungur

Gudermes

Pečkovskaja

Azamat-Jurt

Parbočeva Ščedrinskaja Braguny Terek

Džalkinskaja

Petropavlovskij okrug

Sunža

Atagi

Čečen'

Urus-Martan

Červlenaja Uzlovaja

Červlenaja

Petropavlovskaja

Ustar-Gardoj

Aslambekovskij okrug

Arcu-Jurt

Groznyj

Urus-Martanovskij okrug

Galančožskij okrug

Datych

Šalači

Ačchoj

Zakan-Jurt Assinovskaja

Michajlovskaja

Sernovodsk

Gorjačevodskaja

Novyj-Jurt

Aslambekovskij okrug

Groznenskij okrug (Teil der Čečenskaja AO ab 1929)

Nadterečnyj okrug

Ačkišk

Novo-Čečenskij okrug

Chalcharoj

Guro

Šatil‘

Alchaste-Jurt

Galaški Tauzen-Jurt

Curchochi

Angušt

Vladikavkaz

Tolchi

Jandyrskoe

Barabulakskaja

Slepcovskaja

Sunženskij okrug (Teil der Čečenskaja AO ab 1929)

Nesterovskaja Ėkaževskoe

Achki Jurt

Bazorkino

Dlinnaja Dolina

Nogir

Ol‘ginskoe

Tulatovo

Nazran Dalakovskoe

Brut

Verchnij Ačaluk

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

ek Ter

Nž. Saniba

N. Koban

Gizel‘

Kolonka

Farn

Beslan

Zil‘gi

Ėmmaus

Srednij Ačaluk

Nižnij Ačaluk

Autonomes Gebiet Tschetschenien (Čečenskaja AO) 1928

502 Karten

0

Karte 9: Administrative Gliederung des Kaukasus, 1929 – 1934.

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

Sch w ar ze s Me e r

Soči

Majkop

ja el a

Suchum

Batumi

Türkei

Adžarskaja ASSR

Abchazskaja ASSR

ma Ku

Beslan

Ėrivan‘

Armenische SSR

Tiflis

AO Nagornogo Karabacha

Staatsgrenze Republiksgrenze administrative Grenze Bezirksgrenze

Baku

K as pi s ches Meer

Aserbaidschanische SSR

Derbent

Kaspijsk

Machačkala

Dagestanskaja ASSR

Bujnaksk

Sulak Chasavjurt

Grenzen

Administrative Gliederung 1929 -1934

Terek Argun Šali

Urus-Martan Čečeno-Ingušskaja AO

Groznyj Nazran‘

kr aj

S F S R

Mozdok

Georgische SSR

Staliniri

Jugo-Osetinskaja AO

Ordžonikidze SeveroOsetinskaja AO

Nal‘čik

Prochladnaja

Pjatigorsk

Sever o-Kavkazskij

KabardinoBalkarskaja AO

Mikojan-Šachar

Čerkesskaja Batalpašinsk AO Kislovodsk

Nevinnomysskaja

Karačaevskaja AO

Armavir

Stavropol‘

R u s s l ä n d i s c h e

Kub an‘

Azovo-Černomorskij kraj ‘ Ku b a n Krasnodar L a ba B Adygej skaja AO

Karten 503

0

Karte 10: Administrative Gliederung des Kaukasus, 1936 – 1938.

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

Sc h wa rze s Me er

Soči

Majkop

Suchumi

Nevinnomysskaja

Vorošilovsk

Batumi

Türkei

Adžarskaja ASSR

Prochladnij

Beslan

Argun

Tbilisi

Erevan

Staatsgrenze Republiksgrenze administrative Grenze

Baku

K aspisc he s Meer

Aserbaidschanische SSR

Derbent

Kaspijsk

Machačkala

Dagestanskaja ASSR

Bujnaksk

Sulak Chasavjurt

Grenzen

Administrative Gliederung 1936 -1938

NagornoKarabachskaja AO

Šali

Urus-Martan Čečeno-Ingušskaja ASSR

Groznyj Nazran‘

Armenische SSR

Georgische SSR

Stalinir

Jugo-Osetinskaja AO

Ordžonikidze SeveroOsetinskaja ASSR

Nal‘čik KabardinoBalkarskaja ASSR

Mikojan-Šachar

Karačaevskaja AO

Kizljarskij okrug (ab 1938 Teil des Ordžonikidzevskij kraj)

k r aj

S F S R

Mozdok

O r d ž o n i k i d z evs k ij

ma Ku

R u s s l ä n d i s c h e

Čerkesskaja Sulimov (ab 1938 Ežovo-Čerkessk) AO Kislovodsk Pjatigorsk

Abchazskaja ASSR

Armavir Adygejskaja AO

Kub an‘

ja el a Terek

Krasnodarskij kraj ‘ Ku b a n Krasnodar L a ba B

504 Karten

Karten

Karte 11: Einsatzplan zum Sonderunternehmen „Schamil“, 5. Januar 1943, Bundesarchiv, RW 49 – 143, Blatt 1/36. Abgedruckt mit freund­licher Genehmigung des Bundesarchivs.

505

Soči

Karte 12: Administrative Gliederung des Kaukasus, 1944  – 1956.

0

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

14 Auflösung des Auchovskij Rajon der Dagestanskaja ASSR 15 Kizljarskij okrug des Stavropol'skij kraj fällt der Groznenskaja oblast' zu 16 Naurskij rajon des Stavropol'skij kraj fällt der Groznenskaja oblast' zu 17 Mozdokskij rajon des Stavropol'skij kraj fällt der Severo-Osetinskaja ASSR zu 18 Vostočnaja Tagaurija (Lars-Čmi) der SeveroOsetinskaja ASSR fällt der Georgischen SSR zu

Weitere administrativ-territoriale Veränderungen:

11 zum Stavropol'skij kraj 12 zur Rostovskaja oblast' 13 zur Astrachanskaja oblast'

2

3

Batumi

11

Türkei

Adžarskaja ASSR

1

3

Kluchori

5

Pjatigorsk

6

Beslan

17

8

Jugo-Osetinskaja AO

Tbilisi

Erevan

Armenische SSR

Georgische SSR

Staliniri

Urus-Martan

7

16

Groznyj Nazran‘

9

13

zur Georgischen SSR zum Krasnodarskij kraj zum Stavropol’skij kraj zur Čerkesskaja AO

zur Georgischen SSR (bis 28.05.1955) zur Severo-Osetinskaja ASSR

7 8 9 10

Baku

Kaspisc he s Meer

zur Groznenskaja oblast' zur Severo-Osetinskaja ASSR zur Georgischen SSR zur Dagestanskaja ASSR

Territorien der aufgelösten Čečeno-Ingušskaja ASSR:

5 6

Territorien der aufgelösten KabardinoBalkarskaja ASSR:

1 2 3 4

Territorien der aufgelösten Karačaevskaja AO:

Administrativ-territoriale Veränderungen 1943-1944: Verteilung aufgelöster Verwaltungseinheiten

Aserbaidschanische SSR

Derbent

Kaspijsk

Dagestanskaja ASSR

Bujnaksk

Sulak 14 Chasavjurt Machačkala

NagornoKarabachskaja AO

10

Šali

Argun

Bezirksgrenze Grenzen der aufgelösten autonomen Gebiete

administrative Grenzen

Staatsgrenze Republiksgrenze

Die Grenzen stellen den Stand vom 01.01.1953 dar.

Grenzen

Administrative Gliederung 1944 -1956

Groznenskaja oblast‘

15

S F S R

Mozdok

Dzaudžikau SeveroOsetinskaja 18 ASSR

Prochladnij Kabardinskaja ASSR Nal‘čik

Kislovodsk

ma Ku

Stavropol‘skij kraj

Nevinnomysskaja

Stavropol‘

R u s s l ä n d i s c h e

Čerkessk

Abchazskaja ASSR Suchumi

Territorien der aufgelösten Kalmyckaja ASSR:

Sc hwar zes Me e r

Majkop

Čerkesskaja 4 AO

Armavir Adygejskaja AO

Krasnodarskij kraj ‘ Ku b a n Krasnodar L a ba B

Kub an‘

ja el a Terek

12

506 Karten

Karte 13: Administrative Gliederung des Kaukasus 1957.

0

Soči

Majkop

Kartographie: S. Dutzmann Leipzig, 2013 © J. Perovic

100 km

Čerkessk Kislovodsk

Türkei

Batumi Adžarskaja ASSR

Abchazskaja ASSR Suchumi

Beslan

ma Ku

S F S R

Erevan

Armenische SSR

Tbilisi

Urus-Martan

Groznyj Nazran‘

Bujnaksk

Sulak Chasavjurt

Aserbaidschanische SSR

Derbent

Kaspijsk

Machačkala

Baku

K a sp isc h e s Meer

Staatsgrenze Republiksgrenze administrative Grenze

Grenzen

Administrative Gliederung 1957

Dagestanskaja ASSR

Terek

NagornoKarabachskaja AO

Šali

Argun

Čečeno-Ingušskaja ASSR

Mozdok

Georgische SSR

Staliniri

Jugo-Osetinskaja AO

Ordžonikidze SeveroOsetinskaja AO

Kabardino- Nal‘čik Balkarskaja ASSR

Prochladnij

Pjatigorsk

Stavropol‘skij kraj Nevinnomysskaja

Stavropol‘

R u s s l ä n d i s c h e

Karačaevsk KaračaevoČerkesskaja AO

Armavir Adygejskaja AO

‘ Ku b a n L a ba B

S c h warz es Mee r

Krasnodar

ja el a Kub an‘

Krasnodarskij kraj

Karten 507

15.  A B B I L D U N G S N AC H W E I S Abb. 1: Aufnahme von Maurice de Déchy. Fotodokument aus den Hoover Institution Archives, Maurice de Déchy, Vues du Caucase: portfolio of photographs, 1897, 1 manuscript box. Abb. 2: Aufnahme von Maurice de Déchy (1897). Fotodokument aus den Hoover Institution Archives, Maurice de Déchy, Vues du Caucase: portfolio of photographs, 1897, 1 manuscript box. Abb. 3: Aufnahme aus: http://ossetians.com/pictures/new/Kuyndyxaty%20Mussa.jpg [12.10.2014]. Abb. 4: Aufnahme aus: http://oldvladikavkaz.livejournal.com/83467.html [12.8.2014]. Abb. 5: Ausfnahme aus: http://oldvladikavkaz.livejournal.com/83467.html [12.8.2014]. Abb. 6: Aufnahme aus: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5a/Leaders_of_the_ Mountainous_Republic_of_the_Northern_Caucasus.jpg [12.10.2014]. Abb. 7: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre D–150. Abb. 8: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre G–21. Abb. 9: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 3 – 5495. Abb. 10: Die Kopie des Fotodokuments wurde dem Autor von der Archivabteilung der Regierung der Republik Tsche­tschenien (AUP ČR) zur Verfügung gestellt. Das Original findet sich im Museum namens A. Š. Mamakaev in der Ortschaft Nadterečnij (Lacha-Nevre) der Republik Tsche­tschenien. Abb. 11: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 4 – 4657b. Abb. 12: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 1 – 2585. Abb. 13: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 2 – 7251. Abb. 14: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 2 – 7255. Abb. 15: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 2 – 7200. Abb. 16: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 2 – 7508. Abb. 17: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 2 – 7530. Abb. 18: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 4 – 15744. Abb. 19: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 1392. Abb. 20: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 27601. Abb. 21: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 266255. Abb. 22: TASS-Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 27580. Abb. 23: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 52527. Abb. 24: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 52529. Abb. 25: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 24290. Abb. 26: TASS-Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 27440. Abb. 27: TASS-Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 37325. Abb. 28: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 41652. Abb. 29: Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 2 – 83522. Abb. 30: TASS-Fotodokument aus dem RGAKFD, Chiffre 0 – 46148. Abb. 31: Aufnahme aus: http://img-fotki.yandex.ru/get/4425/11206178.1e/0_95f98_82a11398_orig [12.10.2014].

16.   Q U E L L E N - U N D L I T E R AT U RV E R Z E I C H N I S 16.1   Unve r öf fe nt l icht e A r ch ivd ok u me nt e Archiv der internationalen Gesellschaft „Memorial“ (Archiv Meždunarodnogo obščestva „­Memorial“) •• Fond 2, Opis’ 2, Delo 91 (Aufzeichnungen von Stepan S. Torbin) AUP ČR •• Fond 236 •• Fond R–1206 •• Fond R–1212

Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv (Freiburg i.Br.) •• RH 24 – 40 – 108: XXXX. Armeekorps / Panzerkorps (Gefangenenvernehmungen) •• RW 49 – 143: Abw. II-Arbeit-Osten, K-u. J. Einsatz g. Kdos. Einsatzberichte Sonderunternehmen „Schamil“ GARF Fond 102: Polizeidepartement des Innenministeriums [des Russländischen Imperiums] (­Departament policii ministerstva vnutrennich del) •• Fond 543: Sammlung von Handschriften des Zarenhofs (Kollekcija rukopisej Carskogo Dvorca) •• Fond A–259: Ministerrat der RSFSR (Sovet ministrov RSFSR) •• Fond R–1235: Allrussländisches Zentrales Exekutivkomitee (Vserossijskij central’nyj ­ispolnitel’nyj komitet) •• Fond R–1318: Volkskommissariat für Nationalitätenfragen der RSFSR (Nardonyj komissariat po delam nacional’nostej RSFSR – Narkomnac RSFSR) •• Fond R–7523: Oberster Rat der UdSSR (Verchovnyj Sovet SSSR) •• Fond R–9401: Innenministerium der UdSSR (Ministerstvo vnutrennich del SSSR – MVD SSSR) •• Fond R–9478: Hauptabteilung für den Kampf mit dem Banditentum des Innenministeriums der UdSSR (Glavnoe upravlenie po bor’be s banditizmom (GUBB) ministerstva vnutrennich del SSSR) •• Fond R–9479: 4. Spezialabteilung des Innenministeriums der UdSSR (4-j specotdel ministerstva vnutrennich del SSSR) (eingesehen im Archiv der Hoover Institution, Stanford University, Palo Alto, CA)

••

Hoover Institution Archives (Stanford University, Palo Alto, CA) •• Archives of the Soviet Communist Party and Soviet State Microfilm Collection (GARF, Fond R–9479)

Zeitungen

•• •• •• ••

511

Charles Manuel memoir, 1 item (329 S.) Maurice de Déchy, Vues du Caucase: portfolio of photographs, 1897, 1 manuscript box N. N. (Nikolai Nikolaevich) Baratov Papers, 1890 – 1934, 4 manuscript boxes, 2 envelopes United States Army European Command, Historical Division, 60 manuscript boxes (Box 33, D–254, Generalmajor Paul Schulz, Combat in the Caucasus Woods and Mountains During Autumn 1942, datiert vom 4. Juni 1947, 21 S.)

HPSSS (online einsehbar unter: http://hcl.harvard.edu/collections/hpsss/index.html) •• Case 81, Schedule B, Vol. 7 (Nordkaukasier) •• Case 159, Schedule A, Vol. 13 (Aware) •• Case 354, Schedule B, Vol. 8 (Kabardiner) •• Case 434, Schedule A, Vol. 22 (Tsche­tschene) RGAKFD •• Chiffres: 0 – 1392; 0 – 24290; 0 – 266255 ; 0 – 27440; 0 – 27580; 0 – 27601; 0 – 37325; 0 – 41652; 0 – 46148; 0 – 52527; 0 – 52529; 1 – 2585; 2 – 7200; 2 – 7251; 2 – 7255; 2 – 7508; 2 – 7530; 2 – 83522; 3 – 5495; 4 – 4657b; 4 – 15744; D–150 ; G–21 RGANI (eingesehen in der British Library, Russian microform resources) •• Fond 6: Parteikontrollkommission (Komitet partijnogo kontrol’ja) •• Fond 89: Sammlung deklassifizierter Dokumente (Kollekcija rassekrečennych dokumentov) RGASPI •• Fond 17: Zentralkomitee der KPdSU (Central’nyj Komitet KPSS) •• Fond 65: Südostbüro des ZKs RKP (b) (Jugovostočnoe bjuro CK RKP (b)) •• Fond 73: Andrej A. Andreev •• Fond 74: Kliment E. Vorošilov •• Fond 78: Michail I. Kalinin •• Fond 84: Anastas I. Mikojan •• Fond 558: Iosif I. Stalin

16. 2   Z eit u nge n (Anm.: Einzeltitel aus Zeitungen sind im Publikationsverzeichnis im Allgemeinen nur dann gesondert aufgeführt, wenn der Autor bekannt ist.) Sowjetische Zeitungen/Zeitschriften (Zeitraum 1917 – 1941) •• Bezbožnik (gazeta) •• Bezbožnik (žurnal) •• Izvestija •• Pravda

512

Quellen- und Literaturverzeichnis

Rus­sische/zaristische Zeitungen (Zeitraum 1908 – 1912; aus Datenbank http://starosti.ru/) •• Moskovskaja gazeta kopejka •• Novoe vremja •• Peterburgskaja gazeta •• Rannee utro •• Reč’ •• Russkoe slovo •• Utro Rossii Weitere Zeitungen •• Los Angeles Times •• Neue Zürcher Zeitung

16. 3   G e d r u ck t e Q u el le n , Me moi r e n u nd vor 19 41 e r s ch ie ne ne P u bl i k at io ne n Abdurrachman iz Gazikumucha: Padenie Dagestana i Čečni vsledstvie podstrekatelʼstva ­osmanov v 1877 godu (predislovie, tekst, perevod, kommentarii), in: Dagestanskij vostokovedčeskij sbornik, Machačkala 2008 (übersetzt und kommentiert von S. M. Gusejchanov und M. A. Musaev), http://www.vostlit.info/Texts/Dokumenty/Kavkaz/XIX/Arabojaz_ist/Gazikumuchi/padenie_dagestana_1877.htm [9.4.2013]. Alieva, S. U. (Hg.): Tak ėto bylo. Nacionalʼnye repressii v SSSR 1919 – 1952 gody. V 3-tomach, Moskva 1993. Avališvili, Z.: O vospominanijach Musa-Paši Kunduchova, in: Kavkaz 44 (1937) H. 8, S. 11 – 17. Avtorchanov, A. –: Memuary, Frankfurt a. M. 1983. –: Kratkij istoriko-kulʼturnyj i ėkonomičeskij očerk o Čečne, Rostov na Donu 1931. –: K osnovnym voprosam istorii Čečni (k desjatiletiju Sovetskoj Čečni), Groznyj 1930. Baddeley, John F.: The Russian Conquest of the Caucasus, London 1908. Bagrationʼ, D.: Podvigʼ Terskago Kazaka. Nyne dagestankago konnogo polka por. Kibirova, uničtivšago abreka Zelimchana, Petrogradʼ 1914. Baiev, Khassan: The Oath. A Surgeon under Fire, New York 2003. Berdjaevʼ, S.: Čečnja i razbojnikʼ Zelimchanʼ (iz dalëkichʼ vospominanij), Paris 1932. Berelovič, A. / Danilov, V. (Hg.): Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Tom 4. 1935 – 1939, Moskva 2012. –: Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Tom 3. Kniga 2. 1932 – 1934, Moskva 2005. –: Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Tom 3. Kniga 1. 1930 – 1931, Moskva 2003. Berže, Adolʼf (siehe auch unter A. P. Berže) –: Vyselenie gorcev s Kavkaza, Nalʼčik 2010 (Neuauflage der 1882 erschienen Studie). Berže, A. P.: Vyselenie gorcev s Kavkaza, in: Russkaja starina 33 (1882) H. 1, S. 161 – 176.

Zeitungen

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–: (Hg.): Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago ­upravlenija namestnika kavkazskago. Tom VI. Častʼ 2, Tiflis 1875. –: (Hg.): Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago ­upravlenija namestnika kavkazskago. Tom IV, Tiflis 1870. –: (Hg.): Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago ­upravlenija namestnika kavkazskago. Tom III, Tiflis 1869. –: (Hg.): Akty, sobrannye Kavkazskoju archeografičeskoju komissieju. Archiv Glavnago ­upravlenija namestnika kavkazskago. Tom II, Tiflis 1868. Bodenstedt, Friedrich: Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen. Ein Beitrag zur neuesten Geschichte des Orients, Münster 1995 (Reprint des 1848 erschienen Buches). Bondarevskij, G. L. / Kolbaja, G. N. (Hg.): Dokumentalʼnaja istorija obrazovanija ­mnogonacionalʼnogo gosudarstva Rossijskogo. V 4 knigach. Kniga pervaja. Rossija i ­Severnyj Kavkaz v XVI-XIX vekach, Moskva 1998. Budënnyj, S. M.: Projdënnyj putʼ. Kniga tretʼja, Moskva 1973. Bugaj, N. F. u. a. (Hg.): Reabilitacija narodov Rossii. Sbornik dokumentov, Moskva 2000. Butaev, K. S.: Političeskoe i ėkonomičeskoe položenie Gorskoj republiki (doklad na 2-j Gorskoj oblastnoj konferencii RKP (b) 23 avgusta 1921 goda, Vladikavkaz 1921. Butkov, P. G.: Materialy dlja novoj istorii Kavkaza s 1722-go po 1803 god. Častʼ vtoraja (s pjatʼju planami), Sankt-Peterburg 1869. Bystrova, N. E. u. a. (Hg.): „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 8. Častʼ 2. 1930 g., Moskva 2008. –: (Hg.): „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 8. Častʼ 1. 1930 g., Moskva 2008. –: (Hg.): „Soveršenno sekretno“. Lubjanka-Stalinu o položenii v strane (1922 – 1934gg.). Tom 6. 1928 g., Moskva 2002. Calikov, Achmed: Kavkazʼ i Povolžʼe. Očerki inogorodičeskoj politiki i kulʼturno-­chozjajstvennogo byta, Moskva 1913. Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 1, in: Špion. Alʼmanach pisatelʼskogo i žurnalistskogo rassledovanija (1993) H. 1, S. 16 – 33. Čečency i inguši. Paket dokumentov Nr. 2, in: Špion. Alʼmanach pisatelʼskogo i žurnalistskogo rassledovanija (1993) H. 2, S. 53 – 72. Čečnja. Vooružënnaja borʼba v 20 – 30-e gody, in: Voenno-istoričeskij archiv 2 (1997), S. 135 – 168. Četvёrtoe soveščanie CK RKP s otvetstvennymi rabotnikami nacional’nych respublik i oblastej v Moskve 9 – 12 ijunja 1923 v g. Moskve (stenografičeskij otčёt), Moskva, Bjuro Sekretariata CK RKP, 1923. Chaustov, V. N. u. a. (Hg.): Lubjanka. Stalin i Glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD. Archiv Stalina. Dokumenty vyšich organov partijnoj i gosudarstvennoj vlasti. 1937 – 1938, Moskva 2004. Chronika čečenskago vostanija 1877 goda, in: Terskij sbornik. Priloženie k Terskomu kalendarju na 1891 god. Vypusk pervyj, Vladikavkaz 1890, S. 3 – 92. Čuev, F.: Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Čueva, Moskva 1991. Cvetkov, V. Ž.: … Dobrovolʼskaja armija idët na Ingušetiju ne s mirom, a s vojnoj, in: Voenno-­ istoričeskij žurnal (1999) H. 2, S. 52 – 61.

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PER SON EN R EGIST ER Abdurachman, Said 136 Achmatov, L. M. 428 (Fn. 80)

Avtorchanov, Abdurachman 30 (Fn. 4), 51, 168, 186 (Fn. 125), 206, 233 (Fn. 156), 270,

Achtachanov, Osman 282

271 (Fn. 110), 303, 329, 330, 330 (Fn. 86),

Ajub (Tamaev) 183

331, 332, 359, 359 (Fn. 18), 360, 380

Akušinskij, Ali-Chadži 231, 234, 236, 267, 298, 299, 376

(Fn. 83), 384 (Fn. 101), 395, 396 (Fn. 148, 150), 397, 400 (Fn. 161), 412 (Fn. 30), 451,

Alexander I., Zar 77, 79

451 (Fn. 12), 452 (Fn. 15), 456 (Fn. 25), 460,

Alexander II., Zar 82 (Fn. 99), 96, 112, 115, 138

463 (Fn. 43), 465 (Fn. 47, 48), 466, 466

al-Ǧīlānī, ʿAbd al-Qādir 24, 110 (Fn. 71) Alibek-Chadži (Aldamov) 134, 135, 136, 137,

(Fn. 51, 53, 54), 467, 468, 468 (Fn. 60), 470 Azigov 463

138 Alichanov, Kajtmaz 246 Aliev, Ėris Chan Sultan Girej 227, 228, 228 (Fn. 128), 275 Aliev, Umar Džašuevič 299 Amiredžvili, Šalba 197 (Fn. 17) Andreev, Andrej Andreevič 348, 375, 375

Baberowski, Jörg 263, 314, 359 (Fn. 16), 412 (Fn. 32) Baddeley, John Frederick 54 Bagrationʼ, Dmitrij Petrovič 172, 172 (Fn. 76), 187, 188 Bajbatyrov, Jusup-Chadži 149 (Fn. 113)

(Fn. 63), 381, 382, 386, 387, 391, 398, 410

Bajgireev, Kusi 282, 283

(Fn. 24), 413 (Fn. 34), 418, 418 (Fn. 43),

Bajsungur (Benoevskij) 107, 108, 109 (Fn. 64),

426 (Fn. 75), 428 (Fn. 80), 438 (Fn. 119), 444

450 Baklalov 396 (Fn. 148)

Andronnikov, Graf 159

Bamatgireev, Daud 327, 328

Ansaltinskij, Ėmin 279, 295

Bamat Girej Chadži (Mitaev) 149 (Fn. 113),

Antonov-Ovseenko, Vladimir Aleksandrovič 425 (Fn. 72) Arsanov, Deni 149 (Fn. 113), 211 Arsanukaev, Daud 296, 340, 382 Asnarašvili 281, 283, 285, 300 (Fn. 242), 307 (Fn. 21) Atabaev 107, 108, 166 Atabaev (Bruder Hasan Israilovs) 473 (Fn. 43), 467 Atarščikov, Semёn Semёnovič 72 Avališvili, Zurab 102 (Fn. 40, 41)

179, 180, 181, 182, 183, 211, 272, 272 (Fn. 113), 273 Bammat (Bammatov), Gajdar Bej Naždimovič 203, 203 (Fn. 36), 212, 232 Baratov, Nikolaj Nikolaevič 208 (Fn. 208), 214, 214 (Fn. 70), 219, 226 Barjatinskij, Aleksandr Ivanovič 85, 85 (Fn. 105), 86, 87, 96, 97, 97 (Fn. 12), 100, 105, 109, 114, 115, 126, 127, 130, 130 (Fn. 35), 131, 141, 142, 143 Barthes, Roland 485

536

Personenregister

Basaev, Šamil 484 Baškov, Kapitän 157 Bauer, Raymond A. 42 (Fn. 31) Becho 106

Budёnnyj, Semёn Michajlovič 264, 265, 268 (Fn. 96), 270 (Fn. 108) Bugaj, Nikolaj F. 443, 449 (Fn. 2), 480 (Fn. 37)

Bej-Bulat (Tajmiev) 79

Bulganin, Nikolaj Aleksandrovič 434 (Fn. 98)

Beksultanov, Musa 283 (Fn. 166), 473 (Fn. 75)

Butaev, Kazbek Savvič 207, 208 (Fn. 51,

Bellik, Rittermeister 159

52), 213 (Fn. 65), 214, 214 (Fn. 69), 215,

Belov, Ivan Panfilovič 386, 386 (Fn. 110), 394,

215 (Fn. 74), 216, 216 (Fn. 77), 217, 217

394 (Fn. 141), 395, 397, 398 (Fn. 157) Bennigsen, Alexandre 54 (Fn. 8), 270 (Fn. 107), 299 (Fn. 240) Berdjaev, S. 149, 173 (Fn. 80), 184 (Fn. 119)

(Fn. 85), 233 (Fn. 153) Butkov, Pëtr Grigorevič 60, 63, 64 Bykov, Fëdor Petrovič 413, 413 (Fn. 34), 414, 418, 419, 422, 422 (Fn. 60)

Berija, Lavrentij Pavlovič 27, 28, 434 (Fn. 98), 436, 436 (Fn. 110), 444, 444 (Fn. 145),

Cagalov, Georgij 145

445, 445 (Fn. 146, 147, 148, 151), 446, 446

Calikov, Achmed Tembulatovič 117, 163

(Fn. 152), 454, 456, 456 (Fn. 26), 479 (Fn. 32)

(Fn. 34), 166, 167, 173, 174, 231, 250 Čcheidze, Nikolaj Semënovič 175

Berkok, Ismail Hakki 218

Čelokaev (Čolokašvili), Kakuca 280, 282, 284

Berže, Adolf Petrovič 76, 91 (Fn. 2), 97

Čember, L. M. 137

(Fn. 17), 98, 98 (Fn. 18)

Čermoev, Abdul-Medžid (Tapa) 194, 195, 195

Berzniev 158

(Abb. 6), 195 (Fn. 7), 196, 198, 199, 200,

Bestužev-Marlinskij, Aleksandr

203, 215, 233, 274, 275

Aleksandrovič 166 Bezugolʼnyj, Aleksej 443 Bičerachov, Georgij Fëdorovič 219, 219 (Fn. 91), 220 Bičerachov, Lazarʼ Fёdorovič 220, 220 (Fn. 97), 223

Čermoev, Arcu 127, 128, 148, 194 Černoglaz, Iosif Moiseevič 360 (Fn. 23), 384, 384 (Fn. 101), 396 (Fn. 150) Černov, Hauptmann 171, 173 Chadyžat 172 Chadži-Murat 394 (Fn. 144)

Bilo-Chadži, Scheich 265, 279, 295

Chadži-Murza (Kunduchov) 104

Blok, Anton 171 (Fn. 71)

Chalilov, Mikaėlʼ Magometič 226, 228, 229

Bobrovnikov, Vladimir Olegovič 55 (Fn. 9),

Chamzaev, Kudus 454 (Fn. 20)

98 (Fn. 23) Bodenstedt, Friedrich Martin von 54 (Fn. 5) Bolʼšakov 283 (Fn. 169)

Chasbulat (Kunduchov) 104 Chasman, Solomon Abramovič 359 (Fn. 18), 381, 382

Brežnev, Leonid Ilʼič 477

Chasuev 327

Britaev, Ėlʼbazduko 195 (Fn. 8)

Chizroev, M. 199

Buačidze, Samuil Grigorʼevič 217, 217

Chodžanov, Sultanbek 268 (Fn. 95)

(Fn. 84) Bucharin, Nikolaj Ivanovič 242, 263

Chruščëv, Nikita Sergeevič 444 Čigirin 395 (Fn. 144)

Personenregister

Colley, Linda 33 (Fn. 16)

Dzagurov, G. A. 92 (Fn. 3)

Čučigov, Ali 409 (Abb. 24)

Dzedziev, Nikolaj Ivanovič 252

Čuev, Feliks 411 (Fn. 25)

Dzeržinskij, Feliks Ėdmundovič 261, 294

537

Čulikov, Ibragim 206, 233, 233 (Fn. 156), 274, 331

Edgar, Adrienne Lynn 359 (Fn. 16) Ėfendi, Muchamed Gusejn Jusuf 277

Dačko 369, 370

(Fn. 140)

Dalgat, Bašir Kerimovič 196

Egorov, Vassilij Grigorʼevič 410 (Fn. 24)

Danilevskij, Nikolaj Jakovlevič 123

Elʼcin, Boris Nikolaevič 480, 483

Dašaeva (Dušaeva), Rachat 403, 404

Ėlʼdarchanov, Taštemir Elʼžurkaevič 206, 216,

Degoev, Vladimir Vladimirovič 32, 86, 87, 102 (Fn. 41), 118, 118 (Fn. 100), 150 Dementʼev, G. M. 433 (Fn. 95), 437 (Fn. 115, 117) Denikin, Anton Ivanovič 191, 192, 193, 208, 208 (Fn. 53), 210, 218, 220, 221, 222, 223,

216 (Fn. 80), 240, 255, 261 (Abb. 9), 262, 262 (Fn. 77), 264, 265, 268, 269 (Fn. 100), 274, 278, 281, 282, 282 (Fn. 161), 283, 285, 285 (Fn. 172), 288, 288 (Fn. 183), 289, 290, 290 (Fn. 193), 291, 292, 293, 296, 299, 300, 307, 308, 310, 327, 338, 339, 340, 460

224, 224 (Fn. 111), 225, 226, 227, 230, 231,

Ėneev, Magomed Alievič 310

232, 233, 234, 236, 237, 239, 246, 274, 275,

Ėnisat (Gušmazukaeva) 169, 169 (Fn. 62)

276, 305, 333 Dettmering, Christian W. 55 (Fn. 9), 64 (Fn. 42) Dibir, Mechmed Kady 199

Ėrdeli, Ivan Georgievič 228 Ermolov, Aleksej Petrovič 59, 59 (Fn. 21), 76, 76 (Fn. 79), 77, 78, 79, 88, 103, 224, 330, 447, 479

Dimanštejn, Semёn Markovič 351, 352

Ėšba, Efrem Alekseevič 310

Dobromyslov, Kapitän 155, 157

Evdokimov, Efim Georgievič 279, 279

Dobrovolʼskij, Hauptmann 171, 172 (Fn. 72), 174

(Fn. 148), 280, 287, 290, 290 (Fn. 188, 189, 190), 291, 296, 300 (Fn. 241), 369 (Fn. 57),

Dojgaev, Vali 392, 393

385 (Fn. 105, 108), 391, 391 (Fn. 126, 127),

Dokaev, Bis-Sultan 305

392, 393, 393 (Fn. 138, 139)

Dolidze, Rittermeister 186

Evdokimov, Nikolaj Ivanovič 96, 107

Donogo Muhammad (Gocinskij) 211

Ežov, Nikolaj Ivanovič 412 (Fn. 29), 413

Dracenko, Daniil Pavlovič 224

(Fn. 34)

Dragomirov, A. M. 225 (Fn. 119), 275 (Fn. 129)

Fadeev, Rostislav Andreevič 53 (Fn. 2)

Dubrovin, Nikolaj Fëdorovič 53 (Fn. 2)

Fenev, Fëdor 72

Dudaev, Džochar Musaevič 450, 450 (Fn. 3),

Filʼkin, V. I. 449 (Fn. 1), 479 (Fn. 32)

482, 482 (Fn. 46, 47, 48), 483, 484, 485,

Fitzpatrick, Sheila 408 (Fn. 19)

486

Foucault, Michel 43 (Fn. 33)

Dyšninskij, Inaluk Arsanukaev 232, 234 Džabagiev, Vassan-Girej Ižievič 196, 250

Frelich, Oleg 168

538

Personenregister

Gabiev, Said Ibragimovič 196, 196 (Fn. 14), 197

Gušmazukaev, Zelimchan (siehe Zelimchan) Gušmazuko 158 (Fn. 15), 173, 173 (Fn. 80), 184

Gajsumov, Abas 296 Gakaev, Džabrail Žokolaevič 412 (Fn. 33), 451, 451 (Fn. 13) Galaev, Vasilij Savelʼevič 158, 173, 173 (Fn. 80), 174, 184 Gammer, Moshe 55 (Fn. 9), 88 Ganuko Mulla 385 Gatuev, Dzacho Konstantin 166, 168, 168 (Fn. 57, 59), 172, 172 (Fn. 73), 173, 174

Hamza Bek, Imam 52, 82 Hitler, Adolf 236, 434, 451, 472 Hobsbawm, Eric 170 (Fn. 70), 171, 171 (Fn. 71) Husein (Bruder von Šita Istamulov) 396, 397 (Fn. 152) Husein (Israilov Israilovič) 456 (Fn. 26), 463 (Fn. 43), 465 (Fn. 47), 467, 468, 468 (Fn. 59), 473

Gazi Muhammad, Imam 53, 79, 80, 81, 82, 400 (Fn. 161) Gazi Muhammad (Sohn Imam Šamils) 107, 134 Gegečkori, Evgenij Petrovič 175 Gešaev, Musa 268 (Fn. 96), 271 (Fn. 113), 272 (Fn. 114), 450, 451 (Fn. 9) Gikalo, Nikolaj Fёdorovič 220, 220 (Fn. 96), 230, 233, 274, 276

Ibragimova, Zarema 31 (Fn. 8), 151 Inkeles, Alex 42 (Fn. 31) Irakli II., König 56 Israilov (Terloev), Hasan Israilovič 51, 51 (Fn. 49), 410 (Fn. 22), 447, 449, 449 (Fn. 2), 450, 450 (Fn. 3, 4, 5, 6), 451, 451 (Fn. 9), 452, 453, 454, 454 (Fn. 20), 455, 455 (Fn. 23, 24), 456, 456 (Fn. 25, 26), 457,

Girej, Major 199

457 (Fn. 28, 30), 458, 458 (Fn. 33, 34, 35),

Gocinskij, Nažmuddin 17, 196, 197, 198, 207,

459, 459 (Fn. 37), 460, 460 (Fn. 40, 41),

209, 210, 210 (Fn. 55), 211, 211 (Fn. 59),

461, 462, 462 (Fn. 42), 463 (Abb. 31), 463

220, 221, 221 (Fn. 101), 229, 231, 232, 234,

(Fn. 43), 464, 464 (Fn. 44, 46), 465, 465

236, 239, 246, 246 (Fn. 16), 247, 248, 248

(Fn. 47, 48, 49, 50), 466, 466 (Fn. 51, 52,

(Fn. 28), 249, 250, 251, 267, 270, 270

53, 54), 467, 467 (Fn. 56, 58, 59), 468, 468

(Fn. 106, 109), 271 (Fn. 112), 279, 280, 281,

(Fn. 59, 61), 469, 469 (Fn. 62), 470, 470

282, 283, 284, 286, 287 (Fn. 178), 295, 378,

(Fn. 63, 65, 66), 471, 471 (Fn. 67), 472, 472

460 Gojsumov, Sugaip-Mulla 149 (Fn. 113) Golovin, Evgenij Aleksandrovič 122, 122 (Fn. 4) Gonov, Askarbi Muaedovič 443

(Fn. 68), 473, 473 (Fn. 74, 75), 482 Istamulov, Šita 219 (Fn. 136), 229, 229 (Fn. 136), 360 (Fn. 23), 379, 379 (Fn. 82), 380, 385, 387, 388, 389, 390, 392, 395, 396 (Fn. 148), 398

Gorbačëv, Michail Sergeevič 480

Ivan IV. (Ivan Vasilʼevič), Zar 52, 60

Gorčchanov, Ali Isaevič 348, 400 (Fn. 163)

Ivanov, Viktor Aleksandrovič 422 (Fn. 60),

Gorodeckij 277

423, 423 (Fn. 63), 424, 427

Gribaedov, Aleskandr Sergeevič 123 Gudaev, Lëma 450 (Fn. 6)

Jagoda, Genrich Grigorʼevič 391 (Fn. 126)

Güldenstädt, Johann Anton 58, 62, 73

Janarsaev, Magomed (Magomet) 403, 404

Personenregister

Jaroslavskij, Emelʼjan Michailovič 418, 418 (Fn. 43) Jašurkaev, Sultan 485 Jersild, Austin 141 (Fn. 82)

539

Kermin, Abduch 199 Khodarkovsky, Michael 71 (Fn. 64) Kibirov, Georgij Alekseevič 172 (Fn. 76), 186, 186 (Fn. 124), 187, 187 (Abb. 5), 188

Joanisiani, Georgij 310

King, Charles 151

Jusuf Izzet Pascha 218, 219

Kirov, Sergej Mironovič 213, 214, 214 (Fn. 68,

Kachanov, Semёn Vasilevič 140

Klaproth, Julius 58 (Fn. 17)

Kadyrov, Achmat 486

Kluckhohn, Clyde 42 (Fn. 31)

Kadyrov, Ramzan 170, 486, 486 (Fn. 64), 487

Kocev, Pšemacho Tamaševič 196, 198, 198

71), 245, 248, 261

Kaganovič, Lazarʼ Moiseevič 283 (Fn. 169), 434 (Fn. 98), 444 Kagirmanov 385 Kalinin, MichaiI Ivanovič 257 (Abb. 7), 261 (Abb. 9), 266, 305, 306, 373, 444 Kalmykov, Betal Edykovič 251, 299, 363, 364, 367, 368, 369, 371, 373 Kamenev, Lev Borisovič 242, 263, 332 (Fn. 98) Kaminskij, Grigorij Naumovič 357 (Fn. 9) Kantemir, Alichan 102 (Fn. 40, 41) Kanukov, Inal Dudarovič 113 (Fn. 80) Kaplanov, Rašidchan Zabitovič 196 Karalov, K. N. 185 (Fn. 120), 187

(Fn. 21, 22), 199, 223, 225, 226, 229, 231, 250 Koitbekov, Rusul Bek (Rasul Bek Kaitbekov) 204 Kopytko 155 Korkmasov, Dželalėddin Aselʼderovič 248 (Fn. 28), 293, 293 (Fn. 207) Korotaev 327 Kosterin, Aleksej Efgravovič 272, 272 (Fn. 119), 273, 275 (Fn. 132), 292 Kovalevskij, Pavel Ivanovič 163, 177, 177 (Fn. 94), 178 Kozickij, Aleksandr Dmitrievič 304 (Fn. 5), 395, 395 (Fn. 146, 147), 399

Karanadze, Grigorij T. 454, 454 (Fn. 20), 455,

Kozior, Iosif Vikentʼevič 340

455 (Fn. 22, 23, 24), 456, 457, 457 (Fn. 28,

Kozlov, Vladimir 32 (Fn. 10)

29)

Kozok, P. 200 (Fn. 27)

Karaulov, Michail Aleksandrovič 196, 204, 208 Karcov, Aleksandr Petrovič 112, 113, 115 (Fn. 88), 117 (Fn. 91) Karib, Georgij Markarovič 304 (Fn. 8), 342, 343, 343 (Fn. 139), 344, 346, 353, 359 (Fn. 18), 282

Kraft, G. G. 360 Kržižanovskij, Gleb Maksimilianovič 336 Kujbyšev, Valerian Vladimirovič 348 Kunduch, Bekir-Sami 102 (Fn. 40), 117 Kunduch, Ševchet (Chevket Koundoukh) 102 (Fn. 41) Kunduchov, Musa Alkazovič 49, 49 (Fn. 41),

Katchanov, Nazir Adilʼgireevič 368, 369, 371

92, 93, 102 (Fn. 40, 41), 103, 103 (Abb. 3),

Katharina II., Zarin 52, 57, 57 (Fn. 14), 59, 63

103 (Fn. 42), 104, 105, 106, 107, 108, 109,

Kaufman, Stuart 484 (Fn. 62)

110, 112, 113, 113 (Fn. 80), 114, 114 (Fn. 82),

Kemal, Mustafa (Atatürk) 235

115, 115 (Fn. 86), 116, 117, 117 (Fn. 94), 118,

Kemper, Michael 81

118 (Fn. 99, 100)

540

Personenregister

Kunta-Chadži (Kišiev) 110, 110 (Fn. 70), 111, 112, 133, 180, 205 (Fn. 45), 290, 392 Kurumov, Kasim (Kosum) 127, 148

Mansur (Ušurma), Scheich 37, 63, 64, 64 (Fn. 39), 76, 79, 166, 400 (Fn. 161), 450, 461

Kuzaev, Alautdin 283

Manuel, Charles 147, 147 (Fn. 106)

Kuznecov 426 (Fn. 75)

Marshall, Alex 30 (Fn. 5)

Kuznecov, Boris M. 204, 220, 222

Maslov, Anton Petrovič 144

Kvirkelija, V. M. 249

Maslovskij, E. V. 225 (Fn. 119), 226 (Fn. 123), 229 (Fn. 135), 230 (Fn. 137)

Laclau, Ernesto 44 (Fn. 36)

Matveev, V. A. 88 (Fn. 118)

Lander, Karl Ivanovič 256, 256 (Fn. 59), 257,

McGarvey, James 162, 162 (Fn. 31)

258, 260 Lange, Reinhard 472, 472 (Fn. 70), 473 Lazarev, B. P. 205, 205 (Fn. 43), 274 (Fn. 126) Lenin, Vladimir Ilʼič 25, 40 (Fn. 29), 41, 41 (Fn. 30), 228, 237, 242, 242 (Fn. 4), 243, 245, 247, 271 (Fn. 110), 286, 332, 332 (Fn. 98) Lermontov, Michail Jurʼevič 54, 123, 166 Ljachov, Vladimir Platonovič 223, 224 (Fn. 113), 227, 227 (Fn. 127, 129), 228, 275 (Fn. 129)

Medi (Gušmazukaeva) 169, 169 (Fn. 62) Michail Nikolaevič (Romanov), Großfürst 96, 112, 128, 129, 133 Michajlenko, N. 419, 420 Micheev, Aleksandr Stepanovič 178, 178 (Fn. 97) Michelʼson, Artur Ivanovič 363, 363 (Fn. 36), 366 Michin, Boris 168 Mikojan, Anastas Ivanovič 238, 255 (Fn. 55), 258 (Fn. 63), 259, 259 (Abb. 8), 260, 260

Ljapin 343, 344

(Fn. 67, 70), 261, 262, 262 (Fn. 74, 77),

Loris-Melikov, Michail Tariėlovič 114, 114

263, 264, 265, 268 (Fn. 96), 269, 269

(Fn. 83), 115 (Fn. 86, 88), 117 (Fn. 91, 94)

(Fn. 101), 270, 270 (Fn. 109), 272 (Fn. 114),

Lukomskij, A. S. 230 (Fn. 137, 138, 139), 233

280, 281, 291, 291 (Fn. 194), 292, 293, 294,

(Fn. 154)

294 (Fn. 211), 295, 336, 340 (Fn. 127), 434 (Fn. 98)

Magomadov, Chasucha 450, 451 (Fn. 9)

Miljutin, Dmitrij Alekseevič 94, 94 (Fn. 7), 95

Magomed (Gušmazukaev) 169

Miller 333 (Fn. 101)

Magomedov 387

Mironov, Sergej Naumovič 277 (Fn. 140), 278,

Malenkov, Georgij Maksimilianovič 410 (Fn. 24), 421 (Fn. 55), 422 (Fn. 60), 426 (Fn. 75), 428 (Fn. 80), 434 (Fn. 98) Malʼsagov 394 (Fn. 144) Mamaev, Ch. R. 382

278 (Fn. 142, 143), 279, 280, 281, 282, 286 (Fn. 175), 287 (Fn. 178), 290, 290 (Fn. 188, 189, 190), 291 (Fn. 195), 296, 300 (Fn. 241), 308 Mitaev, Ali 51, 51 (Fn. 47), 180 (Fn. 104), 205

Mamakaev, Magomet Amaevič 64, 65, 168

(Fn. 45), 206, 211, 221, 241, 241 (Fn. 2), 264,

Mamsurov, Sachandžeri Gidzovič 213

268, 268 (Fn. 96), 269, 270, 270 (Fn. 107, 108, 109), 271, 271 (Fn. 110, 112, 113), 272, 272 (Fn. 113, 114, 117), 273, 273 (Fn. 123),

Personenregister

274, 274 (Fn. 125), 275, 275 (Fn. 131, 132), 276, 277, 277 (Fn. 140), 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 289 (Abb. 10), 290, 291, 291 (Fn. 194), 292, 293, 295, 296, 297, 299, 300, 308, 385, 388, 391, 450, 450 (Fn. 7)

541

Nikolai II., Zar 147 (Fn. 107), 154, 154 (Fn. 2, 3), 155, 157 (Fn. 10), 158 (Fn. 14), 161 (Fn. 24) Nosov, N. 248 (Fn. 25, 27), 258 (Fn. 65), 335 (Fn. 107), 337 (Fn. 112) Nuri Pascha (Killigil) 218

Mitaev, Bamat Girej Chadži (siehe Bamat Girej Chadži) Mitaev, Omar (Umar) 182, 182 (Fn. 114), 272 (Fn. 113), 288, 291

Obreliani, Grigorij Dmitrievič 100, 100 (Fn. 29), 127, 127 (Fn. 23) Oga-Maly-Ogly 261 (Abb. 9)

Mohammed Ali, Schah 164

Olʼševskij, Milentij Jakovlevič 68, 69, 76

Mollaev, Supʼjan Kagirovič 426 (Fn. 74), 445

Ordžonikidze, Grigorij (Sergo)

Molotov, Vjačeslav Michajlovič 258 (Fn. 63),

Konstantinovič 217, 238, 242, 245, 247,

324, 325, 348, 361, 361 (Fn. 25), 410, 411

250, 250 (Fn. 37), 257, 259 (Abb. 8), 350

(Fn. 25), 425 (Fn. 71), 434 (Fn. 98), 444

Osterhammel, Jürg 33 (Fn. 14)

Moščina 98 (Fn. 18) Muhammad Chadži (Sorgatlinskij) 135

Pallas, Peter Simon 58 (Fn. 17)

Mumad 330, 331, 332

Pastrjulin, I. I. 160 (Fn. 23), 177 (Fn. 93), 179

Muravʼёv-Karsskij, Nikolaj Nikolaevič 88, 89, 95, 95 (Fn. 9)

(Fn. 99), 180 (Fn. 101), 181, 181 (Fn. 106), 182

Musaev 463, 464

Pestelʼ, Pavel Ivanovič 93, 94

Musliev 383

Peter I., Zar 52, 68

Mutušev, Achmet-Chan Magomedovič 206,

Peters, Jakob Christorovič 279

206 (Fn. 47), 229, 274

Pianciola, Niccolò 359 (Fn. 16)

Mutušev, Ali-Chadži 229

Pinson, Mark 98 (Fn. 23)

Muzaev, Magomed Nurdinovič 451, 452

Piralov, Magomed 232

(Fn. 15), 480

Pokrovskij, Nikolaj I. 82 (Fn. 98), 163 (Fn. 35) Pomerancev, V. 403, 404, 404 (Fn. 5, 6), 405,

Nabi (Mitaeva) 272 (Fn. 113) Nagiev, D. 304 (Fn. 7), 312 (Fn. 29), 313

406, 407, 408, 409, 409 (Fn. 21), 410, 417, 418, 418 (Fn. 43), 419, 420

(Fn. 32), 314 (Fn. 36, 38), 316 (Fn. 42), 318

Potёmkin, Pavel Sergeevič 63, 76

(Fn. 47), 319 (Fn. 51), 320 (Fn. 55), 322

Potto, Vassilij Aleksandrovič 53 (Fn. 2)

(Fn. 59), 324 (Fn. 62), 327 (Fn. 75)

Požidaev, V. P. 68

Naqšband, Bahāʾ ud-dīn 22, 80 (Fn. 90)

Pozin 162

Našaev, Osman 282

Puškin, Aleksandr Sergeevič 54, 123

Nemptsch, Oberst 58

Putin, Vladimir Vladimirovič 31, 452, 484

Nestorov, Pëtr Petrovič 106

Pychalov, Igorʼ V. 31 (Fn. 7) Raev, M. G. 363 (Fn. 36)

542

Personenregister

Razachanova, I. 413 (Abb. 27)

(Fn. 73), 216, 216 (Fn. 76), 217, 219, 219

Reckert, Unteroffizier 459 (Fn. 36)

(Fn. 90), 220, 229, 230, 274, 288, 333, 447,

Rogošin, General 280

472

Romanovskij, Dmitrij Il’ič 53 (Fn. 2) Rudʼ, Genosse 385 (Fn. 105, 108) Rukavišnikov, S. N. 159 (Fn. 16), 171 (Fn. 72), 178 (Fn. 97), 179 (Fn. 100)

Šeripov, Majrbek Džemaldinovič 472, 472 (Fn. 69), 473 Šeripov, Zaurbek Džemaldinovič 288, 296 Serov, Ivan Aleksandrovič 456 (Fn. 26)

Runovskij, Apollon Ivanovič 84 (Fn. 102)

Sidorko, Clemens P. 55 (Fn. 9), 81

Rykov, Aleksej Ivanovič 263

Šity (siehe Šita Istamulov) Šljapnikov, Aleksandr G. 274 (Fn. 125)

Sagaev, A. 415 (Abb. 29) Sagaev, S. 414 (Abb. 28)

Šogencukov, Aschad Salechovič 367, 367 (Fn. 54)

Said Bek 246

Šogencukov, Kasim Salechovič 367

Sajasanovskij, Tašu-Chadži 205 (Fn. 45)

Sokolov, R. N. 266 (Fn. 87), 280, 281

Šamberg, M. A. 421 (Fn. 55, 58), 428 (Fn. 80)

Soltamurad (Sultamurat) 158 (Fn. 15), 159, 172,

Šamil, Imam 22, 38, 52, 53, 53 (Fn. 3), 54, 55,

173, 184

61 (Fn. 30), 62, 63, 66, 73, 74, 81, 82, 82

Sorgatlinskij, Abdurachman 135

(Fn. 98), 83, 84, 84 (Fn. 102), 85, 86, 86

Souleimanov, Emil 133 (Fn. 48)

(Fn. 110), 87, 88, 89, 90, 92, 93, 95, 96, 99,

Stalin, Iosif Vissarionovič 27, 28, 30, 31, 169,

104, 106, 107, 107 (Fn. 55), 109 (Fn. 64),

228, 237, 238, 243, 244, 245, 245 (Fn. 15),

110, 111, 113, 113 (Fn. 80), 126, 127, 129, 133,

246, 247, 247 (Fn. 20, 21), 248, 249, 249

133 (Fn. 48), 134, 136, 137, 162, 165, 166,

(Fn. 32), 250, 252, 254, 259 (Abb. 8), 261,

167, 168, 187, 211, 233, 237, 237 (Fn. 164),

262, 263, 265, 265 (Fn. 83, 85), 266, 266

246, 307 (Fn. 21), 400 (Fn. 161), 461

(Fn. 88), 267 (Fn. 93), 268, 268 (Fn. 97),

Šamilev, Atabi 295

269 (Fn. 103), 270, 276 (Fn. 136), 277, 279,

Šamiliev, Mucu 397

282, 288, 288 (Fn. 183), 289, 302 (Fn. 1),

Samurskij, Nažmuddin Panachovič 270

348, 354, 355, 358, 359, 373, 385 (Fn. 105),

(Fn. 106), 293, 293 (Fn. 207), 324, 325 Šamurzaev, Bata (Baša) 128

391 (Fn. 126), 410 (Fn. 24), 411, 413, 413 (Fn. 34), 417, 425 (Fn. 72), 430, 430

Šantukaev, Ata 306

(Fn. 86), 434, 434 (Fn. 98), 436 (Fn. 110,

Šaptukaev, Abdul-Aziz 149

112), 438 (Fn. 119), 441, 441 (Fn. 132), 442,

Sataev, Chakim 283 (Fn. 167)

444, 444 (Fn. 145), 445, 445 (Fn. 146, 147,

Šatilov, Pavel Nikolaevič 223

148), 446, 451, 453, 469, 475, 479 (Fn. 32),

Savčenko, A. A. 421 (Fn. 55, 58)

480, 480 (Fn. 37), 481, 483

Ščerbakov (Schtscherbakow) 439, 439 (Fn. 125)

Stolypin, Pëtr Arkadʼevič 154 (Fn. 2)

Schulz, Paul 431 (Fn. 88)

Sulchanišvili, Aleksandr 284

Semënov, N. 136 (Fn. 61)

Sulejman 134

Šeripov, Aslanbek Džemaldinovič 167,

Sulejmanov 389

167 (Fn. 54), 168, 176 (Fn. 90), 215, 215

Suliev, Šerip 416 (Abb. 30)

Personenregister

Suslov, M. A. 479 Sultan-Galiev, Mirsaid 297, 297 (Fn. 226) Sultan-Murad 108, 134

543

Vdovenko, Gerasim Andreevič 208, 209, 209 (Fn. 54) Verbickij, Ataman 157, 179, 180, 181, 273 Vinogradov, V. B. 481

Tacho-Godi, Alibek Alibekovič 232, 270 (Fn. 106)

Voroncov, Michail Semёnovič 99, 104, 106 Voroncov-Daškov, Illarion Ivanovič 126, 126

Takoev, Simon Alievič 213

(Fn. 20), 145, 146, 146 (Fn. 102), 147, 147

Talchikov 187

(Fn. 107), 148, 149, 154, 154 (Fn. 2, 3), 155,

Tarkovskij, Nuch-Bek Šamchal 196, 196

156, 156 (Fn. 5), 157, 157 (Fn. 10), 158, 158

(Fn. 11), 198, 199, 204, 220, 222, 226 Temirchanov, Zubair 196 Temirgoev 394 (Fn. 144)

(Fn. 14), 159, 160, 161, 161 (Fn. 24), 181, 181 (Fn. 105) Vorošilov, Kliment Efremovič 261, 264, 265,

Terloev, Hasan (siehe Hasan Israilov)

265 (Fn. 83, 85), 266, 266 (Fn. 88), 267,

Todorskij, Aleksandr A. 270 (Fn. 106)

268, 268 (Fn. 96, 97), 269, 269 (Fn. 103),

Tolstoj, Lev Nikolaevič 54

270, 276, 276 (Fn. 136), 278, 306, 368, 385

Tomilov, P. A. 225 (Fn. 119)

(Fn. 105), 425 (Fn. 72), 434 (Fn. 98), 444

Torbin, Stepan Stepanovič 396, 396 (Fn. 149) Tornau, Fëdor Fëdorovič 122, 122 (Fn. 6)

Voznesenskij, Nikolaj Alekseevič 98 (Fn. 98), 444

Trockij, Lev 242, 263

Vrangelʼ, Pëtr Nikolaevič 239, 251

Uma Duev 107, 108, 135, 137, 138

Weber, Max 39, 43 (Fn. 33)

Umar-Ali (Gušmazukaev) 169

Werth, Nicolas 458 (Fn. 33)

Uralov, Aleksandr (auch Alexandre Ouralov;

Wimbush, S. Enders 270 (Fn. 107)

siehe Abdurachman Avtorchanov) Urquhart, David 91 (Fn. 2), 92 (Fn. 2)

Zagolov (Zagolow) 459 (Fn. 36)

Urusov 362, 363, 363 (Fn. 34), 366 (Fn. 51)

Zaurbekov, Maschud 271, 271 (Fn. 113), 273

Ušaev, Maslak 282, 282 (Fn. 166), 283, 283 (Fn. 166) Uslar, Pëtr Karlovič 124, 124 (Fn. 14) Usun-Chadži (Saltinskij) 17, 197, 198, 199,

(Fn. 123), 274, 275, 275 (Fn. 131), 276 Zavgaev, Doku Gapurovič 478 Ždanov, Andrej Aleksandrovič 425 (Fn. 71), 428 (Fn. 80), 444

220, 221, 221 (Fn. 101), 229, 230, 231, 232,

Zelev, Andrej 283 (Fn. 166)

233, 234, 234 (Fn. 159), 236, 237, 274, 308

Zelkina, Anna 133 (Fn. 48)

(Fn. 21), 379

Zelimchan (Gušmazukaev) 49, 49 (Fn. 42), 147 (Fn. 107), 153, 154, 155, 157, 158, 158 (Fn. 15),

Vachaev, Chasi Gajtukaevič 412 (Fn. 33), 467, 467 (Fn. 57), 468, 469, 470, 471

159, 160, 161, 162, 163, 164, 164 (Fn. 42), 165, 168, 168 (Fn. 56, 58), 169, 169 (Fn. 66), 170,

Vačigov, Magomet 282, 283

170 (Fn. 70), 171, 172, 172 (Fn. 72, 73, 76),

Variev 155, 157

173, 173 (Fn. 80), 174, 175, 176, 177, 178, 178 (Fn. 97), 179, 180, 181, 181 (Fn. 105), 182,

544

Personenregister

183, 183 (Fn. 116), 184, 184 (Fn. 119), 185, 185 (Abb. 4), 185 (Fn. 120), 186, 186 (Fn. 123, 125), 187, 187 (Abb. 5), 188, 189, 450, 461, 465 (Fn. 49) Zezyk 172 Zinovʼev, Grigorij Evseevič 242, 363 Zisserman, Arnold Lʼvovič 53 (Fn. 2) Živin 278 Zjazikov, Idris Bejsultanovič 347 Župikova, Elena 248 (Fn. 23), 271 (Fn. 112)

BEITR ÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN VON

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